Signaturen des Geschehens: Ereignisse zwischen Öffentlichkeit und Latenz [1. Aufl.] 9783839426067

How is an incident's flow connected with the structure of a public? What structural difference exists between the p

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German Pages 508 [503] Year 2014

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Signaturen des Geschehens: Ereignisse zwischen Öffentlichkeit und Latenz [1. Aufl.]
 9783839426067

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Das Krumme vor jedem Geraden
Das Geschehen zwischen Wahrnehmung und Latenz
Die Stimmung als Geschehen. Zur literarischen Phänomenologie der »Materialität« der Stimmung
Heideggers Quantifikation von Welt
Ereignis, Öffentlichkeit und Latenz von Literatur. Literaturontologische Überlegungen zu Ar thur Schnit zlers Der Sohn
The Testimony of Reading – Optics and Rhetoric. A Supplement to the Interpretation of À la recherche du temps perdu
Archive, Medien und Ereignishaftigkeit
»Ruhmlose Archive«, »obskures Leben« und das »Theater des Alltäglichen«. Zur Redaktion und Publikation latenter Fälle zwischen Diskursgeschichte und Literatur
Die Weltgeschichte als literarisches Ereignis. Mediale Verwandlungen des Texts von Imre Madách: Die Tragödie des Menschen – vom Manuskript zur Öffentlichkeit der Bühne
Infame Ereignisse. Leopold von Sacher-Masochs Venus im Pelz
Abbauende Medien – expansive Archive: die Öffentlichkeit der Literatur. Zsigmond Móricz und der Feuilletonroman in den 1930er Jahren
The Disjunction of Event, Recording, and Experience. The Dilemmas of Reading Ellis’ Oeuvre
Medien zwischen Latenz und Symbol. Der Begriff des Mediums bei Niklas Luhmann
Gewalt, Politik, Öffentlichkeit
Affekt, Körper, Performanz. Der rednerische Vor trag bei Cicero
Geheimnis und Gerücht. Die Geschichte des falschen Agrippa bei Tacitus (Ann. 2,39-40)
Grenzen der Gewalt. Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas
Die zwei Körper des Feindes. Repräsentation, Form und Öffentlichkeit bei Carl Schmitt
Öffentlichkeit und Narrativität bei Hannah Arendt
Geschichte, Ereignis, Trauma
Historical event and structure, and their relationship
Trauma und Mythos. Antigone in der Literatur nach 1945
Die Latenz der Naturgeschichte. Sprache und Zeugenschaf t in W.G. Sebalds Luftkrieg und Literatur
Spur und Monument. Romuald Karmakar: Das Himmler-Projekt
Did It Happen or Not?. Bringing Traumatic Events into the Historical Discourse
Autorinnen und Autoren
Personenregister

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Zoltán Kulcsár-Szabó, Csongor Lo˝rincz (Hg.) Signaturen des Geschehens

Lettre

Zoltán Kulcsár-Szabó, Csongor Lo˝rincz (Hg.)

Signaturen des Geschehens Ereignisse zwischen Öffentlichkeit und Latenz

Die Herausgeber danken Christina Kunze (Lektorat, bibliographische Formatierung, Namensregister) und Sandra Zaroba (bibliographische Formatierung) für ihre Hilfe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2606-3 PDF-ISBN 978-3-8394-2606-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung Zoltán Kulcsár-Szabó, Csongor Lőrincz | 9

Das Krumme vor jedem Geraden Gespräch mit Werner Hamacher  | 21

D as G eschehen zwischen W ahrnehmung und L atenz Die Stimmung als Geschehen Zur literarischen Phänomenologie der »Materialität« der Stimmung Ernő Kulcsár Szabó | 39

Heideggers Quantifikation von Welt Florian Klinger | 53

Ereignis, Öffentlichkeit und Latenz von Literatur Literaturontologische Überlegungen zu Ar thur Schnitzlers Der Sohn Karl Vajda | 69

The Testimony of Reading – Optics and Rhetoric A Supplement to the Interpretation of À la recherche du temps perdu Tibor Bónus | 89

A rchive , M edien und E reignishaftigkeit »Ruhmlose Archive«, »obskures Leben« und das »Theater des Alltäglichen« Zur Redaktion und Publikation latenter Fälle zwischen Diskursgeschichte und Literatur Nicolas Pethes | 113

Die Weltgeschichte als literarisches Ereignis Mediale Verwandlungen des Texts von Imre Madách: Die Tragödie des Menschen – vom Manuskript zur Öffentlichkeit der Bühne György Eisemann | 137

Infame Ereignisse Leopold von Sacher-Masochs Venus im Pelz Achim Geisenhanslüke | 159

Abbauende Medien – expansive Archive: die Öffentlichkeit der Literatur Zsigmond Móricz und der Feuilletonroman in den 1930er Jahren Ágnes Hansági | 175

The Disjunction of Event, Recording, and Experience The Dilemmas of Reading Ellis’ Oeuvre Péter Fodor, Péter L. Varga | 197

Medien zwischen Latenz und Symbol Der Begriff des Mediums bei Niklas Luhmann Hajnalka Halász | 215

G ewalt , P olitik , Ö ffentlichkeit Affekt, Körper, Performanz Der rednerische Vor trag bei Cicero Attila Simon | 259

Geheimnis und Gerücht Die Geschichte des falschen Agrippa bei Tacitus (Ann. 2,39-40) Ábel Tamás | 287

Grenzen der Gewalt Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas Ervin Török | 309

Die zwei Körper des Feindes Repräsentation, Form und Öffentlichkeit bei Carl Schmitt Zoltán Kulcsár-Szabó | 335

Öffentlichkeit und Narrativität bei Hannah Arendt Csaba Olay | 367

G eschichte , E reignis , T rauma Historical event and structure, and their relationship Gábor Gyáni | 391

Trauma und Mythos Antigone in der Literatur nach 1945 Ulrike Vedder | 413

Die Latenz der Naturgeschichte Sprache und Zeugenschaft in W.G. Sebalds Luftkrieg und Literatur Csongor Lőrincz | 429

Spur und Monument Romuald Karmakar: Das Himmler-Projekt Zoltán Kékesi | 463

Did It Happen or Not? Bringing Traumatic Events into the Historical Discourse Dániel Bolgár | 477

Autorinnen und Autoren  | 489 Personenregister  | 495

Einleitung Zoltán Kulcsár-Szabó, Csongor Lőrincz

B egriffliche K onte x te und die allgemeine F r agestellung »Latenz« ist ein Begriff, der heute auf bestem Wege ist, sich in bestimmten Kontexten allmählich als eine Art Epochenbezeichnung zu etablieren.1 In der heutigen Latenzforschung geht man öfters davon aus, dass »Latenz« die Chiffre für Ereignislosigkeit sei. Hierbei wird gewöhnlich auf die sog. »Latenzzeit« – auf die Zeit zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der sog. »Postmoderne« – rekurriert, die den privativen Modus des Ereignishaften in der Geschichte am besten exemplifiziere (und der hier wohl der Begriff »Stagnation« als die die Gegenwartsreflexion der ehemaligen sozialistischen Länder Europas prägende Variante an die Seite gestellt werden dürfte). Somit wäre der Titel dieses Bandes zumindest erklärungsbedürftig, wenn nicht sogar widersprüchlich. Tatsächlich verpflichtet sich das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Publikation einer Fragestellung, die Latenz und Ereignis nicht nur nicht voneinander trennen, sondern vielmehr ihre Interpenetration bedenken möchte. Die Ausgangsthese lautet hier also, dass Ereignisse – oder besser: Geschehen, die sich als Ereignisse zeigen oder in das Spektrum der Ereignishaftigkeit eintreten – durchaus eine latente Dimension besitzen, die ihnen auf vielfältige Weise zukommt, andererseits dass die Latenz selber von Ereignishaftigkeit imprägniert wird und in diesem Sinne etwas Werdendes oder Entstehendes ist. Statt eine strenge Gegensätzlichkeit von Ereignis und Latenz im Voraus anzunehmen, erscheint es in dieser Hinsicht also produktiver, von einer gewissen Plastizität der Relation dieser Begriffe auszugehen. Ohne damit gleich die hermeneutisch-geschichtsphilosophische Orientierung des Begriffs aus den Augen zu verlieren (deren Vielfältigkeit u.a. im fünften Band von Poetik und Hermeneutik imposant dargestellt ist),2 steht im Hintergrund 1 | Vgl. die öfters zitierten Bücher von Haverkamp (Figura cryptica; Latenzzeit) und Gumbrecht (Unsere breite Gegenwart). 2 | Koselleck/Stempel: Geschichte – Ereignis und Erzählung. Im vorliegenden Band unternimmt der Beitrag von Ernő Kulcsár Szabó den Versuch, den hermeneutischen Kontext von

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dieser Fragestellung die heutige Zuwendung zur sog. »Performativität«, in deren Dimension sich Ereignisse als Ausnahmen oder Singularitäten erweisen.3 D.h. sie sind – als fundierende Ereignisse – nicht aus Normen abzuleiten, vielmehr kommen sie aus einer Latenz oder setzen diese voraus. Eine Latenz jedoch, die erst nach dem Ereignis denkbar oder bezeugbar, gewissermaßen von ihm instituiert, wird. Diese Nachträglichkeit ist von einschneidender Bedeutung, insofern sie auch nach jener Erwartung kommt, die das Ereignis intentional antizipieren würde. Dem Ereignis ist nämlich, wie Derrida wiederholt bemerkt, sein Nicht-Eintreten zu eigen, es kann (und darf) auch nicht eintreten, folglich verharrt es in einer Latenz, die aber keinen privativen Modus des Ereignisses, sondern vielmehr ein unerlässliches, positives Strukturmoment der Ereignishaftigkeit bedeutet (etwa im Sinne einer Ankunft). Latenz selber wird zum Geschehen, gleichzeitig vor und nach jedem identifizierbaren Ereignis.4 Sie kommt in eine Korrelation mit jenem »Unmöglichen« des Ereignisses, das als eine Grenze die Dimension eines »vielleicht« oder »als ob« aufruft. Das Unmögliche und die Latenz gehören zusammen im Modus dieses »als ob«, welches die Chiffre ist für den Sachverhalt, dass das Ereignis nicht aus einer Notwendigkeit oder gar aus einer Möglichkeit resultiert5 – und demgemäß nicht unbedingt mit der Struktur von Erwartung(shorizonten) korreliert. Hier erhebt sich jedoch auch die weitere Frage, inwieweit ein solches »vielleicht«, als Chiffre des Unmöglichen und seiner Latenz, noch »unbedingt« (sans condition) zu nennen ist. Man könnte vermutlich zeigen, dass das Interesse an Latenz(zeiten) weniger von einer vermeintlichen Ereignislosigkeit als vielmehr von Veränderungen in der historischen Zeitlichkeit und ihren Erfahrungsweisen wie Konzeptualisierungen herrührt.6 Dieses Interesse scheint nämlich von der endgültigen Problematisierung u.a. linearer bzw. fortschrittsgläubiger Temporalitätskonzepte induziert zu werden bzw. daraus zu folgen, dass diese nicht nur seit Neuerem deutlich viel von ihrer historiographischen Leistungsfähigkeit eingebüßt haben. Etwa bei Robert Musil, an der Schwelle zur Spätmoderne, geht die dezidierte Abwertung von historischen »Tatsachen« – deren Erwartung immer vom Glauben an den Fortschritt konditioniert sei7 – mit der Verlagerung des Fokus auf »das Heideggers Ereignisbegriff von der Kategorie der »Stimmung« her neu zu akzentuieren. Im Beitrag von Karl Vajda geht es um eine hermeneutisch bzw. »literaturontologisch« orientierte Kritik der poetologischen Ereigniskonzepte. 3 | Vgl. hierzu zwei neuere Sammelbände: Rathmann: Ereignis; Lőrincz: Ereignis Literatur. 4 | Zum sich entziehenden Geschehen und seiner Sprachkorrelation bzw. ihren Implikaten vornehmlich die Gerechtigkeit betreffend vgl. das Interview mit Werner Hamacher. 5 | Vgl. Derrida: Die unbedingte Universität, S. 74. 6 | Die historiographisch-methodologische Problematik der Gegenüberstellung von »Ereignis« und »Struktur« als zentralen Darstellungsstrategien der geschichtlichen Erfahrung wird im Beitrag von Gábor Gyáni wieder aufgenommen. 7 | »Die Tatsachen sind aber nicht abgeschlossen, sondern kaum erst erschlossen – Eine Weltanschauung, die auf Tatsachen wartet, glaubt an den Fortschritt. Sie ist einfach neugi-

Einleitung

Gespenstische des Geschehens« einher.8 Es könnte demnach sein, dass man auf ein tiefgründiges Bedenken der Latenz der Geschichte nicht erst bis zur Nachkriegszeit warten musste und dass es folglich vielleicht nicht völlig abwegig wäre, von der Geschichtlichkeit der Latenz selbst (und nicht erst des Latenzkonzeptes) auszugehen, wofür dieser Band freilich eher nur verstreute Ansätze zu bieten hat. Überhaupt wäre eigens zu überlegen, wie denn die sog. Latenzzeit Effekt der Interpenetration eines vergangenen und eines virtuellen oder antizipierten Ereignisses ist (Zweiter Weltkrieg und drohender Nuklearkrieg). Die Antizipation der gegebenenfalls nahen Zukunft kommt auch vom Gedächtnis des Zweiten Weltkrieges her und umgekehrt, in der Figur einer genuinen »vergangenen Zukunft«. Die Latenz in diesem »Stau der Zeit« (D. Diner) könnte ein Intervall (zwischen den sog. Ereignissen) sein, das selber eine unscheinbare Aktivität zeitigt. Nicht per Zufall wird Öffentlichkeit sowohl empirisch wie auch theoretisch erneut zum Problem in der Nachkriegszeit (wohlgemerkt hier wiederum nach ihrer kritischen Emergenz in der Zwischenkriegszeit, wo der Begriff u.a. von der komplizierten Rezeptionsgeschichte der Tönniesschen Gegenüberstellung von »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« oder etwa von der Heideggerschen Darstellung von Öffentlichkeit als Seinsweise des »Man« und der »wesenhaften Tendenz des Daseins, die wir die Einebnung nennen wollen« dauerhaft geprägt wurde).9 Zu bedenken wäre z.B., ob sich der Begriff Öffentlichkeit überhaupt noch im Rahmen der gängig-vulgären begrifflichen Oppositionen als relationales Konzept (als Gegenpol des Geheimen, Privaten – oder eben des Latenten) fassen lässt – für alternative (nicht-soziologische) Theoretisierungsansätze könnten hier u.a. wieder einmal Derridas Ausführungen über die öffentliche Seinsweise des Geheimnisses etwa in den Schriften Der entwendete Brief oder Falschgeld in Betracht gezogen werden.10 erig. Sie ist auch relativ.« Musil: Der deutsche Mensch, S. 1359. Das Erwarten von »Tatsachen«, oder heute: von »Akten« und »Performanzen«, könnte sehr wohl die Latenz des Geschehens verdecken. 8 | »Die reale Erklärung des realen Geschehens interessiert mich nicht. Mein Gedächtnis ist schlecht. Die Tatsachen sind überdies immer vertauschbar. Mich interessiert das geistig Typische, ich möchte geradezu sagen: das Gespenstische des Geschehens.« Musil: Was arbeiten Sie?, S. 939. 9 | Vgl. Heidegger: Sein und Zeit, S. 127. S. hingegen Florian Klingers Beitrag über Heideggers Kategorie der »Welt«, die der wesentlichen Unterscheidung privat/öffentlich sozusagen vorausgeht und dadurch einerseits auf ihre struktureigene Latenz aufmerksam macht, andererseits die Konturen eines nicht anthropologisch fundierten Begriffs vom »Menschen« aufscheinen lässt. Zur Frage, inwiefern die Neubewertung der – vom Konzept der »Gesellschaft« z.T. abgegrenzten – öffentlichen Sphäre zu Theoretisierungen des Politischen im 20. Jahrhundert (etwa bei Carl Schmitt oder Hannah Arendt) beitragen konnte, s. die Fallstudien von Zoltán Kulcsár-Szabó und Csaba Olay in diesem Band. 10 | Derrida: Der Facteur der Wahrheit; Falschgeld.

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»Latenz« zu theoretisieren, würde heißen, den Charakter der Verborgenheit nicht vorschnell aufzulösen und Latenz nicht alleine von Präsenz her in den Blick nehmen zu wollen. Bestimmte heutige Ansätze zur Latenzforschung (z.B. Hans Ulrich Gumbrechts Überlegungen) scheinen letztlich daran interessiert zu sein, wie denn – kurz gesagt – aus Latenz Präsenz wird (handelt es sich dabei um die Anwendungskonsequenzen einer als umfassend konzipierten »Präsenzphilosophie«?). Wie aber Latenz »als solche« zu denken ist und wie sie im Zusammenspiel von Sinn- und Präsenzeffekten nicht aufgeht, sondern z.B. von einer Verdrängung, also von Entzugsmomenten her zu bedenken ist, dafür gibt es noch vergleichsweise wenig Angebote. (Könnte man etwa dem Freudschen Erbe dadurch entsprechen, kurz gesagt den Komplexen von Verdrängung, Latenz und Wiederholung bzw. nicht-intentionaler, nicht-bewusster Einschreibung und Spur?) Und wie »Latenz« mit sprach-, text- und performativitätstheoretischen Termini begrifflich enger und funktionaler eingekreist werden könnte – wie also »Latenz« aus der unverbindlichen Latenz eines omnisignifikanten Wortes11 in eine begriffliche Differenzierung überführt werden könnte –, das steht immer noch aus. Der Pionieransatz von Anselm Haverkamp hat hier dezidiert rhetorischen und textuellen Komplexen das Wort geredet und die »Theorie der literarischen Latenz« an Momenten wie Anagrammatik, puns und unlesbaren Bildkonstellationen zu exemplifizieren gesucht.12 Das ist höchstwahrscheinlich die interpretatorisch-systematisch schwierigere Richtung, also »Latenz« im Dickicht der Textualität und Spurhaftigkeit bzw. in ihren quasi-performativen Aspekten aufzusuchen. Es geht hier natürlich nicht darum, Latenz restlos von Präsenzeffekten zu lösen bzw. diese Option dem Latenzbegriff abzustreiten, vielmehr darum, erstere auf einer methodologischen Ebene aus dem Umkreis eines räumlichen Denkens herauszulösen. Ob »Stau« oder »breite Gegenwart«, »Stimmung« oder »pun«, die Theoretisierungen der Latenz sind öfters in auffälliger Weise räumlich-isotopisch orientiert und lassen die Frage nach der temporalen Verfasstheit der Latenz gewöhnlich offen. Es gälte daher, weder von Latenz als einer schlichten Verborgenheit (oder auch »Potenz« oder Potentialität) noch von Präsenz als schierer Unmittelbarkeit auszugehen, sondern vielmehr jenes Geschehen vorauszusetzen, das Latenz selbst zu einer aktiven Größe macht und dadurch Ereignisse zeitigt. Diese Ereignisse wollen wir aber weniger als Performanzen oder Akte auffassen, denn als solche Effekte, die am historischen, ferner sprachlichen und textuellen Geschehen partizipieren und erst dadurch lesbar werden (umgekehrt werden die »Signaturen des Geschehens« immer an etwas anderem als am Geschehen selbst lesbar). D.h. sie sind Indizes eines solchen Geschehens, weniger von eigenständigen Aktanten oder Entitäten, die in einer »Spurensicherung« ermittelt werden sollten. Gleichsam detektivische (neopositivistische?) Spurensuchen, die in den 11 | Vgl. hierzu die Zweifel von Klinger: »Latenz«, S. 298. 12 | Vgl. Haverkamp: Figura cryptica.

Einleitung

Kulturwissenschaften beinahe eine paradigmatische Bedeutung für sich reklamieren, sind hier deswegen nicht ausreichend, weil sie auf Identifikationsfiguren hin angelegt sind, die die Auslöser und Träger bzw. Substrata von Spuren zwangsläufig zu vergegenständlichen und damit das ganze Problemfeld von Latenz massiv einzuengen drohen. Wenn also im vorliegenden Ansatz auf das Geschehen gesetzt wird, dann deshalb, um »Latenz« nicht einfach als (metaphysische) Hinterregion oder »Tiefe« zu definieren (die man dann gegen die »Oberfläche« oder diese gegen jene ausspielen könnte), sondern als ein nicht fassbares, sondern vielmehr – im Aggregatzustand von medialisierten, vermittelten, iterierten Effekten und Konstellationen befindliches – lesbares Geschehen, selber als etwas Geschehendes in den Blick zu nehmen. Zu diesem Geschehen gehört sehr wohl – nun im Sinne des »Ereignisses« – seine eigentümliche Verspätung, ferner Verdrängung oder »Verdrängtheit« dazu, eine gewisse Asynchronizität oder differantielle Unterbrechung im Geschehen selbst (etwa die »Genealogie« des Zeugen als eines Beobachters zweiter Ordnung wurzelt in dieser Differenz). Das »Ereignis« ist geradezu die Chiffre (bzw. eine Wiederholungsfigur) für eine Verspätung oder Nachträglichkeit des Geschehens. Die Leitfrage ist also, wie denn die Latenz von Ereignissen von ihrem nichtidentischen Gedächtnis und von einem bestimmten Vergessen her zu einer Insistenz wird, und wie zugleich Latenz zum Ereignis dazugehört. Nicht unähnlich wiederum zu Heidegger, bei dem Wahrheit und Unwahrheit, Entbergen und Verbergen, Ereignis und Enteignis bekanntlich engstens zueinandergehören oder wechselseitig aufeinander verweisen.13 In diesem Sinne sollen die »Signaturen des Geschehens« mehrere Felder bzw. Zusammenhänge bezeichnen: das Geschehen selber hinterlässt Spuren, die von der Differenz im Geschehen selbst eingeschrieben werden bzw. diese Differenz überhaupt erst veranlassen. Die Nichtunterscheidbarkeit dieser wechselseitigen Relation lässt letztere folglich nicht als eine Struktur beschreiben, sondern zeitigt eine Art différance, die das Geschehende am Geschehen ausmacht.14 Diese Diffe13 | Zu Lektürefiguren solcher Gegenwendigkeiten in Bezug auf Zusammenhänge der Bildlichkeit und der Textualität vgl. Lőrincz: Zwischen Pygmalion und Gorgo. Hier geht es um das Bild als das Medium eines Überlebens (also um Bildlichkeit als Spektralität, von Gespenstern bis zu Automaten), welches etwa von der Opposition von Leben und Tod her nicht erklärbar ist. 14 | Die »différance« von Derrida bedeutet in unserer Auslegung also nicht einfach eine endlose Verweisung von Zeichen auf weitere Zeichen (wie das in der verbreiteten Vulgarauffassung vermeint wird), sondern das Geschehende am Geschehen oder am Ereignis, ferner vielleicht ja das Geschehende im oder als Zeichen. Im Kontext einer strikt semiologischen (oder: »grammatologischen«) Terminologie könnte das, was Derrida das »Unmotiviert-Werden der Spur« genannt hat (Derrida: Grammatologie, S. 83), durchaus einen Aspekt des auf diese Weise aufgefassten »Geschehens« verkörpern. Die Signatur (bei Saus­s ure als eine der Bedeutungen von »Hypogramm« herausgestellt) wird vom Geschehen

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renz ist auch diejenige zwischen den öffentlich erscheinenden oder zugänglichen auf der einen, und latenten (sich entziehenden, verdrängten usw.) Aspekten des Geschehens auf der anderen Seite. Sie ist aber nie als solche gegeben, sondern in permanenter Bewegung und in striktem Sinne kaum festzulegen, nicht einmal zu »beobachten«, sondern vielmehr zu lesen. Nun bedingt diese Entzweiung immer schon auch gewisse performative Strategien, die für diese Differenz und für die eine oder andere Seite der nicht einfach systemischen, sondern darüber hinaus »ereignishaften« Unterscheidung haften, bürgen oder sie beglaubigen möchten – und zwar bedingt wiederum von der wesenhaften Latenz der Differenz selber. D.h. das Geschehen muss in gewissem Sinne auch gegengezeichnet werden, es trägt in seiner prekären Erscheinungsweise immer schon – nicht immer unbedingt identifizierbare, eher latente oder virtuelle – Signaturen an sich15 (es sind andererseits, wohlgemerkt, eben Signaturen und Gegensignaturen in diesem Sinne, die das Feld des Öffentlichen ausmachen bzw. aufreißen), die ganze Politiken des Ereignisses in sich versammeln oder sedimentieren bzw. auf den Plan rufen.

Thematische und phänomenbezogene A spek te Ziel des vorliegenden Aufsatzbandes ist eine Untersuchung des Phänomens des literarischen »Ereignisses«, die auch die Analyse der Struktur der literarischen – und nicht nur literarischen – Öffentlichkeit (und damit des dritten Gliedes der zentralen Fragestellung) unter literatur-, medien- und geschichtswissenschaftlichem Aspekt umfasst. Die grundlegende Prämisse lautet wie folgt: Die Untersuchung des literarischen »Ereignisses« ist weder von der Erfahrung der Geschichte noch von der Struktur jener Öffentlichkeit zu trennen, in der es – als Ereignis – auftritt. Die wichtigste Ausgangsfrage ist also, wie der Ablauf jeglichen Ereignisses mit der Struktur einer Öffentlichkeit zusammenhängt, und welcher strukturelle Unterschied zwischen dem öffentlichen und verborgenen, unbemerkten oder nachträglich erkannten Ablauf eines Ereignisses besteht. Wenn ein Geschehen gerade dadurch zum Ereignis wird, dass es öffentlich wird bzw. eine bestimmte Form oder Struktur der Öffentlichkeit hervorbringt16, umfasst die jeweilige Struktur der Öffentlichkeit all die medialen Bedingungen, unter denen ein Geschehen übereingeschrieben, das als (etwa zu signierendes) Ereignis festgemacht bereits an diesem (an seinem eigenen?) Unmotiviert-Werden arbeitet bzw. dessen Index darstellt. 15 | Auch die Entscheidung stellt eine solche Signatur am oder als Geschehen dar, im Sinne des öfters intrikaten »wer entscheidet?« (Zur Entscheidung s. das Interview mit Werner Hamacher, ferner die Beiträge von Florian Klinger, Zoltán Kulcsár-Szabó, Ervin Török u.a. in diesem Band.) 16 | S. dazu Ervin Töröks Studie über Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas in diesem Band, in der es u.a. um diejenige Latenzzone von Gewalt geht, die der Frage von Gerechtigkeit überhaupt erst zur Öffentlichkeit verhilft.

Einleitung

haupt als Ereignis erscheint. Da jedoch das wirkliche Ereignis gerade dadurch charakterisiert ist, dass nach ihm nicht mehr alles dasselbe ist wie vorher, enthält der »Raum« der Öffentlichkeit die (Vor)Bedingungen des Ablaufs eines Ereignisses nicht einfach, sondern wird auch selbst umstrukturiert, entsteht oder »öffnet sich« gegebenenfalls auf die Wirkung des – zum Ereignis werdenden – Geschehens hin. Mit anderen Worten: das Geschehen wird gerade dadurch zum »Ereignis«, dass es über die bisherigen Grenzen, Gewohnheiten, Regeln der Öffentlichkeit hinausgeht – dass es also die Struktur der Öffentlichkeit umformt.17 Aus der oben erwähnten Gegenseitigkeit von »Ereignis« und »Öffentlichkeit« ergeben sich weitere grundlegende Fragestellungen des Bandes: Welche neuen Bedingungen schaffen die sich als literarische Öffentlichkeit gestaltende bürgerliche Öffentlichkeit und die Veränderung in den Öffentlichkeitsformen der Mediengesellschaft bei der Interpretation jeglichen literarischen »Ereignisses«? Welche neuen Aspekte eröffnet die Beschreibung der von den Massenmedien präformierten (neuerdings immer öfter in der Gestalt einer »Transparenzgesellschaft« gefassten18) Öffentlichkeit einerseits für die theoretische Untersuchung der Öffentlichkeit, andererseits für das Verständnis der verschiedenen historischen Formen der literarischen Öffentlichkeit – und damit der »Beschaffenheit« des literarischen Ereignisses? Die Zusammenhänge zwischen Geschehen und Medialität beanspruchen hierbei besondere Aufmerksamkeit. Reinhart Koselleck hat beispielsweise mit seiner tiefschürfenden Untersuchung des Verhältnisses von Erwartungs- und Erfahrungshorizonten bahnbrechende Vorarbeiten geleistet, dem Verstehen der »Beschaffenheit« des Geschehens fehlte allerdings auch bei ihm der (anzunehmende) Mehrwert der Frage nach der medialen Seinsweise und der Zugänglichkeit. In dieser Hinsicht muss die Forschung also über den zum Verständnis der Beschaffenheit des »Ereignisses« und des »Bestehens« bereits vorhandenen terminologischen Rahmen hinausgehen und die Seinsweise des Geschehens (Ereignisses) im Raum zwischen Sprachlichkeit und Kulturalität untersuchen. Die Untersuchung der Frage wird also weniger vom Adäquatheitsanspruch des Verstehens des Geschehens – der Erforschung der Gründe des erfolgreichen oder erfolglosen Verstehens – vorangetrieben, als vielmehr von den Fragen nach der phänomenal-materiellen »Verkörperung« und medialen »Erscheinungsweise« des Geschehens (im Zusammenhang mit Problemen der Singularität, Wiederholung, Reproduzierbarkeit, Iterierbarkeit usw.).

17 | Zu diesem Aspekt vgl. György Eisemanns Beitrag über die von Medienwechseln bedingte Kanonisierungsgeschichte von Imre Madáchs Die Tragödie des Menschen bzw. – als Fallstudien zu den medialen Konstellationen literarischer Öffentlichkeit um 1930 und um 1990 – die Beiträge von Ágnes Hansági und Péter Fodor/Péter L. Varga. 18 | S. z.B. Han: Transparenzgesellschaft. Für die Perspektiven einer »Archäologie« der Öffentlichkeitsformen (und Geheimniskonzepte) s. Assmann/Assmann: Schleier und Schwelle.

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Wenn ein Ereignis gerade infolge seines Ereignischarakters die Rahmen überschreitet oder ungültig macht, die seinen Ablauf ermöglichen, dann bedeutet das, dass das Ereignis des Verstehens – der Rezeption – zwar innerhalb des Systems der Öffentlichkeit vor sich geht, dennoch aber nicht in der Lage ist, das Ereignis des Verstehens selbst entlang der »Regeln« oder der Sprache der Öffentlichkeit zu artikulieren. Das heißt, die Dokumente der historischen und/oder literarischen Interpretation verfügen dann vermutlich über eine der Gegenstandskonstruktion sich widersetzende, eigentlich nicht »öffentliche« Dimension, die oder über die diese Dokumente (Texte) nicht kommunizieren und die auf diese Weise latent bleibt. Solche Latenzen lassen sich beispielsweise als Dispositionen beschreiben, die deshalb nicht zum Gegenstand des Diskurses gemacht werden können, weil sie von etwas hervorgebracht werden, das aus dem Wirkungsbereich der tatsächlichen Erfahrung herausfällt oder weil sie gerade die Asymmetrie zwischen Erfahrung und der Erwartung aufdecken (Koselleck); sie können aufgefasst werden als die der jeweiligen Zeit zur Verfügung stehenden Rahmen überschreitende, für den Interpreten nicht thematisierbare Erwartungen oder Erkenntnisse, als Ahnungen über die Zukunft (Jauß); als – ähnlich wie Traumata wirkende – unaufgearbeitet oder unverstanden bewahrte, für die durch sie bestimmte Verstehensweise unzugängliche Erfahrungen (C. Caruth), aber auch als die formbare Sphäre des (gesellschaftlich) »Imaginären«, die dem Zustandekommen von gesellschaftlichen Institutionen, Formen und Figuren vorausgeht und sie bedingt (C. Castoriadis). Hier ist also nicht der Gegensatz zwischen Öffentlichem und Privatem die bestimmende Figur, sondern die Interpenetration zwischen dem Öffentlichen und dem Latenten, gegenüber der es lohnend scheint, sich der Latenz des Verstehensereignisses in der Sprache der Literaturanalyse und der Geschichtsschreibung so zu nähern, dass dabei berücksichtigt wird, dass dieses Ereignis – zum einen – den gegenstandskonstruierenden Techniken dieses Diskurses widersteht, den es – zum andern – selbst hervorbringt. Bezüglich des Verhältnisses zwischen historischem und literarischem Ereignis ist eine ebenfalls zu untersuchende Frage, ob ein Ereignis als Prozess der Umsetzung aus dem einem Medium (oder Erfahrungszusammenhang) in das andere (in den anderen) beschrieben werden kann, also – auf der allgemeinsten Ebene – wie man die Geschichte selbst als »Geschehen« solcher Umsetzungsprozesse (im Wesentlichen medialer Transformationen) beschreiben kann bzw. als »Lektüre« der materiell (beispielsweise in der Schrift) verfestigten Spuren dieser Transformationen. Eine weitere Frage kann lauten, welche Anknüpfungspunkte – ausgehend von den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen medialen Bedingungen und Vollzugs-»Formen«19 – die Archäologie der historischen und der literarischen Er19 | Vgl. den Beitrag von Hajnalka Halász mit dem äußerst seltenen Versuch, ein Konzept von Latenz in Niklas Luhmanns vieldiskutierter Unterscheidung Form/Medium aufzuspüren.

Einleitung

eignisse in der Moderne zeigt. Im Zusammenhang mit literarischen Texten kann man diese Frage unter dem Aspekt untersuchen, welche Spuren es – beispielsweise durch Gattungscharakteristika bedingt – von den medialen und Kommunikationsbedingungen des literarischen »Ereignisses« in den Texten selbst gibt (z.B. für die Akte der Veröffentlichung, der Archivierung, der Beichte, des Bekenntnisses oder aber für die Techniken des Geheimhaltens oder der Verheimlichung oder sogar den ›latenten‹ Vorgang des Geheimbleibens).20 Im Kontext der Zusammenhänge zwischen Öffentlichkeit und Geschehen, literarischer und historischer Erfahrung darf ferner das Problem von Traumata bzw. traumatischen Erfahrungen nicht unberücksichtigt bleiben. Das Trauma wirft ebenfalls die Frage nach der Latenz auf, denn eine grundlegende Erkenntnis der neueren Traumatheorien besteht darin, dass es sich bei Traumata um Geschehen handelt, zu denen diejenigen, die sie erleiden, denen sie geschehen, keinen »Zugang« haben, d.h. die (traumatisierenden) Geschehen können nicht restlos ausgedrückt werden.21 Bei Traumata, diesen »spurlosen Ereignissen«, handelt es sich also um Geschehen, die wirken, ohne dass sie irgendein Diskurs – auch in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit – zu seinem eigenen Gegenstand machen, sie »aussprechen« könnte. Von hier aus ergeben sich ebenfalls mehrere Fragen zum allgemeinen Funktionieren traumatischer Geschehen/Erfahrungen, zu den sprachlich-literarischen Formen ihrer Erzählung sowie zu den medialen Techniken und Kontexten ihrer Darstellung. Für die Untersuchung wurden im Vorfeld hier fünf Aspekte hervorgehoben. Zunächst stellt sich überhaupt die Frage nach dem Status von Geschehen, die zu Ereignissen werden, ohne auf der Ebene der Rede erscheinen zu können. Demgemäß ist die Auseinandersetzung mit den Konsequenzen, die aus der Annahme von solchen traumatischen Ereignissen für die narrativen Techniken der Geschichtsschreibung folgen, aus der methodologischen Selbstreflexion der Historiographie seit längerer Zeit kaum wegzudenken.22 Die Ergebnisse der kulturwissenschaftlich orientierten Traumaforschung legen die Vermutung nahe, dass literarische und historiographische Texte über die 20 | Vgl. hierzu die Beiträge von Attila Simon über Performanz und Theatralität und Ábel Tamás über Geheimnis und Öffentlichkeit in der antiken Rhetorik bzw. Historiographie, ferner von Nicolas Pethes zum Archiv als einer Art Schaltstelle zwischen Latenz und Öffentlichkeit in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, Achim Geisenhanslükes Fallstudie über ein literarisches Ereignis, das in gewissem Sinne als das Öffentlichwerden des Latenten erfolgt ist, schließlich Tibor Bónus über die »Optik« des Lesens bzw. über die literarische Seinsweise des Geheimnisses in Prousts À la recherche du temps perdu. 21 | Repräsentativ für die aus der Sicht der hier verfolgten Fragestellung am meisten relevante Forschungsrichtung: Caruth: Introduction. 22 | Über den Zusammenhang von historiographischen Erzählungsformen und Traumaverarbeitung in Ostmitteleuropa s. die Fallstudie von Dániel Bolgár.

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Formen dieser Geschehen ein spezifisches »Wissen« besitzen bzw. dass also literarische Texte auch in Hinblick auf das Wissen oder die Erkenntnis über die – u.a. ästhetisch kodierten – Formen dieser Geschehen lesbar sind. Wenn ja, hat dieses Wissen historische Indizes?23 Die Formen der literarischen Erzählung traumatischer Erfahrungen weisen ein weites Spektrum auf. Welches »Wissen« haben also die literarischen Texte über die spezifische Narrativität des Traumatischen, welche – sich aus dem Status der Geschehen und der Sprache selbst, dem sprachtheoretischen Dilemma (Paul de Man) von Bekenntnis und Zeugenschaft ergebenden – Hindernisse, Schwierigkeiten bereitet die Erzählung dieser Erfahrungen? Oder allgemein: Wenn überhaupt, wie kann man dann die »Spuren« der so gearteten Latenz in literarischen Texten »lesen«? Ein weiteres (und bei weitem nicht ausgeschöpftes) Problemfeld öffnet sich in der Frage nach dem vielfältigen Zusammenhang zwischen Wirkung und performativer Leistung und in diesem Sinne der »Wahrheit« von Bekenntnis und Zeugenschaft einerseits und den sprachlichen und/oder medialen Bedingungen andererseits, unter denen die Erzählung und das »Wiedererleben« bzw. »reenactment«24 des Traumas sich vollzieht. In welchem Zusammenhang stehen die persönliche Wahrheit der historischen Erfahrung und derjenige öffentliche Raum bzw. die mediale »Matrix«, in denen ihre Erzählung den Charakter der Authentizität annimmt? Durch diese und ähnliche Fragen lässt sich die sowohl geschichtstheoretisch als auch sprachtheoretisch entscheidende Bedeutung der Figur des Zeugen bzw. der Zeugenschaft überhaupt auch im vorhin behandelten Problemkomplex von Latenz und Öffentlichkeit verorten.25 Daran schließt selbstverständlich die Frage an, über welche medialen Techniken und Kontexte die öffentliche Erzählung traumatischer Ereignisse verfügen kann. Wie wirkt die Latenz der traumatischen Ereignisse, wenn es sich um Gegenstände, gegenständliche Erinnerungen handelt, die – um es mit Michel Foucaults bekanntem Begriffpaar zu formulieren – nachträglich von Dokumenten einer Zeit zu Monumenten traumatischer Ereignisse geworden sind? *

23 | Zum Phänomen »transgenerationeller Traumatisierung« bzw. »téléscopage« s. den Beitrag von Ulrike Vedder in diesem Band. 24 | S. hierzu im vorliegenden Band den Beitrag von Zoltán Kékesi. 25 | Zur Frage, inwiefern sich Latenz in der geschichtlichen Erfahrung bezeugen lässt bzw. diese Problematik die Annahme einer dem Zeugen oft zugeschriebenen »Souveränität« beeinträchtigt, s. den Beitrag von Csongor Lőrincz.

Einleitung

Die obigen Ausführungen sowie die Konzeption dieses Bandes wurden im Kontext des Projektes Történés – médium – nyilvánosság (›Geschehen – Medium – Öffentlichkeit‹) der Forschungsgruppe Allgemeine Literaturwissenschaft der Eötvös-Loránd-Universität Budapest ausgearbeitet bzw. vorbereitet (www.aitk.hu), das vom ungarischen Wissenschaftsfonds OTKA gefördert wurde.26 Ein Teil der hier veröffentlichten Aufsätze entstand ebenfalls im Rahmen und mit der Unterstützung dieses Forschungsprojektes.

L iter atur Assmann, Aleida/Assmann, Jan: Schleier und Schwelle, Bde I–III. München 1997-1999. Caruth, Cathy: »Introduction«, in: Dies. (Hg.), Trauma, Baltimore 1995. Dánél, Mónika/Fodor, Péter/L. Varga, Péter (Hg.), Esemény – trauma – nyilvánosság [Ereignis – Trauma – Öffentlichkeit], Budapest 2012. Derrida, Jacques: Der Facteur der Wahrheit, Berlin 1987. — Falschgeld. Zeit geben I, München 1993. — Grammatologie, Frankfurt a.M. 1974. — Die unbedingte Universität, Frankfurt a.M. 2001. Gumbrecht, Hans Ulrich: Unsere breite Gegenwart, Frankfurt a.M. 2010. Han, Byung-Chul: Transparenzgesellschaft, Berlin 2012. Haverkamp, Anselm: Figura Cryptica. Theorie der literarischen Latenz, Frankfurt a.M. 2002. — Latenzzeit. Wissen im Nachkrieg, Berlin 2004. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 1967. Klinger, Florian: »›Latenz‹ im Bruch der Generationen. Für einen Pragmatismus in den Geisteswissenschaften«, in: H.U. Gumbrecht/F. Klinger (Hg.), Latenz. Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften, Göttingen 2011, S. 295-306. Koselleck, Reinhart/Stempel, Wolf-Dieter (Hg.): Geschichte – Ereignis und Erzählung, München 1973. Lőrincz, Csongor (Hg.): Ereignis Literatur. Institutionelle Dispositive der Performativität von Texten, Bielefeld 2011. — Zwischen Pygmalion und Gorgo. Die Gegenwart des Bildes in der Sprache, Berlin 2013. Musil, Robert: »Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil [30. April 1926]«, in: Robert Musil, Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 939-942. 26 | Aus dem Umfeld des vorliegenden Bandes soll hier der ungarischsprachige Sammelband Dánél/Fodor/L. Varga: Esemény – trauma – nyilvánosság [Ereignis – Trauma – Öffentlichkeit] hervorgehoben werden, der 2012 im Rahmen des oben erwähnten Projektes veröffentlicht worden ist.

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— »Der deutsche Mensch als Symptom«, in: ders., ebd. S. 1353-1400. Rathmann, Thomas (Hg.): Ereignis. Konzeptionen eines Begriffs in Geschichte, Kunst und Literatur, Köln/Weimar/Wien 2003.

D as K rumme vor jedem G er aden Gespräch mit Werner Hamacher1

Herr Professor Hamacher, Sie haben vier Vorträge über insgesamt sechs unterschiedliche Aspekte des Themas »Sprachgerechtigkeit« an der Budapester Eötvös-Loránd-Universität gehalten. Welcher Weg führt von dem Begriff des »Verstehens«, etwa in Ihrem Buch Entferntes Verstehen (1998), zu der in Ihren Budapester Vorträgen behandelten Problematik der »Sprachgerechtigkeit«? Entferntes Verstehen und schon das frühere Buch über Hegel, pleroma –, sind Untersuchungen zum Verstehen als sprachlichem Geschehen. Hermeneuein heißt im Griechischen ›mitteilen‹, ›übermitteln‹, ›bekunden‹, ›zu verstehen geben‹, ›der Verständlichkeit zuführen‹ und auch einfach ›sagen‹. Um die Strukturen dieses Mitteilens, um seine Implikationen und Grenzen, nicht etwa um eine Methodologie exegetischer Prozeduren ist es im Hegelbuch und im Entfernten Verstehen zu tun. Verstehen gibt es nur im Horizont der Sprache, und genauer: am Horizont einer jeweiligen Sprache und also dort, wo sie eine andere Sprache oder etwas anderes als eine Sprache berührt. Es gibt Verstehen also nur dort, wo die Verständlichkeit ihr Extrem berührt und, statt sich als gesicherter Bestand zu erweisen, in prinzipiell allen ihren Determinanten auf dem Spiel steht. Wer versteht, rückt von den Routinen des Verstehens – vom ›Selbstverständlichen‹, von sich selbst und der Sprache dieses Selbst – ab und tritt in ein Feld ein, das weder ihm noch demjenigen angehört, was er zu verstehen sucht. Er zieht in ein Niemandsland, bezieht eine dritte, unberechenbare Position, die außerhalb seiner selbst gelegen ist und doch keine Gewähr dafür bietet, dass sie diejenige des Anderen einschließt. Diese dritte, freilich nicht thetische und nicht synthetische Position, diese Ex-Position ist die der Sprache in der Entfernung zu sich. Sprache, das ist Selbst-Ferne. Und so das Verstehen. Das ist eins der Motive, aus denen der erste Satz dieses Buches lautet: Verstehen will verstanden sein. Verstehen versteht sich nicht ›von selbst‹; es steht sich im1 | Das Gespräch mit Werner Hamacher führten Zoltán Kulcsár-Szabó und Tamás Lénárt im März 2012 in Budapest.

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mer erst bevor. Man muss sich also nicht nur ›darauf verstehen‹, es können und vermögen im Sinne der téchne und eines know how; es selbst muss jeweils in der Distanz zu sich, deroutiniert, als ein von sich entferntes Verstehen zum Verständnis gebracht werden. Diese beiden Verhältnisarten spielen in jedem Verstehen ineinander, bleiben aber aufeinander irreduzibel, denn das know how, die technische Fertigkeit wird im Geschehen des Verstehens immer aufs Neue aussetzen und hinaus-setzen, und nur als Unfertiges und Unabgeschlossenes fähig sein, sich Anderem zuzuwenden und es zur Verständlichkeit zu bringen. In der Tradition der Deutung des Verstehens ist diese Zuwendung immer wieder explizit oder inexplizit als intentionaler Akt begriffen worden, der auf Anderes ausgreift, dieses Andere verstehen will und, allem Anderen voran, sich selbst verstehen will und sich will. Verstehen will verstanden sein –: aber wenn es eine Operation ist, die von Willen geleitet, auf ein bereits im voraus bestimmtes Objekt oder ein vorgesetztes Ziel gerichtet ist, dann werden all diejenigen Züge der Sprache und der Verstehensakte ignoriert, marginalisiert oder sogar eliminiert, die von Willen unabhängig sind, nämlich diejenigen, die einer unwillkürlichen Neigung, einer überraschenden, unbewussten Zuwendung oder einem Zufall folgen. Wollte man diese Elemente der Sprache, die als kontingent bezeichnet werden, eliminieren, so müsste man aus der Sprache all das eliminieren, was notwendig ist, um aus ihr eine mehr als bloß mechanische Operation zu machen. Die Reduktion auf Intentionen ist eine Reduktion auf Programme, Vorschriften, Normen, Regeln – und also eine Reduktion bloß auf das Wissen des bereits Gewussten, zu dessen Erfahrung es keines Verstehens bedarf. Die Reduktion des Verstehens auf ein intentionengeleitetes Verfahren betreibt die Eliminierung des Verstehens. Aus ihm sind all diejenigen Elemente getilgt, die bloß zulassen, dass sich etwas dem Verstehen darbietet, die sich dem Verstehen bloß zuwenden und Möglichkeiten des Verstehens – und auch Möglichkeiten des Beabsichtigens, des Erstrebens und Intendierens – bloß zuspielen, ohne diese Möglichkeiten selbst schon zu wollen, ohne das Intendieren zu intendieren. Erst jene Zulassung, jene Zuwendung und jenes Zuspiel erlauben, dass mehr als das bereits Bekannte erkannt, mehr als das bereits Verstandene verstanden werde, und dass es als etwas Anderes in seiner Andersheit und derart überhaupt im emphatischen Sinn verstanden werde. Diese Zulassung, dieses Zuspiel und diese Zuwendung des Anderen gehört demnach zu den notwendigen Implikaten auch der Intention selbst, sofern sie jeweils zunächst auf Anderes offen sein muss, um es intendieren zu können. Intentionen müssen bereits von jenem Anderen mitstrukturiert sein, auf das sie sich richten; sie müssen von der Unbestimmtheit des Anderen bereits indeterminiert sein, um sich an dessen Determination versuchen zu können; sie müssen intentions-offen sein, um Intentionen sein und bleiben zu können. Verstehen ist, in jedem Sinn, ein Ent-stehen. Es ist Verlassen eines Standes und Beginn eines Neuen, von dem sich im vorhinein nicht sagen lässt, dass es zum Bezirk des Feststellbaren gehört. Obwohl also der Wille daran nicht unbeteiligt ist, gehört Verstehen nicht zu denjenigen Grundoperationen, die durchgängig vom Willen, nicht einmal zu

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denen, die intentional determiniert sind. Es ist somit mehr als zweifelhaft, ob es sich dabei überhaupt um ein Phänomen handelt, das im strengen Sinn als ›Operation‹, als ›Akt‹ oder ›Handlung‹ angesprochen werden kann. Sobald wir den Horizont der Intentionalität verlassen oder auch nur an seine äußerste Grenze rühren, werden Absichten und Programme hinfällig und jede Art von Determination durch eine egologisch strukturierte Instanz ist dahin. Aber allein, wenn man aus dem Kalkül des bloß Verständlichen, des Wissbaren und Wollbaren hinaustritt, ist so etwas wie Verstehen möglich, nur dann wird es Geschehen, nur dann ist es ›Praxis‹ – eine Praxis freilich der Selbst-Ungenügsamkeit, nicht eine der autarken Selbstkonstitution. Im emphatischen Sinn verstehen lässt sich also nur, was unverständlich ist und noch das Verstehen unverständlich werden lässt. Alles andere ist Tautologie. Bei Gadamer steht der Satz: Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache. Das hat man, ich denke, es war Habermas, als Urbanisierung der Heidegger’schen Provinz bezeichnet. Tatsächlich ist es bestenfalls ein misslungener Versuch, die Heidegger’sche Wildnis zu regulieren. Wenn von Heidegger etwas zu lernen ist, dann dies, dass Sein Seinsentzug ist, dass dieser Entzug strukturell, unableitbar und unaufhebbar, und dass er im Geschehen dessen, was wir Geschichtszeit, Raum und Sprache nennen, allenthalben virulent ist. Wir verstehen Sein – soll heißen: das Geschehen unserer Existenz – jeweils nur unter der Bedingung, dass uns die Bedingungen dieses Verstehens bereits entglitten sind, somit nur unter insuffizienten Bedingungen, somit nur unter Bedingungen der Unverständlichkeit. Sein, das verstanden werden kann, ist, ontologisch sachgerecht benannt, Seiendes –: ein stillgestellter, domestizierter, rational oder mythisch kontrollierter Sachverhalt. Und Sprache, die verstanden werden kann, ist Information, Kenntnis-, Wissensbestand, Gegenstand technischer Verfertigungen und Reproduktionen. Sie ist in diesem Zustand also genau das nicht, was geschieht, genau das nicht, was sich in seinem Geschehen entzieht, genau das nicht, worin sich etwas in seinem Entzug zeigt: sie ist nicht Sprache – aber von ihr sollte doch gesprochen werden. Gadamers Satz und die auf sie gebaute Hermeneutik wie die auf sie rekurrierenden Entwürfe einer rational-kommunikativen Handlungstheorie operieren also mit einem Begriff von Sprache, die um ihre Geschehensdimension verkürzt ist. Man kann deshalb nur nüchtern kon­ statieren, dass sie technologische Reproduktionsprogramme des Status quo bieten, aber keine philosophisch ernstzunehmenden Analysen dieses Status, seiner konstitutiven Strukturen, seiner Genesis und seiner Änderungspotenziale. Sie sind analytisch unbrauchbar; mit einem alten, aber in diesem Fall immer noch triftigen Begriff, schlicht und einfach Ideologie; rationalisierte Gegenaufklärung; apologetische Verdopplungen dessen, was ohnehin schon ist. Sie kennen nur eine tautologische Sprache und hinter deren Stäben keine Welt. Wittgenstein, aus anderen Motiven als Heidegger schlecht gelesen und verleugnet, hat deutlich gemacht, dass die logischen Konstanten, die unseren korrekten Aussagesätzen zugrunde liegen, tautologische Konstanten sind und außer sich selbst nichts sagen. Erst wer sie auf sich beruhen lässt, kann sich einer Welt zuwenden, über die nichts

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sagen zu können die Möglichkeit eröffnet, sich frei – konstantenfrei – zu ihr zu verhalten. Das ethische Verhältnis zu Sprache und Welt beginnt mit der Suspendierung einer suisuffizienten Sprache; die Sprache als Geschehen fängt an mit dem Abschied von der Sprache als einer Konstante der Verständlichkeit. Wenn sich etwas verstehen lässt, dann allein aus seiner Unverständlichkeit und allein so, dass noch dieses Verstehen selbst darüber unverständlich wird. Die Implikationen dieser Paradoxie des Verstehens sind zahllos. Die nächstliegende lautet, dass Verstehen weder durch Methoden reguliert noch durch historische Habitualisierungen gesichert werden kann. Beide können bestenfalls Weisungen und Übungen zur Weckung der Aufmerksamkeit – und der Aufmerksamkeit noch auf die Ökonomie der Aufmerksamkeit selbst – sein. Was sich in der Reichweite der Sprache bewegt – und allein in ihrer Reichweite gibt es so etwas wie Verstehen –, kann schlechterdings niemals unter Regularien, Normen und Präskriptionen gebracht werden. Denn dazu müssten diese Regularien von sich selbst als Anderem ihrer selbst begriffen, sie müssten von einem Regellosen, Normfreien und Unreglementierbaren her erfasst und müssten also freigesetzt, dereguliert, anomisiert werden. Für das Verstehen gibt es keine Gesetze. Damit ist nicht behauptet, dass es keine historischen Routinen oder Konventionen gebe, nach denen verständige Wesen sich zueinander verhalten. Damit ist aber wohl gesagt, dass solche historischen Konventionen keine ›anthropologischen Kon­ stanten‹ darstellen, dass sie nicht die Bewegung und nicht die Reichweite des Verstehens definieren, und somit auch nicht ein Verhalten, das unsrige, determinieren, das durch Verstehen strukturiert und durch Verstehen immer wieder anders und also de-strukturiert wird. Wenn wir durch Geschichte bestimmt sind, dann nur, weil wir geschichtsfähig, weil wir zur Geschichte, zu einer jeweils anderen Geschichte und, vielleicht, zu anderem als Geschichte frei sind. Bedenkt man, dass das Verstehen – damit aber der gesamte Komplex des sprachlichen und sprachbestimmten Verhaltens – konstitutionell unfähig ist, durchgängig von Gesetzen determiniert zu werden, dann können auch alle politischen, alle ›bürgerlichen‹ Gesetze nur problematisch sein und müssen in einem emphatischen Sinn problematisch auch dann noch bleiben, wenn sie unter dem Prinzip der Autonomie – der Selbstgesetzgebung, der Selbstbestimmung – gedacht werden. Denn Gesetze, gleich welcher Art, sind dazu gemacht, das Verhalten zwischen Menschen bestimmten Normen zu unterwerfen und es durch diese Unterwerfung in eine verlässliche Fassung zu bringen. Gesetze sistieren. Sie setzen fest, was ist und was sein soll; sie sind, in letzter und erster Instanz, ontologische Sicherungsagenturen, die einen bestimmten Status des Menschen in seinem Verhältnis zu sich und zu Anderen festschreiben und alles, was sich diesem Status entzieht, verurteilen, ausschließen und eliminieren. Jedes Gesetz spricht prinzipiell – sofern es Gesetz ist – das Todesurteil über alles, was ihm nicht entspricht. Das heißt aber: Es spricht das Todesurteil über jede Sprache, die nicht die des Gesetzes selbst ist. Jedes Gesetz, selbst dasjenige, das in der jüngeren Geschichte als das höchste gilt, das Gesetz der unbedingten Selbstbe-

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stimmung – und dieses sogar am prononciertesten –, monopolisiert seine eigene Sprache, versieht die Sprache der Festsetzung, der Konstatierung und der Konstanz mit einem absoluten Privileg und exekutiert diese Sprache der Selbigkeit und des Selbst, diese Sprache der Erhaltung und Steigerung der Selbigkeit des Selbst, indem es – prinzipiell – alles, was anders ist als es selbst, sequestriert, aus dem Gesellschaftsverband ausstößt, verdammt oder verbannt. Die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Jurisdiktion und Exekutive, eine der bedeutendsten Entschärfungen der tödlichen Tendenzen jeder Nomokratie, auf deren Erfindung und Durchsetzung die sogenannte Moderne stolz sein kann; auch diese Gewaltenteilung hält noch an der Gewalt des Gesetzes und am Gesetz seiner Gewalt fest, durch das sich die Auto- und Monokratie einer einzigen Sprache zu sichern versucht. Sie hält an der einen Sprachform des Urteilssatzes fest und tendiert dazu, sie allen Handlungsformen aufzuzwingen. Aber es gibt nicht nur eine Sprachform, sondern viele, nicht nur die Sprache des Urteils und der Festsetzung, der Verstetigung und Beständigung, sondern auch andere Sprachen, die sich der Konstanz, der Koordination, der Konvention widersetzen und die nicht die Sprache der Selbst-Bestätigung universalisieren, sondern verschiedene Sprachen der Veränderung und Selbst-Veranderung sprechen. Diese anderen Sprachen, die mit der Sprache des Gesetzes keine gemeinsame Sache machen – und deshalb mit dieser in einem prinzipiell permanenten Konflikt liegen –, man braucht nicht nach ihnen zu suchen, sie sind unsere Sprachen: die Sprachen des alltäglichen und allnächtlichen Umgangs, die Sprachen der Kinder und der Träumenden, der Liebenden und der Wütenden, und die vielleicht exponiertesten, die sprachlichsten unter allen Sprachen, diejenigen der Dichtung, der Literatur, der Künste. In ihnen regiert kein Gesetz, in ihnen wird nicht für Stetigkeit und Bestandssicherung gesorgt, in ihnen sind Gesetze, Rechte und Pflichten außer Kraft gesetzt, und wenn sie in ihnen eine Rolle spielen, dann weil mit ihnen gespielt wird. Das, so scheint mir, ist die menschliche, die Antwort sprechender Wesen auf die Verheerungen, die die Gewalt von Gesetzen unter Menschen anrichtet. Wenn immer wieder – und gewiss nicht zu Unrecht – beteuert wird, Gesetze und Rechte dienten der Sicherung der Freiheit, und zwar der Freiheit der Einzelnen und der Gesellschaften, in denen sie leben, dann stellt sich angesichts des Sprach- und des Sprachform-Monopols, das Gesetzen und Rechten zugestanden wird, die Frage, ob diese Sicherungsfunktion nicht eine ausschließlich paradoxe Wirkung haben muss, wenn sie sich auf Freiheit und, genauer, auf die Freiheit der Sprache, des Verstehens und des Verhaltens richtet. Gesetze definieren ideale Formen gesellschaftlichen Lebens, aber muss die Idealität der Form nicht jedes Verhalten hemmen, das dieser Form genügen könnte? Muss sie also nicht jedes Verhalten lähmen, das zu dieser Form hinführen, sie begründen, rechtfertigen und sichern könnte? Wenn Rechte gerechtfertigt werden können, dann allein auf zweierlei Weise: entweder durch einen souveränen Setzungsakt, der monokratisch sein muss, jede Pluralität ausschließt, Kadavergehorsam und Kadaver produziert;

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oder, zweitens, durch eine Multiplizität von Setzungsakten, die in der Abwesenheit einer ›natürlichen‹ oder vorgesetzten Harmonie unter ihnen prinzipiell auf ihre gegenseitige Suspendierung angelegt sein müssen. In beiden Fällen scheitert der Versuch, Rechtssetzungen zu rechtfertigen. Erste Konsequenz: es gibt kein legitimierbares Recht – es gibt nur ›pragmatisch‹ genannte, tatsächlich aber ökonomische, somit kontingente, somit legitimierungsunfähige und legitimierungsunbedürftige Vorrechte, die mit idealen Normansprüchen von universaler Gültigkeit in keiner Weise verträglich sind. Zweite Konsequenz: nur die Geschichte ist die Bewegung des Rechts, aber die Geschichte als Bewegung der Bestimmung, der fortgesetzten, somit pluralisierenden Umbestimmung und der immer erneuten Fort-Bestimmung des Rechts: als Bewegung seiner Entfernung. Recht gibt es nur als Gewalt in den Formen der Rechtssetzungs-, Rechtserhaltungs- und Verwaltungsgewalt. Ein Recht, das nicht Gewalt wäre, kann nur in der Entfernung von diesen Gewalten beruhen. Jede Theorie und jede Praxis des Rechts und der Gerechtigkeit muss eine Theorie und Praxis nicht der Setzung, der Rechtssetzung, sondern umgekehrt der Aussetzung, der Aussetzung der Rechtsgewalt und der Aussetzung aller Gewalten sein, mit denen das Recht paktiert. Der Anschein der Paradoxie, den diese Überlegung erweckt, verschwindet in dem Augenblick, in dem man sich deutlich macht, dass Unrecht immer von Gewalt, sprachlicher nicht weniger als physischer, struktureller nicht weniger als punktueller Gewalt, ausgeht, und dass die Ausräumung jeder Art von Gewalt das erste Erfordernis der Gerechtigkeit sein muss. Zu den ersten Forderungen der Gerechtigkeit gehört demnach die Auflösung jeder Rechtsgewalt. Da uns ein Leben ohne Gewalt kaum vorstellbar scheint, weil wir gewohnt sind, in Instanzen- und nicht in Relationsbestimmungen zu denken und zu agieren, verbindet sich mit den Begriffen der Auflösung, der Ausräumung und der Suspendierung der Rechtsgewalt leicht die Vorstellung einer institutionellen Autorität, die mit der Befugnis ausgestattet sein könnte, so etwas wie einen Ausnahmezustand zu erklären. Eine solche autoritative Instanz wäre aber wiederum eine Instanz der Rechtsgewalt und könnte nur deren Stabilisierung und allenfalls deren Modifikation bewirken. Aber Gewalt, auch die monopolisierte, ist eine Relation, jede Relation zerfällt, deren Relate nicht durchgängig von ihr bestimmt sind, jeder Bestimmungsentzug wie jede Überbestimmtheit muss zur Indetermination und damit zur Eliminierung der Relation insgesamt führen. Damit ist erstens gesagt, dass die Aussetzung von Gewalten nur ein multipler Prozess, kein regionaler, lokaler oder zentral gesteuerter und, strictu sensu, kein Prozess, sondern nur eine inhomogene Streuung sein kann. Damit ist zweitens gesagt, dass diese Aussetzung nur ein historisches, raum-zeitliches Geschehen der Dissoziation von Vorrechts- und also von Gewaltrelationen sein kann. Wenn es in der Geschichte Rechtsänderungen zum Besseren gegeben hat, dann waren es solche, in denen die Rechtsgewalt und ihre Instanzen obsolet, das heißt aber: irrelational, und das heißt: gegenstandslos wurden. Das beste Recht ist das gegenstandslose Recht; das beste Vor-recht dasjenige, das jedem gesetzten und noch setzbaren Recht voraus-

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geht. Es wird nur durch die Eliminierung, die Realsuspension, die Aussetzung von Rechten, nicht aber durch ihre Dekretierung gewonnen. Die Delegalisierung aller Legalisierungsinstanzen, die Delegitimierung aller Legitimationsinstanzen, nur sie ist die Bewegung der Gerechtigkeit. Sie ist, noch einmal, nicht die Bewegung der Setzung, sondern der Aussetzung von Gewalten, Mächten und Kräften. Die Bewegung ihrer Zerlegung und Zerkleinerung, ihrer Anatomisierung, Atomisierung und Tomisierung, sie ist das Geschehen, sie die Geschichte des Rechts. Dass diese Aussetzung nicht nur möglich, sondern dass sie die Wirklichkeit der Geschichte des Rechts ist, besagt, dass Rechtssysteme außerstande sind, irgendetwas anderes als Positionen und Negationen zu verarbeiten. Sie operieren nach den Regeln einer primitiven Propositionslogik mit Setzungen und Entgegensetzungen, und sind von Nicht-Setzungen und Nicht-Entgegensetzungen überfordert. Da es ausschließlich der Logik der Entscheidung folgt, ist für das Recht Neutralität das oberste Gebot und seine Erfüllung zugleich unmöglich: Zum einen ist sie als Unparteilichkeit für jede Entscheidung gefordert (aber darin doch Partei für die Entscheidung), zum anderen ist Neutralität als Rechtsindifferenz das Ziel, das jeder Rechtsspruch erstrebt (aber ein Ziel, das als erzeugbare und kontrollierbare Neutralität innerhalb der Reichweite des Rechts liegt), zum dritten ist Neutralität im Sinne von Rechtsneutralität gleichbedeutend mit Rechts-Irrelevanz: sie charakterisiert eine Lage, für die Rechtsinstitutionen und ihre Instrumente schlicht unzuständig, in der sie unwirksam, in der sie nicht einmal virtuell tauglich sind. Diese dritte Neutralität – sie wird von einigen Juristen als die der ›rechtsfreien Räume‹ bezeichnet –: es müsste aufgewiesen werden, dass sie das gesamte Feld sprachlicher und sprachvermittelter Verhältnisse umfasst. Das wird dann deutlich, wenn diese Verhältnisse für die Rechtsprechung und ihr Entscheidungsschema zu komplex werden, das heißt aber: wenn sie in ihrer Komplexität, in ihren kleinsten Details, in ihren multiplen und sich unablässig multiplizierenden Kontingenzen ihre rechtssprachliche Darstellung überfordern. Hyperkomplexität neutralisiert jede Verfahrenslogik, die primitivistisch auf Komplexitätsreduktionen setzt. Die regressive – und in diesem traurigen Sinn reduktive – Sprache der Entscheidung ist unfähig, auch nur einen Dialogfetzen zu beschreiben, geschweige denn, ihn einem Verdikt zuzuführen, das dessen Nuancen, Pausen und Unwägbarkeiten gerecht werden könnte. Das heißt aber: die Stummelsprache des Rechts steht in keinerlei Verhältnis zum Geschehenscharakter der Sprache, zu ihrer Multiplizität, Variabilität, Nicht-Linearität, ihrer konstitutiven Indirektheit und Überdeterminiertheit, ihrer Fortsetzbarkeit, Unvollständigkeit, strukturellen Indefinitheit, ihrem Schweigen. Und das heißt weiter: es gibt – mit der problematischen Ausnahme von Rechtssätzen – im Bereich der Sprache schlechthin nichts, worauf Rechtssätze angewandt werden können, nichts, wofür sie tauglich sind, nichts, wofür sie das mindeste Maß an Zuständigkeit beanspruchen können. Das heißt weiter: die Sprache – mit der problematischen Ausnahme ihrer Rechtssätze – ist ein ›rechtsfreier Raum‹, sie ist in emphatischem Sinn rechtsneutral, ein Geschehen der Neutralisierung, der Um-

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und Un-entscheidung, also, aus der Perspektive von Recht und Gesetz betrachtet, ein Geschehen und eine Geschichte der Setzungsverweigerung, der Rechtsvermeidung, der Urteilsaussetzung. Gegen dieses Geschehen und also gegen die geschichtliche Dimension der Sprache steht als barbarische Barriere der Atavismus einer juridischen Wider-Sprache, die sich in Positionen und Negationen und, kurzum, in der Negation ihrer Sprachlichkeit erschöpft. Denn Recht rechnet. Es reduziert komplexe und hyperkomplexe Verhältnisse auf ein binäres Kalkül, ohne auch nur über ein Kalkül zu verfügen, das Rechenschaft über die Logik seiner Reduktionen ablegen könnte. Unter Organisationssoziologen spricht man gern von Komplexitätsreduktion. Aber Komplexität ist irreduzibel. Wer sie reduziert, steigert sie. Er treibt sie, über kurz oder lang, über die Grenze dessen, was von einer complexio oppositorum umfasst werden kann. Von dieser expansiven Komplexität ist unsere Sprache, unser Verhalten, sind unsere Verhältnisse und Verhältnislosigkeiten. Nur dasjenige Recht wäre gerecht, das der Hyperkomplexität unserer Sprache gerecht würde. Dazu muss es über die Grenzen seiner Entscheidungslogik hinausgehen, muss dieser Logik zugleich folgen und ihr nicht folgen, es selbst bleiben und zugleich anders werden, muss sich somit selber neutralisieren und außer Kraft setzen. Diese strukturelle Neu­ tralisierung der Rechtsgewalt, die sich in ihrer Geschichte als Ablösung von Recht und Gewalt auswirkt, ist der einzige Anteil, den sie an der Gerechtigkeit hat. Wenn es um Gerechtigkeit geht, dann also nicht um die Realisierung kon­ trafaktischer Ideale, sondern um ihre Desaktivierung. So deute ich die Tendenz der einschlägigen Überlegungen in den frühen Schriften von Hegel; und so die Einsichten von Benjamin in seiner sehr bedeutenden Schrift »Zur Kritik der Gewalt«. Beide operieren noch mit theologischen oder theologisch imprägnierten Argumenten, die für eine weitere Klärung der Verhältnisse wenig förderlich sind und im einen Fall zu einer listigen Re-idealisierung, im anderen Fall zu einem problematischen Messianismus geführt haben. Besser, so scheint mir, man verzichtet auf diese Ressourcen – von denen ich übrigens nicht sicher bin, dass sie jemals werden trockengelegt werden können – und hält sich, wie ich es in diesem Zusammenhang zu tun versuche, an den Gedanken, dass sprachliche Verhältnisse, und das sind expansiv multiple geschichtliche und Geschehensverhältnisse, sich durch ihre Reduktion auf eine primitive Rechtsmathematik niemals begradigen lassen. Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden, schreibt Kant. Er hätte hinzufügen können, dass daraus auch nichts ganz Gerades gezimmert werden darf. Die Idee der Gerechtigkeit ist die Idee einer Gerechtigkeit für das Krumme, sie ist die Idee einer Krümmung vor jeder Geraden und eine krumme Idee, eine selber nicht zu begradigende, nicht stellbare und propositional nicht fest-stellbare. Das Ideal einer Rechtsnorm hat damit wenig zu schaffen. Benjamin hat das vielleicht noch klarer gesehen als Kant, weil er genauer als dieser die Grundstrukturen von Sprache und Geschichte untersucht hat. Ideen in diesem Bereich sind praktische ›Begriffe‹, somit solche, die sich nur in singulären, in krummen und krüppligen Um-

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ständen betätigen, sich also nicht zu Statuten von allgemeiner Verbindlichkeit aufrichten lassen. Sie sind Geschehensbegriffe, und wenn man Kant folgt, gibt es ihrer streng genommen nur eine einzige: die Idee der Freiheit. Sie ist impräskriptibel, sie duldet kein Programm; sie ist allgemeinheitsfähig, aber geht jeder Allgemeinheit, jeder begrifflichen wie jeder gesellschaftlichen, voraus. Hölderlin hat ihre Struktur charakterisiert in einem denkwürdigen winzigen Notat, das lautet: Die apriorität des Individuellen über das Ganze. Das ist die Formel einer Ethik des Anfangs der Freiheit, vor der keine normative Moral und keine Rechtsordnung Bestand haben kann. Man muss nur die klassischen Texte zur Ethik, Platon, Aristoteles, Kant, lesen, um zu erkennen, welche Verwüstungen die pragmatischtechnizistischen Theorien der jüngsten, insbesondere der angelsächsischen Moderne auch auf diesem Gebiet angerichtet haben, die nichts Besseres bieten und gebieten als social engineering. Nun kann man der Ansicht sein, die gesamte Rechtssphäre diene bloß der Verwaltung einer Gesellschaft mit den Mitteln von Legislation, Jurisdiktion und Exekutive, und diese Verwaltungsmittel seien prinzipiell in der besten Absicht, nämlich zum Schutz von unverzichtbaren Freiheitsrechten gebildet worden. Ohne dass ich diese Ansicht teile, will ich ihr an dieser Stelle nur entgegenhalten, dass auch Verwaltung Gewalt, und zwar in einer ihrer trägsten und indifferentesten Formen, ist, und dass sich die juridische Verwaltung nicht erschöpfen kann in vereinzelten Akten der Prävention und der Ahndung von Verbrechen, sondern die gesamte sprach-gesellschaftliche Architektur als Verwaltungssystem definieren muss, um wirksam zu sein. Die progressive Juridifizierung sämtlicher Lebensbereiche, eine unvermeidliche Konsequenz der Rechtsstaatlichkeit, hat wohltuend demokratisierende Effekte – die Nivellierung sozialer Hierarchien ist eine davon –, aber sie kann effizient nur sein, wenn sie das Monopol einer und nur einer Sprachform implementiert: derjenigen der Verwaltung der Gewalt. Diese Sprache ist aber nicht ein isolierter Diskurs, der auf Gesetzbücher beschränkt wäre oder bloß von den ›Gehilfen des Gerichts‹ gesprochen würde, er durchdringt und bestimmt das gesamte gesellschaftliche Gefüge und definiert zunehmend die Lebens- und Sozialverhältnisse weltweit. Wir reden hier also nicht über regionale Probleme, erst recht nicht über Probleme einer bestimmten verwaltungstechnischen Disziplin, am allerwenigsten über akademische Fragen. In einer Rechtsordnung handeln heißt nicht etwa nur, innerhalb der vom Recht geschützten Ordnung handeln, sondern die Rechtsordnung – diese lebloseste aller Ordnungen – ›leben‹ und in allen Lebensdetails sie reproduzieren. Das aber heißt auch, die Eigentumsordnung – und sie ist eine Eigentums-Grundrechtsordnung – und somit die Handels- und Handlungs-Rechtsordnung reproduzieren, die in unseren Gesellschaften über Leben und Tod entscheidet; heißt also für jeden, der in diesen Ordnungen untergekommen ist und noch unterkommt, in jeder Sekunde, ob bewusst oder nicht, an der Entscheidung über Leben und Tod in diesen Ordnungen mitzuwirken und für diese Entscheidungen verantwortlich zu sein. Da niemand eine derartige Entscheidung verantworten und niemand die Verantwortung für

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sie ertragen kann, muss sich bei allen von ihr Betroffenen – und das heißt: bei allen –, mehr oder weniger deutlich bewusst, die Frage nach einer Freistatt, einem Asyl, nach dem Widerstand gegen diese Ordnung, deshalb die Frage nach dem stellen, was keinem Gesetz unterworfen werden kann, in keiner Rechtsform fassbar und keiner Rechtsgewalt unterworfen ist. Kann man dennoch im sozialen Leben Bereiche benennen, wo die »Handlungsseite« dieser Sprachgerechtigkeit zu lokalisieren wäre, wo man also durch das Denken dieser Sprachgerechtigkeit etwas im einfachen praktischen Sinne tun könnte? Das ist, was wir hier tun. Alles ist einfach, wenn es um Recht geht; einfach kompliziert, wenn es um Sprache geht. Wir können nur die Lage klären, Leser und Hörer für einige Einsichten gewinnen, in der Hoffnung, sie mögen sie weiter verdeutlichen, selber darüber schreiben und reden, Andere, viele, dafür gewinnen, auf Gesetzgebung und Rechtsprechung einzuwirken, um ihre Sprache zu präzisieren, also überhaupt erst eine Sprache jenseits von Ja und Nein zu gewinnen, eine Sprache mithin, die ihrem Namen gerecht würde, und sich so lange zurückzuhalten mit Rechtsetzungen und Rechtssprüchen, bis sie mündig, sprachfähig, verantwortlich genug ist, überhaupt mit Anderen, mit Klägern, mit Beklagten, Zeugen, Advokaten, Schöffen zu reden, so lange also, bis sie reden und nicht mehr bloß Urteile fällen kann. Das ist, was wir tun, das ist unsere Praxis: darauf hinzuwirken, dass es eine Praxis der Sprache und des Sprechens gebe, die sich nicht selbst als handlungs- und verhaltensirrelevant denunziert, eine Praxis also, die sich als eminent sprachlich definiert – und dies alles, um dem gerecht zu werden, was wir tun und sagen, wenn wir nicht scharfrichterlich sprechen oder handeln, wenn wir uns nicht zu Guillotinen degradieren. Das alles also, um uns als sprechenden, als uns miteinander ersprechenden Wesen, uns als den Mitsprechern in einer langen und breiten Geschichte des Sprechens, einer Geschichte des Uns-und-die-Welt-Ersprechens gerecht zu werden. Denn wir und die Welt und die Sprache sind nicht einfach schon da und vorgegeben, sie und wir werden immer erst erschlossen, erwirkt, erkannt und erredet. Verschlossen und verwirkt, verkannt und verredet werden sie aber nicht seltener, und eine der mächtigsten Instanzen dieser Verschließung, Verkennung und Verwirkung der Sprache ist das, was man Rechte nennt: sie sind Schlussmechaniken, Ausschluss- und Sequestrierungsmechanismen der Sprache, Sprachparalysen. Gegen das, was paralysiert, brauchen wir das, was katalysiert; gegen die Sprache des Rechts brauchen wir eine frei bewegliche Sprache. Ich versuche deutlicher zu werden: Wo Recht gesprochen wird oder im Hinblick auf Rechtssprüche Gesetze aufgestellt werden, werden Urteile gefällt und somit Entscheidungen getroffen. Aber Sprache erschöpft sich nicht in ihrem Urteilscharakter. Wer eine Frage stellt, mag damit ein Urteil vorbereiten, aber er fällt kein Urteil. Wer ein Versprechen abgibt, macht damit keine Aussage, von der man sagen könnte, sie sei wahr oder falsch, sondern er kündigt etwas für die Zukunft an, über das in der Gegenwart

Das Krumme vor jedem Geraden

nicht geurteilt werden kann. Wer eine Geschichte erzählt, entscheidet damit nicht schon über deren Bedeutung und noch weniger über deren Gebrauch. Wer einen Text – sei er Gesetzestext oder Text einer Dichtung – in seiner Vielsinnigkeit oder Widersprüchlichkeit auslegt, trifft keine Entscheidung und fällt kein Urteil über diesen Text, sondern legt dar, was er sagt, andeutet, impliziert, suggeriert und verschweigt. Es gibt unendlich mehr Urteilsenthaltungen, Urteilsaufschübe und Verunmöglichungen von Urteilen, als es Urteile gibt. Und, dies vor allem: vor allen Urteilen liegt jeweils das, was noch keinem Urteil unterliegt. Entscheidungen treffen immer auf ein Unentschiedenes, sonst wären sie keine Entscheidungen. Wenn sie dies Unentschiedene aber in seiner Unentschiedenheit treffen sollen, so müssen Entscheidungen die Unentschiedenheit respektieren, in die sie eingreifen; sie müssen diese Unentschiedenheit in sich aufnehmen und können Entscheidungen allein unter dem Vorbehalt erweiterter und sogar potenzierter Unentschiedenheit sein. Urteile, da sie sich jeweils auf Nicht-Geurteiltes beziehen, können nur Urteile am Urteilslosen sein und müssen urteilsoffene Urteile bleiben: solche, die auf andere Urteile und auf anderes als Urteile offen sind. Die Urteilsgenese trägt das Urteilslose noch in das Urteil, das Unentschiedene in die Entscheidung hinein und suspendiert sie durch ihre Vorgeschichte wie durch die mit ihr angebahnte Nachgeschichte derart, dass kein Urteil feststehen kann. Redlichkeit gegenüber dem Werden von Sprachformen – und in diesem Sinn: Sprachgerechtigkeit als Sprachgeschehens-Gerechtigkeit –, macht also zunächst deutlich, dass diese Sprachformen nichts feststellen können, ohne selber erst herund herausgestellt werden; dass ihre Heraus- und Aufstellung sich nicht ohne Paradoxien vollzieht; dass sie unabgeschlossen, variabel und deaktivierbar sind; und dass ihre Stabilisierung zu Dauerinstituten oder auch nur zu Orientierungsnormen ihren Geschehens- und ihren Sprachcharakter zerstört. Diese Redlichkeit, diese Sprachgerechtigkeit hält, da sie selbst zu jenem Geschehen gehört, darüber hinaus aber die Formen – und das heißt auch: die institutionellen Formen – der Sprache offen auf ihre Redefinition und Indefinition, lässt es also nie zu einem endgültigen, abschließenden Urteil kommen, dringt auf Revidierbarkeit, Zukunftsoffenheit und also auf die permanente Aussetzung des Urteils und die Aussetzung aller Gesetze, die ein Urteil entweder implizieren oder intendieren –: sie dringt auf die Aussetzung des Rechts zugunsten der Sprachgerechtigkeit. Sprachgerechtigkeit heißt also Geschichtsgerechtigkeit; Gerechtigkeit gegenüber der Vorgeschichte wie gegenüber der möglichen Nachgeschichte sowohl des Beurteilten als auch des Urteils und zunächst auf diejenige der Urteilsform. Während die Urteilssprache des Rechts auf Scheidungen angelegt ist, Ausscheidungen, Abschließungen, Trennungen herbeiführt und nach einem vorgesetzten Katalog von Kriterien auf ein Ende zutreibt und immer wieder ein Ende zu erzwingen versucht; während also die Sprache des Rechts die Sprache des letzten Gerichts, der Apokalypse und des Endes der Geschichte spricht, ist Sprachgerechtigkeit unendlich konservativ. Sie will nicht das Ende der Geschichte und kann nicht deren Schluss herbeiführen, wenn sie zunächst dieser Geschichte

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selbst und der Sprache der Geschichte Gerechtigkeit widerfahren lassen soll. Sie erhält mit der Geschichte – und darum ist sie unendlich konservativ, konservativ über alle historischen Konservativismen hinaus – auch deren Vorgeschichte und hält die Möglichkeit einer künftigen Geschichte offen. Nicht das Ende, das vom Recht erstrebt wird, sondern das Unendliche ist das Ziel der Gerechtigkeit. Der Rechtsapparat, wie er uns aus nächster Näher bekannt ist, bedient die Ideologie eines mythischen, heilsgeschichtlichen Finitismus, des Glaubens an einen göttlichen, finalen, obersten und endgültigen Richtspruch. Gerechtigkeit, die kein anderes Ziel, kein anderes Mittel und keinen anderen Grund als die Sprache hat, kann nicht aus über-menschlichen Ressourcen schöpfen, ihr ist kein letztes Gericht denkbar, das nicht eine Vorgeschichte hätte, und keine Zukunft, die nicht weitere Zukünfte versprechen würde. Als Geschichtsgerechtigkeit ist Sprachgerechtigkeit strukturell infinit. Man spricht viel von geschichtlichem Unrecht; man sollte noch mehr vom Unrecht an der Geschichte sprechen, das vom Recht verschuldet wird. Man sollte, kurzum, mehr sprechen. Und mehr widersprechen. Wenn ich vom urteilsoffenen und also urteilslosen Urteil geredet habe, so ist der manifeste Widerspruch in dieser Wendung nur das Zeugnis einer sprachlichen Struktur, die ohne Widersprüche nicht auskommt. Sie lassen sich in allen Äußerungen, allen Texten finden, selbst in solchen, die ein Maximum als Konsistenz und logischer Strenge beanspruchen. In den Menschenrechts-Deklarationen wird neben dem »Recht« auf Freiheit das »Recht« auf Eigentum verkündet. Marx hat als erster darauf aufmerksam gemacht, dass das Eigentumsrecht das Freiheitsrecht nicht nur einschränkt, sondern in offenbarem Widerspruch zu ihm steht, da es die Freiheit dessen, der über weniger Eigentum verfügt als ein anderer, nicht nur behindern, sondern a limine vernichten muss. Mit der Freiheit ist aber dem Recht insgesamt der Grund entzogen, und die »Menschenrechte« sind mithin nichts als sich selbst außer Geltung setzende Versicherungen. Sie können nicht einmal sich selbst sichern, geschweige denn die, von denen sie deklariert worden sind. Diese exegetische Aufmerksamkeit auf einen scheinbar geringfügigen Widerspruch, der eines der großen Dokumente unsrer Kultur als Dokument des Unrechts, der Unfreiheit und Unkultur erweist, müsste auf jeden Text der Rechtssphäre angewandt werden und müsste deren Funktionieren – wenn auch noch so langsam – außer Kraft setzen. Je öfter und insistenter diese Aufmerksamkeit die Absurditäten der Rechtssprache deutlich werden lässt, desto größer die Chancen, dass sich diese Sprache ändert und einer anderen Raum gibt. Welche Rolle kommt dabei der Literatur zu? Furchtbare Frage. Sicher, man könnte sagen: Wenn sie sich nicht an den Kommerz verkauft, kann die Literatur, kann die Kunst eine Aktivistin im Kampf für Gerechtigkeit sein. Eine stille Kämpferin im Weltbürgerkrieg für die Sprache. Aber das wäre zu pathetisch; und es würde ihr aus tausend weiteren Gründen

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nicht gerecht. Sie hat keine Rolle im Sinn einer sozial determinierten Funktion. Sie ist die Platzhalterin der Rollenlosigkeit. Und sie ist zu vieles andere. Vielleicht sollte ich sagen: sie ist die Sprache dessen, was es nicht gibt. Oder: sie ist die Sprache, noch bevor sie eine Bedeutung gefunden hat. Oder: sie ist die Sprache, wie sie anfängt. Die Sprache vor der Schöpfung der Welt. Oder: die Zeugin dessen, dass es etwas gibt, das nie als positives Faktum gegeben ist. Oder: sie ist das Krumme vor jedem Geraden. Oder: die Einladung ins Blaue hinein. Besser: Keine Antwort. Ihre Studien, auch die, die Sie in Budapest vorgetragen haben, beruhen einerseits auf einem konsequenten, »hartnäckigen« close reading bestimmter Texte, andererseits bewegen Sie sich thematisch innerhalb eines sehr weiten Horizonts. Wie verhalten Sie sich zu den Meinungen, die etwa von Vertretern der sog. cultural studies die Position und Bedeutung der Literatur und der Textwissenschaften neu zu definieren versuchen? Wenn ich mich um eine umsichtige und bedachte Lektüre bestimmter Texte bemühe, dann weil mir daran liegt, zur Sprache kommen zu lassen, was unsere Verhältnisse, die geschichtlichen, gesellschaftlichen, sprachlichen Verhältnisse, klärt. Diese Texte sind Mikroskope nicht nur für die Verhältnisse der Zeit, in der sie entstanden sind, sondern – auf andere Weise – auch für unsere Verhältnisse, unsere Befangenheiten und Lösefähigkeiten. Die Aufmerksamkeit darauf macht niemanden zu einem Matador des close reading, noch weniger zu einem Adepten von dessen Begleitideologien. Ich verstehe mich nicht einmal als Literaturwissenschaftler – ich habe mehr über Philosophie als über Literatur geschrieben –, aber ich hätte Schwierigkeiten, eine passende Denomination aus dem akademischen Disziplinenkatalog für mich zu finden. Jemand, der sich eigentlich immer nur für das interessiert, was Sprache heißt – und wer täte das nicht –, kann sich nur zwischen allen Stühlen bewegen. Aufmerksamkeit im Umgang mit Texten allerdings halte ich weit hinaus über die Forderungen eines bestimmten Metiers für die Aufgabe eines jeden, der denkt, und eines jeden, der spricht. Die schnellfertige Applikation von gängigen Begriffen geht fast regelmäßig mit einer fürchterlichen Indifferenz gegenüber den Sachen einher und läuft ebenso regelmäßig auf deren Verkennung hinaus. Wenn ich etwas zu verstehen versuche, kann mir ja nicht daran gelegen sein, bloß das zu bestätigen, was andere schon verstanden zu haben meinen. Wer etwas entdecken will, muss mindestens den Mut haben, mit denen, die es nicht entdecken wollen, nicht übereinzustimmen. Was den anderen Teil Ihrer Frage angeht, so kann ich nicht sonderlich viel dazu sagen. Der erste turn unter den vielen turns, von denen ich gehört habe, war der linguistic turn, der angeblich von der Philosophie vollzogen wurde. Meine Reaktion darauf war der Gedanke: Alle Philosophien waren seit eh und je Philosophien der Sprache, ob bei den Vorsokratikern – ich denke an den logos des Heraklit –, ob bei Platon, bei Aristoteles, bei allen, die ihnen gefolgt sind, bis hin zu Hegel, Kierkegaard, Nietzsche, Husserl, Heidegger, Wittgenstein, bei durchweg allen ist Philosophie, mehr oder weniger emphatisch, Philosophie der Sprache.

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Das vergessen zu haben, kann nur ein Zeugnis dafür sein, dass man die Philosophie selbst vergessen hat, bevor man ihr diesen neuen turn hinzufügen wollte, oder nicht recht wusste, was man damit überhaupt wollte. Als ich dann, nicht viel später und wiederum in den Vereinigten Staaten, vom cultural turn der »Humanities« hörte, war meine Reaktion fast die gleiche: Es ist nie um etwas anderes gegangen. Die Geisteswissenschaften haben sich seit eh und je bemüht zu zivilisieren, zu kultivieren, die Kulturisierungsanstrengungen der fernen und der jüngsten Vergangenheit mit allen Mitteln der Analyse verständlich zu machen, ihre Blockaden aufzulösen und den Prozess der Kultivierung der Kultur durch ihre Analyse beschleunigt fortzusetzen. Der andere Teil meiner Reaktion auf diese Wendung war aber der Gedanke an die Bemerkung von Benjamin, es gebe kein Dokument der Kultur, das nicht zugleich ein solches der Barbarei sei. Wenn bloß von Kultur gesprochen wird, wie die Wendung cultural turn es tut, dann meldet sich bei mir der Verdacht, man vergesse darüber, was auch an der Kultur – zum Beispiel der Rechtskultur – noch barbarisch ist, und dass man die Barbarei kaschiert, aus der Kulturleistungen haben entspringen müssen. Mein Verdacht, auch dieser turn könnte ein turn towards oblivion sein, ist geblieben. Das ist ein Verdacht, der sich vielleicht nicht so leicht aufdrängte, wenn von der Sprache die Rede wäre, denn von ihr zu reden ist kaum möglich ohne den Gedanken an die, die am Sprechen gehindert sind. Wodurch könnte denn ein cultural turn sich auszeichnen, wenn nicht dadurch, dass er sich Kulturen als einer bestimmten Art von Sprache zuwendet und zu diesem Zweck sowohl den Kulturwie den Sprachbegriff präzisiert und erweitert? Wenn die Adepten des cultural turn gerade das aber programmatisch vermeiden, dann weiß ich nicht, worin der große Vorsprung liegen könnte, den Kulturanalysen gegenüber der umsichtigen, historisch, ethnologisch und soziologisch, vor allem aber philosophisch und literarisch informierten Analyse sprachlichen Verhaltens haben sollen. Aus anderen Gründen befürchte ich sogar, dass dieser angebliche Vorsprung ein verdeckter Sprung rückwärts ist. Die cultural studies sind in den USA in dem Moment aufgekommen, in dem klar wurde, dass die undergraduate population sich zusehends auf die Naturwissenschaften und andere sprachferne Disziplinen konzentrieren würde. Was deshalb von den Geisteswissenschaften geboten werden sollte, waren allgemeine Überblickskurse über die Kulturgeschichte jeweils bestimmter Nationen. An die administrativ verordnete Schrumpfung der Geisteswissenschaften auf Veranstaltungen für Kulturtouristen hat sich derjenige Trend angeschlossen, der cultural turn getauft wurde. Ihm sind die bereits Jahrzehnte zuvor entfalteten Tendenzen zur Inter- und Transdisziplinarität zugute gekommen, aber im Wesentlichen erfüllt er, besonders in seinen soziologistischen Teilen, das Programm der reduzierten »Humanities«. Wie man weiß, verfolgen auch die Bildungs- und Kultusministerien und die Universitätsadministrationen der europäischen Länder seit Jahrzehnten eine völlig verantwortungslose Politik der Schrumpfung der Geisteswissenschaften. Ihnen können die Vereinheitlichungsund Integrationsversuche, durch die sich die cultural studies auszeichnen, ihnen

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kann aber auch die Sprachvergessenheit, die einige ihrer Vorarbeiter fast aggressiv fördern, nur gelegen kommen. Was unter dem Rubrum cultural studies betrieben wird, ist sicher gut gemeint; aber es wird verdächtig energisch gefördert von denen, die es mit den Geisteswissenschaften, den Humanities und dem Denken der Sprache nicht gut meinen. Kann man also behaupten, dass Ihr Denken über Sprachgerechtigkeit auch als eine Art Antwort auf diese Schrumpfungstendenzen aufzufassen wäre? Wir hätten allen Anlass zum Feiern, wenn die Geisteswissenschaften, die Philosophien und Philologien, wenn alle Wissenschaften, die die Sprache und die Sprachen nicht nur untersuchen, sondern sie fördern, in Zukunft nicht mehr beschnitten, sondern erweitert würden, nicht mehr zu Tode gespart und zum Schweigen gebracht, sondern mit Geld und mehr noch mit gesellschaftlicher Aufmerksamkeit versehen würden. Aber alle Zeichen deuten darauf hin, dass diese Feier noch lange auf sich warten lassen wird. In der Zwischenzeit können wir wohl nichts Besseres tun als unsre Arbeit fortzusetzen und sie auf besonders heikle Probleme zu konzentrieren. Die Sprache spricht nicht von selbst; es ist an uns, sie zur Sprache bringen. An uns, uns zur Sprache zu bringen.

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Das Geschehen zwischen Wahrnehmung und Latenz

Die Stimmung als Geschehen Zur literarischen Phänomenologie der »Materialität« der Stimmung Ernő Kulcsár Szabó … greifbar und unaussprechlich. (Géza Ottlik)

Selbst wenn es immer ein gewisses Risiko birgt, die Manifestation von Epochenschwellen plausibel zu machen oder Vermutungen darüber anzustellen, wann sie in der Geschichte des Denkens über die ästhetische Erfahrung und die Literatur in der Moderne auftauchen, muss doch hier eine derart riskante Operation den Ausgangspunkt bilden. Bekanntlich hat sich die Physik – im starken Widerspruch zu ihrer selbstinterpretatorischen Tradition – nach einer Beobachtung Heisenbergs aus den 1950er Jahren in ein Korrelat menschlicher Eigenschaften verwandelt, denn »auch in der Naturwissenschaft ist also der Gegenstand der Forschung nicht mehr die Natur an sich, sondern die der menschlichen Fragestellung ausgesetzte Natur, und insofern begegnet der Mensch auch hier wieder sich selbst.«1 Heideggers berühmte Technik-Studie rückte diesen Zusammenhang, der auf den Spuren Ernesto Grassis entdeckt worden war, entgegen den Erwartungen nicht dadurch in eine neue Perspektive, dass sie sich auf die Dilemmata der von menschengeschaffenen Theorien abhängigen Antworten der Wissenschaften eingelassen hätte. Den Wandel der Zielsetzungen rief nämlich nicht die damals kaum mehr neu zu nennende Einsicht hervor, dass auch die exakten Wissenschaften interpretierende Wissenschaften sind, sondern vielmehr, dass die Technik-Studie aufzuzeigen versuchte, wie die – im Vergleich zum oben Ausgeführten geradezu entgegengesetzte – Situation entstehen konnte, in der »der Mensch heute in Wahrheit gerade nirgends mehr sich selber [begegnet], d.h. seinem Wesen«.2

1 | Heisenberg: Naturbild, S. 18. 2 | Heidegger: Technik, S. 27.

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Heidegger zufolge ist diese Situation eingetreten, weil die Erfahrbarkeit der Welt, d.h. die Gesamtheit dessen, wie die Welt sich uns erschließt – im Wesentlichen seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts –, vorrangig auf eine zunehmend von der Technik verfügte und sich dementsprechend vollziehende Weise gegeben ist. Das Wesen der modernen Technik – das eben nicht technisch ist, und zu dem die Technik selbst den Zugang verwehrt – zeigt sich auf eine Weise, die an das platonische »eidos« erinnert, in dem, was Heidegger »Gestell« nennt. Das Gestell ist das Versammelnde jenes Stellens, das den Menschen stellt, das Wirkliche in der Weise des Bestellens als Bestand zu entbergen. Als der so Herausgeforderte steht der Mensch im Wesensbereich des Ge-stells. Er kann gar nicht erst nachträglich eine Beziehung zu ihm aufnehmen. 3

Auch ohne das verwobene etymologische Netz von Stellen, Bestellen und Bestand zu entflechten, wird also schon deutlich, dass die von der modernen Technik zur Verfügung gestellte Welt den Menschen auf den Weg eines Schicksals entsendet, das es ihm durch die eigene Dualität verwehrt, sich selbst zu begegnen. Denn während die Technik einerseits das Unverborgene nur als zur Verfügung stehendes, an dem zugleich auch Maß genommen wird, erfahrbar macht, vernichtet sie gleichzeitig die ursprünglichere Möglichkeit, sich auf das nicht instrumentalisierbare Wesen der Unverborgenheit einzulassen.4 Andererseits bereitet sie den Weg dafür – und das konnte Heideggers Studie aus den 1950er Jahren nur andeuten–, dass unter diesen Bedingungen alles, was menschlich genannt wird, vorrangig im apparativen Diskurs der Technik zugänglich ist und nur an dessen techno-materialer Wirklichkeit gemessen wird. Diese in der Moderne mindestens seit Helmholtz und Freud andauernde »Materialisierung« des »Humanen«, des Menschlichen hat den Gegensatz zwischen der Welt der Technik und der Welt des Menschen seit Heidegger bisweilen noch weiter als bisher vertieft. »Mit der technischen Ausdifferenzierung von Optik, Akustik und Schrift«, schrieb Kittler schon 1985, »ist der sogenannte Mensch machbar geworden. […] Der sogenannte Mensch zerfällt in Physiologie und Nachrichtentechnik«.5 Wenn nun »[w]as Mensch heißt, […] keine Attribute [bestimmen], die Philosophen den Leuten zur Selbstverständigung bei- oder nahelegen, sondern technische Standards«6, gelangt man zu der Einsicht, dass die Technologisierung des Verstehens – wie neuerdings insbesondere die Schriften Giorgio Agambens belegen7 – auch die Grenzen der nicht-materialen Zonen der anthropologischen Welt überschreiten kann. Besonders in Umgebungen, die stark von 3 | Ebd., S. 23. 4 | Vgl.: ebd., S. 25-26. 5 | Kittler: Grammophon, S. 29. 6 | Kittler: Draculas Vermächtnis, S. 61. 7 | Z. Bsp.: Profanazioni (2005), Nuditá (2009).

Die Stimmung als Geschehen

optomedialen Bedingungen geprägt sind, besteht das Risiko, dass der Konsens, der heute die als einfache Unverborgenheit verstandene, sichtbare »Wahrheit« (oder die »wahre Wirklichkeit«) umgibt, am Ende mit seinen eigenen Prämissen aneinandergerät. Insofern zumindest, als das in seinen fundamentalen Werten verunsicherte gesellschaftliche Sein in den Normen der Sichtbarkeit und der Transparenz eine Art trautes Vademecum erblickt, und dabei übersieht, dass »der Imperativ der Transparenz [alles] verdächtigt […], was sich nicht der Sichtbarkeit unterwirft. Darin besteht ihre Gewalt.«8 Heute kann man freilich noch eine Vielzahl von Argumenten gegen die Überbewertung des Prozesses finden, dass bei der Gestaltung der conditio humana der Gegenwart auch ein Transparenzanspruch am Werk ist, der nur im Fall von Maschinen zu verwirklichen ist. Welcher mediale Materialismus in der Lage wäre, die menschliche Welt in eine »kollektive Netzhaut«9 zu verwandeln, ist bis jetzt noch nicht klar, doch kann man der Frage, ob sich alles, was im Dasein unter diesen Bedingungen »menschlich« genannt wird, auch den Codes der Technik unterwirft, immer weniger ausweichen. Oder, ob in der künstlerischen Leistung der Moderne ein (Gegen-)Potential existiert, das das menschliche Erbe der linguistischen Wende doch nicht vor den technomaterialen Kräften einer gewaltsamen Jagd auf den Geist kapitulieren lässt. Man missversteht nämlich den techmomedialen Imperativ der hermeneutikkritischen Wende der neunziger Jahre erheblich, wenn man die tiefe Unsicherheit im Hintergrund der möglichen Antworten auf die veränderten Bedingungen der Verstehbarkeit des Menschen, des »Menschlichen« übersieht. Vor allem die Ratlosigkeit gegenüber der Frage, wie die medialen Techniken einer neuen (oder im Vergleich zur Verstehensweise der Romantik zumindest neu situierten) nicht-hermeneutischen, d.h. materialen, empfindungshaften »Verstehensweise« unter den Bedingungen einer technologisierten Welterfahrung funktionieren. Eine besondere Bedeutsamkeit kann hier – als erste grundlegende Beziehung zur Welt – die sprachliche Verfügbarkeit der Stimmung, die dem Verstehen (auch der Hermeneutik zufolge) immer vorausgeht, erlangen, d.h.: die Erschließbarkeit stimmungshafter (und nicht »emotionaler«10), das Empfinden immer auch »stimmender« Befindlichkeiten bzw. die Interpretierbarkeit vom Körper übertragener nicht-semantischer Impulse. Insbesondere gilt das, wenn man die heideggersche Maxime würdigt, wonach die Sinne in ihrer »Materialität« niemals rohe, an sich 8 | Han: Transparenzgesellschaft, S. 24. 9 | Han: Alles wird schamloser. 10 | Man kann Stimmung/Gestimmtheit und Gefühl freilich nicht leichthin voneinander trennen (das Gefühl hat auch den »Status« der Stimmung, da es keine begriffliche Konstruktion des Verstehens ist, und vor allem, weil es keinen wesentlichen physiologischen Unterschied zwischen ihrer subjektiven Erfahrbarkeit gibt). Ihr grundlegendes Unterscheidungsmerkmal ist jedoch, dass »Stimmungen – im Gegensatz zu Gefühlen – nicht intentional auf einen Gegenstand gerichtet [sind]«. Wellberry: Stimmung, S. 704.

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gültige Daten erfassen, und so das angeblich »materiale« Empfinden – auch wenn es nichts davon weiß – nur dann real (und gültig) ist, wenn sein Mitteilungspotential die Grenzen der bloßen physiologischen Aisthesis überschreitet. Denn [w]enn unser menschlich-sterbliches Hören und Blicken sein Eigentliches nicht im bloß sinnlichen Empfinden hat, dann ist es auch nicht völlig unerhört, daß Hörbares zugleich erblickt werden kann, wenn das Denken hörend blickt und blickend hört.11

Und dieses Hören ist deswegen nicht ausschließlich Sache seines eigenen Sinnesorgans, weil [d]ieses Gehör […] nicht nur mit dem Ohr zusammen[hängt], sondern zugleich mit der Zugehörigkeit des Menschen zu dem, worauf sein Wesen ge-stimmt ist. Ge-stimmt bleibt der Mensch auf das, von woher sein Wesen bestimmt wird.12

Der weiter gefasste Sinn dieser Stimmung ist die Grundstimmung, die jeder gegenständlichen, gedanklichen oder thematischen Reflexion vorausgeht. Insofern ist die Stimmung vor der Anschauung (und Assertion) angesiedelt und steht in einer ähnlichen, aber nicht identischen Form wie die Sinnesorgane in Verbindung mit dem (von sich selbst) wissenden Bewusstsein: Das jeweils von uns Gehörte erschöpft sich niemals in dem, was unser Ohr als ein in gewisser Weise abgesondertes Sinnesorgan aufnimmt. Genauer gesprochen: Wenn wir hören, kommt nicht nur etwas zu dem hinzu, was das Ohr aufnimmt, sondern das, was das Ohr vernimmt und wie es vernimmt, wird schon durch das gestimmt und bestimmt, was wir hören, sei dies nur, daß wir die Meise und das Rotkehlchen und die Lerche hören.13

Der Unterschied, der nicht vernachlässigt werden darf, besteht – aller phänomenologischen Ähnlichkeit zum Trotz – gerade darin, dass die Grundstimmung, abweichend von den Empfindungen, die am Horizont des »wir« gestimmt und bestimmt werden, insofern der Reflexion vorausgeht, als sie überhaupt von der Wahrhaftigkeit des In-der-Welt-seins Kenntnis nimmt. Das so wahrnehmbar gewordene Dasein ist also gleichzeitig immer auch ein gestimmtes Sein, denn es zeigt, dass und wie wir in der Welt sind. Im heideggerschen Sinne ist dieses sich in der Stimmung erschließende Dasein keine tatsächliche Sachlichkeit einer Art »factum brutum«, das heißt, es kann nicht im feststellenden Akt des gezielten Blicks zur Kenntnis genommen werden: »Das Daß der Faktizität wird in einem Anschauen nie vorfindlich«.14 Das Dasein befindet sich in diesem Zustand der 11 | Heidegger: Der Satz vom Grund, S. 89. 12 | Ebd., S. 91. 13 | Ebd., S. 87. 14 | Heidegger: Sein und Zeit, S. 135.

Die Stimmung als Geschehen

Gestimmtheit, der Befindlichkeit weniger in der Besinnung auf sich selbst als vielmehr in der Stimmung – als bereits Vorgefundenes – bei sich selbst15, d.h. es »konstituiert sich« nicht in dem, was es »kennt, weiß und glaubt«16, sondern die Gestimmtheit ermöglicht uns überhaupt erst, uns nach etwas zu richten – sie hat also keinen Bezug zum Seelischen. So verstanden ist die Stimmung kein Zustand der Seele. Die so verstandene Stimmung erschließt vor allem die Art unserer Bezogenheit auf die Welt. Gerade darum ist die Stimmung – und darin besteht die grundlegende Neuerung der Stimmungsanalyse Heideggers – weder ein innerer noch ein äußerer Faktor, sondern sie erschließt (oder verschließt – siehe die Befindlichkeit der »Verstimmung«) ursprünglich das Dasein. Das ist möglich, weil [d]ie Befindlichkeit […] so wenig reflektiert [ist], daß sie das Dasein gerade im reflexionslosen Hin- und Ausgegebensein an die besorgte »Welt« überfällt. Die Stimmung überfällt. Sie kommt weder von »Außen« noch von »Innen«, sondern steigt als Weise des In-der-Weltseins aus diesem selbst auf. […] Die Stimmung hat je schon das In- der-Welt-sein als Ganzes erschlossen und macht ein Sichrichten auf… allererst möglich.17

Im Sein der Stimmung bei sich selbst erschließt sich die Welt insofern ursprünglicher als in den Empfindungen, als die Sinne nur, weil sie ontologisch einem Seienden zugehören, das die Seinsart des befindlichen In-der-Weltseins hat, […] »gerührt« werden und »Sinn haben [können] für«, so daß das Rührende sich in der Affektion zeigt.18

Deshalb ist eine nicht-gestimmte Positionierung, die der Sachlichkeit der Welt ursprünglich im Zeichen der reinen (feststellenden) Anschauung begegnen könnte, nicht möglich. Diese Anschauung nimmt immer schon etwas wahr, das die unvorgängliche dispositionale Positionierung ihr zugänglich gemacht hat. In bedrohlichen Zusammenhängen erscheinende Dinge können zugleich nur dann Angst hervorrufen, wenn eine – für die Welt offene, da auf die Welt angewiesene – Stimmung existiert, in der die bedrohliche Erschließung der Dinge überhaupt möglich ist: »Nur was in der Befindlichkeit des Fürchtens, bzw. der Furchtlosigkeit ist, kann umweltlich Zuhandenes als Bedrohliches entdecken.«19

15 | Vgl. ebd., S. 134-135. 16 | Die Stimmung ist darum die ursprüngliche Seinsweise des Daseins, »in der es ihm selbst vor allem Erkennen und Wollen und über deren Erschließungstragweite hinaus erschlossen ist.« Ebd., S. 136. 17 | Ebd., S. 136-137. 18 | Ebd., S. 137. 19 | Ebd., S. 137.

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Obwohl Heidegger die Verbindung zwischen dem Denken, der Stimmung und den Sinnen sehr deutlich macht 20, ist deutlich zu erkennen, dass bisher nicht von den Sinnesorganen die Rede war. Und so wurde ihm auch von mehreren Seiten vorgeworfen, bei der Ausarbeitung der humanen Welterfahrung die körperlichen (heute würden wir sagen: materialen) Zusammenhänge der Aufdeckungsleistung der gestimmten Positionierung im Dasein ziemlich zu vernachlässigen, selbst wenn er der Frage des Funktionierens der Sinnesorgane nicht ausweicht. Seine Untersuchungen erstrecken sich nicht auf einige wichtige Schlussfolgerungen, die sich dem Anschein nach aus der gleichen conditio humana ergeben, dass die Welt der Moderne uns auf eine Art gegeben ist, die auf der Verfügbarmachung durch die Technik beruht. Der materielle Technikdiskurs gestaltet die Welt nämlich unter Voraussetzungen, die in der menschlichen Welt nicht – oder nicht so – vorkommen: Die Zeit der Physik ist eine reine Lagezeit, d.h. eine Anordnung von Ereignissen durch die Beziehung des Früheren zum Späteren oder Gleichzeitigen. Sie wird aus der modalen Lagezeit, die in der unwillkürlichen Lebenserfahrung gegeben ist, durch Weglassen der modalzeitlichen Komponente gewonnen. Diese Komponente besteht in der Einteilung der Masse irgendwelcher Sachen (z.Bsp. Ereignisse, Zustände, Dinge) in die drei Klassen der vergangenen (die nicht mehr sind), die gegenwärtigen (die sind) und die zukünftigen (die noch nicht sind.) Dazu kommt der Fluß der modalen Lagezeit, der darin besteht, daß die Gesamtvegangenheit (die Masse alles Vergangenen) wächst, die Gesamtzukunft entsprechend schrumpft und die Gesamtgegenwart wechselt, indem sie sich in die Zukunft gleichsam hineinfrisst und dadurch jenes Wachsen und Schrumpfen bewirkt. In der reinen Lagezeit gibt es nur Verhältnisse, keine Prozesse. 21

Die Physik ist außer Stande, diese eigentümlichen, komprimierenden und verzehrenden Prozesse adäquat zu rekonstruieren, ebensowenig die Wahrnehmungsmechanismen, die daran geknüpft sind. In der Phänomenologie der Wahrnehmung hat das Gros der Vorstellungen, die man sich vom Körper gemacht hat, nämlich systematisch die Erfahrungen des Sehens und Tastens hervorgehoben und jene affektive Körpererfahrung vernachlässigt, die nicht an die Vorstellungen vom Körper, die habituellen, perzeptiven Schemata entspringen, geknüpft ist, sondern die von den Impulsen und – oft

20 | Das Denken, das an die ständige Grundstimmung des Da-Seins geknüpft ist, wiederholt hier im Wesentlichen nur »die Gabe, die sich gibt in der Grundstimmung. Der Mimesis, der Wiederholung des Gegebenen liegt eine Totalempfindung zugrunde. Es handelt sich nicht um die Empfindung sinnlicher Einzelreize. Diese sind bereits durch jene vermittelt, und das, was die Totalempfindung in sich aufnimmt, kennt die Trennung sinnlich bzw. leiblich/Geistig nicht.« Han: Heideggers Herz, S. 35. 21 | Schmitz: Leibliche Kommunikation, S. 76.

Die Stimmung als Geschehen

interferierenden – Erschütterungen (Hunger, Durst, Lust, Schmerz, Angst usw.) des gefühlten Leibs kündet. Der Leib ist eine anderer Gegenstand als der feste Menschenkörper, mit dem er weitgehend das Lokal teilt, das er aber z.B. im Blick überschreitet. Der Körper ist stetig ausgedehnt, flächig begrenzt und schneidbar, daher mit beliebig teilbarer Ausdehnung. Der spürbare Leib ist dagegen flächenlos, mit unscharf abgegrenzter, unzerlegbarer Ausdehnung ähnlich dem Schall, dafür meist ein Gewoge verschwommener Inseln, die zusammengehalten werden durch die Engungskomponente des vitalen Antriebs, der ein Dialog der konkurrierenden Tendenzen von Engung und Weitung ist. 22

Die neuere Literatur zu den körperlich-materialen Aspekten der Stimmung und der Gestimmtheit steht zwar nicht im ausgesprochenen Gegensatz zur Stimmungsanalyse Heideggers,23 sie artikuliert die Beziehung zwischen den Sinnen und der Stimmung, die durch die Erfahrung des gefühlten Leibs zugänglich wird, aber deutlich subtiler: Die Kommunikation beginnt schon am eigenen Leib, z.B. als Schmerz, der die übermächtige Hemmung eines expansiven Impulses ist; der Schmerz ist ein Partner, ein Widersacher, mit dem man sich auseinandersetzen muss, in dem man daher nicht aufgehen kann wie in der nicht minder peinlichen Angst, wenn sie panisch wird. Ein eindringender Widersacher, aber nicht mehr eigener Zustand wie der Schmerz und noch nicht ein Bestandteil der Umgebung, ist die reißende Schwere, die einen überfällt, wenn man stürzt oder sich gerade noch fängt, aber nur am eigenen Leibe gespürt wird wie Angst und Schmerz. 24

Wie man sieht, kommt hier die Leistung der im gefühlten Leib erfahrenen Impulse bereits zu den fünf Sinnen, die der räumliche Körper »betätigt«, bzw. zur Gestimmtheit hinzu, wobei bei Weitem nicht jeder dieser Impulse, jenen stimmungshaften Befindlichkeiten entspricht, die die Opposition außen–innen überschreiben. Beziehungsweise erlangt aus dieser Sicht vielleicht nicht einmal das Grundverhältnis von Sinnen und Gestimmtheit die ausschließliche Geltung, mit

22 | Ebd., S. 77. 23 | Schon allein darum nicht, weil, wie Wellbery zeigt, der Begriff des Rausches (als eines emotionalen Zustands des Gemüts) im Nietzsche-Buch selbst auch eine starke Abweichung von der Gebundenheit der Gestimmtheit/Stimmung an den Körper zeigt, d.h.: in Richtung des Modus des »leibens/Leibens«. Der Zustand der so verstandenen Befindlichkeit beseitigt wieder nur die Dichotomie Körper–Seele (die Gestimmtheit ist nichts, was entweder im Körper oder in der Seele »zugegen« wäre). Diesen Zustand muss man verstehen »als eine Weise des leibenden, gestimmten Stehens zum Seienden im Ganzen, das seinerseits das Gestimmtsein bestimmt«. Siehe Wellbery: Stimmung, S. 728. 24 | Schmitz: Leibliche Kommunikation, S. 78.

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der Heidegger die Grundstimmung, die die Offenheit zur Welt ermöglicht, zu Zeiten von Sein und Zeit versah. * Es gibt in der ungarischen Literatur der Moderne lehrreiche Beispiele für »Geschehnisse« der ästhetischen Erfahrung, die auf Stimmung oder umfassenden emotionalen Befindlichkeiten basieren, in diese integriert sind. Die Epiken Krúdys, Márais, Ottliks oder Nádas’ prägen mit großer Wahrscheinlichkeit die eine oder andere mustergültige Form jener »sich ereignenden Stimmung«, die als nicht-hermeneutisches Grundverhältnis die Erfahrung des Körpers und der Sinnesorgane konditioniert. Einen wertvollen Beitrag zu der Frage, wie die – rein immaterielle und als solche immer in der größten Intimität und der stärksten Eigenheit zur Subjektivität gehörende – Stimmung/Gestimmtheit, als ein »Zustand«, der nicht ausschließlich Ich-bezogen(!) ist, sich ereignet, leistet eine der herausragenden Schöpfungen der ungarischen klassischen Moderne. Die Schule an der Grenze hat die (sogar die Fach-)Rezeption jahrzehntelang als eine Parabel der inneren Freiheit beschäftigt, obwohl eine gründlichere literarische Lektüre längst auf das offensichtliche Primat eines Stimmungsgeschehens hätte aufmerksam werden können, das weniger von einem Freiheitsdrang oder einer echteren, »inneren« Freiheit, die der innere Seelenbau wahrt, kündet, als vielmehr vom provisorischen, und deswegen immer extremen und weder inneren, noch nur äußeren Zustand der Liminalität. Davon also, dass liminal Seiende »weder hier noch da sind; sie sind weder das eine noch das andere, sondern befinden sich zwischen den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen.«25 (Solche Übergangssituationen sind unmöglich zu verfestigten, wovon primär die Sinneserfahrung zu künden vermag.) Bereits die Schlussszene des Werkes lässt aufhorchen, die modal positiv in einer (negativen) Grundstimmung – sozusagen in ihrer Endgültigkeit – erklingt, die selten Romanen zu eigen ist, die als Parabel auf die Freiheit geschrieben wurden. Die Beständigkeit des Schmerzes, der sich endgültig in der Ruhe »einrichtet«, stellt sich nämlich hinsichtlich eines Zustandes, der sogar seine eigene harmonische Stabilität zu affirmieren vermag, plötzlich als konstitutiv heraus. So sagt der Erzähler gleichsam zum Abschied über Júlia: Mich aber schmerzte ihre Herzlichkeit, schmerzte die Hoffnungslosigkeit, und das wir beide etwas überlebt hatten, das nicht wieder gutzumachen war. Doch das war ein leiser, kaum merklicher, sehr, sehr feiner Schmerz, zugleich aber griff er tief und war heftig wie die Gewissheit über jene wenigen unumstößlichen Dinge, um die ich wußte. Er durchdrang mit seinem sanften galvanischen Strom meine mühsam erworbene, geheime unzerstörbare 25 | Siehe Turner: Ritual, S. 95.

Die Stimmung als Geschehen Ruhe, und machte die Grundschicht des Bodens, auf dem ich stehe und lebe – die unsagbar beseligende Einsicht, daß alles, trotz allem, in wunderbarer Weise gut ist, so wie es ist –, für einen Augenblick sichtbar. 26

Noch vielsagender ist allerdings, dass der Zustand des »leichten Rausches« – als ein eben nicht an die lokale Körperlichkeit und auch nicht primär an Sinnesorgane geknüpfter Zustand der Stimmung –, der bei der Interpretation des Romans systematisch der Vorstellung von Freiheit zur Seite gestellt wird, nicht unbedingt im immateriellen Medium der Stimmung erscheint. Das heißt, nicht als ein Bewusstseinsinhalt von gefühlter Lust oder gefühltem Glück, sondern offenbar als physiologischer Faktor (unten z.B. als materialisierte Affektion der Müdigkeit als eines »dichten Stoffs«) – und als solcher »stimmt« er ganz entschieden modal indiziert die Erfahrung der Sinnesorgane: Der Paradeschritt hatte zu dröhnen, unsere Stiefel jedoch versanken in schwabbendem Schlamm. Also klatschten wir uns mit der Hand auf die Schenkel, wie wir es in solchen Fällen zu tun pflegten. […] Da und dort hinter der Fensterreihe des zweiten Stocks dämmerte das schwache Licht der Nachtlampen und machte die Scheiben schimmern. Die übrigen Fenster waren dunkel; nur der Haupteingang war hell erleuchtet. Die Nacht war ohne Sterne. [visus] Zuweilen verstärkte sich der Wind [tactus] und fegte pfeifend durch den Park. [auditus] Das nasse Laub roch im leichten Rausch unserer Müdigkeit, die uns wie ein dichter Stoff umgab, nach feuchten Wurzeln. [odoratus] (237)

Hier wird deutlich, dass bei der physiologischen Artikulation der Stimmung mit Ausnahme der »Erfahrung« des gustus – die in die konkrete Lebenssituation nicht integrierbar ist – auf auffallende Weise jedes Sinnesorgan beteiligt ist. Die materialen Effekte der äußeren Sinnesorgane durchlaufen einen »Raum« inneren Empfindens, dessen Organ selten identifizierbar oder benennbar, der hier jedoch als Empfindung des Rausches – vergleichbar mit der Angst, der Beklemmung, den Reflexen innerer Organe (Zittern, unlokalisierbarer Schmerz) – nicht weit vom Gegenstand jener Analyse Nietzsches entfernt ist, bei der Körper und Physiologie einen legitimen Ausgangspunkt des (situativen) Selbst-Verstehens bilden. Jedoch so, dass diese Position nirgends unter die Herrschaft der platonischen Nicht-Stofflichkeit oder des materiellen Sensualismus geraten könnte: Das direkte Befragen des Subjekts über das Subjekt, und alle Selbst-Bespiegelung des Geistes hat darin seine Gefahren, daß es für seine Thätigkeit nützlich und wichtig sein könnte, sich falsch zu interpretiren. Deshalb fragen wir den Leib und lehnen das Zeugniß der verschärften Sinne ab. 27 26 | Ottlik: Schule, S. 420-421. Im Folgenden zitiert mit Seitenzahlen in Klammern. Die Übersetzung wurde teilweise angepasst (Anm. d. Übersetzers). 27 | Nietzsche: KSA 11, S. 639.

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Die so konditionierten Codes der Lesbarkeit bereiten mit ziemlicher Klarheit die Einsicht, dass die Pubertierenden, die dem Zustand der Liminalität mehr oder weniger gewaltsam ausgesetzt sind, tatsächlich nicht über intellektuelle/begriffliche Kanäle, sondern primär über Sinnesimpulse zur Kenntnis nehmen, dass sie aus der eigenen Welt geschützter heimischer Intimität in die fremden, unbekannten und brutal reglementierten Umstände einer vorerst nur in ihren bedrohlichen Eindrücken »echten« anderen Welt entlassen worden sind. In eine Welt, in der die ersten Impulse der Entfremdung der Betroffenen von sich selbst nicht als Erkenntnis des Wissens auftreten, sondern wiederum nur in sinnlicher Form: M. beobachtete seine neue Umwelt mit tiefem Mißtrauen; er lauschte und schnupperte, und es waren Gerüche, die neuen, fremdartigen Gerüche, die ihm die unheilverkündenen Besonderheiten des Ortes zu erkennen gaben. ›Wo es solche Gerüche gibt‹, dachte er, ›können keine normalen Menschen mit gewöhnlichen Schicksalen leben.‹ Er jedoch hielt sich für einen durch und durch normalen, alltäglichen Menschen. Dieser fremde Geruch schlug ihm nicht nur in den Korridoren, aus den Brettern des Fußbodens, ja sogar mit der Bergluft entgegen, er umwehte nicht nur den Unteroffizier namens Bognár, sondern auch ihn selbst. Er spürte an sich den Geruch der einheitlichen, schwarzen Tuchanzüge. (39)

Wie man sehen konnte, ist die Stimmung dennoch vor allem ein Zustand, dessen vorrangig welterschließende Anlage ihn vor jede Art von Anschauung, Willen und assertiv gedanklichen Vorgang stellt. Die Eigenheiten des zeitlichen oder räumlichen Gefüges der Stimmung werden hingegen erst in Abhängigkeit von den Erfahrungen zugänglich, die sie über die Art des Stimmungsgeschehens geben. Bezüglich des Stimmungsgeschehens ist traditionell die Vorstellung am verbreitetesten, dass die Zeitlichkeit suspendiert – oder zumindest die zeitliche Kontinuität aufgehoben (die Zeit »angehalten«) – wird, wobei betont wird, dass bestimmte Stimmungsarten die Illusion vorübergehender Zeitlosigkeit begleiten kann. Man kann deutlich spüren, dass die phänomenologische Fassbarkeit der Stimmung von der Romantik bis zur klassischen Moderne ununterbrochen in irgendeiner Weise mit dem Zusammenfallen von Augenblicklichkeit und Zeitlosigkeit in Zusammenhang gebracht wird. Heidegger bestimmt in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre parallel zur neuen Analyse des Seins die Stimmung als ein Geschehen, das nicht unbedingt ein Synonym für den »Wandel« sein soll. Seine besondere Leistung ist daran zu erkennen, dass es weniger Dinge voneinander scheidet, als es vielmehr etwas schon Vorhandenes erschließt und zum Leben bringt, das aus dem Verborgensein in das Erschlossensein tritt. Die »Zustandhaftigkeit« seiner Dynamik kann durch den Effekt des Fragmentarischen hervorgerufen werden, der infolge der oszillierenden, streuenden Konfiguration der Impulse aufreten kann, aufgrund einer nur zum Schein ruhenden Kinese: »Die Stimmung ist die Versprühung der Erzitterung des Seyns als Ereignis im Da-sein. Versprühung: nicht als ein bloßes Verschwinden und Verlöschen, sondern umgekehrt: als Bewahrung des Funkens im Sinn der Lich-

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tung des Da gemäß der vollen Zerklüftung des Seyns.«28 Zwar wird hier die Analyse der Stimmung, bzw. der Grundstimmung, in deren Namen das Denken sich neu formieren kann, in den Kontext eines »anderen Anfangs« gestellt – mit Blick auf die sich ereignende Temporalität der Stimmung bringt sie dennoch Klarheit. Mit Sicherheit zumindest insofern, als diese streuende Effektvielzahl so mit der Räumlichkeit verknüpft wird, dass die Erfahrung des »da«, der exzeptionellen Befindlichkeit des gegebenen (aktuellen) Zustandes, nicht ohne eine (richtungslose) temporale Dynamik möglich ist. Anders als in seinen Beschreibungen der Stimmung als Geschehen sucht Heidegger hier kein Konzept für das Nicht-Semantisierbare, er sieht vielmehr das Geschehen des aufleuchtend sich öffnenden Da-Seins, das den Zeit-Spiel-Raum des Da29 als Unzerteilbares im Da vergegenwärtigt, sich in einer (»sich ausbreitenden«) Stimmung offenbaren. Die Stimmung ist deshalb als Erfahrungs-»Schauplatz« der offenen Erschließung keine atmosphärische Umgebung, keine innere Befindlichkeit des Gemütszustands und nicht einmal ein Komplex von Eindrücken, sondern das diffuse, aber dynamisch zustandhafte Medium der (nicht fortschreitenden) zeitlichen Erschließung des Daseins, sein Zeit-Spiel-Raum, und als solche das Medium des räumlichen Zeitspiels oder des Spielraums der Zeit. Diese singuläre Analyse kann kaum unabhängig von der radikalen Schlussfolgerung Nietzsches von 1885 sein, es könne »›[e]s geschieht da etwas‹, […] an Stelle von ›da giebt es etwas, da existirt etwas, da ist etwas gesetzt werden‹«.30 Die Verfahren von Die Schule an der Grenze wurden bei den Formen des Stimmungsgeschehens weiter oben erwähnt, weil sie zwar weniger die strömenden, diffusen, wogenden, oszillierenden oder interferierenden Konfigurationen der Gestimmtheit aufzeigen, die dispositionelle Wirklichkeit der Figuren, allen voran Gábor Medves’, jedoch anhand entschiedener Zustandswechsel vorstellen. Oder: Die Schule an der Grenze begründet die ästhetische Erfahrung des Lesens nicht in Veränderungen, die sich umschlaghaft ereignen, sondern in der welterschließenden Leistung der inneren Dynamik veränderter Gestimmtheit: »Früher, da hatte alles noch ein Gesicht gehabt. Nicht nur die interessanten oder seltsamen oder guten Dinge, sondern alles und zu jeder Zeit«, erkennt die Erzählung die als Prozess unfassbare Zeitlichkeit der Stimmung an. Der Springbrunnen am Calvinplatz ebenso wie der Calvinplatz selbst. Ob man zu Fuß vorüberging oder in der Straßenbahn vorbeifuhr, ob abends oder in der Früh auf dem Weg in die Schule, ob nach einem Regen, ob im Frühjahr oder im Winter, ob gutgelaunt oder traurig, immer waren sie irgendwie, und immer waren sie anders und sinnvoll. Sie waren da, und jeder Augenblick ihres Daseins war erfüllt von einem Sinn, wenn man ihn auch nicht ergründen, ihm keinen Namen geben konnte. Inmitten der Vergänglichkeit der Zeit lagen 28 | Heidegger: GA III, Bd. 65, S. 21. 29 | Ebd., S. 22. 30 | Nietzsche KSA 11, S. 641.

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Ernő Kulcsár Szabó ein unerforschliches, tiefes Glück und Unendlichkeit allen Dingen zugrunde. […] Doch die Augenblicke, da er mit seiner Mutter durch die Haris-Passage ging, die Atmosphäre, die musikalische Tonart, Saft und Mark dieses Augenblicks, jenes Wesentliche, wofür es kein Wort, gar keinen Begriff gibt, blieben unauslöschlich in seiner Erinnerung haften. Er spürte es am Gaumen und auf der Zunge wie Most oder Glück: Verregneter Gehsteig, Großstadt – greifbar und unaussprechlich, wie das Leben selbst in seiner gestaltlosen Vollkommenheit. (274-275)

Diese Neuordnung der Stimmung folgt im Roman der Liminalität offenbar einer anderen Struktur als in den in dieser Hinsicht epochemachenden, weil für die ungarische epische Moderne exemplarischen herausragenden Prosastücken Gyula Krúdys. Nicht nur, weil die Grundstimmung bei Krúdy – als Konsequenz eines epischen Prozesses, der nicht auf einer Reihe von Handlungen oder einer Ordnung von sich entwickelndem Geschehen basiert – nicht im Entferntesten solchen Entwicklungen ausgesetzt ist, die den diktionalen Grundton der Erzählung grundlegend modifizieren oder die alles durchdringende Atmosphäre der epischen Welt zerstören. Sondern auch, weil, obwohl sich auch in Krúdys Romanen die Stimmung primär im Anblick der Landschaft und in den vom Wetter hervorgerufenen Empfindungen äußert, mit dem konstitutiven Eingreifen der Erinnerung, die immer eine Zustandhaftigkeit hervorruft, auch das modale Verhältnis zwischen Erzählung und Mitteilung eine andere – eher elegische/melancholische – Stabilität erzeugt, als die dynamische Struktur der Erinnerungstechnik von die Die Schule an der Grenze, die in der Veränderung und Neuordnung von Zuständen besteht. So gesehen ist die vergleichende Erläuterung der nicht-semantischen weltbildenden Leistungen der modernen ungarischen Epik – anders als die Untersuchungen zur lyrischen Gattung – eine Aufgabe, bei der gegenwärtig wahrscheinlich noch nicht einmal die Richtung der Fragen klar ist. Deutsch von Merten Both

L iter atur Han, Byung-Chul: Heideggers Herz. Zum Begriff der Stimmung bei Martin Heidegger, München 1996. — Transparenzgesellschaft, Berlin 2012. — »Alles wird schamloser und nackter«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. April 2012. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 1967. — Der Satz vom Grund, Pfulingen 71992. — Die Technik und die Kehre, Stuttgart 102002. — Gesamtausgabe Abt. III, Bd. 65, Frankfurt a.M. 32003.

Die Stimmung als Geschehen

Heisenberg, Werner: Das Naturbild der heutigen Physik, Reinbek bei Hamburg 17 1979. Kittler, Friedrich: Grammophon – Film – Typewriter, Berlin 1986. — Draculas Vermächtnis, Leipzig 1993. Nietzsche, Friedrich: Nachlaß 1884-1885, in: Kommentierte Studienausgabe 11 (Hg. G. Colli/M. Montinari), München 1999. Ottlik, Géza: Die Schule an der Grenze (dt. von Charlotte Újlaki), Frankfurt a.M. 1963. Schmitz, Hermann: Leibliche Kommunikation im Medium des Schalls, in: P.M. Meyer (Hg.): Acoustic Turn, München 2008. Turner, Victor: Das Ritual: Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M. 1989. Wellbery, David E.: Stimmung, in: K.Barck et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe 5, Stuttgart/Weimar 2005.

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Heideggers Quantifikation von Welt Florian Klinger

[Problem] Was heißt es, Welt zu haben? Und was, mehr oder weniger Welt zu haben? Heideggers Begriff von Welt ist inzwischen so ubiquitär, dass es einer extra Begründung bedarf, sich ein weiteres Mal mit ihm zu beschäftigen. Für mich besteht diese in meinem Glauben, dass die gängigen Lesarten des Begriffs etwas Entscheidendes daran ungeklärt lassen, dessen es bedarf, damit er als robuster pragmatischer Grundbegriff funktionieren kann. Es ist nämlich nicht ohne Weiteres auszumachen, ob die Distinktion des Begriffs in einer qualitativen oder einer quantitativen Perspektive liegt – genauer, ob Welt bei Heidegger in erster Linie im Gegensatz zu ihrem Nichtvorhandensein oder auf der Skala ihres mehr oder weniger Vorhandenseins verhandelt wird. Wenn diese Perspektiven einander vielleicht nicht auf offensichtliche Weise und in jeder Hinsicht ausschließen, so tun sie dieses doch dann, wenn man das Auszeichnende von Welt, also das, was sie als Welt ausmacht, einmal als Entweder-Oder und einmal als Mehr-oderWeniger versteht. Die erste Bestimmung betrifft die Grenze zwischen Welt und Nichtwelt auf direkte Weise, bei der zweiten ist die Sache komplizierter, da die Grenze in die Frage der Latenz oder Virtualität der Welt eingelassen ist. Während ich im Folgenden beide zunächst als gleichwertig verhandle, ist es doch die zweite, die Frage der Quantifikation, der Heideggers Interesse besonders gilt – nicht zuletzt vielleicht deshalb, weil sich aus ihr fast unversehens eine Spezifik des Menschseins ergibt. [Pragmatische Teleologie] Zunächst ist die Welt die Ganzheit der »pragmata« als dessen, »womit man es im besorgenden Umgang (praxis) zu tun hat. [… D]en spezifisch ›pragmatischen‹ Charakter der pragmata«, das bedeutet die Emphase auf dem Besorgen, bekommt man dadurch in den Blick, dass man jedes Ding nach Maßgabe dessen versteht, was es innerhalb seines Zusammenhangs tut; es ist »wesenhaft« nicht durch ihm einwohnende Qualitäten bestimmt, sondern als »›etwas, um zu …‹ […] In der Struktur ›Um-zu‹ liegt eine Verweisung von etwas

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auf etwas«.1 Diese teleologische Bestimmtheit ist jedoch nicht auf dieses etwas beschränkt, sondern sie setzt sich so fort, dass es wiederum seinerseits auf etwas verweist, und immer so weiter – weshalb der ganzheitliche Charakter der Welt (d.h. die Tatsache, dass sie eine in jeder Verweisung präsente Ganzheit des Verweisungszusammenhangs bildet) ebenso angenommen werden muss wie ihr indefiniter Charakter (d.h. die Tatsache, dass sie in keiner einzelnen Verweisung an ihr Ende kommt). Was Heidegger die Zuhandenheit der sich im Gebrauch bestimmenden Dinge nennt, bezeichnet den vortheoretischen Charakter der Bestimmung, im Gegensatz zur Vorhandenheit der Dinge ihrer objektiven Bestimmbarkeit nach. Damit ist die pragmatische Welt selbst ein vortheoretisches Phänomen. Sie ist primär das, was wir tun, nicht das, was wir erkennen oder bezeichnen, und sie ist dies in einer Weise, die der Differenz von praktisch und theoretisch ontologisch vorausliegt. Zwar kann sie die Grundlage von Theorie abgeben – die prädikative Bestimmung des Vorhandenen ist ein bestimmter Modus der vortheoretischen Bestimmung des Zuhandenen2 –, sie ist aber nicht umgekehrt durch diese begründbar. Zuhandenheit liegt nicht dann vor, wenn etwas über etwas ausgesagt oder erkannt wird, sondern wann immer etwas als etwas genommen wird. »Sofern wir diese Möglichkeit, etwas als etwas zu nehmen, als ein Charakteristikum des Weltphänomens ansprechen, ist die ›als‹-Struktur eine Wesensbestimmung der Weltstruktur.«3 Das etwas-als-etwas-Nehmen ist die Struktur von Welt in ihrer Auflösung in einzelne Akte, das, woraus Welt sich letztlich zusammensetzt. Die pragmatische Welt enthält nichts, was nicht als etwas genommen ist. Sich in ihr bewegen heißt, dass kein Ding und keine Handlung schon gegeben, sondern dass sie im Nehmen-als immer jeweils noch zu bestimmen – und das bedeutet: als etwas herzustellen – sind. Sein wird nicht angetroffen sondern hergestellt, und die Welt, so könnte man sagen, ist nur, indem sie in jedem ihrer Momente teleologisch artikuliert und aktualisiert wird. [Nehmen-als] Was heißt das aber: Nehmen-als? Wenn ich etwa zur Herstellung eines Schuhs etwas als Hammer und etwas anderes als Leder nehme, dann ist nicht schon unabhängig von meinem Nehmen klar, um was es sich dabei jeweils handelt. Man denke an die Vielzahl möglicher Verwendungsweisen des als Hammer verwendeten etwas, oder etwa an einen Fall vor Gericht, der als Fall keineswegs unbestimmt, in der Hinsicht, auf die es ankommt, jedoch noch unentschieden ist. Besonders klar wird dies meines Erachtens in Wittgensteins Beschreibung des Sehen-als, die in strikter Parallele zu Heideggers Nehmen-als als ubiquitärer Gründungsakt einer pragmatischen Welt verstanden werden kann. Bekanntermaßen beobachtet Wittgenstein, dass etwa die Figur eines Dreiecks 1 | Heidegger: Sein und Zeit, S. 68. 2 | Brandom: Heidegger’s Categories, S. 403f. 3 | Heidegger: Die Grundbegriffe, S. 450.

Heideggers Quantifikation von Welt

als geometrische Figur, als dreidimensionaler Körper, als Zeiger oder Pfeil, als liegender Keil oder als noch anderes gesehen werden kann. Keine dieser Möglichkeiten ist an sich gegenüber den anderen ausgezeichnet, die Zeichnung selbst enthält keinerlei Information darüber, wie sie genommen werden muss; sie hat keine inhärente Auszeichnung, sondern ihre Auszeichnung stellt sich erst her, indem sie als etwas gesehen bzw. genommen wird.4 Dazu ist zwischen den Möglichkeiten zu entscheiden. Um etwas als etwas zu nehmen, muss ich es auch als etwas anderes nehmen können, das besagt das ›als‹. Wir nehmen, so Wittgenstein, das Essbesteck in einer normalen Situation nicht ›als‹ Messer und Gabel, und wir nehmen, so lässt sich Heidegger ergänzen, den Hammer nicht unbedingt ›als‹ Hammer. Wo keine Alternativität vorliegt, kann es auch kein Nehmen-als geben, es bedarf dazu mindestens einer alternativen Möglichkeit. Wenn ich das Genommene aber auch als etwas anderes nehmen kann, dann handelt es sich beim Nehmen-als um Unterscheidung alternativer Möglichkeiten, Auswahl von einer von ihnen, und Entscheidung der Alternativität der Situation – alles in einem Akt. Die genommene Möglichkeit wird verwirklicht bzw. aktualisiert, und es wird sich für meine Diskussion als wichtig erweisen, dass das Nehmen der einen, ›gewählten‹ Möglichkeit die ›abgewählten‹ heterogenen Möglichkeiten (bzw. mindestens deren eine) mit einschließt, und zwar so, dass sie als solche – d.h. in ihrer Potentialität – von der Unterscheidung mit aktualisiert und konstitutiv in ihr enthalten sind – als ihre Latenz oder Virtualität. Und es wird weiter wichtig sein, dass in der Struktur des als ein solches, dass … eine Klasse oder Familie eröffnet wird, in der das Genommene mit anderem vergleichbar wird und andere Fälle des Nehmens mit diesem Fall. Dabei geht das Kriterium des Vergleichs – die Allgemeinheit oder Klasse, das Tertium usw. – dem Nehmen nicht voraus, sondern wird in seinem Akt erst hergestellt, denn was etwas ist, entscheidet sich aus dem, was es tut, auf welche Weise es arbeitet, als was es genommen ist. Was Heidegger In-der-Welt-sein nennt, ist deshalb weniger das äußerliche Antreffen von Vorhandenem, als vielmehr die aktive Herstellung von Welt qua Nehmen-als. Ihr primärer Seinsmodus ist nicht, dass sie uns begegnet oder umgibt, sondern dass wir sie vollziehen. Dass die Welt unsere Herstellung ist, darf jedoch nicht dazu verleiten, sie für beliebig zu halten. Sie ist vielmehr immer schon geteilt, was sich am besten daran ersehen lässt, dass Nehmen-als keinen solipsistischen Akt, sondern eine Reaktion darstellt – also etwas, das an etwas anderem zur Auslösung kommt und den besagten Vergleich mit anderen Fällen einberuft. Solches Nehmen ist seinem Ursprung nach ein doppeltes Verhältnis: erstens zu dem, was dabei genommen wird, und zweitens zur Textur der verglichenen Fälle. Darum ist Welt keine allein vortheoretische, sondern im Zusammenhang damit auch eine vorsubjektive und vorpolitische Kategorie; weder ›intersubjektiv‹ noch ›öffentlich‹, liegt sie den binären Unterscheidungen von subjektiv-intersubjektiv und privat-öffentlich 4 | Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Teil II.xi.

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strukturell voraus. Sie bezeichnet diejenige Grundkommensurabilität, deren es bedarf, damit Intersubjektivität und Öffentlichkeit – dem primären In-der-Weltsein gegenüber sekundäre Seinsmodi – allererst möglich werden. Weshalb etwa die Frage, ob eine solche Grundkommensurabilität angenommen werden kann, keine sinnvolle Frage ist, weil ohne diese Annahme kein Grund bestünde, auf dem sich überhaupt zwischen Kommensurabilität und Inkommensurabilität unterscheiden ließe. [Entweder-Oder: Qualifikation von Welt] Die im Nehmen-als vollzogene Grenze der Welt zur Nichtwelt bestimmt Heidegger nun auf zwei unterschiedliche Weisen. Zuerst in einer Ausschlussbestimmung, die Haben und Nichthaben von Welt als entweder-oder kontrastiert und dabei menschliches Dasein etwa im Gegensatz zum bloßen Leben des Tiers versteht. Während es kein Dasein gibt ohne Welt, gibt es doch Leben ohne Welt. In Sein und Zeit erscheint die Grenze zunächst so gezogen, dass sich Dasein nicht in der aristotelischen Tradition des zoon politikon oder des zoon logon echon als tierisches Leben+X (X=Gemeinschaft, Rationalität usw.) bestimmt, sondern als etwas von Grund auf Anderes, das im In-der-Weltsein seine Auszeichnung hat. Der strukturelle Grund dafür ist Nehmen-als, »formal formuliert: ›etwas als etwas‹, was dem Tier von Grund aus verschlossen ist.«5 Wir teilen nicht eine Welt mit den Tieren, denen dann vielleicht bestimmte Teile dieser Welt unzugänglich bleiben, sondern wir leben in einer durch Nehmen-als strukturierten Welt, zu der Tiere von Anfang an keinen Zugang haben. Sie haben dies sowenig wie Unbelebtes, sie sind von der menschlichen Welt ebenso radikal ausgeschlossen wie etwa Steine. So sagt Heidegger in Die Grundbegriffe der Metaphysik: »Stein und Tier haben beide keine Welt«6, und meint damit, dass das Tier sich zwar auf seine Umwelt bezieht, dieser Bezug aber nicht weltschaffend ist. Ohne Nehmen-als, das Möglichkeiten ausmacht und zwischen ihnen entscheidet, und damit einen Unterschied schafft wo vorher keiner war, ist das Tier nach Heidegger in dem befangen, was es jeweils eben tut. Wenn also die Eidechse auf der Felsplatte in der Sonne liegt, so ist die Frage, »ob ihr die Sonne als Sonne zugänglich ist, ob ihr die Felsplatte als Felsplatte erfahrbar ist«, zu verneinen.7 Nicht nur ist die Möglichkeit, nicht in der Sonne zu liegen (sofern es diese Möglichkeit überhaupt gibt), nicht im in der Sonne Liegen der Eidechse als ausgeschlossene Option mit artikuliert, sondern dieses hat auch keine positive Bestimmung, die das Liegen in einen Zusammenhang, eine Vergleichbarkeit, ein Urteil der Art ›die Felsplatte als Platz zum Sonnen‹ einfügt, in Affinität mit ähnlichen (die Platte ist eine solche, die …) und im Gegensatz zu anderen (sie ist das und das nicht) Verwendungsweisen der Platte. Ähnlich bemerkt Kant, dass der Ochse zwar den Stall und die Türe kennt, aber nicht die Türe als Stalltüre; das 5 | Heidegger: Die Grundbegriffe, S. 397. 6 | Ebd., S. 289. 7 | Ebd., S. 291.

Heideggers Quantifikation von Welt

zum Stall Gehören der Türe, in dem diese als etwas genommen wird, entgeht dem Tier.8 »Der Grashalm«, sagt Heidegger, »an dem ein Käfer hinaufläuft, ist ihm kein Grashalm und kein mögliches Stück eines späteren Heubündels, davon der Bauer seine Kuh füttert, sondern der Grashalm ist ein Käferweg, auf dem er nicht irgendwelchem Freßbaren, sondern der Käfernahrung nachgeht.«9 Die Weisen des Käfers, sich zu seiner Umwelt zu verhalten, sind zweckmäßig und hochdifferenziert. Was sie vom menschlichen Weltverhältnis unterscheidet ist das Unvermögen, den Grashalm nicht allein zu nehmen bzw. hinaufzulaufen, sondern ihn als einen solchen zu nehmen, der etwa vom Bauern an die Kuh verfüttert wird, oder seinen Käferweg als einen Weg zu verstehen, der zu diesem oder jenem Futter führen könnte. Ohne das als ist nicht vorzustellen, dass das Genommene in anderen Zusammenhängen und zu anderen Zwecken auch vorkommen mag, denn es gibt keine heterogenen Perspektiven, die in seinem Nehmen ausgeschlossen und in diesem Ausschluss artikuliert werden. Die Pragmatik, die Zwecke zur Reihe verbindet, indem ein Zweck weitere Zwecke impliziert – die Welt eben –, ist dem Tier unbekannt und begründet seine Befangenheit in der möglichkeitsarmen Addition eines das und das, die allein auf das jeweils Nächste festgelegt bleibt. Es gibt keine pragmatische Struktur, die eine Ausweitung mit sich brächte. Was zunächst als logische Eindimensionalität und ›Horizontalität‹ der Verbindungen erscheint, in der ›vertikalisierende‹ Operationen wie Universalisierung und Hierarchisierung nicht vorkommen, ist also im Grunde eine pragmatische Eindimensionalität, die den Käfer daran hindert, unter Bezug auf heterogene und entferntere Zwecke neue Möglichkeiten zu schaffen. Das meint Heidegger wenn er sagt, das Tier sei in seine Umwelt eingesperrt »wie in einem Rohr, das sich nicht erweitert und verengt«.10 Nun fährt Heidegger fort: Demgegenüber ist die Welt des Menschen reich, größer an Umfang, weitergehend an Eindringlichkeit, ständig nicht nur umfänglich vermehrbar (man braucht nur Seiendes hinzuzubringen), sondern auch ihrer Eindringlichkeit nach mehr und mehr zu durchdringen. Daher kann dieser Bezug zur Welt, wie ihn der Mensch besitzt, so charakterisiert werden, daß wir

8 | Kant: Die falsche Spitzfindigkeit, S. 59: »Ein Ochs, heißt es, hat in seiner Vorstellung vom Stalle doch auch eine klare Vorstellung von seinem Merkmale der Thüre, also einen deutlichen Begriff vom Stalle. Es ist leicht, hier die Verwirrung zu verhüten. Nicht darin besteht die Deutlichkeit eines Begriffs, dass dasjenige, was ein Merkmal von einem Dinge ist, klar vorgestellt werde, sondern dass es als ein Merkmal des Dinges erkannt werde. Die Thüre ist zwar etwas zum Stalle Gehöriges und kann zum Merkmal desselben dienen, aber nur derjenige, der das Urtheil abfasst: diese Thüre gehört zu diesem Stalle, hat einen deutlichen Begriff von dem Gebäude, und dieses ist sicherlich über das Vermögen des Viehes.« 9 | Heidegger: Die Grundbegriffe, S. 292. 10 | Ebd.

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Florian Klinger von der Vermehrbarkeit dessen sprechen, wozu sich der Mensch verhält, und daß wir daher von der Weltbildung sprechen.11

Der Unterschied liegt also zunächst darin, dass die Welt des Menschen sich indefinit erweitern und vertiefen lässt, die Umwelt des Tiers sich dagegen keiner Erweiterung eröffnet. Auf welche Weise »Weltbildung« im Nehmen-als verwurzelt ist, hat sich bereits angedeutet: (1) Mit dem Nehmen von etwas als ein solches, das  … ist ein Bezug auf andere Fälle eröffnet, dieses Nehmen ist anderen vergleichbar. Ein solcher Bezug lässt sich beliebig in die Welt hinein fortsetzen, er ist das, kraft dessen der einzelne Akt seine Projektion in die ›Tiefe‹ ihrer Verhältnisse entfaltet. Damit ist das, was Heidegger »Eindringlichkeit« nennt, nämlich die ›Tiefe‹ oder ›Vertikalität‹ der Welt in der Tat unbegrenzt vermehrbar. (2) Weil die alternativen Möglichkeiten, zwischen denen die Wahl erfolgt, absolut heterogen sind (nur durch ihre Alternativität vereint), geht die gewählte Möglichkeit nicht qua Explikation oder Ableitung aus dem Status quo hervor – eine Unterbrechung, die strukturell Neuheit (das Unvorhersehbare und Inkommensurable) möglich macht. Damit ist das, was Heidegger »Umfang« nennt, nämlich die Summe alles dessen, was es in der Welt gibt, in der Tat unbegrenzt erweiterbar. Dazu gehört auch ein weiterer Aspekt: Weil Nehmen-als die heterogenen Möglichkeiten, zwischen denen es entscheidet, in seine Operation einschließt, erweitert es den Bereich des Möglichen auch um das, was von der Entscheidung ›abwählt‹ wird. Um das Dreieck als Zeiger zu nehmen, muss ich andere Möglichkeiten (das Dreieck als liegender Keil, and dreidimensionaler Körper usw.) mit ihm ins Verhältnis setzen. Möglichkeiten, die andernfalls aufgrund ihrer Heterogeneität nie zu einander ins Verhältnis träten, tun dies nun im Akt (hinsichtlich des jeweiligen Zwecks) des Nehmens. Welt haben heißt in dieser Perspektive immer schon: mehr Welt haben, und ist dem Nichthaben von Welt übergangslos entgegengesetzt. [Mehr-oder-Weniger: Quantifikation von Welt] Dagegen ist die zweite Weise, auf die Heidegger die im Nehmen-als vollzogene Grenze der Welt bestimmt, genuin quantitativ. Sie ist dies nicht so, dass die in der Weltbildung gegebene quantitative Steigerung als qualitative Differenz gegenüber dem erscheint, was keine Welt bilden kann, sondern als die Unterscheidung eines Weniger gegenüber einem Mehr an Welt. Über Welt als Quantität nachzudenken ist meines Wissens eine genuine Innovation Heideggers, die mit der bisher diskutierten qualitativen Bestimmung des Weltbegriffs (»Die Welt des Tieres – wenn wir schon so sprechen – ist nicht eine Art und ein Grad der Welt des Menschen«12) zunächst auf offensichtliche Weise kollidiert. In der neuen Perspektive sind Mensch und Tier durchaus vergleichbar, und zwar dann, wenn man die »Zugänglichkeit von Seiendem« in Rechnung stellt: Wie der Mensch ist »[d]as Tier […] dadurch bestimmt, daß es Zu11 | Ebd., S. 285. 12 | Ebd., S. 294.

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gänglichkeit zu … hat.«13 Damit scheint Heidegger alles das zu meinen, mit dem Mensch oder Tier überhaupt ins Verhältnis treten können. Mit dieser qualitativen Vergleichbarkeit, die das qualitative Moment ›vergleicht‹, d.h. aus der Gleichung herausnimmt, stellt sich das quantitative Moment als maßgeblich ein: Auf »das Quantum und die Summe und den Grad der Zugänglichkeit« kommt es an.14 In diesem basalen Sinn bloßer Zugänglichkeit ist Welt keine Auszeichnung des Menschen, sondern zwischen Mensch und Tier geteilt: »Welt bedeutet zunächst die Summe des zugänglichen Seienden, sei es für das Tier oder für den Menschen, veränderlich nach Umfang und Tiefe der Durchdringung.«15 So kann Heidegger pauschal sagen: »Bei Tier und Mensch finden wir ein Haben von Welt«16, womit der Unterschied zwischen Mensch und Tier jetzt allein einen »Gradunterschied« darstellt, den Heidegger seiner positiven Seite nach in den bereits zitierten Passagen zur Weltbildung charakterisiert, seiner negativen oder privativen Seite nach aber etwa in der folgenden Beschreibung der »Weltarmut« des Tiers: Armut – das Weniger gegenüber dem Mehr. Das Tier ist weltarm. Es hat weniger. Wovon? Von solchem, das ihm zugänglich ist, von solchem, womit es als Tier umgehen kann, wovon es als Tier angegangen werden kann, wozu es als Lebendiges in Beziehung steht. Weniger im Unterschied zu dem Mehr, zum Reichtum, über den die Bezüge des menschlichen Daseins verfügen.17

Mit der Etablierung dieses Gradunterschieds ist das eingangs bezeichnete Problem nun voll entfaltet, das Heideggers Weltbegriff seiner Kohärenz nach zweifelhaft macht: Entweder-Oder oder Mehr-oder-Weniger? Heideggers Ausarbeitung seiner berühmten These »der Stein ist weltlos, das Tier ist weltarm, der Mensch ist weltbildend«18 formuliert einen quantitativen Unterschied, demzufolge das Tier weniger Welt hat als der Mensch, und der Stein noch weniger, nämlich keine – zugleich aber einen qualitativen Unterschied, demzufolge Tier und Stein, weil ihnen beiden das Nehmen-als abgeht, dem Menschen als weltlos gegenüberstehen.19 Heidegger bemerkt dies selbst: »Somit zeigt sich im Tier ein Haben von Welt und zugleich ein Nichthaben von Welt. […] das Tier hat Welt – das Tier hat nicht Welt. Hier verschlingen sich gleichsam die Extreme von Weltlosigkeit und 13 | Ebd. 14 | Ebd., S. 288. 15 | Ebd., S. 285. 16 | Ebd., S. 293. 17 | Ebd., S. 284f. 18 | Ebd., S. 273. 19 | Die Feststellung »Leben ist weder pures Vorhandensein, noch aber auch Dasein«, Heidegger: Sein und Zeit, S. 50, eröffnet eine grundsätzliche Unterscheidung dreier Bereiche: Der Reihe Stein-Tier-Mensch entspricht die Reihe Vorhandenheit-Leben-Existenz. Vgl. Wunsch: Das Lebendige, Abschnitt I.

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Weltbildung.«20 Für meine gegenwärtige Diskussion, der es nicht um den Status der Tiere geht sondern um die Frage der Welt, kontrastiert dennoch dieser doppelte Status die quantitative und die qualitative Bestimmung von Welt. Obwohl Heidegger den Widerspruch mit der zitierten Trennschärfe selbst auf den Punkt bringt, findet er – dies bedarf hier vielleicht der Erwähnung – in der weiteren Abhandlung des Weltproblems keine Auflösung. [Qualitative und quantitative Bestimmung kreuzen sich im Nehmen-als] Hier ist nun meine These, die durch das Bisherige bereits vorbereitet ist und von der ich denke, dass sie effektiv auf den Widerspruch reagiert: Im Nehmen-als, das Welt qualitativ auszeichnet, ist insofern immer schon eine Quantifikation von Welt impliziert, als es eine Entscheidung darstellt und mit alternativen Möglichkeiten zu tun hat. Wenn aber Nehmen-als wesentlich Quantifikation enthält, dann kollabiert die Unterscheidung und der Gegensatz von Entweder-Oder und Mehr-oderWeniger, und das Problem ist behoben. Die jeweils einzelne Bestimmung qua Nehmen-als ist ihrer latenten oder virtuellen Seite nach immer auch die Bestimmung von anderen Möglichkeiten bzw. Alternativen, denn damit etwas gewählt werden kann, muss anderes abgewählt werden, und um abgewählt werden zu können, muss es bestimmt sein. Diese Möglichkeiten können mehr (unzählige mögliche Anschlussformen beim Malen eines Bilds) oder weniger (Keil oder Zeiger) sein, je nach Reichweite des projektierten Zwecks; es bedarf aber mindestens ihrer zwei, damit man von Nehmen-als sprechen kann. In dem Maß wie alternative Möglichkeiten vorliegen, erschließt das Nehmen-als eine Welt. Oder besser, es konstituiert sie, da alternative Möglichkeiten nie an sich schon vorliegen, sondern vom Nehmen-als selbst in ihrer jeweiligen Spezifik artikuliert werden. Freilich konstituiert das jeweilige Nehmen-als nicht die eigene Alternative, sondern die Alternative für den jeweiligen Anschlussakt: Wenn ich dieses als geometrische Figur, als dreidimensionalen Körper, oder als Zeiger nehmen kann, dann sind diese Möglichkeiten – auch wenn ich weitere darin finden kann – doch insgesamt in der Situation gegeben, auf die mein Nehmen-als zu reagieren hat. Es ist also schwierig, der Weltbildung einen Anfang zuzuschreiben, weil sie als Reaktion an dem ihr jeweils vorausgehenden Akt zur Auslösung kommt.21 Dabei ist, wie ich gleich näher erläutern werde, die relevante Unterscheidung nicht diejenige zwischen disjunktiv (›abgewählte‹ Möglichkeiten sind keine weil eben verworfen) und inklusiv (sie sind dialektisch oder differentiell eingeschlossen), sondern die zwischen der Aktivität ohne Nehmen und der Situation des Nehmen-als, in der die Aktivität auf bricht und neue, unvorhersehbare Möglichkeiten aus sich heraus 20 | Heidegger: Die Grundbegriffe, S. 293f. 21 | Wittgenstein: »Der Ursprung und die primitive Form des Sprachspiels ist eine Reaktion; erst auf dieser können die komplizierteren Formen wachsen. Die Sprache – will ich sagen – ist eine Verfeinerung, ›im Anfang war die Tat‹.« Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen, S. 493. Meine Hervorhebung, F.K.

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freisetzt. Was die Unterscheidung von aktuell und virtuell nahelegt, denn die unverwirklichten Möglichkeiten bilden das jeweilige Virtuelle des Nehmens, alles das, was in ihm nicht aktuell und dennoch vorhanden ist. Wenn Tiere dagegen nicht zwischen Alternativen entscheiden und demnach ihre Akte keine Projektion von Welt darstellen, dann kennen sie keine solche Virtualität. (Ob dies in der Tat für Tiere zutrifft, spielt für meine Diskussion, wie sich noch zeigen wird, keine Rolle.) Sie tun das, was sie eben tun, ohne den pragmatischen Horizont anderer Möglichkeiten und Perspektiven. Diese Begrenztheit ist kein Fehlen von Theorie, etwa als Unfähigkeit der Tiere, Nehmen-als in der Form propositionaler Feststellungen zu fixieren und die Welt durch Schlussverfahren zu erweitern, sondern von pragmatisch bestimmten Möglichkeiten. Die Skala des menschlichen Welthabens ist relational, ihre Quantifikation ist Tendenz, ein Mehr-als oder Weniger-als, mit dem unteren Limit von 2, zwei Alternativen. Das Tier dagegen scheint für Heidegger ein Extrem zu bilden, nämlich 1, eine Alternative oder den Nullwert an Auswahl – das, was aus der relationalen Perspektive zwar nicht grundsätzlich herausfällt, aber immer oder absolut weniger darstellt. Hieraus ergibt sich die Antwort auf die leitende Frage. Die Struktur des Nehmen-als zeigt, inwiefern Entweder-Oder und Mehr-oder-Weniger vereinbar sind: sie koinzidieren im Übergang von 1 zu 2 Möglichkeiten (Nichtentscheidung zu Entscheidung, Nehmen zu Nehmen-als), der einmal eine kategorische Grenze darstellt, ein andermal den Beginn einer numerischen Skala. Das Tier nach Heidegger vereint eine Nullvirtualität mit einer Nichtvirtualität, den Nullgrad an Welt mit Weltlosigkeit. Die qualitative und die quantitative Bestimmung von Welt kreuzen sich im Nehmen-als so, dass der Widerspruch in Heideggers Weltbegriff ausgeräumt erscheint, und zwar aus der Struktur des jeweiligen Akts der Weltbildung selbst. [Nehmen-als im Menschsein selbst] Ist man damit aber fertig, ist Heideggers Weltbegriff geklärt, ist – dies war ja Ziel der Diskussion – ein robuster pragmatischer Weltbegriff verfügbar? Ich denke, noch nicht, und zwar aus folgendem Grund. Zwar ist der Widerspruch zwischen der qualitativen und der quantitativen Bestimmung von Welt ausgeräumt, diese Bestimmung insgesamt aber – mit größerer Eindeutigkeit als zuvor – dem Nehmen-als aufgegeben. Wenn aber Nehmen-als das alleinige Kriterium ist, dann kann die Grenze der Welt nicht als Differenz zwischen Mensch und Tier verhandelt werden, da sie im Menschsein selbst verläuft: Der Übergang von 1 zu 2 ist nicht auf das Verhältnis von Mensch und Tier beschränkt, sondern er durchzieht bereits das Menschsein als solches. Entweder-Oder und Mehr-oder-Weniger von Welt sind innerhalb des Menschseins immer schon gegeben, es gibt keine Welt, die nicht eine bestimmte relative Quantität hätte, und keine, die sich nicht qualitativ vom Nichthaben von Welt unterscheidet. Wenn man mit Heidegger das Haben von Welt als spezifische Aus-

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zeichnung des Menschseins, als »anthropologische Differenz« betrachten will22, so ist nun festzuhalten, dass diese Differenz keineswegs die Grenze zwischen Mensch und Tier markiert, sondern die im Menschsein insistierende und es in jedem seiner Momente bestimmende Grenze zwischen Nehmen und Nehmen-als. Zwar mag das Haben dieser Grenze, die das Tier vielleicht nicht hat, als Kriterium des Menschseins gelten, nicht aber trennt die Grenze qua Grenze Mensch und Tier. Deshalb ist Heideggers Theorie des Tiers für meine Diskussion ein Vehikel der Grenzbestimmung von Welt, sie ist aber letztlich nicht als solche relevant und hinsichtlich ihrer philosophischen Stichhaltigkeit als Theorie des Tiers hier nicht weiter zu befragen. So sicher allerdings die Grenze der Welt innerhalb des Menschseins verläuft, so wenig ist sie doch darin aufzuspüren: Im Menschsein muss die Grenze zwar angenommen, kann aber im einzelnen Fall nicht sicher angegeben werden; zwischen Nehmen und Nehmen-als lässt sich nicht definitorisch trennen, obwohl beides zu unterscheiden ist, will man überhaupt die Möglichkeit eines Nehmenals erhalten. Der Unterschied ist der besagte zwischen der Aktivität ohne Nehmen, die frag- und alternativlos weitermacht, und der Situation des Nehmen-als, in der Aktivität gewissermaßen eine Frage aufwirft, nicht mehr aus sich heraus auf nur eine mögliche Weise fortsetzbar ist, sondern zu seiner Wiederanknüpfung der Entscheidung zwischen alternativen Möglichkeiten bedarf – dessen also, was die pragmatische Akttheorie als Anschlussakt bezeichnet. Wittgenstein vergleicht dies Flüssen und ihren Ufern, wobei die Neuorientierung im Nehmen-als den Flüssen entspricht, und das alternativlos Vorausgesetzte und Weitergemachte den Ufern; beide müssen unterschieden werden, obwohl sich ihr Verhältnis unentwegt verschiebt und eine scharfe Trennlinie nicht gezogen werden kann. Im Rahmen des pragmatischen Weltbegriffs liegt der strukturelle Grund hierfür darin, dass einerseits nur der nähere Umkreis des Nehmen-als (der pragmatische Kontext, die Praxis, das Spiel) dessen Bestimmung erlaubt, dass andererseits und zugleich aber dieser Umkreis nie definiert werden kann, sondern immer schon durchlässig ist auf die Welt als ganze, die allein für die letzte Bestimmung des Nehmen-als aufkommen kann. Wann im Einzelnen etwas vorausgesetzt werden kann (Ufer) und wann neu zu entscheiden ist (Flüsse), lässt sich nicht mit Bestimmtheit angeben, weil solche Bestimmtheit aus der Definition des Umkreises bezogen werden müsste, dieser aber nicht nur selbst undefiniert ist, sondern die Bestimmung in letzter Instanz an die wiederum indefinite Gesamtheit der Welt weiterverweist. So hat das in seiner Gesamtheit unbegrenzte Weltganze sein strukturelles Korrelat in der Unmöglichkeit, im Einzelnen zwischen Nehmen und Nehmen-als zu trennen, während doch umgekehrt die Möglichkeit der pragmatischen Welt in ihrer Unbegrenztheit strukturell auf der Unterscheidung von Nehmen und Nehmen-als beruht.

22 | Zu diesem Begriff vgl. Wild: Die anthropologische Differenz.

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[Verhältnis von Weltbildung und Weltlosigkeit] Auf solch intrikate Weise verläuft die anthropologische Differenz im Menschsein selbst. Und zwar nicht so, dass dieses in eine uneigentlich-menschliche (tierische) und eine eigentlich-menschliche (menschliche) Seite aufgetrennt würde, sondern so, dass die Differenz es überall und von Grund auf erfasst und in Frage stellt. Was das Mehr-oder-Weniger, die quantitative Seite betrifft, so gibt es kein Problem: In jedem Augenblick haben wir mehr oder weniger Welt, sind wir mehr oder weniger Mensch. Während es ein absolutes Maximum der Weltbildung offenbar nicht geben kann – Heideggers zitierte Beschreibung erweist Welt als unbegrenzt steigerbar – wäre das absolute Minimum mit jenem Moment erreicht, in dem wir – so jedenfalls Heideggers pragmatische Konzeption des Tods in Sein und Zeit – kein Nehmen-als mehr vollziehen können und unser Welthaben aussetzt. Tod, so verstanden, ist kein physiologisches Ereignis oder biologisches Faktum, und auch nicht die psychologische Erfahrung des Sterbens, sondern eine Nullstufe an Welt, »Nichtmehrdasein als Nicht-mehr-in-der-Welt-sein«23. Es liegt in der Konsequenz der quantitativen Weltbestimmung, dass der Tod nicht als ein Anderes oder Gegenteil der Welt, sondern als ihre Nullstufe erscheint, und somit integral »zum In-der-Welt-sein gehört«24. Aber bereits bevor dieses Minimum erreicht ist, begleitet seine Antizipation das Dasein immer schon als »die Möglichkeit der Unmöglichkeit jeglichen Verhaltens zu …«25. Es handelt sich um die Unmöglichkeit von Nehmen-als (nichts anderes ist »Verhalten zu  …«), der Aktualisierung von Möglichkeiten, den Punkt, an dem es nichts mehr zu verwirklichen gibt. »Zum Dasein gehört, solange es ist, ein Noch-nicht, das es sein wird« – eine spezifisch artikulierte Potentialität, deren Aktualisierung jeweils noch aussteht. »Das Zu-seinem-Ende-kommen des je Noch-nicht-zu-Ende-seienden (die seinsmäßige Behebung des Ausstandes) hat den Charakter des Nichtmehrdaseins.«26 Was das Entweder-Oder angeht, die qualitative Seite, so ist die Frage schwieriger: Was wäre das kategorisch ›Andere‹ oder das jeweilige ›andere‹ der Welt und des Menschseins, was durch dieses Menschsein als solches einbegriffen würde? Sicher, »Weltlosigkeit«27 ist Heideggers Wort dafür, aber es bedarf einer höheren theoretischen Auflösung als der bisherigen, um Weltlosigkeit so in die Struktur der Welt einzutragen, dass sie keine von außen ans Menschsein herangetragene Bedingung darstellt, sondern als Wirklichkeit in ihm insistiert. Sogar als kon­ stitutive Wirklichkeit, da ohne das Haben der Grenze dem Menschsein keine Bestimmtheit zukommt und also nicht vom Menschsein gesprochen werden kann. 23 | Heidegger: Sein und Zeit, S. 240. 24 | Ebd., S. 251. 25 | Ebd., S. 262. 26 | Ebd., S. 242. 27 | Oder, relativ gesehen, »Weltarmut«, eine privative Bestimmung, die im Kontext des Menschseins durchaus Plausibilität hat (im Gegensatz zu dem des Tiers – was für meine Zwecke nichts zur Sache tut).

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Allerdings ist dies keine dialektische oder dekonstruktive Figur die besagt, die Welt trägt ihre Negation oder ihre Aporie als Konstitutivum in sich eingeschrieben. Weder ist Weltlosigkeit die negative Rückseite von Welt, noch ihr Supplement, sondern auf ganz und gar vorlogische Weise ihr Strukturmoment. Denn es gehört zum Funktionieren von Welt, dass diese zwar im Nehmen-als ›entsteht‹, aber im Nehmen ›weiterläuft‹. Alle Praxis besteht aus Neuorientierung und Weitermachen, aus Aktivität als Orientierungswechsel und Aktivität ohne Orientierungswechsel: einander ablösende und von einander abhängige Momente wie zum Beispiel Paradigma und Paradigmenwechsel bei Thomas Kuhn – Momente, deren pragmatische Reziprozität keineswegs verlangt, dass sie dialektisch oder teleologisch auf einander bezogen sind.28 Dass ich die Situation als eine solche nehme, impliziert eine bestimmte Weise des Weitermachens, ebenso wie umgekehrt das Weitermachen die Vorbedingung für die Möglichkeit erneuten Nehmen-als darstellt. So ist Weltlosigkeit nicht von der Welt ausgeschlossen, sondern sie insistiert in ihr und wird sowohl von ihr begründet (dort nämlich wo entschieden und dann weltlos weitergemacht wird) als sie auch umgekehrt Welt begründet (dort nämlich wo das weltlose Weitermachen auf eine Alternative trifft bzw. ein Fall sich stellt). Es war also etwas ungenau zu sagen, dass Menschsein in jedem seiner Momente in Frage steht: Das Weitermachen hat keine distinkten Momente, und sobald es einen distinkten Moment gibt, ist dieser bereits ein Nehmen-als. Wohl aber kann man sagen, dass Menschsein überall dort auf dem Spiel steht, wo Aktivität durch Nehmen-als unterbrochen und neubestimmt werden kann. [Verhältnis von Entweder-Oder und Mehr-oder-Weniger] Wie aber verhalten sich Entweder-Oder und Mehr-oder-Weniger im Menschsein zu einander? Bisher wurde nur gesagt: im Übergang von 1 zu 2 Möglichkeiten der Aktualisierung. Um hier weiterzukommen, mag man sich zunächst klarmachen, dass Welthaben bzw. Menschsein in jedem seiner Momente durch die Grenze bestimmt ist, in der Nehmen in Nehmen-als überführt erscheint – d.h.: mit jedem Nehmen-als, mit jeder Bestimmung von Welt. So ist die Bestimmung von Welt, d.h. des jeweiligen etwas, immer schon zugleich die Bestimmung des Menschseins, weil die Grenze ziehen (Nehmen-als) zugleich die Grenze haben ist. Vielleicht kann man jetzt also sagen: Je häufiger die Entweder-Oder-Grenze markiert und die Differenz qua Nehmen-als vollzogen wird, desto mehr sind Welt und Menschsein auf der Mehr-oderWeniger-Skala. Mit der Häufigkeit stellt sich die Frage der Dichte oder Intensität von Welt also an dem Punkt, an dem Qualifikation und Quantifikation in einander umschlagen. Was bedeutet das aber, wie ist Welt hinsichtlich ihrer Intensität charakterisierbar? Dazu erinnere ich noch einmal an die Virtualität des einzelnen Nehmen-als, die sich quantitativ an der Menge der nicht aktualisierten Möglichkeiten bemisst. Diese sind dem Akt nicht als Zusatz oder Parergon mitgegeben, sondern er ist konstitutiv auf sie bezogen. Die abgewählten Möglichkeiten der für 28 | Kuhn: The Structure.

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das Nehmen-als konstitutiven Alternative bilden die Virtualität und Latenz des Akts – und weil auf diese Weise nicht nur das Aktuelle, sondern auch das Virtuelle, als solches, aktualisiert ist, bringen die abgewählten Möglichkeiten ihrerseits wieder jeweils ihre eigene Virtualität mit. So ergibt sich – unter Annahme einer Relativität und Verschiebbarkeit der modalontologischen Marker »aktuell« und »virtuell« – aus dem virtuellen Feld der aktualisierten Möglichkeit A Kontext 1, und aus dem virtuellen Feld der nichtaktualisierten Möglichkeit B Kontext 2, so dass also 1 als der aktuelle virtuelle Kontext und 2 als der virtuelle virtuelle Kontext erscheint, und dabei 2 Teil von 1 ist. Zugleich zerfällt 2 seinerseits wiederum in weitere Kontraste von aktuell virtuell und virtuell virtuell, und immer so weiter ad indefinitum, das unbestimmte Ganze der Welt bildend. Während jedes Nehmen-als letztlich auf das Ganze durchreicht, ist die Fülle des unmittelbaren Umkreises des Akts, seine Sättigung mit Welt, die seiner Leistung bei der Herstellung neuer Welt entspricht – man könnte auch von dem Ausmaß sprechen, in dem Nehmen-als Welt in sich umsetzt – sehr unterschiedlich, abhängig von der Struktur der jeweiligen Praktik. Eine ›komplexe‹ oder ›voraussetzungsreiche‹ Einzelentscheidung innerhalb einer ›dichten‹ oder hochdifferenzierten Praktik – man denke an Jazzimprovisation – macht einen größeren Unterschied als eine Entscheidung innerhalb einer einfachen bzw. weitgehend schematisierten Praktik – man denke an das Führen eines Facebook-Accounts.29 Die Dichte einer Praktik ist keine Frage der Frequenz der Entscheidung, sondern eine Funktion ihrer Welthaltigkeit und Weltbildung – mit den erläuterten Begriffen Heideggers, ihres Umfangs und ihrer »Eindringlichkeit«. So ist das Verhältnis von Weltlosigkeit und Weltbildung (bzw. die qualifizierende und die quantifizierende Perspektive auf Welt) nun abschließend noch einmal anders erfassbar: Je öfter die Grenze markiert wird, die Weltlosigkeit auf Welt überschritten, je mehr Bestimmung geleistet wird – die Frage der Dichte oder Intensität – desto größer die Menge an hergestellter Welt. Und desto größer die Bestimmtheit des darin sich herstellenden Menschseins. Wenn diese Bestimmung, dieses Kreuzen bzw. Markieren der Grenze Hominisierung ist, dann verläuft diese als Äußeres des Menschseins im Inneren des Menschseins, so dass wir in unseren Interaktionen beständig – und zu wechselnden Graden – ins Menschsein übergehen. [Weltbildung als Aufgabe?] Mit der Graduierung stellt sich schließlich die Frage der Relevanz des entwickelten Weltbegriffs. Was leistet er und wozu ist er gut? Ist es wünschenswert, immer mehr Welt zu haben? Ist unser Welthaben und Menschsein von Weltarmut oder sogar Weltlosigkeit bedroht?30 Einerseits scheint die Diskussion hier zu zeigen, dass Weltbildung und Weltlosigkeit strukturell so 29 | Zum Begriff der Intensität als allgemeine Auszeichnung praktischer Kontexte siehe Klinger: Urteilen, Kapitel 7. 30 | Zum Beispiel gehört dies zu Arendts Diagnose der Neuzeit: »Die Weltlosigkeit, die mit der Neuzeit einsetzt, ist in der Tat ohnegleichen.« Arendt: Vita Activa, S. 408.

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in einander aufgehen, dass erstens Weltbildung, wie schon der Terminus sagt, strukturell erweiternd ist, und Welt einer Erweiterung darüber hinaus nicht bedarf; dass zweitens beide einander konstitutiv voraussetzen, so dass von ihrer Missproportionierung niemals grundsätzlich auszugehen ist; sowie dass drittens ihre Proportionierung nach Maßgabe der Intensität der jeweiligen Praktik erfolgt, und darin – nicht in der relativen Quantität – ihr pragmatisches Erfolgskriterium hat. Dass Welt hergestellt wird, ist offenbar nicht allein eine vortheoretische und vorprogrammatische Tatsache – etwas, das der Diskussion weder bedarf noch sich leicht durch sie beeinflussen lässt –, sondern die Grundvoraussetzung, die immer schon erfüllt sein muss, damit ein pragmatischer Praxisbegriff allererst gedacht werden kann. Man kann – so die hier zuständige Variation auf Donald Davidsons Argument gegen den Skeptizismus – gar nicht grundsätzlich an der Wirklichkeit von Welt zweifeln, wenn der Gedanke der Weltarmut, Weltlosigkeit, sowie schließlich des Zweifels selbst überhaupt einen Sinn haben soll. Nichts anderes meint letztlich Heideggers Insistieren auf der ontologischen Priorität des In-der-Welt-Seins, eine Feststellung, die bis heute nichts von ihrer Plausibilität und Relevanz verloren hat. Andererseits deutet sich an, dass sich die Proportion zwischen Weltbildung und Weltlosigkeit stark verschieben kann, und zwar sowohl was die einzelne Praktik angeht (es gibt zumeist einen Spielraum, in dem man mit solcher oder solcher Intensität improvisieren oder sprechen kann), als auch den Zusammenhang der Praktiken als ganzen (man kann Interaktion durch Vereinfachung und Formalisierung auf geringe Intensitäten zurückregeln). Während Weltlosigkeit als genereller Zustand unmöglich ist, bietet relative Weltarmut sich überall als Möglichkeit an. Wenn Menschsein, so wäre dann allerdings zu fragen, sich im äußersten Fall auf das strukturelle Minimum eines bloßen Weitermachens reduziert findet, wenn es sich über die ganze Skala der Grade von Weltarmut hinweg auszudünnen beginnt – stellt sich damit eigentlich ein Problem? Schließlich ist Intensität, wie gesagt, eine Funktion der Spezifik der jeweiligen Praktik und ihr relativer Mangel aus pragmatischer Sicht nur dann bedenklich, wenn sie dieser Spezifik nicht gerecht wird. Aber es gibt hier noch einen anders gelagerten, weiterreichenden Punkt. Im Weltbegriff stellt sich die Frage nach dem Menschen so, dass wir mehr oder weniger davon sein können. Menschsein, so verstanden, bemisst sich weder an bestimmten Eigenschaften – einer Abstammung, Rationalität, politischen Natur etc. –, noch daran, dass wir etwas Bestimmtes tun oder erreichen. Vielmehr besteht es allein im Tun selbst, im Vollzug des Nehmen-als, als rein performativer Begriff der Teilhabe am pragmatischen Zusammenhang, denn die Welt die uns ausmacht hat als solche keinen bestimmten Inhalt sondern nur eine bestimmte Intensität. Dies ist die einzige Weise, uns in unserem Menschsein nicht festzulegen. Jede andere Bestimmung als die des reinen d.h. quantitativ verstandenen Welthabens – man kann sagen: des performativ vollzogenen Wir – nimmt Rekurs auf Kriterien, die uns auf dieses oder jenes festlegen – Kriterien, die es von einem

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pragmatischen Standpunkt aus nicht geben kann, denn um die Welt bestimmen zu können, hätten sie von außerhalb der Welt zu kommen (was nicht sein kann, da die Welt den besagten indefiniten Charakter hat). Freilich mag man sagen, Welthaben ist ein eben solches Kriterium – es ist dies aber nicht auf dieselbe Weise; während Kriterien Teilhabe über Qualifikation regeln, ist Welthaben der Akt der Teilhabe selbst und kommt damit von innerhalb der Welt – so vollkommen sogar, dass er aus nichts als ihrem Vollzug besteht. Wenn wir also über keine qualitative Bestimmung von Menschsein verfügen, und zwar nicht, weil sie noch nicht gefunden wäre, sondern weil sie aus einer pragmatischen Perspektive strukturell suspendiert ist und also nicht gefunden werden kann, dann bleibt uns nur die Bestimmung über Teilhabe bzw. Performanz als solche. Wenn nun Quantifikation von Welt daraus ihre Relevanz bezieht, dass sie kriterielle Festlegungen suspendiert – heißt das auch, dass ein Mehr an Welt generell einem Weniger vorzuziehen ist? Meine Antwort ist Ja – und zwar deshalb, weil die Stabilität dieser Suspension wesentlich auf der Quantität der Weltbildung beruht. In einem Modell, das die Suspension nicht ausdrücklich artikuliert, sondern ganz der Performanz anvertraut, ist die Wirklichkeit und Wirksamkeit dieser Suspension identisch mit der Wirklichkeit und Wirksamkeit der Performanz. In diesem Sinn bedarf ein pragmatisch offener Weltbegriff der Annahme einer möglichst starken Performanz von Welt. Je stärker diese ist, denke ich, desto größer die Plausibilität des Weltbegriffs. Dies ist auch intuitiv daran nachvollziehbar, dass eine weltreiche Praktik mit einer Fülle von Möglichkeit einhergeht, die eine Bestimmung des Menschseins aus deren Aktualisierung von sich aus zu plausibilisieren, wenn nicht sogar nahezulegen scheint.

L iter atur Arendt, Hannah: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München 1981. Brandom, Robert: Heidegger’s Categories in »Being and Time«, in: The Monist 3 (1983), S. 387-409. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Halle a.d.S. 1927. — Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, Frankfurt a.M. 1983. Kant, Immanuel: Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren, in: ders., Werke, Akademie-Ausgabe. Band 2, Berlin 1968. Klinger, Florian: Urteilen, Zürich/Berlin 2011. Kuhn, Thomas: The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962. Wild, Markus: Die anthropologische Differenz: der Geist der Tiere in der frühen Neuzeit bei Montaigne, Descartes und Hume, Berlin 2006. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, in: ders., Werkausgabe. Band 1, Frankfurt a.M. 1984.

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— Vermischte Bemerkungen, in: ders., Werkausgabe. Band 8, Frankfurt a.M. 1984. Wunsch, Matthias: Das Lebendige bei Heidegger: Probleme seiner privativen Bestimmung, in: St. Schaede/G. Hartung/T. Kleffmann (Hg.), Das Leben II. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Tübingen 2012.

Ereignis, Öffentlichkeit und Latenz von Literatur Literaturontologische Überlegungen zu Arthur Schnitzlers Der Sohn Karl Vajda

1. E reignis im L icht der P oe tologie Die Narratologie schaut auf das Phänomen des Ereignisses in einer morphologischen Sichtweise und erblickt darin, geleitet durch Produktionsästhetik und strukturale Literaturtheorie, ein narratives Bauelement, das sich zu einer so kausal wie chronologisch kongruenten Ereignisfolge, zu einer Geschichte strukturiert. Diese offenbart sich dem erzähltheoretischen Denken als vollständiges productum narrationis, als Erzählganzheit.1 Damit Geschichte entsteht, muss das Einzelereignis seine Konturen verlieren 2 und in andere überf ließen. Erzählte Geschichte scheint nachgerade auf solchem erzählerischen Überf luss zu beruhen. Mehr noch: Augenscheinlich steht und fällt die Stimmigkeit jedweden Erzählens mit der Verwobenheit der einzelnen Ereignisse, die »ineinander gespiegelt sind und erst im Ganzen ihren Stellenwert haben.« 3 Das Ereignis wird in diesem kausal‑chronologischen Zusammenhang4 als das Glied einer längeren Kette erzählwürdiger Geschehnisse verstanden, das unter dem Aspekt poetischer Eignung aus einer schier unendlichen Fülle anderer, an

1 | Aristoteles: De arte poetica, 1450 a-b; Stanzel: Typische Formen des Romans, S. 65; Genette: Die Erzählung, S. 15; Eibl: Vergegenständlichung, S. 578; Martinez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, S. 25. Vgl. auch Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 78f. 2 | Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 257. 3 | Figal: Gegenständlichkeit, S. 94. 4 | Vgl. Dennerlein: Narratologie des Raumes, S. 4. Die Geschichte wird lapidar als »zeitliche und kausale Abfolge von Geschehnissen und ihrer Vermittlung« definiert.

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sich ebenfalls erzählbarer Vorfälle auserwählt wird.5 Das Ereignis scheint eine Begebenheit zu sein, die zur Erzählung oder zur Aufführung nicht einfach nur geeignet ist, sondern deren das narrative oder dramatische Werk geradezu bedarf, um überhaupt hervorgebracht und im Laufe des Rezeptionsvorgangs bewerkstelligt, nachvollzogen, genießend aufgenommen zu werden. Was das Ereignis als erzählwürdig erweist, ist somit der Umstand, ob die Erzählung als Explikation des Narrativen auf das jeweils Erzählbare angewiesen ist. Das Ereignis ist folglich das zur Erzählung oder Aufführung erzähltechnisch bzw. bühnenkünstlich Notwendige. Es ist wegen der hylomorphischen Betrachtungsweise jedweder poetologisch ausgerichteten Literaturtheorie ein unumgängliches, elementares, narratives oder dramatisches Bauelement, Glied einer längeren Kette,6 ja ein irreduzibles, essentielles Elementarteilchen des literarischen ›Stoffes‹,7 ein literarisches Morphem. Einerlei, ob sich das jeweilige Ereignis behäbig zuträgt oder aber rasch vorfällt, worauf es der poetologischen Literaturtheorie ankommt, ist die poetische, d.h. faktisch, denn artefaktisch-produktive Funktion, die es erfüllt: Das Ereignis ist dasjenige Moment, das der diachronen Dynamik des jeweiligen Erzähl- oder Bühnenkunstwerks als faszinierendem Ausdruck konkret-literarischer Kunst erst so richtig zur Entfaltung verhilft. Dem Ereignis ist es ferner zu verdanken, dass die Handlung als motiviert erscheint, das Drama oder die Erzählung allmählich einen Handlungssinn erhält und somit erst überhaupt nachvollziehbar wird.8 Das Ereignis ist demzufolge eines der wichtigsten, wenn nicht sogar das allerwichtigste Verwirklichungsmedium der diegetischen Teleologie jedweden Aufführungs- oder Erzählvorgangs und gibt sich, allerdings vom Blickwinkel der Handlungsmorphologie heraus, als ein Motiv in Erfahrung. Ein Darstellungs- oder Erzählmoment ist es ja nur und ausschließlich, insofern es motiviert, also von ihm ein die gesamte Erzählung oder Vorstellung vorantreibender Schwung, ein narrativer oder dramaturgischer Impuls ausgeht.

5 | »Jeder Gattung und jedem Gattungsexemplar ist ein Erinnerungsnetz eigen, das aus der Fülle des zu Erzählenden das Erzählwürdige heraus filtert [sic!].« Humphrey: Literarische Gattung und Gedächtnis, S. 77f. 6 | »Ein und dasselbe invariante Konstrukt eines Ereignisses kann dabei auf verschiedenen Ebenen zur Entfaltung einer ganzen Reihe von Sujets dienen. Während es auf der höchsten Ebene nur ein Glied eines Sujets darstellt, kann es je nach der Ebene seiner Entfaltung im Text die Anzahl seiner Glieder variieren.« Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 333. 7 | Moxter: Erzählung und Ereignis, S. 72. Korthals: Zwischen Drama und Erzählung, S. 88; Fn. 44. 8 | »Zunächst verwandelt die konfigurierende Anordnung die Abfolge der Ereignisse in eine bedeutungsvolle Totalität, die das Korrelat des Aktes der Zusammenstellung der Ereignisse ist und die Mitvollziehbarkeit der Geschichte bewirkt.« Ricœur: Zeit und Erzählung I., S. 108.

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Es verwundert daher nicht im geringsten, wenn das Phänomen des Ereignisses hin und wieder als eine besondere, faktische und resultative Art des Zustandsveränderung begriffen wird.9 Auch wird es oft als Gegensatz zur Dauer gedacht10 und als mehr oder minder jäher Einschnitt in einen gleichförmigen oder zumindest gleichmäßigen Prozess verstanden, der den ursprünglichen Lauf der Dinge gleichsam aus seiner Bahn schleudert. »Im Unterschied zum breiten Strom des aktenkundigen ›Geschehens‹, das ebenfalls ins Blickfeld eines Beobachters tritt, handelt es sich bei ›Ereignissen‹ um Handlungen und Handlungssequenzen, die genuin überraschen, weil sie den kollektiven Erfahrungs- und Erwartungshorizont der Zeitgenossen wie der Historiker durchbrechen.«11 Das Ereignis ist gleichwohl nicht nur für den Historiker ein Inbegriff von Zufall und Nicht-Intentionalem.12 Bei Lotman, der in diesem Zusammenhang die Erkenntnisse des russischen Formalismus auf den Punkt bringt, ist Ereignis eine Abweichung von der Normalität: »Ein Ereignis ist ein revolutionäres Element, das sich der geltenden Klassifizierung widersetzt.«13 In dieser handlungsmorphologisch-diegetischen Perspektive scheint der deutsche Begriff Ereignis ein terminologisch eindeutiges und methodologisch zuverlässiges Fachwort zu sein, das sich nahtlos in einen altehrwürdigen abendländischen Kontext verweben lässt und vollkommen dasselbe meint, was das französische événement und das englische event ausdrücken. Letztere gehen auf den lateinischen eventus zurück. Dieser ist eine partizipiale Ableitung von evenire und meint, dass ein Vorfall so oder so ausgegangen ist, was zugleich besagt, dass er ganz genau auch hätte anders ausgehen können. Und eben das ist auch der Grund, warum in dem Diskurs der Geschichtswissenschaften selbst noch dem deutschen Wort Ereignis eine »aus langfristigen Strukturen nicht vollständig zu erblickende und prospektiv nicht voraussagbare singuläre Qualität« angehört wird. Eine Eigenschaft, die »aus der Geschichte einen grundsätzlich offenen Prozeß macht«.14 Die Offenheit der Geschichte, die ausgerechnet am Ereignis erst so richtig deutlich wird, und die gleichzeitige Unmöglichkeit, das sich Ereignende vorauszusehen, mithin ›es‹ darauf abzusehen, stehen gleichwohl in augenfälligem Kontrast zum einigermaßen doch unbekümmerten theoretischen Umgang mit dem althergebrachten Ereignisbegriff jener Poetologie, die im Ereignis als schöpferisch gewollter Begebenheit nichts anderes sieht als ein elementares Bauelement 9 | Schmid: Elemente der Narratologie, S. 12. 10 | Meran: Theorien in der Geschichtswissenschaft, S. 117. 11 | Suter: Ereignisse als strukturbrechende und strukturbildende Erfahrungs-, Entscheidungs- und Lernprozesse, S. 181. Siehe auch Jaußens Definition in Jauss: Wege des Verstehens, S. 105; 390. 12 | Zons: Text – Kommentar – Interpretation, S. 397. 13 | Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 334. 14 | Suter: Struktur und Ereignis – Wege zu einer Sozialgeschichte des Ereignisses, S. 9.

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des Erzähl- oder Aufführungsvorgangs, mithin eine morphologische Gegebenheit poetischer Gabe und somit schließlich eines der Konstituierungsmomente des literarischen Kunstwerks, des Faktums, denn Artefaktums einer sich des Ausgangs ihres kunstvollen Unterfangens sicheren poetischen Disponibilität über den vorerst noch amorphen Erzählstoff, den nur die schöpferische Kraft eines Künstlers bezwingen kann, der seine Kunst mit besonderer Kunstfertigkeit beherrscht. Der poetologischen Morphologie geht, wenn sie Offenheit und Unvorhersehbarkeit von Ereignissen überhaupt in den Blick fasst, die eigentliche Tragweite dieser Begleiterscheinungen des Ereignisses nicht auf. Für die poetologisch fundierte Literaturtheorie steht nach wie vor mit völliger Evidenz fest, dass das Ereignis in der produktiven Dimension der Kunst ein verfügbares Element ist, ja sein muss, während es in der reproduktiven, rezeptiven Dimension der Dichtkunst als Unerwartetes, Unvorhersehbares und damit als Unbeherrschbares gilt, d.h. als solches zur Geltung kommt. Die Poetologie darf das Ereignis nur in der rezeptionsästhetischen Sicht als eine besondere Art der poetisch gewollten Überschreitung des Erwartungshorizontes der Rezipienten anerkennen. Produktionsästhetisch muss sie das Ereignis nachgerade leugnen und anstatt von unvorhersehbaren und dadurch unmöglich mitbeabsichtigten Ereignissen auszugehen, aneinander gefügte Vorkommnisse setzen, die ihrerseits nur vorkommen oder vorfallen, weil und insofern der Dichter als bewusster und allmächtiger Demiurg, in behutsamer Planung mit klarer schöpferischer Absicht sie beschlossen hat. Das in der Rezeption plötzlich Vorfallende ist das dichterisch Vorberechnete, Verfügte. Ein einheitlicher Aspekt, unter den die Poetologie das Phänomen des Ereignisses sowohl produktions- wie auch rezeptionsästhetisch bringen könnte, bleibt ihr naturgemäß verwehrt. Was verwehrt ihr indessen den einheitlichen Aspekt? Was hindert die Poetologie daran, den selbst gewählten Blickwinkel mit theoretischer Konsequenz offen zu halten und auf das Phänomen des Ereignisses durchgängig anzuwenden? Mit diesen Fragen wollen wir nicht nur die poetologische Sichtweise der Literaturtheorie in ihrer Fraglichkeit ansprechen und die Unschärferelation zwischen Produktions- und Rezeptionsästhetik sichtbar machen, sondern auch einen sprach- und begriffsgeschichtlichen Zusammenhang verdeutlichen, der im seinsgeschichtlichen Denken von Martin Heidegger besonders schwer ins Gewicht fällt.

2. E reignis im L icht der O ntologie In seinem Vortrag über Identität und Differenz berührt der späte Heidegger die Frage des Ereignisses. Dabei meidet er die gewöhnlichen, metaphysisch vorgeprägten Denkwege der abendländischen Philosophie. Er verlässt die philosophische Begrifflichkeit, indem er sich auf die Etymologie des deutschen Ausdruckes besinnt und somit demonstriert, dass sich ein Denker auf die Eigenwilligkeiten der nicht oder vorphilosophischen Sprache einlassen, mehr noch sich darauf

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sogar verlassen kann. Der sprach- und begriffsgeschichtliche Weg, den er dabei rückwärts abschreitet, deckt den Zusammenhang zwischen Ereignis und menschlichem Auge, der Fähigkeit des Erblickens, der Insichtnahme auf.15 Das Zeitwort sich ereignen hieße in »der gewachsenen Sprache« ursprünglich sich er‑äugnen.16 Die Bedeutung von contingere und accidere könne das deutsche Verb indessen nur übernehmen, weil jenes, was augenscheinlich wird, oft gerade deshalb ins Auge fällt, weil es soeben vorfällt, mithin in den Vorschein tritt und so augenscheinlich, augenfällig wird. Dies könnte indessen den Eindruck erwecken, Heidegger deute das Ereignis mit diesem Hinweis auf den begriffsgeschichtlichen Werdegang des deutschen Wortes als einen Erkenntnisakt visuellen Erfassens. Heideggers zitierte Sätze auf die epistemologische Relevanz der Visualität hinauslaufen zu lassen, wäre gleichwohl weit verfehlt. Nichts ereignet sich ja nur, insofern es sich in den Wahrnehmungsbereich einer erkennenden Einsicht drängt. Unsinniges kann sich ebenso ereignen wie Unbeabsichtigtes, Unerhörtes, Unüberlegtes, ja Unbewusstes. Der schnelle Tod ist nicht minder ein jähes Ereignis, nur weil er einen in unbewusstem Zustand, im Schlaf oder im Koma ereilt. Auch geht es Heidegger nicht um eine Hervorhebung der jähen Temporalität des Ereignisses, also nicht um die Kopplung von Ereignis und Augenblick, wie es oft geschieht.17 Mit der Eröffnung einer sprachgeschichtlichen Dimension will vielmehr auf einen sehr engen Bezug zwischen Sprache und Ereignis verwiesen werden. Diesem Bezug geht Heidegger in einem Vortrag nach, der die lapidare Überschrift Die Sprache führt. Er denkt hier den Bezug zwischen Mensch und Sprache von Grund auf neu. Denn zur Sprache unterwegs sein, d.h. aus dem Nachsprechen des Überlieferten, des Vorgesprochenen und Vorgeschriebenen herauskommen, heißt für Heidegger den Menschen nicht mehr als animal rationale, als ζῷον λόγον ἔχον, mithin als das Lebewesen verstehen, das sich der Sprache in der Weise bedient, wie man etwa auf ein Werkzeug zurückgreift. Um mit genügendem Nachdruck zu betonen, dass der Mensch über die Sprache keineswegs verfügt, lässt Heidegger die Ausgangsthese und Jedermannserfahrung, »der Mensch spricht«,18 unterwegs zur Sprache in den verblüffenden Satz wandeln, dass nämlich die Sprache spräche.19 Das ist indessen der Grundsatz, auf den der späte Heidegger nicht nur sein Sprachdenken, sondern auch sein Literaturverständnis gründet. Mit Hilfe dieser figura etymologica lässt er den Mitdenkenden durch die Schwerfälligkeit einer scheinbaren Tautologie, einer Autologie über jene Biegsamkeit der Sprache stolpern, die in der Beugung zwar hörbar wird, gleichwohl 15 | Heidegger: Identität und Differenz, S. 24f. 16 | Heidegger schreibt er‑äugen. 17 | Encke: Augenblicke der Gefahr, S. 161. 18 | Heidegger: Die Sprache, S. 11. 19 | A.a.O., S. 12.

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keine Geschmeidigkeit einer Werkzeuganwendung meint, sondern ganz im Gegenteil damit konfrontiert, dass dem Sprechenden beim Sprechen immer schon Sprache geschieht. Nicht das Sprechen bringt die Sprache erst hervor, sondern die Sprache, mithin das dem Sprechenden sprachlich Zugewachsene, das SprachlichGeschichtliche, macht das Sprechen, also das in und durch Sprache Geschehende erst überhaupt möglich. Zwar spricht sehr wohl der Mensch die Sprache, aber das Sprechen der Sprache lässt sich in seiner richtigen Tragweite nie im Sinne eines genitivus obiectivus verstehen. Die Sprache spricht dem Sprechenden aus ihrer eigenen Geschichte, aus ihrer Geschichtlichkeit heraus stets ins Wort, spricht ihm entgegen, spricht ihm voraus, spricht ihm zu. Die Sprache geht zwar sehr wohl durch das Sprechen hindurch, sie geht dem Sprechen gleichwohl auch voran und in ihm nicht auf, sondern darüber weit hinaus. Der Zwang, das Sprechen der Sprache in den Satz »die Sprache spricht« zu übersetzen, entspringt sichtlich der Geschichtlichkeit der Sprache, die als Wort formal eine implizite Derivation von sprechen ist. Die Aufeinanderfolge der Präsensform auf das Hauptwort mit dem präterialen Stammvokal, bringt die Aporie ins Spiel, was das Vordergründige ist, das Sprechen oder die Sprache. Im Wortspiel »Die Sprache spricht« spricht sich die Sprache aus der temporalen Logik einer Vorzeitigkeit von Sprechen und Sprache frei. Wir sprechen die Sprache, indem und insofern die Sprache durch uns hindurchspricht. Nicht wir lassen etwa die Sprache für uns sprechen, sondern die Sprache spricht für sich, sooft wir darauf lossprechen. Wir können die Sprache sprechen, weil wir in sie hineingewachsen sind und weil sie uns Sprechenden schon eh und je zugewachsen war. Die Gegenwart der Sprache ist ohne ihre Vergangenheit undenkbar. Es lässt sich kein Punkt setzen, an dem man einen Anfang, einen Uranfang der Sprache festmachen könnte. Soweit man zurückdenkt, denkt man in der Sprache zurück. Ja sogar das ›Man‹, das sich hier entsinnt, ist etwas, was uns aus der Sprache erst zugewachsen ist. Ontologisch gewendet, ist die Seinsweise der Sprache dieses im genitivus subiectivus leise mit anklingende Sprechen der Sprache: Die Sprache gibt es, indem sie spricht und gesprochen wird, nämlich zu jenem, was zu sein, sie durch ihre Geschichte bestimmt eigentlich je schon ist. Heidegger teilt die Sprachauffassung des Aristoteles insofern, als die Sprache auch bei ihm als conditio humana, als Existential,20 gedacht wird, er widerspricht ihm jedoch, insofern er in der Sprache kein Werkzeug erblickt, dessen der Mensch irgend habhaft werden könnte. Die Unvordenklichkeit der Sprachlichkeit des Menschen hat nicht nur zur Folge, dass nicht bloß der Mensch spricht, sondern auch die Sprache. Sie ist auch der Grund dafür, warum wir nicht nur die Sprache, sondern gleichsam aus ihr sprechen,21 als wäre sie ein Grundzug, dem sich der Mensch nie entziehen 20 | Die Sprache ist ja die Ausgesprochenheit des Daseins als redenden In-Seins. Vgl.: Heidegger: Sein und Zeit, § 34; S. 165. 21 | Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 254.

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kann, ja mehr noch, als wäre sie die innerste Dimension des Menschseins. Heidegger bringt diesen grundsätzlichen Zusammenhang des ontologischen Status des Menschen einerseits und der Sprachlichkeit desselben andererseits seit dem Humanismusbrief auf eine metaphorische Formel und spricht von der Sprache als dem ›Haus des Seins‹. »Das Sein durchmißt als es selbst seinen Bezirk, der dadurch bezirkt wird (τέμνειν, tempus), daß es im Wort west. Die Sprache ist der Bezirk (templum), d.h. das Haus des Seins. Das Wesen der Sprache erschöpft sich weder im Bedeuten, noch ist sie nur etwas Zeichenhaftes und Ziffernmäßiges. Weil die Sprache das Haus des Seins ist, deshalb gelangen wir so zu Seiendem, daß wir ständig durch dieses Haus gehen.«22 Den Verweis darauf, dass der Zusammenhang zwischen dem ontologischen Metapherbegriff Haus des Seins und dem Tempel alter Religionen keineswegs nur ein dünner etymologischer Faden europäischer Begriffsgeschichte ist, gibt Heidegger selbst, indem gleich am Anfang des Humanismusbriefs betont wird: »Das Denken vollbringt den Bezug des Seins zum Wesen des Menschen. Es macht und bewirkt diesen Bezug nicht. Das Denken bringt ihn nur als das, was ihm selbst vom Sein übergeben ist, dem Sein dar. Dieses Darbringen besteht darin, daß im Denken das Sein zur Sprache kommt. Die Sprache ist das Haus des Seins.«23 Stünde in diesen Sätzen anstelle von Denken das Wort Mensch und anstelle von Sein das Wort Gott, so hätten wir es mit einer lapidaren theologischen Formel des religiösen Opfer- und Gebetswesens in seiner vollen Entwicklungsbahn von den nicht verbalen Sühneopfern zum mündlichen Gottesanruf und Gottesgespäch zu tun. Und in der Tat, es klingt selbst noch in Heideggers betont seinsphilosophischem Zusammenhang die Universalität von Jes 56,7 durchaus mit an.24 Dem religionsphilosophischen Bezug können wir hier aus zeitlichen Gründen zwar nicht folgen, es sei im Hinblick auf das später noch zu Erörternde dennoch hervorgehoben, welches Gewicht bei Heidegger in dem ›Darbringen des Übergebenen‹ (Opfergabe) in der einigenden Mitte der Wiedergabe des Gegebenen dem Geben und der Gegebenheit zukommt. Zur gleichnis­haften Rede von der Sprache als Haus des Seins fügt Heidegger in einem späteren Freiburger Vortrag erklärend hinzu, dass Haus hier genau das meine, was das Wort besage, nämlich Hut und Wahrnis.25 Das Hütende und Bewahrende macht das Haus für die Bewohner heimisch, ihr gemeinsames Wissen um häusliche Verhältnisse zu einem Geheimnis.26 Ausgeschlossenen hingegen 22 | Heidegger: Wozu Dichter, S. 306. Zur etymologischen Einlage vgl. auch Heidegger: Einleitung in die Philosophie, S. 170 23 | Heidegger: Brief über den Humanismus, S. 313. 24 | Diese Parallele wird im Talmud (Brachot 7a) dadurch verstärkt, dass der Status constructus ‫ בית תפלתי‬als das Haus von Gottes eigenem, selbst gesprochenem Gebet gedeutet wird, das mit den Schöpfungsworten das Sein und Fortbestehen als solches trägt. 25 | Heidegger: Bremer und Freiburger Vorträge, S. 168. 26 | Vgl. dazu auch: »Der Zuruf ist Anfall und Ausbleib im Geheimnis der Ereignung.« Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), S. 408.

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bleibt all das, was sich im Haus zuträgt, heimlich und mitunter sogar unheimlich. Denn das Hütende und Bewahrende ist zugleich das Verhütende und Abwehrende. Wir begegnen diesem abwehrenden Charakter der Sprache, sobald wir eine uns fremde Sprache zu hören bekommen. In Ermangelung nötiger Sprachkenntnisse bleibt uns zwar verhüllt, wovon gerade die Rede ist, nur dass selbst dann noch Sprache geschieht, wenn uns die Verständigung ›aus sprachlichen Gründen‹ verwehrt ist, entgeht uns keineswegs. Heidegger spricht im Zusammenhang der existentialen Metapher Haus des Seins auch das Besondere, ja das Sonderbarste an der sprachlichen Verfassung menschlichen Seins an: Wir kommen zu so etwas wie Seiendem überhaupt erst durch das Haus der Sprache. Gadamer nennt diesen ontologischen Grundzug der Sprache in einer Kehrtwendung zur gewohnten Terminologie der Philosophie die eigentümliche Sachlichkeit der Sprache.27 Heideggers existentiale Metapher ist indessen von einer Radikalität, die sich philosophisch mit keiner Rückübersetzung mehr zähmen lässt. Sie spricht mit aller Eindeutigkeit aus, dass an dem Haus der Sprache genauso kein Weg vorbeiführt, wie wenig der Mensch aus ihm herausbrechen kann. Das menschliche Sein ist durch und durch ein sprachliches. Heideggers eigenhändige Randbemerkung28 weitet in diesem Sinne den Hauscharakter der Sprache auch auf die ontologische Differenz aus. Damit nennt Heidegger das Sein des Seienden und das Bedenken seines Seins etwas unabdingbar Zusammengehörendes. »Sein und Denken, der Urstreit beider, hat seine Behausung in der Sprache.«29 Die Sprache als Haus, als Hut und Wahrnis des menschlichen Seins ist demnach das Sammelnde, das Sein und Denken zusammengehören lässt. Indem Heidegger das gehören kursiv setzen lässt,30 hebt er das Akroamatische des sprachlichen Bezugs des ontologischen Zusammenhangs hervor. Das Zusammengehören von Denken und Sein kann nur verstehen und ausstehen, wer das dazu gehörige Gehör von Haus aus, von der Sprache her hat, wer sich auf das ewige Spiel des Urstreites von Entbergung und Verbergung, Bezug und Entzug einlässt und zugleich auch verlässt. Mit der Heideggerschen Umkehrung des Verhältnisses zwischen Mensch und Sprache wandelt sich indessen auch der ontologische Status der Sprache radikal. Sie ist kein Vorrat an Äußerungs- und Ausdrucksmöglichkeiten mehr, der als wichtigstes Gesamtwerkzeug zwischenmenschlicher Kommunikation jedes Seiende und seine Erscheinungen in Augenschein nimmt, unterscheidet, in ein verbales Inventar aufnimmt, das dergestalt Katalogisierte mit dem Aufkleber eines Lautzeichens versieht, kurzum bezeichnet, und so die verschiedenen Dinge mit unterschiedlicher Bedeutung ausstattet, mithin in ihrem imaginären Wörterbuch verzeichnet, verwahrt und verwaltet. Heidegger denkt den Differenzcharakter der Sprache von 27 | Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 449. 28 | Heidegger: Bremer und Freiburger Vorträge, S. 168. 29 | A.a.O., S. 162. 30 | A.a.O., S. 168.

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Grund auf anders: »Das Wort ›Unter‑Schied‹ meint demnach nicht mehr eine Distinktion, die erst durch unser Vorstellen zwischen Gegenständen aufgestellt wird. Der Unter‑Schied ist gleichwenig nur eine Relation, die zwischen Welt und Ding vorliegt, so daß ein Vorstellen, das darauf trifft, sie feststellen kann. Der Unter‑Schied wird nicht nachträglich von Welt und Ding als deren Beziehung abgehoben. Der Unter‑Schied für Welt und Ding ereignet Dinge in das Gebärden von Welt, ereignet Welt in das Gönnen von Dingen.«31 In diesen Sätzen vollzieht Heidegger vielleicht die deutlichste Abkehr von der herkömmlichen Sprachauffassung. Sprache ist kein Wissen, weder im Sinne einer ars applicandi noch einer Kompetenz, die in ihrer Performanz aufgeht und erfassbar wird, sooft es nur zur Anwendung kommt. Sprache ist aber genauso wenig ein Organon, ein Werkzeug, ein Mittel, ja ein Medium von sprachkundigem menschlichem Schalten und Walten.32 Auch begnügt sich Heidegger nicht mit der zu Recht viel zitierten Humboldtschen Unterscheidung, Sprache sei nicht wesenhaft ἔργον, sie sei vielmehr ἐνέργεια.33 Heidegger, der Humboldts Abhandlung nicht nur kennt, sondern auch anerkennt,34 wagt den Sprung über diese Unterscheidung von Werk und Wirklichkeit hinaus. Die Sprache wird von ihrem engen Bezug zum Sein, zu dem ›Es gibt‹ her gedacht. Die Differenz der Sprache, die nicht nur gesprochen wird, sondern die selber spricht, indem sie in dem Unter‑Schied verharrt, ihn aushält und erträgt, ist es, was die Dinge in das Gebärden von Welt und Welt wiederum in das Gönnen von Dingen ereignet. An diesem Punkt kreuzt Heideggers Weg zur Sprache die wendigen Pfade der seinsgeschichtlichen Kehre. Das »Geschichtartige«, das Geschichtliche der Geschichte des Seins bestimmt sich ja ebenfalls daraus, »wie Sein geschieht«, »wie Es Sein gibt«.35 Sein gehört indessen als ›Gabe‹ dieses ›Es‑gibt‹, das heißt auf den Menschen bezogen fundamentalontologisch als Seinkönnen,36 in das Geben.37 Zumal das Geben der Gabe sich zurückhält, verbirgt und entzieht, ist ein Grundzug dieses ontologischen Entzugs, dass das Geben des ›Es‑gibt‹ ein Schicken ist. Das Geschichtliche der Seinsgeschichte bestimmt sich daher aus dem »Geschickhaften eines Schickens« und nicht etwa »aus einem unbestimmt gemeinten Geschehen«.38 Was beide, nämlich Zeit sowohl als auch Sein, »zu31 | Heidegger: Die Sprache, S. 25. 32 | Vgl. »Die Sprache ist in ihrem Wesen nicht Äußerung eines Organismus, auch nicht Ausdruck eines Lebewesens. Sie läßt sich daher auch nie vom Zeichencharakter her, vielleicht nicht einmal aus dem Bedeutungscharakter wesensgerecht denken. Sprache ist lichtendverbergende Ankunft des Seins selbst.« Heidegger: Brief über den Humanismus, S. 326. 33 | Vgl.: Humboldt, Wilhelm v.: Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java, S. LVII. 34 | Vgl.: Heidegger, Martin: Der Weg zur Sprache, S. 246. 35 | Heidegger: Zur Sache des Denkens, S. 8. 36 | »Das Dasein [Mensch] ist die Möglichkeit des Freiseins für das eigenste Seinkönnen.« Heidegger: Sein und Zeit, § 31; S. 144. 37 | Heidegger: Zur Sache des Denkens, S. 6. 38 | A.a.O., S. 7f.

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einander gehören läßt«, was beide »nicht nur in ihr Eigenes bringt, sondern in ihr Zusammengehören verwahrt und darin hält, der Verhalt beider […] ist das Ereignis«.39 Dadurch, dass Heidegger das Ereignis »aus dem Eignen als dem lichtend verwahrenden Reichen [von Zeit] und Schicken [von Sein]« denkt,40 lässt er – wie leise vorerst noch auch immer – die Eignung des Ereignisses als Zeitigung von Sein anklingen: Das Ereignis ist die ereignende Mitte von Sein und Zeit.41 Das Ereignis ereignet Zeit und Sein in einer gegenwendigen Bewegung, die einen ontologisch-hermeneutischen Zirkel schließt und die temporale Irreversibilität geschichtlicher Vorgänge in der unbeschränkten Möglichkeit ihres springenden Ursprungs aufhebt: »Sofern nun Geschick des Seins im Reichen der Zeit und diese mit jenem im Ereignis beruhen, bekundet sich im Ereignen das Eigentümliche, daß es sein Eigenstes der schrankenlosen Entbergung entzieht. Vom Ereignen her gedacht, heißt dies: Es enteignet sich in dem genannten Sinne seiner selbst. Zum Ereignis als solchem gehört die Enteignis. Durch sie gibt das Ereignis sich nicht auf, sondern bewahrt sein Eigentum.«42 Es besteht kein Zweifel, dass Heidegger sich bei der Entfaltung dieser gegenwendigen Dynamik seines Ereigniskonzepts zumindest teilweise an der ontologischen Ausdeutung des griechischen ἀλήθεια-Begriffs orientiert.43 Die Rede von der Sprache als Haus des Seins verknüpft das Geben des ›Es‑gibt‹ mit dem Reichen des Ereignisses in der unvordenklichen Dimension jedweden Denkens, nämlich der Sprachlichkeit des Menschen und betont so den sprachlichen Charakter dessen, was in der Begrifflichkeit der Fundamentalontologie des frühen Heideggers innerweltliche Erschlossenheit des Daseins44 hieß: »Wesen ist das Währen als Gewähren und dieses das Ereignen. Das Wesende der Sprache als des Sagens ist der Be‑reich. Dieses Wort wird hier als Singularetantum beansprucht. Es nennt etwas Einziges, Jenes, worin alle Dinge und Wesen einander zu-gereicht, überreicht werden und so einander erreichen und einander zum Heil und Unheil gereichen, einander ausreichen und genügen. […] Der Bereich ist die Ortschaft, in der Denken und Sein zusammengehören. Die Ortschaft ist selber das Ver‑hältnis beider. Dieses Ver‑hältnis wurde früher durch die Wendung angedeutet: Die Sprache ist das Haus des Seins.«45 39 | A.a.O., S. 20. 40 | A.a.O., S. 21. 41 | Später wird dieser Gedanke im Protokoll zum Vortrag Zeit und Sein viel deutlicher ausgeführt: »Vielmehr ist das Ereignis so zu denken, daß es weder als Sein noch als Zeit festgehalten werden kann. Es ist gleichsam ein ›neutrale tantum‹, das neutrale ›und‹ im Titel ›Zeit und Sein‹. a.a.O., S. 46f. 42 | A.a.O., S. 23. 43 | Vgl. etwa das Protokoll zum Vortrag Zeit und Sein, a.a.O., S. 31. und 44. 44 | Vgl. dazu vor allem Heidegger: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, S. 278‑292 bzw. Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie, S. 395. 45 | Heidegger: Bremer und Freiburger Vorträge, S. 168.

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Der Heideggersche Hinweis auf die Etymologie des deutschen Ereignisbegriffs verweist in den seinsgeschichtlichen Zusammenhang der ontologischen Differenz und bringt durch etymologisch-autologische Argumentation die Sprach- und Begriffsgeschichte ins Spiel. Sich dessen vollkommen bewusst, vor dem letzten Gericht der Logik nicht bestehen zu können und als tautologische Zirkelhaftigkeit aus dem Bereich zureichender Begründungen verbannt zu werden, will der Heideggersche Hinweis auf die Wortgeschichte keineswegs etwa den Anschein erwecken, als habe das Ereignis, das Er‑äugnis mit dem menschlichen Auge etwas besonderes zu tun, geschweige denn, als sei es sogar der Vollzug visueller Erkenntnis. Das verhindert schon, dass Heidegger das Ereignis – wohl auch unter dem Einfluss einer Hölderlinstelle46 – als Singularität, sprachlich als singulare tantum denkt.47 Vielmehr besteht die ontologische Bedeutung des singulären Ausdrucks gerade darin, erkenntnistheoretische Konnotationen allein schon dadurch zu unterbinden, dass hier die etymologische Sicht das Denken des Ereignisses in eine sprachgeschichtliche Dimension entlässt und somit terminologischer Konventionen entbindet. In dem Singularetantum Ereignis versammelt das Denken das Ereignishafte in der Weise, wie das Sprachliche sich in dem Einzahlwort Sprache und das Geschichtliche sich im Kollektivsingular Geschichte verdichtet. Heidegger steigert die Erwartung, die das seinsgeschichtliche Denken ans Singularetantum Ereignis stellt, sogar ins Maßlose: »Das Er‑eignis ist der in sich schwingende Bereich, durch den Mensch und Sein einander in ihrem Wesen erreichen, ihr Wesendes gewinnen, indem sie jene Bestimmungen verlieren, die ihnen die Metaphysik geliehen hat.«48 Dass das Schwingen des Bereiches, der das Ereignis ist, sowohl als sprachliches Phänomen, als Schwingung der Sprache wie auch als Oszillation eines ontologisch fundamentalen Verhältnisses zu verstehen ist, geht aus einer anderen Formulierung Heideggers in aller Deutlichkeit hervor: »Das Ereignis, im Zeigen der Sage erblickt, läßt sich weder als ein Vorkommnis noch als ein Geschehen vorstellen, sondern nur im Zeigen der Sage als das Gewährende erfahren. Es gibt nichts anderes, worauf das Ereignis noch zurückgeführt, woraus es gar erklärt werden könnte.«49

3. D as liter arische E reignis in den Papieren eines A rz tes Im Folgenden wird Arthur Schnitzlers Erzählung Der Sohn auf ihre ontologische Ereignisstruktur gedeutet. Mit dieser Aufgabenstellung haben wir in aller beschämenden Stille eine Reihe ontologisch schwerwiegender Vorentscheidungen nachvollzogen und gutgeheißen. Wir haben einen Autor gesetzt und ihm als fügendem Ursprung, produktiven Urgrund, ja als schaffendem Urheber eine Krea46 | Heidegger: Hölderlins Hymne »Andenken«, S. 77. 47 | Heidegger: Identität und Differenz, S. 25. 48 | A.a.O., S. 26. 49 | Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 258.

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tur, ein Produkt, ein künstlerisches Geschöpf, ein literarisches Kunstwerk oder, um mit einer toten Metapher zu sprechen, einen Text, ein stoffliches Gewebe, ein geflochtenes Gewirk mit mancherlei Mustern und Motiven als Objektivierung seiner Schöpfungskraft zugeordnet. Denn sobald wir uns in der Sprache der Literaturwissenschaft über Literatur verständigen, spricht eine mehr denn zweitausend Jahre alte kunstphilosophische Tradition in den Bildern einer plumpen Handwerksanalogie aus uns. Diese vielfach zwingende Sichtweise samt ihren Denkgewohnheiten und ihrer wohl unübertrefflichen Redegewandtheit legt uns wohlvertraute Jedermannsworte in den Mund, die uns nicht nur in ihrer Selbstverständlichkeit allgemeinverständlich sind. Die altehrwürdige Poetologie setzt uns vielmehr Augen ein, deren Blick kein geringerer als Aristoteles durch seine Dichtungslehre schärfte und seine Nachfolger einen weiten Phänomenalbereich poetischer Erscheinungen abstecken und ihn zu einem recht weit gezogenen metaphysischen Gesichtskreis ausmessen ließ. In diesem Horizont der Erzähl- und Gattungstheorie erscheint die Literatur an einen konkreten Gegenstand gebunden, der uns zwar in einer unergründbaren Objektivität, gleichwohl in unwiderlegbarer gegenständlicher Fassbarkeit vorliegt, sich zu einem ästhetischen Objekt größter Potentialität50 verfestigt und durch die Besonderheiten seiner Beschaffenheit den forschenden Blick auf sich zieht, bindet und nicht mehr loslässt. Literaturwissenschaftlich scheint ja nichts fragloser und unzweifelhafter als eben, dass der belletristische Text, das in seiner Selbigkeit uns allen vorliegende literarische Kunstwerk dasjenige literarische Seiende sei, das es nun als Gegenstand der Literaturwissenschaft zu erforschen gilt. Der Text ist ja das ganze Worumwillen epischer Dichtkunst als produktiver Betätigung menschlichen Geistes. Sie ist ein intersubjektives Intentionalobjekt. Darauf hat es der Schriftsteller, dieser Hersteller von Schriften, von vornherein und durchaus abgesehen. In dieser seiner Absicht waren alle im Laufe der Rezeptionsprozesse erzielten Wirkungen mit bezweckt, mithin selbst dann beabsichtigt, wenn sie nicht ganz vorausgesehen werden konnten. Der uns in seiner vollendeten Materialität vorliegende literarische Text, das dichterische Gewebe dramatischer Handlungen oder das poetisch-ästhetische Gewirk narrativer Erzählung gilt somit als ein teleologisches Produkt, ein Erzeugnis dichterischer Schöpfungskraft, das die hohe Kunst des Schriftstellers bezeugt, sonst könnte es ja gar kein Kunstwerk sein. Wie der Bildhauer aus Marmor oder Bronze seine Statuen erschafft, wird auch ein Wortkunstwerk aus Lauten, Worten51 und Sätzen, aus Charakteren, Figuren und 50 | Vogt: Der schwankende Boden der Lebenswelt, S. 189. 51 | »Wenn ein Werk aus diesem oder jenem Werkstoff – Stein, Holz, Erz, Farbe, Sprache, Ton – hervorgebracht wird, sagt man auch, es sei daraus hergestellt.« Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 31. Bezeichnend ist nicht nur, dass Heidegger durch diese Aufzählung der Grundstoffe verschiedener Künste die Lehre ut pictura poesis zu übernehmen scheint, er stellt ja eine Querverbindung zwischen der Bildhauerei und der Dichtung mit Hilfe der Malerei her (Farbe), sondern auch, dass das Wort Ton selbst noch im semantischen

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Motiven, aus selbst Erlebtem, ja sogar aus »der extensiven Totalität des Lebens«52 und Hinzugedichtetem gleichsam als poetischem Material53 geformt, gewoben, geflochten und wäre es anders gestaltet, hätte es eine auch nur geringfügig andere innere Struktur, ja eine auch nur etwas abweichende ›Bausubstanz‹,54 so würden wir es schon mit einem anderen vielleicht mehr, vielleicht aber auch weniger kunstvollen literarischen Gebilde zu tun haben. Diese hylomorphische Weichenstellung scheint indessen unumgänglich zu sein. Wir müssen uns ja auf konkrete Literatur irgendwie doch berufen können. Auch wird es eine textuelle Vorlage, die der Anlage des Rezipienten entsprechen kann, irgendwie schon geben müssen. Das ästhetische Subjekt verlangt ein ästhetisches Objekt, der erkennende Geist setzt die erst zu erkennende Materie voraus. Diese fachkundige Sachlichkeit verwundert um so weniger, als die herkömmliche poetologisch ausgerichtete Literaturwissenschaft zu den Humaniora gehört. Diese erblicken ihr Anliegen jedoch in der Untersuchung des Menschen. Im Falle der Literaturwissenschaft gilt eben jener Mensch als Gegenstand der Forschung, der sich, je nachdem, ob er sich auf der produktiven oder reproduktiven Seite der Frontlinie von Ästhetik und Poetik befindet, entweder in genialer Produktion oder kongenialer Reproduktion der Literatur als schöpferischer Kunst, diesem allerschönsten und allerhöchsten Produkt dichterischer Sachkenntnis widmet. Damit erst ist er als der unverrückbare und unerschütterliche Grund der Dichtkunst festgefügt, und zwar gleich dreifach: 1. Der Mensch ist der wirkende Grund (causa efficiens). Er erzeugt ja in seinem kunstvollen Können die literarischen Kunstwerke, die ohne sein Zutun nie entstehen und bestehen (sein) könnten. 2. Der Mensch ist zudem Zweckgrund (causa finalis). Kunstwerke werden ja geschaffen, damit er mit ihnen einen entsprechenden Umgang pflegt. Solcher Umfeld von Sprache seine Zweideutigkeit nicht ganz verliert. In dieser unübertrefflichen Zweideutigkeit, nämlich der zu bearbeitende ›Stoff‹ sowohl der Ton- bzw. der Dichtkunst wie auch die Grundmaterie der Keramik zu sein, wird die vermeintliche Stofflichkeit menschlicher Stimme erst recht in die Plastizität der Analogie mit der τέχνη entlassen und damit in den Dienst der herkömmlichen Metaphysik genommen. (Das ist zweifelsohne die literaturontische Kehre Heideggers.) 52 | Lukács: Die Theorie des Romans, S. 31. Vgl. auch: S. 32; 50. 53 | Vgl. hierzu allem voran Friedrich: Drei Klassiker des französischen Romans, S. 33. Zur Ausweitung der Materialität von der Schrift auf die Laute siehe vor allem: Grube: Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, S. 295, Fn. 39. 54 | »Charaktere und Handlung sind die ›Grundsubstanzen, aus denen die epische und dramatische Dichtung geformt wird.« Stanzel: Typische Formen des Romans, S. 63. »Geschehen, Figur und Raum sind die drei Substanzschichten in aller Epik; wird eine von ihnen ausgeformt und tragend, so ergibt sich eine Gattung.« Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, S. 360.

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rechte Umgang ist unumgänglich, sonst lägen ja die Kunstwerke nutzlos herum. Sie wären zwecklos. 3. Der Mensch ist schließlich Gestaltgrund (causa formalis). Die Dichtkunst ist ja bekanntlich eine Nachahmungskunst, was ursprünglich kein leeres Kopieren und Nachbilden heißt, sondern zum Ausdruck bringt, dass menschliche Handlungen, Gestalten, Gedanken und Gefühle dem Literarisches Schaffenden jenes Maß, ja dasjenige Vorbild (Idee → idea → ἰδέα → εἶδος) zur Verfügung stellen, nach welchem in der Dichtkunst gestaltet wird. Das Ohm, das Hohlmaß, das dem Wortstamm von nachahmen zugrunde liegt, weist wortgeschichtlich nicht von ungefähr auf das griechische Wort ἄμη zurück. Es bedeutet Schöpfeimer und drückt in festen Redewendungen schon lange, bevor es über das Mittellateinische ins Deutsche übernommen wird, ein Höchstmaß (Überschuss) aus. Nachahmen bedeutet von der Begriffsgeschichte her nachspielen und dabei das rechte Maß halten. Da in der Literatur offensichtlich der Mensch das Bildungsmaß ist, ist er auch Gestaltgrund. Als solcher scheint der Mensch sogar tiefgründiger Grund zu sein, als auf die bisherigen drei Weisen. Als sprachbegabtes Wesen (ζῷον λόγον ἔχον), das von Kultur zu Kultur, ja sogar von Zeitalter zu Zeitalter unterschiedliche Sprachen gebraucht, mithin Sprache als geistiges Werkzeug erzeugt, benutzt, abnutzt und sich dann wieder zurechtschleift, ist der Mensch in gewissem Sinne auch noch Stoffgrund (causa materialis), und zwar gleich und gleichermaßen beider Künste, der Rhetorik55 sowohl als auch der Poetik.56 Doch dieser ›gewisse‹ Sinn, in dem er Stoffgrund sein soll, ist gewissermaßen ungewiss, da sich in dem Menschen, verstrickt und befangen selbst in der allertiefsten Metaphysik, etwas dagegen sträubt, sich selbst als Stoff und Materie verstanden haben zu wollen. Es wird hier nun ein anderer, etwas unwegsamer und dorniger Pfad eingeschlagen. Denn wird Literatur als eine besondere Art der Sprache ontologisch in den Blick gehoben und als besonderes Haus des Seins aus dem Ereignis gedacht, was Heidegger am Ende des Kunstwerkaufsatzes eher versäumt, als programmatisch 55 | Kein geringerer als Cicero bestimmt die ursprüngliche Aufgabe der Rhetorik so: »Quo tempore quidam, magnus videlicet vir et sapiens, cognovit, quae materia esset, et quanta ad maximas res opportunitas animis inesset hominum, si quis eam posset elicere, et praecipiendo meliorem reddere. [Da muss ein großer und offensichtlich weiser Mann erkannt haben, welch ein dankbarer und im besten Sinne gefügiger Stoff der dem Menschen innewohnende Geist denn sei, wenn man nur seine Anlage aus ihm herauslocken und nach Belehrung verbessert zurückerstatten könnte].« De Inventione Rhetorica. Liber primus, § II. 56 | »Die Dichtkunst hat es mit dem höchsten Gebilde, dem Menschen, zu tun. […] Darum müssen an ihm als Stoff der Dichtung auch Lebenswahrheit und Wesenswahrheit auseinanderklaffen. Und es ist leicht zu entnehmen, daß eben darin ein beträchtlicher Teil der Konflikte wurzelt, die den Hauptstoff der epischen, dramatischen und Romandichtung ausmachen.« Hartmann: Ästhetik, S. 304.

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durchgeführt hat, dann müssen die breiten Wege der Poetologie verlassen werden, ja dann will ein anderer Einstieg in die Literatur gewagt sein. Dabei greifen wir, um metaphysische Konnotationen zu vermeiden, auf etwas Lebensweltliches zurück, das sich in phänomenologischer Sicht als sprachontologische Minimalparadigma der Literatur zu bewähren verspricht. Wir begegnen konkreter Literatur wie einem Gespräch, in das wir auf offener Straße hörend verwickelt werden. Wir denken sie weder als etwas medial Stoffliches, noch als irgend Seiendes, dessen man etwa habhaft werden könnte. Wie sich in einer Konversation, der wir nicht umhin können zu lauschen, das Verhältnis, ja sogar das Leben der daran Beteiligten erschließt, so vertrauen wir uns zuhörend jener akroamatischen Offenheit der Literatur, die sich aus der literarischen Öffentlichkeit ergibt. Wir versuchen von dem Gespräch aus, das wir lebensweltlich zu sein verstehen,57 in jenes Gespräch einbezogen zu werden, das erst in der Sprache der Literatur gesprächig wird, sonst aber verstummt. Wird gleichwohl das ontologisch-hermeneutische Paradigma des Gesprächs in seiner konkreten Anwendbarkeit dadurch nicht beeinträchtigt, dass wir es literarisch mit den Aufzeichnungen eines Arztes zu tun haben? Klafft etwa zwischen dem betont Schriftlichen und der ungebundenen Art freier Zwiesprache kein so großer Abstand auseinander, dass wir uns gleich zu Beginn unseres Versuches, Literatur nicht nach den gewohnten, mithin erprobten Regeln der Poetologie zu deuten, unabwendbar verirren müssen? Es wäre zu leicht und zugleich auch leichtfertig, diese Zweifel mit dem Hinweis auf den dialogischen Charakter von Tagebucheintragungen von der Hand zu weisen. Wir werden es schon im Spannungsfeld der Zweifel aushalten und uns mit der Gewöhnungbedürftigkeit unseres Unterfangens abfinden müssen. Mut erfordert ja der Sprung, nicht aber die Landung. Die Stimme, die hier im Gespräch jener Sprache zu uns spricht, die ein besonderes, denn literarisches Haus des Seins ist und die uns literarisches Sein ereignet, ›be‑reicht‹, d.w.s. ermöglicht, dass wir literarisch Seiende sein können, bestimmt sich als ein Ich. Anders gewendet, äußert sich die literarische Sprache, die nicht wir sprechen, sondern die selber spricht, in der Ich-Form. Wir wissen, dass solches Sprechen ein literarisches Aufzeichnen ist. Im Aufzeichnen begibt sich dieses Ich teils in die Möglichkeit der Selbstanrede, teils aber auch in die Offenheit der literarischen Öffentlichkeit seiner Aufzeichnungen. Diese besteht in der Möglichkeit, in fremde Hände zu gelangen und von Fremden als Literatur, mithin literarisch gelesen zu werden. Sind wir schon diese Fremden, sind wir die potentielle Öffentlichkeit der Aufzeichnungen? Um dieses Dilemma entscheiden zu können, müssten wir indes die Frage beantworten können, ob uns diese Aufzeichnungen fremd sind. Es ist aber durchaus so, dass uns trotz jeder Unkenntnis des ›Inhalts‹ der Aufzeichnungen diese irgendwie schon vertraut sind. Sie sind uns ja einerseits zum Lesen anvertraut, andererseits sind wir aber genau 57 | Vgl. dazu Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 383.

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diejenigen, die diese Aufzeichnungen zu lesen bekommen, wo sie doch erst entstehen. Somit sind wir in aller Latenz, in aller Verborgenheit einer der Offenheit dieser Situation sich vorerst noch völlig entziehenden literarischen Öffentlichkeit eben diejenigen, die ihren literarischen Daseinsbereich von der in der Ich-Form sprechenden literarischen Sprache zugewiesen bekommen, kurzum ihre literarische Identität literarisch bereits erhalten haben. Erlaubt uns die Literatur als besonderes Haus des Seins, mithin als innerweltliche Erschlossenheit unseres literarischen Da‑Seins, überhaupt noch eine solche Dichotomie von Innen und Außen, als gäbe es uns, literarisch Seienden eine außerliterarische Wirklichkeit, ein In-der-Welt-sein jenseits dieser Sprache, die hier literarisch spricht? Es scheint ontologisch zum Beginn von Literatur zu gehören, dass das literarisch Seiende, das soeben beginnt, literarisch zu sein, in der Literatur als besonderer Seinsweise vollkommen aufgeht. Fundamentalontologisch gesprochen nimmt das Sein, das nun literarisch sein Da ist,58 seine Behauusung in dem besonderen Bereich jener Sprache, die die Literatur ist. Literarisch ist es sein Da [transitiv!] nunmehr in der sonderbaren Sprache, in jenem besonderen Haus des Seins, das Literatur heißt. Zur Totalität unseres literarisch Seins gehört als fundamentaler Grundzug unserer existentialen Struktur, dass wir nur wissen und empfinden, was das Ich der Aufzeichnungen selber weiß und empfindet. Wir, die Rezipienten, sind in gewisser, denn ungewisser Weise das Ich, aus dessen Papieren nun die besondere Sprache Literatur so besonders spricht. Indessen ist diese Identität eine Selbigkeit, die uns erst nach und nach in der Sukzessivität sich entfaltender Literatur zuwächst. Es ist kein geringerer als Bachtin, der mit widerstandsgewohntem Nachdruck darauf hinweist, dass sich jeder Rezipient in einer dialogischen Situation, in einer Begegnung befindet, in der sein Gegenüber niemals ohne Stimme bleibt.59 Nun gilt dem hinzufügen, dass diese Begegnung offensichtlich auch mit einer radikalen Wende des Verhältnisses der Begegnenden, nämlich einer literarischen Identifikation beider einhergehen kann. Das literarische Ereignis ist dabei nicht ein besonderes und daher beliebiges, punktuelles, epistemologisch oder ästhetisch ausgezeichnetes Geschehnis, das dem Rezipienten etwa im langen Prozess des literarischen Erlebnisses zuteil wird. Ontologisch ereignet das literarische Ereignis vielmehr Zeit und Sein literarisch. Nur wer sein literarisches Da zu sein versteht, ist auch im ontologischen Sinne Rezipient. Er nimmt in einer identifizierenden Retrospektive an, was ihm in der Literatur ereignet, d.h. gegeben, mithin als Gabe von Ergebenheiten gereicht wird. Die Aufzeichnungen des Ichs, als das wir nun unser literarisches Da sind, beschwören einen Vorfall, der das Ich, das wir nun in der literarischen Öffentlichkeit der Aufzeichnungen sind, aber in der außerliterarischen Öffentlichkeit nie sein könnten, nicht zur Ruhe kommen lässt. Diese Unruhe lässt die Aufzeichnungen 58 | Heidegger: Sein und Zeit, § 28; S. 132f. 59 | Bachtin: Zur Methodologie der Literaturwissenschaft, S. 352.

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überhaupt erst entstehen. Schon eine ontologische Merkwürdigkeit, dass die poetologische Sicht in der Vollendetheit dieser Aufzeichnungen die Grundlage literarischer Rezeption erblickt, wobei wir als literarisch Seiende der Entstehung dieser Aufzeichnungen in der Unmittelbarkeit einer ersten Person Singular beiwohnen. Die Aufzeichnungen ranken sich scheinbar um einen denkwürdigen Kriminalfall. Der Hergang der Handgreiflichkeit, die als zentrales Anliegen von Anfang an im Mittelpunkt zu stehen scheint, entfaltet sich in der Allmählichkeit einer allwissender auktorialer Sicht völlig enthobenen Perspektive erst nach und nach teils durch eigene Erfahrung, teils durch Mitteilungen solcher, die sowohl den Vorfall als auch die Betroffenen gut kennen. Der Arzt, der das Ereignen von Literatur dadurch überhaupt ermöglicht, dass er seine Aufzeichnungen zu Papier bringt, und mit dessen Erkenntnis- und Erlebnishorizont der unsere dermaßen verschmolzen ist, dass sich unser ontologischer Status von dem seinen gar nicht mehr trennen oder unterscheiden lässt, verwickelt sich in einen Kriminalfall, der ihm unheimlich vorkommt und daher zu einem Geheimnis gereicht. Dadurch rückt die hermeneutische Ursituation des Nichtverstehens in den Vordergrund. Die Gestalt des Täters gewinnt seine erste ihre ersten Konturen aus den Charakterisierungen der Nachbarn und des Arztes, der nach dem Vorfall erste Hilfe leistet und so ins Geschehen verwickelt wird. Die innere Dynamik der Aufzeichnungen konstituiert sich somit im Spannungsfeld von Verwickelung und Entwirrung. Das rätselhafte Verhalten der erschlagenen Mutter, die am Ende der Erzählung ihrer Verwundung erliegt und die ihrem gewalttätigen Sohn keine Strenge entgegenbringt, sondern stets mit einem zärtlichen Wohlwollen begegnet, das unter den Nachbarn auf allgemeines Unverständnis stößt und als Verzärtelung, als pädagogisches Versagen gedeutet wird, lässt den Arzt – besorgt um seine Patientin und vom Vorfall aufs tiefste betroffen – nach den Gründen solcher Missetat forschen. Diesem Forschungsdrang kommt entgegen, dass die erschlagene Frau kurz vor dem Tod noch einmal zu sich kommt und ihr Geheimnis ausgerechnet dem Arzt anvertrauen will. Die eignende Mitte des literarischen Ereignisses konstituiert sich somit dadurch, dass ihr ein Geheimnis zugrunde liegt. Was die erschlagene Frau, die einzige Kennerin der Wahrheit, als Geheimnis schwer bedrückt, den Nachbarn hingegen als etwas schier Unheimliches vorkommt und schließlich den Arzt bald als brutale Heimtücke, bald als dunkles Geheimnis intellektuell nicht zur Tagesordnung übergehen lässt, ist jener springende Punkt, um den herum sich Literatur ereignet. Als sich herausstellt, dass die vom eigenen Sohn erschlagene Frau noch als ledige Mutter den Sohn, den sie heimlich zur Welt gebracht hatte, in erster Aufregung und größter Verzweiflung umbringen wollte und nahezu auch erstickt, so dass der Sohn sein Leben nur dem Zufall verdankte, nimmt das intellektuelle Geheimnis die Form eines erneuten Rätsels an. Löst die mit Gewissensbissen und Nachgiebigkeit einhergehende mütterliche Reue, das sprechende Verschweigen des Unsäglichen, in dem so um seinen ethischen Halt gebrachten Jungen als

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Reaktion auf das gestörte Verhalten der Mutter eine immer mehr zunehmende Wut aus, die sich schließlich und folgerichtig im Totschlag und in beider Verderb entlädt oder geht es hier um eine bewusste Vergeltung auf der einen und um verdiente Sühne auf der anderen Seite, wie dies die Mutter zeitlebens denkt? Diesem Dilemma verleiht besonderen Nachdruck, wenn die sterbende Frau den Arzt zum Eid beschwört, ihren Sohn vor Gericht zu verteidigen, indem er dort erzählt, was sie ihm soeben eröffnet hat. Die letzten zwei Absätze kehren in die Gegenwart der Aufzeichnungen zurück und deuten die ersten Sätze nachträglich um. Der Arzt, den wir [transitiv!] in unserem Da nun literarisch sind, wacht um Mitternacht nicht deshalb, er denkt nicht deswegen »an jene unglückliche Frau«, weil die Brutalität des Totschlags durch den eigenen Sohn ihn nicht zur Ruhe kommen lässt, wie es anfangs noch zu verstehen war, sondern weil der Auftrag, den Übeltäter vor Gericht zu vertreten und den versuchten Mord durch das Opfer an dem Täter der Öffentlichkeit, einer literarischen Öffentlichkeit bekannt zu geben, ein neues, hermeneutisches Dilemma entstehen lässt, das einen jeden in unmittelbarer Existentialität angeht. Es stellt sich durch die Erfahrung der bislang verschwiegenen Wahrheit nicht nur heraus, dass das Opfer auch Täterin, der Täter hingegen selbst ein Opfer ist. Der Arzt wird durch das Dilemma der juristischen Hermeneutik, ob der versuchte Mord nach der Geburt bei der Urteilsfällung als mindernder Umstand durch das Gericht in Erwägung gezogen werden kann, scheinbar mit einer Frage der Kinder- und Kriminalpsychologie konfrontiert, die nach und nach über seine Gedanken die Oberhand gewinnt und ihn überzeugt, doch zu Gericht zu gehen, da es noch lange nicht klar genug sei, wie wenig wir wollen dürfen und wieviel wir müssen. Es geht hier gleichwohl in erster Linie nicht um die Anzweiflung des principium individuationis. Vielmehr beschwört der Schwur, den der Arzt der sterbenden Frau geleistet hat, allmählich eine den konkreten Vorfall verallgemeinernde Perspektive herauf, die eine Identifikation mit dem Sohn in der unmittelbaren Zeit nach der Geburt ermöglicht. Paradoxerweise muss dabei der Blick vom konkreten Täter abschweifen und in einer von ihm losgelösten Formulierung in Worte gefasst werden. Die besondere Sprache, die hier spricht, spricht sich in erster der ersten Person Plural aus. Diese Pluralform der absoluten Verallgemeinerung meint uns alle, meint jeden einzelnen Menschen, ja sie meint sogar das Dasein als solches, und zwar unabhängig davon, ob es sein Da literarisch oder außerliterarisch ist. Die Identifikation mit beiden, der verunglückten Mutter sowohl als auch dem unglücklichen Sohn, kann sich erst in dieser absoluten Form der Kollektivität ereignen. Das literarische Ereignis hat sich uns als eine besondere Art des ›Es‑gibt‹ in Erfahrung gegeben. Auch zeigte es sich als eine innere Dynamik der Ereignung und Enteignung von Uneigentlichem und Uneigentlichem. Wir konnten uns der poetologisch-metaphysischen Sichtweise herkömmlicher Literaturtheorien nur entledigen, indem wir es wagten, uns im Sinne des ontologischen Paradigmas einer gewöhnlichen Zwiesprache dem literarischen Ereignis anzuvertrauen. In

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der literarischen Öffentlichkeit, dieser Offenheit des literarischen Ereignisses auf das Mit‑sein mit Anderen, lässt sich Literatur nicht mehr als der subjektive Nachvollzug einer objektiven Vorlage denken. Sie musste als eine Seinsweise des Daseins verstanden werden, die in einer Jeweiligkeit statthat. Sie wurde als eine besondere, sonst verborgene Seinsweise offenkundig und zeigte sich in der absoluten Plural des Erzählenden an uns selbst. Daraus folgt indessen die Not, die durchgängig begegnende, besondere Seinsverfassung des Daseins, literarisch sein Da sein zu können, die literarische Latenz menschlicher Existenz zu nennen. In sie zieht sich Literatur als besonderes Haus des Seins zurück, sobald der Mensch seine Behauusung nicht in ihr nimmt.

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The Testimony of Reading – Optics and Rhetoric A Supplement to the Interpretation of À la recherche du temps perdu Tibor Bónus

The question concerning the optics of reading has the potential to foreground the far reaching consequences of the complex relationship between language and vision, or the name and the image; in what follows, I will focus on the double bind between logos and sight, or else, between logic and optics. The deconstructive aporetics of the unreadable shows how two readings of an optically identical text erase one another, which not only results in the difference or heterogeneity of logic and optics, but also in their analogy, insofar as the principle governing the perspectivity, or the structure of the horizon of sight, and the principle of the exclusion of the third are similar: two contradictory statements that cannot be true at the same time, and I cannot focus on more than one sight simultaneously. These claims are valid regardless of the fact that logic, in its abstract a-temporality, appears to dismantle precisely those spatial relationships on which sight depends. It still remains a question, however, whether one can speak, and in what sense one can speak, about an optically self-identical text, if the text severed from its referent exists only fictionally, that is, it does not visibly exist, or, to put it differently, if the unreadable never appears as a sight, but rather (since it is impossible not to read) as the awareness or the memory of the incompatibility of readings. Because, in fact, we do speak about optically self-identical texts; without the evidence of these, we would not be able to distinguish between texts the optical identity of which is posited as an ideal, nor would we be able to tell different copies or different versions of a manuscript apart: in this latter case, we conceive of the optical identity in the concreteness of perception, as the material singularity of the object beheld. The text of Proust’s novel produces a complex, extraordinarily subtle network of optics, logic and rhetoric (and, of course, phonics); in order to foreground some of its elements, I have to stabilise first, if only temporarily, the ramifying, unstable relationships emerging from the text. On the one hand, in A la recherche, the

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process of becoming readable and the process of becoming visible are intimately bound up together; the appearance of a text or an image is most often the metaphor of the sudden, eventful understanding of a thing previously non-understood. Perception does not exist without the interference of reading or cognition, that is, we cannot understand what we do not see, but, at the same time, the resistance to cognition is also somehow discernible, not in the realm of perception, but in the relation or in the space between the knowable and the visible. Several passages could be quoted in which the signs of an invisible interiority or the signs of one of the identities of a character (more precisely, a momentary constellation of the character identified as identity), which are inscribed in gestures, in facial features or in the black of the eye, are called writing traced in an invisible ink by the narrator. As opposed to the visible ink, the development, the snapping, or else, the making visible of the invisible ink (like that of a secret code) require an act of reading and interpretation. From this angle, decipherment and interpretation are inseparable; the material gesture, the philological reconstruction, that is, the production of an optically identical text does not precede, does not take precedence over, the spiritual, and the immaterial. For example, when the narrated »I« of À la recherche can unexpectedly see, and suddenly recognise that the Baron de Charlus is homosexual, the narrator interprets this recognition as the sudden resolution of contradictions and, concomitantly, as the discerning, and the materialisation, of some invisible writing, which equally transforms the object of reading or interpretation. The sensual object of sight, the thing seen (that is, the other person understood as a text requiring to be read) gets transformed by the spiritual, logical and discoursive vision, that is, by the event of understanding. »Until then, because I had not understood, I had not seen.«1 The simile involving 1 | »Jusque-là, parce que je n’avais pas compris, je n’avais pas vu.« »En M. de Charlus un autre être avait beau s’accoupler, qui le différenciait des autres hommes, comme dans le centaure le cheval, cet être avait beau faire corps avec le baron, je ne l’avais jamais aperçu. Maintenant l’abstrait s’était matérialisé, l’être enfin compris avait aussitôt perdu son pouvoir de rester invisible et la transmutation de M. Charlus en une personne nouvelle était si complète que non seulement les contrastes de son visage, de sa voix, mais rétrospectivement les hauts et les bas eux-mêmes de ses relations avec moi, tout ce qui avait paru jusque-là incohérent à mon esprit, devenait intelligible, se montrait évident comme une phrase, n’offrant aucun sens tant qu’elle reste décomposée en lettres disposées au hasard, exprime, si les caractères se trouvent replacés dans l’ordre qu’il faut, une pensée que l’on ne pourra plus oublier. » Proust: Recherche, III, 16. »In M. de Charlus another creature might indeed have coupled itself with him which made him as different from other men as the horse makes the centaur, this creature might indeed have incorporated itself in the Baron, I had never caught a glimpse of it. Now the abstraction had become materialised, the creature at last discerned had lost its power of remaining invisible, and the transformation of M. de Charlus into a new person was so complete that not only the contrasts of his face, of his voice, but, in retrospect, the very ups and downs

The Testimony of Reading – Optics and Rhetoric

the centaur makes it evident that the factuality of the thing seen in the field of the objectifying vision (like the duck and the rabbit in Wittgenstein’s famous example) is essentially performative; meanwhile its structure is based on the latency of a remainder, that is, a remainder only (non-)accessible as latency, which, however, restricts the arbitrariness of this performative. This latency can only be rendered manifest by the decision-like event of a stabilising, form giving (i.e. figurative) act of reading, which cuts across the perceptible, while at the same time pushing back its own alternative (the horse or the man in the centaur, or the female or the male in the homosexual) into the realm of latency. The irreversibility of the event also means that the other figure (once seen, but not perceptible anymore) cannot be erased from the consciousness of the reader: »une pensée que l’on ne pourra plus oublier«. Decipherment, this technique of rendering legible, is closely linked to the work of the code, which does not inherently belong to the sight; it is abstract, but partakes of the sensual materialisation of the sight that constitutes the starting point of reading. This code, we cannot forget, easily falls pray to the vested interests of the interpreter, and functions as an event while it reads a »fact« or an event, and this eventfulness is independent of its truth value understood as correspondence. Like vision itself, which is dependent on reading, philology is far from being equivalent to objective knowledge; of course, no reading is objective, since there is always a performative-medial movement involved in it, which is not accessible except when it misses its goal, that is, when it is read. On the other hand, the invisible does not become extinguished through its becoming visible; there is an irreducible difference between the visible and the readable, between the name and the image, insofar as something is added to the sight in the act of reading. This something is not naturally or inherently there in the image, but is projected onto the image as a convention, that is, arbitrarily, by seeing, which is always understood as interpretation. Hence, the text is only apparently stabilised by its image; the appearance of the text not only secures its readability, but also contributes to its unreadability, since, as an image, it does not contain in itself the conventions of its own interpretation. Similarly to vision, which, like all other sense perceptions, cannot get beyond the contradictory determinations of the physiological and the spiritual, of the material and the immaterial, reading, or language in general, lingers between the sensual, the spiritual, and the imaginary. If becoming visible is the metaphor of understanding, then optics eventually extinguishes rhetoric, that is, optics eliminates the event of persuasion and mediality from the coming into being of truth as construction. And of his relations with myself, everything that hitherto had seemed to my mind incoherent, became intelligible, brought itself into evidence, just as a sentence which presents no meaning so long as it remains broken up in letters scattered at random upon a table, expresses, if these letters be rearranged in the proper order, a thought which one can never afterwards forget.« Proust: Remembrance.

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it does so at the precise moment when language appears in order to disappear in the translucence of meaning. This process is nothing else but the forgetting of the perspectival conditions of seeing in the thing seen, which forgetting, however, is a structural part of the way seeing operates. The Recherche unwittingly relies on this operation, but, at the same time, it also undermines the effect of immediacy, and does so not only when it draws attention to the medial constitution of heterogeneous sense perceptions, or when it makes evident that the truth of the image is predicated on the workings of language, but also when it presents the inescapably relational character of cognition by means of optical metaphors. Hence, because of the phenomenal relationship between seeing and cognition, understanding understood as optics not only eliminates rhetoric, but, by the same token, the optical medium also gives the most faithful representations of the ubiquity of rhetoric. Rhetorical operations that magnify or minimise are often evoked by Aristotle’s Rhetoric2, and are also present in the self-reflective voice of the narrator of À la Recherche. This is hardly a surprising feature of a novel exemplifying the testimonial character of the senses, the fact that senses are mere witnesses, and that the immediacy of certitude is withdrawn from them, which immediately raises the question of their controversial relationship to false witnessing in the moral sense. Rhetoric takes its point of departure from the absence of certitude, and from perspectival knowledge, that is, it translates the lack of any point from which one could judge the objective or stable truth value of the variable correlations of the magnifying or minimising representations.3 2 | »They will often have allowed themselves to be so much influenced by feelings of friendship or hatred or self-interest that they lose any clear vision of the truth and have their judgement obscured by considerations of personal pleasure or pain.« Aristotle: Rhetorics 1354b, »It is only natural that methods of »heightening the effect« should be attached particularly to speeches of praise;« Ibid., 1368a, »Again, the topic of Size is common to  all  oratory; all of us have to argue that things are bigger or smaller than they seem, whether we are making political speeches, speeches of eulogy or attack, or prosecuting or defending in the law-courts.« Ibid., 1391b. See also: 1393a. »A subject can be developed indefinitely along these lines« Ibid., 1408a, »Now the style of oratory addressed to public assemblies is really just like scene-painting. The bigger the throng, the more distant is the point of view: so that, in the one and the other, high finish in detail is superfluous and seems better away. Ibid., 1414a »The facts having been proved, the natural thing to do next is to magnify or minimize their importance.« Ibid., 1419b. 3 | The following quotation departs from the intimate bond between apprehension and rhetoric, sense perception and reading, and renders relative, from the point of view of the invisibly great and the inconceivably small, the perspectival illusion of human vision, drawing the discourses of biology, physics and astronomy into its line of argumentation. »Les gens vont d’habitudes à leurs plaisirs, sans penser jamais que, si les influences étiolantes et modératrices venaient à cesser, la prolifération des infusoires atteignant son maximum, c’est-à-dire faisant en quelques jours un bond de plusieurs millions de lieues,

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The apparently conventional, but truly subversive and original structure of narration in the Recherche draws the reader into this open space of witnessing and perspectival seeing, since the story is transmitted by a homodiegetic narrator, while the par excellence testimonial character of his narration is also made evident by the fact that he (like the reader) can never get to know what he wants to know the most, namely, whether his lover, Albertine, has been cheating on him, and whether she has been attracted by her own sex. On the one hand, the narrator is a reliable witness because he records his own experiences and emotions in a dispassionate way, taking into account their controversial character, and because he is close to the narrated events since he concentrates (apart from a few exceptions) on his own experiences, on what he can verify through his own senses. On the other hand, these are the very same features that render his testimony unreliable: he is too close to the events, he has his own vested interests, and, because of his homodiegetic situation, he takes part in the network of relationships that he describes. He is both too distant and too close to the events that he testifies to, and there is no optical optimum to translate between the two poles; one of the most memorable examples of this latter is the double vision of the sea during his first stay in Balbec: the sea is both too close and fragmented, and too distant, or not close enough.4 Let’s turn back to the structure of the narration; the optics of narration becomes unreliable, on the one hand, because it is devoid of any ultimate certitude and the narrator, rather than seeing face to face has to remain satisfied with the reading of testimonies (while seeing face to face cannot be more than a testimony dependent on the subsequent validation of the spiritual or the cognitive) that is, with the witnessing of testimonies (which has to fill the passerait d’un millimètre cube à une masse un million de fois plus grande que le soleil, ayant en même temps détruit tout l’oxygène, tous les substances dont nous vivons; et qu’il n’y aurait plus ni humanité, ni animaux, ni terre, ou sans songer qu’une irrémédiable et fort vraisemblable catastrophe pourra être déterminée dans l’éther par l’activité incessante et frénétique que cache l’apparente immutabilité du soleil: ils s’occupent de leurs affaires sans penser à ces deux mondes, l’un trop petit, l’autre trop grand pour qu’ils aperçoivent les menaces cosmiques qu’ils font planer autour de nous.« Proust: Recherche IV, p. 351. »People pursue their pleasures from habit without ever thinking, were etiolating and moderating influences to cease, that the proliferation of the infusoria would attain its maximum, that is to say, making a leap of many millions of leagues in a few days and passing from a cubic mili-meter to a mass a million times larger than the sun, at the same time destroying all the oxygen of the substances upon which we live, that there would no longer be any humanity or animals or earth, and, without any notion that an irremediable and quite possible catastrophe might be determined in the ether by the incessant and frantic energy hidden behind the apparent immutability of the sun, they go on with their business, without thinking of these two worlds, one too small, the other too large for them to perceive the cosmic menace which hovers around us.« 4 | Ibid., II, p. 67-68.

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interior acts of the other as witness with hypothetical projections, that is, with the visions of the imagination, which coexist with the logical binary of negation and affirmation); on the other hand, because the narrator takes part in everything that he testifies to, namely, the network of affections, interests, and relations that he describes. And last but not least, because he sometimes trusts witnesses who are not or not entirely reliable, and although this cannot be more than a testimony either, this kind of testimony also renders the testimonial discourse controversial and improbable.5 The optics of the before and the after, the distant and the close, the background and the foreground, the small and the big shows that the relationship to objects is inseparable from the relationship to things, since, as Aristotle puts it, »The Emotions are all those feelings that so change men as to affect their judgements«, »they think either something totally different or the same thing with a different intensity: when they feel friendly to the man who comes before them for judgement, they regard him as having done little wrong, if any; when they feel hostile, they take the opposite view«6 The mutual interdependency of the optical medium and the narrative testimony can be well illustrated by this self-reflective sentence of the narrator: »Il se passait sous des formes diverses la chose suivante (j’entends la chose vue par moi, de mon côté du verre, qui n’était nullement transparent, et sans que je puisse savoir ce qu’il y avait de vrai de l’autre côté).« 7 »She shewed herself in various colours in the following incident (by which I mean the incident as seen by me, from my side of the glass which was by no means transparent, and without my having any means of determining what reality there was on the other side)« 8 [de l’autre côté – which means that perspective cannot be eliminated from that side either.] There are many passages in Proust’s novel in which the optical metaphor refers to emotions, affects or interests like expectation, resignation, fear, trust, hope, desire, anger, love, kindness, 5 | Improbability, of course, does not mean that the events actually happened. On the contrary, it perpetuates the unstoppable circulation of the fictional and the real. It might be of relevance at this point that with regard to testimony, Aristotle recommends two opposing procedures to the orator: first, if he does not have a witness, he has to refer the audience to the rules of probability; second, if he does have a witness against someone who does not have one, he should claim that probability does not have a proof value. I quote: »If you have no witnesses on your side, you will argue that the judges must decide from what is probable; that this is meant by »giving a verdict in accordance with one’s honest opinion«; that probabilities cannot be bribed to mislead the court; and that probabilities are never convicted of perjury. If you have witnesses, and the other man has not, you will argue that probabilities cannot be put on their trial, and that we could do without the evidence of witnesses altogether if we need do no more than balance the pleas advanced on either side.« Aristotle: Rhetorics, 1376a 6 | Ibid., 1378a 7 | Proust: Recherche III, p. 194. 8 | Ibid.

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etc…, and connects emotional dispositions with the (literal or metaphorical) sense of sight, no matter whether the sight actually belongs to the inward or to the outward eye.9 The »objectivity« of cognition is wiped out by the interest involved in understanding, since there is no understanding without interest, the absence of interest makes one disinterested; however, interest inscribes a subtle network of performative events into the apparently constative act of cognition. The rhetoric of optics, or the optical metaphors of rhetoric stage these operations, while they foreground other far reaching and complex connections, from the connection between the photograph and its negative to the various associations generated by framing and focusing, including the relation between autobiography and fiction, or the outside and the inside of the text. The narrator pays close attention to the linguistic performances and the linguistic individuality of the characters, and often describes and comments upon their accents, their dialects, their specific language mistakes, their characteristic idioms, their lapses, their habitual misunderstandings, or their bad pronunciation. He quotes and analyses with a quasi-philological scrutiny the mistaken linguistic clichés and the literal mindedness of the doctor Cottard, as well as his inability to recognise irony, he pays close attention to the French of the manager of the hotel in Balbec, to his funny linguistic syncopes that have far reaching semantic consequences, to Françoise’s country dialect, or to the ways in which popular French idioms and accents filter through the Duchesse de Guermantes’s aristocratic discourse. When the narrator of the novel reads the character’s words, he not only relies on the utterances but also on their genetic contexts; he takes into consideration the tone, the rhythm, the accent just as much as the gestures, the facial expressions, or the looks accompanying them. Seeing and reading, sight and

9 | A random example from Sodom and Gomorrah: »Mais je ne pouvais arriver à une certitude car le visage de ces jeunes filles n’occupait pas sur la plage une grandeur, n’offrait pas une forme permanente, contracté, dilaté, transformé qu’il était par ma propre attente, l’inquiétude de mon désir ou un bien-être qui se suffit à lui-même, les toilettes différentes qu’elles portaient, la rapidité de leur marche ou leur immobilité.« (Ibid., III, 232.) »But I could not arrive at any certainty, for the face of any one of these girls did not fill any space upon the beach, did not offer a permanent form, contracted, dilated, transformed as it was by my own observation, the uneasiness of my desire or a sense of comfort that was selfsufficient, by the different clothes that she was wearing, the rapidity of her movements or her immobility.« (Ibid., II.) It is with regard to this spiritual-affective bionding that several optical-technical media gain crucial function in À la Recherche: the camera, the stereoscope, the laterna magica, and (no mistake) the car, which, modelling physiological vision as severed from the spiritual or the cognitive, dissolve this bond while also rendering it visible. At the same time, they equally render visible the eventlike discontinuity of temporality, which temporality is also expressed by the continual displacement of the optical constellation interpreted as metaphors for social networks.

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words, the reading of image and speech always coexist in the novel, but they are always connected through a tension, or controversy. The characters are defined by how they speak and read, while – as Gilles Deleuze, the philosopher, and Gérard Genette, the theoretician of poetics, also unanimously argue – the novel is not only about its own genesis, about Marcel’s becoming a writer, but also about the ways in which the narrated »I« becomes a good reader, and learns to decipher the codes of reading. Undoubtedly, the narrator-protagonist’s words suggest that good readers pay attention to the complex pragmatic context of the utterance, such as physical gestures, while bad or stupid readers take everything literally; however, the decision between the two is far from being obvious: in fact, it is impossible to stabilize the difference between the literal and the metaphorical or the ironic, and tell the two poles apart. Both Genette and Deleuze see the ultimate aim of the acquisition of reading skills in the recognition of the significance of the unsaid in the said; however, while Deleuze links this aim – through the codes of perception – to the personal interests or pragmatic motivations involved in cognition, Genette assimilates it into the self-referential movements of reading. According to Genette, reading can be made pertinent by nothing else but an awareness of the indirect operations of language, or else, by an awareness of the operations of an indirect language, which operations can be interpreted as the incompatibility of being and appearance, or as the »fall of the signifier«, whether the signifier is verbal or gestural.10 This indicates that the narrator, and the »I« emerging from the text, are reading in a right way, if, following the logic of the hermeneutics of suspicion, they arrive at a meaning beyond the utterance, at a meaning that is unsaid and/or contradicts the utterance itself. »La faillite de la signification »mensogère« est ainsi sanctionnée non par la simple absence du signifié visé, mais par la production du signifié contraire, qui se trouve être justement la »vérité«: c’est en cette ruse de la signification que consiste le langage révélateur, qui est par essence un langage indirect, langage qui »décèle« ce qu’il ne dit pas, et précisément parce qu’elle ne le dit pas.«11 Although the ambiguity concerning the reading of the other is also associated with the question of self-representation by the French theorist12, and his quotation marks (»truth«, »reveals«) suggest that the hypothetical cannot be erased, ultimately, it seems as if the play of the literal and the figurative was stabilised on the side of the figura10 | Genette’s examples: a young woman calls the prince of Agrigento in his absence by his nick name, »Grigri«, thus betraying that she does not, in fact, know him; Charlus looks at his watch to pretend that he is waiting for someone, which immediately reveals that he is not waiting for anybody; Marcel shows surprise, which indicates that he is not surprised at all. »et c’est ainsi que l’indice réduit en vient à indiquer presque infailliblement le contraire de ce qu’il devait indiquer, le rapport de causalité s’inversant in extremis au détrimant de l’intention signifiante » Genette: Proust et le langage indirect, 266-267. 11 | Ibid. P. 267. 12 | Ibid. P. 291-293.

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tive, which would then define the essence of reading (and writing). With regard to A la recherche, Deleuze establishes a hierarchy between the codes of reading, restricts the operations of the »lie« and all kinds of indirect language to social and love codes, and separates these latter from the code of art (regained), which he interprets as the symbolic unity of sign and meaning; in this unity, due to the specific code of literature (which is independent from its institutional frame that foregrounds its status as »pretence«), there is no place for lying.13 To take this step, the philosopher, just like the theoretician of poetics, has to activate the figure of total self-referentiality, and has to separate the praxis of literary discourse not only from what is outside literature, from the non-literary, but also from the complex network of interests characterising the pragmatic dimension (which are represented, both within the novel and outside of it, by the codes of social life, of love, and the senses), including the referential system of autobiography; this operation, however, can hardly do complete justice to the complicated mechanisms of Proust’s work, even if it seems pertinent as far as the mode of existence of literature is concerned. Although Genette posits physical signs as being more trustworthy than verbal ones (because of the unconscious character of the former), bodily signs, and signs beyond the dimension of linguistic signification, do not yield more certitude than language itself. The acquisition of reading skills (if such a thing exists at all) only brings us closer to the recognition of the impossibility of reading, which cannot really be called a useful knowledge in a context characterised by an urging need to read. The gaze, for instance, functions as both a mirror of the soul, which unwittingly betrays what words hide, and a surface, which, like words, can hide thoughts behind. Further, linguistic events can also function as involuntary signs or lapses, and not only when they become suspect because of certain gestures or facial expressions (as Genette has it), but also when they appear as the violations of the articulation, or of the grammatical or syntactic rules of language, thereby drawing attention to what is beyond language, that is, to the situation, or to the person who makes the utterance, to the tone or to the face for example. Hence, although, undoubtedly, the body is more prone to behaving as the medium of the involuntary (something that is, of course, held in high regard by Proust) than the vocal or textual body of the word, and the narrative structure of the novel equally appears to represent the reverse substitutions operating in a reading governed by the urge to unmask,14 the relationship between verbal and 13 | Deleuze: Proust. 14 | Genette, Deleuze, as well as Roland Barthes have noticed the role reversal and inversion play in the construction of the story; opposite poles (Combray and Méséglise), aristocrats and members of the middle class, homosexuals and heterosexuals, men and women are constantly changing roles with the passing of time, thereby redrawing, again and again, the boundaries between appearance and truth. Cf: Barthes: Une idée,p. 917921. The reversal of poles, emphasises Barthes, does not result in the recognition of some

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bodily signs, between the image and the word, cannot be stabilised in any concrete hierarchy, nor can it be placed in a teleological structure necessary for the recognition of this hierarchy. Their role in reading can much rather be described as an unstable, back and forth movement, producing irreversible effects. The trustworthiness of the body and of bodily signs, which opposes language, is secured by the inability of the body to lie, insofar as lying necessitates consciousness, that is, language, which latter is also the guarantee of sincerity. The narrated »I« that constantly suspects Albertine of lying and, therefore, is always worried about her (verbal and bodily) language, finds momentary peace only when the girl is asleep, and he can look at her as if she was a phenomenon of nature, as if she was a mere, unconscious body, which, in this state, is incapable of lying.15 At the same time, we may remember the natural metaphors in the description of the sleeping Albertine, where the narration exults in the elimination of language; these natural metaphors are also present elsewhere, for example, in the description of Gilberte’s handwriting, or in the description of the voice of the grandmother, which suggests that there is a so called natural, non-linguistic element, that of the body, that is inscribed even in the most conventional forms of language. This inscription occurs through the materiality of the medium of voice and writing, which is not the same as language, but the body of which (i.e. the material body of writing and the immaterial body of voice) makes language perceptible. The uncontrollable aspect of language also belongs to the analogy of language and the body, since it shows that language is nothing else but an uncontrollable machine, an incalculable automaton. Since we cannot dwell in unreadability (as de Man remarked with regard to Genette)16, there is an immediate decision made at the moment of reading, and this decision has always serious referential consequences even if it is always accompanied by a suspicion concerning its hypothetical character.17 »D’ailleurs, arriverions-nous à le détruire qu’il serait remplacé par un autre aussitôt.« (III, 657.) The quotation immediately reveals that we cannot speak of the absence of the signified, only of its contrary meaning constituted through reading. The right reading of an event (a sight, a text heard or seen) cannot be more than the forgetting of the hypothetical, and the certainty accompanying the right reading means that the reader, as a witness, becomes equally persuaded by it due to the testimonies of others, and that there is no »fact«, interest or authority that would reactivate essence, it does not translate our arrival from appearance to a kind of essence, rather, inversions, as events of understanding, remain open, or else, arrive at a closure only accidentally and arbitrarily. 15 | Cf. Recherche III., p. 578. 16 | de Man: Autobiography, p. 69-70. 17 | It is important to mention that we can distinguish between, at least, two levels of reading: as we have seen in the discussion of the decipherment, literal reading always precedes the level of tropology and semantics, but it cannot be strictly separated from it.

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other contrary or latent readings. The relationship between fact and hypothesis is not simply a contradiction but they are mutually inscribed into one another. One cannot dwell in a hypothesis, the hypothesis always pushes the reader towards the fact, that is, towards one of the contradictory readings, into a decision, which eliminates the hypothetical; however, the fact also shakes our certainty, because it is predicated on the forgetting of the hypothetical. The reading of Albertine’s utterances, acts, words and gestures, which structures the text through many volumes, can exemplify the back and forth movement in which the inescapable decision concerning reading is always haunted by another, contrary, or latent possibility, that is, the case when the decision to accept one kind of reading only strengthens the suspicion that the other, rejected reading would be have been the valid one.18 Reading is not far from the symptoms of paranoia; however, the hallucinations of the one madly in love, or those of the neurotic patient do not contradict the truth of the objective observer, or the reader seeking exactitude. The case of a female patient of Huxley’s, the psychologist, evoked in La Prisonnière, can be read as an allegory of reading: she avoids company, because she cannot decide which of the two sights is the real one and which one is her own hallucination; until she is saved by a (wrong) action urged by the necessity to decide upon the right way of reading, which, however, holds the risk of scandal.19 It is in this sense that one can speak about the process of learning how to read in Proust; 18 | Cf: Hillis Miller: Fractal Proust, p. 375. 19 | »L’illustre Huxley (celui dont le neveu occupe actuellement une place prépondérante dans le monde de la littérature anglaise) raconte qu’une de ses malades n’osait plus aller dans le monde parce que souvent, dans le fauteuil même qu’on lui indiquait d’un geste courtois, elle voyait assis un vieux monsieur. Elle était bien certaine que, soit le geste inviteur, soit la présence du vieux monsieur, étant une hallucination, car on ne lui aurait pas ainsi désigné un fauteuil déjà occupé. Et quand Huxley, pour la guérir, la força à retourner en soirée, elle eut un instant de pénible hésitation en se demandant si le signe aimable qu’on lui faisait était la chose réelle, ou si, pour obéir à une vision inexistante, elle allait en public s’assoir sur les genoux d’un monsieur en chair et en os. Sa brève incertitude fut cruelle.« Proust: Recherche III, p. 38. »The famous Huxley (whose grandson occupies an unassailable position in the English literary world of to-day) relates that one of his patients dared not continue to go into society because often, on the actual chair that was pointed out to her with a courteous gesture, she saw an old gentleman already seated. She could be quite certain that either the gesture of invitation or the old gentleman’s presence was a hallucination, for her hostess would not have offered her a chair that was already occupied. And when Huxley, to cure her, forced her to reappear in society, she felt a moment of painful hesitation when she asked herself whether the friendly sign that was being made to her was the real thing, or, in obedience to a non-existent vision, she was about to sit down in public upon the knees of a gentleman in flesh and blood. Her brief uncertainty was agonising.« Proust: Remembrance.

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finding one’s way in the world of the aristocracy, for example, means the acquisition of institutional conventions (as calculable and calculating interpreters), in which readings are not verified by their truth value, but by the success (in the Austinian sense) of the reader to find his or her way (and profit) in this universe. The arbitrariness of action is therefore constitutive of truth as evidence, but, at the same time, it also stands in a conflict with it, since action means precisely the suspension of understanding. This can be immediately verified by the structure of the narration. The voice and the gaze of the homodiegetic narrator have no alternatives, that is, the narrator behaves like a witness par excellence, whose reading is governed by the wish to get to know Albertine and Albertine’s world (cf: Sodom and Gomorrah, The Captive, or The Fugitive), and most of all by the wish to know whether Albertine is, indeed, attracted to women. Her lesbian inclinations are hidden from Marcel, who can never »directly« (with his own eyes) verify his suspicions, which therefore remain what they are, mere hypotheses. Meanwhile, the reader can only access Albertine through Marcel, and is only informed by other testimonies concerning Albertine, which are testified by the narrator. It remains undecidable whether this testimony, which, in some sense, is the diegetic event of Proust’s novel, is true or false, precisely because Marcel himself does not know the truth.20 On the other hand, the reliability of the narrator making the testimony, whose words coincide with the words of the novel, and who constantly reinterprets Albertine’s words and acts according to the alterations of trust and suspicion, so the reliability of this narrator is often questionable, which shatters the reader’s identification with the focus of the narration, and triggers his search for an inaccessible »outside« while activating the difference between author and narrator.21 The difference makes itself felt in the ruptures of the diegesis, but, at the same time, remains unreadable, insofar as the Recherche leaves open whether one has to read the text and the scriptor function emerging from it with reference to the narrator or to the biographical author. It is the scriptor function22 that separates the narrator from the biographical author, and that, at the same time, connects them as their non-phenomenal, unstable, textual »origin«. This is similar to the shape of Rachel’s face (resembling a sheet of paper) approached from two opposing points of view.23 Hence, the reader 20 | If he got to know the truth, the narrative testimony could hardly uphold its status as a testimony, that is, its undecidability. 21 | Cf also: Bowie: Proust, 1-29. 22 | Derrida: Purveyor, 411-496. 23 | »L’immobilité de ce mince visage comme celle d’une feuille de papier soumise aux colossales pressions de deux atmosphères, me semblait équilibrée par deux infinis qui venaient aboutir à elle sans se rencontrer, car elle les séparait. Et en effet la regardant tous les deux, Robert et moi, nous ne la voyions pas du même côté du mystère. » Proust: Recherche II, p. 458. »The immobility of that thin face, like that of a sheet of paper subjected to the colossal pressure of two atmospheres, seemed to me to be being maintained by two

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finds himself in the same kind of movement between trust and suspicion, even if, or even more so because, the index of fictionality (as well as the often emerging parallels between lie and art or literature) eliminates the conventional elements of lie and sincerity from the reading process. The concomitant identity and difference of the genesis and the spatiality of the text is only accessible as temporal difference. The novel entitled À la recherché du temps perdu tells about its own genesis, that is, it tells about the way in which its narrator-protagonist becomes a writer by the end of the last sequel, and, after a series of plans and failures, acts of faith and doubt, he starts writing his book, while the text narrating this is the book itself. There is an inerasable difference between inner book and outer book, between the narration and that text that is its vehicle (mediating the narrator), however, their inscription is still the »same«, since the letters constituting them are the same.24 Cognition and performance are constituted through the same inscription, and their difference can be made visible through a reading concentrating on the semantic-referential, that is, anthropomorphising differences, which reading, therefore, necessarily forgets about all unstable inscriptions; thus, the distinctions between narrating and narrated »I‹, narrator and author (which are projective and hypothetical but urging) have to depart from the »same« text,25 the identity of which cannot be severed from these differences. Hence, the text is apparently stable, but is, in fact, very much unstable, and, as Genette puts it, »un seul regard suffit à déclencher une circulation que rien ensuite ne peut plus arrêter«.26 It would be more infinities which abutted on her without meeting, for she held them apart. And indeed, when Robert and I were both looking at her we did not both see her from the same side of the mystery.« Proust Remembrance. 24 | Genette’s famous metaphor of the revolving door also comes into play. »Là se trouve en effet le plus troublant paradoxe de la Recherche: c’est qu’elle se présente à la fois comme oeuvre et comme approche de l’oeuvre, comme terme et comme genèse, comme recherche du temps perdu et comme offrande du temps retrouvé.« »En effet chaque moment de l’oeuvre est en quelque sorte donné deux fois: une première fois dans la Recherche comme naissance d’une vocation, une deuxième fois dans la Recherche comme exercice de cette vocation; mais ces »deux fois« nous sont données ensemble, et c’est au lecteur, informé in extremis que le livre qu’il vient de lire reste à écrire, et que ce livre à écrire est à peu près (mais à peu près seulement) celui qu’il vient de lire« And finally: »Ainsi, non seulement la Recherche du temps perdu est, comme le dit Blanchot, une oeuvre »achevée-inachevée«, mais sa lecture même s’achève dans l’inachèvement, toujours en suspens, toujours »à reprendre«, puisqu’elle trouve son objet sans cesse relancé dans une vertigineuse rotation.« Genette: Proust palimpseste, p. 62f. 25 | »Autrement dit, c’est seulement alors que les deux vies parallèles marient indissolublement leurs durées : l’écriture du narrateur est à la lettre l’écriture de Marcel : il n’y a ni auteur, ni personnage, il n’y a plus qu’une écriture. » Barthes: Une idée, p. 813. 26 | Genette: Proust palimpseste, p. 63.

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exact to say that the gaze, which is inseparable from reading, has to stop the circulation in question,27 since this latter is only (non-)perceptible as a difference between images and readings. Later, I will analyse more in detail the semiotic subtlety with which the Recherche uses the complex interpenetration between the biographical reading belonging to the author function and the diegetic reading belonging to the narrator function, in which the binaries between literal and figurative, or between aesthetic identification and ironic reflection lose their stability. As far as the genesis and its temporality are concerned, it is important to note that the closure of the novel, where Marcel starts writing, speaks about a future which is, at the same time, past, and the identity of this past as archive (i.e. inscription) is dependent upon the constant future of a reading process. All this can exemplify the lack of closure involved in the eventfulness of a reading always dependent on the future, which future implies the closest possible reading of the text, the inscription, that is, of the archive of the always anterior. The projection of the event, the future event imagined in hope or in fear can never be concomitant with the event that has already happened, that is, there is an unbridgeable gap between the possibility of the event and its inscription. The novel planned by the narrator, the narration of the preparation for writing, and the text of the novel itself can never be identical, we cannot deduce the product from the plans, and this, of course, also works the other way round, since the event of writing is discontinuous with its own possibility. At the same time, however, the genesis projected and the text actually written (from which it is the act of writing that is actually missing) imply the different readings of the »same« inscription. This is a controversial and self-extinguishing relationship between container and contained: the external is contained by the internal, while the internal is predicated on the external; projection is contained by retrospection, while retrospection is predicated on projection, and so on, and so on, ad infinitum. The same kind of contradictory structure organises Marcel’s reading of Albertine28 in The Fugitive. In this volume, there is an analogy between, on the one hand, the inner archive of memory, this kind of inward exteriority, and, on the other, the exterior medium of memory, writing, or the text as an archive, while their difference is also sustained. First, The Fugitive is the book of letters, telegrams, and of the reading of letters and telegrams, a staging and interpretation of the event-like connection of the relation between external archives and consciousness. Second, the book is the book of the events of a future past, which only means that the memory of Albertine who has gone and then passed away, the memories of the 27 | Or, to put it differently, it has to crystallise the fluid (this metaphor is especially relevant for the novel). 28 | I cannot go more into detail, but the naming of the narrator or the one who speaks in the text is also a decision that does away with a hypothesis, since it gives name and voice to a textual function (i.e. it makes it visible and audible), and is, therefore reading the text.

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narrator, and the events of Albertine’s life witnessed by, and so far unbeknown to, the narrator are reinterpreted in the texts. It is very important to mention that the rearrangement of the past and that of the events conceived as fixed in the past is not restricted to this volume; the radical nature of this specific sequel only resides in the fact that rearrangement also reaches the written archives. Events that happened, or else, events that have been inscribed in memory but were not registered by the narrated »I« at the time of their occurrence, gain a new identity, or else, a new interpretation in the paradox movement of memory, the new perspective of which is produced by the upcoming events (like letters and telegraphs).29 Hence, both the difference and the identity of the present and the past become possible, the past comes to reveal itself as a future past, as a past still to come, as an event or occurrence. However, while the inscriptions of the exterior archive can always be searched again, the search in the inscriptions of the interior archive is restricted, because they are dependent on the uncontrollable interplay of memory and archive (or memory trace). The following passage from The Captive describes the operations of the reading of the archive, generated by jealousy, which can also be applied to the reading of the novel: C’est ainsi qu’est interminable la jalousie, car même si l’être aimé, étant mort par exemple, ne peut plus la provoquer par ses actes, il arrive que des souvenirs, postérieurement à tout événement, se comportent tout à coup dans notre mémoire comme des événements eux aussi, souvenirs que nous n’avions pas éclairés jusque-là, qui nous avaient paru insignifiants et auxquels il suffit de notre propre réflexion sur eux, sans aucun fait extérieur, pour donner un sens nouveau et terrible. On n’a pas besoin d’être deux, il suffit d’être seul dans sa chambre à penser pour que de nouvelles trahisons de votre maîtresse se produisent, fût-elle morte. Aussi il ne faut pas ne redouter dans l’amour, comme dans la vie habituelle, que l’avenir, mais même le passé qui ne se réalise pour nous souvent qu’après l’avenir, et nous ne parlons pas seulement du passé que nous apprenons après coup, mais de celui que nous avons conservé depuis longtemps en nous et que tout d’un coup nous apprenons à lire. 30 Thus it is that jealousy is endless, for even if the beloved object, by dying for instance, can no longer provoke it by her actions, it so happens that posthumous memories, of later origin than any event, take shape suddenly in our minds as though they were events also, memories which hitherto we have never properly explored, which had seemed to us unimportant, and to which our own meditation upon them has been sufficient, without any external action, to give a new and terrible meaning. We have no need of her company, it is enough to be alone in our room, thinking, for fresh betrayals of us by our mistress to come to light, even though she be dead. And so we ought not to fear in love, as in everyday life, the future alone, but even the past which often we do not succeed in realising until the future has come and 29 | Cf: Poulet: L’espace, p. 154f.; Spitzer: Le style, p. 410. 30 | Proust: Recherche III, p. 594-595.

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Tibor Bónus gone; and we are not speaking only of the past which we discover long afterwards, but of the past which we have long kept stored up in ourselves and learn suddenly how to interpret. 31

The quotation does not simply make a statement, but also stages what it speaks about, since the possibility of the other’s death becomes (in the awareness of Albertine’s death) a past gaining a new meaning from the perspective of the future. Importantly, one cannot decide whether this is a poetic invention, which belongs to the author function, or a product of the retrospective narration, the origin of which is the narrator, who knows what has happened afterwards, or else, the narrator is not aware of future happenings, and these reflections only accidentally relate to Albertine’s future death. Albertine’s absence, her non presence, which serves as a point of departure for the narrator in this part of The Captive, is designated by the same French word as her death, that is, the reading or signification of »disparue« (disappeared) in the French title can produce the same kind of future event. The movement of appearance and disappearance, the taking and the losing of shape can receive new light in view of an important passage of The Fugitive, which compares the archive of memory to a library containing a copy of all the days that one has lived, and which, therefore, can be retrospectively searched. First of all, it is important to mention that the metaphors of the book and the library are not to be confused with the library of Babel, which Borges has made famous, since this latter posits the total identity of text and experience, and regards everything as text. In Proust’s text, the book and its outside, the text and the beyond the text, are in a dynamic and open relationship. This also means that the difference between nature and language is never erased in the novel, but rather becomes part of the uncontrollable play of exchange and difference, the same way as the figure of the internal book (i.e. memory) and the figure of the external book (the novel) are not identical, but irreducibly different.

»Les jours anciens recouvrent peu à peu ceux qui les ont précédés, et sont eux-mêmes ensevelis sous ceux qui les suivent. Mais chaque jour ancien est resté déposé en nous comme dans une bibliothèque immense où il y a des plus vieux livres un exemplaire que sans doute personne n’ira jamais demandé. Pourtant que ce jour ancien, traversant la translucidité des époques suivantes, remonte à la surface et s’étende en nous qu’il couvre tout entier, alors pendant un moment, les noms reprennent leur ancienne signification, les êtres leur ancien visage, nous notre âme d’alors et nous sentons avec une souffrance vague mais devenue supportable et qui ne durera pas, les problèmes devenus depuis longtemps insolubles qui nous angoissaient tant alors. Notre moi est fait de la superposition de nos états successifs. Mais cette superposition n’est pas immuable comme la stratification d’une montagne. Perpétuellement des soulèvement font affleurer à la surface des couches anciennes.« (IV, 125.) 31 | Proust. Remembrance.

The Testimony of Reading – Optics and Rhetoric Days in the past cover up little by little those that preceded them and are themselves buried beneath those that follow them. But each past day has remained deposited in us, as, in a vast library in which there are older books, a volume which, doubtless, nobody will ever ask to see. And yet should this day from the past, traversing the lucidity of the subsequent epochs, rise to the surface and spread itself over us whom it entirely covers, then for a moment the names resume their former meaning, people their former aspect, we ourselves our state of mind at the time, and we feel, with a vague suffering which however is endurable and will not last for long, the problems which have long ago become insoluble and which caused us such anguish at the time. Our ego is composed of the superimposition of our successive states. But this superimposition is not unalterable like the stratification of a mountain. Incessant upheavals raise to the surface ancient deposits. 32

While the quotation speaks about an internal archive, the secret realm of memory that cannot be shared with others, the metaphor of the book suggests the linguistic character of this realm, the fact that it can be shared; meanwhile, the inscription of the exterior into the interior goes together with a way of reading that can only happen within memory, all the more so that this reading consists of the evocation of the reader’s past self. However, reading is predicated on repeatability, and a generalisation secured by codes and conventions. Singular and general, secret and private, interior and exterior infinitely frame each other, and through this movement the passage becomes analogous with the reading of the novel, and, particularly, with the movements of the unreadable secret that is still doomed to be read. The metaphor of the book and the library, by referring to remembrance, suggests that memory is a stable, spatial container, in which the various copies of the book can, in principle, be searched (this implies again the analogy between natural law and social convention), however, this conception is immediately shattered by the image of the waving movement, which sheds light on the restrictions of the initial metaphor and on the instability of memory, which is not only the instability of the »I« but also that of language and textuality. The passage operates according to the patterns of the Proustian mémoire involontaire, and receives a more detailed explanation through a conception of the »I« as a discontinuous entity, which latter is often reflected upon in narratorial comments. Suffice it to say now that forgetting is both necessary and impossible, and that the subject’s past archived in memory is irreversible and unchangeable, and yet, not self-identical, since the incalculable eventfulness of memory (which is different from mémoire volontaire because as an aesthetic experience par excellence, it resists the abstractions of logic, which neutralise the sensual effect of the past), suggests both that it is the past itself that recurs and that the past cannot recur, since when it does, then it does so in a form that has never been present. In other words, the past recurs, on the one hand, as if it did not require reading, as if it erased reading in its immediacy (or, more precisely, 32 | Ibid.

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in the medium of the senses), and, on the other, as if it could only be produced through reading. All this means that the text of the book, that is, the archive, is unchangeable, but never self-identical, and has not only the pattern of space but also that of time because of the differential existence of language, while it is not identical either with space or time. Proust’s immense oeuvre poses a challenge to memory not only because of the complex structure of its sentences, but also because of its sheer length, that is, because of the exterior archive, which keeps the reader aware of the open play of retention and protention, of the accidental mode of existence of memory. Proust’s novel represents its own architecture not only through the images of the cathedral and the church, and their material, the stone, which resists the passing of time, but also through the images of sea waves, which appear as different optical shapes (arebesques) in the eyes of the beholder, because of their constant movement and the changing position of the sun lights. We may remember the description of the sea at the first visit to Balbec, which compares the experience of the observer to a travel through the land, while leaving it open whether the sight is a product of the observer’s projections, or a natural sight. The sea waves – alternating with the shapes of the land –give the experience of a car travel to the narrated »I«.33 In the penultimate chapter of The Fugitive, there are passages about the narrator’ awe while looking at the streets of Venice, covered with or consisting of water; the meandering motion of the streets renders the movement of the traveller incalculable, and surprises him with unexpected connections among buildings, squares, and churches previously considered distant from each other. The contemplation of the sea or of the streets of Venice can exemplify the time and space of both the shapes of the text (writing, letters, words) and the (imaginary) shapes emerging from the text. The text therefore interprets its own operations in the above descriptions of the aesthetic experience; it can be read as the allegory of its own reading without closure, and this possibility makes the reader aware that 33 | One single quotation from the rich passage in which the images of the land and the sea are interchanged: »Quand, le matin, le soleil venait de derrière l’hotel, découvrant devant moi les grèves illuminées jusqu’au premier contrefort de la mer, il semblait m’en montrer un autre versant et m’engager à poursuivre, sur la route tournante de ses rayons, un voyage immobile et varié à travers les plus beaux sites du paysage accidenté des heures. Et dès ce premier matin le soleil me désignait au loin d’un doigt souriant ces cimes bleues de la mer qui n’ont de nom sur aucune carte géographique…« Proust: Recherche II, 34 »When, in the morning, the sun came from behind the hotel, disclosing to me the sands bathed in light as far as the first bastions of the sea, it seemed to be shewing me another side of the picture, and to be engaging me in the pursuit, along the winding path of its rays, of a journey motionless but ever varied amid all the fairest scenes of the diversified landscape of the hours. And on this first morning the sun pointed out to me far off with a jovial finger those blue peaks of the sea, which bear no name upon any geographer’s chart…« Proust: Remembrance.

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its spatial stability is always already intertwined with the destabilising movements of the temporal. One can say that the binary between the dry and the humid is an important organising principle of Proust’s text; it is exemplified by the madeleine dipped in the tea, by the Japanese play of the pieces of paper thrown in water, as well as by the contacts and interpenetrations between the images of the sea and the land, starting in Combray, continuing in Balbec, and reaching their peak in Venice; all this can contribute to further interpretations of writing and memory, space and time.34 While the archive of memory is a kind of interior exterior, which is heterogeneous to its own reading (consciousness), it does not have a place, or, rather, it only has a place without space, and its spatiality remains a mere metaphor, which always misses its place bound up with time, and which is, therefore, without spatiality. And while the narratorial imagination is always stabilising, since it has to »choose« optical metaphors to describe the functioning of the interior archive of memory, it also has to remind itself of the temporality of the archive, of its unstable, always changing mode of existence. This archive is »characterised« by both being an unchangeable kind of stock, and having an always changing, never self-identical identity, which is always dependent on the future. The double movement of forgetting and inerasable inscription, which make possible the renewal of the senses and the arrival of the new, is a determining feature of human consciousness and perception; Freud illustrated this in 1923 with the recently invented technical medium of the wonderbook.35 This double movement is also a determining feature of A la recherche finished in 1922, when the wonderbook had not yet been available as an instrument that is able to stage the paradox functioning of consciousness and memory. It is important, however, that there is not only an analogy between the archive of memory and the archive of the novel, but also an important difference, since the exterior archive can always be retrospectively searched. In order to understand this difference, one has to investigate the relationship between the technique of archiving and organic human memory. The past cannot be present in its totality neither in memory nor in the archive; presence (which is not so much presence but rather the constant passing of the event of arrival) can only be partial. Nothing can be forgotten, that is, every experience gets inscribed in the archive of memory, which is radically different from 34 | Cf: Stierle: Land und Meer, p. 25-45. 35 | »Wir bleiben auf psychologischen Boden und gedenken nur der Aufforderung zu folgen, daß wir uns das Instrument, welches den Seelenlistungen dient vorstellen wie etwa ein zusammengesetztes Mikroskop, einen photographischen Apparat u. dgl. Die psychische Lokalität entspricht dann einem Orte innerhalb eines Apparats, en demeine der Vorstufen des Bildes zusande kommt. Beim Mikroskop und Fernrohr sind dies bekanntlich zum Teil ideelle örtlichkeiten, Gegenden, in denen kein greifbarer Bestandteil des Apparats gegelen ist.« Freud: Traumdeutung, p. 512f.

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the unknown future. On the other hand, it is impossible to keep everything in mind; the attention span of consciousness or of the imagination is restricted and can only have regard for a few things at the same time. What has not been recorded in the immense archive of memory does not exist, and this non-existence is similar to the non-existence characterising everything that could not be recorded by the technical archive. In this respect, there is an important difference between exterior and interior archive, namely, that the interior archive, being unconscious, cannot be retrospectively searched, and the secret archive of memory, which can only be read, if at all, by its own »vehicle«, disappears for ever. On the other hand, the exterior archive can resist time, even though it can also be destroyed, and is, therefore, also prey to temporality. The book can always be opened and its pages turned, but the things that are not there in the book do not exist, even if (and this is an important precondition of literature and reading) the text seems to refer to a world outside itself. The question remains, however, how it would be possible to access this self-identity of the text, especially because a reading understood as testimony, producing a back and forth movement between trust and suspicion, does not leave the identity of the text intact.

R eferences Aristotle: Rhetorics, http://rhetoric.eserver.org/aristotle/index.html. Barthes, Roland: »Les vies parallèles«, in: Oeuvres Complètes, II, Seuil, Paris, 2002, pp. 811-813. — »Une idée de recherche«, in: Oeuvres Complètes, III, Seuil, Paris, 2002, pp. 917-921. Bowie, Malcolm: Proust Among the Stars, London 1998. de Man, Paul: »Autobiography as De-Facement«, in: id., The Rhetoric of Romanticism, New York 1984, pp. 67-81. Deleuze, Gilles: Proust et les signes, Paris 1971. Derrida, Jacques, »The Purveyor of Truth«, in: id., The Post-Card, from Socrates to Freud and beyond, translated by Alan Bass. Chicago/London 1987, pp. 411-496. Freud, Sigmund: Die Traumdeutung, Frankfurt a.M. 1982. Genette, Gérard: »Proust palimpseste«, in: id., Figures I, Paris 1966, pp. 39-67. — »Proust et le langage indirect«, in: Figures II, Paris, 1969, pp. 223-294. Hillis Miller, John: »Fractal Proust«, in: M. Asensi/J. Hillis Miller: Black Holes/J. Hillis Miller or Boustrophedonic Reading, Stanford 1999, pp. 313-483. Poulet, Georges: L’espace proustien, Paris 1982. Proust, Marcel: À la recherche du temps perdu I-IV, Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade), Paris, 1987-1989. — Remembrance of Things Past http://ebooks.adelaide.edu.au/p/proust/marcel/ p96t/chapter2.html#chapter2 Spitzer, Leo: »Le style de Marcel Proust«, in: id., Études de style, Paris 1970.

The Testimony of Reading – Optics and Rhetoric

Stierle, Karlheinz: »Land und Meer in Prousts À la recherche du temps perdu«, in: P. Oster/K. Stierle (eds): Marcel Proust: Die Legende der Zeiten im Kunstwerk der Erinnerung, Frankfurt a.M. 2007, 25-45

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Archive, Medien und Ereignishaftigkeit

»Ruhmlose Archive«, »obskures Leben« und das »Theater des Alltäglichen« Zur Redaktion und Publikation latenter Fälle zwischen Diskursgeschichte und Literatur Nicolas Pethes

1. L atenz , Ö ffentlichkeit und das G ese t z der grossen Z ahl als G edächtnisökonomie moderner A rchivkulturen Einer der Orte, an denen sich das Verhältnis von Latenz und Öffentlichkeit in der Kultur der Moderne am deutlichsten zeigt, ist das Archiv. In seiner jüngsten digitalen und dezentralen Form ebensosehr wie in traditionellen Speicherräumen für Bücher, Dokumente und Akten ist der Anspruch, Zeugnisse der Vergangenheit zu ordnen, aufzubewahren und abruf bar zu halten, nicht nur abhängig von den jeweiligen medientechnologischen und bürokratischen Bedingungen einer Zeit, sondern auch von den Formen der Selektion, die aus potentiell unbegrenzten Beständen das aktuell Brauch- und Handhabbare herauszulösen – und also Potentialität und Aktualität zu unterscheiden – imstande sind.1 Daß dabei mit dem Kapazitätszuwachs von Speichermedien das Problem der Verwaltung immer größerer Datenbestände einhergeht, ist eine seit Platons Schriftkritik topische Klage. Ihr relevanter Kern besteht in der Einsicht, daß kulturelle Kommunikation zwar kontinuierliche Tradierung und Erinnerung voraussetzt, hinsichtlich ihrer Operationsfähigkeit aber auf Techniken des Vergessens angewiesen ist.2 Diese Notwendigkeit pragmatischer Selektion kann man »aktive Vergeßlichkeit« (Nietzsche) oder »strukturelle Amnesie« (Bartlett) nennen, als »ars oblivionalis« (Eco) verspotten oder als »Verhindern der Selbstblockierung des Systems durch

1 | Vgl. Wegmann: Bücherlabyrinthe; Vismann: Akten; Weitin/Wolf: Gewalt der Archive. 2 | Vgl. Weinrich: Lethe; Smith/Emrich: Arbeit am Vergessen; Butzer/Günter: Medien des Vergessens.

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ein Gerinnen der Resultate früherer Beobachtungen«3 konzeptualisieren und schließlich in die Unterscheidung von »Speichergedächtnis« und »Funktionsgedächtnis« fassen bzw. mit Wolfgang Ernst als ›Latenz‹ des Archivs diskutieren: »Aufschreibesysteme der Historie holen Daten aus dem Zustand der Latenz, aktivieren sie.«4 Ernsts Überlegungen sind Teil des Projekts einer ›Archivologie‹, wie es in Anschluß an Foucaults Methode einer ›Archäologie‹ der Wissens einerseits, Derridas Lesart des Freudschen ›Unbewußten‹ andererseits an der Wende zum 21. Jahrhundert entwickelt wurde: »Die Inflation der Archivthematik ging mit einer Ästhetik des Entbergens einher. […] Ob man in den Depots der Museen und Theater hinabstieg oder ob man die Geschichte der Institutionen sichtbar machte: Immer stieß man auf bislang unzugängliche Bereiche, die im Verborgenen ihre Domänen regulierten.«5 Im Unterschied zum metaphorischen Gebrauch des Archivbegriffs bei Foucault und Derrida will diese Archivologie konkrete Techniken, Räume und Institutionen der Wissensorganisation beleuchten – und also »Medienarchäologie« sein.6 Und diese Konkretion betrifft auch dasjenige, was aus der Potentialität oder Latenz eines bloßen Speichergedächtnisses aktualisiert, aktiviert oder funktionalisiert wird: Anstelle des schlichten Schemas von Speicher und Abruf geht die Archivologie von einer Konstruktion von Daten angesichts aktueller Bedürfnislagen aus: »Das Archiv repräsentiert keine Tatsachen, es produziert Ereignisse.« 7 In diesem Sinne argumentiert Knut Ebeling am Beispiel des Rechts, daß allgemeine Gesetze keine Referenz jenseits konkreter Präzedenzund Anwendungsfälle haben und sich daher stets »am Archiv bewahrheiten« – d.h. auf tatsächlich erfolgte Entscheidungen bezogen werden – müssen. Oder noch konkreter: »Plötzlich purzeln Fälle und Konflikte aus dem Archiv.« Die nachstehenden Überlegungen schließen an diese Beobachtung eines ›Heraus-Falls‹ an und verstehen ihn als Ereignis, an dem die Latenz des Archivs in das Öffentlichwerden einzelner seiner Daten umschlägt. Auch dieser Prozeß des Öffentlichwerdens ist dabei aber medientechnologisch konkret zu verstehen, und zwar in eben dem Sinne, in dem Derrida die Psychoanalyse nicht nur bezüglich ihrer Modellierung des Unbewußten als »Krypta« aus »Spuren« und »Akte(n)«, sondern zugleich auch hinsichtlich der »Archivierung ihrer institutionellen und klinischen Praxis, des juridisch-editorischen, akademischen und wissenschaftlichen Aspekts der uns bekannten ungeheuren Probleme der Veröffentlichung und 3 | Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 579. Vgl. Esposito: Soziales Vergessen, S. 27f. 4 | Assmann: Erinnerungsräume, S. 133-142; Ernst: Das Archiv, S. 195. 5 | Vgl. Ebeling/Günzel: Archivologie, S. 8f. 6 | Vgl. die Kritik an der »Universalmetapher« des Archivs bei Ernst: Das Rumoren, S. 7, S. 16f. 7 | Ebeling: Das Gesetz, S. 83; die folgenden Zitate ebd., S. 85. Vgl. dagegen Rathmann: Ereignis.

»Ruhmlose Archive«, »obskures Leben« und das »Theater des Alltäglichen«

Übersetzung«8 beleuchtet hat. Denn tatsächlich gilt für die Psychoanalyse wie für zahlreiche weitere humanwissenschaftliche Projekte vor ihr, daß das Korpus veröffentlichter Fallgeschichten das Archiv der Methodologie und Geschichte der Disziplin bildet. Das um so mehr, als der Begriff des ›Archivs‹, ebenso wie der sinnverwandte des ›Magazins‹, seit dem 18. Jahrhundert als Bezeichnung für den Publikationsort medizinischer und juristischer Fallberichte geläufig ist – etwa im Titel von Carl Philipp Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783-1793) oder Rudolf Virchows Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und klinische Medicin (ab 1847), aber auch weniger bekannter Periodika wie dem Juridischen Archiv (1801-1810) oder dem Magazin für philosophische, medicinische und gerichtliche Seelenkunde (1829-1834). Auch solche periodischen Publikationen bilden ein Mediendispositiv der Sammlung,9 das auf diese Weise aber vor allem zeigt, wie virulent das Problem der Latenz auf Seiten der Öffentlichkeit weiter ist: Die Menge der publizierten Fälle ist im Rückblick ebenso so unüberschaubar wie diejenige, die in den konkreten Archiven der Gerichte oder Kliniken auf bewahrt wird, so daß die Fälle zwar aus einem Archiv heraus-, zugleich aber wieder in ein anderes hineinpurzeln, in dem sich die Frage nach Selektion, Aktivierung und Konstruktion der archivierten Ereignisse aufs neue stellt. Einfacher gesagt: Die Unterscheidung zwischen Potentialität und Aktualität tritt auf Seiten der Aktualität wieder ein. Oder noch anders: Veröffentlichung schützt nicht vor einer Latenz zweiter Ordnung. In Frage steht damit eine zweifache Relation: Zum einen finden historischempirische Ereignisse nur in einer medien- und verwaltungstechnisch konkreten Form Eingang ins Archiv bzw. wieder aus diesem heraus in die Öffentlichkeit, und diese konkrete Form ist die Dokumentation bzw. Publikation eines solchen Ereignisses als ›Fall‹ bzw. ›Fallgeschichte‹. Zum anderen aber ist ein solcher Fall niemals Einzelfall, sondern sowohl als Akte im Archiv als auch als publizierter Bericht Teil einer Serie und d.h. einer großen Menge an Daten, innerhalb derer das Einzelereignis immer nur noch Element einer »statistische[n] Struktur« sein kann.10 Michel Foucault hat in seinen Arbeiten auf diese Nähe zwischen der Sammlung von Fällen in Kliniken, Gefängnissen oder Bildungseinrichtungen und dem normalistischen Modell der Gesellschaft im 19. Jahrhundert hingewiesen: Schon in Die Geburt der Klinik bezeichnet Foucault es als deren Aufgabe, »nicht mehr […] das wesenhafte Wahre unter der sinnlich wahrnehmbaren Individualität zu erblicken, sondern die Ereignisse eines offenen Bereichs endlos zu verfolgen«,11 und in Überwachen und Strafen verweist er auf all die »kleinen Notierungs-, Re8 | Derrida: Dem Archiv, S. 38. 9 | Vgl. Pomata: Sharing Cases; Hess/Mendelsohn: Case and Series; Düwell/Pethes: Noch nicht Wissen. 10 | Foucault: Geburt, S. 117. Vgl. Anderson: The Case sowie Hacking: Biopower. 11 | Foucault: Geburt, S. 112.

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gistrierungs-, Auflistungs- und Tabellierungstechniken«, durch die Psychiatrie, Strafvollzug und Erziehungsinstitutionen Individuen als Fälle konstituieren.12 Daraus ergibt sich eine unüberschaubare Menge von Dokumenten, die seit dem späten 18. Jahrhundert krankhafte Zustände und abweichendes Verhalten dokumentieren und das Wissen vom Menschen in Bezug zu Technologien für ihre Archivierung, Verwaltung und statistische Auswertung setzt.13 Latent sind die einzelnen Fälle damit nicht nur, weil die Archive so viele Daten enthalten, sondern auch, weil das Archiv sie als ›Normalfälle‹ registriert. Foucault spricht daher von den »ruhmlosen Archiven«, in denen sich die »Geburt der Wissenschaften vom Menschen« zugetragen haben.14 An diese Formulierung schließt die entscheidende Frage zum Verhältnis von Latenz und Öffentlichkeit im Archiv der modernen Humanwissenschaften an: Nicht ob und wie Einzelfälle aus der Latenz dieses Archivs selegiert und publiziert werden ist von Interesse, sondern warum überhaupt das alltägliche, durchschnittliche und unauffällige Material der »ruhmlosen Archive« das Licht der Öffentlichkeit erblicken soll. Die erwähnte Praxis der als Kompendien oder Periodika publizierten Fallsammlungen hat Foucault dabei nicht im Blick, und wie gesehen verschieben sie das strukturelle Problem auch lediglich auf die nächsthöhere Ebene. In Frage steht statt dessen, mit welchem Ziel latente Fälle eines Archivs veröffentlicht werden, wenn es dabei nicht um die schiere Reduplikation dieser Latenz im Modus einer seriellen Publikation geht, sondern um ein genuines Interesses am Strukturelement der Latenz selbst. Dieser Frage sollen im folgenden in einem ersten Schritt anhand von Foucaults eigenem publizistischem Umgang mit Archivbeständen nachgegangen werden. In Foucaults großen Monographien, die die archäologische Methode und das Konzept des Archivs als Menge aller möglichen Aussagen innerhalb einer Wissensordnung entwickeln, sind die konkreten Archive, in denen er gearbeitet hat, kaum greif bar. Das Editionsprojekt zum Leben der infamen Menschen von 1977, das an die Veröffentlichung des Dossiers zum Fall Rivière 1973 anschließt und 1982 in modifizierter Form zusammen mit Arlette Farge als Auswahledition sogenannter lettres de cachet – also königlicher Internierungsanordnungen aus dem 17. und 18. Jahrhundert – realisiert wurde, erlaubt es aber nachzuvollziehen, wie vergessene Ereignisse aus dem Archiv heraus konstruiert und publiziert werden können, ohne daß sie dadurch der ihnen eigenen Latenz, die ihre besondere historische wie sprachliche Qualität ausmacht, verlustig gingen. Für Foucault macht dieses Paradox einer sichtbarwerdenden Latenz die besondere »Intensität« bzw. »Schönheit« der Dokumente aus.15 Immer wieder betont er dabei die eigenständige literarische Qualität seines Archivmaterials, die als solche 12 | Foucault: Überwachen, S. 245f. 13 | Vgl. Link: Versuch; Gould: Der falsch vermessene; Rieger: Die Individualität. 14 | Foucault: Überwachen, S. 246. 15 | Foucault: Das Leben, S. 7; ders.: Der Fall Rivière, S. 9.

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auch im Zusammenhang mit der Neuorientierung der modernen Erzählliteratur an alltäglichen Stoffen und mittleren Helden zu sehen sei. Diese weitreichende These wird in einem zweiten Schritt zu verfolgen sein, da sie es erlaubt, den Problemkomplex des Ereignisses zwischen Latenz und Öffentlichkeit nicht nur hinsichtlich der Geschichte der Humanwissenschaften zu diskutieren, sondern auch mit Blick auf die fiktionale Literatur, die der bisherigen Forschung vor allem deswegen an Fallgeschichten orientiert schienen, weil Kriminal- und Krankengeschichten die Lektüreerwartung am Interessanten und Unterhaltenden bedienten.16 Was aber, wenn es auch eine literarische Ästhetik der Latenz gäbe? Wenn sich zeigen ließe, daß die Literatur des 19. Jahrhunderts sich nicht nur spektakulärer Ereignisse bediente, sondern auch des statistischen Normalfalls bzw. der Archivstruktur ›ruhmloser‹ Fallserien? Wenn an die Stelle tragischer Konflikte oder komischer Lösungen dasjenige »Theater des Alltäglichen«17 träte, das Foucault in seinem Quellenmaterial vorzufinden angibt? Latenz und Öffentlichkeit wären dann nicht länger ein Gegensatzpaar, sondern gerade das Öffentlichwerden des Latenten das eigentlich literarische Ereignis der modernen Literatur. Anhand ausgewählter Archivfiktionen in deutschsprachigen Romanen des 19. Jahrhunderts soll auf diese Weise angedeutet werden, daß das Projekt einer Archivologie nicht nur diskurs- oder wissenschaftsgeschichtliche, sondern auch literaturhistorische Implikationen hat und der Geschichte der Latenz auf beiden Feldern, Wissen und Literatur, eine entscheidende Rolle für unseren Umgang mit bekannten und veröffentlichten Texten zukommt.

2. K önigliche V erordnungen , infame M enschen und die A nonymität des A utors 1982 veröffentlicht Michel Foucault gemeinsam mit seiner Kollegin Arlette Farge Le désordre des familles. Lettres de cachet des Archives de la Bastille au XVIIIe siècle als Teil der von Pierre Nora und Jacques Revel herausgegebenen Reihe Collection Archives, in der Foucault sieben Jahre zuvor auch sein Dossier zum Fall Rivière publiziert hatte. Es handelt sich um eine Edition von Bittschriften an die Pariser Polizei, mitunter auch den König selbst, aus den Jahren 1728 bis 1758, die als Anträge zur Internierung unmittelbarer Familienangehörigen, die gewalttätiges, unmoralisches oder pathologisches Verhalten an den Tag gelegt hatten, im Archiv der Bastille auf bewahrt wurden. Farge/Foucault betonen dabei von Beginn an die Lückenhaftigkeit und Geringfügigkeit der Dokumente: »Die Durchsicht der Dossiers hat uns nun aber weniger auf die Fährte des königlichen Grolls als auf die der Leidenschaften des einfachen Volks gebracht, in deren Mittelpunkt

16 | Vgl. Schönert: Erzählte Kriminalität; Košenina: Fallgeschichten. 17 | Foucault: Das Leben, S. 27.

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familiäre Beziehungen stehen – Männer und Frauen, Eltern und Kinder.«18 Interessant seien die Briefe demnach nicht nur wegen ihres inquisitorischen Eifers, sondern weil in ihnen anonyme Privatheit selbst öffentlich werde: Einerseits, weil die Verfasser sich als Privatleute selbst an der Regelung der öffentlichen Ordnung beteiligen,19 andererseits, weil sie ihre zum Teil intimen familiären Konflikte der Polizei und dem König kundtun.20 Entsprechend gehe es bei ihrer Lektüre auch weniger darum, die juristische Dimension der Strafforderungen als die Spannung nachzuvollziehen, die sich aus dem spezifischen Aufeinandertreffen von Verborgenheit und Öffentlichkeit ergibt, das die lettres weniger dokumentieren als generieren: »Vor unseren Augen läuft das Äußere dieser Lebensgeschichten ab, ohne jemals völlig das Geheimnis preiszugeben, das sie erst in Gang gebracht und dann beschwerlich gemacht hat. Uns bleibt das Sichtbare, das geschriebene Wort, die angestellten Untersuchungen, die Eingaben. Sie erhellen nicht alles, aber sie lassen die Einmaligkeit des Ereignisses erahnen.«21 An die Stelle einer offiziellen Rekonstruktion der Geschichte der Internierungen im absolutistischen Frankreich setzen Farge und Foucault also die Suche nach einzelnen Ereignissen, die für sich genommen unbedeutend und daher im Archiv der Bastille zwar auf bewahrt wurden, aber verborgen geblieben sind. Der Anspruch der Auswahlpublikation, die Farge/Foucault vorlegen, besteht darin, noch in Gestalt der Publikation dieses Archivmaterials die ihm eigene Alltäglichkeit und Verborgenheit weiter kenntlich zu halten. Die Rhetorik der zitierten Passage spielt offensiv mit diesem Widerspruch aus Preisgabe, Sichtbarkeit und Erhellung auf der einen Seite, dem anhaltenden »Geheimnis«, das hinter jedem Einzelfall bestehenbleibt, auf der anderen. Gerade aus dieser Paradoxie aber, so wird man die Programmatik der Edition lesen, gewinnen die Dokumente ihre historische Qualität. Diese Qualität ist darin zu sehen, daß sie die Ereignishaftigkeit der Geschichte wiederherstellt, eine Ereignishaftigkeit, die wesentlich mit dem Element der anhaltenden Latenz der konkreten Geschehnisse verbunden bleibt. Auch in seiner Einleitung zu dem nicht realisierten Vorläuferprojekt La vie des hommes infâmes, das Dokumente aus den Polizeiarchiven zwischen 1670 und 1770 versammeln sollte, bezieht Foucault die Qualität seines Archivmaterials aus eben dieser Dopplung bzw. Paradoxie: Geplant war auch hier eine Edition ›infamer‹ Dokumente im zweifachen Sinne von ›niedrig‹ (infimus) und ohne ›Ruhm‹ ( fama). Infam ist demnach, wessen Leben keinen Anlaß zu Erinnerung zu geben scheint, aber dennoch Eingang ins Archiv gefunden hat. »Es sind Leben von wenigen Zeilen oder etlichen Seiten; es sind Unglücke oder Abenteuer ohne Zahl,

18 | Farge/Foucault: Familiäre Konflikte, S. 10. Vgl. Ernst: Das Rumoren, S. 22ff. 19 | Farge/Foucault: Familiäre Konflikte, S. 274. 20 | Ebd., S. 280, v.a. auch S. 281f. 21 | Ebd., S. 46.

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zusammengerafft in eine Handvoll Wörter. Kurze Leben, angetroffen im Zufall der Bücher und der Dokumente.«22 Diesen Eindruck bestätigen die beiden Beispielzitate für Diffamierungen eines Einzelgängers sowie eines angeblich atheistischen und sodomitischen Franziskanermönchs, die Foucault zu Beginn seiner Einleitung präsentiert. Anstelle die Lückenhaftigkeit dieser Zeugnisse zu beklagen, betont Foucault die »Intensität«, die von ihnen ausgehe und zu Lektüreerlebnissen führe, »von denen man sagt, daß sie ›physisch‹ sind« (9). Diese Formulierung, die Foucault durch Verweise auf »Rührung« und »Lachen« (7) weiter differenziert, steht für einen Gegenentwurf zu rational-kontinuierlichen Projekten der Geschichtsschreibung – so, wie Foucault in seinem Nietzsche-Aufsatz ebenfalls anstelle eines homogenen Ursprungsnarrativs die Aufmerksamkeit für den Ort, »wo sich Leib und Geschichte verschränken«, fordert.23 Entsprechend bieten auch die Briefe statt Kontinuitätsentwürfen »kurze Effekte, deren Kraft alsbald fast erlöscht«, gerade in diesem Umschlag von Erscheinen und Verschwinden aber die besondere »Schönheit« der Sätze ausmache (8). Und auch hier wird diese Schönheit darauf zurückgeführt, daß die Fragmentarizität, Agrammatikalität und Marginalität der Briefe bzw. der angedeuteten Fälle den Status des Archivmaterials jenseits der offiziellen Historiographie aufrechterhält. Dieses neuerliche paradoxe Sichtbarmachen einer strukturellen Latenz bezieht sich aber nicht nur auf die Überlieferungsgeschichte der Dokumente, sondern auch und vor allem darauf, »daß diese Personen selber obskur seien; daß nichts sie für irgendein Aufsehen prädestiniert habe; daß sie mit keiner der etablierten und anerkannten Größen begabt gewesen seien – Größen der Geburt, des Vermögens, der Heiligkeit, des Heldentums oder des Genies; daß sie zu jenen Milliarden von Existenzen gehören, die dazu bestimmt sind, ohne Spur vorüberzugehen; daß es in ihren Unglücken, in ihren Leidenschaften, in diesen Lieben und in diesen ›Hässen‹ etwas Graues und Gewöhnliches gebe im Vergleich zu dem, was man sonst für würdig hält, erzählt zu werden«. (15) Die Edition der Briefe erfolgt also gerade nicht aufgrund ihrer ›Relevanz‹ oder der – und sei es nur exemplarischen – Bedeutung der Personen, die sie anklagen. Insofern man nichts weiter von ihnen weiß, als die wenigen »kurzen und gellenden Worte, die zwischen der Macht und den unwesentlichen Existenzen hin und her fahren« (18), handelt es sich um »quasi fiktive Wesen«, die »von Natur aus ohne Tradition« (20) und deren Eingang in das Archiv bloßer Zufall ist: »Und dann war es nötig, daß unter so vielen verlorenen und verstreuten Dokumenten eben dieses da und nicht irgendein anderes bis zu uns gelangt ist und wiedergefunden und gelesen worden ist.« Diese Geringfügigkeit der Dokumente wie der Existenzen, die sie bezeugen, spiegelt sich nun aber vor allem auch in Foucaults Editionsprojekt: Foucault kün22 | Foucault: Das Leben, S. 7. Zitate aus diesem Text werden im Folgenden direkt unter Angabe der Seitenzahl in Klammern nachgewiesen. 23 | Foucault: Nietzsche, S. 75.

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digt »eine schmale, ein wenig monotone Sammlung« (23) an und fragt mit Blick auf die Privatkonflikte und kleinen Intrigen, die sie enthalten wird: »Warum dieses emphatische Theater des Alltäglichen?« (27) Die Antwort ist: Weil eine solche Registrierung des Unbedeutenden das eigentliche Charakteristikum moderner Archive ist und auf diese Weise sowohl die unüberschaubare Menge der Daten als auch das doppelte Problem der Latenz – der Dokumente wie der Dokumentierten – erzeugt: »die Denunzierung, die Klage, die Untersuchung, das Gutachten, die Bespitzelung, das Verhör. Und alles, was derart gesagt wird, wird schriftlich registriert, akkumuliert sich, konstituiert Dossiers und Archive. Die einzige, augenblickliche, spurlose Stimme des Beichtgeständnisses, die das Übel auswischte, indem sie sich selber wegwischte, wird nun von vielerlei Stimmen abgelöst, die sich in einer enormen Dokumentenmasse niederschlagen und so durch die Zeit hindurch so etwas wie das ohne Unterlaß wachsende Gedächtnis aller Übel der Welt konstituieren.« (29) An die Stelle der Ökonomie von Schuld und Sühne tritt also die schiere Akkumulation von Daten, die im Sinne von Wolfgang Ernsts archivtheoretischer Gegenüberstellung nur noch zu ›zählen‹ sind, aber nichts mehr ›erzählen‹.24 Das Archivmaterial präsentiert eine nicht-narrative »Diskursivierung des Alltäglichen«, die mit der Umwertung von Latenz und Öffentlichkeit einhergeht: »Das Beiläufige hört auf, dem Schweigen zu gehören« (35). Keineswegs ist diese Argumentation dabei auf große Fallzahlen, wie die lettres de cachets sie dokumentieren, angewiesen. Schon die Einzelfalldokumentation über Pierre Rivière, der 1835 Mutter, Schwester und Bruder ermordet und in der Haft ein eigenhändiges Memoire verfaßt hat, gehorcht demselben Prinzip: Foucault gibt das Memoire zusammen mit psychiatrischen Gutachten und Zeitungsmeldungen als »Dossier« heraus, d.h. als aus dem Archiv gezogene Dokumentensammlung. Und so spektakulär dieser singuläre Mordfall im Vergleich mit den Briefsammlungen auch scheinen mag, steht auch hier die Latenz des Falls im Archiv im Mittelpunkt: »Alles in allem aber fügte er sich ohne allzu großes Aufsehen in die übrigen Teile der Prozeßakten ein.«25 Wie Foucault zeigt, liegt das daran, daß der Fall Rivière zeitgenössisch weniger als monströse Tat denn hinsichtlich der Frage nach einer möglichen »Monomanie« des Täters im Sinne Esquirols interessierte und damit zu einem Fall unter vielen wurde.26 Zugleich impliziert die damit zusammenhängende Frage nach Rivières Zurechnungsfähigkeit aber auch eine Infragestellung der Zurechenbarkeit seines Texts und also seiner Autorschaft.27 Eben diese Parallelisierung von Text 24 | Ernst: Das Archiv, S. 185. Vgl. Ernst: Das Rumoren, S. 46. 25 | Foucault: Der Mord, S. 231. 26 | Vgl. die gerichtsmedizinischen Gutachten in Foucault: Der Fall Rivière, S. 127-139. 27 | Vgl. zum Wechselverhältnis von Text und Tat Foucault: Der Mord sowie zum entsprechenden »text-event« Pignatelli: Critical Ethnography, S. 414. Dieses Wechselverhältnis betrifft auch die erwähnte Konstitution eines Ereignisses als Fall durch seine diskursive

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und Tat bzw. Autor und Täter ist dann aber verantwortlich für das Verschwinden des Falls im Archiv: Als monomaner ist Rivière zugleich auch ein ›infamer‹ Autor, ein Verfasser ohne Namen, Ruf und institutionellem Ort für sein Schreiben, und seine im Rückblick spektakuläre Tat aus diesem Grund auch abgeschnitten von den offiziellen Überlieferungswegen. Es geht Foucault mit anderen Worten weniger um eine Klärung der Fragen nach der juristischen Beurteilung und medizinischer Diagnose des Falls selbst, sondern um die Bedeutung derartiger Singularitäten, die den herkömmlichen Kausal- und Kontinuitätsentwürfen historischer Narrative entgegenstehen.28 Diese Kontextualisierung ist durch das Archivmaterial insofern gedeckt, als zeitgenössische Kommentare Rivières Mordtaten mit denjenigen Napoleons kontrastieren – ein Kontrast, der eine ähnliche »Symmetrie« offenlegt wie diejenige, die Giorgio Agamben in der politischen Theorie der Moderne zwischen Souverän und nacktem Leben festgestellt hat.29 Und nur aufgrund der wechselseitigen Verwiesenheit von Weltenherrscher und anonymen Verbrecher kann das Dossier Rivière in seiner vereinzelten und fragmentarischen Form beanspruchen, einen Gegenentwurf zu den offiziellen und abgerundeten Versionen der Geschichte des 19. Jahrhunderts zu bieten. Es ist also auch hier wieder die Latenz des Falls, die seine Bedeutung ausmacht, und so, wie Foucault im Falle der lettres de cachet die »Intensität« hervorhebt, die mit dieser Latenz einhergeht, verweist er angesichts des jenseits aller gängigen narrativen Konventionen entworfenen Memoire von Pierre Rivière auf die »Schönheit« des Falls.30 Konstruktion. Vgl. ebd., S. 415: »Deed haunts text; text haunts deed. Does the narrative precede or follow the deed?« 28 | Vgl. Chrostowska: A Case, S. 345. Vgl. Riot: Das Doppelleben, S. 279: »Aber dafür, daß es so lange abseits gehalten wurde, hat dieses Memoir, das wir heute lesen, nichts von seiner seltsamen Fähigkeit eingebüßt, jede totalisierende Interpretation in die Falle gehen zu lassen.« 29 | Agamben: Homo sacer, S. 112. 30 | Foucault: Der Fall Rivière, S. 9. Der Fall Herculine Barbin, den Foucault drei Jahre nach dem Dossier zu Pierre Rivière veröffentlicht, unterscheidet sich in dieser Hinsicht erheblich von seinem Vorgängerprojekt: Zwar werden auch in diesem Fall eines Hermaphroditen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts Subjektposition und also Autorschaft aufgrund der unbestimmten sexuellen Identität zeitgenössisch infragegestellt, so daß Oskar Panizza in seiner Erzählung, die Foucault gemeinsam mit dem autobiographischen Bericht Barbins veröffentlicht, auf »ein bloßes Schattenwesen ohne Identität und ohne Namen […], das sich am Ende der Erzählung auflöst, ohne eine Spur zu hinterlassen«, verweisen kann. Panizza selbst allerdings konstruiert den Text als »Skandal-Affaire«, und auch in Foucaults Dossier finden sich medizinische Gutachten sowie Pressemeldungen und Briefe, die zeigen, daß der Fall Barbin im Unterschied zu demjenigen Rivière durchaus Aufsehen erregte und wiederholt für sexualpathologischen Befunde rezipiert wurde. Vgl. Foucault: Über Hermaphrodismus, zitiert von den Seiten 18 und 142.

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3. Ä sthe tik und P oe tik der L atenz : A rchivfik tionen in der L iter atur des 19. J ahrhunderts Foucaults Bezeichnung des Archivmaterials als ›schön‹ spielt durchaus gezielt auf ästhetische Effekte an. So, wie es ihm mit dem Hinweis auf die physische »Intensität« seines Archivmaterials darum geht, eine Alternative zur offiziellen Geschichtsschreibung zu entwerfen, kann die Zuschreibung der »Schönheit« im Fall des Dossiers zu Pierre Rivière als Einspruch gegen einen Literaturbegriff gelesen werden, der ästhetische Qualität nur dem autorisierten, kanonisierten und abgeschlossenen Werk zuspricht. Diesen Einspruch kann man im Kontext der zeitgleichen Dekonstruktion des Werkbegriffs im Lichte von Entgrenzungsprogrammen in der französischen Avantgarde bei Derrida oder Blanchot lesen, auf die Kritik an einer kontinuierlichen Höhenkammgeschichte bei Walter Benjamin bzw. in der Annales-Schule und der postkolonialen Ethnographie beziehen oder im Zusammenhang mit gegenwärtigen Revisionen von Kanonisierungsprozessen diskutieren, die ebenfalls auf die ›Latenz‹ vergessener Autorinnen und Autoren im kulturellen Gedächtnis hinweisen.31 Und wirklich geht es auch bei Foucault zunächst um die schiere Alterität des Archivmaterials im Vergleich mit dem offiziellen und wohlgeformten Diskurs der Zeit, die seine ästhetische Qualität ausmacht. Ähnlich, wie Benjamin darauf insistiert, daß die Abkehr von der Kontinuität als Geschichtsmodell es auch auf der Darstellungsebene erforderlich mache, keine dauerhaften Zusammenhänge, sondern augenblickhafte Konstellationen zu beschreiben,32 heißt es bei Foucault: »Da wir aus der Ferne jenes erste Einfließen des Alltäglichen in den Code des Politischen betrachten, sehen wir darin befremdende Blitzschläge, etwas Schreiendes und Intensives – das sich in der Folge verlieren wird, wenn man aus diesen Dingen und aus diesen Menschen ›Affairen‹ und ›Fälle‹ machen wird.« (42) Es gibt mit anderen Worten etwas Vor-Institutionelles und Vor-Publizistisches, das aus den Dokumenten nur so lange spricht, wie man sie nicht in den Rahmen eines übergeordneten Narrativs, Kontexts oder Erklärungsmusters einspeist. In dieser Hinsicht könnte man durchaus auch von der Ereignishaftigkeit sprechen, die die Rezeption des Archivmaterials, vielleicht aber auch seine Veröffentlichung durch Foucault, im Sinne eines Benjaminschen »Augenblicks der Erkennbarkeit« bzw. »Tigersprungs ins Vergangene« prägt.33 Ästhetisch relevant wird diese Er31 | Vgl. Winko: Negativkanonisierung; Günter: Geschichtsklitterung. 32 | Vgl. Benjamin: Über den Begriff, S. 695 (»sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt«) und S. 701 (»Bewußtsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen«). 33 | Ebd., S. 695 bzw. S. 701. In diesem Sinne wäre für einen historiographischen Begriff des Ereignisses nicht nur die Opposition von Faktizität und Konstruktion zu diskutieren, wie Rathmann: Ereignis das vorschlägt, sondern auch diejenige zwischen Kontinuität und Diskontinuität und das heißt: die Möglichkeit, isolierte Ereignisse zu denken.

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eignishaftigkeit aber vor allem insofern, als das »Alltägliche« der Vor-Fälle, das den offiziell diskutierten ›Affairen‹ und ›Fällen‹ gegenübersteht bzw. vorausgeht, unmittelbar auf die Literaturgeschichte bezogen wird. Denn es geht Foucault bei der Rede von der »Intensität« und »Schönheit« des latenten Archivmaterials nicht nur um die ästhetische Erfahrung des Materials selbst, sondern um die Behauptung, seine Fragmentarizität, Latenz und Alltäglichkeit habe ein neues »Regime der Literatur« (43) beeinflußt, das nicht länger auf das Abenteuerliche, Spektakuläre und Einzigartige als Erzählanlaß angewiesen ist, sondern auf das »Sagen des Niedrigsten, des Unsäglichen, des gänzlich Unrühmlichen« zielt (45): »Seit dem 17. Jahrhundert hat das Abendland eine ganze ›Fabel‹ des obskuren Lebens entstehen sehen, aus der das Fabelhafte verbannt war. Das Unmögliche oder das Lächerliche haben aufgehört, die Bedingung zu sein, unter der man das Gewöhnliche erzählen konnte. Es entsteht eine Kunst des Sprechens, deren Aufgabe nicht mehr ist, vom Unwahrscheinlichen zu singen, sondern das erscheinen zu lassen, was nicht erscheint – nicht erscheinen kann oder darf: die letzten und unscheinbarsten Stufen des Wirklichen zu sagen.« (45) Das sei der »neue[] Imperativ, der die immanente Ethik des literarischen Diskurses des Abendlands bilden sollte: seine zeremoniellen Funktionen sollten sich allmählich verwischen; er sollte nicht mehr die Aufgabe haben, den überhellen Glanz der Gestalt, der Gnade, des Heldentums, der Mächtigkeit sinnlich zu manifestieren; sondern hinzugehen und zu suchen, was am schwierigsten wahrzunehmen ist, was am tiefsten verborgen ist, was am unbequemsten zu sagen und zu zeigen ist, schließlich was am meisten untersagt und anstößig ist.« Mit den letzten Hinweisen verortet Foucault sein Projekt zu den infamen Menschen im Zusammenhang seiner Untersuchungen zum Geständnissystem der modernen Sexualität, das er hier allgemeiner als »Zwangssystem, durch welches das Abendland den Alltag verpflichtet hat, in Diskurs zu gehen« und auf diese Weise »das Unsagbarste zu sagen« (47) beschreibt. Und man wird in der Tat unschwer sagen können, daß die Literatur seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ganz auf dem Diskurs des Bekenntnisses intimer Geheimnisse beruht, so daß die Sexualität tatsächlich als Wahrheit auch literarischer Individualitätsentwürfe gelesen werden muß.34 Die zitierte Passage, in der Foucault die Latenz seines Archivmaterials mit der literarischen Ästhetik der Moderne in Verbindung setzt, scheint mir aber darüberhinaus eine Reihe weiterer Bezügen zu eröffnen, die unabhängig vom Unbequemen, Untersagten, Anstößigen und schließlich Unsagbaren der Sexualität eine grundlegende Tendenz der Romanliteratur seit der Aufklärung zu beschreiben erlaubt: Der Gegensatz zum großen Helden und seinen sensationellen Abenteuern ist ja zunächst einmal das Unscheinbare und Verborgene, auf das Foucault verweist und das sich unschwer in die Terminologie des im Archiv der 34 | Vgl. zu den Triaden »Liebe, Leben, Literatur« bzw. »Mann-Text-Frau« Koschorke: Körperströme, S. 162-167.

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kulturellen Überlieferung latent Gebliebenen übertragen läßt. Und entsprechend ist auch der »Alltag«, den die Aufzeichnungssysteme der modernen Kontrollgesellschaft gezwungen haben, »in Diskurs zu gehen«, zunächst einmal schlicht das: Alltag, und muß als solcher nicht notwendig intime Details betreffen, sondern kann sich auch ganz allgemein auf das Unspektakuläre und Redundante des Lebens jenseits aller erzählenswerter Ereignisse beziehen. Man mag bei der Frage nach einer solchen literarischen Ästhetik des Alltäglichen an Adalbert Stifters »sanftes Gesetz« denken, das an die Stelle erhabener Erzählanlässe die Gleich- und Regelmäßigkeiten natürlicher Abläufe setzt, oder an die Reduktion von Heldenfiguren auf mittlere Charaktere, die dann überdies, seit E.A. Poe und anderen, zunehmend zu Personen »of the crowd« der modernen Gesellschaft werden. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang der Vorschlag von Rüdiger Campe, das Konzept des ›Ereignisses‹ im Roman des französischen Realismus im Kontext statistischer Zufallserhebungen, normalistischer Gesellschaftstheorien sowie Quételets Modell des homme moyen zu verorten.35 Daneben läßt sich aber auch für die deutschsprachige Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts ein Komplex identifizieren, in dem diese literarische »Diskursivierung des Alltäglichen« in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Schnittstelle von Latenz und Öffentlichkeit in Archiven steht – und das weniger in Gestalt motivischer Referenzen, als hinsichtlich der strukturellen Anlage der Texte, die sich in Gestalt einer Redaktorfiktion selbst als Exzerpte latenten Archivmaterials präsentieren. Das bekannteste Beispiel für diese Erzählanlage ist Johann Wolfgang Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre von 1829. Im Unterschied zur Herausgeberfiktion im Werther bzw. dem auktorialen Erzähler der Lehrjahre ist der Leser hier mit einem Redaktor konfrontiert, der den Romantext aus verschiedenen Archivbeständen kompiliert: Dasjenige, was am Ende des Romans als Aphorismensammlung »Aus Makariens Archiv« präsentiert wird, lernt Wilhelm zu Beginn durch deren Gehilfin Angela als verborgene Sammlung von »Papiere[n]« kennen: »Auf seine Frage, inwiefern dieses Archiv als Geheimnis bewahrt werde, eröffnete sie: daß allerdings nur die nächste Umgebung davon Kenntnis habe, doch wolle sie es wohl verantworten und ihm, da er Lust bezeige, sogleich einige Hefte vorlegen.«36 Die Überführung des Archivmaterials aus der Latenz in eine wenngleich begrenzte Öffentlichkeit erfolgt hier also durch eine ausdrücklich so genannte Botin, deren Funktion darin besteht, Geheimes zu ›eröffnen‹. Mit Blick auf die Gesamtanlage des Romans kommt dem Erzähler dieselbe Botenfunktion zu, wenn er angibt, über vielfältige Aufzeichnungen aus Wilhelms Umfeld zu verfügen und das Erzählte als Auswahl, Anordnung und Raffung dieses dokumentarischen Materials inszeniert – so etwa am Romanende: »Hier aber wird die Pflicht des Mitteilens, Darstellens, Ausführens und Zusammenziehens immer schwieriger. […] Durch 35 | Campe: Ereignis. 36 | Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 124, das folgende Zitat ebd., S. 436.

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die eben angekommene Depesche wurden wir zwar von manchem unterrichtet, die Briefe jedoch und die vielfachen Beilagen enthielten verschiedene Dinge, gerade nicht von allgemeinem Interesse. Wir sind also gesonnen, dasjenige, was wir damals gewußt und erfahren, ferner auch das, was später zu unserer Kenntnis kam, zusammenzufassen und in diesem Sinne das übernommene ernste Geschäft eines treuen Referenten getrost abzuschließen.« Volker Neuhaus hat dieses Erzählverfahren in einer frühen Studie als »Archivfiktion« bezeichnet und argumentiert, daß Goethe auf diese Weise an die Stelle eines geschlossenen Romanganzen eine Ästhetik der Heterogenität und Unabgeschlossenheit treten lasse.37 Dazu gehören auch die vielen Briefe und Tagebucheinträge sowie novellistischen Binnenerzählungen, die tatsächlich als ›Dokumente‹ in den Text eingefügt bzw., wie im obigen Zitat, geradezu in Echtzeit dokumentiert werden. Zugleich legt die zitierte Passage aber nahe, daß alles aus dem Archiv Präsentierte und Erzählte stets mit erheblichen Lücken einhergeht – all demjenigen nämlich, was der Erzähler »nur skizzenhaft wiederliefern« wenn nicht gar »dem Leser noch nicht vertrauen« könne.38 Die Konstruktion der Wanderjahre beruht mithin auf einer ständigen Reflexion der Latenz des dem Erzählprozeß zugrundegelegten Archivbestands. Steht diese Latenz aber auch bei Goethe im Zusammenhang mit der Ruhmlosigkeit, Obskurität und Alltäglichkeit des Erzählten selbst? Keinesfalls im Sinne der von Foucault evozierten Emphase einer Gegengeschichte des Körpers. Durchaus allerdings ist die Wilhelm Meister-Figur geprägt von derjenigen Tendenz zur Durchschnittlichkeit, die Foucault dem mit seinem latenten Archivmaterial in Korrespondenz stehenden »Regime der Literatur« zuschreibt: An die Stelle seines Karrierewunschs als Schauspieler, öffentliche Person und umfassend gebildetes Individuum in den Lehrjahren tritt an deren Ende die Bescheidung ins Familienleben, in den Wanderjahren die spezialisierte Tätigkeit als Wundarzt, die eher einer alltäglichen Routine als besonderen Ereignissen verpflichtet ist. Diese Rücknahme der hochfliegenden Pläne des Protagonisten in die »Prosa der Wirklichkeit«, wie Hegel den prototypischen Handlungsverlauf der »bürgerlichen Epopöe« charakterisiert hat,39 speist sich bereits im ersten Teil von Goethes Romanprojekt aus der Logik der Archive: Wilhelms Initiation in die Turmgesellschaft im siebten und achten Buch der Lehrjahre vollzieht sich in einer säkularisierten Kapelle voller »Schränke«, in denen »viele Rollen aufgestellt« sind.40 Friedrich Kittler hat in seiner immer noch maßgeblichen Studie argumentiert, daß dieses »Schriftenarchiv«41 zugleich die Bedingung des Bildungsromans selbst sei, insofern es dieselben Lebensbeschreibungen dokumentiere, die die Lehrjahre zur 37 | Neuhaus: Die Archivfiktion. 38 | Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 37, S. 40. 39 | Hegel: Vorlesungen, S. 215, S. 395. 40 | Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 493f. 41 | Kittler: Über die Sozialisation, S. 107.

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literarischen Gattung erhöben. Hinzu kommt aber die ausdrücklich erwähnte Quantität und Anonymität dieser Schriftrollen: Der Turm archiviert neben Wilhelms auch all diejenigen Bildungsgeschichten, die im Roman nicht erzählt und mithin lediglich latenter Archivbestand bleiben: »Wilhelm ging hin und las die Aufschriften der Rollen. Er fand mit Verwunderung Lotharios Lehrjahre, Jarnos Lehrjahre und seine eigenen Lehrjahre daselbst aufgestellt, unter vielen andern, deren Namen ihm unbekannt waren.«42 Insbesondere dieser letzte Hinweis verbindet die Latenz des archivierten Materials mit einer spezifischen Anonymität, die wiederum mit der großen Zahl der Datenbestände in Zusammenhang steht. Von seinem Mentor Jarno erfährt Wilhelm: »Wir wollten mit eigenen Augen sehen und uns ein eigenes Archiv unserer Weltkenntnis bilden; daher entstanden die vielen Konfessionen, die wir teils selbst schrieben, teils wozu wir andere veranlaßten, und aus denen nachher die Lehrjahre zusammengesetzt wurden.« Der Turm ist also eine Institution, die zur Textproduktion über Menschen anhält und damit nicht nur die bürokratischen Grundlagen des modernen Literaturbetriebs reflektiert, sondern zugleich die Funktionslogik der Selektion, die das Verhältnis von Potentialität und Aktualität bei der Verwaltung von Archivmaterial reguliert: Die »vielen andern« Rollen im Archiv des Turms verweisen darauf, daß jede Entscheidung, eine bestimmte Geschichte zu erzählen, zugleich alle anderen Geschichten unerzählt läßt, die das Archiv der modernen Geständnisdispositive und Falldokumentationen potentiell bereithält. Die oftmals irritiert zur Kenntnis genommene ›Alltäglichkeit‹ und ›Normalität‹ der Wilhelm Meister-Figur – die Goethe bekanntlich als »Armer Hund« tituliert hat43 – kann mithin als Spiegel der Austauschbarkeit seiner Lehrjahre gegenüber all den anderen in der Schriftensammlung der Turmgesellschaft aufbewahrten gelesen werden. Das hieße aber, daß der moderne Bildungsroman niemals nur die singuläre Individualität des einzelnen Subjekts zum Gegenstand hätte, als immer auch die Latenz der großen Zahl aller anderen Subjektgeschichten, die als Serie unerzählter Fallgeschichten die Grundlage und Hintergrundmatrix für die eine öffentlichgemachte bilden. Diese These gewinnt an Plausibilität, wenn man sich die vielen weiteren Erzählprojekte des langen 19. Jahrhunderts vor Augen führt, die das Erzählte auf ähnliche Weise stets in den Zusammenhang eines umfassenden Archivbestands stellen, aus dem es zu selegieren gilt: Zeitgleich mit den letzten Büchern der Lehrjahre erscheint 1796 etwa Jean Pauls Leben des Quintus Fixlein, das der Untertitel als aus funfzehn Zettelkästen gezogen annonciert. Diese Zettelkästen sind eine Medientechnologie, die zum einen der extensive Sammler und Privatarchivar Quintus Fixlein im Anschluß an die neuen Katalogisierungstechniken im zeitgenössi-

42 | Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 497, das folgende Zitat ebd., S. 549. 43 | Vgl. ebd., S. 619; die Gesprächsnotiz des Kanzlers von Müller vom 22.1.1822.

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schen Bibliothekswesen nutzt, um seine biographischen Notizen zu ordnen;44 auf die sich aber zum anderen der Redaktor-Erzähler stützt und sie dabei sogar zur ausdrücklichen Kapitelstruktur des Romans erhebt: »Diesen perspektivischen Aufriß seiner kindlichen Vergangenheit trug er dann auf kleine Blätter auf, die alle unsere Aufmerksamkeit verdienen. Denn lauter solche Blätter, welche Szenen, Akte, Schauspiele seiner Kinderjahre enthielten, schlichtete er chronologisch in besondere Schubläden einer Kinderkommode und teilte seine Lebensbeschreibung, wie Moser seine publizistischen Materialien, in besondere Zettelkästen ein. Er hatte Kästen für Erinnerungszettel aus dem zwölften, dreizehnten, vierzehnten etc., aus dem einundzwanzigsten Jahre und so fort. […] Ich muß die rezensierenden Stummen, die mir den kurzen Prozeß des Strangulierens an den Hals werfen wollen, ganz besonders bitten, doch nur vorher, ehe sie es darum tun, weil ich meine Kapitel Zettelkästen nenne, nachzusehen, wer daran schuld ist, und nachzudenken, ob ich anders konnte, da der Quintus selber seine Biographie in solche Kästen abteilt: sie sind ja sonst billig.« 45

Auch bei Jean Paul ist diese Redaktorfiktion mit der ausdrücklichen Durchschnittlichkeit des Protagonisten verbunden, der sich, ähnlich wie das Schulmeisterlein Wutz, in einem provinziellen Kontext als Bibliothekar selbstgeschriebener Bücher eine Idylle abseits der großen Welt schafft – eine Idylle, die in der Vorrede zum Fixlein, wie immer ironisch, ausdrücklich auf denjenigen Mittelweg bezogen wird, der dem Menschen zwischen hochfliegenden Sujets (»Alpen – Revolutionen – Rheinfälle – Wormser Reichstage – und Kriege mit Xerxes«) und der Resignation in die eigene Bedeutungslosigkeit offensteht: »Der siegende Diktator muß das Schlacht-Märzfeld zu einem Flachs- und Rübenfeld umzuackern, das Kriegstheater zu einem Haustheater umzustellen wissen, worauf seine Kinder einige gute Stücke aus dem Kinderfreund aufführen.« Archivbasiertes Erzählen und das Bekenntnis zum »Theater des Alltäglichen« gehen mithin Hand in Hand. Die ›Ruhmlosigkeit‹ solcher Archive hat Jean Paul vor allem in seinem späten Roman Leben Fibels betont, der der Redaktorfiktion zufolge auf denjenigen »biographischen Papierschnitzeln« beruht, in die Fibels Dorfnachbarn dessen Aufzeichnungen »verschnitten« und der praktischen Verwendung als Haushaltspapier zugeführt haben – so daß der Erzähler mit »im Dorfe zerstreueten Quellen« wie »Kaffe-Düten«, »Heringspapieren«, »Papierdrachen« oder »Laternen« konfrontiert ist, die Fibels fragmentarische Aufzeichnungen enthalten und auch hier wieder als Kapiteltitel firmieren.46 Die Absage an eine Ästhetik des Erhabenen betrifft dergestalt nicht nur die Alltäglichkeit der erzählten Ereignisse, sondern auch die elitäre Kanonisierung klassischer Hoch44 | Vgl. mit Hinweis auf Jean Pauls Vorlage, Johann Jacob Mosers Erfindung des Zettelkastens am Ende des 18. Jahrhunderts, Krajewski: Zettelwirtschaft, S. 69-74. 45 | Paul: Quintus Fixlein, S. 83f., die folgenden Zitate ebd., S. 12f. 46 | Paul: Leben Fibels, S. 375f.

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literatur als Bestand des kulturellen Gedächtnisses, der Jean Paul ein RecyclingProjekt entgegensetzt, das den Roman zum Produkt eines Archivs aus Papierabfällen macht.47 Archivbestände sind mit anderen Worten auch insofern ruhmlos und latent, als sie in ihrer schieren Materialität nicht als auf bewahrungswürdige Dokumente erscheinen wollen. Diese Geburt des Archivromans aus chaotischem »Kram und Schutt« prägt auch, um ein letztes Beispiel anzuführen, das noch deutlich von Jean Paul beeinflußte Frühwerk von Adalbert Stifter, insbesondere Die Mappe meines Urgroßvaters, deren Rahmenerzählung in der ersten Fassung von 1841 ebenfalls mit der Entdeckung einer willkürlich und wertlos scheinenden Sammlung des titelgebenden Urgroßvaters, eines böhmischen Landarztes, einsetzt: »So trieb sich in meinen Kindertagen eine unheimliche schwarze Weste um, eine geknickte Hutfeder, zwey himmelblaue Wagenräder, im Garten waren fürchterlich wuchernde Angelicawurzeln, dann auf Diele und Scheune Kram und Schutt; so oft unter andern wohlberechtigten Hausdingen irgend ein närrisch Object in Verkehr gerieth, dessen Ziel und Endzweck kein Mensch erklügeln konnte, so hieß es jederzeit: Das ist vom Doctor.«48 Nach und nach allerdings erweist sich auch dieser Nachlaß als Schriftenarchiv: Als der Urenkel nämlich eine »vernagelte Kiste« findet und auf bricht, sieht er »Schriften und lauter Schriften von oben bis unten […]: ein Wust obscurer Sachen – Packpapier blau und grau, Rechnungen, ein vergelbter Prozeß in Sachen einer Hutweide, meine eigenen abgeschossenen Schönschreibbücher, Recepte – endlich ein Handschriftbuch des Doctors mit der Signatur: ›Memorabilia und seltene casus aus dem Leben und praxi M. Dr. Augustini Fundatoris tom. II. Fascic. I.« Daß es sich dabei um ein Ärztetagebuch handelt, in dem der Urgroßvater seine Krankengeschichten notiert, mag auf den Wechselbezug zwischen literarischen Archivfiktionen und medizinischen Fallsammlungen hinweisen, die in den Wilhelm Meister-Romanen ebenfalls angelegt ist. Vor allem aber werden die Papiere ausdrücklich als »obscur« bezeichnet und bewahren auf diese Weise noch im Moment der Entdeckung Spuren ihrer vormaligen Latenz. Obskur sind aber vor allem auch die Inhalte, auf die der Erzähler im Handschriftenbuch seines Urgroßvaters stößt, das auch hier wieder zur Basis der Redaktorfiktion des weiteren Texts wird: »Ich verbrachte fast die ganze Nacht mit Durchsuchen der Papiere, und packte das Erhebliche in eine Mappe […]; gar seltsame rothe Titel: ›der sanftmüthige Obrist‹ – ›die Geschichte der zween Bettler‹ – ›Tagebuch eines Gespenstes‹ – ›die tolle Gräfinn‹ etc. … kurz es kam mir der Gedanke, samt und sonders gewisse Aufsätze des Lederbuchs drucken zu lassen, nachdem ich sie vorher übersetzt und unserer Zeit verständlich gemacht hätte

47 | Vgl. das Projekt einer »archaeology of garbage« bei Rathje/Murphy: Rubbish!, sowie Thompson: Rubbish Theory. 48 | Stifter: Mappe. Journalfassung, S. 11. Vgl. Vedder: Inventare.

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[…]«.49 Der weitere Text der Mappe besteht entsprechend aus einer Auswahl dieser Aufsätze, die zum einen selbst immer wieder von Personen handeln, die »unzählige Bücher« sammeln und ein Gelöbnis zum täglichen Tagebuchschreiben ablegen, so daß am Ende »Packete« bzw. »viele, viele Päcke von Schriften« entstehen und archiviert werden. Zum anderen aber bestehen die aus diesem Schriftenarchiv ausgewählten Aufsätze gerade nicht aus den angekündigten spektakulären Geschichten über Wahnsinnige oder Gespenster, sondern ganz dezidiert aus Berichten über den Alltag eines Landarztes im frühen 18. Jahrhundert, dessen Tätigkeit – was jüngere Forschungen zu ärztlichen Praxisjournalen im 18. und 19. Jahrhundert materialreich belegen50 – aus einer großen Zahl von Fällen und deren routinemäßiger Therapie, vor allem aber schriftlichen Dokumentation, besteht. Diese Darstellung einer landärztlichen Praxis als Aufschreibesystem dominiert insbesondere die letzte Fassung des Texts von 1867. Sie beschreibt auf der einen Seite den medizinischen Alltag als Abfolge von Routinefällen: »Nach einer Zeit kam einer zu mir, der eine unheilbare Krankheit hatte. Kurz darauf kam wieder einer, und dann mehrere, lauter solche«. Auf der anderen Seite wird diese therapeutische Routine von einer nicht minder seriellen Schreibpraxis begleitet: »Dann noch einen großen Pack weißes Papier, damit ich darauf schreiben könnte, was nötig wäre, insbesonderheit, welche Kranken ich habe, was ich jedem gegeben, und wie ich ihn behandelt habe, damit, wenn die Menge etwa größer würde, ich einen schnellen Überblick hätte und nicht etwa Wirrungen machte.«51 Entscheidend ist dabei, daß diese Kopplung einer großen Zahl von Krankheitsfällen mit einer großen Zahl von Schriftstücken dazu führt, daß der Text passagenweise selbst auf quantifizierende und serielle Weise zu erzählen – bzw., mit Wolfgang Ernst, zu ›zählen‹ – beginnt. Den Gipfel dieses Darstellungsverfahrens bildet jene Passage in der letzten Fassung der Mappe, in der der Doktor über zwanzig Krankenbesuche listenförmig aufzählt: »Hierauf fuhr ich zum Erlebauer. […]. Dann fuhr ich zu Krings am Rothberge. […]Von dem Anwesen des Bauers Krings fuhr ich durch den langen Wald des untern Rothberges in die Friedsamleithe hinüber zu der alten Taglöhnersfrau Mechthild Korban« usw. – bis es heißt: »Vom Aschacher fuhr ich nach Hause. […] Am Nachmittag fuhr ich zu meinen andern Kranken. Als ich zurückgekommen, sprach ich mit denen, die im Hause auf mich warteten, und reichte ihnen Mittel. Dann fuhr ich noch einmal zum Aschacher hinunter. Endlich war das Tagwerk vollbracht. […] Und so wie dieser Tag vergangen war, vergingen seine Nachfolger. Ich fuhr zu allen meinen Kranken, und vergaß keinen einzigen an irgend einem Tage.«52

49 | Stifter: Mappe. Journalfassung, S. 14, die folgenden Zitate ebd., S. 25, S. 49. 50 | Vgl. Shephard: The Casebook; Dinges: Forschungen – mit Dank an Volker Hess (Charité Berlin). 51 | Stifter: Mappe. 4. Fassung, S. 64, S. 56. 52 | Ebd., S. 179.

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Dieses eklatante Beispiel für Stifters repetitives Erzählverfahren muß vor dem Hintergrund der vorliegenden Analyse nicht einem wie immer gearteten Spätstil oder Verrätselungsverfahren des Autors zugeschrieben werden, sondern der ganz konkreten Archivstruktur medizinischer Praxis, auf der der Text gemäß seiner Redaktionsfiktion beruht.53 Ebensowenig plausibel ist der in der StifterForschung etablierte Verweis der Schreibpraxis des Urgroßvaters auf den Tagebuchkult der Empfindsamkeit, der den Diskurs einer individuellen Subjektivität mitbegründet hat.54 Kontextualisiert man die Schreibpraxis dagegen mit denjenigen Journalen, die im 18. und 19. Jahrhundert weniger dem Ausdruck des inneren Selbst als einer Archivierung medizinischer Fälle dienten, dann wird deutlich, daß literarische Texte wie Stifters Mappe dasjenige Regime der Alltäglichkeit dokumentieren, von dem nicht nur Foucault mit Blick auf die infamen Menschen spricht, sondern auch ein Autor wie Johann Georg Zimmermann, der im 18. Jahrhundert die Beschreibung seiner Methode, ein Praxisjournal zu führen, mit den nachgerade Stifterschen Worten beschließt: »Auf diese Weise setzte ich meine tägliche Arbeit fort.«55 Indem literarische Archivfiktionen auf diese Wiese Alltäglichkeit nicht nur beschreiben, sondern selbst zur Textstruktur werden lassen, setzen sie dasjenige um, was Ernst im Unterschied zu einer neuhistorischen »Poetik des Archivs«, die doch wieder auf eine Übersetzung des Materials in eine Erzählung zielt, als ein radikal nicht-narratives Verfahren gekennzeichnet hat: Dieses Verfahren besteht darin, die Struktur des Archivs als Anordnung kontingenten und redundanten Materials selbst zum Text werden zu lassen, und also – anstatt über es zu schreiben bzw. es in eine Geschichte zu übersetzen – das Archiv selbst (d.h. »transitiv«) zu schreiben.56 Es ließen sich weitere Beispiele für dieses Erzählverfahren finden – Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs von 1896, in denen ein alternder Beamter als »Protokollist des Falls« auftritt, der seine Kindheit geprägt hat, dabei aber stets betont, daß ihm das Leben in der verlorengegangenen Provinzidylle der Vergangenheit zwischen den Dokumenten, die er wiederum als Redaktorfigur kollationiert, entschwindet: »Sie wackeln, die Aktenhaufen, sie werden unruhig und unruhiger um mich her in ihren Fächern an den Wänden und machen mehr und mehr Miene, auf mich einzustürzen«.57 Auch die Aktenberge in Kafkas Schloß oder die diversen Bibliotheksphantasien von Canettis Blendung über Borges Bibliothek von Babel bis zu Thomas Lehrs Bibliothek der Gnade wären zu betrachten – letzteres als Utopie einer Sammlung aller nicht publizierten Manuskripte und also tatsäch53 | Zur »Verrätselung« durch Stifters »unspektakuläre[s], geradezu langweilige[s] Erzählverfahren« vgl. Blasberg: Wer bin ich, S. 122. 54 | Vgl. etwa Turk: Die Schrift. 55 | Zimmermann: Von der Erfahrung, S. 160. Vgl. Boschung: »Von … dem ersten«. 56 | Ernst: Das Rumoren der Archive, S. 46, S. 21. 57 | Raabe: Die Akten, S. 16, S. 69. Vgl. Thielking: Akteneinsamkeit.

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lich als ein Archiv der Latenz.58 Vielleicht aber müßte man anstelle eines solchen kanonischen Überblicks eher an die selbst latent gebliebenen Texte der Literaturgeschichte erinnern und einen Roman wie Der Archivar von August Sperl aus dem Jahre 1921 zutage fördern. Die Liste – das latente Archiv literarischer Archivfiktionen – ließe sich fortsetzen, und ohne zu behaupten, daß einer dieser Texte ausdrücklich mit Foucaults Projekt der Subversion der Geschichtsschreibung durch infame Zeugnisse in Verbindung zu setzen ist, veranschaulichen die Redaktorfiktionen von Goethe bis Raabe dennoch erstens, daß das Archiv als Schnittstelle zwischen Latenz und Öffentlichkeit nicht nur ein methodisches Problem der Diskursgeschichte darstellt, sondern in Gestalt einer Reflexion des paradoxen Projekts, Latenz als Latenz öffentlich zu machen, auch eine unmittelbare poetologische und literaturhistorische Dimension hat. Und diese literarische Dimension zeigt zweitens, daß in einer solchen Umsetzung ruhmloser Archive die scheinbar gänzlich unliterarischen Elemente der Alltäglichkeit, Wiederholung und Redundanz adaptiert und integriert werden können, so daß sich die Frage nach der Rolle des Normalismus für die Ästhetik der Literatur des 19. Jahrhunderts noch einmal neu stellen und diskutieren läßt.

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Die Weltgeschichte als literarisches Ereignis Mediale Verwandlungen des Texts von Imre Madách: Die Tragödie des Menschen – vom Manuskript zur Öffentlichkeit der Bühne György Eisemann

Manuskript und Umschrift – Oralität – Druck – Bühne: die einander ablösende Reihe dieser Medien (zu der später das Radio, das Fernsehen, die Schallplatte und auch der Film hinzukamen) zeigen den abenteuerlichen Weg der Tragödie des Menschen zu immer weiteren Kreisen der Öffentlichkeit. Mit diesen Überschreitungen – Grenzverletzungen – kämpfte sich der Text über die Rahmen der gegebenen Träger hinweg, um zum Beteiligten von literarischen Ereignissen hervorragender kanonischer Gültigkeit zu werden. Das Manuskript kann als ein lange verborgenes Programm angesehen werden, das in verschiedene Formen der Kommunikation transformiert, durch ganz eigentümliche Verfahren seine zumeist unerwarteten und im Voraus unkodierbaren Möglichkeiten entwickelte. In den unterschiedlichen Medien schöpfte es sich neu: Die Stadien des Prozesses ließen ihm in jedem Fall eine andere ästhetisch-poetische Existenzart und andere Bedeutungen zuteil werden. Deshalb ist die erste Niederschrift einer Zauberschrift vergleichbar, die in unterschiedliche Medien gelangend unterschiedliche Botschaften offenbarte, die in ihr auf bewahrten Informationsenergien zum Leben erweckend. Sie kann als ein »Ding« angesehen werden, das der Auftakt zu einer Reihe von Metamorphosen war, seine latenten Komponenten allmählich »auspackte«, und durch diesen Prozess zuletzt seinen kanonisierten Rang erlangte.

D as M anuskrip t und seine U mschrif t : l angsame H and und schnelles L esen Das Manuskript des Werkes ist bekanntlich zwischen dem 17. Februar 1859 und dem 26. März 1860 in einem einzigen Exemplar entstanden. Madách gab auf einem gesonderten Blatt den Anfangs- und Abschlusszeitpunkt der Arbeit, den

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Abriss der dramatischen Dichtung, sozusagen die Biographie des Werkes an. Dabei überließ er die an János Arany, dem »poeta doctus« der zweiten Hälfte des 19. Jh.s, übergebene Schrift ganz und gar ihrem Schicksal, sie der ungewissen Zukunft, dem Untergang oder der Wiedergeburt ausliefernd. Die Einäscherung des Manuskripts hätte er auch selber unternommen, wenn sein Werk bei Arany kein Gefallen gefunden hätte. Wie er in einem seiner Briefe schreibt, hätte er das Gedicht in diesem Fall auf die Art verbrannt, dass er dessen Fabel aus dem Text ins Feuer überführt hätte: »Adam hätte seinen letzten Traum in den Flammen des Purgatoriums zu Ende geträumt.«1 Somit entschied der erste Leser über das Schicksal des Textes, in dieser individuellen Relation von Werk und Rezeption. Zu guter Letzt erhielt Arany den Text am Leben, ja, er führte an ihm die erste Operation der zur Publikation erforderlichen Transfiguration durch: An zahlreichen Stellen änderte er an der Sprache des Manuskripts, besonders an seiner veralteten Orthographie, stellenweise an Stil und Dichtweise. So verdoppelte sich der Text auf den Papierstücken (auf den Palimpsesten), so entstanden zwei Varianten auf einem einzigen Exemplar. Die eine war von Madách an Arany geschickt worden, die andere wurde von Arany an das Lesepublikum weitergeleitet, sie nach seinem Geschmack zum Vertrieb in der literarischen »Produktion« tauglich machend. Dieses doppelgesichtige Autographexemplar sollte später zum Gegenstand der museologischen Konservierung werden, als eine der Schichten – die umschriebene Version – sich später zu einem Meisterwerk kanonisierte. Heute wird es in der Bibliothek der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in einem imposanten, in Leder gebundenen, vergoldeten Buch auf bewahrt. Die Archivierung bewahrt die Urabschrift als ein Sekundäres zur Neuschrift auf, als eine bewältigte – revidierte – Vergangenheit, als fruchtbaren Ursprung, die Zeitlichkeit des konservierenden Mediums quasi anzeigend.2 1 | Diese Arbeit stützt sich hinsichtlich der philologischen Daten in erster Linie auf die Anmerkungen der neueren kritischen Ausgabe, siehe Madách: Az ember tragédiája, Drámai költemény. Außerdem beachtet sie die hierauf bezügliche Monographie des Autors dieser Ausgabe (Kerényi: Madách) sowie die zu ähnlichen oder abweichenden Schlussfolgerungen kommenden, auch die früheren Forschungen verwendenden neueren Arbeiten: Radó: Madách; Praznovszky: Madách és Arany; Andor: A siker éve; Bene: Madách-filológia. Die Rekonstruktion der »unberührten«, das heißt, ersten Version des Madách-Manuskripts – eine Leistung von Sándor Striker – ist weniger aus ästhetischen Gründen, als hinsichtlich der Stationen des kulturell-mediologischen Prozesses ein interessantes Unterfangen: Striker: Az ember. 2 | Die aus dem Verhältnis der beiden Varianten herrührenden textologischen Debatten werden wohl nie abflauen. Die Gestaltung einer einzigen optimalen Lösung ist auch nicht erforderlich, jede Entscheidung ist nur abhängig von der Interpretation des Textes vorstellbar. Auch diese Arbeit argumentiert nicht für die Ausschließlichkeit einer der Konzeptionen, sondern versucht vielmehr auf die Konsequenzen der Entwicklung (des medialen Schicksals) des Textes hinzuweisen. Aus textologischer Hinsicht kann damit im Einklang festge-

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Arany modernisierte also die Rechtschreibung, näherte den Text dem kurrenten Sprachgebrauch, der lebendigen Sprache an. Er verstärkte die Stimme der Muttersprache: Er formte die Buchstaben der Papiere von Madách in eine Schrift um, die zur Verbindung der sichtbaren und hörbaren Dimensionen der Sprache geeigneter war. Er strebte keine wesentlichen inhaltlichen und kompositorischen Änderungen an, sondern achtete mehr auf die »Technik« der Vermittlung. Er muss wohl gespürt haben, dass der »Geist« – der Sinn – des Werkes ohne leicht zu lesende Spuren unzugänglich bleiben würde. Seine Korrektion konnte also die Präsenz der zeitgenössischen Rede erschaffen, und auch danach tat er sein Möglichstes, damit sich die Präsenzerfahrung der Rezeption weiter verstärke. Das Manuskript von Madách verwendete die der von der Ungarischen Wissenschaftlergesellschaft 1832 vorgenommenen orthographischen Regelung vorausgegangene Rechtschreibung. Diese Orthographie kann aus Sicht des damaligen Sprachgebrauchs (der Rede) anachronistisch genannt werden, wie Arany darauf aufmerksam machte. Seiner Meinung nach war das Sprachgefühl von Madách früher mit der deutschen – und allgemein mit fremder – Kultur vertraut, als mit der Natur des »ungarischen Sprachgeistes«. Seine Besserungen waren also die Äußerungen dieses »Geistes«, selbst wo sie nur das Schriftbild beeinflussten – ja, da erst recht. Über die Schwierigkeiten der altertümlichen Schriftweise war sich auch Imre Madách im Klaren. Selbstkritisch beklagte er seine ungenaue Verwendung der Buchstaben, zum Beispiel seine Interpunktion. In einem Brief an Pál Szontagh zeichnete er die Schriftzeichen »– ???, – . ; –« nebeneinander und bat den Adressaten diese Gebilde als frei einzusetzendes »Hilfskorps« anzusehen. Er solle den ihm zugesandten Text mit diesen ergänzen, da sie an vielen Stellen ausgeblieben waren, und zwar dort, wo der Gedanke schneller war, als die Hand. Obwohl er sich bemühte schnell zu schreiben: Seine Handschrift ist durch Eile, durch das häufige Fehlen von Buchstabenverbindungen und durch halbgezeichnete Buchstabenformen gekennzeichnet.3 Die Erstellung der handschriftlichen Materie musste demnach – vor allem bei den alten Regeln – von der Geschwindigkeit her dem Sprachgeist, dem Gedanken und dessen Aussprechen gegenüber unterliegen. Aber selbst die langsame Hand vermag den Geist nicht zu verbergen oder in ein unerreichbares Anderswo zu verbannen, zeigt doch Ergebnis-Materie – selbst in ihren Mangelhaftigkeiten – der eigenen Tätigkeit die Kraft des Gedankens und seines Vorhandenseins in der Aufzeichnung an. Die neue Orthographie hingegen vermindert die Phasenverschiebung, und ihr wesentlichster Zug ist gerade die Beschleunigung des Schreibens – und offensichtlich des Lesens. Das heißt, nicht das »langsame«, sondern vielmehr das – zusammen mit der theoretischen Implikation verstandene – schnelle Lesen schien das entsprechende stellt werden, dass »eines der wesentlichsten Probleme das Fraglichwerden des Prinzips der ultima manus und das ins Schwankengeraten des Prinzips des einheitlichen Autors ist.« Tóth-Czifra: Az ember, S. 180. 3 | Siehe Kerényi: Madách, S. 208f.

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Verfahren zu sein. (Dies verhilft in einem anderen Bereich die volkstümliche Manier, den »ungarischen Sprachgeist« zu graphemischer Geltung. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass ohne die Reform von 1832 auch die literarische Karriere der ungarischen volkstümlichen Dichtung nicht im bekannten Maße erfolgt wäre.) Es ist ein allgemein bekannter Umstand, dass Arany beim Erblicken der ersten Zeilen der langsamen Hand die Lust vom Zu-Ende-Lesen zuerst einmal vergangen war. Er hielt das Werk für eine schwache Nachahmung, das an einigen Stellen nicht einmal an Goethes Faust, sondern an dessen schwache ungarische Übersetzung von István Nagy gemahnte. Beim zweiten Anlauf änderte sich seine Meinung radikal, ja, beim dritten korrigierte – »beschleunigte« – er schon mit dem Bleistift in der Hand, und lobte sodann. Seine Anerkennung und seine entschiedene Parteinahme verflochten sich somit mit der Performativität des Neuschreibens, mit der Praxis des Umtextens (Realphabatisierens). (Die überwiegende Mehrheit der Änderungen diente zur Aktualisierung der Rechtschreibung – z.B. ließ er die Apostrophe weg, schrieb die Verben und die Präfixe zusammen. Die Relativpronomen trennte er aber – »a mi« usw. –, weil er den ersten Laut für einen archaischen Ausruf, also für einen Redeausdruck hielt.) Diese neue Gestalt der sichtbaren Sprache, ihre im Wesentlichen sich der Rede anpassende Alphabetisation wurde durch das die auf dem Papier stehende Botschaft semantisierende »schnelle« Lesen hervorgebracht. Die ältere Orthographie erweckte im Dichter die Vorstellung des Epigonentums, aber zusammen mit der Aufhebung des Anachronismus des Schriftbildes las er den Text bereits als Meisterwerk neu – und so lässt er ihn auch seitdem lesen. Von den tiefgreifenderen inhaltlichen Änderungen betrifft die erste die Verse 13-14: »Perfekt passt es in allem, dass mir dünkt,/Millionen Jahre wird’s getrost sich drehen.« Arany schrieb mit blauem Stift neben Vers 13: »komisch«. Deshalb schrieb er an dessen Stelle einen neuen Vers, seine eigene Idee, die es sich zu zitieren lohnt, da sie die besagten Transformationen zu repräsentieren vermag: »Es kreist das Rad, der Schöpfer ruht.«4

D ie V erkündung und das V orlesen des M anuskrip ts Arany sorgte auch für das weitere »Kreisen« des Textes. Im nächsten Schritt nahm er das Medium des Vorlesens – und zwar im eigenen Vortrag – in Anspruch. Es ist ein keineswegs nebensächlicher Umstand, dass er seine Entdeckung mit Hilfe des lebendigen Wortes in das literarische Bewusstsein einführte. In den Oktoberund Novembersitzungen des Jahres 1861 der Kisfaludy Gesellschaft machte er die Tragödie zunächst in einer Zusammenfassung mit der Mitgliedschaft bekannt, und las dann lange Abschnitte daraus. Zuerst stellte er sie vor, um Unterstützung für den Druck zu gewinnen. Er tat dies, ohne das Geringste vom Autor des 4 | Die Zitate verwenden die – in der Überarbeitung von Géza Engl – erschienene Übersetzung von Jenő Mohácsi, s. Madách: Tragödie.

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geheimnisvollen Manuskripts zu verraten. Später las er aus der Originalversion von Madách, und zuletzt – nachdem er die Bewilligung zu den Änderungen bekommen hatte – aus dem von ihm modifizierten Text. Seine erste Wortmeldung (am 10. Oktober) konnte noch von der Besorgung der Unterstützung motiviert gewesen sein, danach aber konnte er keinen anderen Zweck verfolgt haben, als die Bekanntmachung im weiteren Kreise, die Einführung des Textes ins literarische Bewusstsein. Das Werk durch solche »literarische Konzerte« zum Kanon hinzuführen, musste seine entschiedene Ambition gewesen sein. In der Gesellschaft wurden häufig Vorlesungen gehalten, aber es war doch ungewöhnlich, was z.B. in der Zusammenkunft am 28. November geschah: Arany las von den Druckbögen, vor der bevorstehenden Veröffentlichung. (Anderthalb Monate später, im Januar 1862 kam das Werk tatsächlich ans Tageslicht.) Jedenfalls hörte das sich in den Kreisen der Kisfaludy Gesellschaft bewegende – also um jene Zeit tonangebende – Publikum der damaligen ungarischen Literatur die Verse der Tragödie zuerst in dieser mündlichen Vermittlung, sein Interesse wurde durch dieses Vorlesen erweckt. Es wurde gerätselt, wer der geheimnisvolle Verfasser sein mochte. (Übrigens war zuvor Madách selbst ähnlich verfahren, auch er zeigte nicht sein Manuskript herum, sondern las Pál Szontagh, seinem ersten Zuhörer, den Text vor. Ob er ihn im Freundeskreis vorgetragen hat, ist umstritten, aber ein bezeichnenderweise hierher gehörendes Geschehen.) Die Tragödie brach also durch das lebendige Wort in die engeren Rahmen der damaligen literarischen Öffentlichkeit ein. Das Vorlesen inszeniert den Text auch allgemein als ein aktuelles Geschehen, indem es seine Intersubjektivität, seinen Aufforderungscharakter hervorhebt, die Autorität des Vortragenden zur Geltung bringt und eine gesteigert affektive Einstellung des Publikums erzielt.5 Der Vortrag von Arany umging damit an und für sich die bewährte Praxis der literarischen Produktion des 18.-19. Jahrhunderts und baute vor der Distribution der gedruckten Exemplare auf das im Übrigen gleichfalls romantische Streben des Erklingens – des Redewerdens – der Schrift. Er trat für ein Meisterwerk ein, erfüllte eine auf sich genommene Mission, übergab eine Botschaft. Er offenbarte die Existenz des »großen Werkes«, fast schon eine kerygmatische Redesituation imitierend, sich mit dem Ausdruck eines Predigers an das Publikum richtend. Deshalb konfrontierten sich das Vorlesen und die Geheimhaltung der Person des Verfassers mit dem jahrhundertealten Normensystem der Verteilung der neuzeitlichen Werke, mit der von Kittler zum Beispiel als Aufschreibesystem 1800 bezeichneten Praxis des literarischen Aufzeichnens und Vertriebs, indem sie dessen romantische Intentionen dennoch hervorhoben. Zum Wesen dieser Praxis gehört nämlich einerseits die Errichtung der Autorenfunktion als textschaffender Instanz, andererseits der mit dem Autorennamen verbundene Vertrieb des Textes, sowie die entsprechende Verknüpfung beider 5 | »Das Wahrnehmen von Stimmen (ist) immer ein affektiver Prozeß.« Kolesch: Listen to, S. 119.

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(Schriftsteller und Publikum, Werk und Lesen). Sofern die Autorschaft (die Quelle einer Rede) zu diesem Zeitpunkt nicht mehr mit der Schrift simultan gesetzter, sondern ein durch dessen (Neu)-Lesen zu bestimmender (dem Erzähler eine Stimme verleihender) Begriff ist, wodurch der Text auf einen vermittelnden Beamten (wie laut Kittler Faust auf Mephisto)6 angewiesen ist, dann ist die genannte Verknüpfung in der Tat nicht die innere Angelegenheit eines einzigen Diskurses. Und die Vorträge von Arany performierten gerade diese beiden Funktionen: Das werbeträchtige Verschweigen des Autors und die dadurch provozierte Fahndung nach ihm verstärkten die Konstruiertheit durch Rezeption, während er selbst das Werk in der eigenen Stimme – als amtliches Vorlesen – inszenierte. Allerdings wurde das Zusammenwirken dieser beiden Funktionen diesmal durch ziemlich eigenartige (aus literarischer Sicht durch auswärtige) diskursive Bedingungen überhaupt erst ermöglicht. Die Beziehung des fiktiven Verfassers und seines Publikums sollte nicht im üblichen philologischen (ästhetisch-kritisch-literarischen) Diskurs zustande kommen, sondern mit Hilfe von politischen und theologischen Kontexten – was natürlich eine keineswegs beispiellose Korrelation ist. Einerseits gingen die Vorlesungen auf einem bis dahin politisch verbotenen – dadurch in dieser Hinsicht ausgezeichneten – Forum, in der gerade erst neu zugelassenen Kisfaludy Gesellschaft vonstatten. Andererseits ruft der erste pathetische Vers der Tragödie als liturgisches Zitat mit Nachdruck das System des theologischen Diskurses in den Vortrag: »Gelobt seist du, Gott in der Höh.« Aus dem Munde von Arany erklang im Saal dieser Eröffnungssatz als erstes aus dem Werk, und die Anwesenden mochten für einen Augenblick sogar verunsichert sein, ob sie sich in einem literarischen Konzert oder in einem reformierten Gottesdienst befinden? Die Verbindung der beiden sprachlichen Kanäle – eines politischen und eines religiösen – ermöglichte also die glückliche Ankunft der Botschaft vom fernen und geheimnisvollen Autor als literarischen Phänomens. Im Gegensatz zu dem im 19. Jahrhundert üblichen System von »ProduktionVerteilung-Konsum« ist der rebellische, oder zumindest protestierende Charakter dieses Vorlesens von politisch-theologischem Interesse mit dem rhetorischen Modell der Glaubenserneuerungsbewegungen vergleichbar. Es imitierte den allgemeinen Propagandagriff jedweder Häresie, das aufrührerische Bestreben des sich auf Apokryphität berufenden Predigens. Der Prediger zog zuerst das Manuskript verborgenen Ursprungs hervor und kommentierte es, wie einst etwa die Gnostiker von ihrem »unbekannten Gott« und dessen Botschaften berichteten. Danach las Arany von den Druckbögen – aus den bereits in Buchblättern archivierten Worten –, das heißt, er stellte die moderne Phase der Text-Reproduktion vor, verwendete das Ergebnis des Überganges aus dem Manuskript in bedrucktes Papier, demonstrierte die Fertigstellung des zu vertreibenden Materials. Jenen Vorgang, in dem der Logos der revidierten Urschrift sich zuerst zur Stimme, dann zu vervielfältigten Buchblättern inkarnierte. Er zelebrierte mithin die Verwandlung, 6 | Kittler: Aufschreibesysteme, S. 31.

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durch welche sich die Botschaft des unbekannten Verfassers zum verteilbaren Druckerzeugnis, zum Massenmedium materialisierte. Der Geist des Manuskripts ging in seiner Stimme in die Gegenständlichkeit der Papierblätter über, damit er sich zum Ansprechen der Leser eignen kann. Dadurch verkörperte sich die Urschrift, die Phasen von Korrektion und lautem Vortrag durchlaufend, dort zum Buch, wo das Bündnis von politischem Schauplatz und theologischer Thematik die Poesie der Botschaft des Autors vermittelte.

E rste A ufl age : die L iter arisierung der S timme Somit bedeutete der Vertrieb des fertig gestellten Bandes nicht nur, dass sein zukünftiger Leser dem Text eine Stimme geben kann, wie sich das für gewöhnlich mit Hilfe des Aufschreibesystems jener Zeit ereignete. Sondern auch, dass er ihn als Stimme von János Arany – als seine vermittelnde Rede – neu schaffen konnte, als das Archivierte des in seinem Gedächtnis auf bewahrten Vortrages. Die aus der Kisfaludy Gesellschaft bald ans Tageslicht gekommene Ausgabe wahrte den Text von Madách und seinem Korrektor mindestens in dem Maße, wie die Intonation des Letzteren. Diese Ausgabe kam nämlich nicht in den Buchhandel. Sie konnte überwiegend nur von solchen in die Hand genommen werden, die das Werk – Ausschnitte daraus – schon gehört hatten, oder zumindest hätten hören können, bevor sie es lesen konnten. Es war in 1500 Exemplaren bei Emich erschienen, und außer den Freiexemplaren wurde es an beinahe eintausend Patronatsmitglieder der Gesellschaft verschickt. Das heißt, Vertrieb und Lesen gingen in einem streng begrenzten – das Vorangegangene durchaus kennenden – Kreise vor sich. All das bedeutet, dass Arany, nachdem er das sichtbare Zeichensystem der Papierblätter revidiert hatte, durch den obigen Normbruch das in Druck übergehende mediale Geschehen um den Text zunächst zu einem redeartigen Ereignis – zu einer extrem erfolgreichen Kanonisierungsaktion – weihte. Im Laufe dieses Ereigniswerdens entbrannte der Zündstoff des Textes (sein ästhetisches Effektpotential) durch den Funken aus dem Aufeinandertreffen des politischen und des theologischen Kontextes zur Flamme. Der Widerstand der unterdrückendenfeindlichen Macht gegenüber als gleichzeitige Geste der Hinwendung zu Gott ist ohnehin ein bekanntes hymnisch-apostrophisches Vorgehen. Diese Performierung des umgeschriebenen Textes war also in der Lage, zu literaturhistorischer Wirkung und Gültigkeit zu gelangen. Eine Reihe damaliger Zeitschriften berichtete über die außerordentliche Sensation, über den geheimnisvollen (anonymen) Verfasser und sein Meisterwerk. Die Umschrift des Manuskripts wurde zum Motor der modernisierten Literalität und Aktualisierung, während das laute Lesen das System der literalen Semiotik überwand. Das heißt – parallel zum Gesagten –, dass die auf der semiotischen Ebene erfolgenden Geschehnisse der Tragödie (das Erschaffen der Literalität von Manuskript und Buch) in das die sichtbare Sprache zum Erklingen bringende Ereignisartige des Vortrags hinüberwechselten. Und

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diese Performierung – um es abermals zu betonen – gebar im Lichte des politischen und des theologischen Kontextes den als Rede erklingenden Text wieder, der seine eigene Semiosis, das Relationssystem der Dichotomie von materiellem Zeichenträger und geistiger Bedeutung durchbrach.7 Der Prozess der Einordnung in den literarischen Diskurs begann also damit, dass János Arany, Agent und Beamter der Idee, Direktor der Kisfaludy Gesellschaft, Inhaber der Botschaft des fernen Verfassers, den Urtext gemäß der Oralität der lebendigen Sprache umschrieb. Und er setzte sich fort, indem Arany durch seine Vorlesungen aus dem Text dessen auf seine politischen-theologischen Kontexte beruhenden dichterischen Bedeutungsschichten hervorholte. Die Verkündung attackierte zunächst die sprachfremden Regeln der veralteten Rechtschreibung, als Informationsmacht der irreführenden Schriftordnung, und brachte auf dem neu auflebenden nationalen Forum der Gesellschaft die davon befreiten Wörter als Rede ans Licht. Damit stellte sie sowohl das nach der Revolution sich auftuende welthistorische Panorama des Textes als auch dessen ontologisch-theologische Perspektive – ein Zusammentreffen, das der Titel des Werkes als die Tragödie des Menschen anmeldet – in die lebendige Aktualität der literarischen Szene, um jene darin und dadurch erklingen zu lassen. Die mediologische Fachliteratur vergleicht eine Offenbarung von derartiger Aufforderungskraft mit der Erfahrung des Erwachens aus dem Traume.8 Die Tragödie ist selbst ein »Traum von der Geschichte«,9 das heißt, eine Vision, nach Luzifers Darstellung. Als Adam aus seinem Traum erwacht, charakterisiert er seine Reise in der Weltgeschichte wie folgt: »Furchtbare Bilder, wo seid ihr hin?«, später: »Oh Herr, mich quälten Schreckensvisionen«. Aber die Stimme des Herrn verknüpft selbst seine letzte Mahnung mit der Rede: »Ich sagte dir: Mensch, kämpfe und vertraue!«. Somit macht der Herr Adam, den Zuschauer-Betrachter der Weltgeschichte, hinsichtlich der Zukunft zum Zuhörer. Er verbietet geradezu das Sehen der Zukunft: »frag nicht/weiter nach dem Geheimnis«, das die Gotteshand »vor deinem gier’gen Auge« verbarg. »Könntest du sehen«, was passiert, würdest du deine Ideale verlieren. Daraufhin bemerkt Luzifer enttäuscht vom Menschen, er sei »Ein Zwerg an Wissen, groß an Blindheit.« Nach dem Schauen der traumhaften Bilderfolge wird also Adam die Geschichte nicht sehen, sondern hören, als eine menschliche und an den Menschen gerichtete Sprache, und zwar durch die Dichtung. Den Sinn seiner Existenz trägt demnach die Dichtung, deren primäres Medium ist aber die Frau. In der Schlussszene skizziert der Herr die sprachliche Vermittlung seiner Ideale wie folgt: »Gib acht: dann rauscht dir warnend/Und 7 | »Das Medium durchbricht also das Modell der Semiosis. […] Medientheoretische Reflexionen erweisen sich damit als eine Möglichkeit, die Grenzen des semiotischen Paradigmas für Untersuchung und Reflexion kultureller Gegenstände auszuloten.« Krämer: Negative, S. 71. 8 | »Töne, nicht aber Visuelles, können uns aus dem Tiefschlaf wecken«, ebd., S. 68. 9 | Vgl. Sőtér: Álom.

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erhebend eine Stimme zu./Der folge nur. Und wenn des Himmels Stimme/Im Lärm des werkereichen Lebens schweigt:/Des schwachen Weibes reine Seele,/ Entrückt dem Erdenschmutz, wird sie vernehmen/Und wird durch ihre Herzensader/Zur Dichtung und zum Lied sie läutern.« Also ist es der weiblichen Seele vergönnt, das romantisch entfernte – himmlische – Wort zu hören, das ihr Herz zum Lied der Gegenwart transformiert. Damit aber wird Eva zum Hauptfaktor der Literalität, zur Vermittlerin des Gotteswortes, zur absoluten Dichterin.10 Durch sie eröffnet sich für Adam die Möglichkeit zu jeglichem reflexiven historischen Handeln. Die Sprache von Eva gibt das Wort, dessen Aussprechen und Hören nur im Gnadenzustand nach dem Verwerfen der auf die Traumbilder gegebenen individualistischen Reaktion – des Selbstmordes – und nach Eintreten der Schwangerschaft möglich ist, als mütterliche Stimme der Natur weiter. Und dieser religiöse Kontext konfrontiert sich eindeutig – gerade bei der Gestalt von Eva – mit einem philosophischen Kontext. Als in der zweiten Szene Eva hinterfragt, warum Gott sie strafen sollte, wenn sie von der Frucht des verbotenen Baumes essen würden, war er es doch, der den Weg vorgab, auf dem selbst das Begehen von Sünde vorkommen kann, bemerkt Luzifer: »Sieh da, der erste Philosoph!« Der Verführer selbst bezeichnet Eva als Philosophin, gerade, als sich die Frau seinem Wort geneigt zeigt. Luzifer, Kritiker der Schöpfung und Agent des desillusionierenden historischen Fortschritts, der Schlaf und Traum über das Menschenpaar Bringende, verbindet den philosophischen Diskurs mit dem Sündenfall. Sein Unterricht – im Gegensatz zu den schützenden Mahnungen des Herrn (»Könntest du sehen…«), bezieht sich gerade auf das Sehen: »Den Aar, der zwischen Wolken kreist,/Den Maulwurf sieh, der Erde wühlt…« Im Medium des Sehens erklingt also die Philosophie (Ideologie), in dem des Hörens die Theologie, welche kein Denken zulässt, das auf die Vision der Zukunft neugierig ist. Der Sündenfall ist hier – mediologisch – nichts weiter, als der Grund des Versinkens in das Schauen der Traumbilder, das heißt, die visionär-philosophische Anschauung von Geschichte, aus der die Klangwelt der Schlussszene im Paradies das Menschenpaar erweckt. Die Sprache der Tragödie und deren Rezeption werden von dieser medialen Relation bestimmt. Die Dichtung ist hier der beim Eintreten in die Geschichte (ins Politische) entstehende Klang des sich von der Philosophie abgrenzenden Wortes von theologischem Ursprung. Auch die philosophisch-ideengeschichtlichen Motive erscheinen in diesem doppelten diskursiven Raum. Masse und Individuum, Demokratie und Tyrannei, Unterdrückung und Revolution, Glaube und Ration, Unterdrückung und Freiheit, Wissenschaft und Gefühl, Materie und Geist, Kantsche Antinomie und Hegelsche Triade, utopistischer Sozialismus und mechanischer Materialis-

10 | Friedrich Kittler behauptet – hinsichtlich der Rolle der Weiblichkeit – genau das Gegenteil im Zusammenhang mit dem Aufschreibesystem 1800, siehe Kittler: Aufschreibesys­ teme, S. 160.

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mus usw. – also der endlos diskutierte Ideenkreis des Werkes11 – erlangen nur dann eine dichterische Funktion, wenn sie aus der theologischen Perspektive des Kampfes zwischen dem Herrn und Luzifer in Worte von historisch-politischem Interesse zu übersetzen sind. Dieser Diskurswechsel ist keine Garantie, hier aber eine Bedingung der dichterischen Wirkung. Dies verwirklichte sich auch in jener Aktualisierung, die das politische Forum der Neuorganisierung der Kisfaludy Gesellschaft bot, und in der das Vorlesen mit Gotteslob begann. Konnte also das Vorlesen von Arany ein adäquates – klingendes – Medium für den in theologischer und politischer Spannung zum Leben erweckten Text sein, so kann sich die im Buch sichtbare und lesbare Sprache der dramatischen Dichtung weit weniger auf dieses Bündnis stützen. Die Literalität und Lesetechnik des 19. Jahrhunderts – welche gegenüber die »Rebellion« von Arany eine elementare Wirkung auslöste – werden immer weniger in der Lage sein, die Poesie der aus dem theologischen Kontext (aus der universell-transzendenten Narrative) in die historisch-politische Rede wechselnden Stimme erklingen zu lassen. Die Geschichte der Lyrik drückt zum Beispiel diese mediale Wandlungsordnung in ziemlicher Bildlichkeit aus: Anstelle der Gattung der aus der transzendenten Perspektive in die gesellschaftliche Erfahrung übergehenden Rhetorik, der klassischen Hymne, tritt die sich von religiöser Aussprache enthaltende Ode in den Vordergrund, die selbst auf ihre eigene materielle Archiviertheit – auf die zum Buch gewordene Gegenständlichkeit des Geistes und deren Herstellung – reflektieren kann (Mihály Vörösmarty: Gedanken in der Bibliothek). Dementsprechend geht die Diktion des Aufrufs bei dem auf die Sprache der Tragödie eine elementare Wirkung ausübenden Vörösmarty in den vierziger Jahren in jene der Oden über. All das wird vom Echo der ersten Ausgabe getreu widerspiegelt. Arany fühlte sich an der Sache dermaßen interessiert, dass er auch einer günstigen Rezensierung Vorschub zu leisten bemüht war. Er bat sowohl Pál Gyulai (Budapesti Szemle) als auch Károly Szász (Figyelő) um das Abfassen einer Kritik. Bis dahin hatte alles darauf hingewiesen, dass die Rezeption keine Sorgen bereiten würde, da die Vorlesungen mit nahezu schwärmerischer Andacht verfolgt worden waren. Von Ferenc Toldy bis Ágost Greguss, von József Eötvös bis Antal Csengery verschlangen die Anwesenden die Worte des Vortragenden mit »inbrünstiger Freude« und reagierten auf das Erklungene mit lobspendenden Zwischenrufen (!).12 Nach dem Erscheinen des Bandes veränderte sich aber die Situation. Károly Szász schrieb zwar eine überwiegend anerkennende, aber oberflächliche Rezension, mit der Arany keineswegs zufrieden war. Gyulai begann nur etwas zu schreiben, publizierte aber nichts und im Weiteren enthielt er sich sein ganzes Leben davon, öffentlich überhaupt etwas von Bedeutung zum Werk zu sagen. Nur in 11 | Eine neuere – in einen unabschließbaren hermeneutischen Prozess eingebettete – Übersicht davon gibt im Zeichen des Überganges des Philosophischen ins Ästhetische Máté: Madách Imre. Aus der neueren Fachliteratur siehe noch Bárdos: Szabadon. 12 | Madách: Összes művei, S. 1014; Arany: Összes művei, S. 616.

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einem seiner Briefe an Csengery kommt zum Vorschein, dass er die Konzeption für undurchführbar und das Werk trotz seiner Schönheiten in manchem Detail insgesamt für misslungen hält. Zu diesem Zeitpunkt hatte Csengery seine lobende Meinung gleichfalls geändert und nahm auf ähnliche Art Stellung, wie auch die weiter erschienen Kritiken in punkto Anerkennung zumindest gemischt waren. Neben den mehr oder weniger würdigenden Worten von Adolf Dux, Ágost Greguss und Szevér Reviczky, übten János Vajda und János Erdélyi recht scharfe Kritik, und Károly Zilahy verfasste gar einen stellenweise groben Verriss. In den literarischen Kreisen wurde der kritische Ton immer stärker.13 Offensichtlich war durch den Druck bewirkt in der Rezeption etwas geschehen. Die Erinnerung an die Stimme von János Arany musste für jene, die das Werk noch in dieser Stimme gehört hatten, immer schwächer geworden sein. Die es aber nicht gehört hatten, mussten sich von vornherein auf das Buch verlassen, das die erwartete Wirkung nicht auslöste, im Vergleich zur angesagten Sensation enttäuschte. Der Rang der gedruckten Ausgabe erhob den Schriftsteller in die Höhe, machte aber zugleich den ersten Schritt auf die Verstummung des Textes zu.

Z weite A ufl age : die L iter alität als K onte x t verlust Aus diesen Gründen musste es Arany erscheinen, als sei seine Umschrift zumindest zu revidieren, da sie nur im Medium des Erklingens, des Vortrages zu wirklich großem Erfolg führte. Zweifelsohne ging es hier um ein Werk, bei welchem das Verhältnis von Rede und Schrift anders entsteht, als zum Beispiel beim Toldi (Aranys Epos). Das Schriftbild muss gerade jener erhaltenden Kraft der ineinander übergehenden Kontexte von Politik und Theologie entbehren, die die Zuhörer der Kisfaludy Gesellschaft begeisterte. Jedenfalls plante János Arany zur zweiten Ausgabe eine abermals radikale Änderung, von der aber nichts verwirklicht werden sollte. Die zweite Ausgabe erschien im März 1863, gleichfalls bei Emich, aufgrund der ersten Ausgabe (und nicht des doppelgesichtigen Manuskripts), zum Markt am Josephstag. János Arany wurde auch in dieser eine ganz besondere Rolle, genauer gesagt, ein ganz besonderer Rollenverlust zuteil. Er hatte den verblüffenden Plan, dass die zweite Ausgabe die ursprünglichen Textvarianten des Manuskripts von Madách wiederherstellen sollte. Dieses wünschte er sehr nachdrücklich, und versuchte den Autor in zwei Briefen dazu zu bewegen, der jedoch bei höflichen Dankesbeteuerungen das Angebot ablehnte. Durch diese Abwehr entglitt der Text der prophetischen Oberherrschaft von Arany, und der bis dahin »unbekannte«, aber bereits allgemein bekannte Autor nahm das Zepter selber in die Hand. Er begann damit, dass er einen neuen Lektor in der Person von Károly Szász wählte, der zahlreiche (mehr als siebzig) weitere Änderungen am Text durchführte. 13 | Vgl. Horváth: Az ember, S. 530-557.

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Madách selber korrigierte auch, er arbeitete in einem der Freiexemplare mit Bleistift, führte die Korrektionen von Szász aufgrund der Instruktionen des von ihm erhaltenen Briefes selber in diesen Band über. Diese Änderungen folgten aus den Lesarten des Gedruckten: Wie Arany am Manuskript gearbeitet hatte, so arbeitete jetzt Madách am Buch. Er trat also auf den Weg der weiteren Literalisierung – als Ausweg aus den bis dahin belebenden diskursiven Medien – und spielte praktisch die frühere Verdoppelung des Manuskripts neu wieder, mit dem nicht geringfügigen Unterschied, dass nunmehr ein Buchexemplar zum Hintergrundsmedium (zum Palimpsest) geworden war. Es ist eine kaum zu überschätzende Idee, dass Arany für die weitere Öffentlichkeit, für den Vertrieb im Buchhandel nicht mehr die eigene (seinem lebendigen Wort anhängende) Version, sondern die Urfassung empfahl. Sein Gedanke ist im Lichte der bis dahin gemachten Erfahrungen logisch: zuerst kann für das die Kreise der Kisfaludy Gesellschaft überschreitende Publikum der Text nicht das Archiv seiner Stimme sein. Der Prediger hat seine Pflicht getan, er hat das Wort enthusiastisch weitergegeben, unter den Einzuweihenden hat er den seine Stimme auf bewahrenden Band verbreitet, aber jetzt ist eine neue, entscheidende Wende eingetreten. Jetzt ist die unbegrenzte Verteilung des gedruckten Textes an der Reihe, die weitmöglichste Publikmachung, der Handelsvertrieb. Das Wort muss sich vom Prediger endgültig freimachen, und für die gesamtnationale Kanonisierung muss der das Werk tragende und bis dahin zum ErklingenBringen fähige diskursive Kanal neu geschaffen werden: die bis dahin effektive Zusammengehörigkeit des politischen und des theologischen Kontextes. Das heißt, es musste den Anschein haben, dass man zu jener historischen Phase der Literalität zurückfinden müsste, die die Poesie der Hymne (Ferenc Kölcsey) oder in der Dichtung von Mihály Vörösmarty, des großen Vorbilds, zum Beispiel die des Aufrufs beseelte. Dazu schien die ursprüngliche Botschaft, der Text des allerersten Manuskripts geeignet zu sein. Auf den die Lesart von Manuskript und Buch ausdrückenden Text kann man sich nicht mehr stützen, aber die eingefleischten – obgleich immer mehr unzeitgemäßen – Normen des Aufschreibesystems 1800 können noch helfen. Die Medialität dieser literarischen »sola scriptura!«-Devise kann demnach den Text von den sich auf den eigenen Logos als laute Interpretation berufenden – und bereits unwahrnehmbaren-wirkungslosen – Elementen befreien, und zwar unter Verzicht auf die verbotene Frucht des Schreibakts des Lesers. Wenn der Vermittler und seine Stimme sich in den Hintergrund drängen lassen müssen, dann muss das Werk als die die Stimme der Abwesenden und der Toten archivierende ursprüngliche Schrift erklingen. Kurz zusammengefasst: In den Vorlesekonzerten bis dahin fielen Geist und seine Abschrift (als auch ihr Vorlesen) semantisch zusammen, die Stimme von János Arany konnte innerhalb der »Intimität der Selbstpräsentation« verweilen.14 Im Druck aber sonderten sich die beiden voneinander ab, da das Medium des Bu14 | Derrida: Die Stimme, S. 134.

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ches – als gattungsmäßiger Auf bewahrer der dramatischen Dichtung – nicht in der Lage war, jenes Zusammenspiel des theologischen und des politischen Kontextes der Zeit alleine zu tragen, das der erklingende Vortrag im Vorlesesaal auf die obige Art repräsentierte. Arany musste eingefallen sein, dass die archaische Literalität des altertümlichen Stils die bessere Lösung sein könnte, weil deren – auch politische – Kontexte aus der Reformzeit am Anfang der 1860er Jahre noch lebendige und fortsetzbare Traditionen zu sein schienen. Seine Vorgehensweise würde die Gattungsmäßigkeit der romantischen dramatischen Dichtung gestärkt haben, und in dieser zurück geschriebenen Sprache wäre die Inszenierung des Werkes im späteren kaum vorstellbar gewesen. Diese Konzeption wurde aber, wie gesagt, vom Autor abgelehnt, und dieser ist von der Rezeptionsgeschichte letzten Endes bestätigt worden, obwohl auf eine Art, die er nicht ahnen konnte. Madách ging auf dem von Arany früher eingeschlagenen Wege weiter und radikalisierte die Initiative seines Dichterfreundes. Er war der Meinung, die Poesie seiner dramatischen Dichtung könnte in der modernen Phase der Buchausgabe restlos zur Geltung kommen. Seine Konzept kann in der gegebenen Situation bezüglich des Werkes und seiner Rezeption als irrtümlich – zumindest als erfolglos – bezeichnet werden, er sollte sich jedoch als Volltreffer in Bezug auf das spätere Ereignis der Inszenierung und überhaupt der im dramatischen Umfeld entstehenden Existenzart, der Wiedergeburt des Werkes erweisen. Das Eintreffen dieser Möglichkeit wurde zum unvorhersehbaren Ereignis des Schicksals des Textes. Auf den ersten Blick schien Madách gegen sein Werk gearbeitet zu haben, als er in der in den Handel gekommenen zweiten Ausgabe dem Obigen gemäß die Praxis des »freien Schreibens« weiterführte. Sein Konzept erweist sich nur aus Sicht der sich modernisierenden – auf den bis dahin vorwaltenden diskursiven Kanal verzichtenden – Buchkultur als ein Irrtum, da er gerade damit unbewusst eine mögliche Wiedergeburt seines Werkes in einem anderen Medium (im Theater) vorbereitete. Indem Madách statt der materiellen Autorität des Textes – statt seiner Abschrift, Betreuung, Wiederholung – das Archiv des neu zu schreibenden Buches als Medium der sich wandelnden Textbedeutung akzeptierte, kehrte er sich endgültig von der Absicht des Hörens auf die Rede der Urschrift ab. Und wenn die modernen Aufschreibesysteme die Semantik der Botschaft von deren Quelle entfernen, dann bringt diese Performierung noch mehr den Symbolismus der Materie zur Geltung und begünstigt ihre mediale Wiedergeburt. Diese Tendenz findet einen interessanten – obgleich zufälligen – Ausdruck darin, dass im Gegensatz zum Manuskript das der Ausgabe von 1863 zu Grunde liegende, mit Bleistift korrigierte Buchexemplar von 1861 verschollen und unarchiviert geblieben ist, vielleicht auch jetzt irgendwo steckt.15 Gemäß der bewährten Regel der 15 | Das in den Hintergrund Gedrängtwerden der materiellen Autorität zeigt sich übrigens auch in einer anderen Legende – von mehreren akzeptierten Annahme – aus der Entstehungsgeschichte. Laut den Erinnerungen von Károly Pétery schrieb Imre Madách im Jahre

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Textologie stützen sich die späteren Ausgaben, wie auch die kritischen Ausgaben, nach dem Prinzip der »ultima manus« auf die Autorität des Textes von 1863. Die darauf folgenden Änderungen sind von hier gesehen als Textverfall anzusehen, wofür der übergroße (die Verssetzung außer Acht lassende) orthographische Eifer der – wiederum »eine Menge neuer Korrektionen« enthaltenden – dritten, gleichfalls bei Emich (im Jahre 1869, bereits unter dem Verlagsnamen Athenaeum) erschienenen Version als Beispiel dienen kann.

R ekonte x tualisierung : B ühne , P r äsenz , A ur a Das vom Verfasser erwartete Ergebnis sollte freilich – wegen des Gesagten – auch der literalen Ambition der zweiten Auflage nicht beschieden sein. Im Gegenteil: Nach der in der Kisfaludy Gesellschaft noch mit Ovation begrüßten Premiere wurde das kritische Echo des gedruckten Textes immer leiser. Die neue – obgleich unbegrenzt erhältliche – Ausgabe blieb fast ganz unbemerkt, das »große Werk« ging langsam, aber sicher auf die kanonische Mittelmäßigkeit zu.16 Sein Scheintod dauerte fast zwei Jahrzehnte lang, als es ihm gelang mit einer neuen medialen Wende seine verborgenen Reserven zu mobilisieren. Als Phönix erstand es aus seiner Asche zu neuem Leben, als es im Jahre 1883 unter der Regie von Ede Paulay im Nationaltheater aufgeführt wurde. Ohne diese Wende wäre die Tragödie »nur ein Stück des literarischen Dramamuseums, da zum Zeitpunkt der Uraufführung die Gesamtausgabe der Werke von Madách aus dem Jahre 1880 und die früheren selbständigen Ausgaben schon auf den Böden der Buchhandlungen staubten, aber der Bühnenerfolg übte seine Wirkung auch hier aus. Aus der damaligen Presse ist uns bekannt, dass in Marosvásárhely zum Beispiel im Februar 1885 binnen weniger Tage 85 Exemplare verkauft wurden, nach der dortigen Aufführung.«17 Diese Studie kann sich nicht mit konkreten dramaturgischen Fragen der Inszenierungen und späteren theatergeschichtlichen Vorgängen befassen.18 Aber sie kann feststellen, dass die doppelte Gattungsmäßigkeit – das als Drama Betrachtetwerden und als dramatische Dichtung Gelesenwerden – von da an in1853, im Pester Neugebäude, zur Zeit seiner politischen Gefangenschaft mit einer zufällig dort gelassenen Kreide seine dramatische Dichtung Luzifer auf die Tischplatte. Auf die Art, dass er das Aufgezeichnete immer auswendig lernte und dann abwischte. So soll die erste Version der Tragödie entstanden sein. Siehe Andor: A siker éve, S. 97f. 16 | Im Jahre 1864 waren so gut wie nur Nekrologe erschienen, 1865 machte die deutsche Ausgabe etwas Aufsehen, von der Ernte der folgenden zwei Jahrzehnte lassen sich nur die größeren Schriften von Ágost Greguss und Bernát Alexander hervorheben. Siehe Madách: Az ember tragédiája (Műbibliográfia); Kántor: Százéves harc. 17 | Kerényi: Színpadi, S. 52. 18 | Siehe Németh: Az ember; Enyedi: A Tragédia.

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einander übergeht und die Rezeption des Textes bestimmt. Zweifellos hat die Schauspielerfahrung auch das Lesen der dramatischen Dichtung als im Buch gedruckten Textes radikal erneuert. In der Rezeption stellte sich eine grundlegende Wende ein: Die bis heute andauernde »betriebsmäßige« Zunahme der riesenhaft anschwellenden Fachliteratur wurde von der Bühnenaufführung ausgelöst.19 Im Laufe eines guten Jahres nach der Aufführung in Budapest wurde das Stück von den Schauspielertruppen in Baja, Kolozsvár (heute Cluj in Rumänien), Miskolc, Székesfehérvár, Kassa (heute Kosice in der Slowakei), Zsombor, Szekszárd, Sátoraljaújhely, Léva, Pápa, Ungvár (heute Uschhorod in der Ukraine), Kaposvár, Komárom, Dés (heute Dej in Rumänien), Szentes, Máramarossziget (heute Sighetu Marmatiei in Rumänien), Sepsiszentgyörgy (heute Sfantu Gheorghe in Rumämien), Nagybánya (heute Baia Mare in Rumänien), Brassó (heute Brasov in Rumänien), Makó, Pápa, Szarvas, Békés, Kecskemét, Szatmár (heute Satu Mare in Rumänien), Nyitra (heute Nitra in der Slowakei), Orosháza, Szeged, Rozsnyó (heute Roznava in der Slowakei) aufgeführt, und es ging in ähnlichem Tempo weiter.20 Die erste, noch einstimmige Aufführung, die Produktion von János Arany gelangte damit zu dramaturgischer Erfüllung. Die dramatische Aufführung schuf nämlich den das Werk zum Ereignis weihenden politischen und theologischen Kontext neu – errichtete ihn ähnlich zum Forum der Kisfaludy Gesellschaft –, ohne dessen Performierung die Rezeption des Textes dem langsamen Dahinsterben ausgeliefert gewesen wäre. In diesem Kontext kann die Tragödie zu dem erfolgreichen Werk werden, das sie – aufgrund ihrer eigenen Natur – allein der Medialität des Buches und der Gattung der dramatischen Dichtung überlassen nicht hätte werden können. Die lebendige Praxis der Aufführung brachte die Bewegung der bis dahin erfahrenen Transformationen in vollen Schwung. Aus dem materiellen Träger des Werkes – aus der Flasche seiner Vermittlung bis dahin – befreite sich in diesem Prozess sein bis dahin eingesperrt gewesener »Geist«. Obwohl die Idee der Inszenierung schon früher aufgetaucht war, gilt für sicher, dass weder Imre Madách noch János Arany damit gerechnet hatten. Letzterer wies diese Annahme sogar mit scharfem Spott zurück. Allerdings ist es kein Zufall, dass dieser Plan zuerst nach dem Vorleseabend der Kisfaludy Gesellschaft am 31. Oktober 1861 aufgetaucht war, als der Berichterstatter der »Hölgyfutár« (Damenbote) – mangels genauer Informationen – das Werk ein »Trauerspiel« (!) zu sein glaubte, und Arany diesen Irrtum korrigierte, indem er die Bestimmung »dramatisierte Dichtung« verwendete.21 Der Text wuchs auf der Bühne endgültig über den Horizont seines Schöpfers und seines ersten Betreuers hinaus, und trat in neuere Existenzarten über – nach dem Schauspiel im Laufe der Adaptationen von Film, Oper und Rockoper, Puppenspiel, Ballett, Monodrama und Zeichen19 | Es ist bezeichnend, dass Pál Gyulai im Vorwort der Gesamtausgabe von 1880 die Tragödie nicht bewertete, und als Lebenslauf den Nekrolog von Károly Bérczy publizierte. 20 | Kerényi: Az ember; Fejér: Az ember. 21 | Hölgyfutár vom 3. November 1861; Szépirodalmi Figyelő vom 6. November 1861.

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trickfilm. Aber auch die neueren Aufführungen waren nicht bar politischer, ja, selbst religiöser Obertöne, wovon die einheimischen und ausländischen Aufführungen des 21. Jahrhunderts bis in die nächste Vergangenheit zeugen. In der Rezeptionsgeschichte der Tragödie ist es nicht schwer jene aktualisierenden – auf kulturelle Umstände reflektierenden – Entwicklungen wahrzunehmen, die viel stärker als gewöhnlich mit den jeweiligen gesellschaftlichen-politischen Verhältnissen verbunden sind. Es gab einen – leider unverwirklichten – Plan der Inszenierung, der die gerade skizzierten Tendenzen unerhört lehrreich beleuchtet. György Molnár, der ausgezeichnete Regisseur jener Epoche, brachte eine in Paris gekaufte Einrichtung von kapitaler Größe nach Hause – eine riesige laterna magica – mit deren Hilfe er das Werk in der Form eines projizierten Spiegelspiels inszenieren wollte. Die Details des noch im Jahre 1863 geplanten Experiments sind wenig bekannt, jedenfalls wollte der Regisseur unter Mitwirkung eines französischen Maschinisten das Volkstheater zur Verwirklichung seiner Pläne umbauen lassen. Wie in der »Pesti Hölgy-Divatlap« (Pesther Damenmodenzeitung) angekündigt, wollte Molnár das Werk von Madách »mit sichtbaren, aber unberührbaren Geistern« aufführen. Ähnlich formulierte auch die »Vasárnapi Újság« (Sonntagszeitung): »Molnár will die Tragödie im Budaer Theater inszenieren, und zwar bei Anwendung einer die Geister erscheinen lassenden Maschine.«22 Es ist offensichtlich, dass auch diese Vorstellung auf ihre Art zurückgewinnen hätte können, was bei der Buchausgabe verloren gegangen war: die Wirkung der erklingenden Präsenz. Die »Geister« der Materie der Schrift wären sichtbar, zu lebendigen Gespenstern, zu aus der Schrift hervorgerufenen Bedeutungen geworden. Der Anblick als Magie der Projektion kann jener Technik folgen, die – dem sichtbar machenden Muster der laterna magica entsprechend – der romantischen Erzählung eigen ist.23 Aber diese Geister wären nicht die Geister der sichtbaren Sprache, sondern die Geister (Bedeutungen) der inzwischen hörbaren Sprache gewesen. Mit Hilfe des Zauberspiegels hätte György Molnár eine Rede auf die Bühne gebracht, die im medialen Sinne als Spektakeltheater-Variante der Arany-Performance bezeichnet werden kann. In diesem Medium würden sich sämtliche sprachlich-poetischen Energien der dramatischen Dichtung beleben, abermals einen ihr entsprechenden kommunikativen Kanal entdeckend. Die laterna magica wäre ein »Powerpoint«-Hilfsmittel des lauten Lesens geworden – wie sie in anderen Bereichen heutzutage tatsächlich zu einer solchen geworden ist. Die dramaturgisch – in der Zeit und im Raum der theatralischen Präsenz – entstehenden Kontexte des Werkes von Madách stützen sich in ganz besonderem Maße auf jenes Verhältnis, das zwischen der Raumzeit der Bühne und der in der Vorstellung thematisierten Raumzeit besteht. Die Schöpfungsgeschichte und die ganze Weltgeschichte lassen sich nicht leicht in das Medium einer gegebenen 22 | Pesti Hölgy-Divatlap vom 1. August 1863; Vasárnapi Újság vom 2. August 1863. 23 | Kittler: Optische Medien.

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Vorstellung fassen, aber dass sich die »Perspektive der Unendlichkeit« als Erfahrung gerade einer konkret-inszenierten Präsenz herausstellt, ist eine unumgehbare Bedingung zur oben skizzierten Umsetzung der Textwirkung. Bedingung und Ursache zugleich. Daraus folgend rechnet die dramatische Aufführung – ähnlich den Vorträgen des einstigen Schauspielers János Arany – in erhöhtem Maße mit der eigenartig auratischen Beschaffenheit der Präsenz, die beim Lesen der reproduziert-vervielfältigten Exemplare der dramatischen Dichtung nicht vorhanden ist.24 Es ist zugleich kaum zu bezweifeln, dass die Präsenzauffassung (der Performance-Charakter) der theatralischen Praxis oft mit mal für ideologistische, mal für repräsentationsartige Überbleibsel gehaltenen Aura-Interpretationen zusammenstößt. Trotzdem kann gesagt werden, dass »die auratische Art von grundlegender Bedeutung ist, und die theoretische Inquisition zu überleben scheint.«25 Die wertbeständigen (auch auf die Lesart der Dichtung zu wirken vermögenden) Theateraufführungen des Werks von Madách können als Zeugnis dafür dienen, dass die »Produktion von Präsenz«26 sehr wohl auf jener auratischen Einmaligkeit beruht, die in diesem Fall die jeweilige Aktualität des ins Historische Wechselns der theologischen Perspektive trägt und erschafft. Nicht allein durch die (einmal verkäufliche) Unwiederholbarkeit der Performance, sondern durch die als auratische Präsenz verstandene Individualität-Einmaligkeit lässt sich die Szenenfolge der Weltgeschichte als Ereignis der dramatischen Sprache präsentieren. Diese Erfahrung von Einmaligkeit lässt den Begriff der »geschehenden Geschichtlichkeit« in die Darlegung eingehen, das heißt, die Offenbarung und Zugänglichkeit der Geschichte durch Geschehnisse der Gegenwart.27 Zu alldem lohnt es sich, einige wichtigere Prozeduren der Regie und Dramaturgie der Uraufführung heranzuzitieren.28 (Es ist von Interesse, dass Ede Paulay genauso den zur Vorstellung gekürzten Text in der Kisfaludy Gesellschaft vorlas, wie einst János Arany.) Das Nationaltheater führte zu jener Zeit die für die Modernsten gehaltenen technischen Mittel ein, den so genannten Meininger Stil: 24 | Auf den Zusammenhang der theatralischen Präsenz und der auratischen Existenzart geht auch die bekannte Studie von Benjamin ein: Kunstwerk. 25 | Rosner: A színészi, S. 29. 26 | Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. 27 | Siehe Heidegger: Sein und Zeit, S. 72-77. 28 | Es ist nicht ohne Bedeutung, dass sich das Publikum noch an jene nahe Vergangenheit erinnern konnte, als das Theater der einzige Raum der Versammlungsfreiheit, des organisierten Zusammentreffens einer größeren Menge war. Und das Gebäude des Nationaltheaters drückte die Synthese des Diskurses des öffentlichen Lebens und des künstlerischen Diskurses erschaffende Tradition der europäischen Kultur mit der an einen griechischen Tempel erinnernden Fassade und den die arkadischen Landschaften der Kultur heraufbeschwörenden Zieraten von vornherein aus. Siehe Imre: Nemzet(iség). Zur Aufführung siehe noch Rákosi: Az ember; Paulay: Az ember; Gyárfás: Madách színháza; Kelényi: Paulay; Földesdy: Paulay Ede; Máté: Hermeneutikai dilemmák; Andor: Az ember.

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einen angewachsenen Bühnenraum und außergewöhnliche Beleuchtungen. Dadurch wurde möglich, dass das Bühnenbild nicht aus einer einzigen zentralen Perspektive aufgebaut gesehen werden konnte, das heißt, der Zuschauer wurde akkurat zur Interpretation des erhaltenen Anblicks, zur Orientierung des Bildes, zur Auswahl des Zentrums der sichtbaren Struktur aufgefordert. Die Bühne konnte so geteilt werden, dass die Bühnenbildelemente den Blick des Zuschauers quasi zum Suchen einluden. Diese letztere Polarisierung kam aber nur in den geschichtlichen Szenen zur Anwendung – die mit Orchesterouvertüre eingeleiteten Rahmenszenen bezeichneten mit aller Bestimmtheit den theologischen Bedeutungskreis der göttlichen Perspektive. (Die Musik von Gyula Erkel verwendete zwischen den Aufzügen »tutti«-Orchesterklänge, während bei den einzelnen Szenen die Effekte verschiedener Instrumentalgruppen zur akustischen Individualisierung beitrugen.29) Und der Bühnenraum konnte den Schauspieler und die von diesem dargestellte Figur auf die Art verbinden – das heißt, er schuf die Präsenzerfahrung der Vorstellung und zugleich ihre kulturelle Aura solchermaßen –, dass diese Synthese im Nacheinander der historischen Bilderreihe erfolgen sollte. (Hier sei die einstige interessante Lösung des 25. színház erwähnt, das im Jahre 1974 unter dem Titel M-A-D-Á-C-H ohne Rücksicht auf die Struktur, das heißt, auf die Abfolge der historischen Szenen, durch die Aufreihung einzelner Sätze bzw. Textteile das Werk zu aktueller Rede umschuf.) Das Überwechseln aus der theologischen Perspektive in die historisch-politischen Szenen ließ die Zuschauer die Welt ohne absolute Perspektive erleben, ja, es muss einen mit dem alltäglichen Raumerlebnis verwandten, aber historisch faszinierenden Eindruck erweckt haben.30 Inwieweit der reich dekorierte Historismus als »dekadente« Entwicklung des damaligen Ästhetizismus gleichzusetzen ist mit der Bedienung des damaligen »verfallenden« Geschmacks31, mit der Durchsetzung kultureller Stereotypen (Bedeutungskreise), sei dahingestellt, die Wirkung jedenfalls kann nicht geleugnet werden. Schon diese wenigen Momente lassen das Verhältnis der durch die Vorstellung geschaffenen theologischen und der politischen Kontextualität nachvollziehen, die imstande war sich auch in die Rezeption des literarischen Werkes einzuschreiben. Zweifellos ist Die Tragödie des Menschen dadurch ein zum Mittelpunkt des Kanons gehöriges literarisches Ereignis geworden, dass sie auf die genannte Art zu einem theatralischen Ereignis geworden war. Ihre Aufführung konnte durch die unzertrennliche Zusammengehörigkeit von Präsenz und Aura – man könnte sagen, durch die Akzeptanz der auratischen Präsenz – erreichen, dass der auf die menschliche Geschichte und auf ihren undurchdringlich erscheinenden Zukunftshorizont geworfene Blick von einer interpretierenden Kraft erfüllt werde, die imstande ist, die geschehende Erfahrung dieses Ereignisses aus 29 | Kaizinger: Erkel Gyula. 30 | Siehe Imre: Nemzet(iség), S. 73-87. 31 | Nietzsche: Der Fall Wagner.

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dem Theater ins Buch, aus dem Drama in die dramatische Dichtung zurück zu schreiben.

S chreibak t »z wischen A uge und H and « – K unst werk z wischen B uch und The ater Dem Obigen gemäß ist die gegenständliche Präsenz des Kunstwerks – die dialogische Gleichzeitigkeit seiner literarischen Existenzart und seiner Rezeption – durch seine auratische Erfahrung als geschichtliches Ereignis wahrnehmbar. Diese Erfahrung geht in diesem Fall grundlegend aus dem Rezeptionsgedächtnis der Theaterpräsenz in den Text der dramatischen Dichtung über. Die Partitur des Werkes von Madách erwies sich als außerordentlich geeignet, dass seine Gegenständlichkeit (seine diversen notationstechnischen Aufzeichnungen) über die verschiedenen Medien und Öffentlichkeitsebenen der Informationskanäle hinwegstrebend immer neue materielle Formen annimmt, und somit ist es seiner historischen Interpretation beschieden, das Nacheinander dieser Vermittlungen in sich aufnehmend in Erscheinung zu treten. »Der Eindruck« der Geschichtlichkeit, »der Kontinuierlichkeit wird dem Phänomen in solchen Fällen natürlich nicht durch Linearität, sondern durch die Konstanz der unterbrochenen und sich wiederholenden Erneuerungsfähigkeit verliehen.«32 Deshalb gilt jedes damit in Bezug stehende textologische Bestreben als verfehlt, wenn es das von ihm ausgezeichnete literale Stadium wiederherstellen oder in einer seiner Versionen als endgültig darstellen will. Im Falle der Tragödie des Menschen ist jene besondere mediale Entstehungsfolge – rezeptionsgeschichtliche Ereignisreihe – eingetroffen, die die Annahme einer begrenzten Identität des Werkes selber nicht zulässt, ja, auffallend leugnet. Zu ihrer jeweiligen Rezeption gehört von vornherein die vermittelnde Leistung jener kulturgeschichtlich unterschiedlichen Archive, ohne welche auch die ästhetische Erfahrung des Textes nicht entstehen könnte. Es gibt kein Kunstwerk in der ungarischen Literatur, bei dem sich die Interferenzwirkung der genannten Medien stärker zeigen würde. Diese vermittelnde und als solche erneuernde Fähigkeit konnte bezüglich des »zwischen Auge und Hand sich auftuenden Operationsraumes der Schrift«33 wahrgenommen werden (gemäß den mit der Rechtschreibung und dem »Geist« der Sprache zusammenhängenden Prozeduren der Schriftweise von Madách und Arany, als die Beschleunigung des Tempos der »langsamen Hand« die Formierung einer Rede bedeutete), und dann im Einklang damit beim sich auf die lebendige Rede Verlassen (deren Intersubjektivität, Aufforderungscharakter, die affektive Einstellung des Publikums betonend), spä32 | Kulcsár Szabó: Az irodalomtörténetírás, S. 34. 33 | Die Feststellung von Gernot Grube und Werner Kogge wird zitiert und interpretiert von Ernő Kulcsár Szabó: ebd., S. 17.

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ter bei der kommunikativ-dichterischen Verwendung der das literarische System begleitenden Diskursiven (Kontexte) (oder bei deren vorübergehendem Mangel), zuletzt bei der Rückwirkung und Rezeption der performativen Kraft und Aura der dramatischen Aufführung. Im Falle der Tragödie des Menschen scheint die wohl bekannte Auffassung, dass die gelungene literarische Interpretation in Wirklichkeit selber Literaturgeschichte ist, restlos durchsetzbar zu sein.

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Die Weltgeschichte als literarisches Ereignis

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Infame Ereignisse Leopold von Sacher-Masochs Venus im Pelz Achim Geisenhanslüke

1. E reignis , L atenz , I nfamie Was ein Ereignis ist, bleibt oft lange verborgen. Für Heidegger etwa ist die Seinsgeschichte nichts anderes als eine Geschichte der Latenz, der Verborgenheit, in der sich das Sein seit den Anfängen des abendländischen Denkens befand und aus dem es nie herausgetreten ist. Das Ereignis verkörpert vor diesem Hintergrund eine radikale Transformation des Seins, die zugleich eine Wesensveränderung des Menschen impliziert. Dem »Er-eignis übereignet zu werden« bedeutet Heidegger zufolge soviel wie einen »Wesenswandel des Menschen aus dem ›vernünftigen Tier‹ (animal rationale) in das Da-Sein«1 zu bewirken. An die Stelle des rationalen Tiers tritt das vom Ereignis gestiftete Dasein, dessen Existenzform Heidegger in geradezu mythischen Bildern herauf beschwört: »Das Seyn aber ereignet sich das Da-sein zur Gründung seiner Wahrheit, d.h. seiner Lichtung, weil es ohne diese Ent-scheidung seiner selbst in die Notschaft des Gottes und in die Wächterschaft des Da-seins im Feuer der eigenen ungelösten Glut sich verzehren müsste.«2 Heideggers Rede vom Feuer der eigenen ungelösten Glut bemüht das mythische Bild des Phönix, um den Wesenswandel des animal rationale in das Dasein begründen zu können. Mit weniger Pathos, aber der gleichen Entschiedenheit wie Heidegger hat Foucault das Ereignis zur Grundlage einer genealogischen Form der Geschichtsschreibung in der Tradition von Nietzsches Destruktion der christlichen Moral erklärt. »L’histoire ›effetive‹ fait resurgir l’événement dans ce qu’il peut avoir d’unique et d’aigu.«3 Mit diesen Worten markiert Foucault in seinem Aufsatz Nietzsche, la généalogie, l’histoire, der späten Hommage an seinen Lehrer Jean Hippolyte, die Bedeutung des Ereignisses für die Genealogie des Wissens. Was Foucault am Begriff des Ereignisses interessiert und ihn zum 1 | Heidegger: Beiträge, S. 3. 2 | Ebd., S. 488. 3 | Foucault: Dits et écrits, S. 148.

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Schüler Heideggers wie Nietzsches zugleich deklariert, ist das Moment der Einzigartigkeit, der Singularität, das dem Ereignis zukommt. Dabei betont Foucault zugleich, dass es keine Form des Verstehens und keine strukturale Bestimmung der Sprache geben kann, die je der Kategorie des Ereignisses gerecht werden könne. Für Foucault ist die Aussage, der allgemeinste Gegenstand seiner Archäologie des Wissens, ein »événement que ni la langue ni le sens ne peuvent tout à fait épuiser.«4 Vor diesem Hintergrund hat Anselm Haverkamp im Rekurs auf Freud wie auf Foucault die Latenz, die dem Ereignis zukommt, zum »Grundbegriff der Kulturwissenschaft«5 erklärt. Seiner Meinung nach »erfordert die Latenz eine ›Archäologie‹ der Geschichtseffekte, die in der Arbeit am Mythos immer wieder variiert, in zwanghafter Anamnesis immer neu wiederholt werden«.6 Das Zusammenspiel von Ereignis und Latenz, das Heidegger, Foucault und Haverkamp auf unterschiedliche Art und Weise seinsgeschichtlich, diskurstheoretisch und kulturwissenschaftlich zur Geltung bringen, gewinnt eine besondere Dringlichkeit, wenn es um etwas geht, das nicht nur vor der Öffentlichkeit lange verborgen bleibt, sondern wenn das ereignishafte Hervorbrechen zugleich zu einer Transformation nicht des Seins, sondern des Rufes führt. Es ist nicht nur so, wie Heidegger bereits in Sein und Zeit herausarbeitet, dass das Gewissen als Ruf der Sorge sich an das Dasein adressiert, um dieses zu seinen eigenen Möglichkeiten aufzurufen. Jenseits des letztlich theologischen Zusammenhangs von Gewissen und Schuld, auf den sich Heidegger bezieht, steht mit dem Ruf der gute Name auf dem Spiel. Infam ist ein Ereignis demnach nicht allein, wenn es ein Moment der Schändlichkeit mit sich führt, das der Instanz des Gewissens zuwiderläuft. Infam ist ein Ereignis, wenn das Dasein, das sich mit ihm und in ihm konstituiert, im Aufgeben der Latenz seinen guten Ruf verliert und sich der Ehrlosigkeit überantwortet sieht.7 Was das infame Ereignis als diskursiven Effekt begründet, ist den schlechten Ruf einer Person, einer Handlungsweise oder einer Tat. Einen solchen schlechten Ruf genießt Sacher-Masoch in doppelter Weise: als Schriftsteller, dem heutzutage trotz seiner öffentlichen Erfolge im 19. Jahrhundert literarische Qualität abgesprochen wird, und als Diskursbegründer einer abscheulichen sexuellen Perversion namens Masochismus. Mit Sacher-Masoch tritt der Masochismus gewissermaßen aus der Latenz an die Öffentlichkeit. Die Frage, wie sich solch eine Perversion verstehen lässt, ob sie sich überhaupt verstehen lässt, hat die Literaturwissenschaft, und nicht nur sie, lange Zeit vor Probleme gestellt. Denn mit dem Nichtverstehen des Masochismus ist dieser in eine Latenz zweiter Ordnung gewandert. Von der Literatur scheint dieses Verstehen zwar in andere Wissensgebiete, vor allem in das der Psychoanalyse, abgewandert zu sein. Das Nichtverstehen des Masochismus ist dadurch aber nicht aufgehoben, son4 | Foucault: Archéologie, S. 40. 5 | Haverkamp: Figura cryptica, S. 10. 6 | Ebd., S. 9. 7 | Zum Begriff der Infamie vgl. Geisenhanslüke/Löhnig: Infamie.

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dern nur auf einer höheren Ebene konserviert worden. Eine Archäologie der Literatur kann diese Latenz als Dimension herausarbeiten, die der Literatur gerade deswegen zukommt, weil sie sich dem Verstehen zugleich öffnet und verschließt. Vor diesem Hintergrund schlägt die folgende Untersuchung eine Lesart des Masochismus vor, die sich von der der Psychoanalyse signifikant unterscheidet und doch an diese anknüpfen kann. Im Mittelpunkt des Interesses steht neben den medialen Aspekten, die den Text im Zusammenspiel mit oft phantasmatischen Bildern bestimmen, die Vertragsstrukturen, die Sacher-Masochs Erzählung aufruft. Die Verträge erscheinen so als Grund einer literarischen Infamie, die zugleich in die Bereiche des Rechts hineinwirkt.

2. D as R ätsel des M asochismus Sacher-Masochs Erzählung Venus im Pelz gilt meist in ähnlicher Weise wie die Texte Sades als Paradigma obszöner Literatur. Als »›Unanständigkeit‹, ›Unzüchtigkeit‹, besonders in Hinsicht auf sexuelle und andere Tabuverletzungen« 8 wird das Obszöne meist verstanden und dabei auf eine Form des Gesetzesbruches bezogen: »Als obszön gilt – wie in anderen Bereichen, so auch in der Literatur – dasjenige, was jeweils einer gesellschaftlichen Gruppierung oder auch Einzelnen (vor allem hinsichtlich der Geschlechtlichkeit und ähnlich tabuisierter Bereiche) als ›grob-unschicklich‹ gilt und deshalb weder in Wort noch Bild öffentlich gezeigt werden soll.«9 Das Obszöne scheint dazu bestimmt zu sein, das Unschickliche, das, was aus der legitimen Darstellung ausgeschlossen worden ist, auf einer ästhetischen Ebene wieder verfügbar zu machen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass das Obszöne im Unterschied zum Pornographischen auf der rechtlichen Ebene so gut wie keine Rolle spielt, obwohl sich das Obszöne im Vergleich zum Pornographischen begriffsgeschichtlich »als die wesentlich umfassendere, dabei auch historisch variablere Kategorie«10 erweist. Das ist um so überraschender, als das Obszöne in der Geschichte vor allem auf die Bereiche der Sexualität und der Religion bezogen ist. Gerade durch diesen inhärenten Bezug zu Religion und Sexualität, wie er in der Literatur der Moderne exemplarisch bei Georges Bataille auf bricht, kann das Obszöne als eine Form des infamen Sprechens verstanden werden. Roger Willemsen besteht vor diesem Hintergrund auf der kritischen Funktion des Obszönen: »Die Unmittelbarkeit der Darstellung verhält sich zerstörerisch gegenüber den falschen sozialen Vorstellungen von der erotischen Verbindung.«11 Was das Obszöne vom Pornographischen unterscheide, sei die Unerregtheit der Darstellung, die selbst nicht Lust erzeuge: »In der Porno8 | Eder/Müller: Obszön, S. 732. 9 | Ebd. 10 | Ebd., S. 733. 11 | Willemsen: Über das Obszöne, S. 140.

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graphie zappelt der Körper am Faden des Intimen, im Obszönen zeigt er sich nur privat und unerregt.«12 Der Begriff des Obszönen verdeckt aber zugleich die Frage nach der Ordnung, der Sacher-Masochs Erzählung zukommt. Denn ein innerer Zusammenhang zwischen Sacher-Masochs literarischen Texten und dem psychischen bzw. medizinischen Phänomen des Masochismus scheint letztlich gar nicht gesichert zu sein. Zwar wird der Name Sacher-Masochs bis heute mit dem Begriff des Masochismus – und nurmehr mit diesem – verbunden. Verantwortlich dafür ist aber nicht Sacher-Masoch selbst, sondern vor allem Krafft-Ebing, der die von ihm so bezeichnete Form der sexuellen Perversion umstandslos nach dem literarischen Autor benannt hat: »Anlass und Berechtigung, diese sexuelle Anomalie ›Masochismus‹ zu nennen, ergab sich daraus, dass der Schriftsteller Sacher-Masoch in seinen Romanen und Novellen diese wissenschaftlich damals noch gar nicht bekannte Perversion zum Gegenstand seiner Darstellungen überaus häufig gemacht hatte.«13 Für Krafft-Ebing besteht kein Zweifel daran, dass der Masochismus als eine sexuelle Form der Perversion angesprochen werden muss, die sich aus Sacher-Masochs Schreiben ableiten lässt und die eine Tendenz zur Effeminierung des Ich mit sich führt. Noch Freud sieht den Masochismus in ähnlicher Art und Weise. Unter dem Masochismus versteht er »alle passiven Einstellungen zum Sexualleben und Sexualobjekt, als deren äußerste die Bindung der Befriedigung an das Erleiden von physischem oder seelischem Schmerz von seiten des Sexualobjektes erscheint.«14 (V, 57) Dabei geht Freud in ähnlicher Weise wie Krafft-Ebing nicht nur davon aus, dass die Passivität, die dem Masochismus zugrundeliege, als Devianz männlicher Genitalität zu verstehen sei, sondern dass der Masochismus letztlich ein Phänomen darstelle, das sich aus der Umkehrung des Sadismus herleiten lasse. Er vertritt die These, »daß der Masochismus nichts anderes ist als eine Fortsetzung des Sadismus in Wendung gegen die eigene Person« (V, 57) und geht vor diesem Hintergrund ausdrücklich auf den Zusammenhang von Schmerz, Ekel und Scham ein, der den Masochismus bestimme – ebenso aber das Werk Kafkas, das in mancherlei Hinsicht auf das Sacher-Masochs reagiert. Was Freud jedoch von Krafft-Ebing grundlegend unterscheidet, ist sein anders geartetes Verständnis der Perversion. Er ist der Meinung, »daß die Anlage zu den Perversionen die ursprüngliche allgemeine Anlage des menschlichen Geschlechtstriebes sei« (V, 132). Für Freud sind Perversionen im allgemeinen Sinne nicht Zeichen des Abnormalen, sondern vielmehr Zeichen einer ursprünglichen Bestimmtheit des Geschlechtstriebes, die nur durch lange zivilisatorische Bemühungen – und selbst das oft nur oberflächlich und letztlich sogar vergeblich – kontrolliert werden konnten. Trotz dieser prinzipiellen Offenheit gegenüber dem 12 | Ebd., S. 141. 13 | Krafft-Ebing: Psychopathia Sexualis, S. 101. 14 | Freud: Drei Abhandlungen. Im Folgenden Band und Seitenzahl durch römische und arabische Ziffern im Text abgekürzt.

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Reich der Perversionen, die ihn von Krafft-Ebing unterscheidet, ist Freuds Einstellung gegenüber dem Masochismus nicht ohne kritische Reserve. So versichert er, dass der Masochismus entgegen aller aufklärerischen Bemühungen zu seiner Aufhellung »ökonomisch rätselhaft«15 (XIII, 371) bleibe. Der Grund liegt in der Außerkraftsetzung des Lustprinzips, die der Masochismus mit sich führe: »Wenn Schmerz und Unlust nicht mehr Warnungen, sondern selbst Ziele sein können, ist das Lustprinzip lahmgelegt, der Wächter unseres Seelenlebens gleichsam narkotisiert.« (XIII, 371) Wie kann eine Unlust zum Ziel der Lust werden, das ist die Frage, die Freud an den Masochismus stellt. Während der Sadismus auf die unmittelbare Lusterfahrung verweise, die das Zufügen von Schmerz bedeuten kann, bleibe letztlich unklar, wie der Lustgewinn im Fall des Masochismus durch das Erleiden von Schmerz zu erklären sei. Um eine Antwort auf seine Frage zu finden, unterscheidet Freud drei Formen des Masochismus: »Er tritt unserer Beobachtung in drei Gestalten entgegen, als eine Bedingtheit der Sexualerregung, als ein Ausdruck des femininen Wesens und als eine Norm des Lebensverhaltens (behaviour).« (XIII, 373) Freud geht in seinen Überlegungen allgemein von der Unterscheidung eines »erogenen, fe m ininen und mora lisc hen Masochismus« (XIII, 373) aus. Dabei privilegiert er zunächst die erste Form: »Der erstere, der erogene Masochismus, die Schmerzlust, liegt auch den beiden anderen Formen zugrunde, er ist biologisch und konstitutionell zu begründen, bleibt unverständlich, wenn man sich nicht zu einigen Annahmen über ganz dunkle Verhältnisse entschließt.« (XIII, 373) In methodischer Hinsicht sei jedoch der feminine Masochismus »am besten zugänglich, am wenigsten rätselhaft« (XIII, 374). In ihm beobachtet Freud eine Nähe zur Impotenz und zur Onanie. Ihm erscheint der »Masochist wie ein kleines, hilfloses und abhängiges Kind«, »besonders aber wie ein schlimmes Kind« (XIII, 374). Dabei führt er die Passivität, die den Masochismus kennzeichne, auf ein spezifisches Verständnis von Weiblichkeit zurück: Es gehe im Wesentlichen darum, »die Person in eine für die Weiblichkeit charakteristische Situation [zu] versetzen, also Kastriertwerden, Koitiertwerden oder Gebären« (XIII, 374). Freud geht von einer »Übereinanderschichtung des Infantilen und des Femininen« (XIII, 374f) aus, die er dem Begriff des femininen Masochismus zugrundelegt. Um dagegen den erogenen Masochismus näher zu bestimmen, nimmt er einen großen Umweg, den des Todestriebes: »Wenn man sich über einige Ungenauigkeiten hinaussetzen will, kann man sagen, der im Organismus wirkende Todestrieb – der Ursadismus – sei mit dem Masochismus identisch.« (XIII, 377) Für Freud ist der Masochismus ein »Zeuge und Überrest jener Bildungsphase, in der die für das Leben so wichtige Legierung von Todestrieb und Eros geschah« (XIII, 377). Erklärbar sei die ökonomische Rätselhaftigkeit des Masochismus nur, wenn davon ausgegangen wird, dass das Leben von Beginn an nicht allein von

15 | Freud: Das ökonomische Problem.

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Lustgewinn bestimmt sei, sondern zugleich von dem unbewussten Wunsch, in das Stadium des Unbelebten als dem eigentlich Schmerzlosen zurückzugehen. Vor diesem Hintergrund gelangt Freud abschließend auch zu einer Bestimmung des moralischen Masochismus. In ihm erkennt er eine Lockerung der Beziehung zur Sexualität, an deren Stelle die innere Instanz des Gewissens trete. Zugleich schenkt er der dritten Form besondere Aufmerksamkeit: »Die dritte, in gewisser Hinsicht wichtigste Erscheinungsform des Masochismus, ist als meist unbewußtes Schuldgefühl erst neuerlich von der Psychoanalyse gewürdigt worden, läßt aber bereits eine volle Aufklärung und Einreihung in unsere sonstige Erkenntnis zu.« (XIII, 373f) Freuds Einsichten gewinnen in diesem Zusammenhang geradezu aphoristische – und zugleich blasphemische – Qualitäten, wenn er Masochismus und Christentum in einer brillanten rhetorischen Wendung engführt: »[D]er richtige Masochist hält immer seine Wange hin, wo er Aussicht hat, einen Schlag zu bekommen.« (XIII, 378) Das unbewusste Schuldgefühl, das den Masochisten quält, beruhe auf der »Herrschaft eines besonders empfindlichen Gewissens« (XIII, 381). Freud stellt die Gewissensbildung als Grund der Moral in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Masochismus: »Gewissen und Moral sind durch die Überwindung, Desexualisierung des Ödipuskomplexes entstanden; durch den moralischen Masochismus wird die Moral wieder sexualisiert, der Ödipuskomplex neu belebt, eine Regression von der Moral zum Ödipuskomplex angebahnt.« (XIII, 382) Sein lakonischer Kommentar lautet: »Dies geschieht weder zum Vorteil der Moral noch des Individuums.« (XIII, 382) So stellt sich mit Freud die Frage, wie sich das Rätsel des Masochismus, das Krafft-Ebing aus dem Namen Sacher-Masochs abgeleitet hatte, letztlich auflösen lässt.

3. I nfame V ertr äge : L eopold von S acher -M asochs Venus im P elz Von Leopold von Sacher-Masochs Namen ist wenig mehr geblieben als die Bezeichnung des Masochismus für eine bestimmte, meist als deviant beurteilte sexuelle Prägung. War er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch ein über die deutschsprachige Tradition bis hin nach Frankreich populär wirkender Autor, so ist er spätestens mit den Innovationen der Jahrhundertwende aus dem Kanon der Literatur ausgeschieden. Allenfalls seine Erzählung Die Venus im Pelz ist – und auch das oft über populäre Aneignungen in Film und Musik – im kulturellen Gedächtnis verblieben, meist als Chiffre für ein abseitiges Begehren, das irgendwie in den Bereich des Pornographischen weist. Sacher-Masochs Text erschöpft sich jedoch nicht in der sexuellen Bestimmung des Masochismus, die Krafft-Ebing, Freud und letztlich auch die meist einseitige Rezeption seiner Erzählungen interessieren. Vielmehr ist die retro­ spektive Darstellung einer erotischen Verwirrung von Beginn an mit kulturellen Problemen verbunden, die sich in einer für das 19. Jahrhundert nicht untypischen

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geschichtsphilosophischen Konstellation entfalten. Der Text führt die Hauptfigur nicht ohne Ironie im Traum bei der Lektüre Hegels ein und erweitert diese Perspektive zu grundsätzlichen Reflexionen über das Geschlechterverhältnis. Im Traum tritt dem Erzähler die Göttin der Liebe als Marmorstatue auf, nicht als »Dame der Halbwelt«, sondern als »die wahrhafte Liebesgöttin«, den »Marmorleib in einen großen Pelz gewickelt«16. Michiel Sauter hat vor diesem Hintergrund darauf hingewiesen, dass das Bild der marmornen Venus auf Eichendorffs Erzählung Das Marmorbild zurückgeht.17 Was beide Texte miteinander verbindet, ist die Darstellung eines männlichen Begehrens, das sich mit einer mütterlichen Figur emotionaler Kälte konfrontiert sieht, die den Protagonisten durch ein Liebesversprechen ganz in ihren Bann zu schlagen vermag, bevor eine Heilung einsetzt, die das unnatürliche Begehren einer in die römische Antike verweisenden Statue wieder in die Bahn des Normalen zurückführt. Die Diskussion, die sich in der Venus im Pelz eingangs zwischen dem Träumenden und der verführerischen Marmorstatue entspinnt, dreht sich dementsprechend ganz um das Thema Liebe und Grausamkeit: Die völlige Unterwerfung des Mannes unter die Frau, die durch die Begegnung mit der kalten und doch lasziven Instanz des Marmornen aufscheint, diskutiert der Text in kulturellen Stereotypen wie dem Gegensatz von heidnisch und christlich, von südlich und nördlich, um daraus ein kulturell vermitteltes Geschlechterverhältnis abzuleiten, dass sich allein aus Gegensätzlichkeiten ergibt. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass die Darstellung des masochistischen Begehrens im Text von Beginn an in den Kontext bildlicher Repräsentationen gestellt wird. Sacher-Masoch erweitert die Problematik des Traums und der darin auftretenden Statue in einer zweiten Rahmenhandlung um den Besuch des Erzählers bei seinem Freund Severin, bei dem er auf ein großes Ölgemälde aufmerksam wird, auf dem er eine Figur erkennt, die ihn an seine Marmorstatue erinnert: Ein schönes Weib, ein sonniges Lachen auf dem feinen Antlitz, mit reichem, in einen antiken Knoten geschlungenem Haare, auf dem der weiße Puder wie leichter Reif lag, ruhte, auf den linken Arm gestützt, nackt in einem dunkeln Pelz auf einer Ottomane; ihre rechte Hand spielte mit einer Peitsche, während ihr bloßer Fuß sich nachlässig auf den Mann stützte, der vor ihr lag wie ein Sklave, wie ein Hund, und dieser Mann, mit den scharfen, aber wohlgebildeten Zügen, auf denen brütende Schwermut und hingebende Leidenschaft lag, welcher mit dem schwärmerischen brennenden Auge eines Märtyrers zu ihr emporsah, dieser Mann, der den Schemel ihrer Füße bildete, war Severin, aber ohne Bart, wie es schien, um zehn Jahre jünger.18

16 | Sacher-Masoch: Venus, alle Zitate S. 9. 17 | Vgl. Sauter: Marmorbilder. 18 | Sacher-Masoch: Venus, S. 14.

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Sacher-Masoch führt die Figur der Venus in den bildlichen Formen der Statue und des Ölgemäldes in den Text ein. Die mediale Differenz zwischen Text und Bild, die damit aufscheint, verschränkt nicht nur die gegensätzlichen Kulturbereiche des heidnischen Südens der Antike mit dem christlichen Norden der Moderne. Er macht darüber hinaus vielmehr deutlich, dass das masochistische Begehren von vorneherein auf ein Bild bezogen ist. In der Begrifflichkeit Lacans überlagern sich mit der medialen Differenz von Text und Bild zugleich die beiden Ebenen des Symbolischen und des Imaginären auf eine Art und Weise, die die Instanz der Schrift auf eine ursprüngliche Dimension des Bildlichen zurückführt und zugleich als den Versuch ausgibt, eine Art Urszene nachträglich aufzurollen. Mit der doppelten Rahmenerzählung von Statue und Ölgemälde rückt die Geschichte in die unmittelbare Nähe einer psychoanalytischen Fallgeschichte, mit der sie auch den novellistischen Erzählgestus teilt.19 Die typisierende Gegenüberstellung von Antike und Moderne, von Heidentum und Christentum, verknüpft der Text mit einer nicht minder eindeutigen Gewichtung der Geschlechterverhältnisse. Sie lasse dem Mann nur eine Wahl: »der Tyrann oder der Sklave des Weibes zu sein«.20 Die Lektüre Hegels war schon der Grund für den Traum des Erzählers gewesen, in dem ihm die Marmorstatue begegnete, und so mag es nicht verwundern, dass die Darstellung der Geschlechterverhältnisse bei Sacher-Masoch ganz in die Hegelsche Dialektik von Herr und Knecht eingebettet wird. In der Venus im Pelz geht es um die wechselseitige Anerkennung von Mann und Frau, die nicht anders als ein vertikal verlaufendes Gewaltverhältnis zu begreifen ist, an deren Ende die Umkehr der Unterwerfung unter die Frau durch ein anderes Gewaltverhältnis steht. Mit der medialen Differenz von Bild und Text, die durch die Marmorstatue und das Ölgemälde eingeführt wird, geht eine doppelte Bewegung der Verlebendigung einher, die sich auf das Schreiben wie das Begehren des Erzählers gleichermaßen richtet. Eingeleitet wird der mediale Wechsel durch die Lektüre des Tagebuches von Severin. Der Erzähler erblickt eine Schrift, die »nicht mit gewöhnlicher Tinte, sondern mit dem roten Blute, das aus meinem Herzen träufelt«21, geschrieben ist. Der äußerlichen, kalten Ordnung des Bildes steht das warme Herzblut einer Schrift entgegen, deren erotisches Ziel in einer Verlebendigung des Begehrens liegt, die der Text zugleich mit dem Pygmalionmythos in Verbindung setzt. Im Wechsel vom Medium des Bildes zu dem der Schrift wird die Geliebte, die zunächst aus totem Stein gebaut zu sein scheint, zu einer Figur aus Fleisch und Blut: »da war mir’s, als hätte sich das schöne Marmorweib meiner erbarmt und sei lebendig geworden«22 . Die Verlebendigung der Marmorstatue in 19 | Zum Zusammenhang von Novelle und Psychoanalyse vgl. Geisenhanslüke: Das Schibboleth, S. 17-30. 20 | Sacher-Masoch: Venus, S. 16. 21 | Ebd., S. 17. 22 | Ebd., S. 20.

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eine Frau aus Fleisch und Blut, die sich letztlich als ebenso kalt wie ihr Vorbild erweisen soll, erinnert zwar nicht von ungefähr an den Mythos von Pygmalion. Ihre Eigenheit ergibt sich jedoch gerade in der Differenz zur klassischen Vorlage und dem dort artikulierten Bild des männlichen Begehrens. Was bei Ovid ganz auf die bildnerische Tätigkeit des schamvollen Mannes zurückgeht, der sich zunächst der Venus verweigert, um sich erst dann dem von eigener Hand geschaffenen Werke hinzugeben – »Weißes Elfenbein schnitzte indes mit glücklicher Kunst und/gab ihm eine Gestalt, wie sie nie ein geborenes Weib kann/haben, und ward von Liebe zum eigenen Werke ergriffen«23, heißt es über den Künstler Pygmalion –, das schildert Sacher-Masoch als christliches Erbarmen, das das Marmorweib mit dem Träumer habe. In der Gestalt der russischen Witwe, rothaarig und grünäugig wie eine sehr zeitgenössische femme fatale, begegnet dem Erzähler die lebendig gewordene Statue, die er fortan verehrt: Da »sitzt Venus, das schöne, steinerne Weib, nein die wirkliche Liebesgöttin, mit warmem Blute und pochenden Pulsen, vor mir auf einer steinernen Bank. Ja, sie ist mir lebendig geworden, wie jene Statue, die für ihren Meister zu atmen begann«24. Überdeutlich ist der Verweis auf den Pygmalionmythos im Text inszeniert. Nichtsdestotrotz entfaltet sich die Liebesgeschichte zwischen dem Erzähler und der schönen Witwe in bezeichnender Differenz zum Mythos: Wo Pygmalion von der von ihm aus Verzweiflung angerufenen Venus unmittelbar erhört wird und aus dem Tempel nach Hause geeilt die lebendige Frau findet, die neun Monate später die Tochter Paphos gebärt, da stellt sich die masochistische Liebe, wie Sacher-Masoch sie schildert, als eine Geschichte des Aufschubs und der damit verbundenen Verträge dar, die gar nicht auf erotische Erfüllung zielen, sondern auf etwas anderes. »Die Form des Masochismus ist das Warten.«25 Auf die förmliche Anfrage, ob er ihr Sklave sein darf, erfolgt ein komplizierter Vertrag, der zugleich ein bestimmtes Bild der Frau voraussetzt. Es ist nicht die von der Venus eingesetzte, zudem aber dem Mann treu ergebene Frau Pygmalions, die Severin begehrt: »Dann will ich lieber einem Weibe ohne Tugend, ohne Treue, ohne Erbarmen hingegeben sein. Ein solches Weib in seiner selbstsüchtigen Größe ist auch ein Ideal. Kann ich nicht das Glück der Liebe voll und ganz genießen, dann will ich ihre Schmerzen, ihre Qualen auskosten bis zur Neige; dann will ich von dem Weibe, das ich liebe, mißhandelt, verraten werden, und je grausamer, um so besser. Auch das ist ein Genuß!«26 Nicht erotische Erfüllung wie Pygmalion will Severin, sondern Schmerz und Qual. Die Frage, was sich hinter dieser seltsamen Wahl verbirgt, führt auf eine ganze Abfolge von Urszenen im psychoanalytischen Sinne zurück. So erinnert sich der Erzähler zunächst an eine Statue im Garten des Hauses: »Einmal verließ ich nachts mein Bett, um sie zu besuchen, die Mondsichel leuchtete mir und ließ die 23 | Ovid: Metamorphosen, X,246-249. 24 | Sacher-Masoch: Venus, S. 22. 25 | Deleuze: Sacher-Masoch, S. 222. 26 | Sacher-Masoch: Venus, S. 37f.

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Göttin in einem fahlblauen kalten Licht erscheinen. Ich warf mich vor ihr nieder, küßte ihre kalten Füße, wie ich es bei unsern Landleuten gesehen hatte, wenn sie die Füße des toten Heilands küßten.«27 Die Frage, die sich vor dem Hintergrund dieser überdeutlichen Inszenierung eines erotischen Begehrens stellt, das im Unterschied zu Pygmalion die Kälte des Steins dem warmen Blute vorzieht, ist die nach der Form der Subjektivität, die sich in der Umleitung des Begehrens auf die marmorne Statue konstituiert. Der Text beantwortet diese Frage, indem er eine zweite Urszene einführt, die der Bestrafung des Knaben durch seine Tante: Eines Tages fuhren meine Eltern in die Kreisstadt. Meine Tante beschloß ihre Abwesenheit zu benützen und Gericht über mich zu halten. Unerwartet trat sie in ihrer pelzgefütterten Kazabaika herein, gefolgt von der Köchin, Küchenmagd und der kleinen Katze, die ich verschmäht hatte. Ohne viel zu fragen, ergriffen sie mich und banden mich, trotz meiner heftigen Gegenwehr, an Händen und Füßen, dann schürzte meine Tante mit einem bösen Lächeln den Arm empor und begann mich mit einer großen Rute zu hauen, und sie hieb so tüchtig, daß Blut floß und ich zuletzt, trotz meinem Heldenmut, schrie und weinte und um Gnade bat. Sie ließ mich hierauf losbinden, aber ich mußte ihr knieend für die Strafe danken und ihre Hand küssen. 28

Die Darstellung wirkt wie eine Vorwegnahme und damit zugleich wie eine Parodie der Freudschen Urszene. Der Grund für die Bestrafung ist die Tatsache, dass der junge Severin die erotischen Zudringlichkeiten der Küchenmagd zurückgewiesen, in der Diktion des Mythos die Weihen der Venus verschmäht hat. Auf den Ausfall der altersgerechten genitalen Sexualität folgt die Strafe buchstäblich auf den Fuß: Als Urbild der Venus im Pelz tritt die Tante auf und peitscht den Erzähler aus. Allzu genau zeichnet Sacher-Masoch die Geburt des masochistischen Begehrens nach: »Nun sehen Sie den übersinnlichen Toren! Unter der Rute der schönen üppigen Frau, welche mir in ihrer Pelzjacke wie eine zürnende Monarchin erschien, erwachte in mir zuerst der Sinn für das Weib, und meine Tante erschien mir fortan als die reizendste Frau auf Gottes Erdboden.«29 Der Masochismus, so wird auch Freud betonen, verkehrt die Strafe in Lust: An die Stelle der sexuellen Erregung durch die verführerische Frau, hier verkörpert durch die Küchenmagd, tritt der Umweg einer Lust durch Bestrafung, die sich auf die Fetischobjekte Pelz, Pantoffel und Peitsche verschiebt. Auf die Frage nach dem Reiz der Venus im Pelz antwortet der Erzähler: »ich habe ihnen schon wiederholt gesagt, daß im Leiden ein seltsamer Reiz für mich liegt, daß nichts so sehr imstande ist, meine Leidenschaft anzufachen als die Tyrannei, die Grausamkeit, und vor allem die Treulosigkeit eines schönen Weibes. Und dieses Weib, dieses seltsame Ideal aus der Ästhetik des Häßlichen, die Seele eines Nero im Leibe einer Phryne, 27 | Ebd., S. 40. 28 | Ebd., S. 41. 29 | Ebd.

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kann ich mir nicht ohne Pelz denken.«30 Der Masochismus, so scheint es, gründet auf einer Phantasie, auf dem Traum einer Misshandlung durch die Venus im Pelz, auf der Umwandlung von Unlust und Lust, in der Freud zugleich das große ökonomische Rätsel des Masochismus erkannte. Aber hat Sacher-Masoch dieses Rätsel wirklich gelöst? So sehr sich Sacher-Masochs Darstellung eines abseitigen erotischen Begehrens in Venus im Pelz auch in Übereinstimmung mit der Psychoanalyse zu befinden scheint, ein Moment lässt die psychoanalytische Deutung des Masochismus außer Acht: die Tatsache, dass das masochistische Begehren an das Aufsetzen eines genau ausgearbeiteten Vertrages gebunden ist. »Die Besessenheit ist der dem Sadisten, der Pakt der dem Masochisten eigene Wahn«31, kommentiert Deleuze, um das Band zwischen Sadismus und Masochismus, das die Psychoanalyse errichtete, zu zerschneiden. Die Deutung des Masochismus als sexueller Perversion verbindet sich mit der Rechtsfrage nach seinen vertraglichen Grundlagen. Ihre entscheidende Klausel scheint in ähnlicher Weise wie in einem Ehevertrag in der Versicherung des gemeinsamen Zusammenlebens zu bestehen, das durch keine Trennung aufgehoben und durch keine Auslieferung an einen ihrer Anbeter beendet werden kann. Der Vertrag setzt dem masochistischen Begehren eine Grenze, die zugleich seine Erfüllung ist: die Phantasie, von der geliebten und doch kalten Frau verlassen und aufgegeben zu werden wie ein Stück Dreck. Der Strategie des Aufschubs entsprechend, die dem masochistischen Begehren zugrunde liegt, schildert der Text die Übertretung und Erfüllung der Vertragsgrenze als Folge von Versuchungen, denen Wanda zunächst widersteht. Der erste Verehrer ist ein russischer Fürst, der sich um sie bemüht, der zweite ist deutscher Maler, der ein Bildnis der Jungfrau Maria aus der schönen Venus machen will und ihr wie schon der Erzähler hoffnungslos verfällt. Der künstlerische Versuch einer Übertragung der antiken Venusstatue in ein christliches Marienbild erscheint als ein letztlich scheiternder Akt der Sublimierung, der die Frau wieder in ein Bild verwandeln möchte und dabei der erotischen Anziehungskraft der spröden Schönen unterliegt. Auch ihm setzt sie den Fuß auf den Nacken, demütigt ihn, bis nichts als die Flucht bleibt. Erst in der dritten Versuchung, dem schönen Griechen, der noch hinter Rom in die Ursprünge der klassischen Antike zurückführt, vollendet sich das Phantasma, von der Geliebten für einen anderen verlassen zu werden. Wie bei der Darstellung des Ursprungs, so greift der Erzähler auch bei der Darstellung der letzten Grenze, die dem masochistischen Begehren gesetzt ist, auf ein mythisches Bild zurück. Es ist jedoch nicht mehr das des Künstlers Pygmalion, sondern das des Flötenspielers Marsyas. Der dritte Anbeter, der schöne Grieche mit dem Namen Alexis Papadopolis, verwandelt sich in »Apollo, der den Marsyas schindet«32, Se30 | Ebd., S. 45. 31 | Deleuze: Sacher-Masoch, S. 177. 32 | Sacher-Masoch: Venus, S. 113.

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verin selbst in den Satyr, aus dessen Tränen bei Ovid der klarste der phrygischen Flüsse entsteht. Die Präsenz des schönen Griechen als apollinischem Peitschengott bringt den Erzähler an jene Grenze, die er insgeheim ersehnt hat. In einem Brief an Wanda schreibt er: »Solange Sie jedoch nur grausam und unbarmherzig waren, konnte ich Sie noch lieben, jetzt aber sind sie im Begriffe, gemein zu werden.«33 Der Gemeinheit, die er Wanda unterstellt, entspricht die infame Bestrafung, deren Opfer er wird. Sie erst erniedrigt ihn endgültig zu einem Wesen, das seine im Vertrag festgehaltene Ehre vollständig verliert und daher auch nicht mehr das Rechtssubjekt sein kann, das an einen Vertrag gebunden ist. Dass hier eine Grenze überschritten ist, die zugleich die Grenze zwischen Ehre und Ehrlosigkeit markiert, macht der Text explizit: »Das übertraf meine Phantasie.«34 Was die Phantasie des Erzählers übersteigt, ist die Verwandlung in den gefolterten Marsyas, dem bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen wird: »[I]ch war gebunden wie Marsyas und mußte sehen, wie sich Apollo anschickte, mich zu schinden.«35 Nicht nur er schaut seiner Misshandlung aber zu, sondern zugleich die von ihm verehrte Frau: »Das Gefühl, vor einem angebeteten Weibe von dem glücklichen Nebenbuhler mißhandelt zu werden, ist nicht zu beschreiben, ich verging vor Scham und Verzweiflung.«36 Scham und Verzweiflung markieren die Erfüllung des vollständigen Verlustes aller Ehre und Persönlichkeitsrechte, die im Vertrag zwischen dem Erzähler und Wanda noch Eingang fanden. »Nichts als Wunde war er«37, heißt es bei Ovid. Am Ende findet sich auch Severin nur noch als geschundener Körper, der sich nicht länger mit seinen Phantasien eins weiß: Und das Schmachvollste war, daß ich in meiner jämmerlichen Lage, unter Apollos Peitsche und bei meiner Venus grausamem Lachen anfangs eine Art phantastischen, übersinnlichen Reiz empfand, aber Apollo peitschte mir die Poesie heraus, Hieb für Hieb, bis ich endlich in ohnmächtiger Wut die Zähne zusammenbiß und mich, meine wollüstige Phantasie, Weib und Liebe verfluchte. Ich sah jetzt auf einmal mit entsetzlicher Klarheit, wohin die blinde Leidenschaft, die Wollust, seit Holofernes und Agamemnon den Mann geführt hat, in den Sack, in das Netz des verräterischen Weibes, in Elend, Sklaverei und Tod. Mir war es, wie das Erwachen aus einem Traum. 38

Auch Kafkas Gregor Samsa erwacht aus einem Traum, um sich als ungeheures Ungeziefer allein und mit einem Bild der Venus im Pelz im Zimmer zu finden. Was bei Kafka am Anfang einer Geschichte steht, die mit der völligen Entrech33 | Ebd., S. 122f. 34 | Ebd., S. 133. 35 | Ebd., S. 135. 36 | Ebd., S. 136. 37 | Ovid: Metamorphosen, XI,388. 38 | Sacher-Masoch: Venus, S. 136.

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tung und dem Tod des Sohnes endet, das steht bei Sacher-Masoch am Schluss einer Erzählung, die sich zugleich als Therapie verstehen will. In einem Brief schreibt Wanda dem Erzähler: »Ich hoffe, Sie sind unter meiner Peitsche gesund geworden, die Kur war grausam aber radikal.«39 Hat die Therapie aber überhaupt angeschlagen? Und woran genau ist Severin denn eigentlich erkrankt? Die Psychoanalyse hat das Rätsel des Masochismus zu lösen versucht, indem sie den Masochismus auf das Moment des Erogenen zurückführte und in diesem die symbolische Verwandlung des aktiven Mannes in ein passives Weib erblickte, in den Phantasien um das Kastriertwerden, Koitiertwerden oder Gebären zugleich den Grund für eine Regression von moralischen Errungenschaften in den Abgrund des Ödipuskomplexes annahm. Der Text von Sacher-Masoch unterstützt diese Deutung des Masochismus, begründet sie geradezu, stellt sie darüber hinaus zugleich in den rechtlichen Kontext des Verlustes der männlichen Ehre, der im Text inszeniert wird. Gleich auf doppelte Weise entzieht er seiner psychoanalytischen Lesbarkeit die Grundlage: indem er ein Rechtsverhältnis in das Zentrum der Erzählung stellt, und indem er den Masochismus von seiner Bindung an das ursprünglichere Phänomen des Sadismus löst. Seit Krafft-Ebing und selbst noch für Freud gilt der Masochismus als das schwächliche Pendant des Sadismus. Auf die umgekehrten Vorzeichen, unter denen der Masochismus in der Moderne das Erbe Sades antritt, hat dagegen schon Albrecht Koschorke hingewiesen. »Sade, dem Masoch oft typisierend gegenübergestellt wird, verfolgte in seinen Schriften das philosophische Programm einer Rationalisierung der Begierde. SacherMasoch hat ein entgegengesetztes Ziel. Ihm ist es um die Sexualisierung der Herrschaft zu tun.«40 Die Sexualisierung der Herrschaft, die Sacher-Masoch in seiner Venus im Pelz vorführt, lässt sich in diesem Zusammenhang mit Deleuze als »die zur Technik gesteigerte Kunst des Phantasmas«41 und mit Koschorke als »Verdinglichung von Ängsten«42 verstehen, deren Ziel in der Transformation von Angst in Lust bestehe. Im Zentrum des Masochismus steht demnach nicht die spiegelbildliche Verkehrung des Sadismus im ökonomisch rätselhaften Wunsch, Schmerz zu erleiden, sondern die frühkindliche Angst des Verlassenwerdens, die das masochistische Begehren abzuwenden sucht, indem sie vertraglich garantierten Aufschub erwirkt. Die Schmerzen, die das masochistische Subjekt erleidet, tauscht es gegen die Sicherheit, in seinem Schmerz nicht allein bleiben zu müssen. Was mit dieser gewiss fragilen Transformation von Angst und Lust zugleich in Frage steht, ist die Frage nach der Subjektbildung im Kontext der Infamie. Auf die vertraglichen Verbindlichkeiten des masochistischen Selbst hat Koschorke ausdrücklich hingewiesen. Er unterstellt sie einer grundlegenden Aporie, die das Rätsel des Masochismus erst begründe: »Formal ist eine Abmachung nur 39 | Ebd., S. 137. 40 | Koschorke/Sacher-Masoch: Die Inszenierung, S. 38. 41 | Deleuze: Sacher-Masoch, S. 218. 42 | Koschorke/Sacher-Masoch: Die Inszenierung, S. 86.

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gültig, wenn ein mündiges Rechtssubjekt sie eingeht; der masochistische Vertrag aber besteht inhaltlich in der Auslöschung dieses Rechtssubjekts.«43 Was das masochistische Phantasma offenbart, ist eine Vernichtung des Rechtssubjekts in dem schriftlichen Akt, der den Rechtszustand erst herstellen soll. So dient der Vertrag letztlich nicht der Begründung eines Rechtsverhältnisses, sondern der Aufhebung der Rechtlichkeit. »Der Masochismus ist Selbstvernichtung als autonomes Spiel des Selbst«44, formuliert Koschorke prägnant. Damit kann der Masochismus nicht nur als eine Formierung der Sexualität verstanden werden, die den Bedingungen der viktorianischen Sexualrepression entspricht, wie Koschorke es in seiner Deutung der Geschichte hervorhebt, sondern auch als ein Beitrag zur Geschichte der Infamie, den Kafka in seinen Erzählungen aufnehmen konnte, indem er sowohl die Sexualisierung der Herrschaft als auch die Aporien des Rechts weiterführte, die Sacher-Masoch entspann. Ungleich konsequenter als SacherMasoch bezieht Kafka die Sexualisierung der Herrschaft aber nicht allein auf Geschlechterverhältnisse, sondern auf Herrschaft überhaupt, insbesondere in der juristischen Bedeutung der Verfügungsgewalt des Vaters über die Familie, wie sie aus dem Römischen Recht überliefert ist. In diesem Sinne erscheint der Vater schon in Kafkas Die Verwandlung nicht als biographischer Spiegel der Schreckensherrschaft von Kafkas Vater, sondern vielmehr als ein archaischer Patriarch, der über alle Familienverbindungen wacht und der das absolute Strafrecht über seinen Sohn behält. Aus dieser familiären Ordnung befreit Kafka die infamen Bilder der Herrschaft, die er in seinen Texten inszeniert, erst in der Erzählung In der Straf kolonie, in der er das christologisch anmutende Bild des Masochisten, der nach Freud überall dort die Wange hinhält, wo er Aussicht hat, einen Schlag zu erhalten, durch eine sadistische Komponente ergänzt und das Zusammenspiel von Lust und Strafe damit neu akzentuiert. Kafka schreibt damit jene Geschichte des masochistischen Selbst fort, die Sacher-Masoch in Venus im Pelz aus der Latenz an eine Öffentlichkeit gehoben hat, die ihn gleichwohl nicht verstehen wollte oder konnte. Ein infames Ereignis stellt Sacher-Masochs Text bis heute dar, da er in ähnlicher Weise wie im schändlichen Fall des Marquis de Sade literarischen Ruhm und die Erfahrung des Ehrverlustes unauflösbar miteinander verknüpft.

L iter atur Deleuze, Gilles: »Sacher-Masoch und der Masochismus«, in: L. v. Sacher-Masoch, Venus im Pelz. Mit einer Studie über den Masochismus von Gilles Deleuze, Frankfurt a.M. 1980, S. 163-281.

43 | Ebd., S. 88. 44 | Ebd., S. 89.

Infame Ereignisse

Eder, Annemarie/Müller, Ulrich: »Obszön. Obszönität«, in: H. Fricke (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band II. H – O, Berlin 2000, S. 732-735. Foucault, Michel: Archéologie du savoir, Paris 1969. — Dits et écrits 1954-1988. II. 1970-1975. Édition établie sous la direction de Daniel Defert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange, Paris 1994. Freud, Sigmund: »Das ökonomische Problem des Masochismus«, in: A. Freud (Hg.), Gesammelte Werke. Band XIII, Frankfurt a.M. 1999, S. 369-383. — »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, in: A. Freud (Hg.), Gesammelte Werke. Band V, Frankfurt a.M. 1999, S. 27-145. Geisenhanslüke, Achim/Löhnig, Martin (Hg.): Infamie. Ehre und Ehrverlust in literarischen und juristischen Diskursen, Regenstauf 2012. Geisenhanslüke, Achim: Das Schibboleth der Psychoanalyse. Freuds Passagen der Schrift, Bielefeld 2008. Haverkamp, Anselm: Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz, Frankfurt a.M. 2002. Heidegger, Martin: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Frankfurt a.M. 1989. Koschorke, Albrecht/Sacher-Masoch, Leopold von: Die Inszenierung einer Perversion, München 1988. Krafft-Ebing, Richard von: Psychopathia Sexualis. Mit besonderer Berücksichtigung der Conträren Sexualempfindung. Eine Medicinisch-Gerichtliche Studie für Ärzte und Juristen. Zwölfte, verbesserte und vermehrte Auflage, Stuttgart 1903. Ovidius Naso, Publius: Metamorphosen. (Deutsch von E. Rösch), München/Zürich 101983. Sacher-Masoch, Leopold von: Venus im Pelz. Mit einer Studie über den Masochismus von Gilles Deleuze, Frankfurt a.M. 1980. Sauter, Michiel: »Marmorbilder und Masochismus. Die Venusfiguren in Eichendorffs ›Das Marmorbild‹ und in Sacher-Masochs ›Venus im Pelz‹«, in: Neophilologus 75 (1991), S. 119-127. Willemsen, Roger: »Über das Obszöne«, in: B. Vinken (Hg.), Die nackte Wahrheit. Zur Pornographie und zur Rolle des Obszönen in der Gegenwart, München 1997, S. 129-147.

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Abbauende Medien – expansive Archive: die Öffentlichkeit der Literatur Zsigmond Móricz und der Feuilletonroman in den 1930er Jahren Ágnes Hansági

In der Wissensgeschichte der Moderne findet man verhältnismäßig selten ein Beispiel dafür, dass ein Modell oder eine Theorie ihre Virulenz oder aber ihre Fähigkeit zur Provokation beinahe hundert Jahre lang behalten kann. Das Konzept des literarischen Faktums von Jurij Tynjanov ist ohne Zweifel eine von diesen Ausnahmen. Das literarische Faktum (1924) muss auch heute nicht als historisches Dokument zur Pflichtlektüre gehören: Seine Bemerkungen zur Permanenz der Bewegung des literarischen Diskurses und den Regelmäßigkeiten im Wechsel des Korpus literarischer Texte dürften bis heute als konsensuelle Hypothese gelten, auch wenn nach der Postmoderne die Beziehung von Zentren und Peripherien wohl völlig anders vorzustellen ist. Besonders, weil der Kanon der Schule (selbst wenn nur im Sinne des ›Schulkanons‹, und nicht mehr im Sinne des ›Bildungskanons‹) in gewissem Sinne unausweichlich gemeinsame Literaturkenntnisse generiert, solange die Schulbildung die auf die Klassiker konzentrierte Literaturvermittlung nicht endgültig aufgibt. Mit der Kategorie des literarischen Faktums behauptet Tynjanov nicht weniger, als dass durch die Zeitlichkeit der Literatur (»das Faktum der Evolution«) »alle festen statischen Definitionen von Literatur […] hinweggefegt« werden,1 die auf die Literatur als Korpus bezogen sind. »[D]ie Eigenschaften der Literatur, die grundlegend, primär scheinen, verändern sich endlos und charakterisieren die Literatur als solche nicht.«2 Tynjanovs Annahme nach sind nicht nur die Grenzgebiete der Literatur, die »Peripherie«, dem Wechsel ausgesetzt, sondern »das Zentrum« selbst: Nicht nur aus den Nebenprodukten der Literatur, sondern auch aus der Sphäre des Alltagslebens tauchen Phänomene auf, die auf einmal »das Zentrum« »erobern« und umgekehrt: Die früher ins Zentrum der Literatur eingestuften Erscheinungen können in die Sphäre des 1 | Tynjanov: Das literarische Faktum, S. 399. 2 | Ebd., S. 407.

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Alltags zurückfallen. Nach dieser Logik soll der Abenteuerroman (und später: der psychologisch orientierte Zeit- und Gesellschaftsroman) vom Terrain der einst experimentellen oder aber mindestens ästhetisch hochwertigen »elitären« Literatur in die populäre Literatur zurückgefallen3 beziehungsweise – in der entgegengesetzten Richtung – die Zeitschrift und die Tageszeitung aus der Sphäre des Alltagslebens ins Zentrum der Literatur aufgestiegen sein.4 Das Tynjanovsche Konzept beschränkt also die Zentrum-Peripherie-Bewegungen, sozusagen den »Wechsel«, nicht auf die internen, auf die inneren Zentrum-Peripherie-Verhältnisse des literarischen Kanons, d.h. auf Veränderungen, die nur Werke/Titel betreffen, die früher bereits in einem Archiv »Literatur« gespeichert wurden, die folglich zu dem Korpus des materiellen Kanons gehören und deren »kanoninterne« Transpositionen öfters mit den Metaphern des »Vergessens« beziehungsweise der »Wiederentdeckung« beschrieben sind. Eine andere Art des Grenzüberschreitens lässt sich an Texten und Erscheinungen feststellen, die aus dem Alltagsleben, aus der Welt der sogenannten »Gebrauchstexte«, also von jenseits des Literatursystems im Text-Universum der Literatur landen. Insofern die Aus- und Einwanderung von Texten (aus der oder in die Literatur) betrachtet wird, sollte man weder die Frage nach den Grenzen der literarischen Öffentlichkeit, noch die nach den Archiven außer Acht lassen, die diese Texte (und die Textträger) auf bewahren können. Das Konzept des literarischen Faktums von Tynjanov rechnet damit, dass die potenzielle Möglichkeit des Eintritts in die Literatur von den Archiven, die die Gebrauchtexte auf bewahren, garantiert sein muss. Die Existenz und die Zugänglichkeit der Archive ermöglicht überhaupt erst, dass die früher für den lebenspraktischen Gebrauch bestimmten Texte im Prozess des Wiederlesens in die literarische Öffentlichkeit eintreten können. Seit Anfang der 70er Jahre, seitdem sich also die Forschung der populären Literatur (damals als »Trivialliteratur«) und der populären Kultur ihre Legitimation auch in der Literaturwissenschaft erkämpft hatte, und sogar immer mehr in den Mittelpunkt des Interesses gerückt war, wurde immer klarer, dass im Verstehen (oder in einem partiellen Rekonstruktionsversuch) der literarischen Öffentlichkeit einer Epoche die Elemente, die das Populäre charakterisieren, ebenso viel Bedeutung haben müssten wie die »immateriellen« Faktoren des Ästhetischen, die sich nicht auf die Ebene der Textualität beschränken lassen. Die Forschung der populären Literatur konfrontiert uns gleichzeitig scharf mit der Frage der Archive, mit dem Problem, welche Medien die populäre Lektüre in einer früheren Epoche in An3 | »Jedes beliebige Genre rückt in der Epoche seines Verfalls aus dem Zentrum an die Peripherie, an seinem Platz aber taucht aus den Kleinigkeiten der Literatur, aus ihren Hinterhöfen und Niederungen eine neue Erscheinung im Zentrum auf. (Das ist jene Erscheinung der »Kanonisierung der jüngeren Genres«, von der Viktor Šklovskij spricht.) Der Abenteuerroman wurde auf diese Weise zum Boulevardroman, ebenso wird jetzt die psychologische Erzählung zur Boulevardliteratur.« Ebd., S. 400f. 4 | Vgl., ebd. S. 399.

Abbauende Medien – expansive Archive

spruch genommen hat, und ob diese Medien in irgendeinem Archiv gespeichert oder als Gebrauchtexte zusammen mit dem Trägermedium (zum Beispiel mit dem Zeitungspapier oder mit einem Heft), das sein Verbraucher wiederverwendet hat, einfach abgebaut worden sind. Obwohl es in diesem Bereich das Spektakulärste sein mag, beschränkt sich Problem des Abbauens der Trägermedien (»Trägermaterial«) nicht auf die Ebene der Kolportage- oder Schundliteratur. Es ist wohl kaum strittig, dass die literarische Öffentlichkeit von heute am wesentlichsten von literarischen bzw. literaturkritischen Webseiten und Blogs geprägt ist, deren Archivierbarkeit höchst fragwürdig sein kann, weil diese Seiten oft jenseits des institutionellen Systems der Literatur, von »Zivilisten« gegründet wurden. Auch wenn die elektronische Speicherung die Archivierung dieser Texte theoretisch und praktisch möglich macht, dürfte das bei ununterbrochenem Funktionieren dieser literarischen Seiten und Blogs zur Speicherung solcher Textmengen führen, die eine spätere Selektion fast unmöglich machen müssen. (Schon heute ist es beinahe hoffnungslos, nach einer thematischen Suche mit irgendeiner Suchmaschine die Ergebnisse von Anfang bis Ende nachzulesen.) Ohne mit der Futurologie zu kokettieren, lohnt es sich darüber nachzudenken, ob die heute von Zeit zu Zeit die Meinungsführung in der literarischen Öffentlichkeit erobernden Internetseiten, Blogs, Kommentare und Chatrooms, die den tagtäglichen Diskurs der Literatur thematisieren können, mit der Entwicklung der Hardware und der Proliferation solcher Texte für spätere Generationen nicht völlig unlesbar werden.5 Dieses Beispiel könnte auch deshalb überlegenswert sein, weil die Thematisierung der literarischen Öffentlichkeit nach der Entstehung der Massenmedien im 19. Jahrhundert6 wohl immer mehr zum Privileg dieser geworden ist. Infolge der Erscheinung der Massenmedien seit ungefähr der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es eine radikale Umstrukturierung der literarischen Öffentlichkeit. In dieser neuen und viel breiteren literarischen Öffentlichkeit übernimmt die in den damaligen (und monopolartig einzigen) Massenmedien, also in den Tageszeitungen veröffentlichte Literatur von der klar umrissenen Öffentlichkeit der elitären Hochliteratur die führende Rolle in der Thematisierung dieser Öffentlichkeit und der Produktion von Meinungsführer. Sie war vorher auf eine interne Angelegenheit des literarischen Lebens beschränkt und mithin eindeutig das Privileg der Literaturbranche, die den schöpferischen bzw. produzierenden Pol der literarischen Kommunikation verkörperte, aus dem die literarisch ungebildeten »Normalverbraucher« ausgeschlossen waren. Obwohl laut dem Mainstream der Forschung die große Epoche des europäischen Feuilletonromans, in der der 5 | Es ist ungewiss, wie und wo die Diskussionen, die auf der als wichtigste Plattform des heutigen ungarischen literarischen Lebens funktionierenden Webseite, auf litera stattfinden, für die Zukunft dokumentiert werden können, ferner ob die gespeicherte Textmenge in auch nur 10 Jahren noch lesbar und zugänglich sein wird, von der Auflösung der Nicknamen nicht zu sprechen. 6 | Vgl. Bürger: Literarischer Markt, S. 246ff.

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in der Tageszeitung veröffentlichte Feuilletonroman zumindest in dem Sinne das wichtigste literarische Phänomen gewesen sein dürfte, dass er am effektivsten diese breit gewordene gesellschaftliche Öffentlichkeit beeinflussen konnte, nur bis zum ersten Weltkrieg gedauert hat,7 erstreckt sich diese Periode in Ungarn (ähnlich wie im deutschen Sprachraum) bis zum Zweiten Weltkrieg.8 Die Frage, inwiefern diese literarische Öffentlichkeit für uns zugänglich und vorstellbar sein kann, lässt sich aus mehreren Gründen nicht einfach beantworten. Das Zeitungspapier ist ein typisch abbaubares Trägermaterial.9 Ein Medium, das in den Privatarchiven nur äußerst selten auf bewahrt wird. Für die literarischen Archive musste das Buch bis zur letzten Zeit das Grundmedium der Aufbewahrung literarischer Texte bleiben, und offensichtlich nur teilweise deswegen, weil bislang kein einziges Medium zur Verfügung steht, dessen Haltbarkeit es mit der des Buchs im Zeitraum eines halben Jahrtausends aufnehmen konnte; bis heute scheint das Buch das haltbarste Trägermedium zu sein.10 In dieser Hinsicht spielt ganz gewiss auch die Tatsache eine wichtige Rolle, dass das Buch als Gegenstand über einen beträchtlichen Marktwert verfügen kann. Das Buch dürfte eben deshalb ausschließlich im Extremfall dem Papierrecycling (sei es in Form von Verbrennen, Verpackung, Origami oder Herstellung von Recyclingpapier) zum Opfer fallen. In Ungarn begann das systematische Sammeln, Bewahren und Archivieren der Tageszeitungen in den 1880ern, nach einem jahrzehntelangen Kampf von József Szinnyei mit der Regierung: ihm gelang es 1884 zu erreichen, dass der damalige Kultusminister Ágoston Trefort durch eine ministerielle Verordnung den Auf bau einer Staatlichen Zeitungsarchiv (Országos Hírlapkönyvtár) ermöglicht hat.11 Die Tageszeitungen, deren Feuilletonromanproduktion die literarische Szene des 19. Jahrhunderts in Ungarn auf dominante Weise geprägt hat, stehen zumeist zur Verfügung. In der Forschung zur literarischen Öffentlichkeit dürfte vielmehr die Komplexität der Kontexte und die unglaubliche

7 | Vgl. Neuschäfer: Die Krise, S. 122; Neuschäfer/Fritz-El Ahmad/Walter: Der französische, S. 5f. 8 | Das Feuilletonromanangebot der Vossischen Zeitung blieb bis zu ihrer Einstellung 1934 ähnlich reich. 9 | »Le »beau papier« sous toutes ses formes peut devenir l’objet d’un rejet. […] Le seul mot de »papier« suffit parfois à connoter, question de ton, une telle déchéance. Le »papier journal«, déjà suspecté quant à la qualité et à la survie de ce qu’on y écrit, nous savons d’avance qu’il peut déchoir en papier d’emballage ou en papier-cul« Derrida: Le papier, S. 244. 10 | Selbst wenn dank der Digitalisierung diese Bücher immer mehr als elektronische Bücher auf einem eBook-Lesegerät gelesen werden. 11 | Vgl. Csapodi/Tóth/Vértesy: Magyar könyvtártörténet, S. 224. Über die Gründung und gesetzliche Regulierung des ungarischen Zeitungsarchivs vgl. noch Illyés: Adatok, S. 243-269.

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Menge der Texte eine methodische Herausforderung bedeuten.12 Der Abbau des Mediums der Tageszeitung, den Éva Lakatos im Zusammenhang mit den lithographierten Steindruckzeitungen u.a. am Beispiel der Ungarischen Post registriert hat, die die Tageszeitungen mit Nachrichten belieferten,13 ist hier vielmehr rein metaphorisch zu verstehen und bezieht sich in erster Linie auf den Abbau der Übersichtlichkeit und der Zugänglichkeit des textuellen Netzwerkes dieser Texte. 12 | Dies gilt aber nicht nur für die Forschung des ungarischen Feuilletonromans. Die bisher umfangreichste systematische Forschung wurde in den Achtzigern im Rahmen eines DFG-Projektes von den Romanisten der Saarbrücker Universität durchgeführt, um die Geschichte des französischen Feuilletonromans aus der Perspektive der Medien- und Mentalitätsgeschichte zu untersuchen. Erstens war für die systematische Bestandsaufnahme ein Beschreibungsmodell auszuarbeiten (nach diesem Modell habe ich den FeuilletonromanKatalog des Pesti Napló zusammengestellt), und zweitens erforderte die »überwältigende Menge von Material« die Festlegung von vier Querschnittsjahren: »In sämtlichen Pariser Tageszeitungen wurde die FR-Produktion der Jahre 1844, 1860, 1884 und 1912 lückenlos ermittelt, in der Hoffnung, dass sich am Vergleich der jeweils späteren mit den vorgehenden Schnitten die Entwicklung, an den einzelnen Querschnitten selbst der durchschnittliche Zustand des FR zu einem gegebenen Zeitpunkt werde ablesen lassen. Damit die FR-Produktion aber auch über einen zusammenhängenden Längsschnitt verfolgt werden kann, wurde zusätzlich noch die Produktion zwischen 1860 und 1870 vollständig dokumentiert. Damit wurden insgesamt 211 Tageszeitungen, 743 Autoren und 1410 Romane erfasst.« Neuschäfer/Fritz-El Ahmad/Walter: Der französische, S. 4. Mitte der 80er Jahre hat die deutsche Bibliographie auch auf die Herausforderung reagiert, die die Ausdehnung des Literaturbegriffs mit dem Auftauchen der früher der Pressegeschichte zugeordneten Feuilletonromane verkörperte. Zur Recherchierbarkeit dieses einzigartigen literarischen Quellenmaterials ist grundlegende und eingehende bibliographische Aufarbeitung nötig. Die Bedeutung einer wenn auch unvollständigen Feuilletonroman-Bibliographie für die Germanistik und die Literaturwissenschaft wird von Georg Jäger, dem Herausgeber des Tagungsbandes, nachdrücklich betont. Vgl. Jäger: Das Zeitungsfeuilleton, S. 70. Obwohl Norbert Bachleitner 10 Jahre später in seinem Forschungsbericht darauf hingewiesen hat, dass eine vollständige Bibliographie der in Zeitungen veröffentlichten Literatur »vielleicht für immer Utopie bleiben wird«, hat er ebenfalls den Mangel an bibliographischen Grundlagen als das allererste Hindernis für die weitere Feuilletonroman-Forschung festgelegt. Vgl. Bachleitner: Littérature, S. 214ff. Die Bibliographie von Alfred Estermann erklärte paradoxerweise Bachleitners Annahme für zutreffend, denn diese 10 Bände enthalten allein die Titel der in Zeitschriften veröffentlichten Literatur. Diese Unternehmung kann gut beleuchten, welche technischen Schwierigkeiten das Erstellen einer Feuilletonroman-Bibliographie verhindern können. Vgl. Estermann: Inhaltsanalytische. Obwohl die Zugänglichkeit auch nicht alle Hindernisse wegräumt, könnte das Digitalisieren einen Durchbruch bringen, da vollständige Jahrgänge der Tageszeitungen auch heute noch (wenn überhaupt) nur in Nationalarchiven erhalten sind. 13 | Vgl. Lakatos: Sajtószolgák, S. 467ff.

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Es kommt allerdings auch vor, dass ein rein materieller »Riss« zu Missverständnissen führt. Die Veröffentlichung des Feuilletonromans Die guten alten Táblabíró’s14 von Mór Jókai begann 1855 fast gleichzeitig auf Ungarisch und (mit einem einzigen Tag Verspätung) auf Deutsch. Die Tageszeitung von Gustav Emich, die unter dem gleichen Namen herausgegeben wurde wie die oben erwähnte, spätere Steindruckzeitung, die Ungarische Post, hat den Feuilletonroman in der Übersetzung von Titus Kárffy publiziert. Diese Information gibt auch József Szinnyei in seinem bibliographischen Grundwerk Magyar írók élete és munkái [Leben und Werk ungarischer Schriftsteller], und József Nacsády, der Herausgeber des 10. Bandes der historisch-kritischen Ausgabe der Werke Mór Jókais, fügt hinzu, dass die Veröffentlichung abgebrochen wurde.15 Im Vokabular des Feuilletonromans hat dieser Satz eine eindeutige Bedeutung, nämlich dass der Feuilletonroman durchgefallen ist, vom Publikum abgelehnt wurde, also ein Misserfolg war. Im Jahrgang 1855 aber erschienen die Episoden ununterbrochen bis Ende Dezember, und in Kenntnis der Veröffentlichungspraxis des Feuilletonromans lässt sich mit fast hundertprozentiger Gewissheit annehmen, dass die Redaktion am Ende des Jahres die Absicht hatte, den Roman fortzusetzen. (Eine der wichtigsten Aufgaben des Feuilletonromans war in den 1850ern die Sicherung der Abonnements: die Veröffentlichung eines erfolgreichen Feuilletonromans zieht sich unbedingt in den Januar hinüber, auch wenn dafür eine längere Veröffentlichungspause im Dezember nötig war.16 Die ungarischsprachigen Tageszeitungen haben jedoch in dieser Periode dieses europäische Verfahren noch nicht verwendet: bis zu den 80er Jahren wurde die Veröffentlichung der Feuilletonromane in Pesti Napló17 gewöhnlich spätestens Mitte Dezember beendet, und der neue Feuilletonroman begann am ersten Januar. Erst in den 80er Jahren veränderte sich dieses Verfahren, indem das erste Feuilleton des neuen Romans schon in der Weihnachtsausgabe, oder noch früher, in der zweiten Hälfte des vorigen Jahres publiziert wurde.) Der nächste Jahrgang ist offensichtlich einfach nicht mehr erschienen, in Archiven sind die Bände nicht zu finden, in der Ungarischen Nationalbibliothek ist auch der Jahrgang 1855 unvollständig.18 In seinem Artikel Memoria und Realismus. Erzählende Literatur in der deutschen ›Bildungspresse‹ des 19. Jahrhunderts hat Gerhart von Graevenitz die wohlbekannte Tatsache, dass die heute zu den Kanonklassikern zählenden deutschen 14 | Der Roman Die guten alten Táblabíró’s von Mór Jókai erschien in der deutschen Übersetzung von Titus Kárffy mehrfach sowohl bei Emich in Pest als auch bei Reclam in Leipzig, zum letzten Mal 1920. 15 | Jókai: A régi, S. 437. 16 | Vgl. Neuschäfer/Fritz-El Ahmad/Walter: Der französische, S. 30; bzw. Hauser: Sozialgeschichte, S. 764ff. 17 | Pesti Napló (1850-1939), eine der wichtigsten politischen Tageszeitungen in Ungarn. 18 | Vgl. V. Busa: Magyar sajtóbibliográfia. Ungarische Post, Red. Otto Müller, Pest-Ofen, Wien: Gusztáv Emich,1855. Nur ein einziger Jahrgang: 1855.

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›Realisten‹ ihre Werke zuerst in Zeitschriften veröffentlichten, mit der heutzutage wohl nicht bekannten Tatsache in Zusammenhang gestellt, dass diese Zeitschriften sich selbst als das »Gedächtnisbücher« für Kultur und Bildung verstanden und präsentiert haben.19 Wird der Einfluss der politischen Tageszeitungen auf die literarische Öffentlichkeit untersucht, kommt man auf ähnliche Ergebnisse. Graevenitz’ Annahme nach verfügen die literarischen Texte im Pressekontext über eine den Titelblättern ähnliche Thematisierungsfähigkeit: »Literatur, insofern sie für die Bildungspresse geschrieben worden ist, hat eine den Titelblättern vergleichbare Thematisierungsfunktion. Das wird schon an ihrer Stellung deutlich: in den meisten Zeitschriften, nicht allerdings in der IZ, ist der erste Beitrag literarischer Natur, meist eine Portion Fortsetzungsroman oder -novelle. ›Literatur im Pressekontext‹ macht noch einmal die spezifischen Funktionsprobleme des Mediums ›Bildungspresse‹ deutlich. Die literarischen Texte haben ja stets zwei Kontexte. Sie entstehen einerseits in dem mit hohem Autonomiebewußtsein ausgestatteten Subsystem der ›Literatur‹, einem Produkt der ausdifferenzierten Kulturvielfalt, und sie entstehen andererseits für ein Medium, das dieser Differenzfülle die Sonderfunktion ›Zusammenführung des Getrennten‹ zur Seite stellt. Diese doppelte Situation der Literatur wird im Medium als doppelte Präsenz abgebildet. Auf der Ebene der primären Nachrichtenauswahl erscheinen Artikel über das Literaturverständnis der offiziellen Kanonpflege, der autonomen Geschichte autonomer Werke; auf der Ebene des zusammenführenden Re-arrangements von Bildung und an seiner Thematisierungsspitze erscheint die eigens für das Medium produzierte Literatur. Doppelt ist darum schließlich auch die Erscheinungsweise solcher Literatur, zum einen in der Fortsetzungsserie der Hefte und der Jahrgangsbände, zum anderen in Buchform, in der ›klassischen‹ Erscheinungsweise von Literatur.« 20

Obwohl Graevenitz seine These nicht auf die politischen Tageszeitungen bezieht,21 ist das Moment der bewussten Abgrenzung der drei Programmbereiche von Massenmedien hier ebenso eindeutig wiedererkennbar wie die Tatsache, dass die elitäre und die populäre Literatur sich nicht dem gleichen Programmbereich zuordnen lassen. Während die auf die autonome, als ästhetisch »wertvoll« betrachtete Literatur bezogenen Metatexte dem Programmbereich von Nachrichten/ Berichten zugeordnet sind, präsentiert sich die für eine immer homogenisiertere

19 | Vgl. Graevenitz: Memoria, S. 283. 20 | Ebd., S. 298. 21 | Außer ihrer theoretischen Bedeutung haben die Überlegungen von Graevenitz über Die Gartenlaube auch im Zusammenhang der ungarischen Literatur eine außergewöhnliche Signifikanz, da von dieser Zeitschrift, die in der Habsburgmonarchie und auch in Ungarn äußerst populär war, über die Vermittlung von Wiener Presseunternehmen mehr als 100.000 Exemplare verkauft wurden. Vgl. Lipták: Újságok, S. 58, 120.

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Mittelschicht bestimmte populäre Literatur im Massenmedium22 als ein Element des Programmbereiches Unterhaltung. Diese beiden Literaturbereiche unterscheiden sich voneinander offensichtlich in der Art und Weise der Veröffentlichung: während der Erscheinungsmodus der populären Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die serielle Veröffentlichung, die Publikation in Rationen bzw. Fortsetzungen war, musste der typische Modus der für Wenige veröffentlichten Neuerscheinungen der elitären Literatur, d.h. die – mit Graevenitz – klassische »Erscheinungsweise« der Literatur das Buch bleiben.23 Während die literarische Öffentlichkeit offensichtlich von der in Massenmedien (in Ungarn in erster Linie in den politischen Tageszeitungen) veröffentlichten Literatur thematisiert wurde, haben dieselben Massenmedien der Literaturkritik, die durch ihre Reflexion auf die autonomen Werke der autonomen Literatur eine Art Selbstbeobachtungsfunktion des autopoietischen Literatursystems erfüllte und fundamental auf das Buch als klassisches Grundmedium der Literatur fokussiert blieb, zu einer breiteren sozialen Öffentlichkeit verholfen. In diesem Zusammenhang präsentiert sich der vorhin erwogene metaphorische Sinn des Abbaus der Tageszeitung als Massenmedium. Obwohl die Kritik, die eine charakteristische Funktion des autonomen Literatursystems verkörpert, das Medium der Tageszeitung durchaus in Anspruch nahm, um ihre eigene Öffentlichkeit herzustellen beziehungsweise auf den Prozess der Kanonisierung einzuwirken, identifizierte sie ihren eigenen Gegenstand in erster Linie im (Medium) Buch. Die Tageszeitung, die durch das Mittel der Serialisierung in einer bestimmten Periode imstande war, die Öffentlichkeit der Literatur prägend zu thematisieren, wendet sich also, falls ihre Texte nicht ins Medium des Buches übergegangen sind, gegen diese Texte. Mit dem Verlust seiner Aktualität wird der Text in diesem Falle in einem Archiv auf bewahrt, in dem er in seiner Singularität für die Öffentlichkeit unzugänglich bleiben kann; Zugang und Recherchierbarkeit wird ja auf den engen Kreis der Wissenschaftler beschränkt. Es kann aber, wie im erwähnten Falle, vorkommen, dass solche Texte auch von den Berufslesern völlig vergessen werden. Der Feuilletonroman als Gegenstand eines eher unwichtigen Grenzgebietes sowohl der Presse- als auch der Literaturgeschichte blieb nämlich ein unsichtbares Phänomen,24 das in die Textnetzwerke der in Zeitungsarchiven auf bewahrten Trägermedien eingeschlossen war. Daraus folgt, dass die systematische Forschung zum Fortsetzungsroman, wie die der populären Literatur, ihre Inspirationen in den 70er Jahren aus der Literatursoziologie, später aus der Sozialgeschichte der Literatur gewonnen hat. Auch im vergangenen Jahrzehnt taucht allerdings die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts übliche Stellung22 | Vgl. Luhmann: Die Realität, S. 11ff; über die drei Programmbereiche: ebd., S. 52ff (Nachrichten und Berichte); ebd., S. 84ff (Werbung); ebd., S. 95ff (Unterhaltung). 23 | Vgl. Bourdieu: Die Regeln, S. 108ff bzw. Cassagne: La théorie, S. 55. 24 | Vgl. Rollka: Die Belletristik, S. 1; Bachleitner: Littérature, S. 159; Priotto: Fortsetzung, S. 5; Kreuzer: Trivialliteratur, S. 187.

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nahme auf, dass die Forschung zum Feuilletonroman zum Kompetenzbereich der Pressegeschichte gehöre.25 Dafür, dass das grenzüberschreitende Übergehen des literarischen Textes vom abbauenden Medium der Tageszeitung in die Öffentlichkeit der Literatur auch dort nicht automatisch erfolgt, wo eine spätere Buchausgabe zur Verfügung steht, kann die ungarische Literatur der jüngsten Vergangenheit mehrere Beispiele liefern. Es sind sogar Romane von Schriftstellern davon betroffen, deren Lebenswerk fast im Ganzen oder in großen Teilen zu den Klassikern bzw. zum Kernkanon der ungarischen Literatur gehört, wobei das Medium, in dem diese Romane trotzdem »versunken« sind, die Zeitung Pesti Napló [Pester Journal], zu den niveauvollsten ungarischen Massenmedien aller Zeiten gerechnet wird. Die politische Tageszeitung Pesti Napló spielte in der Geschichte des ungarischen Feuilletonromans eine außergewöhnliche Rolle. Diese eigenartige Stellung ist nicht einfach der Tatsache zu verdanken, dass sie zwischen 1850 und 1939 als eine der wichtigsten Zeitungen der ungarischen Meinungspresse mit der Institutionalisierung des Feuilletonromans in Ungarn die Initiative ergriff, die »entfaltete gesellschaftliche Öffentlichkeit« (Habermas) eines modernen Massenmediums herzustellen. In der Geschichte die Pesti Napló wurde die Feuilletonromanpublikation des ersten Jahrzehnts maßgeblich von den Feuilletonromanen Mór Jókais, des bis heute meistgelesenen Kanonklassikers der ungarischen Literatur, geprägt. Der explosionsartige Erfolg der Dilogie Ein ungarischer Nabob26 und Zoltan Karpathy27 hat nicht nur den Feuilletonroman schlechthin, sondern auch den original ungarischen Roman, d.h. die Romangattung in ungarischer Sprache, 25 | Die Geschichte der Forschung zum Feuilletonroman wurde eine typische Geschichte des 20. Jahrhunderts: Während die deutsche Feuilletonroman-Forschung in der Zwischenkriegszeit der Zeitungskunde angegliedert war und ihre Blütezeit erlebte, wurde in Ungarn die Frage des Feuilletonromans ausschließlich im Zusammenhang mit der Jókai-Philologie, also als eine Frage der Literaturgeschichte, thematisiert. In der Nachkriegszeit ist der Feuilletonroman als Forschungsobjekt für eine lange Periode unsichtbar geworden, in der kommunistischen Diktatur in Ungarn war er als bürgerliches, konservatives, sogar nationalsozialistisches Propagandamittel völlig unerwünscht und wurde als literarische Erscheinung völlig vergessen. Während in Europa die Ausdehnung des Literaturbegriffs und die Sozialgeschichte der Kunst den Feuilletonroman wieder am Horizont der Forschung erscheinen ließen, hat in Ungarn die systematische Untersuchung erst im letzten Jahrzehnt begonnen. Als erster Forscher hat übrigens Arnold Hauser auf die tatsächliche Rolle des Feuilletonromans in der Sozialität und in der Prägung der Öffentlichkeit aufmerksam gemacht. Vgl. Hauser: Sozialgeschichte, S. 764ff. 26 | In der deutschen Übersetzung von Adolf Dux wurde der Roman dreimal in Pest und zweimal bei Reclam in Leipzig herausgegeben. Neuere Übersetzung: Bruno Heilig, 1968. 27 | In der deutschen Übersetzung von Eduard Glatz wurde der Roman zweimal in Pest bei Emich und einmal bei Reclam in Lepizig herausgegeben. Neuere Übersetzung: Georg Harmat, 1975.

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schlagartig emanzipiert und gleichzeitig dazu beigetragen, ein verhältnismäßig breites modernes Lesepublikum zu schaffen. In der Geschichte des Pesti Napló sind die letzten Jahrzehnte in Hinsicht der Literatur nicht weniger bemerkenswert: die literarische Hochleistung der Anfangszeit wiederholt sich noch einmal. Die Feuilletonromane der Zeitung stammen einer nach dem anderen von den anerkanntesten ungarischen Schriftstellern der Zwischenkriegszeit: lässt sich die Anfangsphase mit den Feuilletonromanen von Mór Jókai charakterisieren, so prägen die letzte große Feuilletonromanepoche die Werke von Zsigmond Móricz. Der Feuilletonteil des Pesti Napló zeugt in den 30er Jahren von einem für die heutigen Leser wohl unglaublichen Reichtum des literarischen Stoffes.28 Neben dem in täglichen Rationen – gewöhnlich im Umfang einer ganzen Zeitungsseite, also dreier Spalten – veröffentlichten Feuilletonroman sind insbesondere in der Sonntagsausgabe regelmäßig mehrere zweispaltige, aber oft ganzseitige Erzählungen zu finden. Die Zeitungsleser des 85. Jahrgangs im Frühling 1934 hatten die Möglichkeit, aus dem folgenden literarischen Angebot der insgesamt 48-seitigen Sonntagsausgabe zu wählen, zum Beispiel am 18. März: eine ganze Seite lang der Feuilletonroman A tighinai lány [Das Mädchen aus Tighina] von Zsuzsa Thury, die heute als Autorin von Kinder- und Jugendliteratur gilt, jeweils 2 Spalten lang Erzählungen von Dezső Szomory, Frigyes Karinthy und Lili Bródy und dazu noch eine ins Ungarische übersetzte Erzählung. Die Autoren der Rubriken »Irodalmi napló » [Literarisches Tagebuch] und »Színház« [Theater] gehören heute ebenfalls zur Kanonliteratur. Im »Literarischen Tagebuch« zum Beispiel veröffentlichte Anfang April Zsigmond Móricz selbst eine Rezension über den damaligen Kult- und auch heute noch Pflichtlektüreroman Kakuk Marci29 von Jenő Tersánszky Józsi. Der Feuilletonroman stellte damals ein wichtiges Element des Angebotes einer ungarischen Tageszeitung dar; die Episoden waren nummeriert, die Liste der Autoren weicht nicht wesentlich von dem heutigen ästhetischen Kanon der autonomen Literatur ab.

28 | Móricz erklärte den Erfolg der Zeitung auch damit. Vgl. die Tagebucheintragung von 22. September 1934: »Vadnai ist kein Mensch von großem Stil, wie Andor Miklós es war, oder eben Arnold Sebestyén. Diese haben die Schriftsteller hoch geachtet. Sie haben beim Beginn von Az Est [Das Abendblatt] den großen Erfolg, der bei uns zuvor noch nie eine Zeitung gehabt hat, damit erreicht, dass sie die besten Schriftsteller engagiert haben. Der große Feldherr Andor Miklós hat das Genie gehabt, die geistigen Werte schätzen zu können. […] Az Est war eine wahre Epoche, und sogar eine seltene Epoche hinsichtlich des Umgangs mit den Schriftstellern. Dort wurde für niemals publizierte Manuskripte ein Vermögen verteilt. Die jungen Schriftsteller lebten in Mikes’ Vorzimmer jahrelang wie in einer Armenküche.« Móricz: Tíz év, S. 231. Az Est (1910-1939): während des Ersten Weltkriegs die einflussreichste ungarische Tageszeitung; ab 1920 Boulevardtageszeitung. 29 | In deutscher Übersetzung u.a. Marci Kakuk: ein ungarischer Schelmenroman.

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Feuilletonromane in Pesti Napló 1934 Titel

Autor

Erscheinungszeitraum

Episoden

Buchpublikation

A nap árnyéka [Schatten der Sonne]

Zsigmond Móricz

31. Dezember 1933 – 1. März 1934

49

Als Teil der Trilogie Erdély: Verlag Athenaeum, 1935 (dt. Siebenbürgen, Übers. von Käthe Gaspar, Berlin/Wien/Leipzig: Zsolnay, 1936) Als selbstständiger Roman: Athenaeum Verlag, 1938

A tighinai lány [Das Mädchen aus Tighina]

Zsuzsa Thury

4. März 1934 – 28. März

20

-

Mennyei riport [Himmlische Reportage]

Frigyes Karinthy

1. April 1934 – 2. Juni

50

Nova Verlag, 1937

Jobb, mint otthon [Besser als zu Hause]

Zsigmond Móricz

5. Juni 1934 – 18. August

64

Zum ersten Mal: 1956 Szépirodalmi Verlag

Etel király kin­ cse [Der Schatz von König Etel]

Gyula Krúdy

19. August 1934 – 4. Oktober

38

Zum ersten Mal: 1956 Alföldi Magvető Verlag(Debrecen)

Az árnyék [Der Schatten]

Margit Bozzay

6. Oktober 1934 – 6. Dezember

50

Tolnai Verlag, 1937

Geht man davon aus, dass mindestens eine Serie von 20 Feuilletons nötig ist, um die Bezeichnung Feuilletonroman zu rechtfertigen,30 zeugt die Tabelle davon, dass 1934 im Pesti Napló sechs Feuilletonromane veröffentlicht wurden. Aus einem Teil der europäischen Meinungspresse wurde der Feuilletonroman schon zum Anfang des 20. Jahrhunderts verdrängt oder zumindest ins Beiblatt der Wochenendausgabe 30 | Vgl. Neuschäfer/Fritz-El Ahmad/Walter: Der französische, S. 4; Bachleitner: Littérature, S. 167.

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verwiesen. Die meinungsbildenden politischen Tageszeitungen, die der Feuilletonromanpublikation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und sogar in der Zwischenkriegszeit weiterhin treu blieben, waren bemüht, Texte von Autoren der autonomen Hochliteratur zu veröffentlichen; die Praxis des Pesti Napló, in dem solche lebendigen Klassiker der ungarischen Literatur der Zeit wie Zsigmond Móricz als Feuilletonroman-Autoren im Feuilletonromanteil einer politischen Tageszeitung publizierten, ist dennoch aber eher als atypisch zu bezeichnen. Der Roman Jobb mint otthon [Besser als zu Hause] von Zsigmond Móricz erschien im 85. Jahrgang des Pesti Napló, zwischen dem 5. Juni und dem 18. August 1934, in 64 Folgen. Die kürzesten Episoden füllen 1,3 Spalten, die längeren im Juli eine ganze Zeitungsseite, also drei ganze Spalten. Der Roman Jobb mint otthon ist ohne Zweifel eine der besten original ungarischen Krimiparodien aller Zeiten: eine Budapester Geschichte, deren Handlung in dem Chicago genannten verrufenen kleinbürgerlichen Stadtviertel spielt; die spannende, an Wendungen reiche Handlung verzichtet, den Gattungsregeln entsprechend, weder auf eine Liebesgeschichte noch auf eine nuancierte, teilweise offen kritische Schilderung der ungarischen gesellschaftlichen Verhältnisse der 30er Jahre, die Erzählung bedient sich einer reichen Palette sprachlichen Humors und puns. Der Roman erschien 1956 zum ersten Mal in Buchform, als Band der damaligen Gesamtausgabe, seit dieser Veröffentlichung bildet er einen festen Teil der späteren Gesamtausgaben.31 Das Nachwort zur ersten Buchausgabe32 versuchte, den Roman einerseits als Kriminalroman, andererseits als eine unikale und subversive Budapest-Reflexion zu kanonisieren, jedoch mit wenig Erfolg. Die breiteste Publizität erhielt der Roman durch die Digitalisierung, als er 2000 auf der Seite der Ungarischen Elektronischen Bibliothek (MEK) zugänglich wurde. Diese Tatsache änderte aber wenig an der relativen Unbekanntheit des Romans, obwohl er neuerdings auch als ein Prätext zeitgenössischer ungarischer Erfolgsromane gelesen werden könnte u.a. des Kriminalromans Budapest noir von Vilmos Kondor. Trotz alledem hat ihn weder die Literaturkritik noch das Lesepublikum wieder entdeckt, er blieb praktisch bis heute ein »unentdecktes«, unbekanntes Stück des Lebenswerkes von Móricz, das seinen Weg ins Kanonkorpus nie gefunden hat. Die (fehlende) Rezeptionsgeschichte des Romans Jobb mint otthon muss aber nicht das einzige Beispiel dafür sein, dass die Texte, die nicht im Archiv der Bibliotheken, sondern bloß im Archiv einer Zeitung aufbewahrt worden sind, für die literarische Öffentlichkeit, über die die als Buch kanonisierten und in Bucharchiven gespeicherten Romane verfügen, verloren sind. Gleich am Tag nach Erscheinen der letzten Folge von Móricz’ Roman begann die Veröffentlichung von Gyula Krúdys Roman Etel király kincse. Die Editionsgeschichte dieses Romans ähnelt der 31 | 1961 in der Reihe Móricz Zsigmond regényei és elbeszélései [Zsigmond Móricz: Romane und Erzählungen] des Verlags Helikon, dann 1976 im Szépirodalmi-Verlag in der Reihe Móricz Zsigmond összegyűjtött művei [Zsigmond Móricz: Gesammelte Werke] als vierter Band der Romane. 32 | Nachwort des Herausgebers Peter Nagy.

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des Romans von Móricz. Auch Krúdys Roman wurde 1956 zum ersten Mal publiziert, dieser Erstveröffentlichung folgte 1964 eine zweite, dann 1981 die dritte Ausgabe (die beiden jüngsten Ausgaben erschienen 2004 und 2008, also nach der Veröffentlichung der digitalen Version in der MEK). Etel király kincse gehört jedoch weiterhin nicht zu den oft (oder überhaupt) besprochenen, kritisch oder literaturgeschichtlich behandelten Romanen von Krúdy, in der Rezeption des Romans leitete also auch diese Folge der Buchausgaben keine Aufschwungsphase ein (die professionelle literarische Öffentlichkeit nahm allerdings Kenntnis von dem Roman, was im Zusammenhang mit dem Roman von Móricz nicht der Fall ist.) Das Schicksal des Romans Jobb mint otthon lässt sich auch von einem anderen Standpunkt aus als paradigmatisch betrachten, und zwar in einer eigenartig inversen Bedeutung. Es kann die medialen Bedingungen des Kanonisierungsprozesses eines Romans von der Feuilletonpublikation bis zur Bucherscheinung genau deshalb beleuchten, weil er selbst nicht das übliche, für andere Romane von Móricz (aber auch von Jókai und den meisten Autoren in Ungarn zwischen 1850 und 1939) charakteristische Publikationsverfahren durchlaufen hat. Die Eintragung vom 6. Juli 1934 in seinem Tagebuch bezeugt, dass der Autor, wie gewohnt, nach der Feuilletonpublikation am Roman weiterschreiben wollte, um den Text für die Buchausgabe zu überarbeiten: »Gerade die Hälfte des Romans ist veröffentlicht worden. 27 Feuilletons, und wir haben uns mit Földi darauf geeinigt, dass er am 4. August beendet wird, und bis dann ist noch gerade für 27 Feuilletons genug Zeit. Also Halbzeit: 0:0 … Ich könnte gut Romane schreiben, wenn mir die Möglichkeit gegeben wäre, unendlich lange zu schreiben. Und wenn ich es wäre, der jeden Tag bestimmen würde, wie viel veröffentlicht werden soll. Dickens hat es gut gehabt, er durfte seinen Roman jahrelang schreiben. Er hatte die Möglichkeit, sich in die Welt, die er für sich selbst geschaffen hat, einzuleben. Er konnte seine Figuren, die auch er selbst lieb gewonnen hat, aus hundert Aspekten darstellen und ihre Schicksale nach Herzenslust lenken. Eine Spalte Zeitungstext macht mehr als zwei Seiten in einem Buch aus. So wird der ganze Text, der in der Zeitung herausgegeben wird, ungefähr 200 Seiten lang. Dazu werde ich noch 100 Seiten hinzuschreiben, und dann wird er zu einem ordentlichen, 18-20 Bogen langen Roman. Das entspricht der heute normalen Länge. Beim Korrigieren muss wohl darauf aufgepasst werden, noch lebensechter zu sein. Wirklichkeit …« 33

Diese Eintragung macht klar: Móricz schrieb seinen Roman, obwohl nicht wortwörtlich von Tag zu Tag, aber teilweise parallel mit der Veröffentlichung, mit etwas zeitlicher Phasenverspätung.34 Die zeitliche und räumliche Gebundenheit, 33 | Móricz: Tíz év, S. 197. 34 | Als Virág Móricz, die Tochter des Schriftstellers, sich an den Sommer von 1930 zu erinnern versucht, berichtet sie auch über diese Autorenpraxis: »Der Hausherr stand früh am Morgen auf, dann setzte er sich an die Schreibmaschine, und wenn das Haus wach wurde, hatte er schon sein Tagewerk hinter sich: Er hatte den Artikel geschrieben, für Pesti Napló

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die aus der Feuilletonromanpublikation folgt, bedeutete einen ständigen Druck für ihn; er empfand diesen Druck als die Verhinderung der künstlerischen Detailarbeit bzw. der Ausreifung und Verwirklichung der Einzelheiten eines früher ausgedachten künstlerischen Konzeptes. Als routinierter Feuilletonist wusste er aber genau, dass der Feuilletonroman aufgrund des täglichen Rhythmus der Episoden einen eigenartigen Modus der Rezeption erwirkt, dem Leser sogar »vorschreibt«, und dass die ästhetischen Wirkungsmechanismen des Textes von den spezifischen Regeln der seriellen Publikation und der seriellen Rezeption geprägt sind. In seinem Tagebuch dokumentierte Móricz sehr genau die Methode, nach der der in Hinsicht der Buchpublikation noch als halbfertig geltende Text nach dem Ablauf der Feuilletonveröffentlichung überarbeitet werden soll.35 Den Feuilletonroman betrachtet Móricz aber nicht einfach als einen Ausgangstext für den späteren Roman im Buchformat oder als eine hinsichtlich der Gattung notwendig einfachere Form, durch die der Romancier seinen Unterhalt verdienen kann. Er wusste offenbar, dass der Feuilletonroman eine kommunikative beziehungsweise Werbekapazität bildet, die dem Autor bei den Vorbereitungen für eine erfolgreiche Buchpublikation unentbehrlich sein kann. Die Tagebucheinträge zeigen, dass Móricz erkannt hat: Das Werbepotential der Feuilletonpublikation, die das Lesepublikum zum Lesen des Buches bewegt, lässt sich auf die spezielle Ästhetik der seriellen Rezeption zurückführen.36 Bei den Vorbereitungen zur deutschen eine Fortsetzung von Rokonok [Verwandte], und für Nyugat eine Fortsetzung von A nagy fejedelem [Der große Fürst].« Móricz: Móricz Zsigmond, S. 227. Unter den Tagebucheintragungen von 1924 findet man auch ähnliche Hinweise auf die Produktionsmethode. Über das Schreiben des Romans Kivilágos kivirradtig zum Beispiel: »11 Januar hat Bárdos die ganze Nacht nicht geschlafen, er hat bis Mitternacht auf mich gewartet, und ich bin nicht hingegangen, weil ich bei Pesti Napló Roman geschrieben habe.« Móricz: Naplók, S. 28. 35 | Über seinen Roman Pillangó [Schmetterling] schrieb der Autor vor dem Erscheinen des Buches am 24. Februar 1925: »Wenn jemand den Text des Buches mit der Feuilletonpublikation beziehungsweise mit der Handschrift vergleicht, wird er überrascht sein. Ein anderes Buch.« Ebd., S. 323. Virág Móricz gab ohne genaues Datum den Brief von Mó­ ricz an Oszkár Gellért, den legendären Redakteur der Literaturzeitschrift Nyugat (Westen), vom Sommer 1931 heraus: »Mein Roman [Matura] ist noch nicht fertig, nun aber werde ich ihn zum Abschluss bringen. Er wird nicht länger als zwanzig Fortsetzungen, höchsten zwei mehr. Später werde ich ihn ergänzen, falls er ins Buch geht. [Und dann lautete der Titel Bál.]« Móricz: Móricz Zsigmond, S. 318. 36 | Darum hat er sich mit der Idee beschäftigt, denselben Feuilletonroman in verschiedenen Regionalzeitungen gleichzeitig zu veröffentlichen. Auch darüber hat er 29. Mai 1929 in seinem Tagebuch eine Eintragung hinterlassen: »Ich habe dafür ein Wort erfunden: Ringpublikation. […], wenn ich die Zeitungen in der Hand habe, dann werde ich tatsächlich das breite Publikum erreichen. Diese 91 Ortschaften haben zwei Millionen Bewohner, die Auflagenhöhe der Zeitungen ist unbekannt, aber es ist sicher, dass meine Schriften sie auf diesem Wege besser erreichen als durch die Pester Zeitungen. Von denen, die die Re-

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Ausgabe seines Romans Die Fackel hat Móricz äußerste Anstrengungen unternommen, um den Roman vor der Buchausgabe auch als Feuilletonroman veröffentlichen zu können. Im Mai 1929 bat Virág Móricz Ernst Rowohlt um die deutsche Druckfahne, damit der Text für eine geplante Feuilletonpublikation gekürzt werden könne. Móricz begründete seinen Wunsch in einem Brief an seine Tochter: »[…] sag bitte Herrn Rowohlt, dass er mir dringend zwei, aber wenn es möglich ist, drei Druckfahnen von Der Fackel zuschicken soll. Du solltest ihm erklären, dass ich ihn für eine Veröffentlichung in einer Tageszeitung kürzen will. Ich streiche die theologischen Teile und alles mögliche, was die Handlung aufhalten könnte. Es ist völlig egal, wie viel davon in der Tageszeitung erscheint, das wahre Zuhause des Schriftstellers ist das Buch, in dem wird alles enthalten sein. So ist er aber sehr lang und nicht für die Veröffentlichung in kleinen Rationen in der Zeitung geeignet. Ich möchte, dass er [Rowohlt] ein solches gekürztes Exemplar Herrn Engel beim Berliner Tageblatt überreicht. Es wäre dennoch das Beste, wenn sie sich zuallererst um die Veröffentlichung der Fackel kümmern würden. Dieser erscheint zuerst, die anderen können warten. Er ist auch ein repräsentativer Roman, ich möchte diesen als ersten irgendwo veröffentlichen.«

Im weiteren Teil des Briefes berichtet Móricz auch darüber, dass der Feuilletonteil des Prager Tageblatts den Roman ebenfalls bringen werde und dass eine Zeitung mit 40 000 Lesern trotz geringem Honorar ein derartiges Werbemittel darstelle, dass der Veröffentlichung nichts widerspreche: »Ich bin fest davon überzeugt, dass man erst dann um die Frage des Honorars besorgt sein darf, wenn man sich einen Namen gemacht und an Popularität gewonnen hat. Bis dahin ist für mich ebenso gut, wenn die Schrift dem Publikum kostenlos vermittelt wird. Die Veröffentlichung in der Zeitung ist: Werbung.«37 Wie die oben zitierte Stelle zeigt, rechnete Móricz ganz bewusst mit den Möglichkeiten, die die medialen Verhältnisse den literarischen Texten, den Romanen bieten können. Das primäre Trägermedium der autonomen, ästhetisch wertvollen Literatur scheint für ihn weiterhin das Buch zu sein, diese Bestandsaufnahme kann also die Diagnose von Graevenitz bestätigen. Móricz hatte aber erkannt, dass der Weg zu diesem Ziel, zum Buchmedium, das dem Roman mehr Freiheit ermöglicht, weil – anders als durch die eigenartige Ästhetik der Serialität, die gegenüber dem Philosophischen, Essayistischen und den längeren Exkursen, etwa Beschreibungen, die Handlung bevorzugen muss – die künstlerische Freiheit hier nicht beschränkt wird, durch den Feuilletonroman führt. Das Buch, das für Móricz das Medium der künstlerischen Freiheit des Schriftstellers bleibt, ist für ihn jedoch gleichzeitig eine gionalzeitung abonniert haben, liest nur ein gewisser Anteil auch eine Pester Zeitung. Ich habe noch nie solche Publizität bekommen, wie durch diese Regionalzeitungen. Monatlich einmal wird man auf den Namen aufmerksam. Bei der Buchausgabe kann ich nachholen, wenn auch bei diesem draufzahle. Und sogar in Reklame!« ebd., S. 63. 37 | Móricz: Móricz Zsigmond, S. 51.

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Ware, die nur mit angemessener Werbung und mit einem wohl aufgebauten Image vermarktbar sein kann. Die Grundthese seiner Argumentation ist: Um ein angemessenes Publikum zu finden, braucht der im Buchmedium erschienene und als autonomes künstlerisches Produkt betrachtete Roman ebenfalls die Feuilletonpublikation, durch die der Autor sich Bekanntheit schaffen kann. Móricz’ Annahme nach muss die Feuilletonpublikation keinesfalls eine ästhetisch bloß zweitrangige oder minderwertige Gattungsvariante sein. Sie soll vielmehr als eine spezielle Form der literarischen Kommunikation betrachtet werden, die bis zum Zweiten Weltkrieg das effektivste Mittel blieb, einen schriftstellerischen Brand aufzubauen. Móricz hat seine Erkenntnis als eine offensichtliche ökonomische Regelmäßigkeit des Buchmarkts beschrieben, ganz ähnlich wie zuvor Mór Jókai, der in Ungarn nicht nur den Feuilletonroman heimisch machte, sondern unter den neuen massenmedialen Umständen einen neuen Schriftstellertyp verkörperte. Móricz Offenheit für diesen Bereich zeigt sich deutlich darin, dass er als Redakteur des Nyugat, der wichtigsten ungarischen literarischen Zeitschrift des 20. Jahrhunderts eine Tagung zum Thema Die Werbung und die Kunst organisierte. Die Tagung bot Anlass für eine Diskussion zwischen Schriftstellern (Frigyes Karinthy), Künstlern (Lajos Kassák, Róbert Berény), Psychologen, Juristen und Führungskräften der Wirtschaft (dem Vorsitzenden der Internationalen Messe, dem Inhaber des Verlagshauses Genius, dem Werbechef der Maschinenfabrik der Ungarischen Staatsbahn).38 Der Hinweis auf Dickens und auf die von ihm präferierte Serienpublikation in monatlichen Folgen erscheint im Tagebuch von Móricz kaum von ungefähr. Das Werbepotential des Feuilletonromans scheint für ihn auch deswegen von ausschlaggebender Bedeutung im Prozess der Literaturvermittlung zu sein, weil er die Lage des ungarischen Buchhandels äußerst kritisch beurteilte, vor allem deshalb, weil die insgesamt eher geringe zahlungskräftige Kundschaft zu dieser Zeit auf Budapest konzentriert war.39 Im Gegensatz zum teuren Buch betrachtet er die Serienpublikation in unabhängigen Heften als eine Möglichkeit zum Durchbruch, um ein breiteres lesehungriges Publikum mit hochwertiger Literatur zu versorgen. Móricz hatte mit der Serienpublikation schon früher Erfahrungen gemacht: Für Pesti Hírlap [Pester Tageblatt] schrieb er bereits 1917 einen Roman mit dem Titel Bovary úr 38 | Vgl. ebd., S. 280. 39 | In einem Brief an seine zweite Frau Mária Simonyi, eine berühmte Schauspielerin der Zeit, berichtet er am 10. Juni 1925 über die Lage auf dem Buchmarkt: »Das Buch ist kein so schnelles und so großes Geschäft wie das Theater, gerade heutzutage stagniert der Buchhandel auf der ganzen Welt. Der Verlag behauptet, dass Pillangó [Schmetterling] den größten Erfolg gehabt hat, mindestens 2000 Exemplare sind verkauft worden. Stellen Sie sich vor, die Buchhändler in Debrecen haben nur 3 Exemplare bestellt, und offenbar wurden auch diese nicht verkauft, denn es gibt keine Nachbestellungen. Bei uns existiert ausschließlich in Budapest ein Publikum, das Bücher kauft, und ich habe Glück, dass meine früheren Bücher sich ebenso gut verkaufen wie die neueren, insgesamt 10-15 000 Exemplare jährlich.« Móricz: Naplók, S. 438.

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[Herr Bovary], der später in Buchform mit einem veränderten Titel zum Bezugspunkt des ungarischen Romankanons des 20. Jahrhunderts wurde. Die Auflage der Weihnachtsbeilage von 1917, also einer billiger Heftausgabe, erreichte eine Rekordhöhe von über 175 000 Exemplaren.40 Móricz betrachtet diesen Fall als einen Rechtfertigungspunkt dafür, dass die billige Serienpublikation von »handlungsreichen, aber dennoch künstlerischen Romanen«41 auch für Kleinverdiener erreichbar sein kann. Für Móricz liegt die Parallele zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und den 1920er und 30er Jahren in Hinblick auf die Nachfrage von Büchern und auf ihre Zugänglichkeit klar auf der Hand. Eine Eintragung von 1931 weist darauf hin, dass er sich mit dem Plan der Serienpublikation jahrzehntelang ernsthaft beschäftigte, aber weder bei seinem eigenen noch bei anderen Verlagshäusern Unterstützung fand. »Die heutigen Zeiten sind schon wieder so, wie diese Jahre des vorigen Jahrhunderts. Das Publikum mag Romane lesen, und die heutige Zeit eignet sich dazu, Romane in Heften nach Art von Dickens zu veröffentlichen. Ich möchte sogar sehr einen Roman in Heften schreiben. Diese heutzutage modische Romanausgabe auf Zeitungspapier ist mein alter Editionsplan, den ich vor 12 Jahren vollständig entwickelt Imre Légrády übergeben habe.« 42

Diese mit Dickens’ Namen verbundene Art der Romanpublikation fand Móricz offenbar im zweifachen Sinne geeignet, denn anders als die täglichen Fortsetzungen ermöglichten die monatlichen, vier Bogen langen Folgen ein langsameres Tempo nicht nur des Schreibens, sondern auch des Lesens. Móricz stellte zugleich ironisch und etwas bitter fest, dass einige Verlage (zum Beispiel der Révai Verlag) seine früheren Vorstellungen über die billigen Romanserien, wenn auch aus einem ganz anderen Anlass, bereits erfolgreich verwirklicht hatten.43 Móricz sieht also einen markanten Unterschied zwischen den monatlichen, vier Bogen langen Fortsetzungen und dem täglichen Feuilleton, weil das Heft als Trägermedium mit den deutlich längeren Texteinheiten die Freiheit des Schriftstellers und des Lesers im Vergleich zum Feuilletonroman gleichzeitig erweitern kann. Für den Autor wird die Produktionszeit verlängert, und dem Leser steht eine ziemlich lange Textein40 | Vgl. Móricz: Móricz Zsigmond, S. 366. 41 | Ebd. 42 | Ebd., über die geplante Serienpublikation: ebd. S. 122. Ein Tagebucheintrag von 15. Mai 1931 zum Thema: »Meine andere alte Erfindung: das Zeitungsbuch. Ein Buch auf Zeitungspapier mit Rotationsdruck, das billig sein muss. Aber das kann ich nur mit meinen eigenen Büchern machen, weil es keinen anderen verkaufbaren Schriftsteller gibt. Der Roman Sárarany [Gold im Kote] könnte in einer Auflagenhöhe von 50 000 für einen Pengő verkauft werden, aber was sonst? Und meine Bücher sind vertraglich an ein totes Unternehmen gebunden, dessen Inhaber nichts mehr anfangen will.« ebd., S. 297. 43 | Zum Beispiel der Verlag Nova, der den zuerst im Pesti Napló als Feuilletonroman veröffentlichten Roman Mennyei riport von Frigyes Karinthy in Buchform herausgegeben hat. Über die Geschichte des Nova Verlags vgl. Bálint: A Nova, S. 372-387.

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heit auf einmal zur Verfügung. Die Länge einer Textsequenz kann auch den Text schlechthin verlangsamen: sie ermöglicht nicht nur langsames Lesen und Zurückblättern, sondern auch das Verwenden und das Funktionieren der komplexeren, auf einen längeren Textabschnitt ausgedehnten innertextlichen Verweise bzw. proleptischer, anaphorischer und kataphorischer Strukturen. Dadurch kann der Autor vom Zwang des zweifachen Schreibens, d.h. entweder der Überarbeitung zur Buchausgabe oder aber der Verkürzung des Textes für die Feuilletonpublikation befreit werden. Diese Unterscheidung verändert aber den Standpunkt von Móricz im Zusammenhang mit der Bedeutung der Feuilletonpublikation keinesfalls: er hat auch gegen diejenige Formen der seriellen Publikation und deren ästhetische Wirkungsmechanismen nichts einzuwenden, die für die autonome, ästhetisch hochwertige Literatur in Buchform keine Gefahr bedeuten. Seiner Überzeugung nach schließen diese beiden medialen Formen der Romanpublikation einander nicht aus, die verschiedenen Formen der Serienpublikation sollten vielmehr als ein unausweichlicher »Zwischenzustand« der Vermittlung der autonomen Literatur betrachtet werden. Der Feuilletonroman dürfte dafür als Beweis stehen, dass die populären und die ästhetisch wertvollen literarischen Texte einander nicht ausschließen, obwohl die serielle Rezeption notwendigerweise andere ästhetische Wirkungseffekte auslösen kann, als das (im 20. Jahrhundert fast ausschließlich) einsame Buchlesen, das in jedem Fall einem eigenen Tempo folgt und auch beliebige Tempowechsel oder retrospektive Leseoperationen erlaubt. Dass der Roman als Buch und nicht als Feuilleton (oder Heft) zum Teil der autonomen Literatur wird, steht nicht mit der ästhetischen Kapazität der Texte im Zusammenhang, sondern vielmehr mit dem Unterschied zwischen abbaubaren und nichtabbaubaren Medien. Wird der literarische Text in einem sich ständig weiterbauenden Archiv gespeichert, das der Öffentlichkeit zugänglich und infolgedessen gut recherchierbar ist, so steht er auch der Kritik und den verschiedenen Technologien der Kanonisierung (Neuausgabe, wiederholtes Zurückkehren zu Textstellen, textuelle Analyse, Neuinterpretation, Überarbeitung, historische Reflexion) unbehindert zur Verfügung. Im anderen Fall wird in einem eher geschlossenen Archiv aufbewahrt, wie es zum Beispiel die Zeitungsarchive vor dem Digitalisieren waren; hier ist das Recherchieren für Laien, für Nicht-Forscher bis heute nicht ganz einfach. In einem Zeitungsarchiv bleibt der Roman (in der Form des Feuilletonromans) als Ganzes unsichtbar, da er in der Komplexität und Vielfalt der Textnetzwerke fast zersplittert erscheint. Während der Roman als Text durch das Buchmedium von vornherein an das literarische Netzwerk angeschlossen wird, wird er in der Tageszeitung in ein gemischtes und komplexes Textnetzwerk eingeschaltet, das jedoch aufgrund seiner Komplexität in dem Moment der Veröffentlichung des Feuilletonromans für den Roman eine viel breitere Öffentlichkeit gewährleisten kann als die literarische. Die Verleger erkannten auch, dass die Wirksamkeit des in einem Massenmedium veröffentlichten Feuilletonromans im Prozess der Vermarktung des Romans als Buch unvergleichlich größer sein kann als die Effektivität aller anderen Formen der Werbung. Die Praxis des Est-Konzern (dem der Verlag Athenaeum und zwei Ta-

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geszeitungen, Pesti Napló und Az Est, angehörten), die Móricz in seinem Tagebuch im Zusammenhang mit seinen Romanen ausführlich dokumentierte, fällt mit der europäischen Praxis zusammen, die durch die gleichzeitige Veröffentlichung eines Romans in verschiedenen Medien die Positionen der Neuerscheinungen auf dem kulturellen Markt zu stärken versucht. Der Ullstein-Konzern, der »bis zur Jahrhundertwende ausschließlich als Presseverlag« fungierte,44 hat erst 1903 infolge der Expansion einen Buchverlag gestartet, und – darauf weist Ute Schneider hin –»[d] em Ullstein Buchverlag war von Beginn an, im Unterschied zu den ebenfalls noch jungen Kulturverlagen, die enge strukturelle Verflechtung mit dem Presseverlag immanent.«45 Das Programm der Romanabteilung war konzernstrategisch konzipiert: Nach Erscheinen der neuen elektronischen Medien (Film, Rundfunk) wurde »diese Strategie der Mehrfachverwertung« auch auf die neuen Medien ausgeweitet, und schon 1914 enthielten die Verträge mit den Autoren Regelungen über die Rechte an einer eventuellen Verfilmung.46 Die Redaktion der Romanabteilung baute ihre Strategie von Anfang an auf die Zusammenarbeit mit den Feuilletonteilen der Ullstein-Presse auf, und diese bewusste Marketingstrategie galt auf dem deutschen Buch- und Pressemarkt als Innovation.47 »Mit Gründung eines literarischen Ressorts innerhalb des Buchverlags bestand seit 1910 die Aussicht, im eigenen Haus Romane als Fortsetzungen in Zeitungen oder Zeitschriften und außerdem als Buchausgabe zu publizieren. Dieser geschickte strategische Schachzug ersparte dem Verlag teure Lizenzgebühren und ermöglichte ihm gleichzeitig Zweifachverwertungen. Unter dieser Prämisse stand die Lektorarbeit der folgenden Jahre.« 48

Mit Móricz (ähnlich, wie mit anderen führenden ungarischen Schriftstellern der Epoche, Mihály Babits, Dezső Kosztolányi usw.) hat der Est-Konzern einen Exklusivvertrag geschlossen, über die Revision des Vertrages nach dem Tod des früheren Inhabers Andor Miklós finden sich detaillierte Aufzeichnungen in Móricz’ Tagebuch. Laut dem Vertrag verpflichtete sich Móricz, im Pesti Napló einen Feuilletonroman pro Jahr zu veröffentlichen, der später vom Athenaeum-Verlag in der Serie der Gesammelten Werke von Móricz herausgegeben werden sollte. Obwohl das tatsächliche Produktionsverfahren vom tagtäglichen Schreiben der einzelnen Rationen bis zur nachträglichen Aufteilung eines vollendeten Romantextes in mannigfaltige Variationen existiert, lässt sich feststellen, dass die europäische Literaturvermittlungspraxis der 20er und 30er Jahre eine multi-mediale Anwesenheit vor Augen hatte, die sich Schritt für Schritt von einer binären Struktur Tageszeitung/Buch auf die Bereiche Film und Radio (und infolgedessen auf den Schallplattenmarkt) ausbreitete. Diese 44 | Schneider: Die »Romanabteilung«, S. 93. 45 | Ebd., S. 94. 46 | Vgl. ebd., S. 111ff., besonders: S. 112. 47 | Vgl. ebd., S. 97ff. 48 | Ebd., S. 100.

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multi-mediale Präsenz des Romans ist jedoch keinesfalls als Innovationselement zu betrachten. Was in der Zwischenkriegszeit als Unterschied zu den früheren Jahrzehnten auftaucht, ist vielmehr die neue Konzernstruktur. Die oben erwähnten zwei Beispiele (des Ullstein-Konzerns und des Est-Konzerns) können bestätigen, dass die institutionell unter ein Dach gebrachte Veröffentlichung von Romanen in Zeitungen und Büchern durch einen perfektionierten Professionalismus die Grundlage dafür schuf, auf das Erscheinen der neuen elektronischen, also auditiven, visuellen und audiovisuellen Medien flexibel und sofort zu reagieren und sie als neue Möglichkeiten zur Vermittlung des Romans in das bestehende System zu integrieren. Die Praxis der parallelen, quasi bi-medialen (Tageszeitung/Buch) Veröffentlichung eines Romans hat jedoch eine alte Tradition, die sich auf die Entstehung des Massenmediums und auf die Erscheinung des Feuilletonromans zurückführen lässt. Der Feuilletonroman könnte als ein Phänomen betrachtet werden, das von Anfang an in einer ursprünglichen Koexistenz mit dem Buch und dem Buchmarkt erschien. Hans-Jörg Neuschäfer ging bei der taxonomischen Definition des Feuilletonromans sogar methodologisch von der Tatsache der Buchausgabe aus,49 es habe nämlich gerade »der Vergleich mit den Buschausgaben gezeigt, dass Texte ab 20 Feuilletons meist als Monographien erscheinen, kürzere Texte dagegen in Sammelbänden zusammengefasst werden.«50 Die Richtlinien, die die Beschreibung der Gattung ermöglichen und darüber entscheiden, was sich eigentlich unter dem Etikett des Feuilletonromans subsumieren lässt, sind von einem anderen Medium, namentlich von dem Buch, bestimmt worden. Wie in Frankreich, wurden die Feuilletonromane auch in Ungarn von Beginn an, also seit 1850, nach dem Abschluss der Feuilletonromanpublikation entweder als Sonderabdrucke der Zeitung oder als Bücher veröffentlicht, in den ersten 50 Jahren allerdings erschienen die Feuilletonromane des Pesti Napló in unterschiedlichen Verlagen in Buchform. In ihrem zuerst 1876 veröffentlichten Buch Der Roman. Theorie und Technik des Romans und der erzählenden Dichtung, nebst einer geschichtlichen Einleitung stellen Tony Kellen und Heinrich Keiter die Tatsache, dass ein Buch keinen großen Erfolg erreichen konnte, wenn es nicht zuvor als Feuilletonroman in einer Tageszeitung veröffentlicht wurde, als eine Gegebenheit des Literaturmarktes dar. »Die Romane von Dumas und Sue verdankten ihren Erfolg nicht zum wenigsten ihrer Veröffentlichung im Feuilleton großer Tageszeitungen, in denen durch das bruchstückweise Erscheinen die Spannung des Publikums fortwährend wach gehalten wurde. Schon Dèvon (1798-1867), der Gründer der ›Revue de Paris‹, hatte 1829 angefangen, Romane in Fortsetzungen zu veröffentlichen. Emile de Girardin (1806-1881) führte darauf in seiner billigen, volkstümlichen Zeitung ›La Presse‹ 1834 das tägliche Romanfeuilleton ein. Seither sind fast alle bedeutenden Romane zuerst in Tageszeitungen unter dem Strich erschienen.« 51 49 | Vgl. Neuschäfer/Fritz-El Ahmad/Walter: Der französische, S. 4. 50 | Ebd., S. 4. 51 | Keiter/Kellen: Der Roman, S. 41.

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Obwohl die in diesem Zitat formulierte Schlussfolgerung schon deshalb nicht zum Mainstream-Standpunkt der Literaturwissenschaft werden konnte, weil der Ästhetizismus der Modernität die hier erwähnten populären Autoren aus dem Kanon der »hochwertigen« Literatur aussortiert hat, können die neueren Forschungen zum Feuilletonroman sie eindeutig bestätigen. Dank dem Feuilletonteil des Pesti Napló hat das ungarische Lesepublikum nicht nur die klassischen »obligatorischen« Autoren des Feuilletonromans (Dumas, Sue, George Sand, Wilkie Collins, Jules Verne, Paul Lindau, Anthony Trollope) und die Spitzenleistungen der ungarischen Literatur von Jókai bis Móricz kennen gelernt, sondern auch Autoren, die zum Kernkanon der Weltliteratur gezählt werden, wie Zola, Balzac, Sienkiewicz, Gogol, Tolstoi, Dostojewski und Heinrich Mann. Obwohl der Aufbau eines literarischen Kanons in gewissem Maße von der Häufigkeit und dem Erfolg der intermedialen Zitierung und Verwendung abhängt, kann ein Roman als literarischer Text ausschließlich dadurch in den Prozess der Kanonbildung eintreten, dass er als Buch bzw. im Buchmedium gespeichert und rechtzeitig zum recherchierbaren Teil eines expansiven Archivs wird.

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The Disjunction of Event, Recording, and Experience The Dilemmas of Reading Ellis’ Oeuvre Péter Fodor, Péter L. Varga

Even though it is quite understandable why Elisabeth Young, the first truly comprehensive reader of American Psycho, wrote in 1992 that both the debate following the novel’s publication and the book’s critical reception were »dismally revealing of the low quality of cultural commentary in England and America,«1 this strict statement still cannot provide a satisfactory answer to our question concerning the mechanisms of the literary public sphere. The public debate also caught the attention of the mass media, and in her study Young approvingly quotes Ellis’ retrospective statement about its participants, claiming that »[m]ost of them haven’t read it and those who have, I think, have missed it in a big way.«2 It would be difficult to argue with this assertion, and the debate might not necessarily offer inspiring aspects for the academic readers of the novel. Nevertheless, it is not by accident that various scholarly works have contextualized American Psycho as a case study of historically constructed cultural institutions, the workings of their media, and the discursive patterns of the literary public sphere. We can all recall Niklas Luhmann’s claim that a surplus of meaning is a system-specific feature of the mass media, one created by technical and institutional functions that exclude the direct interaction between sender and receiver.3 The freedom of communication generated this way results in uncertainty on the side of the content-creators who cannot be sure about successful reception of their message in the broad sense of the term. This necessitates the external, legal regulation 1 | Young: The Beast in The Jungle, 88. 2 | Young: The Beast in The Jungle, 88. 3 | »Entscheidend ist auf alle Fälle: daß keine Interaktion unter Anwesenden zwischen Sender und Empfängern stattfinden kann. Interaktion wird durch Zwischenschaltung von Technik ausgeschlossen, und das hat weitreichende Konsequenzen, die uns den Begriff der Massenmedien definieren.« Luhmann: Die Realität der Massenmedien, 11.

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of the media on the part of the responsible social institutions. Luhmann provided a system-theoretical description of this media-historical condition, that is, he understands the media as a system determined by the printed press and electronic media, though still untouched by the internet. Between 1990 and 1991, Ellis’ book was continuously thematized in the press as a public issue, a phenomenon all the more revealing since it is a novel whose topic and form are connected to the publicity produced by the mass media. Several months before its publication, American Psycho had given rise to much controversy and challenged the responsibility and freedom of literature as a communicational institution, raising questions such as what kind of an »external« (but not necessarily legal) intervention is called for by the mechanisms of the mass media,4 and how this situation has led to the loss of direct interaction between author and reader. In this respect, the critical reflections on the publishing of the book in March 1991 as well as the various demonstrations and performances following it definitely deserve attention. These events and their commentaries (emerging months before the book’s actual release) were summed up by Christopher Lehmann-Haupt in the following way: »as if American Psycho had returned us to some bygone age when books were still a matter of life and death instead of something to distract us on a flight between JFK and LAX.«5 There is no easy answer to the question why exactly American Psycho has become the book to make this time travel possible, in part because the novel itself has not been a real agent in the debate generated around it for quite a while, and thus it is not evident that the explanation is to be looked for in the thematic, poetic or rhetorical features of the text. American Psycho confronts us with the fact that the literary public sphere is not exclusively the terrain of authors, books, texts, critics and academics, for it has several other participators, who, without attracting any special attention, also contribute to the maintaining of literature as an institution. On the one hand, the debate around the novel’s publication transformed these previously minor characters (editorial staff, the owners of publishing houses, librarians, book sellers, socially devoted readers) into protagonists; on the other hand, the debate itself also became a media event whose channels were not merely neutral carriers of the message. When Ellis’ first novel, Less Than Zero, was published in 1985, the twenty-one year old author, totally unknown, received an almost unprecedented amount of critical attention from the American highbrow press. The novel was adapted into a Hollywood film of the same title only two years later, which (even though it turned out very poorly) contributed to Ellis’ fame, along with his public appearances. By that time, the author had obviously left the boundaries of the narrowly understood literary public sphere behind. Already before the publication of American Psycho, 4 | »Erst der Buchdruck multipliziert das Schriftgut so stark, daß eine mündliche Interaktion aller an Kommunikation Beteiligten wirksam und sichtbar ausgeschlossen wird.« Luhmann: Die Realität der Massenmedien, 32-33. 5 | Lehmann-Haupt: »Psycho«, C18.

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Ellis had been a writer of bestselling fiction and a character of the tabloid media, and this double status made his success appear as a passing fashion in the eyes of the critics who were ever so anxious about the dignity of literature.6 Although the 1987 Ellis book, The Rules of Attraction, did not receive positive critical feedback compared to his first work, his publisher, Simon & Schuster was still willing to pay him 300,000 dollars in advance for American Psycho, a work in progress. The very sum is worthy of mentioning here because in the book debate it is often used as an argument. According to the agreement between the author and the publisher, the book was to be released at the end of 1990 or the beginning of 1991, its timing suggestive of the panoramic vision of the 1980s it was supposed to provide. On October 28th, 1990, The New York Times writes: »It is more than two months until publication, but American Psycho by Bret Easton Ellis continues to be the subject of rumors and speculation.« 7 The article quotes Ellis’ agent, Amanda Urban, who admits: »when the manuscript was delivered to Simon & Schuster, ›there was some feeling of revulsion on the part of some of the younger women there.‹«8 It also came out that having read them, the cover designer of the first two Ellis books rejected the manuscript of American Psycho.9 It is not common practice at all that the opinions of the publishing house’s staff are leaked, that is, inner, administrative communication transgresses the gates of the institution. (Nonetheless, something similar happened at Random House, who eventually published the text. The New York Times writes on February 18th, 1991: »During the editing process of American Psycho, several editors at Random House have privately expressed relief that the war in the Persian Gulf has distracted attention from the book. One said, ›American Psycho will be published in March or when the land war starts.‹«10) The editor of the novel also speaks out in this October article: »It probably will upset some readers, because of its quite graphic depiction sex and violence«11; however, there is no mentioning of the publisher’s withdrawal from bringing out the book yet. The manuscript went through the usual editing process, including, among others, the approval of Simon & Schuster’s legal advisor, and received hardly any media coverage − which is of course not surprising in itself, one of the selection criteria of news production in the mass media being conflict or controversy. It is difficult to ignore the idea that the events of the upcoming months were nothing other than variational repetitions of certain elements from the novel in the public sphere. The campaign against the publication of the book was triggered by two short violence-loaded excerpts, published at the end of October and 6 | See also Baelo-Allué: Bret Easton Ellis’s Controversial Fiction, 79-80. 7 | McDowell: »Violent book hit by rumors«, 3F. 8 | McDowell: »Violent book hit by rumors«, 3F. 9 | Sheppard: »A Revolting Development«, 100. 10 | Cohen: »Editorial Adjustments In ›American Psycho‹«, 13. 11 | McDowell: »Violent book hit by rumors«, 3F.

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in December by Time 12 and Spy 13 magazines, respectively. The latter quotes altogether two (!) sentences from the novel as a sample, and the author of the article attributes these sentences to Ellis’ own voice, who was just about to set out on a promotional tour after the book release.14 Then, a third sentence from the novel appears, carefully surrounded by the names of Ellis’ agent and the heads of the publishing house, who − just like the characters of yet another imaginary situation − are set in a future scene, recollecting in an elegant restaurant how much profit this sexual horror actually yielded them.15 This is how the narrative scheme that was to be recycled so often in the following months was created: the writer who is incapable of maintaining his authorial fame with merely literary means,16 the money-grubbing publisher, and young women falling victim to sexual violence. The presumption of the Time journalist (which could hardly be called benevolent) was not without impact either, implying that Simon & Schuster only decided to publish the book because they wanted to win back the deposit they had paid to Ellis. And this is how, even before its release, the book had become the emblem of economic-consumer logic − something of which it provides an utterly satirical reading, as various later interpretations argue.17 It is important to emphasize here 12 | Sheppard: »A Revolting Development«, 100. 13 | Stiles: »How Bret Ellis Turned Michael Korda Into Larry Flynt«, 43. 14 | »In its current catalog Simon and Schuster announces the January publication of American Psycho by Bret Easton Ellis. Happily, the catalog mentions that Ellis will do ›a fivecity reading tour.‹ There really is nothing quite like hearing a poet or splendid prose stylist read from his own work. One can just picture in the wainscoted upstairs room of Atlanta’s or Chicago’s or Boston’s finest independent bookstore reading in effortless cadences: ›I keep spraying Torri with mace and then I try to cut off all of her fingers and finally I pour acid into her vagina which doesn’t kill her, so I resort to stabbing her in the throat and eventually the blade of the knife breaks off into what’s left of her neck, stuck on bone, so I stop. While Tiffany watches, finally I saw the entire head off – torrents of blood splash against the walls, even the ceiling – and holding the head up, like a prize, I take my cock, purple with stiffness and lowering Torri’s head to my lap I push it into her bloodied mouth and start fucking it, until I come.‹« Stiles: »How Bret Ellis Turned Michael Korda Into Larry Flynt«, 43. 15 | »Michael Korda is the editor in chief of Simon & Schuster, Richard Snyder is the company’s chief executive officer, and Amanda ›Binky‹ Urban is Ellis’s agent. When these three next dine at Bouley, they should remember that such sentences as ›In my locker in the locker room at Xclusive lay three vaginas I recently sliced out of various women I’ve attacked in the past week‹ will be helping to pay the check.« Stiles: »How Bret Ellis Turned Michael Korda Into Larry Flynt«, 43. 16 | »He couldn’t write the same book for a third time, and evidently he couldn’t actually write a book that would earn attention on its merits, so he chose a course that will inevitably cause controversy and get him lots of press.« Stiles: »How Bret Ellis Turned Michael Korda Into Larry Flynt«, 43. 17 | See also Gomel: »›The Soul of the Man is his Clothes‹«, 50-63.

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that, in the following months, several participants of the public debate on American Psycho read only these short excerpts. Naturally, the magazine publications were meant to call attention to the thematic aspects of the quotes, and took little notice of the fact that the motifs of these widely circulated scenes (chopping up, cutting off and out) and Bateman’s synecdochal practice of knowledge production (wanting to understand or at least experience otherness through the separated parts of the body) are all recognizable in the gesture by which the magazines themselves had treated the text: they publicized excerpts torn out of their original context, commenting on certain sentences from the novel that, instead of giving voice to the whole work, gave the impression that such passages appear on each page. Also, with their rather aggressive commentaries they wished to campaign against the very publication of the book. On December 16th, 1990, The New York Times writes: »The Time and Spy articles caught the worthlessness of the book, and thus subsequently did Mr. Snyder and Mr. Davis. Quite rightly, they stopped the book cold.«18 According to the journalist’s interpretation, the heads of the publishing house and Paramount, the film company owning the publisher only wanted to prove with their decision that for them good taste and social responsibility are more important than making profit. (This blame, of course, all at once landed with the head of Random House, who bought the manuscript and in this respect was greedy, or even »clearly as hungry for a killing as Patrick Bateman.«19) As a response, another group of the participating literary public, writers and writers’ organizations, interpreted the publisher’s rejection as a proof that Paramount, the big fish of entertaining industry, was intervening with the activities of the publishing house and, by doing so, depriving literature of its autonomy. They do not forget to mention it either that one can hardly take the value judgment of such a concern seriously which is also the producer of horror series such as Friday the 13th, among others. Bret Easton Ellis’ twofold status as a writer presumably played a role in the unfolding of the events. On the one hand, he was an acknowledged author of a manuscript representing high culture, and the dispute was not only about the book, but also about how far high culture can go. A popular or subcultural text could not have possibly generated such a controversy, involving so many participants (this is why Friday the 13th is not actually an apt example here). On the other hand, Ellis and the entire Brat Pack emerge as mediated, code-breaking images and enable the critics of Ellis to consider them as representatives of a group who had forgotten about the true purpose of literature.20 Still, this image can also be inscribed into the fictional world of American Psycho, along with the biographical 18 | Rosenblatt: »Snuff This Book!«, 3. 19 | Rosenblatt: »Snuff This Book!«, 3. 20 | According to the final conclusion of Sonia Baelo-Allué’s overview of the reception history, »There were many reviews but most of them did not seriously analyse the novel’s stylistic features or literary choices. They feared that Ellis was blurring the boundary

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author identified with it. At the forefront of the latter initiative we find those feminists who, well before the book release, had agitated for the boycott of the book, and the publisher, before anyone could actually read the novel.21 This is how the young, successful, and rich Ellis, and the young, successful, and rich Bateman have become each other’s interpretations, while the fictional or rather imaginary deeds of the character in the novel have transformed into the mere projections of the author’s misogyny. As the head of the National Organization for Women in Los Angeles put it: »Mr. Ellis is a confused, sick young man with a deep hatred of women who will do anything for a fast buck.«22 In March of 1991, Ellis eventually responded to the feminists’ actions and the anonymous lethal threats he had received: »I would think most Americans learn in junior high to differentiate between the writer and the character he is writing about.«23 However, he did not reflect on his own public image, which merges the biographical author, the implied author, and the protagonist, and bears an uncanny resemblance to the way American Psycho’s characters are incapable of differentiating among themselves and keep mixing up who is who. Years later, Ellis remarked in several interviews that he resented certain feminists who took part in the debate because they were abusing his name to build up their own careers.24 One thing is for certain: with their resounding phrases, often simplistic statements and spectacular bookstore actions,25 they could actually enter the mediated space of the book dispute. Doubtlessly, literature − or even in a more general sense, art − often proves too easy a target for abusive political ideologies, while the potential arguments in defense of it are inevitably much more complex than being effectively applicable outside of its own medium. The literary public sphere thus cannot readily fend off the attacks coming from other discourses. While the mass media have labeled Ellis as a »celebrity author,«26 they did not take part in meaningfully commenting on the novel, a text representing a major challenge for the reader. This task was thus left to the conventional workshops of literary criticism, while to handle the problems emerging in the process of distributing the book (such as consumers’ questions and demonstrations), Publishers Weekly circulated a manual for booksellers.27 On March 1st, the Los Angeles Times published an article on the preparations carried between what was acceptable in serious literature and what was not.« Baelo-Allué: Bret Easton Ellis’s Controversial Fiction, 90-91. 21 | See also McDowell: »NOW Chapter Seeks Boycott of ›Psycho‹ Novel«, C17. 22 | Cohen: »Bret Easton Ellis Answers Critics of ›American Psycho‹«, C13. 23 | Cohen: »Bret Easton Ellis Answers Critics of ›American Psycho‹«, C13. 24 | See also Clarke: »An Interview with Bret Easton Ellis«, and Waters: »Stories Built On Emotions: The Bret Easton Ellis Interview«. 25 | See also Waters: »Sting Like A Bee: A Critical Exploration Of All Things Bret Easton Ellis«. 26 | See also Baelo-Allué: Bret Easton Ellis’s Controversial Fiction, 13-21. 27 | See also Simpson: Psycho Paths, 218.

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out before the launching of the novel in the bookshops, claiming for example that »[o]ne West Hollywood bookstore has gone so far as to insert a disclaimer into each copy of the paperback original saying, ›Dear Reader: Book Soup is making this book available to you because of our commitment to the doctrine of freedom of expression. This should not be construed to be an endorsement of the contents.‹«28 This passage demonstrates the booksellers’ typically ambivalent attitude towards the novel quite well. Also, according to statistics, »98 % wanted to sell the book, though 90 % said it should not be publicized;« moreover, a press release by one of the distributing networks − evidently in response to the feminist boycott − emphasized the following: »[w]e believe in the right of an individual to make his or her own choice with regard to reading material.«29 Rosa A. Eberly’s book, Citizen Critics: Literary Public Spheres points out that »whereas institutionalized literary critics, lawyers, and judges have accepted the criterion of ›literary merit‹ as warrant for no longer censoring or suppressing most works of fiction, citizen critics,« are »less settled about whether ›literary merit‹ (or the more pedagogical ›good writing‹) is in itself a legitimate or ultimate criterion for making judgments about works of fiction.«30 As we have already seen, the public debate on American Psycho had been going on for months, when most of the participants of the dispute had not even read the whole text yet, and thus they naturally could not rely on an aesthetic judgment. What is more, they did not even consider it necessary, since certain feminists and journalists had already tried to dissuade the book’s potential readers from buying it, suggesting that the rejection of both the buying and reading of the novel were the socially adequate gestures. When in March of 1991, Norman Mailer published a relatively lengthy essay on Ellis’ novel in the pop culture magazine, Vanity Fair, he both argued for the autonomy of the literary sphere and the high freedom factor of literary communication, also making it clear that the fictional schemes of psychological realism as applied by him in the reading process, cannot enter into a fertile dialogue with Ellis’ text.31 One of Mailer’s major criticisms was that Ellis fails to introduce the reader into Bateman’s inner world, and as a result, by the end of the book no light is shed on the motivations behind the protagonist’s horrific deeds.32 At the same time, Ellis himself did not think the purpose of American Psycho was to disclose Bateman’s impulses by the end of the book, since it is neither a Bildungsroman nor a novel based on the Mailerian schemes of psychological realism, nor a parable in the 28 | Pristin: »Gruesome Novel ›American Psycho‹ Hits Bookstores«, B1,8. 29 | Pristin: »Gruesome Novel ›American Psycho‹ Hits Bookstores«, B1,8. 30 | Eberly: Citizen Critics, 3. 31 | See Mailer: »Children of the Pied Piper«, 124-9, 182-3. 32 | From a European perspective, one could argue that the American novelist found the achievement of his young colleague insufficient based on a system of literary expectations comparable with the tradition represented by Dezső Kosztolányi’s Édes Anna (1926) and Albert Camus’ L’Étranger (1942).

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strict sense of the word. The reader’s desire to create profound moral judgments about the novel (or its narrator) remains unsatisfied. In so far as one of the tasks of fiction − muses Ellis − is to »find solutions,« and not to reflect the horrors of real life in the way they actually occur, but rather to make sure that the evil earns its due punishment, to restore order, and to boost the belief and trust in the rightness and necessity of fundamental moral and ethical norms, American Psycho falls short of this task. Ellis’ novel invites totally different modes of reading, and does not promise any kind of transparent »readability« or restoration of time out of joint. The failure of reading − as literary hermeneutics has already pointed out − can be instructive. The debate preceding the publication of the book reveals the mechanisms of the polyphonous nature of social communication within the mass media, as represented in Ellis’ novel (for example, the yuppies in the book have a favorite television program where the presenter also declares an absolutely devastating opinion of the text).33 The ineffectiveness of Mailer’s reading strategy also reveals something about the difference between the construction of Less Than Zero and American Psycho: the closure of the latter work, where »one of the doors covered by red velvet drapes in Harry’s is a sign and on the sign in letters that match the drapes’ color are the words THIS IS NOT AN EXIT,« withdraws the possibility still present in the first novel, namely, the ability of the narrator-protagonist of the first book to form moral judgments (»It’s… I don’t think it’s right«),34 also foreshadowing the brutal scene of American Psycho where the protagonist stays outside and eventually escapes at the end of the novel. An important question emerges here: what kind of subject positions are inscribed into the text for the reader? Taking a step back from the large-scale media event the debate transformed into, the answer can be found in the less spectacular »hard« workshops of the literary public sphere. Whether the reading strategies of psychological realism can construct a valid interpretive strategy for Ellis’ oeuvre is a question that fails to be duly answered by the understanding of Less Than Zero. One of the book’s critics described the narrator as a character who »has an implausibly schizophrenic consciousness,« and is at the same time outside and inside of the world around him; furthermore, »Clay’s own identity and consciousness is replaced by the string of events which, like the video images before his eyes, he seems to have no control over, and which in the end perhaps entertain for a while, but can never really satisfy.«35 Clay’s sister gives him a diary, but he says he is unable to write entries in it: »I tried to keep a datebook one summer, but it didn’t work out. I’d get confused and write down things just to write them down and I came to this realization that I didn’t

33 | See also Murphet: Bret Easton Ellis’s American Psycho, 68. 34 | Ellis: Less Than Zero, 177. 35 | Pan: »Wishing for More«, 143-154.

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do enough things to keep a datebook.«36 In a naive reading, these sentences could prove that the novel’s minimalist structural and stylistic underpinnings lack any sort of cause and effect relationship or character motivation. This passage could therefore be read as a self-reflexive remark, but it also raises a much more complex issue: the confusing of the character and the author, or the dilemma of the equivalence or différance of the narration and the narrative. If we presuppose a difference between the two, we have already made the first step towards basing our reading and judgment on literary-aesthetic categories, and also towards measuring the moral stake of the book against these categories. The mass media of course favors the opposite method. That the publisher was almost prevented from publishing American Psycho and that moral judgment was passed on the work recalls the case of Flaubert’s Madame Bovary even today.37 American Psycho has also had academic readers who considered rejecting the idea of fiction within fiction, i.e., the possibility of imagination (concerning fiction/reality, real and imaginary deeds, and whether the protagonist-narrator Bateman’s acts are real in the world of the novel or are they merely the constructions of his fantasy) because the latter reading »would draw its fang at once.«38 This problem can be regarded as a consistent interpretive position that is all the more important in the case of a work being relocated, or rather relocating itself in the seriality of reality (see for example the initial stage of the book’s publishing and reception history). Even though reading the novel as a satire can be treated as a question separate from this context, the deeds and events in the book are staged as real. They might as well be withdrawn into an uncertain status, however, and they also reflect how the text’s structure is based on manipulation and exchange − a phenomenon that occurred in the public reception of the novel as well. At the same time, this is the major epistemological stake of the novel’s world: just as the elements of the object environment are structured in correspondence to borrowed discourses and fill up the empty spaces of the products and catalogs; nature and technology are also reversed and turn into the signifiers of a manipulated and distorted kind of perception − exactly the same way the text itself is being distorted in the public sphere − and become the symbols of the blind spot of reading. The fact that the mass media and the public do not and cannot require all these experiences suggests that they aim at the discursive regulation of public utterances about judgments of morality and taste, while the mass media mostly feeds upon the destruction of these judgments, and actually organizes itself along the fault lines of publicity. It is especially telling that the reading culture of the past almost thirty years has taken the works of Ellis as the basis of extremely diverse insights and arguments, first of all by interpreting the oeuvre as a cultural critique of the Anglo-American 36 | Ellis: Less Than Zero, 63. 37 | See also Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, 145154, 168-206. 38 | Bán: »Túl a minimalizmuson«, 8.

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context. From a more radical political point of view, American Psycho as well as all the previous and following texts have been retrospectively revalorized.39 One of the first monographs written in English and giving a systematic account of Ellis’ works offers mainly political readings of the texts,40 an interpretive strategy to which the novels themselves − by rewriting and mediating their own reading experience − take an essentially ironic, even parodic stance. To demonstrate this, we quote three excerpts from the short (parodic) memoir of the pseudo-autobiographical narrator of Lunar Park, starting with a passage in connection with the first novel, Less Than Zero: »It was an indictment not only of a way of life I was familiar with but also – I thought rather grandly – of the Reagan eighties and, more indirectly, of Western civilization in the present moment.« […] »The Rules of Attraction was written during my senior year at Camden and detailed the sex lives of a small group of wealthy, alienated, sexually ambiguous students […] during the height of the Reagan eighties. […] and it was supposed to be an indictment of, well, really nothing, but at that point in my career I could have submitted the notes I had taken in my junior year Virginia Woolf course […]« […] »What’s left to say about American Psycho that hasn’t already been said? […] I wrote a novel about a young, wealthy, alienated Wall Street yuppie named Patrick Bateman who also happened to be a serial killer filled with vast apathy during the height of the Reagan eighties.«41 The self-reflexive voices of Lunar Park do not leave the logic of publicity untouched either, and this book, published fourteen years after American Psycho, ironically redraws the map of critical publicity. The debates around the career of Ellis also have a piquant addition: the 2005 novel was defended precisely by another celeb author in the columns of Entertainment Weekly – with certain critical reservations, though − who had previously been identified as the »father figure« of the text by critics and who at the beginning of the seventies, arriving from deep poverty, had become one of the wealthiest writers in the world, as well as a pop cultural icon. This is an author who has earned a fortune by representing both unconscious and collective social anxieties, and who – rousing Harold Bloom, the author of Western Canon to indignation – in 2003 received one of the most prestigious American literary prizes, the National Book Award. It is none other than Stephen King, who writes about American Psycho the following: »it was bad fiction by a good writer,« and »in American Psycho, that boringly bloodthirsty book, it was

39 | As to what extent this is an aesthetic gesture, see our monograph on Ellis’ oeuvre, published in Hungarian. Fodor/L. Varga: Az eltűnés könyvei. Bret Easton Ellis. 40 | Colby: Bret Easton Ellis. Underwriting the Contemporary. 41 | Ellis: Lunar Park, 6, 13, 15. Note that the retrospective commentary builds on the one-directional, identical or similar panels of political and cultural critical reading of all the books, and thus simplifies the interpretation of »Ellis imitating Ellis« (see also the mise-enabyme-like opening sentences in the first two chapters of the novels).

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clear to me that Ellis was a fine storyteller.«42 King might not really take notice of the moral dilemmas of American Psycho, since he is first and foremost interested in the literary reading of the work. If at certain points of the critical discourse Ellis has appeared as a devilish figure, King is trying to make sure that (still from the perspective of literary reading, or the »hard« workshops of literary criticism) the image of Ellis, based on Lunar Park, should turn into its exact opposite. Turning one of the self-reflexive passages of the novel upside down (»Who was going to buy the pitch I was making in order to save myself?«43) he remarks: »Me, for one, and I get a 20 percent discount, too. I started looking for my own footprints, and ended up following Ellis’. Not a wasted trip, either. Not at all. […] That is the true magic of novels, which often possess more strength (and reality) than their creators suppose: They see into our secret hearts. Speaking of hearts, readers of Lunar Park may be surprised to find that Bret Easton Ellis has a surprisingly large one. Here is a book that progresses from darkness and banality to light and epiphany with surprising strength and sureness.«44 The author of American Psycho, who has been called a misogynist and mentally disturbed, and who was forced into the position of continuous self-defense (which Ellis finds humiliating), appears in King’s somewhat careless reflection in an extraordinarily flattering way, while Patrick Bateman’s character simply comes through as an unpleasant figure »who’s backed you into a corner and keeps telling repetitive anecdotes while his drink dribbles slowly onto your shirt.«45 If nothing else, there might be at least one valuable insight in this remark: it emphasizes the difference between the author and the narrator, a point also underlined by Ellis in the debate about American Psycho. As to the public representations of the above mentioned writers and the registers of elite literature and popular culture (this question has gained special significance in connection with Ellis’ novel and Friday the 13th), King does not hide his surprise at Lunar Park being identified by critics as an homage to him. »I thought he [a clerk] must have been joking — city-glitterati Bret Easton Ellis doing Stephen King seemed about as likely as Stephen King doing Philip Roth,«46 which might (self-)ironically refer to Harold Bloom’s opinion, according to whom (beside DeLillo, McCarthy or Pynchon) Roth would have deserved the National Book Award instead of King, and the literary critic even voiced this opinion in 2003.47 42 | King: »My So-Called Admirer«, 100. 43 | Ellis: Lunar Park, 360. 44 | King: »My So-Called Admirer«, 100. 45 | King: »My So-Called Admirer«, 100. 46 | King: »My So-Called Admirer«, 100. 47 | The lifework and achievement of Roth were naturally not affected by all this. In connection with him it is still worthwhile to note that not long ago Ellis actually named him as an author whose books he had not previously known, however, has recently discovered and read everything by him. Roth has already won the National Book Award twice before.

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The roles of the reader, the critics, and the narrator of Lunar Park transpose the discursive components of the critical reception of the first book, Less Than Zero. They do so by putting the catchphrase about the fictional characters (namely, that they are »sort of junkie zombies«48) into the mouth of one of the novel’s characters. This person was actually one of the editors reading the manuscript of the first volume, and thus the book basically writes the characteristic features of the public discourse about the novel back into the very sphere preceding critical publicity, or rather causes these features to originate there. Not long ago, Ellis pushed this game to the extreme by publishing countless posts on Twitter about the sequels of American Psycho. In his posts, which appeared all throughout one night, he shared his ideas with his followers and in some cases even asked for advice concerning the individual scenes. This was of course reported by the press the next day, namely that Bret Easton Ellis was working on the sequel of the famous novel.49 Even though it had been widely known for months that only ten years after Mary Harron’s 2000 film adaptation of American Psycho the remake of the movie was being shot, the brainstorming about the sequel and the production of the remake are not necessarily connected to each other. However, it is striking that the rediscovered and reformed character of Bateman – a central figure both in the tweets and the movies – is articulated within a kind of publicity that actually precedes publicity, and thus also becomes the object of a discourse. To be more precise, the less regulated forms of various channels of publicity seem to be molding the public discourse about fiction: anyone can follow Ellis’ posts, but due to the restricted length and communicative potential of the posts, their ability to be interpreted is strongly limited. It is especially thought-provoking that Bateman, who tries to understand himself exclusively via medial translations and transpositions, again becomes a media event. This also means that his character does not offer (finished) literary material for reading and interpreting, simply because such a text does not exist yet. Another striking aspect is that Ellis, who at the beginning of the 90s was identified by certain radical feminists with the narrator-protagonist of American Psycho, uses Bateman to brainstorm about his special preferences and deviances, producing a wide variety of utterances. This could create fresh controversy not only from the point of view of a less reflected biographical-psychoanalytic reading, but also considering the brevity of a post (and the authorial voice of the posts).50 Given that the next day Ellis also shared on his Facebook page the newspaper About the debate around King’s prize see Kirkpatrick: »A Literary Award For Stephen King«, E1, E5. 48 | See also Grey: »Zombies Less Than Zero«, 80. 49 | See the summing up on Shortlist.com, later posted by Ellis on Facebook: www. shortlist.com/entertainment/is-bret-easton-ellis-writing-american-psycho-2 50 | See also for example »Hmm…Page 5… Murdering David Beckham in an elevator in Manchester…«; »Scene where Chris Martin and Patrick Bateman eat waffles and talk about how cool St. Vincent is… and then Patrick slits his throat. Notes.«; »Making new notes.

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articles summing up the tweets, it seems that he is playing a similar game with the (literary) public and the readers to his alter ego in the novel, especially when writing the value judgment borrowed from the critical reception of his first novel (the characters as »junkie zombies«) into the text of Lunar Park. He actually places it back into a time preceding the publication of Less Than Zero. (From this perspective it is rather ironic that the title of the film Friday the 13th and the publication of American Psycho was mentioned in the dispute and then also pops up among Ellis’ tweets as a program watched by the young Bateman [»Patrick watched Friday the 13th when he was sixteen but… page seven on notes for sequel«]. It is difficult to get rid of the idea that all of this is ironic subversion of the publishing history and the public discourse of that given period, as well as of the interpretations expecting Ellis to provide »psychological realism« and an explanation of Bateman’s motives; in addition, this subversion is carried out by incorporating a classic slasher movie into the fiction in the process of being written). It is quite an ambivalent question whether these gestures can be evaluated as self-reflection or self-promotion, since in the public sphere of the internet and the community sites they are staged as everyday events, and the effect of such utterances erodes much more quickly. Regarding the novels, the situation is of course different, because their complex poetic strategies inscribe into the texts the relationship of reality and publicity, which in turn also factors into how they are interpreted. At the same time they represent the evasive games of the media. The texts are thus not only capable of contextualizing themselves in the literary tradition, but they also comment on the nature of the various aesthetic ideologies forming it. The latest Ellis novel, Imperial Bedrooms, published in 2010, transforms and deconstructs the public reception of Ellis’ oeuvre with a similar strategy and mediates the reading experience. The novel’s narrator (Clay), who is supposed to be identical with the narrator of the first novel, Less Than Zero, calls the narrator-protagonist (Clay) an »inarticulate zombie«51 as a result of the author’s (Ellis’) wicked deeds. With this gesture he becomes connected with the narrator of Lunar Park, Bret Easton Ellis, who in turn attributes this description of the characters of Less Than Zero to one of the editors of the manuscript, while in reality the critical discourse about the book spreads due to all these events. It is a typical − and not at all negligible − aspect of the American context that the texts only become »accessible« and »readable« for the wider public through film adaptations. It is thus no wonder that Imperial Bedrooms, which starts with the interpretation of the film version of Less Than Zero, explains the failure of the movie with reference to the regulations of the public discourse on morality: »The reason the movie dropped everything that made the novel real was because there was no way the parents who ran the studio would ever expose their children in the same black light the book Going to bed. Can’t believe this happened. Am I really going to start doing this? PB says yes…« 51 | Ellis: Imperial Bedrooms, 5.

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did. […] in the book Julian Wells lived but in the movie’s new scenario he had to die. He had to be punished for all of his sins. That’s what the movie demanded. (Later, as a screenwriter, I learned it’s what all movies demanded.)«52 Clay refers here to the fact that the novel as a genre offers essentially different representations and reading strategies of moral dilemmas than does film, which is a product that depends on the studios. In order for the novel to create such a resonant surface for its own reception and the regulation of the discourse about it, other events have also made a slight contribution. For example, the articulation of the primary text in the public space: parallel with the release of the print edition, Random House published Imperial Bedrooms as an audio book and invited Andrew McCarthy to be the reader, that is, the narrator of the text. Twenty-three years before, in the 1987 film version of Less Than Zero, it was McCarthy who acted the part of the protagonist, Clay. The publisher also made a book trailer − such short films promoting novels, similar to movie trailers, are not at all unique nowadays. The production of the audio book was documented, too, recorded and published online along with an interpretation by Andrew McCarthy.53 According to the actor, the previous and the new Clay are the same person, and his statement carries an extra meaning because Ellis is obviously aware of the public debates generated by the work or works; accordingly, he presents his narrator at the beginning as a learned commentator of the first novel, Less Than Zero, but later writes him back into the critical discourse as a perfect dilettante when it comes to understanding the events taking place in the novel. The characters of this critical discourse thus have an interpretive horizon − at least within the publicity of the mass media and the daily papers − that can hardly reach into the world of American Psycho. In one of the last scenes of Imperial Bedrooms, in a cool house in the desert, Clay handles two youths in a way that is very similar to a scene described in American Psycho, remarking: »and in the house was a copy of the book that had been written about us over twenty years ago.«54 This date can both refer to American Psycho, or, based on the cover description, to Less Than Zero. Although we are in the desert scene (»then the camera tracks across the desert«55), several media systems collapse into each other, and the text raises serious questions about its own epistemological status. As in the closure of Glamorama, all the (characters’) identities are questioned, and in the same way, the ground is finally cut from under the discourse of literature’s responsibility. The reading strategies of Imperial Bedrooms, Less Than Zero, American Psycho, and Lunar Park, as well as their reception history and the discourse surrounding them − articulated in the literary public

52 | Ellis: Imperial Bedrooms, 9. 53 | See McCarthy: »On Imperial Bedrooms«. 54 | Ellis: Imperial Bedrooms, 158. 55 | Ellis: Imperial Bedrooms, 159.

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sphere and even beyond that − subvert and even erase the memory of conventional reading schemes. One of Ellis’ critics argues that the disturbing scenes in Less Than Zero perform a cultural critique, and that its minimalist narrative does have »its extreme moments, but they were buried in the narrative and seemed to be there mainly to give the otherwise lightly plotted novel a sense of structure.«56 As opposed to this, he blames Imperial Bedrooms with being »nothing but nihilism (not a criticism). […] Imperial Bedrooms is a wonderfully merciless novel: where once was glamour we now find only horror.«57 It seems that Ellis’ experiments with mediating the reading experience of the Ellis-books, and recycling the public speech about the texts into the literary event itself, do point out the blind spots of the mass media. Corresponding to the logic of this blind spot, they also make the (rather conspicuous) media disappear. (Translated by Eszter Ureczky)

W orks C ited Primar y Sources Ellis, Bret Easton: Less Than Zero, London: Picador, 1985. — Lunar Park. New York, Vintage Books, 2006. — Imperial Bedrooms, New York: Alfred A. Knopf, 2010.

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56 | Thorne: »Imperial Bedrooms by Bret Easton Ellis«. 57 | Thorne: »Imperial Bedrooms by Bret Easton Ellis«.

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Eberly, Rosa A.: Citizen Critics: Literary Public Spheres, Urbana/Chicago: University of Illinois Press 2000. Fodor Péter/L. Varga Péter: Az eltűnés könyvei. Bret Easton Ellis, Budapest: Palimpszeszt/Prae.hu 2012. [Books of Disappearance: Bret Easton Ellis] Gomel, Elena: »›The Soul of the Man is his Clothes‹: Violence and fashion in American Psycho«, in: Naomi Mandel, ed.: Bret Easton Ellis. American Psycho, Glamorama, Lunar Park. London/New York: Continuum 2011, 50-63. Grey, Paul: »Zombies Less Than Zero«, in: Time Magazine 10 June 1985, 80. Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: Jauß: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970. King, Stephen: »My So-Called Admirer«, in: Entertainment Weekly 30 September 2005, 100. Kirkpatrick, David D.: »A Literary Award For Stephen King«, in: The New York Times 15 September 2003, E1, E5. Lehmann-Haupt, Christopher: »›Psycho‹: Whither Death Without Life?«, in: The New York Times 11 March 1991, C18. Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Westdeutscher Verlag: Opla­ den 1996. Mailer, Norman: »Children of the Pied Piper: Mailer on American Psycho«, in: Vanity Fair March 1991, 124-9, 182-3. McCarthy, Andrew: »On Imperial Bedrooms«, www.youtube.com/watch?v=D5BzbjaA15U [Accessed 25 August 2013] McDowell, Edwin: »Violent book hit by rumors«, in: The New York Times 24 October 1990, 3F. — »NOW Chapter Seeks Boycott of ›Psycho‹ Novel«, in: The New York Times 6 December 1990, C17. Murphet, Julian: Bret Easton Ellis’s American Psycho. A Reader’s Guide, New York/London: Continuum 2002. Pan, David: »Wishing for More«, in: Telos, Summer 1988, 143-154. Pristin, Terry: »Gruesome Novel ›American Psycho‹ Hits Bookstores«, in: Los Angeles Times 1 March 1991, B1,8. Rosenblatt, Roger: »Snuff This Book! Will Bret Easton Ellis Get Away With Murder?«, in: The New York Times Book Review 16 December 1990, 3, 16. Sheppard, R. Z.: »A Revolting Development«, in: Time Magazine 29 October 1990, 100. Simpson, Philip L.: Psycho Paths: Tracking the Serial Killer Through Contemporary American Film and Fiction, Carbondale: Southern Illinois University Press 2000. Stiles, Todd: »How Bret Ellis Turned Michael Korda Into Larry Flynt«, in: Spy December 1990, 43. Thorne, Matt: »Imperial Bedrooms by Bret Easton Ellis«, in: Telegraph 11 July 2010, www.telegraph.co.uk/culture/books/7877348/Imperial-Bedrooms-by-Bret-Easton-Ellis-review.html [Accessed 25 August 2013]

The Disjunction of Event, Recording, and E xperience

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Medien zwischen Latenz und Symbol Der Begriff des Mediums bei Niklas Luhmann Hajnalka Halász

Es gibt zwar mittlerweile viele Handbücher, die die Wirkung der Systemtheorie auf die Literaturwissenschaft dokumentieren, aber aus Rezeptionsüberblicken der letzten Jahre geht hervor, dass diese anfangs noch intensive Wirkung die 1990er Jahre nicht überlebte und sich auch nicht als stark genug erwies, die Grenzen der deutschsprachigen Gebiete zu überschreiten. Ein gutes Beispiel des anfänglichen Interesses ist, dass es nur ein knappes Jahrzehnt brauchte, bis sich die »systemtheoretische Literaturwissenschaft« zu einer auch von Handbüchern registrierten literaturtheoretischen Richtung entwickelte.1 Es wäre jedoch eine Übertreibung, die diffusen Entwicklungen dieser Rezeption als eigenständige literaturtheoretische Richtung zu bezeichnen. Auch in der einführenden Fachliteratur werden die verschiedenen »Schulen« unter den Namen einzelner Literaturwissenschaftler verzeichnet. Zu Beginn hätte man noch einen gemeinsamen Nenner darin finden können, dass diese Literaturwissenschaftler die Literatur als autonomes Teilsystem der Gesellschaft voraussetzten, dessen Code und Funktion durch die mehr oder weniger modifizierten Begriffe der Systemtheorie zu beschreiben sind.2 Nach dem Erscheinen des Bandes Die Kunst der Gesellschaft (1995) verschoben sich die Schwerpunkte jedoch: Während in den frühen Ansätzen noch die Schriften zur allgemeinen Theorie als Ausgangspunkt dienten – und den Akzent auf die Beschreibung der gesellschaftlich-kontextuellen Einbettung der Literatur legten –, erwies sich aus späterer Perspektive nicht nur die Vorstellung eines autonomen Literatursystems als problematisch, sondern auch die Einseitigkeit der Beschreibungen, die »nur wenig über die textuellen Strukturen von Semantiken aussagen […] können.«3 Die neueren Adaptationsversuche, 1 | Vgl. Burdorf/Fasbender/Moennighoff: Metzler Lexikon Literatur, S. 748-749; Nünning: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 521-523; Köppe/Winko: Neuere Literaturtheorien, S. 260. 2 | Vgl. Schmidt: Neuere Literaturtheorien, S. 175. 3 | Jahraus: Adaptationen und Rezeption, S. 371.

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die heute in erster Linie durch die Arbeiten von Oliver Jahraus geprägt sind, betrachten die Literatur nicht mehr als System, sondern als ein Medium, dessen Funktion es ist, die Einheit der Differenz von Bewusstsein und Kommunikation jeweils neu zu definieren.4 Dabei sollte vor allem die starke Diffusität der literaturwissenschaftlichen Rezeption der Systemtheorie zu denken geben, welche das Fach seinerseits schon sehr unterschiedlich zu erklären versuchte.5 Obwohl die Systemtheorie in der Literaturwissenschaft am meisten im Kontext der hermeneutischen und der poststrukturalistischen bzw. der dekonstruktiven Sprachtheorie reflektiert wird (als Beispiel könnte man hier zwei Bände erwähnen, die in der Mitte der 1990er Jahre von denselben Herausgebern unter den Titeln Systemtheorie und Hermeneutik bzw. Differenzen. Systemtheorie zwischen Dekonstruktion und Konstruktivismus veröffentlicht wurden),6 würde ein solcher Überblick der Rezeption zu nicht minder diffusen Resultaten führen. Einerseits scheint es nämlich, als ob die Systemtheorie per se hermeneutische Aspekte enthielte. Die Adaptationsversuche »einer systemtheoretisch informierten Hermeneutik« 7 könnten aber vielmehr in Hinsicht auf die Rezeption der Hermeneutik interessant sein, die sie somit affirmativ modifizieren. So verspricht das systemtheoretische Paradigma für die Richtung, die an der geschichtlich-kontextuellen Interpretation der Literatur interessiert ist, nicht nur den Ausweg aus der »Anarchie« 8 der Dekonstruktion, sondern auch die Erneuerung des hermeneutischen Begriffs des Verstehens. Laut den Anhängern der kulturwissenschaftlichen Richtungen, die anstatt von Begriffen wie »Sinn« oder »Verstehen« eine sinnliche Materialität und Präsenz in den Vordergrund stellen, lassen dieselben hermeneutischen Zusammenhänge ganz im Gegenteil die anachronistischen Züge der Theorie erkennen. Einer der vehementesten Vertreter dieser Kritik ist Hans Ulrich Gumbrecht, der schon mehrmals versuchte,

4 | Vgl. Jahraus: Literatur als Medium. 5 | Zur literaturwissenschaftlichen Rezeption der Systemtheorie: Schmidt: Die Differenz der Beobachtung; de Berg: Kunst kommt von Kunst; Jahraus: Unterkomplexe Applikation. 6 | de Berg/Prangel: Systemtheorie und Hermeneutik; Differenzen. Systemtheorie zwischen Dekonstruktion und Konstruktivismus. 7 | Nassehi: Die Zeit des Textes, S. 48. Nassehi versucht, »auf eine grundlegende Gemeinsamkeit und einen grundlegenden Unterschied literaturwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen methodisch kontrollierten wissenschaftlichen Verstehens aufmerksam zu machen; eine Gemeinsamkeit und einen Unterschied freilich, die für die begriffliche Fassung einer systemtheoretisch informierten Hermeneutik nicht unbedeutend sein dürften. Die Gemeinsamkeit besteht darin, daß sich beide – sowohl das literaturwissenschaftliche wie das soziologische Geschäft des Verstehens – in der Forschungspraxis selbst auf Texte beziehen. Den Unterschied sehe ich einerseits in der Textgenese, andererseits im Kontext des Textes.« 8 | de Berg: Kunst kommt von Kunst, S. 179.

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die Tendenzen der Immaterialisierung im Luhmannschen Werk aufzuzeigen.9 Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Georg Stanitzek in seinem Beitrag zu Die Kunst der Gesellschaft: Er nennt Luhmanns Ästhetik – allerdings ironisch – eine »originelle Hermeneutik«.10 Das Verhältnis von Dekonstruktion und Systemtheorie in der Fachliteratur stellt sich jedoch etwas anders dar: Hier taucht, über die Versuche, beide Theorien zu vergleichen hinaus, noch keine Möglichkeit der Versöhnung auf, obwohl ein solcher Ansatz auch in den Reflexionen Luhmanns eine Bestätigung fände. Dagegen sind mittlerweile sogar zwei Monografien erschienen, die eine dekonstruktive Lektüre der Systemtheorie liefern.11 Diese Richtung der Rezeption ist vielleicht noch heterogener: Die Argumentationen der Autoren im erwähnten Sammelband gehen weit auseinander. Genauso unterschiedlich stellen sich die Meinungen in dem Band Form und Medium von 2002 dar, in dem die Fragen nach dem Zusammenhang von Form und Medium eine Gelegenheit bieten, die Erträge der Systemtheorie gegenüber den poststrukturalistischen Zeichentheorien zu prüfen.12 Berücksichtigt man dabei, dass die Systemtheorie im Gegensatz zur Literaturwissenschaft vor allem nicht die Fragen der Sprache interessieren, ließen sich diese Symptome der Rezeption – da es keinen gemeinsamen Grund oder keine Kontrollinstanz gibt – eventuell auch als natürlich betrachten. So stellt sich aber die Frage, woher das erhöhte Interesse der Literaturwissenschaft für eine Theorie kommt, die gerade dem Begriff der Sprache keine besondere Aufmerksamkeit schenkt. Und eben darin liegt wohl die Attraktivität der Theorie: Sie lässt die engeren Fragen der Sprache vergessen und eröffnet den Weg für Probleme, die die Literaturwissenschaft seit der »kulturellen Wende« der Geisteswissenschaften beschäftigen – so helfe die Terminologie der Systemtheorie dabei, die scheinbar fehlenden theoretischen Grundlagen zum Erforschen der medialen und institutionellen Bedingungen der Kommunikation zu schaffen. Den Medientheorien konnte die Luhmannsche Unterscheidung von Medium und Form neue Impulse geben, »kraft derer an die Stelle der Sprache zuerst einmal schlicht die Kommunikationsmedien rücken«, wobei »die konstitutionelle Medialität der Kommunikation und damit nolens volens auch der Sprache« sichtbar werden kann.13 »Was […] Kulturwissenschaftler, Sprachwissenschaftler und Philosophen [gewinnen], wenn sie mit Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form arbeiten«,14 lässt sich laut Sybille Krämer vor allem an der Radikalität des Formbegriffs ermessen, 9 | Gumbrecht: Form ohne Materie; ders.: Alteuropa und Der Soziologe; ders.: How is Our Future Contingent? 10 | Stanitzek: Im Rahmen?, S. 20. 11 | Binczek: Im Medium der Schrift; Stäheli: Sinnzusammenbrüche, zu den möglichen Analogien der Theorien: Marius/Jahraus: Systemtheorie und Dekonstruktion. 12 | Brauns: Form und Medium. 13 | Krämer: Form als Vollzug, S. 558-559. 14 | Ebd., S. 565.

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der aller Tradition widersprechend nicht mehr ontologische und zeitlose Zusammenhänge bezeichne, sondern vielmehr im performativen Sinn, als Vollzug zu denken sei. Der Begriff der Form zerstöre somit die Idee der »paradiesische[n] Version unserer Sprachlichkeit vor dem Sündenfall ihrer medientechnischen Zurüstung und Realisierung«15 und mache es unmöglich, von der Sprache »die Spur« ihrer Medien abzutrennen. Dadurch ließen sich manche – nach der medialen Umorientierung obsolet gewordene – Vorstellungen über die Sprache als »Stilisierungen und Extrapolationen von Attributen eines spezifischen Mediums, nämlich der phonetischen Schrift«16 enthüllen. Jedoch wird der Wert dieses Gewinns von einer anderen Schrift der Autorin relativiert, die Luhmann schon als Vertreter eines früheren sprachtheoretischen Paradigmas auftreten lässt, »das nicht nur die analytische Trennbarkeit von Stoff und Form voraussetzt, sondern radikaler noch annimmt, daß die Funktion der Form prinzipiell unabhängig sei vom Material.«17 Deshalb erweist sich die Mediumkonzeption von Luhmann – allen antihermeneutischen Gesten zum Trotz – am Ende auch für Krämer als allzu »traditionell«. Aber inwieweit ist dieser Formbegriff neu oder traditionell, bzw. in welchem Sinne ist er performativ? Warum lokalisiert Luhmann die Medialität der Form in den »latenten Strukturen« oder im blinden Fleck ihres Vollzugs,18 und warum ist die Theorie der »Latenzbeobachtung«19 oder »die Möglichkeit, zu beobachten, was andere nicht (und zwar: konstitutiv nicht) beobachten können […] dem Buchdruck zu verdanken«?20 Im Folgenden versuchen wir diese Fragen am Leitfaden von Begriffen wie »Form« und »Unterscheidung« miteinander zu verbinden und in Zusammenhängen zu ordnen, die uns nachher zur latenten Performativität bzw. symbolischen Funktion der Medien führen sollen.

15 | Ebd., S. 567. 16 | Ebd., S. 572. 17 | Krämer: Das Medium als Spur und als Apparat, S. 77. 18 | Vgl. Luhmann: Reden und Schweigen, S. 11. 19 | Luhmann: Beobachtung, S. 138. 20 | Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 90. »Der Begriff [der Latenz] bezeichnet die Möglichkeit, zu beobachten und zu beschreiben, was andere nicht beobachten können. In der klassischen Epistemologie kam diese Möglichkeit nicht vor […]. Erst seit gut zweihundert Jahren findet das Problem der Latenz mehr und mehr Aufmerksamkeit, aber man hat den Eindruck einer illegitimen Geburt. Es ist das natürliche Kind der Epistemologie, dem aber nicht erlaubt wird, in die Familie einzutreten und sie fortzusetzen. Die Möglichkeit, zu beobachten, was andere nicht (und zwar konstitutiv nicht) beobachten können, ist als ein uneheliches Kind von Wissenschaft und Literatur auf die Welt gekommen, nämlich mit dem Roman des 18. Jahrhunderts. Sie ist also dem Buchdruck zu verdanken. […] Erst die Theorie beobachtender Systeme ermöglicht es, das Latenzproblem in die Erkenntnistheorie aufzunehmen.« Ebd., S. 89-91.

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Eines der wichtigsten Momente der Systemtheorie Luhmanns sowie der konstruktivistischen Theorien ist also das Konzept der Unterscheidung, das sich auf die Formtheorie von Spencer-Brown zurückführen lässt und das man oft (grob vereinfacht) als Bruch mit der ontologischen Metaphysik bezeichnet, da dieses Konzept – in sprachtheoretischen Begriffen – von der Untrennbarkeit und strukturellen Gleichzeitigkeit der performativen und der konstativen Aspekte der Unterscheidung (und nicht einfach des Unterschieds) ausgeht, oder anders: Im Formenkalkül werden die Ideen der Unterscheidung und der Bezeichnung nicht getrennt, sondern in ihrem sich wechselseitig bedingenden und ausschließenden Verhältnis in Gang gesetzt. Da jede Bezeichnung eine Unterscheidung voraussetzt, können Unterscheidungen nicht bezeichnet werden, ohne eine wiederholte Unterscheidung zu vollziehen. Wie auch immer wir diese Voraussetzung formulieren, lässt es sich nicht vermeiden, das Wort »Unterscheidung« im doppelten Sinne und doppelt zu verwenden. Geht man zuerst von diesem doppelten Charakter der Unterscheidung aus, wird auch klar, warum der Begriff des Unterschieds, der die Unterscheidung von ihrem eigenen Vollzug trennt, immer schon sekundär und abstrakt ist. Weder die Unterscheidung noch die von ihr unterschiedenen Seiten sind einem Beobachter, der sie gerade vollzieht, in einer Einheit oder aus einer externen Position zu erkennen. Daraus ergeben sich die Schwierigkeiten, diesen Aspekten der Unterscheidung gerecht zu werden. Wenn eine Unterscheidung in ihrem gleichzeitigen Vollzug als Bezeichnung nicht zu beobachten ist, dann stellt sich die Frage, wie wir diese Unterscheidung immer schon bezeichnet und (voraus-)gesetzt haben. Von der ersten, vorausgesetzten Unterscheidung sind wir also durch eine ebenso schwer greif bare, erneute Unterscheidung getrennt, und die Frage ist, wie konsequent Luhmann diese formspaltende Getrenntheit, die Differenz denkt, die bei ihm auch den Begriff des Medium bestimmt. Dieser Begriff der Differenz ist natürlich den modernen Literaturtheorien, die sich aus einer sprachtheoretischen Tradition ausdifferenziert haben, durchaus bekannt, sie teilen sogar die grundsätzlichsten Voraussetzungen des Formbegriffs: Denn eine paradoxe Differenz ist die allererste Grundlage nicht nur der poststrukturalistischen Semiologie, sondern auch der hermeneutischen Sprachtheorie. Dies kommt entweder in der Radikalisierung der Beliebigkeit des Saussureschen Zeichens zur Geltung, die dann auch weitere zeichentheoretische Konsequenzen hat, oder eben im unauflösbar trennenden und zugleich verbindenden Charakter des geschichtlichen Abstands, der durch seine Doppelseitigkeit zur Umgestaltung des Begriffs der Geschichtlichkeit führt. Hermeneutische Axiome, nach denen man weder über die Sprache noch über die eigene geschichtliche Position hinausgehen kann, deuten ebenso auf eine unüberschreitbare Grenze hin, hinsichtlich derer man sich selbst und das jeweilige Andere verstehen kann, und deren Interpretation auch die Literaturwissenschaft zur Aufgabe hat. Nach der Art und Weise der Auseinandersetzung mit der Unüberschreitbarkeit solcher Grenzen lautet die Frage, wie diese Differenz in den verschiedenen Richtungen interpretiert wird bzw. – mit Luh-

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mann formuliert – durch welche spezifischen Unterscheidungen die Paradoxien des Differenzbegriffs aufgelöst werden. Der kurze Überblick über die modernen sprachtheoretischen Traditionen in Das Zeichen als Form (auf den Text kommen wir noch zurück) kann in dieser Hinsicht ziemlich reduktiv wirken, bzw. könnte noch weiter differenziert werden, insofern hier Luhmann die Tendenz der Absolutisierung des Zeichens, die zur Tilgung der Referenz und somit zur Paradoxie des referenzlosen Zeichens führt, mit einem Programm der Erneuerung der Semiotik verbindet (so »wäre eine Theorie des Zeichens nicht am Ende, sondern am Anfang«21). Die Interpretation dieser Paradoxie weist Luhmann in den Kompetenzkreis der Theorie operativ geschlossener Systeme, der auch die Semiotik »zugeordnet werden kann, ja zugeordnet werden muß, weil sie von Unterscheidungen handelt.«22 Aber kehren wir zunächst zu der Frage zurück, wie diese Differenz überhaupt beobachtbar wird bzw. wie sie durch den Begriff der Form interpretiert wird. Durch die Verdoppelung der Unterscheidung ist es eigentlich von Anfang an unvermeidlich, diese Unterscheidung durch eine Unterscheidung zu bezeichnen: durch die der Unterscheidung und der Bezeichnung, deren Grenze die Form als Differenz ist. Wir müssen die Unterscheidung von den Unterschiedenen unterscheiden. »Eine solche Formulierung mag man als rhetorische Spielerei abtun, und Spencer Brown vermeidet sie denn auch durch terminologische Differenzierung. Er unterscheidet Bezeichnung (indication) und Unterscheidung (distinction). Aber Terminologie oder nicht: das Problem bleibt. Wir kommen nicht zur Operation, wenn nicht die Unterscheidung von Unterscheidung und Bezeichnung in die Unterscheidung hineincopiert wird.«23 Ohne dieses Hineinkopieren können wir über eine Art von Differenz, die die Gleichzeitigkeit einer Unterscheidung und einer Bezeichnung voraussetzt, gar nicht reden. Auch wir bezeichnen das Ereignis der Unterscheidung durch eine Unterscheidung, d.h. wir haben eine Operation vollzogen. Das Ereignis der Operation, die demnach eine Unterscheidung voraussetzende Bezeichnung ist, geht jeder Reflexion voran. Allein diese einmalige, ereignishafte und unwiederholbare Operation kann als »Grundlage« aller Beobachtung gelten, die aber nur in einer anderen Operation, die wiederum Asymmetrie (d.h. eine Unterscheidung mehr) produziert und voraussetzt, beobachtet werden kann. Die Unterscheidung wiederholt sich dadurch, dass sie in sich selbst oder in die von ihr bedingte Bezeichnung wieder eintritt, wobei die 21 | Luhmann: Zeichen als Form, S. 46. »Es mag so sein [dass das Zeichen ein Zeichen ohne Referenz ist], aber wenn es so wäre, wäre eine Theorie des Zeichens damit nicht am Ende, sondern am Anfang. Sie müßte sich dann ihrer eigenen Paradoxie widmen, müßte ihre Paradoxie »entfalten«, müßte sie durch eine Unterscheidung ersetzen, an der dann nur noch die Einheit der Unterscheidung, aber nicht das Unterschiedene selbst einen paradoxen, Beobachtung blockierenden Status hätte.« 22 | Ebd., S. 49. 23 | Luhmann: Die Paradoxie der Form, S. 200.

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Bezeichnung nur durch diesen Wiedereintritt, durch die ursprüngliche Wiederholung der ersten Unterscheidung zur Bezeichnung wird. Daraus wird ersichtlich, dass diese paradoxe Form – die Figur des »re-entry« – die Voraussetzung jeder Bezeichnung (im Sinne von »dies und nicht etwas anderes«) und sogar jedes Beobachtens ist, die auch als ein Kreuzen von zwei Unterscheidungen beschrieben werden kann. Eine Form entsteht in ihrem selbstreferentiellen Gebrauch und hat eine doppelte, eine wiederholende und eine wiederholte Grenze, sie ist die ursprüngliche Kopie einer Unterscheidung, die ohne diesen Wiedereintritt gar nicht erscheinen könnte. Die Form besteht aus dem selbstreferentiellen Prozessieren ihrer beiden Grenzen, und sie besteht nur insofern, als sie von einem Beobachter vollzogen und beobachtet wird. Es gibt also nie eine Unterscheidung, es gibt sie nur in ihrer Wiederholung, und das erklärt auch, warum sie Spencer-Brown als »perfekte Enthaltsamkeit« definiert. Die ursprüngliche Unterscheidung ist in der Tat nichts anderes, als eine Ununterscheidbarkeit, die durch Ein- und Ausschließen der von ihr getrennten Seiten entscheidbar und handhabbar wird. Die Operation, die ebenso eine asymmetrische Unterscheidung ist wie die Differenz, auf die sie sich bezieht, löst die Paradoxie der Differenz (ihre Unzugänglichkeit und permanente Verschobenheit) nicht nur auf, sondern wiederholt sie auch. Das Verhältnis der beiden Unterscheidungen (die sich wohl nur deshalb kreuzen können, weil sie sich nicht auseinanderhalten lassen) ist in mehreren Hinsichten paradox: Obwohl die äußere Grenze der Form der inneren Grenze strukturell vorausgeht, wird sie erst von der inneren Operation, die sie wiederholt, erzeugt. Die Operation wiederholt die erste Unterscheidung als ihren eigenen Ursprung, die erst durch ihr Hineinkopieren ursprünglich und gleichzeitig verschoben wird. Die eine Unterscheidung setzt die andere voraus, während diese Voraussetzung erst nachträglich entsteht. Will man der Asymmetrie und dem ambivalenten Charakter der Unterscheidung gerecht werden, sollte der Modus der Wiederholung bzw. die Frage, ob die kopierende Unterscheidung das Wiederholte bloß wiederholt, erschließt, modifiziert oder erzeugt, unbeantwortet bleiben. Da das Verhältnis der zwei asymmetrischen Unterscheidungen selbst asymmetrisch ist und selbst den operierenden Beobachter in die unversöhnlichen Aspekte des Handelns und Erlebens oder der Operation und Beobachtung spaltet, können wir uns der eigentlichen Leistung der Wiederholung nie vergewissern. Es ist also nicht nur die Operation, die einen blinden Fleck hinterlässt, sondern auch die erste Unterscheidung, die eine vorausgehende und zugleich hypothetische Grenze zieht, welche in ihrem nachträglichen Entstehen permanent verschoben wird. Erst hier kann die Frage nach dem Verhältnis der Unterscheidungen gestellt werden: »Ist dann die Unterscheidung, die in sich wiedervorkommt und anders gar nicht vorkommen kann, dieselbe oder nicht dieselbe Unterscheidung?«24 Die Paradoxie der Form ist die paradoxe Identität dieser Differenz. Den Anfang eröffnet der performative Befehl 24 | Ebd., S. 200.

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einer Differenz (bei Spencer-Brown: »Mach eine Unterscheidung!«), dessen entfaltende Ausführung nicht die zitierte Frage entscheidet, sondern die Operationen durch weitere Unterscheidungen fortsetzt und wiederholt. Von der inneren, ursprünglich kopierenden Grenze der Form wird der Anfang oder ihre Voraussetzung nicht (oder nicht nur) erschlossen, sondern vielmehr aufrechterhalten. So ist die unüberschreitbare und zu reproduzierende Grenze der Form auch auf ihre Entfaltung angewiesen: Ihre Performativität ist der Komplexität der entfaltenden Operationen ausgesetzt. Dieser Begriff der Form, der der Systemtheorie und den konstruktivistischen Konzepten als Grundlage dient, wird daher nicht durch eine spezifische Unterscheidung konstituiert, sondern geht diesen voran und fragt nach der Art und Weise, wie sie in ihrem Vollzug konstituiert werden. Wie Dirk Baecker formuliert: »Die Herausforderung des von Spencer-Brown vorgelegten Formkalküls besteht darin, einzusehen, dass es etwas Einfacheres als dies nicht gibt.«25 Jede einfachere Auslegung muss die Unentscheidbarkeit der konstitutiven Fragen vergessen und die nicht weiter reduzierbaren Aspekte der Form endgültig unterscheiden oder miteinander identifizieren. Obwohl es in der literaturwissenschaftlichen Rezeption kaum Ansätze gibt, die diese Zusammenhänge mit rhetorischen Aspekten der Sprache in Zusammenhang bringen, könnten die paradoxe Identität der Differenz und die Wechselseitigkeit der Unterscheidungen nicht nur den Lesern von Gadamer, sondern auch denen von Heidegger vertraut klingen. Deshalb ist es wohl auch kein Zufall, dass sich auch Wolfgang Iser von der Hermeneutik Schleiermachers her der Rekursivität der Autopoiesis nähert, damit diese am Ende ihre hermeneutische Aufgabe übernimmt, die Sinnzirkulation der Systeme zu interpretieren.26 Diese kurze Darstellung kann zwar die Komplexität des Formbegriffs nur in Umrissen andeuten, zeigt aber schon auf, dass die Tragweite dieser relativ einfachen Form in dem Sinne »bei weitem nicht ausgeschöpft ist«,27 dass die Komplexität nicht die Vorstellung einer abstrakten Form an sich, sondern deren differenzierte Beschreibung oder Interpretation produziert. Dies könnte man vielleicht am besten durch die Unterscheidung zeigen, mit der Luhmann Spencer-Browns Formbegriff beobachtet und zugleich interpretiert: Durch die Unterscheidung von Operation und Beobachtung löst Luhmann die Paradoxie nicht in sachlicher oder zeitlicher, sondern in »sozialer« Hinsicht auf, indem er »verschiedene Beobachter unterscheidet, die jeweils andere Unterscheidungen zugrundelegen.«28 Obwohl jeder Beobachtung die gleichen Bedingungen – paradoxe Unterscheidungsprozesse – zugrunde liegen, erscheint die Frage wichtiger, wie die verschiedenen Beobachter diese Prozesse reflektieren. Einzelne Beobachter sehen deshalb 25 | Baecker: George Spencer-Brown, S. 68-71. 26 | Iser: The Range of Interpretation. 27 | Luhmann: Die Paradoxie der Form, S. 197. 28 | Ebd., S. 204.

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nicht dasselbe, weil sie dieses Sehen in unterschiedlichem Maße reflektieren. Man kann zwar den blinden Fleck der eigenen Operation nicht loswerden, jedoch macht es einen Unterschied aus, ob dabei der Beobachter nur Operationen vollzieht oder auch auf Unterscheidungen reflektiert. Die Unterscheidung von Operation und Beobachtung sowie der Beobachtung erster und zweiter Ordnung rechnet mit genau dieser Abweichung.29 So kann man auch erkennen, warum eine einzige Unterscheidung noch keinen Sinn ergibt bzw. warum eine Unterscheidung oder eine Operation nur im Kontext anderer Operationen beobachtbar wird. Die Definition der Beobachtung setzt im Vergleich zur Operation schon immer mehr als eine Unterscheidung voraus, indem sie in sich selbst wieder eintritt, d.h. auf sich selbst durch eine Unterscheidung reflektiert. Der Beobachter ist also – aufgrund einer strukturellen Differenz oder der konstitutiven Spannung von Operation und Beobachtung – mit der Form nicht restlos gleichzusetzen. Wegen dieser latenten, formtheoretischen Identifizierung der Form mit dem Beobachter scheint für Luhmann »[d]er Formenkalkül schließlich […] die letzte Form zu sein, in der Beobachter sich noch ihrer Übereinstimmung vergewissern können.«30 Die latente Paradoxie der mathematischen Theorie löst Luhmann von der biologischen Theorie der autopoietischen Systeme dadurch auf, dass er verschiedene Beobachter und letztendlich Systeme unterscheidet. Die Möglichkeit der Intersubjektivität wird somit von keiner vorausgesetzten Identität oder irgendwelcher Relation mehr, sondern von einer Differenz – zwischen der Beobachtung erster und zweiter Ordnung – garantiert. Diese Differenz spielt nicht nur in der Autopoiesis der Systeme, sondern auch in ihrem Entstehen eine entscheidende Rolle: Die Teilsysteme der Gesellschaft entfalten sich in und reproduzieren sich aus dieser Differenz. Sie ist nicht nur die äußerste und unüberschreitbare Grenze, durch die sich die Gesellschaft aus ihrer Umwelt ausdifferenziert und sich vom Bewusstsein unterscheidet, sondern geradezu das sprachliche Moment dieses Theoriegefüges: Luhmanns bekanntes Axiom, nach dem nicht das Bewusstsein, sondern die Kommunikation kommuniziert,31 verdeutlicht die Konsequenzen genau dieser Differenz. Von daher muss Luhmann auch mit einer radikal unüberschreitbaren Grenze rechnen, die in der Formtheorie noch nicht zur Geltung kam: und zwar mit der Grenze zwischen dem System und seiner Umwelt. Die Grenzen eines Systems sind unüberschreitbar und geschlossen. Eine perfekte Enthaltsamkeit setzt zwar auch Geschlossenheit voraus, sie kann aber in der Operation überschritten werden, auch wenn diese Operation die Grenze wiederholt. »Die Formtheorie ist noch keine Systemtheorie«,32 die Grenzen der Systeme lassen sich nicht durch Operationen kreuzen, sie sind in einem viel radikaleren Sinne geschlossen, da sie 29 | Vgl. Luhmann: Beobachtung. 30 | Luhmann: Die Paradoxie der Form, S. 203. 31 | Vgl. Luhmann: Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt? 32 | Luhmann: Wahrnehmung und Kommunikation, S. 67.

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nur ihre eigenen Operationen erkennen, die sie in den Rekursionen von Beobachtung und Operation reproduzieren. Sie können mit ihrer Umwelt nicht in Kontakt treten oder in einem anderen System operieren, da die Operationen gerade die Differenz zu ihrer Umwelt wiederholen. Doch trotzdem ist eine gegenseitige Beobachtung der Kommunikations- und Bewusstseinssysteme nicht unmöglich, sondern geradezu notwendig: »[D]ie Trennung dieser Systeme setzt offenbar eine Reintegration auf der Ebene des Beobachtens voraus, wobei aber Beobachtungen zwangsläufig getrennte empirische Operationen sind, die nur entweder bewußt oder kommunikativ ablaufen können, aber logisch mächtig genug sind, um gerade diese Unterscheidung in der Form eines »re-entry« in das eigene System wiedereinführen zu können«.33 Die Kommunikation kompensiert die Geschlossenheit des Bewusstseins dadurch, dass sie die Unterscheidung zwischen sich selbst und dem Bewusstsein beobachtet und wiederholt. Dabei erschließt sie nicht einen Inhalt oder das Funktionieren des Bewusstseins, sondern nur ihr Getrenntsein vom Bewusstsein, weshalb für jede Kommunikation gelten kann, dass sie immer auch ihre eigene Unmöglichkeit zugleich mitkommuniziert. Die Beobachtung erster Ordnung, die durch eine Unterscheidung wahrnehmbare Gegenstände bezeichnet, lässt sich mit den Bewusstseinsoperationen parallel setzen, die zwar ihre Operationen beobachten können, jedoch nicht imstande sind, Operation und Beobachtung auseinanderzuhalten, Unterscheidung und Differenz zu unterscheiden oder anders: zu kommunizieren. Die Bewusstseinsoperationen können zwar die Differenz von Innen und Außen reintegrieren und wiederholen, da auch sie die Differenz von Operation und Beobachtung sowie von Selbst- und Fremdreferenz voraussetzen, aber gerade deshalb, weil diese Differenz ihre Bedingung ist, können sie die Differenz der beiden nicht beobachten und bezeichnen, und somit für weitere Beobachtungen einsetzen. Es ist hier vielleicht nicht ohne Interesse zu bemerken, dass Luhmann die Autopoiesis des Bewusstseins in sehr ähnlicher Weise wie Saussure beschreibt,34 33 | Luhmann: Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?, S. 126. 34 | de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 133-134. »Psychologisch betrachtet ist unser Denken, wenn wir von seinem Ausdruck durch die Worte absehen, nur eine gestaltlose und unbestimmte Masse. Philosophen und Sprachforscher waren immer darüber einig, daß ohne die Hilfe der Zeichen wir außerstande wären, zwei Vorstellungen dauernd und klar auseinander zu halten. Das Denken, für sich allein genommen, ist wie eine Nebelwolke, in der nichts notwendigerweise begrenzt ist. Es gibt keine von vornherein feststehenden Vorstellungen, und nichts ist bestimmt, ehe die Sprache in Erscheinung tritt. […] Die Sprache hat also dem Denken gegenüber nicht die Rolle, vermittelst der Laute ein materielles Mittel zum Ausdruck der Gedanken zu schaffen, sondern als Verbindungsglied zwischen dem Denken und dem Laut zu dienen, dergestalt, daß deren Verbindung notwendigerweise zu einander entsprechenden Abgrenzungen von Einheiten führt. Das Denken, das seiner Natur nach chaotisch ist, wird gezwungen, durch Gliederung sich zu präzisieren«.

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und zwar nicht nur in metaphorischer, sondern auch in struktureller Hinsicht. Das Bewusstsein besteht aus einer Menge von labilen und eigenwilligen, sich von Moment zu Moment verändernden Zuständen, die an sich noch nicht imstande sind, sich selbst zu organisieren: »Erst Sprache zwingt das Bewusstsein dazu, Bezeichnendes und Bezeichnetes und in diesem Sinne: Selbstreferenz und Fremdreferenz kontinuierlich auseinanderzuhalten und trotzdem gemeinsam zu prozessieren.«35 Das laufende Unterscheiden von Selbstreferenz und Fremdreferenz ist das »Charakteristikum der Operationsweise dieses Systems, […] das wenn nicht »Sinn«, so doch eine Zeichenstruktur voraussetzt, die dazu zwingt, Bezeichnendes (signifiant) und Bezeichnetes (signifié) im Sinne von Saussure simultan zu prozessieren.«36 Luhmann bezieht sich auf die Grundfragen nur selten bzw. nur auf Textstellen, die in seinem Gedankengang als relevant erscheinen.37 Und obwohl sich am Ende die Semiotik von Peirce und der Begriff des Interpretanten für Luhmann als geeigneter erweisen, das rekursive Prozessieren des Zeichens zu erfassen,38 könnte man die Analogie des Formbegriffs mit der Saussureschen Zeichenlehre fortsetzen.39 So ließe sich auch zeigen, dass Saussures »sprachlicher Wert« durch isomorphe – und wie Derrida gezeigt hat, zugleich paradoxe40 – Operationen entsteht, wobei sich auch unüberschreitbare und spezi-

35 | Luhmann: Wahrnehmung und Kommunikation, S. 19. 36 | Ebd., S. 18. 37 | Vgl. Luhmann: Zeichen als Form, S. 46, 48, 50, 52. »Für ihn waren signifiant und signifié notwendige Komponenten einer sprachlichen Einheit, eben des Zeichens. Sie unterscheiden sich nicht ihrer Natur oder ihrem Wesen nach, sondern nur als Komponenten eben dieser Unterscheidung. Das eine könne es nicht ohne das andere geben. Die spätere Diskussion hat diese, vielleicht nicht genügend ausgearbeitete, Einsicht nicht immer beachtet und zum Beispiel die Vorstellung eines referenzlosen Zeichens gebildet.« Ebd., S. 50. 38 | Welcher jedoch durch den Begriff des Beobachtens ersetzt werden soll. Ebd., S. 5253. Das ist vielleicht auch der Grund, warum die literaturwissenschaftliche Rezeption bisher nur auf diese Bezüge geachtet hat. Vgl. Jahraus/Ort: Bewußtsein-Kommunikation-Zeichen. 39 | Zu den Verbindungen von Semiotik und Systemtheorie in der Rezeption vgl. Habermann: Semiotik; Giesecke: Die Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. »Dank der Fortschritte der Systemtheorie und insbesondere der Theorie sozialer Systeme von Niklas Luhmann kann man heute die – nun wirklich uralte – Frage nach den Möglichkeiten, die menschliche Rede »systematisch« zu beschreiben, (wieder) aufgreifen und alternative – »systemische« – Antworten in Aussicht stellen.« Ebd., S. 279; bzw. Stäheli: Sinnzusammenbrüche. Stäheli kommt diesbezüglich zu einem negativen Ergebnis: »Das Wertkonzept zerstört die Illusion, daß ein Zeichen unabhängig von seiner systemischen Position bestimmt werden könnte. Für Luhmann existiert jedoch ein derartiges System, anhand dessen man den Wert bestimmen könnte, nicht.« Ebd., S. 141. Auf diese Argumentation werden wir später noch zurückkommen. 40 | Derrida: Grammatologie, S. 49-130.

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fische Unterscheidungen (Beliebigkeit und Unterschiedlichkeit) aufeinander beziehen.41 Bewusstsein und Kommunikation sind zwar aufeinander angewiesen, das eine ist die ausschließliche Umwelt des anderen, jedoch sind sie füreinander geschlossen. In dieser Hinsicht ist das Bewusstsein nicht nur keine Quelle der Kommunikationsinhalte mehr, sondern es ist vielmehr das Bewusstsein, das sich an die Kommunikation anpassen soll, und nicht umgekehrt. »Es ist also nicht etwa das Ziel der Kommunikation, sich dem Bewußtsein, das in Anspruch genommen wird, anzupassen. Im Gegenteil: die Kommunikation fasziniert und okkupiert, wenn sie läuft und solange sie läuft, das Bewußtsein. Das ist nicht ihr Zweck, nicht ihr Sinn, nicht ihre Funktion. Nur: wenn es nicht geschieht, geschieht es eben nicht.«42 Das Bewusstsein folgt nur den Unterscheidungen (und passt sich ihnen an), die erst in der Kommunikation oder in der Unterscheidung von Mitteilung und Information einen Sinn gewinnen. Die Teilsysteme der Gesellschaft sind zwar gegeneinander auch geschlossen, aber da sie alle auf Kommunikation beruhen, ist die Unüberschreitbarkeit der Grenze nicht so radikal wie zwischen der Kommunikation und ihrer alleinigen Umwelt, dem Bewusstsein. Diese Differenz kann – in wiederum paradoxer, aber konsequenter Weise – nur durch dieselbe Differenz überbrückt werden. Dies leistet die Sprache, die als strukturelle Kopplung die Differenz zwischen Medium und Form aufrechterhält. Nicht zufällig erweist sich in der Luhmann-Rezeption der letzten Jahre die Unterscheidung von Bewusstsein und Kommunikation als produktivste Unterscheidung der Theorie, die sich durch ihre Flexibilität für die unterschiedlichsten Ziele einsetzen lässt, von der Dekonstruktion der System/Umwelt-Unterscheidung43 bis hin zur modifizierenden Weiterentwicklung der Theorie. Oliver Jahraus nennt diese Unterscheidung die »Ur-Differenz«44 der Systemtheorie, die den 41 | Vgl. de Saussure: Grundfragen, S. 135-146. 42 | Luhmann: Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?, S. 115. 43 | Vgl. z.B. Binczek: Im Medium der Schrift; oder: ders., Medium/Form, dekonstruiert. Wie die anderen dekonstruktiven Lektüren geht auch Binczek von der Kritik des Mediumbegriffs aus. Dem Medium werden von Luhmann Eigenschaften wie Passivität, Neutralität, mangelnde Widerstandsfähigkeit und – laut Binczek – eine Art von Unschuld zugeschrieben, die sich aber gegen sich selbst wenden lassen. Binczek versucht den Mediumbegriff als ein »Monstrum« der Theorie aufzuzeigen (dabei anthropomorphisiert sie den Begriff von Derrida), welches das System durch seinen Wiedereintritt bedroht. An diesem entscheidenden Punkt der Argumentation wird aber erkennbar, wie dabei die Asymmetrie der Unterscheidung von Medium und Form symmetrisiert und die Aspekte der Unterscheidungen vereinfacht werden: Dann »tritt nicht nur die Form auf der Seite des Mediums, sondern auch umgekehrt das Medium auf der Seite der Form wieder ein; dann aber lässt jede Form auch Elemente in das System ein, mit denen dieses offenbar nichts anfangen kann.« Ebd., S. 119. 44 | Jahraus: Bewußtsein und Kommunikation, S. 40.

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Ausgangspunkt für die Konzepte von Kommunikation und Bewusstsein bildet und deshalb zu einer Überprüfung und Veränderung der Theorie Gelegenheit bieten kann. Dabei ist aber der Ausgangspunkt weniger das asymmetrische Verhältnis der beiden Systeme, sondern eine Unterscheidung, die zur Erneuerung der Vorstellungen über das Bewusstsein dienen kann. »Während nämlich der Kommunikationsbegriff eine radikale Umdeutung erfährt (subjektlose Kommunikation), zeigt sich auf Seiten des Bewußtseins, daß wesentliche Konstituenten einer idealistischen Vorstellung des Bewußtseins aus Transzendental- oder Subjektphilosophie in die Systemtheorie übernommen wurden.«45 So arbeitet Jahraus das Konzept der Autoreflexivität aus und versucht zu zeigen, »dass Bewusstseinsprozess und Zeichenprozess lediglich zwei verschiedene Beschreibungen ein und desselben Phänomens von prozessierter Autoreflexivität sind.«46 Luhmann rechnet aber auch – sogar noch viel konsequenter – mit diesem in gewissem Sinne rhetorischen Potenzial der Differenz von Kommunikation und Bewusstsein, das die Kommunikation ermöglicht und ihr vorausgeht. Bekanntlich ersetzt Luhmann die Sprache durch den Begriff der Kommunikation, weshalb »weder ein Begriff von Sprache noch ein Begriff von Zeichen […] zu den grundlegenden theoretischen Bausteinen der Systemtheorie gehören.«47 Diese Begriffe sind auch im Wörterverzeichnis der Einführungsbände nicht zu finden, trotzdem lohnt es sich, die Frage zu stellen, wie sich der Begriff der Sprache in der Theorie situieren ließe.

S pr ache , Z eichen , S ymbol Dass Luhmann die Sprache nicht als System, sondern als strukturelle Kopplung zwischen Systemen ansieht, entfernt dieses Konzept von anderen Sprachtheorien nur auf ersten Blick. Dies verleiht der Sprache sogar eine noch viel wesentlichere Funktion. Denn eben deshalb, weil sie an der Selbstreproduktion der Systeme 45 | Ebd., S. 28. 46 | Jahraus: Autoreflexivität, S. 84. Diese strukturelle, man könnte auch sagen: sprachliche oder rhetorische Differenz lenkt auch Peter Fuchs’ Aufmerksamkeit auf die andere Seite der Unterscheidung, auf die Umwelt der sozialen Systeme. Auch für ihn ist das ungeklärte Verhältnis des psychischen Systems, des Bewusstseins und der Wahrnehmung (Luhmann verwendet sie oft als Synonyme) die Quelle der Irritation, die er durch die Einführung des Begriffs »dezidierte Operativität« aufzulösen und dadurch das Bewusstsein von den psychischen Systemen zu unterscheiden versucht. Vgl. Fuchs: Der Eigen-Sinn des Bewußtseins, bzw.: ders., Die Psyche. Die Frage ist aber eher, ob die tautologische Redeweise in diesem Fall überhaupt aufzuheben ist; ob es nicht als notwendig zu betrachten ist, dass sich in der Kommunikation die Umwelt oder die andere Seite der Unterscheidung nur in austauschbaren Begriffen zur Sprache bringen lässt. 47 | Jahraus: Literatur- und Medienwissenschaft, S. 370.

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nicht teilnimmt, ist sie die Bedingung ihrer Autopoiesis. »Über Sprache wird Bewußtseinsbildung und Gesellschaftsbildung überhaupt erst möglich; oder wenn man nicht so weit gehen will: in einem uns normal erscheinenden Sinne möglich.«48 Die Sprache ist kein System, weil es keine sprachspezifischen Operationen gibt, die Grenzen ziehen und diese aufrechterhalten könnten. Sie ist an sich kein autopoietisches System, sondern »ein Moment der Autopoiesis von Kommunikation und, mehr beiläufig, auch ein Moment der Autopoiesis von Bewußtsein.«49 Die Formen der Sprache entstehen in diesem Sinne nicht durch ihre eigenen Operationen, sondern durch die Operationen von den jeweiligen Kommunikationssystemen. Nicht ihre Systematizität, sondern ihre doppelte Funktion zeichnet sie aus: sie spielt nicht nur die Rolle einer Form und eines Medium zugleich, sondern bewahrt sie auch in ihrer Getrenntheit. Von hier aus erweist sich das Fehlen der Definition der Sprache eher als konsequent, denn – wie Luhmann schreibt – »ihre eigene Realität besteht darin, daß ihr Gebrauch beobachtet werden kann.«50 Sie lässt sich folglich nur noch in der Kommunikation oder im Vollzug einer Operation beobachten, mit der sie einerseits nicht zu identifizieren ist, andererseits als identisch erscheint. Sind die Teilsysteme der Gesellschaft durch die Beobachtung ihrer systemeigenen Operationen, ihrer Codes oder Leitunterschiede zu beschreiben, kann die Sprache, die weder eigene Grenzen noch einen eigenen Code besitzt, immer schon von einer Unterscheidung beobachtet werden, deren Differenz sie als strukturelle Kopplung vorausgeht und deren Möglichkeit sie permanent bewahrt und garantiert. Dennoch könnte man nicht behaupten, dass die Sprache (als eine Differenz von Medium und Form) bloß ein Medium sei: Die Formen prägen sich zwar ins Medium rein, aber »das Medium [wird] von den Systemen, die es benutzen, erst erzeugt.«51 Dabei beschreibt Luhmann die Leistung der Kommunikation als einen eigenwilligen und gewaltigen Setzungsakt, der von den eigenen Gesetzen des Bewusstseins absieht sowie davon abstrahiert, »daß das Bewusstsein in jedem seiner Zustände und in jeder seiner Operationen durch die eigenen Strukturen determiniert ist.«52 Die strukturellen Differenzen der Sprache sind Prägungen, die die Strukturen des Bewusstseins in ähnlicher Weise ignorieren und eliminieren, wie – das Beispiel stammt von Heider – »das Wahrnehmen beim Sehen und Hören Licht und Luft benutzt, gerade weil es sie als Medium nicht sieht und nicht hört […]. Als Medium funktioniert das Bewußtsein, indem unterstellt wird, es könne alles aufnehmen, was gesagt wird; es sei eine lose gekoppelte Menge von Elementen fast ohne Eigendetermination, in die sich einprägen läßt, was jeweils gesagt oder gelesen wird.«53 Aber auch diese 48 | Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 47. 49 | Ebd., S. 52. 50 | Ebd. 51 | Ebd., S. 54. 52 | Luhmann: Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?, S. 118. 53 | Ebd., S. 119.

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Prägungen oder strukturellen Kopplungen werden in der Kommunikation invisibilisiert, von der sie eingepägt werden und die trotzdem auf deren Spur ist, indem die Kommunikation als Operation ihre eigenen Prägungen wiederholt. Aber wie kann sich dann die Sprache in diesem Vorgang der Oszillation ankündigen, wenn für Luhmann auch die Saussuresche Unterscheidung von Bezeichnendem und Bezeichnetem, auch die Form des Zeichens – da sie schon eine Operation ist – bloß »eine unter mehreren Möglichkeiten [ist], die Paradoxie von Sinn, die Unbestimmbarkeit des Bestimmten, in einer Unterscheidung zu übersetzen und damit zu entfalten«?54 Die Form des Zeichens, das Zeichen als Form kann uns zunächst – wenn auch nicht sofort der Sprache, aber zumindest ihrem symbolischen Medium – dem »Sinn« etwas näher bringen. Die doppelte Bewegung der Zeichenform lässt sich am besten durch Saussures sprachlichen Wert, durch die Operationen von Austauschen und Vergleichen erhellen. Die notwendige Isolation des Zeichens kann auch nach Luhmann durch Willkür, oder besser: durch eine beliebige Grenzziehung erreicht werden, die jedoch an sich – als eine Unterscheidung – noch keinen Sinn ergibt.55 Diese beliebige Grenze oder die Form des Zeichens muss erst von einer spezifischen (man könnte auch sagen: kodierten oder motivierten) Unterscheidung gekreuzt, aufrechterhalten und überhaupt lesbar gemacht werden. Die spezifische Unterscheidung von Bezeichnendem und Bezeichnetem kann eben für diesen Zweck eingesetzt werden und mithilfe dieser – durch die ursprüngliche Grenze, durch die Form des Zeichens – das Bezeichnete (das die Unterscheidungen als andere Seite ein- und ausschließen sowie erzeugen und zugleich voraussetzen) beobachten. Die beobachtete, jeweils andere Seite der Unterscheidung ist in diesem Zusammenhang das in seiner Prozessualität immer wieder verschobene Bezeichnete, jedoch nicht der Sinn, jene Form des Zeichens, die die unsichtbar bleibende, konstitutive und konstruktive Voraussetzung des Beobachtens ist. Diese Form als Differenz zwischen den beiden Operationen, die im Zeichengebrauch produziert und zugleich invisibilisiert wird, ist der immer unerreichbare Sinn oder das unüberschreitbare Medium des Zeichens, das eben nicht bezeichnet werden kann. Beim Erfassen dieser Latenz kann nach Luhmann eine Art von Reflexion helfen, deren Möglichkeit er im ursprünglichen Sinn des Symbols vermutet: Wenn man bedenkt, daß ein Zeichen, sofern es die Einheit einer Differenz, das heißt die Nichtunterschiedenheit des Unterschiedenen zu sein beansprucht, eine Paradoxie ver54 | Luhmann: Zeichen als Form, S. 64. 55 | Oder wie Saussure schreibt: »Sein Wert ist also nicht bestimmt, wenn man nur feststellt, daß es ausgewechselt werden kann gegen diese oder jene Vorstellung, d.h. daß es diese oder jene Bedeutung hat; man muß es auch noch vergleichen mit ähnlichen Werten, mit anderen Wörtern, die man daneben setzen kann; sein Inhalt ist richtig bestimmt nur durch die Mitwirkung dessen, was außerhalb seiner vorhanden ist.« de Saussure: Grundfragen, S. 138.

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Hajnalka Halász deckt, ist es nicht ganz abwegig, von Mystifikation zu sprechen. Das muß nicht unbedingt in respektvoller Distanz oder feierlicher Stimmung enden. Auf das ursprüngliche Verständnis des Wortes symbolon zurückgehend kann man vielmehr einen durchaus funktionalen, wenn nicht pragmatischen Sinn vermuten. Symbolon war ursprünglich Darstellung oder Beweis einer Einheit, vor allem: des durch Gastfreundschaft erworbenen Status, mit Hilfe von Trennstücken, die zusammenpassen. Also Repräsentation eines Zusammenhangs durch Getrenntes. Im semiotischen Kontext kann es sich nur um die Unterschiedenheit von Bezeichnendem und Bezeichnetem handeln. 56

Die symbolische Mystifikation der Form, die zugleich die latente Bedingung jedes Beobachtens ist, beschreibt Luhmann auch an einer anderen Stelle als ein Ersetzen, das die beiden Grenzen der Form, ihren blinden Fleck verdeckt. Das ist zum Beispiel auch der Grund dafür, dass »es in allen gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen zwei Blindheiten [gibt], die miteinander korrespondieren: die alle Unterscheidungen transzendierende Welteinheit und der jeweils fungierende Beobachter.«57 Diese Leistung des Symbols, die also dafür sorgt, dass »man nicht sieht, daß man nicht sieht, was man nicht sieht«,58 ermöglicht eine Selbstreflexion, die aber nicht mit der Selbstreferenz der Form zu identifizieren ist. Denn diese Selbstreflexion sollte sich durch Repräsentation gerade aus den Verhältnissen herauslösen, die auch sie konstituieren und ermöglichen. Diese objektivierende Perspektive wird von Luhmann oft mit der Position eines Beobachters erster Ordnung verbunden, denn dies ist die »Ordnung«, in der die Illusion einer vom Beobachter unabhängigen und repräsentierbaren Welt entstehen kann. Von hier aus gesehen ist die Beobachtung zweiter Ordnung »ursprünglicher«, da sie durch das Erkennen der konstruktiven Rolle der Unterscheidungen genau den latenten Vorgängen näher kommt, die das Beobachten und sogar den Beobachter selbst ermöglichen. Nach seinem »funktionalen« Sinn sollte sich also das Symbol auf eine Paradoxie einlassen, die vom Zeichengebrauch erzeugt wird. Obwohl es nicht möglich ist, sich von den paradox-wiederholenden Verhältnissen der Form abzulösen, setzt die Unterscheidung zwischen den beiden – den mystifizierenden und den praktischen – Funktionen des Symbols dennoch voraus, dass durch das Erkennen des Symbols als solchen die Form des Zeichens und seine eigentliche Funktion, d.h. das Zeichen als Medium, reflektierbar werden kann. Besteht die Funktion des Zeichens in seiner eigenen Selbsterhaltung, also im Auseinanderhalten der eigenen Unterscheidungen, die es konstituieren, kann seine Funktion nur in einer Art von Trennung oder Disjunktion zum Vorschein kommen (deswegen wird es »erst durch Symbolisierung möglich, das Zeichen selbst vom Bezeichnenden zu unterscheiden«59). Auch hier könnte man eventuell 56 | Luhmann: Zeichen als Form, S. 67. 57 | Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1110. 58 | Ebd. 59 | Luhmann: Zeichen als Form, S. 67.

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diese Funktion des Zeichens als Form mit dem sprachlichen Wert von Saussure in Parallele setzen. Und zwar nicht nur, weil es auch bei Saussure der Wert ist, der die Bedingungen der Bedeutungszuschreibung sichtbar machen kann. Den sprachlichen Wert könnte man nämlich ebenso als einen Schnittpunkt eines doppelten und gleichzeitigen Austausches beschreiben, der nachher von den durch ihn Unterschiedenen (von der Opposition des Bezeichnenden und Bezeichneten) verdeckt und vergessen wird. Dementsprechend sollte auch das Sich-Darstellen der Zeichenfunktion selbst in einem ereignishaften Prozess erfolgen. Wie dieses Ereignis oder die Fälle der »Selbstbezeichnung des Zeichens«60 vorzustellen sind, »in denen das Zeichen selbst diese eigene Funktion der Vereinheitlichung des Getrennten bezeichnet«,61 diesbezüglich gibt uns das Zeichen als Form keine Anhaltspunkte mehr. Jedenfalls soll das, worauf das Symbol verweist, unsichtbar bleiben, insofern dieser Sinn operativ unzugänglich ist: [W]orauf der Zeiger verweist, ist unerreichbar; kann nicht in die sequentiellen Ketten von Operationen als eins ihrer Glieder eingefügt werden; wird zum Beispiel als »Sinn« nicht zum Wort. In der Sprache kann eben auf einen Satz nur ein Satz folgen und nie das, was die Sätze meinen, bedeuten, bezeichnen. In dem Maße, als die Sprache dies reflektiert und auch reflektiert, daß sie trotzdem (oder gerade deswegen) funktioniert, wird sie als symbolisches Medium gehandhabt.62

Dieser Verweis zeigt im Lichte des Bisherigen gerade in die Mitte der Sprache als Differenz von Medium und Form. Aber wie auch immer sich dieses Verweisen vollzieht, lassen die dadurch aufgeworfenen Fragen die einseitige Aufmerksamkeit der Kommunikationssysteme besser verstehen – warum sie ihre eigenen paradoxen Bedingungen vergessen und unsichtbar machen müssen, um ihre Operationen fortsetzen zu können. Das Durchsetzen einer solchen unökonomischen und kontraproduktiven Perspektive kann zwar nicht die Aufgabe der Gesellschaft sein (»die Wissenschaft denkt nicht«,63 könnte man mit Heidegger sagen, und das ist wohl gut so), doch die Konsequenzen geben zu denken (nach Heidegger sind sie sogar bedenklich64). Konsequenzen, nach denen es die Gesellschaft nicht nötig hat, auf ihre Medien zu reflektieren bzw. sich mit ihrer Umwelt, dem Bewusstsein und der Wahrnehmung in Übereinstimmung zu bringen. Es erhöht den Einsatz, dass die Kommunikation strukturellen Kopplungen (der Sprache) ausgesetzt ist, welche die Verbindung mit der Umwelt (deren Irritation im System in Information zu verwandeln ist) als alleinige Instanzen aufrechterhalten. Die »besondere[n] Wahrnehmungs60 | Ebd. 61 | Ebd. 62 | Ebd., S. 68. 63 | Heidegger: Was heißt denken?, S. 4. 64 | Vgl. Heidegger: Die Frage nach der Technik.

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gegenstände«65, wie die Sprache, die Schrift oder die gedruckte Sprache, gewährleisten die strukturellen Kopplungen zwischen Bewusstsein und Kommunikation. »Die Komplexitätschancen autopoietischer Systeme können sich rasch und abrupt ändern, wenn sich die Bedingungen ihrer operativen und strukturellen Kopplung mit der für sie notwendigen Umwelt ändern; also in unserem Falle: wenn die Prägung des Bewußtseins durch Kommunikation sich neue Möglichkeiten erschließt.«66 Obwohl diese Prägungen auf die Bedeutung der materiellen Aspekte der Kommunikation hindeuten können, warnt uns Luhmann davor, das Erforschen dieser Zusammenhänge mit kulturwissenschaftlichen Ansätzen gleichzusetzen. Was die Theorie der Beobachtung zweiter Ordnung mit der Dekonstruktion verbindet, ist nach Luhmann unter anderem die Kritik der Annahme, dass »etwas vorliege, was daraufhin zu beschreiben sei […], also die Kritik der unterstellten Unterscheidung von vorliegendem Text und Interpretation bzw. materiellem Objekt und dessen Beschreibung. Die Unterscheidung von Text und Interpretation ist ihrerseits die Unterscheidung eines Textes.«67 Die mehrmals differenzierten und verwickelten Verhältnisse der Kommunikation und des Bewusstseins konnten auch schon darauf hinweisen, dass »[d]ie Materialität der Texte oder anderer Kunstwerke immer zur Umwelt [gehört] und nie Komponente der Operationssequenzen des Systems werden [kann]. Aber die Operationen des Systems bestimmen, wie Texte und andere Objekte der Umwelt identifiziert, beobachtet, beschrieben werden.«68 Auch eine Unterscheidung zwischen Bewusstsein und Kommunikation lässt sich nur durch Interpretation treffen. Wir können also nicht mehr tun, als die Position eines Beobachters zweiter Ordnung einzunehmen und geduldig diese – ihrerseits auch komplexe – Form zu lesen. Aber nicht jede Form bietet die gleichen Chancen für die Reflexion. Wie schon vermutet, ist es die Funktion der Kunst, diese sonst nirgendwo auffindbaren Möglichkeit für die Gesellschaft exemplarisch zu gewährleisten.

D as M edium der K unst Hinsichtlich unserer Fragestellungen empfiehlt es sich, von nun an das System der Kunst in den Mittelpunkt zu stellen, und zwar umso mehr, weil nach Luhmann das Medium der Kunst nichts anderes ist als die Differenz zwischen Medium und Form oder eine Kopplung, die der Kommunikation als eine Sprache vor der Sprache vorausgeht. Laut Das Medium der Kunst lässt sich die Autonomie des Kunstsystems aus der paradoxen Umkehrung des Verhältnisses von Medium und Form erklären, weshalb man auch sagen kann, dass das Medium der Kunst nichts 65 | Luhmann: Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?, S. 117. 66 | Ebd., S. 118. 67 | Luhmann: Beobachtung, S. 160. 68 | Ebd., S. 161.

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anderes als die Kunst selbst ist. Obwohl diese tautologische Feststellung für jedes System der Gesellschaft gleichermaßen gilt, wird erst hier deutlich, wie untrennbar jedes System von seinem symbolisch generalisierten Medium ist. Die Kunst macht also im Gegensatz zu den anderen Systemen die Wahrnehmung – genauer gesagt die Differenz der Kommunikation zur Wahrnehmung – zu ihrem eigenen Medium. Die Wahrnehmung ist zwar die Bedingung jeder Kommunikation in dem Sinne, dass diese von ihr sozusagen umrahmt wird (gäbe es keine Autoren, gäbe es auch keine Schrift; gäbe es keine Texte, gäbe es nichts zu lesen), aber diese Differenz erscheint in den einzelnen Teilsystemen bereits kodiert, sie wird in eine systemspezifische Unterscheidung, einen spezifischen Code übersetzt. Nicht nur die Massenmedien konstruieren ihre eigene Realität,69 denn außerhalb des jeweiligen Systems gibt es keine Realität oder keinen Bezugspunkt, kraft dessen man die Leistung der Operationen, ihre Codes vergleichen könnte. Der Code steht in engem Zusammenhang mit dem Begriff des Mediums, insofern das Medium als Symbol nur durch eine binäre Unterscheidung artikulierbar wird, die aber als Operation diesen eigenen Sinnhorizont zur gleichen Zeit unsichtbar macht. Der Code, der das jeweilige System charakterisiert und von allen anderen Systemen unterscheidet, lässt sich auch als eine innere Grenze beschreiben, deren Einheit – das Medium des Systems – für den Beobachter, der im System operiert, jeweils latent und unsichtbar ist. Das Medium ist als paradoxe Einheit das aus der binären Logik ausgeschlossene und nur latent anwesende Dritte, das – so wie die Form – in keinen Gegensätzen zu lokalisieren ist, indem es den Operationen nicht nur folgt, sondern ihnen zugleich vorausgeht, es ist zur gleichen Zeit »innerhalb« und »außerhalb« des Systems. Die Differenz der strukturellen Kopplung kann jedoch eine Position bieten, die den Sinnhorizont des Beobachters an eine – in einem tieferen Sinne innere oder radikal äußere – Grenze plaziert, von der aus die Prozesse der Systembildung und der Autopoiesis der Systeme beobachtbar werden können. Eine solche Position bietet auch die Kunst, die somit der Gesellschaft nicht gegenüber, sondern vielmehr auf deren innerer Grenze steht. Das Medium der Kunst ist die Differenz zwischen Medium und Form. Es geht also nicht darum, dass die Kunst auf primäre Wahrnehmungsmedien zurückgreift, die sie dann durch spezifische Formbildungen verarbeitet. Der Unterschied zwischen dem Kunstsystem und den anderen Teilsystemen der Gesellschaft ist, dass die Kunst, während andere die Differenz von Form und Medium zu weiteren Formbildungen nutzen, den ganzen Prozess umkehrt: Für sie ist dieselbe Unterscheidung ein Medium und nicht bereits eine Form. Fritz Heider erklärt diese Unterscheidung bekanntlich durch lose und feste Kopplungen von Elementen, und auch für Luhmann ist es der Begriff der Kopplung, der diese Unterscheidung gegenüber anderen Unterscheidungen der Systemtheorie auszeichnet.70 Die 69 | Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 30-31. 70 | Luhmann: Medium und Form, S. 167.

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Elemente sind nicht unabhängig von den Kopplungen, sondern entstehen erst in ihnen. Die Unterscheidung von Form und Medium ist also wiederum nicht ontologisch, sondern relativ in dem Sinne, dass sie »selbst eine Form ist – eine Form mit zwei Seiten, die auf der einen Seite, auf der Form-Seite, sich selbst enthält. […] Formen, die durch feste Kopplung der Möglichkeiten eines Mediums gebildet werden, unterscheiden sich selbst (Innenseite) von den anderen Möglichkeiten, die das Medium bietet (Außenseite).« 71 Diese Unterscheidung lässt sich zur Unterscheidung von System und Umwelt als analog sehen; beide sind asymmetrisch und enthalten sich selbst. Doch sie unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt: Die System/Umwelt-Differenz ist weder unmotiviert noch beliebig, denn das Identifizieren eines Systems erfolgt nach konventionellen Codes: »[d]as Belieben des Beobachters liegt in der Wahl des Systems, von dem er ausgeht, nicht aber in der Frage, was er als System behandeln kann.« 72 Die Differenz von Medium und Form ist hingegen weder konventionell noch motiviert, denn von einer gelungenen Formenkombination ausgehend lässt sich im Prinzip alles (auch die System/Umwelt-Differenz) zum Medium machen. Und genau diese Beliebigkeit der strukturellen Kopplung nutzt die Kunst aus: Sie sucht nach neuen Möglichkeiten der Unterscheidung von Wahrnehmung und Kommunikation, um eine – in dieser Form – noch unlesbare Differenz in ein Medium zu schreiben, das vor dieser Schrift so eben nicht existiert. Kunst kommuniziert zwar nicht durch Sprache, d.h. nicht in wiedererkennbaren Unterscheidungen eines Sinnkontextes oder eines Codes, jedoch ist sie »ein funktionales Äquivalent zur Sprache« 73 und insofern von sprachlicher Natur, als sie auch die Rolle der strukturellen Kopplung zwischen Wahrnehmung und Kommunikation spielt, wie dies (auf ihre eigene Art) auch die Sprache tut. Kunst ist daher auch Kommunikation, die der Sprache vorangeht und »wie eine Art von »Schrift« die Differenz von Wahrnehmung und Kommunikation überbrückt«.74 Sie ist eine Art von Schrift, die die Möglichkeit der System/Umwelt-Unterscheidung auf ihre Arbitrarität zurückführt. Die Kunst hebt die Unterscheidungen der in der Kommunikation etablierten Formen nicht auf, sondern macht sie unsicher und ununterscheidbar, um dadurch eine andersartige Kommunikation in Gang zu setzen. Diese Differenz ist von keinem Code her zu lesen, weist jede kodierte Unterscheidung zurück und zeigt sie als ebenso beliebig auf. Die Autonomie und die unverwechselbare Funktion der Kunst wird zwar ebenso von einer binären Unterscheidung gewährleistet, wie in allen anderen Systemen der Gesellschaft (durch den Positivwert ihres Codes schließen sich weitere Formen an, die die paradoxe Einheit des jeweiligen Mediums entfalten), aber da »die Besonderheit des Kunstsystems im Vergleich zu anderen Funktionssystemen weniger in den 71 | Ebd., S. 169. 72 | Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 65. 73 | Luhmann: Wahrnehmung und Kommunikation, S. 36. 74 | Ebd., S. 33.

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Namen der Codewerte [liegt], als vielmehr darin, daß die Asymmetrisierung (Konditionierung, Zeitbildung und Zeitgebrauch) weitgehend dem einzelnen Kunstwerk selbst obliegt«,75 zeigt sie den Code in seiner wesentlich tautologischen Funktion auf: Die einzige Bedingung der Fortsetzung der Kommunikation ist die Fortsetzung der Kommunikation. Solche tautologische Feststellungen gelten exemplarisch, und nicht nur für das System der Kunst: Luhmanns auf ersten Blick rätselhaft erscheinende Feststellungen, wie zum Beispiel, dass die Kommunikation kommuniziert oder dass sich die Unterscheidung unterscheidet, sind gemeinsame Bedingungen der Kunst und der anderen Systeme der Gesellschaft. Wie der Unterscheidungsgebrauch eines Systems und dessen blinder Fleck nur einem externen Beobachter sichtbar werden kann, der die grundlegende Differenz oder die Paradoxie des Systems erschließt, so kann der Beobachter der Kunst eine Position einnehmen, in der die Beobachtung anderer Systeme und der Welt von ihrer innersten Außenseite her möglich wird. Somit verwirklicht die Kunst beispielhaft die Symbolisierung, die gewissermaßen in jedem System vollzogen wird. Denn erst sie macht die Grenzen der Systeme von ihrer Umwelt unterscheidbar oder anders: Sie hält die Form der System/Umwelt-Unterscheidung und das Medium der Medium/Form-Unterscheidung auseinander. So kann man auch die Funktion der Kunst beschreiben, nach der sie den Unterschied zwischen dem Realen (System/Umwelt) und dem bloß Möglichen (Medium/Form) vertieft. Dabei verdoppelt sich die Realität und tritt in sich selbst wieder ein. Das Verhältnis der beiden Unterscheidungen kehrt sich um, die reale Unterscheidung wird zum Medium und die mögliche zur Form. Das Ergebnis ist ein Sich-Zeigen der Realität als in einer Komplexität, die zum Beispiel die Gesellschaft als »ein[en] Riesenbereich überschüssiger Kommunikations- und Handlungsmöglichkeiten« bzw. als »konnexionsloses Medium« erscheinen lässt.76 Ist die Kunst von der Gesellschaft her ein Teilsystem unter anderen, medialisiert sie beide Seiten ihrer selbst und wird zu einem Reflexionsmedium, einer inneren und zugleich äußeren Grenze, die das »Wesen« der Sprache ohne Sprache, jedoch idiomatisch mitteilt. So führt zum Beispiel »das literarische Kunstwerk zur Entdeckung der Sprache und nicht zufällig dann zu einer Verwissenschaftlichung dieser Entdeckung: zu einer Sprachwissenschaft, die sich andere Ziele setzt als nur: die Grammatik zu kontrollieren.« 77 Durch das Medium des Kunstsystems kann also gezeigt werden, dass die Sprache in der Theorie nur eine scheinbar marginale oder insofern nur eine marginale Rolle spielt, als sie als Form oder Grenze alle weitere Unterscheidungen ermöglicht und die ganze Gesellschaft in ihren tiefsten Grundlagen umrahmt.78 75 | Luhmann: Selbstorganisation, S. 306. 76 | Luhmann: Das Medium der Kunst, S. 138. 77 | Ebd., S. 129. 78 | Mit Luhmanns Sprachauffassung hat sich Urs Stäheli in seinem bereits erwähnten Band eingehender auseinandergesetzt. Er formuliert seine Kritik an Luhmanns Theorie der

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Die Bezeichnung »Sprache« ist hier wohl nicht ganz adäquat und sie vereinfacht womöglich auch die Zusammenhänge, die aus der Theorie zu gewinnen sind, denn Luhmann vermeidet es auffällig, diese – mit Jahraus gesagt – »Ur-Differenz« Sprache zu nennen, auch deswegen greift er auf metaphorische Ausdrücke wie »Sprache ohne Sprache« oder »funktionales Äquivalent zur Sprache« zurück. Dasselbe ist der Fall auch beim Begriff der Schrift: Die Gesellschaft der Gesellschaft stellt die Evolution der Kommunikationsmedien sowie das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf ziemlich konventionelle Weise dar; und auch Die Form der Schrift, auf die wir später noch zurückkommen werden, grenzt den »geSprache aufgrund einer dekonstruktiven Sprachtheorie von Derrida und stellt dabei vor allem die Vorstellung eines isolierten, als identisch vorausgesetzten und substantiellen Zeichens, die in dieser Auffassung dominiere, in den Vordergrund: »Das Wertkonzept [von de Saussure] zerstört die Illusion, daß ein Zeichen unabhängig von seiner systemischen Position bestimmt werden könnte. Für Luhmann existiert jedoch ein derartiges System, anhand dessen man den Wert bestimmen könnte, nicht. […] Die perfekte continence der Form erfordert die Trennung von vorhergehenden und nachfolgenden Formen. Das Zeichen wird so zur doppelt isolierten Form, das sowohl von der Wahrnehmungswelt wie auch von anderen Zeichen isoliert ist. […] Zwar ist auch bei Luhmann die Form des Zeichens, die aus der Unterscheidung zwischen Signifikant und Signifikat besteht, differentiell gebaut, sie bleibt jedoch stets eine isolierte Unterscheidung – eine Unterscheidung »in perfect continence«. Stäheli: Sinnzusammenbrüche, S. 140-142. Wie man sieht, lässt diese Kritik die ganze Problematik der Paradoxie der Form außer Acht, insofern sie nur von einer formgebenden Unterscheidung ausgeht, die dann gerade solche Oppositionen impliziert, die vom differenztheoretischen Formbegriff von Anfang an unterminiert werden. Bemerkenswert und vielsagend ist die oppositionäre Struktur, in der die Bezüge der strukturalistischen und systemtheoretischen Sprachauffassungen in der Regel interpretiert werden. Henk de Berg zum Beispiel liegt der gleiche Gegensatz von offenen und geschlossenen Zeichenstrukturen zugrunde, er versieht sie nur mit umgekehrten Vorzeichen: »Worin, so ist also zu fragen, liegt denn der Unterschied zwischen der Luhmannschen Kommunikationstheorie und der strukturalistischen These, daß die Bedeutung eines Zeichens aus seiner differentiellen Beziehung zu anderen Zeichen resultiert? […] [Luhmann] postuliert kein übergreifendes System von festen differentiellen Beziehungen, aus dem sich die Zeichenbedeutung herleitet, sondern definiert Differenzen als zeitpunktfixierte Ereignisse. […] Im Gegensatz zur strukturalistischen Position gilt deshalb, daß Zeichen keine Werte einer vorgegebenen Struktur von Differenzen sind, sondern erst über eine ephemer in und durch eine historisch-konkrete Kommunikation konstituierte Differenz Bedeutung erlangen.« de Berg: Die Ereignishaftigkeit des Textes, S. 36. Von beiden Autoren werden gegensätzliche, aber korrelative, voneinander nicht unabhängige sprachliche Aspekte in ein oppositionäres Muster geordnet, wobei die Richtungen entweder dem einen oder dem anderen Pol des Gegensatzes zugewiesen werden. Jedoch lassen sich diese Gegensätze (motivierte und unmotivierte Unterscheidung sowie geschlossene und offene Strukturen) – wie es auch bei Luhmann zu beobachten ist – nicht voneinander trennen; sie sind in den Theorien gleichzeitig am Werk.

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wöhnlichen Sinn« 79 der Schrift von den Grundbegriffen der Systemtheorie deutlich ab. Diese Abgrenzung bleibt nicht ohne Konsequenzen bzw. kann auf mehrere Weise eine Erklärung finden. Zuerst kann sie nur darauf hindeuten, dass das Medium, das sich in den Formenkombinationen der Kunst abzeichnete und das jedes Kommunikationssystem durch einen doppelten Zug umrahmt (in der »Tiefe« der System-Umwelt-Unterscheidung liegt die Medium-Form-Differenz), einerseits nicht von sinnlicher Natur ist, andererseits aber in einem eigentlicheren Sinne mit der Wahrnehmung verbunden ist, insofern das Medium der Formen der Kunst die Distanz der Kommunikation zur Wahrnehmung ist. Wenn dieses universale Medium nicht wahrnehmbar ist, dann stellt sich wiederum die Frage, wie diese an sich unbeobachtbare und die Beobachtung konstituierende Grenze der Form dennoch beobachtbar wird. Zu der Frage, wie und unter welchen Bedingungen die Selbstbezeichnung – sprich das Medium – des Zeichens in der Kunst erscheinen kann, kann uns der Begriff des Ornaments weitere Anhaltspunkte geben. Im Gegensatz zu den Begriffen der Schrift und der Sprache, die die Kunst eher im übertragenen Sinne beschrieben, verwendet Luhmann den Begriff des Ornaments sowohl im übertragenen als auch im wörtlichen Sinne: Das Ornament kann nicht nur »die Grundform des Entwickelns von Formen aus Formen« und damit das allgemeine Problem der Form, die Wiederholung der Form durch die Form bezeichnen oder besser: symbolisieren,80 sondern auch der Ursprung der Kunst, der vor der Entstehung des Kunstsystems in dieser Form weder als Frage noch als Bezeichnung existiert, ist nach Luhmann »im Ornament zu vermuten«.81 So wie für die Gesellschaft die Sprache als Sinn, ist für die Kunst das Ornament das symbolische Medium. Aber auch dieses Medium lässt sich nicht unmittelbar erfassen. Denn – entfaltet man die Paradoxie nach den Gesetzen der Form – vor der Ausdifferenzierung des Kunstsystems sowie vor der Unterscheidung des Kunstwerks als Objekt und seines dekorativen Rahmens gibt es das Ornament als Ornament, als das Gegenteil des Kunstwerks noch nicht. Dafür ist das Ornament nach der Bezeichnung des Kunstwerks als ein Kunstwerk, d.h. nach 79 | Luhmann: Die Form der Schrift, S. 350. 80 | »Die Grundform des Entwickelns von Formen aus Formen ist das (sehr irreführend so genannte) Ornament. Allen Ornamenten liegt das Problem des Symmetriebruchs zugrunde, also das Problem der Form. Es geht um die Projektierung von Asymmetrien, die noch erkennen lassen, aus welchen Symmetrien sie entstanden sind. Ornamente sind Rekursionen, Rückgriffe und Vorgriffe, die sich als solche fortsetzen.« Luhmann, Medium und Form, S. 193-194. 81 | »Nimmt man die Theorie der Formkombination als Ausgangspunkt, dann liegt es nahe, den Ursprung der Kunst unter Bedingungen, die keinen entsprechenden Begriff, geschweige denn ein autonomes Kunstsystem kennen, im Ornament zu vermuten. Man könnte einen Vergleich wagen: Was für die Evolution der Gesellschaft die Evolution von Sprache bedeutet hatte, ist für die Evolution des Kunstsystems die Evolution des Ornamentalen«. Luhmann: Die Funktion der Kunst, S. 348-349.

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der Bezeichnung des Kunstwerks durch die Unterscheidung von Ornament und Kunstwerk (die auch die Definition und begriffliche Abstraktion des Rahmens und des Außens des Werkes nach sich zieht bzw. voraussetzt), nicht mehr das, was es ist, da es dadurch zum Produkt einer Unterscheidung wird, die wiederum durch das Ornament entstand. Die bezeichnete Seite der Unterscheidung (also das Werk als ein scheinbar mit sich selbst identisches und abgrenzbares Objekt, das ohne seine »ursprüngliche« Selbstverständlichkeit nun auf Definitionen angewiesen ist) schließt das Ornament als bloße Dekoration nicht nur ein, sondern sie schließt es – diesmal als die unstabilisierbare Differenz zwischen Kunst und Nicht-Kunst – auch aus. Der Sinn, der Ursprung und die Identität eines Werkes liegt in seiner ornamentalen Struktur oder anders: in der Differenz zu seiner jeweiligen Umwelt und seinem Außen, welche Differenz jedoch nicht an sich und nicht im Voraus gegeben ist, da diese »äußere« Unterscheidung oder Form erst in den »inneren« Unterscheidungen entsteht. In der Wahrnehmung, d.h. für einen Beobachter erster Ordnung, ist das Werk als Werk, das von seinem Ornament zusammengehalten wird,82 wortwörtlich nicht zu sehen (»mit dem bloßen Auge erkennt man keine künstlerische Qualität«83). Denn die Unterscheidungen der Form sind nicht im Voraus kodiert; diese Unterscheidungen müssen zuerst selbst als Beobachtungen (Unterscheiden von Unterscheidungen) vollzogen werden: Beobachten zweiter Ordnung ist ein Unterscheiden von Unterscheidungen – aber nicht so, daß man einfach Unterscheidungen nebeneinanderstellt […]. Vielmehr muß das unterscheidend beobachtete Unterscheiden in seinem operativen Gebrauch beobachtet werden, das heißt mit den Merkmalen, die wir soeben für den Begriff des Beobachtens festgelegt haben – also: Simultaneität des Unterscheidens und Bezeichnens (im Auge behalten der anderen Seite) und rekursive Vernetzung in einem Vorher und Nachher weiterer Beobachtungen, die ihrerseits wieder unterscheidende Bezeichnungen sein müssen. 84

Sowohl die Interpretation als auch das davon untrennbare Ereignis des Kunstwerks vollziehen sich in ornamentalen Strukturen, oder genauer: Das Werk ereignet sich erst durch die Ausführung seiner performativen Anweisungen. Das Werk hat in diesem Sinne weder äußere und von vornherein gegebene Grenzen noch ist es eine geschlossene Einheit, in der seine Identität verborgen liegt. Diese werden erst durch die beobachtende Entfaltung und permanente Verschiebung

82 | »Das Ornament erzeugt seinen eigenen imaginären Raum durch eine laufende Verwandlung von Formgrenzen in mehrdeutige Übergänge. Es verhindert den Zerfall des Kunstwerks in einzelne Gestalten, denen man sich zuwenden, von denen man sich abwenden kann. Oder anders gesagt: es hält ein Kunstwerk zusammen, ohne an dessen figurativer Einteilung teilzunehmen, und eben dadurch.« Luhmann: Medium und Form, S. 195. 83 | Luhmann: Beobachtung, S. 133. 84 | Ebd., S. 101-102.

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der Paradoxie des Kunstwerks erzeugt.85 Die Interpretation endet und beginnt mit dem blinden Fleck des Werkes: Durch die performative Differenz von Wahrnehmung und Kommunikation wird eine Kommunikation in Gang gesetzt, wobei der Beobachter nach Unterscheidungen sucht, die dieser Differenz entsprechen (die also kein Unterschied ist, sondern zur Unterscheidung gemacht werden soll) und sie dadurch verschieben und entfalten; und wodurch der Beobachter der Forderung des Werkes gerecht wird bzw. seine Forderung ausführt. Der Weg der Beobachtung führt im Medium des Werkes durch die permanente Aktualisierung der Formen zur jeweilig anderen Seite der Unterscheidung und der Entdeckung desselben Mediums und stellt somit einen komplexen Verweisungszusammenhang her, der durch die Unterscheidung von Medium und Form wiederum sich selbst erschließt. Eine aktualisierte Form kehrt in einem anderen Zusammenhang als Medium zurück, die Formen werden wechselseitig voneinander getragen und erschlossen, bis schließlich die eine Seite der Unterscheidung als Kehrseite einer anderen erscheint – zwei Unterscheidungen als die beiden Seiten derselben Differenz. Dabei bleiben die Einheit sowie der Sinn des Kunstwerks unerreichbar. »Was man aber erreichen kann, ist: mit Hilfe einer Unterscheidung andere Unterscheidungen zu beobachten. Im Ergebnis entsteht dann ein Werk, das die eigene Form (Unterscheidbarkeit) dadurch gewinnt, daß es intern aus Formen (Unterscheidungen) besteht, die sich wechselseitig auf beiden Seiten spezifizieren können.«86 Wir brauchen nun nicht alle Aspekte dieser Kunsttheorie zu rekapitulieren um zu zeigen: Die Erfahrung der Kunst ist letztendlich nichts anderes als die Erfahrung des Ereignisses der Form, der gleichzeitigen Korrelation von Unterscheidung und Bezeichnung, insofern das Kunstwerk den Beobachter dorthin zurückführt, wo die Beobachtung erst möglich wird, wo die Beobachtung als Form entsteht. In der Kunstkommunikation begegnet der Beobachter nicht mehr den sinnlichen Symbolen, die in anderen Systemen der Gesellschaft im Umlauf sind – Symbolen, die durch Mystifikationen oder Verdecken des doppelten blinden Flecks in der Beobachtung erster Ordnung entstanden und so wahrnehmbar wurden; deren illusorisch natürliche Sinnlichkeit der Beobachter zweiter Ordnung dadurch enthüllt, dass er zwischen Operation (Unterscheidung) und deren paradoxer Möglichkeit (ihrem Medium) unterscheidet, wobei die Symbole als Formen wieder lesbar werden. Denn in der Form des Kunstwerks sind die Operationen nicht wiederzuerkennen, die auf ihr Medium, auf ihre Paradoxie oder genauer: auf die gesellschaftlichen Probleme zurückführen könnten, die in der Regel von der mystifizierenden Arbeit der Symbole behandelt werden sollen. Das Symbol ist in der Kunst nicht von sinnlicher Natur und kann nicht sinnlich werden, die Spur seiner Paradoxie kann nicht durch Bezeichnung in Vergessenheit geraten (»Auch wenn das Unbeobachtbare unbeobachtbar bleibt, ist es wichtig, daran zu 85 | Luhmann: Wahrnehmung und Kommunikation, S. 71. 86 | Ebd., S. 64.

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erinnern«87), sondern es bleibt, was es ist: eine sich selbst permanent entziehende Differenz, die nicht einmal die Formenkombinationen restlos auflösen und dadurch zum Erscheinen bringen können. Das Symbol bietet in der Kunst die Erfahrung einer Unmöglichkeit oder die Erfahrung der Unmöglichkeit der Erfahrung, denn »[d]as, was als Kunstwerk entsteht und zu sehen ist, ist die Entfaltung der jeweils eigenen Paradoxie, ist die Substitution von aufeinander bezogenen Formen für das, was als Einheit nicht beobachtet werden kann.« Oder: »Was immer in der Kunst zu beobachten ist, ist mithin die Entfaltung einer Paradoxie, die sich ihrerseits der Beobachtung entzieht.«88 Dies kann unter anderem wiederum bestätigen, dass das Beobachten zweiter Ordnung strukturell »ursprünglicher« ist als das Beobachten erster Ordnung, bzw. dass der sinnlichen Wahrnehmung, die mit der Perspektive des letzteren zu verbinden war, eine latente Ebene der Form vorausgeht, der nur dem Beobachten zweiter Ordnung – durch nachträgliche Konstruktion eines Ursprungs – zugänglich wird. Aber wie lässt sich dieser sich entziehende und unrepräsentierbare Charakter des Mediums, der sich für diese Ästhetik nur durch Widerstand der Erfahrung melden kann, mit den symbolisch generalisierten Medien vereinbaren, bei denen »das Symbol den Wiedereintritt einer Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene faßbar [macht]«,89 wobei also dieselbe Figur – ganz im Gegenteil – das System für sich selbst repräsentiert? Obwohl diese miteinander unversöhnlichen Begriffe des Mediums in der Fachliteratur selten auf analytische Weise problematisiert werden,90 können systemtheoretisch motivierte Ansätze das Problem nicht umgehen, dass diese Unterschiede miteinander unverwechselbare sprach87 | Luhmann: Wahrnehmung und Kommunikation, S. 74. 88 | Ebd. 89 | Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 189. 90 | Dirk Baecker versucht zum Beispiel, nachdem er die Spannung der Heiderschen und Parsons’schen Medienbegriffe aufzeigt, die Differenz in einer »Medienmatrix« aufzulösen. Vgl.: Baecker: Beobachtung mit Medien. Jan Künzler kritisiert die marginale Rolle der Sprache bei Luhmann von den sprachtheoretischen Voraussetzungen der analytischen Philosophie her. Die inkonsistente Unterscheidung der Sprache und der Kommunikationsmedien lässt sich nach Künzler durch Luhmanns falsche Auffassung des logischen Widerspruchs erklären: »Entgegen Luhmanns Verständnis handelt es sich bei den Grundlegenden Prinzipien der Logik, dem Satz vom Widerspruch (principium contradictionis), dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten (tertium non datur) und dem Prinzip der doppelten Verneinung (duplex negatio est affirmatio) um allgemeine Sinnbedingungen.« (Künzler: Grundprobleme, S. 330) Jedoch erweist sich für Luhmann die Auffassung des Widerspruchs innerhalb der Disziplin der Logik aus mehreren Gründen als unzureichend (Vgl. z.B. Luhmann: Soziale Systeme). Dass Luhmann das Paradoxieverständnis der rhetorischen Tradition für fundamentaler hält als das der Logik (vgl.: Luhmann: Reden und Schweigen, S. 8), deutet auf eine grundlegend andere Sprachauffassung als die der analytischen Philosophie.

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theoretische Positionen implizieren. Es scheint nämlich, dass es nicht zwei, sondern mindestens drei Ebenen der symbolischen Repräsentation gibt, die bei den paradox konstituierten Medien zu unterscheiden sind. In der Beobachtung erster Ordnung lässt sich die Bezeichnung vom Symbol nicht unterscheiden, sinnliche Symbole lassen sich mit den Dingen der Welt vertauschen. Diese Phänomenalität wird von der Beobachtung zweiter Ordnung nicht einfach enthüllt oder modifiziert, denn [d]ie unmittelbar gegebene Welt läßt sich nicht eliminieren. […] Man kann sehr wohl wissen, daß der eigenen Imagination keine wirkliche Welt entspricht, so wie man bei optischen Täuschungen die Täuschung sozusagen wegwissen kann, aber sie trotzdem sieht. Aber selbst dann folgt man noch einem Erleben, das die Welt, wie sie sein könnte, annimmt. Keine Modifikation kann an diesem Grundsachverhalt ändern. 91

Die Perspektive der Beobachtung erster Ordnung wird von der Beobachtung zweiter Ordnung sozusagen dialektisiert. Was diese Beobachtung eines anderen Beobachters beobachten kann, sind »dessen blinden Fleck, dessen Apriori, dessen »latente Strukturen«,92 deswegen nennt Luhmann diese Art der Beobachtung »Latenzbeobachtung«.93 Was in dieser zweiten Ordnung als Latenz erkannt wird, hängt natürlich auch von der eigenen Position, also der Operation in der ersten Ordnung ab, deshalb schreibt Luhmann, dass »die Welt des Möglichen eine Erfindung des Beobachters zweiter Ordnung [ist], die für den Beobachter erster Ordnung notwendig latent bleibt.«94 Die Latenz bezeichnet hier wohl und ist ein anderer Name für das symbolisch generalisierte Medium, in dem die Unterscheidung noch einen Hinweis auf ihren eigenen Ursprung enthält: So weist auch das Zeichen auf seine Funktion oder ein Symbol hin, das zwar latent anwesend ist, doch sich erkennen und in die Form einer Frage oder eines Problems bringen lässt. »In all diesen Fällen läßt sich der Paradoxieauflösungsvorgang als solcher (und damit: mit noch erkennbarem Paradoxiebezug) beschreiben. Soll er operativ anschlußfähig und verwendbar werden, bedarf er der »Mystifizierung« – der Symbolisierung.«95 Dieses latente Medium oder Symbol ist zwar nicht mehr von sinnlicher Natur, aber immer noch referentiell in dem Sinne, dass man hierbei – im Gegensatz zum Vergessen der Mystifizierung – nicht nur das sieht, »daß man nicht sieht, was man nicht sieht«,96 sondern auch den sinnhaften Bezug, in dem »das Zeichen selbst diese eigene Funktion der Vereinheitlichung des Ge-

91 | Luhmann: Beobachtung, S. 93. 92 | Luhmann: Reden und Schweigen, S. 11. 93 | Luhmann: Beobachtung, S. 138. 94 | Ebd., S. 104. 95 | Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 190. 96 | Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1110.

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trennten bezeichnet.«97 Dieses Zeichen (oder das Medium oder eine Paradoxie) bewahrt insoweit seine Phänomenalität, als es weiterhin zu bezeichnen ist (und zwar durch das Symbol), denn »eine Selbstbezeichnung des Zeichens«98 und somit die Bezeichnung des Zeichens sind keine Zeichen mehr, sondern Symbole. Dies lässt sich von der Selbstbezeichnung der Kunst, vom Ornament nicht mehr sagen. In dem Fall wird sogar die Möglichkeit der Unterscheidung fraglich, die die inneren und die äußeren oder die wiederholten und die wiederholenden Grenzen der Form voneinander unterschieden hat. Denn sie ist nach der Charakterisierung des Mediums der Kunst nichts anderes als die Gleichzeitigkeit eines blinden Flecks und einer unbeobachtbaren Differenz, die die Frage nicht entscheiden lässt, ob »die Unterscheidung, die in sich selbst wieder vorkommt und anders gar nicht vorkommen kann, dieselbe oder nicht dieselbe Unterscheidung [ist]?«99 Folglich muss es auch eine Latenz geben, die den symbolisch generalisierten Medien vorausgeht und zu der die Beobachtung zweiter Ordnung keinen Zugriff mehr hat, weil diese Latenz tiefer oder »äußerer« ist als die Form, die durch das Symbol – wenn auch nur als eine Ununterscheidbarkeit – aber immer noch repräsentierbar ist. Auf die latente Möglichkeit, dass die Selbstbezeichnung des Zeichens vielleicht selber ein Zeichen ist, dass die Kommunikation durchdringende Differenz (»Eine Kommunikation teilt die Welt nicht mit, sie teilt sie ein«100) eine sich permanent verschiebende Zäsur ist, die sich, auch wenn sie in der Kommunikation thematisiert wird, immer woanders befindet, als wo sie bezeichnet oder erfahren wird, deuten bei Luhmann nicht nur die kunsttheoretischen Schriften und die wiederholten Definitionen der Form, sondern auch andere Texte hin. In Soziale Systeme grenzt Luhmann die beiden Funktionen der (hier noch »Widerspruch« genannten) Paradoxie durch die Unterscheidung von Autopoiesis (Operation) und Beobachtung voneinander ab: Für die autopoietischen Operationen (»die immer weiterlaufen müssen, wenn Beobachtung überhaupt möglich sein soll«101) ist der Widerspruch eine Tautologie, »pure Selbstreferenz«102 oder »eine Form, die es erlaubt, ohne Kognition zu reagieren.«103 Wie Luhmann schreibt, »[d]er Widerspruch scheint, ähnlich wie der Schmerz, eine Reaktion auf ihn selbst zu erzwingen oder doch sehr nahezulegen. Um anschließen zu können, ist es nicht nötig, daß man das, was dem Gewohnten widerspricht, kennt; daß man das Widersprechende in seinem Eigenrecht würdigt.«104 Dieser kognitiv unkontrollierbaren und Ope97 | Luhmann: Zeichen als Form, S. 67. 98 | Ebd. 99 | Luhmann: Die Paradoxie der Form, S. 200. 100 | Luhmann: Reden und Schweigen, S. 7. 101 | Luhmann: Soziale Systeme, S. 491. 102 | Ebd., S. 493. 103 | Ebd., S. 505. 104 | Ebd.

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rationen automatisierenden Reaktion setzt Luhmann ihre blockierende Folge in der Beobachtung entgegen. Dies impliziert aber auch, dass die Paradoxie nur tautologisch zu bezeichnen ist (»wobei die Tautologie, die die Selbigkeit des in der Aussage Unterschiedenen behauptet, ebenfalls eine Paradoxie ist«105) und dass es deshalb unmöglich ist, die Selbstreflexion zu artikulieren; was letztendlich die Unmöglichkeit der Synchronisierung von Operation und Beobachtung sowie Ausdruck und Erfahrung zur Konsequenz haben könnte. Im Gegensatz zu den »mystifizierenden« und »funktionalen« Aufgaben des Symbols wird die Spannung, die zwischen seinem repräsentierenden und sich entziehenden Charakter und somit zwischen dem System der Kunst und den anderen Gesellschaftssystemen entsteht, von Luhmann nicht thematisiert. Die Beschreibung bewegt sich zwischen diesen heterogenen Ebenen der Repräsentation unbemerkt und lässt mithin die daraus resultierenden Medienbegriffe miteinander vertauschen. Was solche unbemerkbaren Differenzen zur Folge haben bzw. wie sie die systemtheoretische Beschreibung ablenken können, werden wir zuerst an den Begriffen der Geschichte und des Ereignisses und schließlich am Medium der Schrift zeigen.

S chrif t und E reignis »Semantiken«, »Selbstbeschreibungen« und selbstreflexive Begriffe der gesellschaftlichen Kommunikation sind also für Luhmann im Kontext von medialen Veränderungen als Antworten und Reaktionen auf die jeweiligen Probleme und Paradoxien eines Systems zu verstehen. »Kultur«, »Staat«, »Geschichte« oder »Revolution« sind in diesem Sinne selbstreflexive Begriffe, die diese Probleme jeweils in anderer Form überwinden. So kann zum Beispiel die Geschichte als eine die Gegenwart von der Vergangenheit unwiderruflich trennende Zäsur durch geschichtliche Ereignisse symbolisiert werden, die ihrerseits wiederum und erst durch die sinnstiftende und vereinheitlichende Differenz dieser Zäsur an Bedeutung gewinnen. »Geschichte entsteht, wenn gesellschaftliche Ereignisse im Hinblick auf die Differenz von vorher und nachher (also Ereignisse, und schärfer: als Zäsuren) beobachtet werden« sowie erst »die Differenz des Vorher und Nachher es möglich [macht], die Einheit des Differenten« – schon als gesellschaftliches Ereignis – »zu feiern. Selbst die »Revolutionen« der Neuzeit können auf diese Weise Geschichte machen, als Erfolg für den Menschen oder als Erfolg von Ideen.106

105 | Luhmann: Reden und Schweigen, S. 8. 106 | Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 573.

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Ähnlicherweise symbolisieren den Staat im Staat die Begriffe der Utopie und der Revolution, die als Negationen der bestehenden Ordnung seine jeweilige Paradoxie auflösen: »Utopien beziehen sich auf ein Staatsgebiet außerhalb des Staatsgebiets, das sich aber »nirgendwo« finden läßt, also ebensogut im Staatsgebiet vermutet werden könnte. Die oben/unten-Differenz und die innen/außen-Differenz werden benutzt – und sabotiert, um die Negation der vorhandenen Ordnung in diese einzubringen und zu verdecken, daß eben dies impliziert ist.«107 Zum Begriff der Revolution bezieht sich Luhmann auf einen Handbuchartikel von Reinhart Koselleck, der im Wort »den Doppelsinn einer Rückkehr zum ursprünglich-besseren Zustand und eines gewaltigen Umsturzes« aufzeigt.108 Kurz danach stellt Luhmann fest, dass im Gegensatz dazu das Wort nach der Französischen Revolution einen neuen Sinn gewinnt: »Jetzt wird Revolution zu einer Zäsur, die die alte und die neue Gesellschaftsordnung trennt; also zu einer Form von Unterscheidung, die eine Selbstbezeichnung der modernen Gesellschaft ermöglicht, ohne daß man dabei sachliche Sinngrenzen (etwa: System/Umwelt-Beziehungen) definieren müßte.«109 Jedoch steht diese Definition als Form einer Unterscheidung nicht im Gegensatz zum widersprüchlichen Sinn, den Koselleck im Wort entdeckt. Die aus dem Widerspruch entfaltete Spiralmetapher ließe sich sogar auch in diesem Zusammenhang, in der zirkulären Struktur der selbstreferentiellen Form, beschreiben. Die widersprüchliche Semantik des Begriffs wird von Koselleck über einen begriffsgeschichtlichen Umweg entfaltet, der auch in seiner Beschreibung eher an ein Symbol als eine Metapher erinnert, an ein Symbol, das durch metaphorische Verschiebungen entsteht. Nach dieser Geschichte erhielt der ursprüngliche Sinn des Wortes – »zunächst meinte das Verb »wegwälzen« – etwa den Stein von Christi Grab«110 – schon in der Astronomie einen viel allgemeineren Sinn, den von »Umwälzung« und »Rückkehr«. Der naturwissenschaftliche Diskurs trennt also von der empirischen Erfahrung einen verallgemeinerten Rahmen ab, den sich nachher die Geschichtswissenschaft als Reflexionsrahmen leiht: »Die Metapher verblaßt und setzt einen Revolutionsbegriff frei, der als genuin geschichtlich bezeichnet werden darf. Der Kreislauf der Gestirne ermöglichte metaphorische Anleihen, um der Geschichte in einem erborgten Gewände neuen Sinn abzugewinnen, genauer gesagt, um die Geschichte als Revolution zu

107 | Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, S. 205. 108 | Ebd., S. 208.; Vgl. noch: »Das macht einen neuen Sinn des Begriffs der »Revolution« verständlich, der erst, gleichsam als Selbstbezeichnung der Geschehnisse, während der Französischen Revolution entsteht. Das Wort war seit langem geläufig gewesen – teils zur Bezeichnung einer (beabsichtigten) Rückkehr zur guten alten Ordnung, teils zur Bezeichnung eines gewaltsames Umsturzes.« Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1071. 109 | Ebd. 110 | Koselleck: Revolution, S. 246.

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entdecken.«111 Unter dem erborgten Gewände, das der Geschichte eine symbolische, zugleich repetitive und teleologische, singularisierende und verallgemeinernde Verfassung verleiht, werden »[d]ie einzelnen Handlungen und Ereignisse […] in langfristige Zusammenhänge gestellt, die sich mit einer quasi naturalen Notwendigkeit abwickeln. Was als Bürgerkrieg sinnloses Morden war, erhielt durch den Begriff Revolution eine überhöhte Notwendigkeit, die die Einzelfälle in langfristige Verläufe einrückte und so begreiflich machte.«112 Die geschichtliche Reflexion erhebt die Geschehnisse, die an sich keine über sich hinausweisende Bedeutung haben, zu einem unwiederholbaren und deshalb wiederholbar beispielhaften und allgemeinen, zugleich irreversiblen und reversiblen Ereignis. D.h. zu einem Symbol, das die determinierten und latenten historischen Vorgänge in einen Augenblick verdichtet, der diese repräsentiert und zum ersten Mal zum Erscheinen bringt. »Allem Wandel ins Neue hinein zum Trotz kehren die gleichen Grundmuster menschlichen Verhaltens und menschlicher Organisation wieder – was die Revolution auszeichne, ist nur, daß sie den Durchgang mit wachsender Geschwindigkeit zurücklege. Beschleunigen läßt sich nur, was sich im Ablauf der Zeit sowieso einstellt. Und das Vorweggewußte orientiert sich an der Einholbarkeit des bereits Gewußten.«113 Auch die Beschreibung Kosellecks lässt also darauf schließen, dass in diesen »Semantiken« der symbolische Rahmen der Revolution eine Paradoxie entfaltet, wobei er das Grundproblem der historischen Reflexion verdeckt. Der Wiedereintritt der Geschichte in die Geschichte muss mithin alle Konsequenzen der Paradoxie der Form nach sich ziehen: Die Geschichte selbst, die erst in der Beobachtung und durch sie als Form entsteht, bleibt als Grenze, die diese Beobachtung ermöglicht, unsichtbar. Das Symbol des historischen Ereignisses repräsentiert diese Grenze als Geschichte, indem es sie invisibilisiert. Folge man den Gesetzen der Form, ließe sich auch feststellen, dass Ereignisse nur in dem Maße von der Vergangenheit trennen und den Anfang von etwas Neuem bezeichnen, in dem sie diese Vergangenheit – ähnlich einer Unterscheidung, die in der Form ihren eigenen Ursprung wiederholt – zum ersten Mal zeigen, wodurch sie aber eben die Möglichkeit des Vergleichs der Gegenwart mit der Vergangenheit (der beiden Seiten der Form) untergraben. Obwohl ein Ereignis nur im Vergleich zu seiner eigenen Vergangenheit, seiner Vorgeschichte als ihrer Bedingung einen Ereignischarakter hat, wird diese Unterscheidung zwischen Gegenwart und Vergangenheit erst durch das Ereignis selbst, durch die unbeobachtbare Zäsur ermöglicht, die in die historische Erfahrung eingeschrieben und als Differenz hinterlassen wird. Die tautologische Struktur des symbolischen Ereignisses kann durch das selbstreferentielle Funktionieren der Form genauer artikuliert werden – die spiralhafte Zeit des revolutionären Ereignisses vertauscht die Unterscheidung des Vorher und Nachher und bringt sie ohne Bezugspunkt in 111 | Ebd., S. 251. 112 | Ebd., S. 246. 113 | Ebd., S. 248.

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Bewegung; sie aktiviert eine Differenz, die die entfaltende Unterscheidung innerhalb der Form als ihren Gegenpol für ihre Selbstlegitimierung und Selbsterhaltung benutzt. Aber Luhmann geht bei der Interpretation symbolischer Begriffe nicht so weit, er lässt die Begriffe über ihre symbolischen Grenzen nicht hinaustreten. Deswegen kann auch nicht sichtbar werden, dass die verschiedenen Funktionen des Symbols, also seine repräsentierende und selbstreflexive Funktion auf der einen Seite und sein sich-entziehender und unrepräsentierbarer Charakter auf der anderen Seite miteinander unvereinbare Geschichts- und Sprachauffassungen implizieren. In der systemtheoretischen Beschreibung lösen sich diese »Semantiken« in der Evolution der Systeme ab und sind jeweils an einen engeren geschichtlichen Kontext gebunden. Ein offensichtlicher Grund dafür ist, dass die Aufgabe der symbolischen Selbstreflexion in der Praxis der gesellschaftlichen Kommunikation nach Luhmann eher in der Mystifizierung, der Invisibilisierung der Grenzen sowie der Fortsetzbarkeit der Autopoiesis, als in der blockierenden Beobachtung von Paradoxien besteht. Warum der der Repräsentation widerstehende Charakter des Mediums und damit die weitreichenden Konsequenzen, die sich aus der Beschreibung des Mediums der Kunst ergeben, in anderen Analysen Luhmanns nicht zur Geltung kommen, kann vielmehr das Medium der Schrift erklären. Die exemplarisch reflexiven Funktionen der Kunst sind also zum einen einer Position zu verdanken, von der aus die für jedes System grundlegende Differenz zwischen Wahrnehmung und Kommunikation wieder in ihrer eigentlichen »Seinsweise«, nämlich als ein unbeobachtbares Medium erkennbar und nicht mystifiziert und in der System/Umwelt-Unterscheidung aufgehoben wird. Doch zum anderen hat diese Beobachterperspektive, in der die gewohnten Formbildungsprozesse umgekehrt werden, eine viel wesentlichere Bedingung: Schreibt die Kunst ihre Formen nicht nachträglich in ein bereits vorhandenes Medium ein; ist die Fixierung nicht nachträglich im Vergleich zu ihrem Medium, dann kehrt diese Art von Beobachtung auf nichts anderes, als die Fixierung selbst, auf das Moment der formbildenden Wiederholung, zurück. Die Möglichkeit dieser Umkehrung ist wohl nicht unabhängig vom spezifischen Medium der Kunst, der Wahrnehmung oder genauer: von der wiedergewonnenen Distanz der Kommunikation zur Wahrnehmung. Es besteht aber weiterhin die Frage: Worauf kann man hier zurückkommen und was ist es eigentlich, was in der Kunst wiederholbar und als Kommunikation zu beobachten ist? Inwiefern modifiziert es die Theorien des Lesens, wenn wir den Begriff des Textes »zur Annahme von interpretationsbedürftigen Objekten irgendwelcher Art [erweitern]«,114 wodurch »aus »Lesen« »Beobachten« [wird]«?115 Wie zum Beispiel auch eine der wenigen Textstellen zeigen kann, in denen die Frage der Fixierung als Bedingung der Wiederholung explizit 114 | Luhmann: Beobachtung, S. 160. 115 | Ebd.

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thematisiert wird, beantwortet Luhmann diese Fragen in der Regel durch die Beobachtung der Beobachtung, also die Theorie der Beobachtung zweiter Ordnung: Ohne Formfixierung im Werk, ohne Bereitstellung für erneute Aktualisierung durch andere Beobachter käme diese Art Kommunikation nicht zustande. Sie muß, ähnlich wie Sprache durch Schrift, abspeicherbar sein. Das darf nicht so verstanden werden, als ob identische Reproduktion (Konsens und all das!) beabsichtigt sei. Allein schon die Tatsache, daß die Sequenzen der Beobachtungsoperationen während des Herstellungsprozesses und bei der Betrachtung des fertigen Werkes sich zwangsläufig unterscheiden, sorgt dafür, daß es zu keiner inneren Übereinstimmung kommen kann – und doch zu Kommunikation! Was das Kunstwerk garantieren kann, ist das laufende Beobachten von Beobachtungen, also das Beobachten zweiter Ordnung.116

Von der Theorie her ist diese Antwort durchaus konsequent, denn nach ihr sind vor oder hinter den Unterscheidungen weitere Unterscheidungen und nicht Substanzen oder Identitäten zu finden. Jedoch kann die erste und die zweite Ordnung der Beobachtung nur zwischen den mystifizierenden und den paradox erscheinenden Ebenen der Symbole unterscheiden. Dagegen wird die Differenz zwischen den Aspekten, die der Repräsentation widerstehen, und denen, die sich in die Repräsentation fügen, »mystifiziert« oder verdeckt. Denn wie »speichert« denn die Schrift die Sprache? Natürlich geht es auch bei Luhmann »nicht um eine Repräsentation von Einheiten, sondern um eine Neukonstruktion von Differenzen. Nicht die Laute, die Unterschiede der Laute werden schriftlich fixiert.«117 Schrift ist für Luhmann ein symbolisches Medium, das in der Evolution der Kommunikationsmedien die Symbolisierung der Sprache und ihre objektivierende Reflexion zum ersten Mal ermöglicht. »Während die Sprache ganz allgemein ihre Form als Differenz von Laut und Sinn findet, ermöglicht die Schrift eine Symbolisierung genau dieser Differenz in einem anderen Wahrnehmungsmedium, im Medium der Optik. […] Schriftzeichen bringen die Einheit einer Unterscheidung zum Ausdruck, und zwar so, daß mit der Einheit weiter operiert werden kann, also andere Unterscheidungen getroffen werden können.«118 Gehen wir bei der Interpretation des Verhältnisses von gesprochener Sprache und Schrift nicht von dem Verständnis des Symbols aus, nach dem es eine differentielle Einheit repräsentiert, sondern von dem Medienbegriff, den die Definition der Form und die Beschreibung des Mediums der Kunst voraussetzten, also dem Medium als Ornament oder doppelter blinder Fleck, kommen wir zu einer Beschreibung, die von der zitierten wesentlich verschieden ist. Demnach müssen nämlich auch die Operationen der gesprochenen Sprache über die Unterscheidung von Laut und Sinn hinaus eine 116 | Luhmann: Wahrnehmung und Kommunikation, S. 89. 117 | Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 255. 118 | Ebd., S. 255-256.

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unüberschreitbare Grenze oder Differenz voraussetzen, die sie wiederholen bzw. erst in dieser Wiederholung »setzen«. Die zitierte Textstelle trennt die Operationen der Schrift und der Sprache aufgrund der vorher beschriebenen Unterscheidung von Bewusstsein und Kommunikation: Weder die Wahrnehmung noch die gesprochene Sprache kann die Differenz, die ihnen vorausgeht, bezeichnen oder symbolisieren, zu dem sie erst durch die Sprache fähig werden (»[e]rst Sprache zwingt das Bewusstsein dazu, Bezeichnendes und Bezeichnetes und in diesem Sinne: Selbstreferenz und Fremdreferenz kontinuierlich auseinanderhalten und trotzdem gemeinsam zu prozessieren«119). Die Unterscheidung von Wahrnehmung und Kommunikation wiederholt sich innerhalb der Kommunikation im Verhältnis von schriftlicher und gesprochener Sprache. Aber wenn der Beobachter aus den Verhältnissen der Form, die ihn konstituieren, nie hinaustreten kann (denn auch er entsteht durch die Form, auch wenn er mit ihr nicht identisch ist), können die Wahrnehmungsmedien miteinander nicht verglichen werden: Die Symbolisierung derselben Differenz führt in einem anderen Medium zu anderen Differenzen, ist nicht mehr dieselbe Differenz. Die Möglichkeit des Vergleichs könnten auch manche Behauptungen in Die Form der Schrift in Zweifel ziehen, zum Beispiel die, dass »die Form der Schrift im Bereich der Kommunikation die Unterscheidung von mündlicher und schriftlicher Kommunikation [ist].«120 Denn die Möglichkeit des Vergleich beruht auf den – an selbstreflexiven Semantiken erst im Nachhinein erkennbar werdenden – Konsequenzen der Verbreitung des Buchdrucks, d.h. auf einem geschichtlichen Ereignis, das den Weg zu seinem eigenen Ursprung und seiner Vorgeschichte unwiderruflich verschließt: Denn wenn Kommunikation die autopoietische Operation ist, die die Gesellschaft aus ihren eigenen Produkten reproduziert, ist das Konzept der Kommunikation selbst eines dieser produktiven Produkte. Der Beginn der Schrift und vor allem der Beginn des Druckes mag das System der Kommunikation in einer Weise verändert haben, die ein neues Verständnis von Kommunikation erfordert, und ein neues Verständnis verlangt eine Neuformulierung von Konzepten. Die Frage ist daher: Wie kann das gesellschaftliche System sich selbst beschreiben, indem es seine autopoietische Operation als Kommunikation beschreibt, wenn dies schriftliche Kommunikation einschließt?121

Schrift verändert zweifellos die Erfahrung der Sprache: »Mit der Einführung von Schrift wird die Zeichenhaftigkeit, die Worthaftigkeit, der Abstand der Worte, ihre Kombinatorik (Grammatik), kurz: die Distanz zur Welt zum Problem, das in der Kommunikation reflektiert wird«.122 Sind das geschichtliche Ereignis der Einführung der Schrift sowie der Verbreitung des Buchdrucks Ereignisse im 119 | Luhmann: Wahrnehmung und Kommunikation, S. 19. 120 | Luhmann: Die Form der Schrift, S. 352. 121 | Ebd., S. 362-363. 122 | Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 256.

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oben genannten Sinne, Zäsuren oder Grenzen und nicht bereits Symbole, kann im Gegensatz zur Erzählung der geschichtlichen Evolution von Kommunikationsmedien gerade das, worin diese Veränderung besteht, nicht erfasst und beschrieben werden. Dieses Veränderung bringende Ereignis, die Form der Schrift, schließt die Mündlichkeit als Differenz nicht nur aus, sie schließt sie als ihren Gegensatz auch ein; und von da an wird die gesprochene Sprache vom Ornament der Schrift eingerahmt. »Offenbar wurde in älteren Gesellschaften das Verhältnis von Oberfläche und Tiefe anders erfahren als heute. Man kann dies an den weit verbreiteten Techniken der Divination erkennen. Auch hier geht es um Zeichen an der sichtbaren Oberfläche, die aber Tiefe verraten. Auch Ornamente werden so verstanden worden sein.«123 Die Form der Schrift wird zum selbstreflexiven Symbol, das durch diese Symbolisierung (erste Mystifikation) den doppelten blinden Fleck und damit seine konstitutiven Bedingungen hinter sich zu lassen scheint. Genau demselben Prozess entspricht – jedoch in einem anderen Kontext – der Widerstand und der daraus resultierende Kompensationsprozess, die zur Ausdifferenzierung von Systemen – wie etwa des Bewusstseins und der Kommunikation – führen: Die wahrgenommene Welt ist mithin nichts anderes als die Gesamtheit der »Eigenwerte« neurophysiologischer Operationen. Aber die dies bezeugende Information gelangt nicht aus dem Gehirn ins Bewußtsein. Sie wird systematisch und spurlos ausgefiltert. Das Gehirn unterdrückt, wenn man so sagen darf, seine Eigenleistung, um die Welt als Welt erscheinen zu lassen. Und nur so ist es möglich, die Differenz zwischen der Welt und dem beobachtenden Bewußtsein in der Welt einzurichten.124

Und wie man etwas später lesen kann: »So wie das Bewußtseinssystem die operative Geschlossenheit des Nervensystems kompensiert, so das Sozialsystem Gesellschaft die operative Geschlossenheit der Bewußtseinssysteme.«125 Die Symbolisierung der Form der Schrift macht nicht nur die Unterscheidung von Laut und Schriftzeichen sowie von optischen und akustischen Wahrnehmungsmedien möglich, sondern auch eine Erkenntnis, eine Einsicht in das »Wesen« der Differenz, die sich durch die paradoxe Einheit der Unterscheidung von sichtbaren und hörbaren Aspekten der Sprache ankündigt (so »wäre eine Theorie des Zeichens […] nicht am Ende, sondern am Anfang«126). Die Schrift ermöglicht etwa die Erkenntnis – wir zitieren erneut die Luhmannsche Definition des Symbols – daß die Innenseite der Form, nämlich der jeweils aktualisierte Sinn, nur Sinn macht im Hinblick auf die Möglichkeit, andere Möglichkeiten zu aktualisieren, und daß dies dynami123 | Luhmann: Evolution, S. 349. 124 | Luhmann: Wahrnehmung und Kommunikation, S. 15. 125 | Ebd., S. 22. 126 | Luhmann: Zeichen als Form, S. 46.

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Hajnalka Halász sche, aus Operationen (Ereignisse) bestehende Systeme voraussetzt. Sinn ist mithin Form als Grenze, die immer mitbeobachtet wird, aber nie operativ überschritten werden kann, da jede Operation auf der Innenseite der Form bleibt, nämlich Sinn aktualisiert. […] Das, worauf der Zeiger verweist, ist unerreichbar; kann nicht in die sequentiellen Ketten von Operationen als eins ihrer Glieder eingefügt werden; wird zum Beispiel als »Sinn« nie zum »Wort«. In der Sprache kann eben auf einen Satz nur ein Satz folgen und nie das, was die Sätze meinen, bedeuten, bezeichnen. In dem Maße, als die Sprache dies reflektiert und auch reflektiert, daß sie trotzdem (und gerade deswegen) funktioniert, wird sie als symbolisches Medium gehandhabt.127

Die Bedingung dieser Reflexion sowie des Erkennens und Vergleichens von symbolischen Medien und mithin der systemtheoretischen Beschreibung ist eine Mystifizierung, der »gewöhnliche Sinn« der Schrift. Was sich »vor« oder »unter« diesen Medien befindet und deren Wiedererkennbarkeit gefährdet und zugleich garantiert, wird von Luhmann auf vielsagende Weise nicht im Widerstand gegen die Grenzen der Form oder in ihrem – in einigen Hinsichten der de Manschen Inskriptionalität der Schrift ähnlichen – blinden Fleck, sondern in einer Art von Wörtlichkeit der systemtheoretischen Terminologie identifiziert. So können die »ausgezeichneten Formen«,128 »die auf Grund einer basalen Eigenschaft der Selbstimplikation zueinander passen und sich wechselseitig interpretieren«,129 sich selbst und ihre inneren Zusammenhänge wörtlich beschreiben. Sie sind Formen, in deren Vergleich andere Begriffe entweder abgeleitet (»Wenn ich über die Form der Schrift spreche, muß ich solch eine [Spencer-Brownsche – H.H.] erste Spaltung und d.h. viele erste Spaltungen voraussetzen«130) oder metaphorisch sind: [I]n diesem Essay [wird] der Ausdruck »Schrift« in seinem gewöhnlichen Sinn verwendet. Jacques Derridas verallgemeinerter und radikalisierter metaphorischer Gebrauch ist als wichtig anerkannt – als so wichtig, daß er eine eigene Terminologie verdient. Wenn wir zu der Frage kämen, wie alles beginnt, […] würde ich es vorziehen, Ausdrücke wie Unterscheidung, Anzeichen (darin Spencer Brown folgend) oder Beobachtung und Beschreibung zu verwenden.131

An der Terminologie der Systemtheorie lässt sich zwar zeigen, dass diese Wörtlichkeit nicht auf Identität, sondern auf Tautologie beruht, wobei die Differenz von und zwischen den Begriffen nicht repräsentiert, sondern vielmehr immer wieder verschoben, umgesetzt und neukonstruiert wird. Dies ändert aber nichts 127 | Ebd., S. 63, S. 68. 128 | Ebd., S. 64. 129 | Ebd., S. 65. 130 | Luhmann: Die Form der Schrift, S. 350. 131 | Ebd.

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daran, dass die Aufgabe des Beobachters zweiter Ordnung im Gegensatz dazu darin besteht, die differentiellen Grenzen, d.h. die Medien der Systeme hervorzuheben, nachzuzeichnen und zu repräsentieren. Dies kann unter anderem darauf hinweisen, dass die Analogie zwischen der Theorie der Beobachtung zweiter Ordnung und der Dekonstruktion, die selbst Luhmann – mal nur in einzelnen Bemerkungen, mal auch explizit132 – mehrmals verkündigte, allem Anschein zum Trotz133 schon beim Verständnis der Differenz und der Paradoxie der gemeinsamen Basis entbehrt. Dies kommt besonders dort zum Vorschein, wo Luhmann die dekonstruktive Geste, wobei seiner Meinung nach »die Auflösung damit beschäftigt ist, sich durch ständige Selbstauflösung selbst zu bestätigen«,134 durch die Aufgabe der produktiven Entfaltung von Paradoxien ersetzt: Die [systemtheoretische – H.H.] Analyse endet nicht mit dem Ergebnis, alles sei beliebig, alles sei sinnlos. Sie zeigt vielmehr, daß und wie die Differenz von Paradox und Entfaltung, also die Invisibilisierung des Paradoxes durch hinreichend plausible Identitäten und Unterscheidungen dazu dient, das Kunstsystem dem »Gang der Geschichte« oder, soziologisch gesehen, den jeweiligen Resultaten der gesellschaftlichen Evolution bei Bewahrung seiner autopoietischen Autonomie einzupassen.135

Jedoch lassen sich der Widerstand der Paradoxie gegen die Repräsentation bzw. der Medienbegriff, der sich im Kunstsystem meldete, in keine symbolischen Medien übersetzen. Was sich im einen Medienbegriff entzieht, lässt sich nicht an derselben Grenze der Form hervorheben. Zwischen Differenz und Unterscheidung (im Gegensatz zur Entfaltung der Paradoxie) gibt es somit keinen Übergang, kann keine symbolische Verweisung entstehen – und dies kann nicht einmal die vorausgesetzte Gleichzeitigkeit der beiden Unterscheidungen gewährleisten: Die Form befindet sich (dies legt bereits die Luhmannsche Definition der Form nahe) schon immer woanders, als wo sie erscheint; sie wiederholt ihren Ursprung – wie die Schrift den Laut – schon immer in einem anderen symbolischen Medium. Die Einheit der Differenz und die Paradoxien erscheinen nicht dort, wo sich das Ornament entzieht; und das Ornament als Schrift wirkt nicht dort, wo es als Paradoxie erscheint. Setzen die symbolisch generalisierten Medien Luhmanns eine Konti132 | Vgl. Luhmann: Die Dekonstruktion. 133 | »Zutreffend scheint zunächst Luhmanns Ausgangspunkt, dass Dekonstruktion wie Systemtheorie beide sinnhafte Ordnungen als wesentlich paradoxal oder aporetisch bestimmen. Sie teilen dabei auch ein grundlegend ähnliches Verständnis von Paradoxie: »Paradoxie« bezeichnet für die Systemtheorie wie für die Dekonstruktion nicht einfach einen Widerspruch, sondern eine Konstellation, in der die Bedingung der Möglichkeit einer Leistung zugleich die Bedingung ihrer Unmöglichkeit darstellt.« Khurana: Verbindungen, Bezüge, Differenzen, S. 302. 134 | Luhmann: Beobachtung, S. 160. 135 | Luhmann: Selbstbeschreibung, S. 488.

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nuität sowie Identität zwischen ihrer Wirkung und ihrem Erscheinen voraus, lassen die Formkombinationen des Ornaments, in denen »der Zusammenhang der Unterscheidungen, die einander wechselseitig artikulieren, nicht generalisierbar [ist]«,136 die Möglichkeit des Sich-Entziehens der Form und somit eine Entfaltung der geschichtlichen Wirkungskraft der Schrift offen. Zum Begriff der »ornamentalen« Form könnte man schon auch Derrida, Die Wahrheit in der Malerei zitieren, wo er den Zusammenhang von Schrift und Parergonalität von der äußersten, marginalen und zugleich innersten, schriftlichen Grenze philosophischer Texte liest: »Der parergonale Rahmen hebt sich seinerseits vor zwei Hintergründen ab, aber in Bezug auf jeden dieser beiden Hintergründe. […] Es gibt immer eine Form vor einem Hintergrund, aber das Parergon ist eine Form, deren traditionelle Bestimmung es ist, sich nicht abzuheben, sondern zu verschwinden, zu versinken, zu verblassen, in dem Augenblick zu zerfließen, wo es seine größte Energie entfaltet.«137 Das latente Identifizieren von Wirkung und Erscheinen sowie Performativität und Phänomenalität der Form bei Luhmann kann durch eine beinahe prosaische Tatsache erklärt werden, deren Konsequenzen aber umso weitreichender sein können. Wie in seinem Beitrag zu den Bezügen der Theorien von Luhmann und Derrida auch Khurana bemerkt: »Während Luhmann […] die Paradoxalität sinnhafter Ordnung letztlich aus der Paradoxalität ihrer basalen Operation (der paradoxen und in sich wieder vorkommenden Einheit von Unterscheidung und Bezeichnung) ableitet […], macht die Dekonstruktion ihre Diagnosen von Aporien in je spezifischen Lektüren bestimmter Zusammenhänge fest.«138 Liegen der 136 | Luhmann: Wahrnehmung und Kommunikation, S. 75. 137 | Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 82. 138 | Khurana: Verbindungen, Bezüge, Differenzen, S. 302. Khurana sieht die Differenz zwischen den beiden Theorien jedoch nicht in der Spannung zwischen dem repräsentierbaren und dem unrepräsentierbaren Charakter von Paradoxien, sondern im inkonsequenten Konzept der Entfaltung bei Luhmann, statt dessen er ein anderes – der Dekonstruktion entsprechendes – Verständnis von Entfaltung vorschlägt: »Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Luhmanns Konzeption der Entfaltung von Paradoxien nicht auf eine endlose Kette immer bloß illusionärer Auflösungen oder Verdeckungen und mithin eine »schlechte Unendlichkeit« hinausläuft. Gerade wenn man daran festhalten will, dass sinnhafte Ordnungen irreduzibel und konstitutiv paradoxal sind, drängt sich die Frage auf, ob in Anbetracht dieser Einsicht nicht die durch die Paradoxien provozierten Unterscheidungen einen neuen Charakter annehmen müssen und ob es nicht »Identitäten« anderer Art braucht, um Paradoxien tatsächlich zu entfalten, statt bloß notdürfig zu kaschieren. Wenn man die Dekonstruktion nicht als bloße Feier des Paradoxes auffasst, sondern als Versuch, einen anderen Umgang mit den konstitutiven Aporien des Sinns zu gewinnen, könnte die Dekonstruktion Anregungen geben, wie diese Unterscheidungen anderer Art (Unterscheidungen, die reflexiv auf das in ihnen entfaltete Paradox bezogen bleiben) zu verstehen sind.« Ebd., S. 302-303.

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Systemtheorie symbolisch-selbstreflexive Begriffe sowie die Phänomenalität der Schrift zugrunde (dadurch invisibilisiert sie auch die Probleme der Sprachlichkeit und der Textualität), geht die Dekonstruktion von konkreten Lektüren aus, weil ihr die konstitutive Unlesbarkeit, d.h. der unrepräsentiebare Charakter jeder Kommunikation und jedes Textes zugrunde liegt. All dies kann jedoch nicht nur für die Systemtheorie selbst, sondern vielmehr für deren literaturwissenschaftliche Rezeption aufschlussreich sein. Die Inkompatibilität der Medienbegriffe können zum einen zu der Einsicht führen, dass Texte, deren symbolisches Medium ohne jeden Widerstand identifizierbar ist, eine Verallgemeinerung des Begriffs des Mediums und somit das Vergessen von Differenzen nach sich ziehen, die gerade die Theorien der Sprache und der Literatur genauer artikulieren können. Zum anderen könnte man auch zu dem plausiblen Schluss kommen, dass für das Erforschen von unkalkulierbaren Wirkungsmechanismen der immateriell-materiellen Medien Formen, (wie etwa literarische) Texte am informativsten sein können, die der generalisierenden Leistung der Beobachtung am stärksten widerstehen.

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Hajnalka Halász

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Gewalt, Politik, Öffentlichkeit

Affekt, Körper, Performanz Der rednerische Vortrag bei Cicero Attila Simon What’s Hecuba to him or he to Hecuba That he should weep for her? (William Shakespeare) Man theilt sich nie Gedanken mit: man theilt sich Bewegungen mit, mimische Zeichen, welche von uns auf Gedanken hin zurückgelesen werden. (Friedrich Nietzsche)

Cicero beschäftigt sich mit der Frage der actio am ausführlichsten am Ende seines Buches Über den Redner (De oratore III, 213−227).1 Mit actio (›Handlung‹, ›Durchführung‹, ›Klageerhebung/Prozessführung‹, ›[schauspielerischer] Vortrag‹ usw.) bezeichnet er den begrifflichen Inhalt, der in der lateinischen Rhetorik auch mit pronuntiatio (›Ankündigung‹), in den griechischen Rhetorikbüchern mit dem Wort ὑπόκρισις (›[schauspielerischer] Vortrag‹) ausgedrückt wurde.2 Actio kann in diesem Zusammenhang als Vortrag übersetzt werden. Sie verkörpert die fünfte Aufgabe 1 | Die Arbeit an diesem Beitrag wurde vom DAAD finanziell gefördert. Mein herzlicher Dank gilt Professor Thorsten Fögen für seine Bemerkungen zu einer früheren Version dieses Aufsatzes. 2 | Zum Wort actio siehe OLD s. v. actio; TLL s. v. actio, besonders II. 1−3, III. 4; zusammenfassend Fantham: Orator, 362−363. Zum historischen Überblick über den rednerischen Vortrag Steinbrink: Actio A; B, I; Wisse/Winterbottom/Fantham: Commentary, S. 344−348. (Den Kommentar zu dem Teil über die actio hat Elaine Fantham geschrieben, im Folgenden wird auf ihren Text in der Form »Fantham: Commentary, Seitenzahl« verwiesen, auf die Ergänzungen zu Fanthams Kommentaren von Jacob Wisse weise ich in der Form »Wisse: Commentary, Seitenzahl« hin.) Die wichtigsten Fragen des Vortrags erörtert in philosophischem Kontext, auch die griechischen Vorläufer aufzählend Wöhrle: Actio. Zu den

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Attila Simon

des Redners (officium oratoris): Das In-Aktion-Setzen, das Vortragen, das Performieren der auf die gefundenen Argumente gegründeten (inventio), logisch gegliederten (dispositio), stilistisch ausgestalteten (elocutio), dann eingeprägten (memoria) Rede. »Die Theorie der Actio beruht auf der Erkenntnis, daß ›jede Regung des Gemüts‹ [Cic. De or. III, 216] sich in der äußeren Erscheinungsweise des Redners – in Stimme, Mimik und Gestik – niederschlagen muß, damit er so durch eine seiner Sache angemessene Vortragsweise für sein Publikum glaubwürdig wird und dabei jene Affekte hervorruft, die er selbst äußerlich zeigt.«3 Diese Formulierung über das Wesen der actio öffnet zumal den Horizont der diesbezüglichen theoretischen Fragen. Eine wichtige Frage des rednerischen Vortrags kann aus theoretischer Sicht sein, was für eine Beziehung zwischen den Regungen der Seele und der Stimme und Erscheinung des Redners besteht, also zwischen diesen »Regungen« und ihrem »Ausdruck«, allgemeiner gesagt: zwischen Affekt und Körper. Was genau bedeutet die Metapher ›niederschlagen‹ in der zitierten Definition? Einen der wichtigsten Abschnitte dieses Fragenkreises stellt der bei Cicero (und öfter auch bei anderen Autoren) auftauchende Vergleich von Redner und Schauspieler dar, der Unterschiede und Parallelen zugleich enthält. Dieser Vergleich, der in De oratore als Einführung zur detaillierten Erörterung des rednerischen Vortrags dient, hebt die Bedeutung des zu untersuchenden Gegenstandes hervor und bestimmt zugleich die Richtung der Untersuchung. Nach dem Vergleich von Redner und Schauspieler legt Cicero (vielmehr Crassus, eine der Hauptpersonen des Dialogs) unter dem im Vergleich bestimmten Gesichtspunkt die konkreten Themen des Vortrags dar, nämlich den zweckmäßigen, d.h. wirkungsvollen Gebrauch des Körpers – der Stimme, des Mienenspiels und der Gestik – des Redners. Im Folgenden untersuche ich die Erörterung der actio in De oratore zuerst aus dem Blickwinkel, was für eine prinzipielle Ähnlichkeit und Differenz zwischen der rednerischen und der schauspielerischen Leistung aufgrund von Ciceros Text festgestellt werden kann, welche Möglichkeiten zur Interpretation der Gegenüberstellung actores veritatis − imitatores veritatis sich also bieten. Im zweiten Teil meines Aufsatzes fasse ich das Verhältnis von Affekten, Stimme und Körpersprache (animi motiones – vox – sermo corporis) ins Auge, das in den Ausführungen über den rednerischen Vortrag beschrieben wird. Diese Untersuchungen werden von einer allgemeineren Frage zusammengehalten, nämlich von der Frage des Verhältnisses zwischen Affekt und Körper in der rednerischen Performanz, einer Frage, deren Hintergrund die Frage des Verhältnisses zwischen Natur und Kunst (physis und technē, natura und ars) bildet, das nicht nur aus der Sicht des Vortrags, sondern auch aus der der gesamten rednerischen Kunst grundlegend ist, und das gleichzeitig von der besonderen performativen Leistung des rednerischen Vortrags als Ereignis untrennbar ist. affekttheoretischen Zusammenhängen, die für meinen Aufsatz die wichtigsten sind, siehe vor allem: Sonkowsky: An Aspect; Hall: Oratorical Delivery. 3 | Steinbrink: Actio, S. 43.

Affekt, Körper, Per formanz

I. D er R edner und der S chauspieler Wie gesagt, die actio wird von Lucius Licinius Crassus, einer der Hauptfiguren des Dialogs, detailliert erörtert. Das ist kein Zufall, weil der historische Crassus Cicero zufolge als Redner eben auf dem Gebiet der elocutio und der actio der hervorragendste war (Cicero Brutus 143−163, vor allem 158−159). Als Einführung zu seiner Erörterung hebt Crassus in § 213 die hervorragende, sogar fast ausschließliche Wichtigkeit des Vortrags hervor (actio […] in dicendo una dominatur). Nach der Demosthenes zugeschriebenen Weisheit, dass in der Rede der Vortrag an erster, zweiter und dritter Stelle stehe, führt er den Fall des Aischines an, der, nachdem er mit angenehmster und eindruckvollster Stimme die Rede von Demosthenes für Ktesiphon vorgelesen und damit großen Erfolg errungen hatte, dem hingerissenen Publikum sagte: »quanto« inquit »magis miraremini, si audissetis ipsum!« (»Um wieviel mehr würdet ihr euch wundern, wenn ihr ihn [d.h. Demosthenes] selbst gehört hättet!«4) Da fügt Crassus dem Wort von Aischines hinzu: ex quo satis significavit, quantum esset in actione, qui orationem eandem aliam fore putarit actore mutato. (»Damit gab er zur Genüge zu erkennen, welche große Bedeutung im Vortrag steckt, da er der Meinung war, die nämliche Rede werde eine andere sein, wenn man den Vortragenden auswechselte.«) Im folgenden Abschnitt benennt Crassus am Beispiel von C. Gracchus die wichtigen Bestandteile der wirksamen actio: Augen, Stimme, Gestik (oculi, vox, gestus). Bevor er diese jedoch ausführlich behandelt, führt Crassus die wichtigste theoretische Behauptung seiner Einleitung ein, welche das Thema des ersten Teiles meines Aufsatzes bildet: Haec ideo dico pluribus, quod genus hoc totum oratores, qui sunt veritatis ipsius actores, reliquerunt; imitatores autem veritatis, histriones, occupaverunt. Ac sine dubio in omni re vincit imitationem veritas, sed ea si satis in actione efficeret ipsa per sese, arte profecto non egeremus; verum quia animi permotio, quae maxime aut declaranda aut imitanda est actione, perturbata saepe ita est, ut obscuretur ac paene obruatur, discutienda sunt ea, quae obscurant, et ea, quae sunt eminentia et prompta, sumenda. Darüber spreche ich deshalb ausführlicher, weil die Redner, die Vortragende der Wirklichkeit selbst sind, dieses ganze Gebiet aufgegeben haben, während die Nachahmer der Wirklichkeit, die Schauspieler, es mit Beschlag belegt haben. Und ohne Zweifel obsiegt bei jedem Gegenstand die Wirklichkeit über die Nachahmung; doch wenn sie beim Vortrag von sich aus selbst genügend bewirkte, bräuchten wir in der Tat keine Kunst. Doch weil die Gemütserregung, die man vor allem beim Vortrag entweder zu erkennen geben oder nachahmen muss, oft so verworren ist, dass sie verdunkelt und beinahe verschüttet wird, 4 | Die Übersetzung der Zitate aus De oratore nehme ich von Theodor Nüßlein, fallweise mit Veränderungen, die ich im folgenden nicht anmerke (Cicero: De oratore). Die anderen Übersetzungen, wenn nicht anders angemerkt, stammen vom Verfasser.

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Attila Simon muss man das, was verdunkelt, verscheuchen und stattdessen das nehmen, was deutlich hervorsticht und sichtbar ist. 5

Ich lege diesen Abschnitt in drei Schritten aus. 1. Was den ersten Satz des Passus betrifft, lenke ich die Aufmerksamkeit vor allem auf die Gegenüberstellung von Redner (orator) und Schauspieler (histrio), dann auf die spätere Abschaffung oder mindestens das Unsicherwerden dieser Gegenüberstellung. In dem Ausdruck actores veritatis, den man als Deskription der oratores verstehen kann, kann das Wort actor zuallererst den Redner als Vortragenden bedeuten, den Vortragenden der Wirklichkeit, und das Wort ›Wirklichkeit‹ (veritas) weist, wie der dritte Satz des Zitates zeigt, hier in erster Linie auf die Wahrheit, die Wirklichkeit (veritas kann beides bedeuten), den wirklichen Zustand der Seele oder des Gemüts hin, d.h. auf den Affekt, das pathos des Redners (animi permotio). Der Redner trägt die Wahrheit, d.h. seinen wirklichen mentalen (affektiven) Zustand vor, der seine Rede begleitet.6 Dagegen sind die Schauspieler bloß imitatores veritatis. Der Redner trägt die Wahrheit oder die Wirklichkeit vor, der Schauspieler aber mimt sie oder ahmt sie nach. Dieser scheinbar klare und eindeutige Unterschied wird in der zweiten Hälfte der Passage verdunkelt und verworren – vielleicht nicht unabhängig davon, dass sein Bezugspunkt eben die sich »oft« ähnlich verhaltende animi permotio ist –, und zwar so, dass er beinahe verschüttet und damit fast unsichtbar wird. Da nämlich liest man über die Regung des Gemüts oder der Seele (animi permotio), dass man diese während des Vortrags hauptsächlich entweder klar ausdrücken (declaranda) oder nachahmen, heucheln (imitanda) muss. Die Gemütserregungen, die Affekte, muss man entweder »zu erkennen geben«, aufzeigen, also beleuchten, zum Vorschein bringen, so wie diese in der Seele tatsächlich stattfinden (die Wahrheit oder Wirklichkeit der Seele ausdrücken), oder man muss sie imitieren, nachahmen, wo diese imitatio eindeutig auf die Heuchelei, die Simulation hinweist, auf das Aufzeigen von etwas Nicht-Seiendem als Seiendes.7 Man muss so tun, als ob sich diese seelischen Regungen in einem selbst abspielten. Auch der Redner, der veritatis ipsius actor, kann die Kunstgriffe des Schauspielers, des imitator veritatis, nötig haben. 5 | De oratore III, 214−215. 6 | Die Verbindung des Vortrags und der Affekte (hypokrisis und pathē) ist in der rhetorischen Tradition seit Aristoteles beinahe selbstverständlich; siehe (im Zusammenhang von Gebrauch der Stimme [phōnē]) Rhetorik 1403b26-30. 7 | Ähnlich sieht Quintilian die Weise der affektiven Wirkung entweder im Ausdruck oder in der Nachahmung der Affekte: Movendi autem ratio aut in repraesentandis est aut imitandis adfectibus. (Institutio oratoria XI, 3, 156.) Das repraesentare, die repraesentatio deutet an dieser Stelle darauf hin, dass man irgendwelche, aber in sich selbst tatsächlich erweckte Affekte für andere sichtbar macht, während das imitare, die imitatio, die mit der repraesentatio in disjunktivem Verhältnis steht, in diesem Falle offensichtlich darauf verweist, dass man sich nur so stellt, als ob man sich in jenem affektiven Zustand befände.

Affekt, Körper, Per formanz

2. Mit dem Ausdruck »Kunstgriff« habe ich meine folgenden Bemerkungen schon vorweggenommen. Laut Crassus’ zweitem Satz besiegt die veritas überall (in omni re) die imitatio. Diese Feststellung richtet Crassus – so zwei neuere Kommentare zu diesem Abschnitt von De oratore – ironisch gegen die zuvor (II, 185196) ausgeführte Ansicht seines Gesprächspartners Antonius, dass der Redner die Affekte, die er in den Zuhörern wecken will, selbst verspüren müsse.8 Wenn man also die Modalität der Äußerung mitberücksichtigt, wird die Fortsetzung von Crassus’ Satz noch leichter verständlich, dass diese Wahrheit zugleich im Zuge der actio nicht »von sich aus selbst«, zur Geltung kommt, sondern die ars der Wahrheit zu Hilfe kommen müsse: »wenn sie beim Vortrag von sich aus selbst genügend bewirkte, bräuchten wir in der Tat keine Kunst (arte […] non egeremus).« Die ars jedoch beschmutzt das Natürliche, Ursprüngliche der Wahrheit in dem psychologischen Zusammenhang dieses Abschnitts unvermeidlich mit dem Künstlichen, Künstlerischen, und dadurch mit der Möglichkeit der Nichtwahrheit, ja sogar der Lüge. Das trifft auch dann noch zu, wenn Cicero Natur und Kunst, natura und ars (physis und technē) nicht als Gegensätze ansieht, wenn er sogar die Ansicht vertritt, dass die Kunst aus der Natur hervorgeht (Ars […] a natura profecta sit), und das künstlerische Wissen des Redners wäre nichts ohne die bewegende und erfreuende Kraft der Natur (nisi natura moveat ac delectet). (III, 197) Cicero setzt Natur und Technik in eine Kontinuität oder Analogie und erweist sich dadurch als Nachfolger des Aristoteles9 und der Stoiker10, wodurch 8 | Wisse: Commentary, S. 353; Mankin: Cicero, De oratore, S. 308. (Im Weiteren: Mankin: Commentary.) 9 | Siehe die klassische Stelle: Physik II, 8, 199a12−17: »Wenn zum Beispiel ein Haus Produkt der Natur wäre, käme es zustande, wie jetzt durch Kunst. Und wenn die Produkte der Natur nicht nur durch die Natur zustandekämen, sondern auch durch die Kunst, dann kämen sie auf dieselbe Weise zustande wie jetzt von ihrer Natur aus, also jede einzelne ihrem eigenen Ziel gemäß. Allgemeingültig ist, dass die Kunst einerseits vollendet, was die Natur nicht vollenden kann, andererseits ahmt sie [in dem, was die Natur selbst vollendet] nach (ἡ τέχνη τὰ μὲν ἐπιτελεῖ ἃ ἡ φύσις ἀδυνατεῖ ἀπεργάσασθαι, τὰ δὲ μιμεῖται).« 10 | Da der Gedanke der Kontinuität von Natur und Kunst und der der Nachahmung der Natur durch die Kunst auch in den unter anderem von Cicero vermittelten stoischen Vorstellungen erscheint, siehe De legibus I, 26: »nach der Lehre der Natur (docente natura) haben wir viele Künste erfunden, unser Verstand hat die Natur nachgeahmt (quam imitata ratio) und uns für das Leben unentbehrliche Mittel geschaffen.« In der Fortsetzung dieses Abschnitts bei der Behandlung der Mittel des rednerischen Vortrags geht es auch um das Gesicht und seinen Ausdruck (vultus, species oris), der eine wichtige Rolle spielt, sowie die Fähigkeit zur geregelten Stimmgebung (moderatio vocis, orationis vis): I, 26−27. In De natura deorum fügt sich im zweiten Buch, im Vortrag des Stoikers Balbus, die Einheit von Natur und Kunst als Ergebnis der göttlichen Vorsehung (pronoia) in die zielgerichtete und vernünftige Erschaffung und Betreibung des Weltganzen ein (II, 148−152). Hier lesen wir: Mit unseren Händen »trachten wir in der Natur gleichsam als eine zweite Natur zu wirken (in

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er natürlich auch mit Platon verbunden ist, unter dessen Einfluss diese beiden Traditionen stehen.11 Aber mag die ars in der Natur wurzeln, trägt sie doch hier, wo es darum geht, wie die Wahrheit der Seele zu verdeutlichen, anderen klar und überzeugend zu vermitteln sei, mehr noch, wie sie mit Hilfe der ars vorgetäuscht werden kann, als Kunst die Möglichkeit in sich, die Wahrheit (die animi permotio) nicht nur klarzustellen, sondern sogar zu imitieren. Die ars zeigt sich als eine technische Möglichkeit, das Künstliche, in diesem Fall das Vorgetäuschte, das Nicht-Wahre oder geradezu die Lüge zu erzeugen.12 Anzumerken ist außerdem, dass die Regel über den Vorrang des Vortrags der Affekte (pathē) schon von der Kunst selbst diktiert wird. (Die betreffende Regel sei hier noch einmal zitiert: »die Gemütserregung [animi permotio], die man vor allem beim Vortrag entweder zu erkennen geben oder nachahmen muss [maxime aut declaranda aut imitanda est actione]«.) Entscheidend ist hier das Wort der Kunst, denn der von der Regel vorgegebene Vorrang (»vor allem«, maxime) rerum natura quasi alteram naturam efficere conamur).« (II, 152; vgl. II, 142, wo die natura als opifex vorkommt.) 11 | Vgl. Timaios 28A−31B über die Tätigkeit des göttlichen dēmiurgos, als deren Ergebnis die beseelte und vernünftige Welt entsteht. Diese Überlegung dient allen späteren Auffassungen als Grundlage, die zwischen Natur und Technik (der menschlichen Kunst) eine Kontinuität oder eine (teilweise oder vollständige) Analogie annehmen. 12 | Vgl. Tusculanae disputationes IV, 55, wo Cicero geradezu davon spricht, dass es überhaupt nicht angemessen sei, wenn der Redner während seiner Rede wirklich Wut verspüre, dass das Vortäuschen (simulare) von Wut jedoch sehr angemessen sei. (So kann die Frage der actio auch mit dem rhetorischen Mittelpaar simulatio – dissimulatio in Zusammenhang kommen.) Hier bekommen wir in Form von auf Ablehnung angelegten rhetorischen Fragen einen Beleg dafür, dass es Ciceros Ansicht zufolge nicht Voraussetzung für einen glaubhaften Vortrag ist, dass die Affekte tatsächlich empfunden werden, dass infolgedessen ihre Vortäuschung oder jedenfalls ihre künstliche Hervorrufung nötig ist, und zwar sowohl beim Vortrag als auch beim Verfassen der Rede. Außerdem stellt dies ein weiteres Beispiel für die Parallele zwischen Redner und Schauspieler dar: Aesop war nicht wütend, als er die Rolle des Wütenden spielte, Accius schrieb seine Stücke auch nicht wütend. (num aut egisse umquam iratum Aesopum aut scripsisse existimas iratum Accium?) Zugleich ist im Zusammenhang mit Aesop an anderer Stelle (De divinatione I, 80) zu lesen, dass bei seinem Spiel Gesichtsausdruck und Bewegungen von einem Affekt zeugten, als hätte er den Verstand verloren, und dass (wieder in Form einer rhetorischen, Ablehnung erwartenden Frage) der rednerische Vortrag auch nicht vollkommen sein kann, wenn sich dabei die Seele des Redners nicht bewege (nisi est animus ipse commotior). Offenbar vertrat Cicero in dieser Frage kontextabhängig mindestens teilweise widersprüchliche Standpunkte. Das Verhältnis zwischen ars und natura lässt sich natürlich mittels einer einfachen Gegenüberstellung nicht erschöpfend darstellen: das Instrumentarium der ars als Vortäuschung beruht z.B. auf natürlichen Gegebenheiten: De oratore I, 114-115.

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wird unter dem Aspekt formuliert, welche Wirkung der Redner auf das Publikum ausüben soll. (Auch hier noch einmal ein Zitat, mit Hervorhebung des für meine Argumentation wichtigen Teils: »Doch weil die Gemütserregung [animi permotio] […] oft so verworren ist, dass sie verdunkelt und beinahe verschüttet wird, muss man das, was verdunkelt, verscheuchen und stattdessen das nehmen, was deutlich hervorsticht und sichtbar ist.«) Die Forderung der Wirkung diktiert also diese Regel; sie wird nicht aufgrund des Selbstwertes der Wahrheit formuliert, die im Sinne der zitierten Worte des Crassus gerade nicht fähig ist, sich aus eigener Kraft im Vortrag Geltung zu verschaffen (»doch wenn sie beim Vortrag von sich aus selbst genügend bewirkte, bräuchten wir in der Tat keine Kunst [arte […] non egeremus]«). Der letzte Teil des Schlusssatzes aus dem Zitat (»muss man das […] verscheuchen«) kommt auf die Frage der ars zurück: zur Offenbarung der animi permotiones müssen Mittel, Zeichen der actio (des die actio ausführenden Körpers) in Anspruch genommen werden, die klar und offenbar sind, und andere, die nicht klar und eindeutig sind, müssen verworfen bzw. ausgeschlossen werden. Das Pronomen ea im Neutrum Plural verweist hier inhaltlich auf ›Mittel‹, ›Kunstgriffe‹ (vor allem die Mittel des Vortrags, von denen im Weiteren noch im Einzelnen die Rede sein wird), denn aus den Verbaladjektiven geht hervor, dass es sich um eine bewusste Handlung, um Techniken der ars handelt: discutienda, sumenda.13 Die mit der Unentbehrlichkeit der ars zusammenhängende Schwierigkeit (oder geradezu Unmöglichkeit) der sauberen Unterscheidung zwischen orator und histrio wird auch darin erkennbar, dass Crassus in III, 217-219, als er die reichen gefühlsmalerischen Möglichkeiten der Stimme (vox) aufzählt, ausnahmslos Zitate von römischen Tragödiendichtern anführt. Diese Beispiele lassen an das Theater, an die Kunstgriffe der Schauspielkunst denken,14 selbst wenn natürlich unter den Bedingungen des lauten Lesens sowohl das Vorlesen durch die lectores (ἀναγνώσται) als auch das einsame Lesen auf dem Weg der bedeutungs- und gefühlsmäßig angemessenen Vokalisation geschah.15 Es ist sogar die Schlussfolge13 | Fantham: Commentary, S. 353; Mankin: Commentary, S. 308. 14 | Hall: Oratorical Delivery, S. 223. 15 | Laut Fantham: The Roman, S. 295 müssen Ciceros Beispiele und ihre Interpretation vor allem an das Vorlesen erinnert haben, aber natürlich hatten sie auch selbst »theaterhafte« Wirkung, jedenfalls verglichen mit dem heutigen stummen Lesen vom Papier. Jon Hall verweist auch auf die Widersprüchlichkeit der Methode (sie enthält logische Zirkelschlüsse), weil der geschriebene Text als Beispiel für eine angemessene Vortragsweise seine Rolle nur dann erfüllen kann, wenn man sich schon über die richtige Vortragsweise des Textabschnitts klar ist: Oratorical Delivery, S. 223. (Ähnlich Mankin: Commentary, S. 17.) Dieser »Widerspruch« besteht aber nur für uns und lässt sich in Kenntnis des lauten Lesens auflösen (Aristoteles verwendet in der Rhetorik in ähnlichen Zusammenhängen ebenfalls poetische Texte [1413b21-1414a7]; siehe dazu Sonkowsky: An Aspect, S. 272, zu Münd-

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rung berechtigt, dass das Redenschreiben selbst laut und von Elementen des Vortrags begleitet vor sich ging, dass diese gleichsam zusammen mit den Wörtern gefunden wurden.16 Schließlich zeigt sich diese Ununterscheidbarkeit auch in Ciceros Wortwahl. Wenn er nämlich den orator als actor bezeichnet (»die Redner, die Vortragende der Wirklichkeit selbst sind [oratores, qui sunt veritatis ipsius actores]«), dann ist ihm natürlich klar, dass er für die Umschreibung der ›Redner‹ ein Wort gewählt hat, das im älteren, im zeitgenössischen und – wie die Entwicklung zu engl. actor, franz. acteur und ital. attore zeigt – im späteren Latein neben histrio auch in der Bedeutung ›Schauspieler‹ verwendet wurde.17 Auf diese Weise gelangt übrigens der durch die Wahl des Wortes actor entstehende Bedeutungszusammenhang in die Nähe der Bedeutungsfelder der griechischen Wörter ὑποκρίνομαι, ὑπόκρισις, ὑποκριτής, ὑποκριτική (τέχνη), die – von dem dialoggebundenen Moment des ›Antwortens‹ sich in alle Richtungen verzweigend – auf die interpretatorische Tätigkeit (in der Antwort der Orakel, die die Worte des Gottes interpretiert), auf den Vortrag des Redners und des Schauspielers und weiter auf das Vortäuschen und die Heuchelei verweisen können.18 3. Die Zweideutigkeit des Wortes actor leitet zum dritten Interpretationsschritt über, der nicht mehr die Zwei-, sondern die Mehrdeutigkeit dieses Wortes zur Grundlage hat. Denn es stimmt zwar, dass – wie oben gezeigt – aufgrund des unmittelbaren Textzusammenhanges die Redner, die veritatis ipsius actores, hier die ›Vortragenden‹ der Wahrheit ihrer Seele (animi permotio) sind, aber das Wort actor bedeutet im weiteren Kontext der öffentlichen Rede und so auch der Rhetorik den Redner im Allgemeinen, ob er nun als politischer oder als Gerichtsredner auftrat, im letzteren Fall als eine Person, die eine juristische Handlung (actio) einleitet und durchführt (causam agere).19 Auch diese Bedeutung klingt in dem lichkeit und Schriftlichkeit beim Vortrag: ebd., S. 259-265; Krumbacher: Die Stimmbildung, S. 62f., über das »Lesen durch den Vortrag (hypokrisis)«.) 16 | Dies ist eine der wichtigsten Erkenntnisse aus Sonkowskys Aufsatz. 17 | OLD s. v. actor 5; TLL s. v. actor II. 2; Mankin: Commentary, S. 307. Actor kann außerdem den ›Regisseur‹ oder ›Theaterdirektor‹ bezeichnen (dominus gregis), der allerdings meist die Hauptrolle in den Stücken spielte. (Fantham: Orator, S. 362; Blume: Histrio, S. 646.) Ähnlich wie im Fall des ›Redners als Schauspieler‹ ergeben sich hier interessante Schlussfolgerungen zum ›Redner als Regisseur‹. In Ciceros Reden, besonders in deren perorationes, finden sich zahlreiche Verweise auf eine Theaterhaftigkeit des rednerischen Vortrags (jedenfalls, wenn man sie wörtlich versteht); unmittelbar Betroffene wurden »in Szene gesetzt«, um bei den Zuhörern die gewünschten Seelenregungen hervorzurufen, z.B.: Pro Flacco 106; Pro Fonteio 46, 48; Pro Plancio 102. Hierzu ausführlicher und mit weiteren Stellenangaben Hall: Oratorical Delivery, S. 226f.; Winterbottom: Perorations, S. 220−223. 18 | Siehe LSJ s. v. ὑποκρίνω II. B. 19 | OLD s. v. actor 4; TLL s. v. actor II. 4.

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hier besprochenen Vorkommen des Wortes an. Damit beschränkt sich aber die Bedeutung der veritas nicht mehr auf die (mehr oder weniger ehrlichen) Gefühle des Redners, sie kann auch auf die »Wahrheit« der vertretenen Sache deuten (die möglicherweise nur nach der Überzeugung des Redners – vielleicht nicht einmal nach dieser – »Wahrheit« ist). Der Redner vertritt nun nicht mehr nur eine mentale, sondern eine auch für andere wirkliche, in der Außenwelt wirksam werdende Wahrheit, er ist ein Vertreter, der diese Wahrheit oder Wirklichkeit nicht nur innerlich erlebt, sie gerade nicht passiv betrachtet oder in seinem Verstand erwägt, sondern der sie durchführt, verwirklicht. Insofern ist diese rednerische Wahrheit von aktivem, performativem und – da sie ihre Wirkung auch auf andere entfaltet – transitivem Charakter. Zugleich zeigt sie sich als ereignishaft, sowohl in dem Sinn, dass sie als Performanz, als Inszenierung realisiert wird (da sie actores hat bzw. haben kann), als auch in dem Sinn, dass durch diese Performanz diese »Wahrheit« selbst performativ, wirklichkeitsgestaltend werden kann (die veritas, nachdem sie vom actor acta est, agit auch selbst). Die Wahrheit wird vom Redner vollbracht, verwirklicht, durchgesetzt (beispielsweise vor der Volksversammlung oder vor dem bzw. im Gericht); zugleich ist die Wahrheit, die er mit seiner Handlung vollzieht, nicht mehr nur seine Wahrheit, sondern die Wahrheit selbst (veritas ipsa) – nicht im epistemologischen oder konstativen, sondern im praktischen oder performativen Sinn des Wortes, also in dem Sinn, dass dies Wirklichkeit geworden ist, als Wahrheit (Wirklichkeit) Gültigkeit erlangt hat, z.B. in Form einer Entscheidung oder eines Urteils. Die Gegenüberstellung von Redner und Schauspieler verliert jedoch auch in dieser Interpretation nicht ihre Relevanz. Zuerst sei auf den epistemologischen oder bewusstseinsphilosophischen Unterschied verwiesen, der bereits bei Aristoteles erscheint, wenn der Philosoph im Zusammenhang mit dem Unbeherrschten (dem akrates) erörtert, dass Menschen in einem starken affektiven Zustand etwas sagen können, ohne dass deshalb sicher ist, dass sie auch wissen, was sie sagen: »man [hat und auch nicht hat] in solchen Fällen auf gewisse Weise Wissen […], zum Beispiel beim Schlafenden, Wahnsinnigen oder Betrunkenen […] Dass sie Sätze sagen, die aus Wissen hervorgehen (τὸ δὲ λέγειν τοὺς λόγους τοὺς ἀπὸ τῆς ἐπιστήμης), beweist gar nichts. Denn auch diejenigen, die sich in den Affekten befinden (οἱ ἐν τοῖς πάθεσι τούτοις ὄντες), sagen mathematische Beweise oder Verse des Empedokles auf. Und auch diejenigen, die etwas erst zu lernen beginnen, reihen Sätze aneinander, haben aber noch kein Wissen. […] Man muss also annehmen, dass die Unbeherrschten in der Weise sprechen, wie die [ihre Rolle spielenden] Schauspieler tun (καθάπερ τοὺς ὑποκρινομένους).«20 20 | Nikomachische Ethik VII, 5, 1147a10-24 (Übersetzung: Ursula Wolf). Diese aristotelische Unterscheidung von Sagen (weiter gefasst: Handeln) und Wissen ist zu einem Topos geworden, der in verschiedenen Kontexten und entsprechend mit kleineren oder größeren Änderungen in der späteren europäischen Reflexion über das Theater (über die »Ehrlichkeit« und den »Ernst« des Schauspielers bzw. den Wahrheitsgehalt des von ihm Vorgetragenen)

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Bei Cicero scheint jedoch in diesem Zusammenhang der Unterschied im Hinblick auf die wirklichkeitsgestaltende performative Wirksamkeit der Vorträge von Redner und Schauspieler wichtiger zu sein. In dieser Hinsicht ist nämlich der Redner produktiv, seine in der Realität wirksam werdende Wahrheit tritt der imitierten Wahrheit des Schauspielers gegenüber, die innerhalb der Bühnenwelt bleibt und nicht zum Teil der Wirklichkeit im engeren Sinn wird. (Hier soll darauf hingewiesen werden, dass in der für Schauspieler verwendeten Bezeichnung imitatores veritatis der imitator die Übersetzung für mimētēs und imitatio die für mimēsis sein kann, zum Beispiel für die künstlerische mimēsis, die auf die fiktive Welt der Bühne, aber allgemeiner auch auf die »Nachahmung« der Wirklichkeit verweist – wieder klingt ein aristotelisches Motiv an, natürlich auch hier mit Platon im Hintergrund.21) Die Verwirklichung der rednerischen Wahrheit gewinnt auf diese Weise nicht nur den auf den ersten Blick anziehenden Wert der veritas ipsa, sie kann zugleich eine markantere, dunklere, sogar drohende Schattierung annehmen: die des Risikos der politischen oder Gerichtsrede, wo – besonders in Ciceros oftmals gefährlichen Tagen – der Einsatz der actio sogar über Leben und Tod entscheiden konnte. Wenn nämlich das die Wahrheit ist, wenn das Wahrheit bzw. – im Sinne der anderen, natürlich mit der ersten zusammenhängenden Bedeutung von veritas – Wirklichkeit wird, was die actio des Redners ergibt, dann ist die Kraft des Redners, in die Wirklichkeit einzugreifen, sie mit seinen Worten und seinem Vortrag umzugestalten, seine Zuhörer mit seiner eigenen (Rede- und Vortrags-)Handlung zu Handlungen zu animieren, auf diese Weise die Wirklichkeit zu verändern, letztlich also seine wirklichkeitserzeugende Kraft unvergleich-

an vielen Stellen auftaucht, z.B. auch bei dem im Motto zitierten Shakespeare, danach bei Diderot und bei Austin in der Sprechakt-Theorie; dekonstruiert wurde die Unterscheidung dann von Derrida, der von der ursprünglichen »Iterabilität« der Sprache, von der »Differenz« und der daraus resultierenden Unerforschlichkeit der sich äußernden Intention ausgeht. 21 | Siehe Aristoteles Poetik, vor allem Kapitel 9; Platon Der Staat X. Bei allen Unterschieden zwischen diesen beiden Auffassungen, die sich vor allem in der Bewertung der mimēsis zeigen, sind sie doch darin gleich, dass sich die künstlerische mimēsis von einer anderen Ebene der Erfahrungswelt bzw. einem Erscheinungstyp unterscheidet. Platon führt ontologisch unterschiedliche Ebenen ein, deren dritte und wertloseste die künstlerische mimēsis ist, und Aristoteles macht – nach der Interpretation von Joachim Küpper – keinen ontologischen, sondern einen phänomenologisch-hermeneutischen Unterschied zwischen dem mimetischen und dem nichtmimetischen Typ der Phänomene. Siehe Küpper: Dichtung, S. 33f., S. 40f.

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lich größer als die des Schauspielers, der die Wirklichkeit mit der ästhetischen Fiktion aufhebt, in deren sicherer Welt er dann agiert.22 22 | Eine solche Abwertung des Schauspielers gegenüber dem Redner ist einerseits mit prinzipiellen Gründen erklärbar: in der platonischen Tradition vertritt der Schauspieler nicht die Wahrheit, sondern die Täuschung; zudem verdirbt er durch das überflüssige Aufpeitschen der Gefühle die Seelen der Zuschauer und schadet so den Bewohnern des Staates (Der Staat 604E−608B, eingebettet in eine umfassende Kritik der dichterischen Tätigkeit; im Zusammenhang mit dem Vortrag der Rhapsoden, im Rahmen einer wirkungstheoretischen Erklärung: Ion 535C−536D); in erkenntnistheoretischer Beziehung siehe wieder die von Aristoteles bei Fußnote 19 im Haupttext zitierte Stelle. Natürlich muss man der Abwertung der Schauspielkunst (und mittelbar der performativen Wirksamkeit der ästhetischen Erfahrung) auch theoretisch nicht zustimmen. Platons Ablehnung beweist ex negativo geradezu die bedeutenden praktischen Folgen der Dichtung (inklusive Dramatik) und ihres Vortrags (inklusive Theateraufführungen), insbesondere zeugt sie davon, dass Platon mit solchen Folgen rechnete. (Über die äußerst wirksame politische Rolle von Theateraufführungen und Schauspielern und deren Gefahren kennen wir von Phrynichos [Herodot VI, 21] über Aristophanes und Kleon bis zu Diphilus [Cicero Ad Atticum II, 19, 3; V. Maximus VI, 2, 9] zahlreiche Geschichten.) Und Aristoteles betont in anderem Zusammenhang die Rolle der mimetischen Tätigkeit und der Dichtung für Kenntniserwerb und Weltverständnis (siehe vor allem das 4. und 9. Kapitel der Poetik, und dazu zuletzt Heath: Cognition). Andererseits spielen bei der Herausbildung der negativen Attitüde im Zusammenhang mit den Schauspielern auch Eigenarten der römischen Kulturgeschichte und Werteordnung eine Rolle: die (unseren Quellen zufolge von den Etruskern übernommene) Schauspielkunst wurde allgemein für niedrig, eines römischen Bürgers unwürdig und auch moralisch anstößig gehalten, während freilich nicht wenige »Stars«, beispielsweise Roscius, den Cicero mochte und der auch bei der Behandlung der actio erwähnt wird, sich großer Wertschätzung erfreuten. (Cornelius Nepos De viris illustribus, Praefatio 5; Cicero De re publica IV, 10; De divinatione I, 79; De oratore I, 251; Livius VII, 2; Plutarchos Cicero 5, 4−6; Sulla 36, 1; Gellius Noctes Atticae XX, 4; V. Maximus II, 4, 4; Augustinus De civitate Dei II, 9−11; Macrobius Saturnalia III, 14, 11-13; Warnecke: Histrio, Sp. 2117, 2121−2122, 2125−2127; Blume: Histrio, S. 646). In der Rednerausbildung spielten zugleich – auch wenn die zu bühnenhafte Vortragsweise vom Verfasser der Rhetorica ad Herennium ebenso wie von Cicero und Quintilian abgelehnt wurde – seit Demosthenes auch Schauspieler und die von ihnen in Anspruch genommenen Gesangs- und Sprechlehrer, die phonasci, eine Rolle. (Sueton Divus Augustus 84; bei Quintilian Institutio oratoria XI, 3, 19 und 22 werden – wenn auch mit Einschränkungen – die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Arten der Stimmbildung erwähnt. Krumbacher verweist schon im Zusammenhang mit Perikles auf die Tragödienaufführungen als mögliche Vorbilder für den rednerischen Vortrag, siehe Krumbacher: Die Stimmbildung, S. 13; über dasselbe bei Cicero: S. 47; über die Beziehung zwischen der Stimmbildung bei Schauspielern und Rednern im Allgemeinen: S. 81-84, 92-94; über die phonasci: S. 100101.) Quintilian schließt seine Ausführungen zum rednerischen Vortrag mit dem Hinweis, dass die von den Schauspielern übernommenen Elemente der Vortragsweise zwar ihren

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Als Beleg für diese Interpretationsmöglichkeit sollen hier Antonius’ Worte zitiert werden, gegen die Crassus in der Diskussion die Notwendigkeit der ars, hier also der imitatio behauptet. An einer Stelle des zweiten Buches, bei der Behandlung der Affekte, sagt Antonius nämlich, der Redner müsse die Wahrheit seiner eigenen Sache noch mehr spüren als der Dichter oder eben der Schauspieler, und zwar deswegen, weil von seiner Rede und ihrem Erfolg viel mehr abhängt: quae si ille histrio, cotidie cum ageret, tamen recte agere sine dolore non poterat, quid Pacuvium putatis in scribendo leni animo ac remisso fuisse? Fieri nullo modo potuit. Saepe enim audivi poetam bonum neminem − id quod a Democrito et Platone in scriptis relictum esse dicunt − sine inflammatione animorum exsistere posse et sine quodam adflatu quasi furoris. Qua re nolite existimare me ipsum, qui non heroum veteres casus fictosque luctus velim imitari atque adumbrare dicendo neque actor sim alienae personae, sed auctor meae, cum mihi M.’ Aquilius in civitate retinendus esset, quae in illa causa peroranda fecerim, sine magno dolore fecisse: quem enim ego consulem fuisse, imperatorem ornatum a senatu, ovantem in Capitolium ascendisse meminissem, hunc cum adflictum, debilitatum, maerentem, in summum discrimen adductum viderem, non prius sum conatus misericordiam aliis commovere quam misericordia sum ipse captus. Sensi equidem tum magno opere moveri iudices, cum excitavi maestum ac sordidatum senem et cum ista feci, quae tu, Crasse, laudas, non arte, de qua quid loquar nescio, sed motu magno animi ac dolore, ut discinderem tunicam, ut cicatrices ostenderem. Wenn jener Schauspieler, obwohl er diese Verse täglich vortrug, sie dennoch nicht anpassend vortragen konnte, ohne dass er Schmerz empfand, war dann nach eurer Meinung Pacuvius ruhig und gelassen, als er sie schrieb? – Das war ganz unmöglich. Oft habe ich nämlich gehört – auch in Schriften Demokrits und Platons soll diese Ansicht zu finden sein –, dass niemand ein guter Dichter werden könne ohne flammende Begeisterung und ohne einen Anflug von Raserei. Glaubt deshalb nicht, ich selbst, der ich nicht die alten Schicksalsschläge und die erdichteten Äußerungen der Trauer von Heroen durch die Rede nachahmen und skizWert hätten, sich der Redner doch vor der Übertreibung hüten möge, denn während er sich bemühe, von den Schauspielern die gewählte und verfeinerte Vortragsweise zu übernehmen, verliere er das Ansehen eines braven und über gesellschaftliches Gewicht verfügenden Mannes (ita tamen temperanda ne, dum actoris captamus elegantiam, perdamus viri boni et gravis auctoritatem). (Institutio oratoria XI, 3, 184; vgl. Cicero De oratore I, 251; III, 30; Brutus 203.) Im widersprüchlichen Verhältnis zwischen Redner und Schauspieler erscheint der grundlegende soziokulturelle Widerspruch, den Joy Connolly so beschreibt: »Rhetoric and its object, eloquence, are constituted in and made possible by things that the Romans (and other cultures, ancient and modern) defined as non-manly: the artful manipulation of words, the willingness to deceive, the equation of power with persuasion rather than action, verbal ornament, theatricality, emotional demonstrativeness.« Connolly: Virile Tongues, S. 84; eine Formulierung, die der Interpretation im Haupttext gleicht, ebd., S. 88: Die Redner sind, »who literally enact legal and political order«.

Affekt, Körper, Per formanz zieren möchte – ich bin nicht Vortragender einer fremden Person, sondern verantwortlicher Vertreter meiner eigenen Rolle –, glaubt also nicht, ich hätte, als ich das Bürgerrecht für Manius Aquilius erhalten musste, das, was ich zum Abschluss meiner Rede tat, ohne tiefen Schmerz getan. Ich erinnerte mich nämlich daran, dass er Konsul gewesen und dass er als Feldherr vom Senat ausgezeichnet worden und im Triumph zum Kapitol hinaufgeritten war; als ich ihn nun niedergeschlagen, entmutigt, traurig und in höchster Gefahr schweben sah, versuchte ich nicht, bei anderen Mitleid zu erwecken, bevor ich selbst von Mitleid überwältigt war. Ich bemerkte in der Tat, wie die Richter heftig gerührt wurden, als ich den tief betrübten Greis in Trauerkleidung aufstehen ließ und als ich das tat, was du, Crassus lobst: Nicht nach der Regel einer Kunst, über die ich nichts zu sagen wüsste, sondern in heftiger seelischer Erregung und tiefem Schmerz riss ich seine Tunika auf und zeigte seine Narben. 23

Antonius verficht also die Ehrlichkeit der Gefühle des Redners, und er stellt dies in Form eines a fortiori-Arguments detailliert der Erfundenheit der künstlerischen Nachahmung, ihrer – im Sinne der Fiktion und des Rollenspiels verstandenen – »Falschheit«, »Unehrlichkeit« gegenüber ( fictosque luctus […] imitari [»die erdichteten Äußerungen der Trauer … nachahmen«]; neque actor sim alienae personae [»ich bin nicht Vortragender einer fremden Person«]).24 Allgemeiner formuliert stehen hier Natur und Kunst in einem harmonischen Verhältnis, sie überdecken einander sogar teilweise, denn letztere ist – im Sinne der weiter oben erwähnten aristotelischen Tradition – die »Verlängerung« der ersteren: die Mittel des Vortrags dienen im Zeichen des Gedanken der natura ab arte perfecta dazu, die spontan zustande kommenden, natürlichen Zeichen der Affekte vollkommen zum Ausdruck zu 23 | De oratore II, 193−195. Die wirksame Geste des Zeigens auf die Wunden verwendete Cicero selbst auch: Pro Rabirio perduellionis reo 36. 24 | Siehe außerdem Antonius: Qui actor imitanda quam orator suscipienda veritate iucundior? (»Welchen Schauspieler [kann man finden], der durch die Nachahmung der Wahrheit anziehender wirkt als der Redner dadurch, dass er sich ihrer annimt?« (De oratore II, 34) Und in den Zeilen vor dem im Haupttext zitierten Abschnitt derselbe: quid potest esse tam fictum quam versus, quam scaena, quam fabulae? (»Was kann denn so sehr erfunden sein wie Dichtung, wie das Geschehen auf der Bühne, wie Schauspiele?)« (II, 193) Die Schwere der behandelten Sache und so ihr bewegender Charakter sowie die ihr angemessene Behandlungsweise, die Kraft der in der Rede geformten Überzeugung und der verwendeten topoi kann so groß sein (magna vis est earum sententiarum atque eorum locorum), dass der Redner die Affekte, die er zum Ausdruck bringen und in den Zuhörern hervorrufen will, selbst empfindet (II, 191−192). Cicero äußert sich übrigens im Brutus anerkennend über die Vortragsfähigkeiten von Antonius und hebt extra hervor, dass er auch die unvorteilhaften Seiten seines Organs (d.h. »seine heisere Stimme«) zu seinem Nutzen wenden konnte (vox permanens, verum subrauca natura. sed hoc vitium huic uni in bonum convertebat). (Brutus 141−142) Was Antonius’ Behauptung angeht, er habe über die Kunst nichts zu sagen (arte, de qua quid loquar nescio), vgl. Cicero Brutus 163; De oratore I, 94 und 208; Orator 18; Quintilian Institutio oratoria III, 1, 19.

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bringen.25 Antonius vertritt die Ansicht, der Redner könne nur dann erfolgreich die angemessenen Affekte erwecken, wenn die seelischen Regungen, die er bei seinem Publikum hervorrufen will, auch in ihm selbst vorhanden sind bzw. wenn sie dem Redner selbst (d.h. der Seele des Redners) eingeprägt und eingebrannt zu sein scheinen (in ipso oratore impressi esse atque inusti videbuntur).26 Über den semantischen und modalen Wert oder das Gewicht von videri als regierendem Verb lässt sich natürlich immer diskutieren: Steht es in wörtlicher oder übertragener (idiomatischer) Bedeutung? Wenn letzteres der Fall ist, drückt es dann überhaupt eine Distanzierung von der Behauptung aus, und wenn ja, wie groß ist diese? Außerdem kommt dieses Verb in dieser Funktion bei Cicero so häufig vor, dass man in der Mehrzahl der Fälle durchaus den Zwang des Prosarhythmus bedenken sollte. Dennoch fällt auf, dass diese Konstruktion, die bei einer starken Lektüre des videbuntur die Involviertheit des Redners in den Modus des Anscheins oder des »(von außen) scheint es« setzt, gerade in einem Satz vorkommt, in dem versichert wird, dass der Redner während seines Vortrags selbst emotional involviert sein müsse. Die starke Bedeutung des Verbs videri und die Widersprüchlichkeit von Antonius’ Standpunkt kann folgendes Zitat erläutern: »Wenn er [der Redner] es aber erreichen kann, so zu scheinen, wie er scheinen möchte (Si vero adsequetur, ut talis videatur, qualem se videri velit), und die Seele der Zuhörer so zu ergreifen, dass er sie, wohin auch immer er will, fortziehen oder gar fortreißen kann, wird er in der Tat darüber hinaus nichts zum Reden für nötig halten.«27 Hier stellt auch Antonius selbst den Wert der Ehrlichkeit und Authentizität (oder vielleicht der Wahrheit) zurück und behandelt sie – wenigstens andeutungsweise – so wie die erlernbaren, nicht natürlichen Techniken der Kunst.28 Aber trotz all dieser widersprüchlichen Formulierungen betont Antonius doch an der oben ausführlich zitierten Stelle II, 193-195 (und übrigens auch am Ende von 189) das ehrliche Erleben der Gefühle. 25 | Sonkowsky: An Aspect, S. 256. 26 | De oratore II, 189: »Es ist auch nicht möglich, dass der Zuhörer Schmerz, dass er Hass, dass er Neid empfindet, dass er in heftige Furcht vor etwas gerät, dass er dazu gebracht wird, zu weinen und Mitleid zu fühlen, wenn nicht alle diese Regungen, welche der Redner beim Richter hervorrufen möchte, dem Redner selbst tief ins Herz geprägt und gebrannt erscheinen.« 27 | De oratore II, 176: Si vero adsequetur, ut talis videatur, qualem se videri velit et animos eorum ita adficiat, apud quos aget, ut eos quocumque velit vel trahere vel rapere possit nihil profecto praeterea ad dicendum requiret. Vgl. II, 190, wo videri ebenfalls in einem ähnlichen Zusammenhang vorkommt wie oben genannt, sowie II, 182, wo davon die Rede ist, dass der Redner, wenn er sich schärfer äußert, den Anschein erwecken muss (videare), dass er dies unwillkürlich und von der Sache selbst gezwungen tut (si quid persequare acrius, ut invitus et coactus facere videare). Videri steht auch hier offensichtlich in starker Bedeutung (ähnlich Orator 55). 28 | Vgl. die Bemerkung von Connolly: Virile Tongues, S. 90 zu der Stelle, in der sie diesen Standpunkt mit dem von Cicero identifiziert.

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Bei Crassus dagegen scheint nach dem ersten Satz in dem Zitat aus III, 214-215 der Unterschied zwischen der Tätigkeit des Redners und derjenigen des Schauspielers zu verschwinden, zumindest aber zu verschwimmen: die in der Seele ablaufenden Prozesse können im Fall des Redners künstlich hervorgerufen oder sogar vorgetäuscht werden, und dazu kommen ihm die von der Kunst ausgearbeiteten Mittel des rednerischen Vortrags zur Hilfe.29 Die Glaubwürdigkeit rührt zu einem wesentlichen Teil daher, dass der Redner im Publikum das Gefühl der »Natürlichkeit« weckt. Antonius sieht hierfür das tatsächliche Erleben der Gefühle, Crassus hingegen – in teilweisem Gegensatz – die technisch niveauvolle Ausführung des Vortrags als notwendig an. Was beiden offensichtlich ist – und was bei Antonius explizit, bei Crassus hier nur andeutungsweise erscheint –, das ist die performative Kraft der Rede und die sich aus ihr ergebenden Risiken und Gefahren, die die Tätigkeit des Redners wieder – nunmehr unter dem Gesichtspunkt der tätigen Wirkung der Rede – der des Schauspielers gegenüberstellt. Mit dieser gefährlichen, aktiven, performativen Kraft des Rednerwortes hatte wohl niemand eingehendere Erfahrung als Antonius und Crassus, die Protagonisten, oder Cicero, der Verfasser des Dialogs selbst. Niemand vielleicht auch damit, wie oft die veritas ipsa (in Abhängigkeit von den aktuellen juristischen oder politischen Interessen) einander geradezu widersprechende »Wahrheiten« bedeuten kann.

29 | Vgl. Hall: Oratorical Delivery, S. 233-234, besonders die Einschränkung, dass es zwar zutreffe, dass der Redner in der Lage sein kann, sich so sehr in die Lage seines Klienten einzuleben, dass er sich auch emotional mit ihm identifiziert und sein Vortrag diese Identifikation – also eigentlich die wahren Gefühle des Redners – zum Ausdruck bringt, dass aber deshalb das Moment der auf der emotionalen Distanziertheit beruhenden Manipulation dennoch hinter den Strategien des Vortragenden steht. Die Technik, wie die Gefühle im Redner und im Publikum hervorzurufen seien, sollte später Quintilian detailliert ausarbeiten. Bei ihm ist an einer Stelle zu lesen, dass die Affekte hervorgerufen werden, indem man lebende Bilder (phantasia, visio) schaffe; diese wirken dann so, als wäre man inmitten der wachgerufenen Ereignisse, und so werde man fähig, dieses Gefühl und die ihm entsprechenden Affekte auch im Publikum hervorzurufen (Institutio oratoria VI, 2, 29-32). An anderer Stelle schreibt Quintilian, den natürlichen Gefühlen fehle die Vollkommenheit der ars (hier konkret des angemessenen Gebrauchs der Stimme), den künstlichen hingegen die Glaubwürdigkeit der natürlichen; deshalb sei es am wichtigsten, dass sich der Redner selbst in einem angemessen affektiven Zustand befinde, die Bilder der Sache mit dem Verstand erfasse, und dass danach diese Bilder – als wären sie wirklich – sein Gemüt bewegen (ideoque in iis primum est bene adfici et concipere imagines rerum et tamquam veris moveri); danach kehrt Quintilian allerdings wieder vollständig in den Kreis der ars zurück: über die Tonlagen, die die verschiedenen Gefühlszustände glaubwürdig ausdrücken, gibt er eine Beschreibung von explizit technischem Charakter, außerdem werden Ratschläge gegeben, mit welcher Atem- und Redetechnik diese Tonlagen erzeugt werden können (XI, 3, 61-63).

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II. Q uasi sermo corporis Nach dem am Anfang dieses Aufsatzes zitierten Abschnitt, in dem Redner und Schauspieler gegenübergestellt wurden, behandelt Cicero (bzw. weiterhin Crassus) den angemessenen Gebrauch der Mittel des Vortrags, also der Augen, der Stimme, der Gestik (oculi, vox, gestus) (III, 216−227). Im Folgenden wird die Konstellation untersucht, die sich in diesem Textabschnitt im Verhältnis zwischen Affekten, klingender Sprache und Körpersprache (animi motiones − vox − sermo corporis) abzeichnet bzw. die – ähnlich wie die unstete Gegenüberstellung von Redner und Schauspieler – in ständiger Veränderung ihrer Umrisse unfixierbar und undarstellbar wird. Der engere Kontext dieser Untersuchung bleibt weiterhin die auch für das Ganze der rhetorischen Kunst so wichtige Beziehung zwischen Natur und Kunst, natura und ars. 1. Die Spannung zwischen den natürlichen Ausdrucksformen der Regungen der Seele, d.h. der Affekte, und der Notwendigkeit der von der Kunst, der rhetorischen ars, gebotenen Ausdrucksmittel zeigt sich gleich zu Beginn der detaillierten Ausführungen über die technischen Fragen des Vortrags: Omnis enim motus animi suum quendam a natura habet vultum et sonum et gestum; corpusque totum hominis et eius omnis vultus omnesque voces, ut nervi in fidibus, ita sonant, ut a motu animi quoque sunt pulsae. Nam voces ut chordae sunt intentae, quae ad quemque tactum respondeant, acuta gravis, cita tarda, magna parva; quas tamen inter omnis est suo quoque in genere mediocris, atque etiam illa sunt ab his delapsa plura genera, leve asperum, contractum diffusum, continenti spiritu intermisso, fractum scissum, flexo sono extenuatum inflatum; nullum est enim horum generum, quod non arte ac moderatione tractetur. Hi sunt actori, ut pictori, expositi ad variandum colores. Jede Gemütsregung nämlich drückt sich von Natur aus in einem bestimmten Mienenspiel, im Tonfall und der Gebärdensprache aus; und der ganze Körper des Menschen und alle Varianten seines Mienenspiels und seiner Stimme klingen wie die Saiten der Leier, je nach der Gemütsregung, durch die sie angeschlagen wurden. Denn Stimmen sind wie gespannte Saiten; sie antworten so, wie sie berührt werden: hoch und tief, schnell und langsam, stark und schwach; doch zwischen ihnen allen gibt es in jeder Art jeweils eine mittlere Stimmlage. Und von diesen haben sich noch mehr Unterarten entwickelt, wie die folgenden: sanft fließend und rauh, gepresst und gedehnt, mit gleichmäßigen und unterbrochenem Atem, dumpf und kreischend, durch die Änderung des Tones schwächer geworden und angeschwollen. Es gibt nämlich unter diesen keine, die nicht von der Kunst und ihren Regeln behandelt würde. Und sie stehen dem Vortragenden, wie Farben dem Maler, zu Gebote, damit er variieren kann. 30

30 | De oratore III, 216−217.

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Cicero folgt hier dem – vermutlich von Theophrast stammenden31 – Gedanken, dass einerseits alle motus animi im Körper, an der Körperoberfläche sowie in den vom Körper ausgehenden Klängen ihre spontane, natürliche (a natura) Entsprechung haben, ihr natürliches Zeichen, gleichsam ihr Symptom. Symptom in dem Sinn, dass diese natürlichen Zeichen den (unsichtbaren inneren) Zustand der Seele und seine Veränderungen in Gestalt (und Material) des (sichtbaren äußeren) Zustandes des Körpers treu anzeigen, ihn mit ihrem eigenen Zeichensystem für die Außenwelt genau abbilden, und zwar ohne dass technisch-künstlerische Momente hineinspielen. Andererseits jedoch besorgen und regeln (»behandeln«, tractetur) ars und moderatio – hier erst einmal nur im Fall der Stimmen – diese wahrnehmbaren, von der Körperoberfläche, aus dem Körper hervortretenden somatischen Phänomene als künstliche Zeichen, gleichsam als Signale. Signale in dem Sinn, dass wir nun bereits von künstlichen, technischen, von der technē hervorgebrachten oder zumindest den Regeln der technē entsprechend behandelten und so emittierten Zeichen sprechen können. (Währenddessen ändert sich das »Material« des Zeichens überhaupt nicht, seine »Form« nicht notwendigerweise, denn natürlich handelt es sich weiterhin um körperliche Zeichen seelischer Prozesse.) Diese künstlichen Zeichen stehen – wie die verschiedenen Farben des Künstlers – in ihrer Mittelhaftigkeit dem Vortragenden, dem actor, zur Verfügung. Die natürlichen körperlichen Zeichen der Regungen der Seele (hier vorerst konkret die Töne) sind also künstlich modifizierbar, manipulierbar, denn der Redner muss auch in der Lage sein, seine Gefühle zu manipulieren (mehr noch: hier reicht es daran zu denken, dass die akustischen Bedingungen der öffentlichen Rede vom römischen Redner von vornherein verlangten, dass er mit lauterer als mit der natürlichen Stimme redet32). Über diese widersprüchliche oder jedenfalls spannungsreiche Formulierung hinaus bringt auch das Leier- und Saitengleichnis dieses Textabschnitts mit seinem technischen (also künstlichen) Ursprung dieses – jedenfalls im Sinne der

31 | Vgl. Theophrast Frg. 447 Fortenbaugh. Aber wie gesehen, stellte auch Aristoteles eine Entsprechung zwischen Gefühlen und Stimme fest: Rhetorik 1403b26-30. Aus der lateinischsprachigen dichtungstheoretischen Tradition – die natürlich auf griechischen Vorbildern basiert – siehe Horaz De arte poetica 105-111. Vgl. Aristoteles Poetik 1455a22-32 über die Parallele zwischen dem affektivem Zustand des Dichters (und wahrscheinlich des Schauspielers) und des Zuhörers und Rhetorik 1386a29-1386b1 über die Rolle des Vortrags bei der Erweckung von Mitleid; zur Frage siehe zuletzt Munteanu: Tragic Pathos, S. 76-80. 32 | Zur Frage des physischen Kontexts des rednerischen Vortrags im Allgemeinen siehe Hall: Oratorical Delivery, S. 218ff.; im Zusammenhang damit zu den Folgen aus dem Mangel an modernen technischen Mitteln der Stimmausbreitung (z.B. hatte die Körpersprache eine viel größere Bedeutung als heute) Aldrete: Gestures, S. 73-84.

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ersten Zeilen des zitierten Abschnitts – naturbeherrschte System ins Wanken.33 Das Künstliche würde hier nämlich gerade – als dessen Analogie – zur Stärkung, zur Unterstützung des Natürlichen dienen. Wenn das Leiergleichnis im zitierten Textabschnitt mit seinen tropologischen Implikationen das Gesagte nicht unbedingt untergräbt, schafft es gleichwohl die Möglichkeit dafür, dass der als Instrument (Leier) verstandene Körper (bzw. das Mienenspiel, die Körpersprache und die Stimmmodulation als sein Funktionieren) sich von seinem natürlichen Antrieb, der Seele, unabhängig macht oder sich zumindest mittelbar an deren innerlichste Gefühle anschließt. Ich denke daran, dass wir, wenn auch die Bewegungen der Seele selber künstlich hervorgerufen werden können (siehe am Ende des I. Teils die Ausführungen zu Antonius’ Überlegungen), nie sicher sein können, dass die Seele (der Leierspieler), die den Körper (als Saite) anschlägt, die Bewegung wirklich spontan, natürlich, »ehrlich« einleitet, ob sie die Stimme und weiter gefasst das gesamte semiotische System des Körpers wirklich unabhängig von jeglichem bewussten Moment oder Willen (z.B. von der Absicht, die Außenwelt zu beeinflussen) in Funktion setzt. Diese Unsicherheit wird also einerseits vom manipulierbaren technischen Mittelcharakter der Leier und der Saite im Gleichnis verursacht;34 doch nicht von ihm allein, sondern auch von einer Besonderheit bei der Aufzählung der verschiedenen Abwandlungen der vox (Tonfall, Tonlage, Tonart): von einigen der Bezeichnungen, die für die Beschreibung der 33 | Die Verbindung der Töne der Rede (oder des Mundes) und der Leier (oder ihrer Bestandteile und ihres Aufbaus) kommt in der lateinischen Literatur mehrfach vor. Cicero beispielsweise vergleicht an einer Stelle die Funktion und die Teile der stimmbildenden Organe mit der Funktion und den Teilen der Leier: De natura deorum II, 149; vgl. Quintilian Institutio oratoria XI, 3, 42. Bei Dichtern das Bild der »sprechenden Saiten«: Lukrez De rerum natura IV, 981; Tibull II, 5, 3. 34 | Vgl. das Beispiel über C. Gracchus in III, 225, wo er bei seinem Redevortrag die Hilfe eines gebildeten Mannes (peritum hominem) in Anspruch nimmt, der eine kleine Pfeife aus Elfenbein (eburneola … fistula) spielt, um die Modulationen der menschlichen Stimme, den angemessenen Wechsel zwischen intensiver und ruhigerer Rede zu befördern (qui [sc. homo peritus] inflarit celeriter eum sonum quo illum aut remissum excitaret aut a contentione revocaret). Die menschliche Stimme wird hier nicht vom Inneren, also von der Seele in ihrer »natürlichen« Unmittelbarkeit reguliert, sondern von einem vollkommen äußeren Mittel, das ein anderer Mensch handhabt. Insofern lenken hier nicht mehr der Sinn der Rede und die mit ihm harmonischen Gefühle die Stimmgebung, sie folgt also nicht quasi »automatisch« dem Sinn und dem Gefühlszustand des Sprechers, sondern dem Sprecher wird von außen der »Hinweis« auf die Stimmmodulationen gegeben, die dem Sinn und den »erlebten« (?) – jedenfalls den in den Zuhörern auszulösen gewünschten – Gefühlen entsprechen. Dieselbe Manipulation kann man freilich auch ohne Hilfe des äußeren technischen Apparats durchführen, der Mann mit der Flöte kann dann zu Hause bleiben, aber das Verfahren selbst wird gleichsam »verinnerlicht« auf dem forum selbstständig angewandt (fistulatorem domi relinquetis, sensum huius consuetudinis vobiscum ad forum deferetis) (III, 227).

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verschiedenen Tonfälle verwendet werden, ist (vorsichtig formuliert) nicht eindeutig feststellbar, ob sie auf das Absichtliche (künstlich) oder das Unwillkürliche (natürlich) der Stimmbildung verweisen: »gepresst und gedehnt (contractum diffusum), mit gleichmäßigen und unterbrochenem Atem (continenti spiritu intermisso), dumpf und kreischend (fractum scissum), durch die Änderung des Tones schwächer geworden und angeschwollen (flexo sono extenuatum inflatum).« 35 2. Nach den Möglichkeiten der Stimmmodulation wird in § 220 die Gestik behandelt. Die Körperbewegungen, die Gestik (gestus) müssen den »Regungen (hos motus)« der Affekte (und der diese begleitenden Tönen) folgen. Und zwar nicht so, dass die Gestik die Wörter, wie es auf der Bühne üblich ist, unmittelbar ausdrückt, gleichsam nachahmt (non hic [sc. gestus] verba exprimens scaenicus), sondern sie muss den gesamten Inhalt und die Gedanken (universam rem et sententiam) erhellen, nur andeuten (declarans), nicht indem sie hinweist, zeigt oder darstellt (demonstratione), sie soll nur signalisieren (significatione). (Die hier verworfenen Arten weisen offenbar auf eine pantomimische Vortragsweise hin.36) Währenddessen muss der Redner den Oberkörper auf eine Kraft ausstrahlende, männliche Weise neigen (laterum inflexione hac forti ac virili), und zwar – wiederum – »nicht von der Bühne und den Schauspielern, sondern von den Waffenkämpfen oder auch von der Palästra das Beispiel nehmend (non ab scaena et histrionibus, sed ab armis aut etiam a palaestra)«.37 Diese erneute Gegenüberstellung des Redners mit den Gepflogenheiten der Bühne, mit den Schauspielern, ist auch unter Gender-Gesichtspunkt bemerkenswert: der Vorstellung von der effeminatio, der »Verweiblichung«, die die Römer mit der Schauspielkunst verbanden, wird hier nicht zufällig die fortis ac virilis inflexio gegenübergestellt.38 Der Redner muss, auch wegen seiner »gesellschaftlichen Sicht35 | Ähnliches ist in III, 224−225 zu beobachten, als Crassus zur Behandlung der vox zurückkehrt und hier die Ansicht vertritt, die ständigen Veränderungen der Stimme (vicissitudo, varietas, commutatio) seien unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung am angemessensten, weckten am ehesten Vergnügen (ad auris nostras et actionis suavitatem), und wo ebenfalls nicht eindeutig zu entscheiden ist, inwiefern die angemessene Modulation der Stimme das Ergebnis natürlicher und inwiefern das künstlicher Prozesse ist. 36 | Fantham: Commentary, S. 363. 37 | De oratore III, 220: Omnis autem hos motus subsequi debet gestus, non hic verba exprimens scaenicus, sed universam rem et sententiam non demonstratione, sed significatione declarans, laterum inflexione hac forti ac virili, non ab scaena et histrionibus, sed ab armis aut etiam a palaestra. 38 | Vgl. Orator 59 und Quintilian Institutio oratoria XI, 2, 122. An welche Körperhaltung hier konkret zu denken sei, ist umstritten. Mankin schlägt vor: »a tilting forward of the upper body«, andere Kommentatoren verstehen ganz allgemein als eine »motion of the upper body«, eine »attitude of body«. (Mankin: Commentary, S. 314.) Corbeill spricht (vor allem wegen Orator 59) über eine reglose Haltung von Hals und Fingern und eine aufrechte des Körpers, »bending it only as a man does.« Am wichtigsten ist es, zwischen Würde und Ver-

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barkeit«, besonders auf jedes Moment seiner öffentlichen Erscheinung achten. Und weil die »Männlichkeit« ein zentrales Element der römisch-aristokratischen Werteordnung war, musste sich der Redner auch allgemein »männlich« verhalten (reden, gehen, gestikulieren), doch besonders musste er der in der aristokratischen Gesellschaft verlangten »Maskulinität« genügen, wenn er eine Rede hielt.39 (Die Ablehnung des »Weiblichen« erscheint übrigens – dies haben die Lektüren unter Gender-Gesichtspunkten nicht immer ausreichend im Blick – als Element einer allgemeineren und auf mehrere Elemente bezogenen wertenden Gegenüberstellung, nämlich neben der Abwertung der niederen gesellschaftlichen Klassen, der Sklaven und der »verweichlichten« Fremden, insbesondere Griechen und »Orientalen«, die – unabhängig von ihrem biologischen Geschlecht – auch selbst mit dem Charakteristikum »weiblich/verweichlicht« versehen werden konnten.40) Nach römischer Auffassung beruht die gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung auf der steten Befolgung der Gesetze, und die rhetorischen Handbücher – durch die Lehre der angemessenen Rede, Körperhaltung und Gestik – »literally make those laws physical«, zu solchen also, die der Redner sichtbar verkörpert: Der physische Körper des Einzelnen macht die Einheit, Gesundheit und Kraft des politischen Körpers sichtbar.41 Und weiter: die Gegenüberstellung von Bühne und (Kampf-)Sport am Ende des Zitats (»nicht von der Bühne und den Schauspielern, sondern von den Waffenkämpfen oder auch von der Palästra das Beispiel nehmend«) darf nicht davon ablenken, dass das andere in der Gegenüberstellung, das zu befolgende Muster, selbst ebenfalls nicht natürliche Übungen zur Grundlage hat, sondern überaus künstliche, technische, nämlich die Ausbildung und die Übungen des Militärs und des Kampfsportes. Insofern weichen also die detaillierten Ausführungen auf dem Gebiet der Körpersprache – ähnlich wie auf dem der Stimme – wieder von der als theoretisch fundierenden, thesenartigen Formulierung motus animi […] a natura habet […] gestum in § 216 ab. Obwohl den Affekten Körperbewegungen entsprefeinerung das rechte Maß zu finden, das heißt, dass einerseits alle übertriebene Steifheit und Langsamkeit, andererseits alle plötzlichen und regelwidrigen Bewegungen zu vermeiden sind. (Corbeill: Nature, S. 122.) 39 | Hall: Oratorical Delivery, S. 229f. Vgl. Cicero Orator 59; Brutus 225; Rhetorica ad Herennium III, 26-27, wo der unbekannte Verfasser den Redner vor der Ähnlichkeit sowohl mit schauspielerischen als auch mit »weiblichen« Gesten warnt; ähnlich wird der Redner, der eine schauspielerhafte und mima-artige Vortragsweise anwendet, bei Gellius zum Gespött: Noctes Atticae I, 5; vgl. Quintilian Institutio oratoria I, 8, 2 und 10, 31; VIII. Praefatio 19-20. 40 | Connolly: Virile Tongues, S. 88. Übrigens kann die mimetische Tätigkeit, die sich zugleich in die Ordnung der moralischen Hierarchie der Authentizität und des Schauspiels einfügt, auch unter dem Gesichtspunkt der Beziehung interpretiert werden, die in der europäischen Kultur üblicherweise zwischen dem »Weiblichen« und der Schauspielerei (Bühnenhaftigkeit), Vortäuschung, Heuchelei (»Koketterie«, »Falschheit«), Unbeständigkeit (»das Weib ist unbeständig«) gesehen wird. 41 | Ebd., S. 86-91.

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chen, soll der Redner ja nicht die Regungen seiner eigenen Seele und die durch sie ausgelösten spontanen, automatischen Bewegungen und Gesten zeigen, sondern er soll Kunst-Griffe aus anderen (ebenfalls »Griffe« nutzenden) Bereichen der Körperkultur entleihen und seine Gefühle durch sie zum Ausdruck bringen. Im Zusammenhang des rednerischen Vortrags ist die Körpersprache – auch hier analog zur Tonsprache – nicht oder nicht in jeder Hinsicht natürlich, sondern künstlich, ein von der ars zur Verfügung gestelltes Ausdrucksmittel. Vielleicht sollte noch kurz darauf eingegangen werden, dass der Wortbestand der Erläuterung auch zwei Zeilen später vom Wortschatz der Kriegstechnik durchdrungen ist: Crassus bezeichnet hier den lang ausgestreckten Arm, der vermutlich anklagend auf jemanden weist, als »gleichsam eine Waffe« (quasi quoddam telum orationis; telum ist hier vor allem als Lanze, vielleicht als Schwert zu verstehen).42 Der Ausdruck telum orationis kann zugleich auch die kämpferische, drohende, gefährliche Kraft bezeichnen, die mit der in der Antike spätestens seit Gorgias so wohlbekannten und reich reflektierten Erfahrung »das Wort ist eine gefährliche Waffe« verbunden ist, und dies auch dann, wenn hier nicht die Rede selbst, sondern ein Körperteil (der Arm) des die Rede vortragenden Redners die Rolle der »Waffe« übernimmt. Nicht nur bei Cicero, sondern auch nach allgemeiner Auffassung der römischen Rhetoriklehrer ist die Rhetorik nicht nur als Kunst, sondern auch als Mittel im Kampf geeignet.43 3. Nach Stimme und Gesten behandelt Crassus das Gesicht und den Gesichtsausdruck (in dem am wichtigsten der Mund – os hängt etymologisch mit oro und also mit dem orator zusammen – und die »Miene« – vultus – ist) bzw. vor allem die Augen, die Ausdruckskraft des Blicks (oculi). Hierzu schreibt er: Sed in ore sunt omnia, in eo autem ipso dominatus est omnis oculorum; quo melius nostri illi senes, qui personatum ne Roscium quidem magno opere laudabant; animi est enim omnis actio et imago animi vultus, indices oculi: nam haec est una pars corporis, quae, quot animi motus sunt, tot significationes et commutationes possit efficere; neque vero est quisquam qui eadem conivens efficiat. Doch alles beruht auf dem Gesicht; in ihm selbst wiederum üben die Augen die ganze Herrschaft aus. Umso besser urteilten unsere älteren Landleute, die nicht einmal Roscius be42 | De oratore III, 220 : manus autem minus arguta, digitis subsequens verba, non exprimens; bracchium procerius proiectum quasi quoddam telum orationis. Vgl. OLD s. v. telum I. A, B 1. 43 | Siehe z.B. Cicero Brutus 7 (die oratio entreißt den Bösen die Waffen); De oratore III, 55 (schlechten und dummen Menschen die Kunstgriffe der Rednerkunst beizubringen, ist so, wie einem Verrückten eine Waffe in die Hand zu geben). Einige charakteristische Beispiele für Bilder aus dem Kampfsport, Waffen oder allgemein dem Gebrauch physischer Gewalt: De oratore I, 32; II, 293; III, 139, 200, 206; Orator 228; Quintilian Institutio oratoria I, 11, 18 (zitiert die Stelle De oratore III, 20).

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Attila Simon sonders priesen, wenn er eine Maske trug. Der ganze Vortrag ist ja ein Ausdruck des Geistes, und Abbild der Seele das Gesicht, und die Augen sind ihre Zeichen. Denn das Gesicht ist der einzige Teil des Körpers, der so viele Andeutungen und Veränderungen zustande bringen kann, wie es Seelenregungen gibt. Und es gibt niemand, der dasselbe zustande bringen könnte, wenn er die Augen schließt. 44

Wieder will ich nur zu einigen Ausdrücken Anmerkungen machen. Os und vultus (ersteres bezeichnet eher den Körperteil selbst, letzterer dessen ausdrucksvolles Äußeres) und die über sie herrschenden oculi (die Augen als Teil des Gesichtes und zugleich der Blick als Ausdruckskraft der Augen) sind so vorrangig wichtig, weil die actio im Ganzen eine »actio der Seele« ist (animi est enim omnis actio).45 Der Vortrag als Ausdruck ist Ausdruck der Seele, und zwar im zweifachen Sinne des Genitivs: eine vom Inneren gelenkte und angeregte Äußerung, zugleich aber die Äußerlich-, die Sichtbarmachung des Inneren. Wenn aber der Vortrag im Ganzen ein »Vortrag«, ein Zeigen der Seele ist, dann wird verständlich, dass der Gesichtsausdruck und die Ausdruckskraft der Augen bei diesem Zeigen eine Schlüsselrolle spielen: der vultus ist ja das Abbild der Seele, ihre sichtbare Äußerung, ihre imago (imago animi vultus), die Augen signalisieren, sie zeigen die Bewegungen der Seele, sie sind ihre Ausdruckszeichen, ihr index (indices oculi).46 Die imago bedeutet jedoch nicht nur Abbild, Spiegelbild, also ein gleichsam »natürliches« und unbedingt originalgetreues oder zumindest ähnliches Bild, sondern – wohlbekannt vom Beispiel der »Ahnenbilder (imagines maiorum)« – auch ein künstliches, maskenartiges Wachsbild (sogar eines, das tatsächlich angelegt werden kann).47 Neben dem Moment des Natürlichen ist also in diesem Wort auch das Künstliche, das durch die ars Hergestellte, präsent, und so kann auch die eindeutig und in eine Richtung festgelegte und starre Verbindung von actio und animus ins Schwanken geraten (die Verbindung nämlich, bei der die actio die actio der Seele ist, also das abbildet, das repräsentiert, treu wiedergibt, was im animus geschieht.) Besonders, wenn man berücksichtigt, dass imago auch Vorstellung, Phantasie- oder Traumbild bedeuten kann, ein verschwommenes Schattenbild oder sogar ein Trugbild, ein falsches Ab44 | De oratore III, 221. 45 | Merklin legt sich mit seiner Übersetzung »der ganze Vortrag ist ja ein Ausdruck des Geistes« begründeterweise nicht fest, ob es sich bei animi um einen genitivus subiectivus oder einen obiectivus handelt. (So auch Nüßlein.) Mankin: Commentary, S. 316 versteht animi hingegen als gen. sub. («for performance is entirely (the province) of the mind/soul«). Neben rhetoriktheoretischen Fragen im engeren Sinn ist hier auch der gesellschafts- und kulturgeschichtliche Kontext zu berücksichtigen: die besondere Bedeutung des Gesichtsausdrucks im weiteren Rahmen hängt damit zusammen, dass die gesellschaftliche und politische Kommunikation in der römischen Republik face to face stattfand (ebd., S. 315). 46 | Das formuliert Cicero mehrmals, und zwar nicht nur im rhetorischen Kontext: De legibus I, 27; Pro Sulla 15. Siehe noch Quintus Cicero Commentariolum petitionis 44. 47 | OLD s. v. imago I. A 1, B.

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bild und sogar den puren Anschein, der sich gerade vom Original unterscheidet. Die imago enthält somit nicht nur das Moment des getreuen Abbildes, sondern auch des Imaginären, und damit auch des Fiktiven.48 Der vultus als imago der Seele kann sogar ein falsches Bild von den Bewegungen der Seele vermitteln, er kann lügen, was das Innere angeht, anderes an die Außenwelt vermitteln als das, was drinnen tatsächlich geschieht, er kann sogar etwas zeigen, das nicht ist. Was den Ausdruck indices oculi und seine Umgebung angeht: der Bedeutungsbereich des index ist frei von Zwei- oder sogar Mehrdeutigkeit von dieser Art. Dieses Wort bedeutet nämlich grundlegend ein verratendes, etwas sicher und zuverlässig ›anzeigendes‹, ›aufdeckendes‹ Zeichen (oder einen solchen Menschen).49 Dennoch zeigt die Formulierung, nach der das von den Augen beherrschte Gesicht »so viele Andeutungen und Veränderungen zustande bringen kann (tot significationes et commutationes possit efficere), wie es Seelenregungen gibt (quot animi motus sunt)«, die Beziehung zwischen dem durch den Blick bestimmten Gesichtsausdruck und der Seele wiederum als nicht nur einseitig bestimmt.50 Das von den Augen beherrschte Gesicht efficit nämlich, es bringt also hervor, es vollzieht gewisse Zeichen/Kennzeichnungen und Veränderungen, die − als effectus – nicht in notwendiger Verbindung mit den affectus stehen, d.h. mit den Regungen der Seele (auch wenn jedem eine seelische Regung entsprechen kann). Deshalb ist es für den Redner sehr wichtig, die Augen, die Ausdruckskraft des Blicks unter Kontrolle zu haben: Qua re oculorum est magna moderatio. Auch die Augen sind also dem technisch-künstlerischen Wissen des gut ausgebildeten Redners unterworfen, magna weist hier auf die große Bedeutung der moderatio. In § 222 vermischen sich die künstlerischen, technischen Regeln der wirksamen Verwendung der Augen, des Blicks, und – wiederum – die Hervorhebung des Auges als »natürlichen« Ausdrucks des Inneren miteinander oder geraten sogar in Spannung zueinander. Die moderatio als ›Beherrschung‹, ›Lenkung‹, ›Regulierung‹ 48 | OLD s. v. imago III. A, B 2 (mit mehreren Stellen von Cicero). Bei Tacitus bedeutet es ausdrücklich auch ›Vortäuschung‹, ›Heuchelei‹, bei den Dichtern und in der Prosaliteratur nach Augustus nimmt es auch die Bedeutung ›Erscheinung‹, ›Geist‹, ›Phantom‹ an. 49 | OLD s. v. index I. A 2, B; vgl. Quintilian Institutio oratoria XI, 3, 62 über die Stimme als mentis index, die gerade so viele Möglichkeiten der Veränderung (bzw. des Ausdrucks) hat, wie das Innere des Menschen (est enim mentis index ac totidem quot illa mutationes habet). 50 | Wie Wisse (Commentary, S. 366) und Mankin (Commentary, S. 316) beziehe ich den Ausdruck haec est una pars corporis auf das Gesicht (nicht auf das Auge selbst), zugleich muss jedoch betont werden, dass am Beginn des Abschnitts, der im Haupttext bei Fußnote 44 zitiert wird, die Formulierung in eo [sc. in ore] autem ipso dominatus est omnis oculorum sowie der Ausdruck neque vero est quisquam qui eadem conivens efficiat am Ende der zitierten Zeilen den Augen eine besondere Rolle innerhalb des Gesichtsganzen beimessen. Wie auch die im folgenden Abschnitt im Haupttext analysierte Fortsetzung die besondere Wichtigkeit der Augen oder des Blicks hervorhebt.

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der Augen, als ›Bändigung‹ der Ausdruckskraft der Augen ist deshalb wichtig, weil man dem Gesicht, wenn man seine Gesichtszüge, das Bild seines Gesichts (oris […] species) – für deren harmonische Ordnung oder maßvolle Veränderung demzufolge vor allem das Auge, der Blick verantwortlich ist – zu stark verändert (verzerrt), leicht einen unangemessenen, ungeschickten, unangenehmen, ja sogar hässlichen und abstoßenden Ausdruck verleiht (ineptia, pravitas). Das liegt zum größten Teil an den Modulierungen des Blicks als eines Hüters der Ausdruckskraft der Augen: mit dem Blick, der die unterschiedlichen Stimmungen und mentalen Zustände darstellt ([oculorum] intentio, remissio, coniectus, hilaritas), »[geben] wir unsere Seelenregungen zu erkennen […], wie es zur jeweiligen Art der Rede passt (motus animorum significemus apte cum genere ipso orationis)«.51 Die mit dem Verb significare beschriebene Handlung bezieht sich hier nicht auf das gleichsam natürliche, spontane Signalisieren der Affekte, sie wird jedenfalls nicht von dieser Seite bestimmt, denn die »Kennzeichnung« der Bewegungen der Seele muss der Art der Rede angepasst werden (apte cum genere ipso orationis). Insofern gewinnt der Blick nicht zuvörderst aus seinem Verhältnis zum Inneren seine Definition, sondern er trägt den Sinn, dass etwas (nach außen) gezeigt wird, sichtbar, wahrnehmbar gemacht, dass etwas für andere zum Ausdruck gebracht wird. Dann ist die Ausdruckskraft der Augen, der Blick, ebenfalls manipulierbar, und trägt – ähnlich wie das gesamte Mienenspiel – die Möglichkeit der Lüge, der Verfälschung des Inneren in sich.52 Gleich im Anschluss folgt die allgemeine Formulierung: est enim actio quasi sermo corporis, quo magis menti congruens esse debet; Der Vortrag ist nämlich gleichsam die Sprache des Körpers, und umso mehr soll er mit dem Geist im Einklang stehen. 53

Die Manipulation des Blicks, der sich der gerade zu realisierenden Art der Rede (der »Redeweise«) angemessen anpassen soll, und dann der Ausdruck sermo corporis, der die Vorstellung der »Redeartigkeit« ins Spiel bringt und dadurch metaphorisiert, stattet die körperliche Veränderung mit absichtlicher Bedeutung aus, und zwar so, dass diese im Einklang mit dem Zustand der mens stehen soll (menti congruens esse debet: es handelt sich also um eine Erwartung, eine Forderung, die eine 51 | De oratore III, 222: oculi sunt, quorum tum intentione, tum remissione, tum coniectu, tum hilaritate motus animorum significemus apte cum genere ipso orationis. 52 | Über die Ausdruckskraft der Augen und die Veränderlichkeit ihres Ausdrucks siehe Seneca Epistulae morales CXVI, 7; Plinius d. Ä. Naturalis historia XI, 145-146. Der heutige Leser fragt sich möglicherweise, ob das Auge (insbesondere als »Spiegel der Seele«), genauer gesagt der Blick, wirklich absichtlich beeinflussbar ist. Mit der obigen Interpretation im Einklang steht jedenfalls Quintilians Abrechnung mit dem »bewussten Gebrauch« des Auges (und ebenso der Augenbrauen) (Institutio oratoria XI, 3, 75-79). 53 | De oratore III, 222.

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absichtliche Handlung voraussetzt) – all dies umfasst also den absichtlichen, technischen Regeln unterworfenen Gebrauch des Auges, des Gesichts und überhaupt des gesamten Körpers, seine Anpassung an den Sinn und die Stimmung der Rede.54 Im folgenden Satz wird jedoch wieder der natürliche, auch aus der Tierwelt (jedenfalls aus der Welt der von Crassus hier erwähnten Tiere55) bekannte instinktive, unwillkürliche Charakter der Signale des Körpers behauptet: oculos autem natura nobis, ut equo aut leoni saetas, caudam, auris, ad motus animorum declarandos dedit, qua re in hac nostra actione secundum vocem vultus valet; is autem oculis gubernatur. Die Augen aber hat uns die Natur gegeben, wie dem Pferd oder dem Löwen Mähne, Schweif und Ohren, damit wir unsere Gemütsregungen deutlich ausdrücken können. Deshalb bewirkt bei diesem unserem Vortrag nach der Stimme am meisten das Mienenspiel; dieses wird aber von den Augen gelenkt. 56

Die Ausdruckszeichen des Körpers (hier konkret der Augen und des Gesichts) wirken demnach beim Menschen genauso wie bei den Tieren. Vielleicht geht Cicero hier von der stoischen Auffassung der (der menschlichen Rede gegenübergestellten) tierischen Lautgebung57 aus und verweist auf die körperlichen Ausdrucksmittel als natürliche, instinktive, unbeherrschbare, unmittelbar und von natürlichen Impulsen (ὑπὸ ὁρμῆς) hervorgerufene Bewegungen, bei deren Entstehung der Verstand keine Rolle spielt (nicht ἀπὸ διανοίας).58 Die Natürlichkeit der Körpersignale (oculos autem natura nobis […] dedit; einige Zeilen weiter unten: quaedam vis a natura data), die bei der actio in Anspruch genommen werden, und der sich in ihnen verkörpernden Wirkungskraft garantiert die Wirksamkeit der actio auch in dem Fall, dass »die Laien, die breite Masse, ja selbst die Barbaren« 54 | Für den Ausdruck sermo corporis gibt es meines Wissens zwar keine lateinische oder griechische Parallele; die Idee der ›Körpersprache‹ oder des ›redenden Körpers‹ taucht jedoch, mit anderen Worten ausgedrückt, in der lateinischen Literatur nicht selten auf. Siehe z.B. Cicero Orator 55 (corporis … eloquentia); De legibus I, 27 (oculi … loquuntur); Tibull I, 2, 21 (nutus … loquaces); Quintilian Institutio oratoria XI, 3, 66 (über die Ausdruckskraft von Hand und Kopfnicken: in mutis pro sermone sunt). 55 | Vgl. Plinius d. Ä. Naturalis historia VIII, 49 und 52; Quintilian Institutio oratoria X, 7, 26; XI, 3, 66; Gellius Noctes Atticae V, 14, 12. Nach heutigem Kenntnisstand sind die Primaten durchaus in der Lage, mit körperlichen Zeichen des Gefühlsausdrucks zu manipulieren. 56 | De oratore III, 222−223. 57 | Fögen: Antike Zeugnisse, S. 49-50. 58 | Vgl. Diogenes Laertios VII, 55, auf der Grundlage der Arbeit des Diogenes von Babylon Peri phōnēs, wo als Charakteristikum für die menschliche Stimme angesehen wird, dass sie artikuliert (ἔναρθρος) ist und nicht angeboren, sondern sich bis zum Alter von vierzehn Jahren vollkommen ausbildet.

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den Vortrag hören. Die Wahrnehmung von kulturellen Unterschieden, die sich auch in Gesten zeigen (für die Cicero, wie wir oben gesehen haben, in anderem Zusammenhang durchaus sensibel war) drängt hier die von den Stoikern herrührende Vorstellung der natürlichen Einheit der Menschheit und ihrer Universalität in den Hintergrund.59 Abweichend von der Sprache und den sich durch sie manifestierenden Gedanken verkörpern nämlich Gestik und Mimik im Anschluss an die Universalität der Natur ein anthropologisch allgemeines, universales, für jeden auf dieselbe Weise wahrnehmbares und verständliches Zeichensystem: »Ein Vortrag aber, der die Gemütsregung offen zeigt (prae se motum animi fert), bewegt jeden Menschen«, weil sich alle Menschen bei denselben seelischen Bewegungen erregen und andere diese Gemütsbewegungen an denselben körperlichen Zeichen (isdem notis) erkennen können, die sie auch an sich selbst bemerken.60 Was ergibt sich nun zusammenfassend aus dem Gesagten? Das wichtigste Ergebnis ist: Zwischen der Allgemeingültigkeit und Natürlichkeit der von den Affekten gelenkten körperlichen Zeichen (was in der Kommunikation eine Art körperlicher »Ehrlichkeit«, das unveränderte Nach-Außen-Dringen des Inneren bedeuten würde) und der systematischen Behandlung des technisch-manipulativen, instrumentalen Gebrauchs des Körpers konnte an mehreren Stellen eine Spannung festgestellt werden. Meiner Ansicht nach ist diese Spannung nicht einfach eine Folge der Formulierungsweise oder der unterschiedlichen Ansichten der Dialogteilnehmer (wir haben gesehen, dass die Argumentationen von Antonius und Crassus mehr als einmal auch in sich selbst widersprüchlich sind), sondern weisen auf eine tiefere, als semiotisch zu bezeichnende und wahrscheinlich unauflösbare Spannung hin. Der Spalt zwischen den beiden Auffassungen ist zugleich 59 | Vor den Stoikern vertraten übrigens auch die Kyniker bereits eine ähnliche Ansicht. Zur Frage siehe Fögen: Ancient theorizing, zur Universalität der nonverbalen Kommunikation im rhetorischen Kontext: ebd., 204-205. Detaillierte Erörterungen dazu bei Cicero: De legibus I, 29-32 sowie 27, wo auch die Behandlung des Gesichtsausdrucks in denselben Zusammenhang gestellt wird; vgl. die anthropologischen Erörterungen in De natura deorum: II, 134152. (Die Erklärung in Mankin: Commentary, S. 318 zu der Stelle ist in sich widersprüchlich und berücksichtigt auch nicht den erwähnten und von Cicero an mehreren Stellen detailliert behandelten Zusammenhang.) Der gesamte Gedankengang von De legibus entlarvt jedoch sehr schön das (jeweils) Ideologische in der Idee der Universalität: die natürliche Einheit der Menschheit zieht die natürliche Einheit der Regeln des Zusammenlebens (des Rechts) nach sich, und das aus dem Naturgesetz abgeleitete Recht hat gerade in der Rechtsordnung der frühen römischen Republik – wo sonst? – seine vollkommenste Ausdruckskraft gefunden. 60 | De oratore III, 223: Atque in eis omnibus, quae sunt actionis, inest quaedam vis a natura data; qua re etiam hac imperiti, hac vulgus, hac denique barbari maxime commoventur: verba enim neminem movent nisi eum, qui eiusdem linguae societate coniunctus est sententiaeque saepe acutae non acutorum hominum sensus praetervolant: actio quae prae se motum animi fert, omnis movet; isdem enim omnium animi motibus concitantur et eos isdem notis et in aliis agnoscunt et in se ipsi indicant.

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eine Möglichkeitsbedingung der actio. Fehlte nämlich der technisch-künstlerische, schöpferisch-imitierende Charakter der actio, der auch die Möglichkeit der Vortäuschung in sich birgt, so wäre kein rednerischer Vortrag möglich, der unter von den technisch-künstlerischen Bedingungen, institutionellen Gegebenheiten und dem »Gegenstand« der Rede abweichenden zeitlichen und räumlichen Gegebenheiten, in einer anderen Stimmung usw. abläuft und dennoch lebendig, sogar leidenschaftlich erlebt und von spontaner Wirkung ist. Diese Spannung kann gemindert werden, wenn man berücksichtigt, dass Cicero, der aristotelischen Tradition folgend, nicht scharf zwischen Natur und Kunst getrennt hat. Für unseren Fall bedeutet das: Einerseits gibt es die natürlichen und spontanen körperlichen Ausdrucksweisen der Affekte, andererseits deren Nachahmung, ihre künstliche Hervorrufung (in der Seele des Redners selbst) und/oder geregelte Sichtbarmachung (für die Außenwelt). Die möglichst wirksame Ausführung dieser letzeren muss sich der Redner mit Hilfe der ars gründlich aneignen und umsetzen. Aber auch wenn man das, was der Dialog Wesentliches über die actio zu sagen hatte, so auffasst, bleibt doch das Paradox bestehen: die Möglichkeit, das Natürliche künstlich hervorzurufen, also der körperlichen Imitation, der Fiktion, der Vortäuschung, der Lüge, charakterisiert die Körpersprache ebenso wie die Möglichkeit der Nichtwahrheit immer die verbale Rede charakterisiert. Das unformalisierbare Endergebnis von Ciceros Behandlung des rednerischen Vortrags offenbart eine radikale Unentscheidbarkeit, da die Behandlung des Körpers als eines semiotischen Apparates – und die sich damit sofort gemeinsam ergebende Dualität (Natürlichkeit, Adäquatheit, Repräsentation und Ehrlichkeit auf der einen, Künstlichkeit, Nichtwahrheit, Erfundenheit und Vortäuschung auf der anderen Seite) – bei Wort- und bei Körpersprache auf ein und demselben basiert: auf dem zugleich unumgänglichen und unerreichbaren Unterschied zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem. (Deutsch von Christina Kunze)

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Attila Simon

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Geheimnis und Gerücht Die Geschichte des falschen Agrippa bei Tacitus (Ann. 2,39-40) 1 Ábel Tamás

Der vorliegende Beitrag soll eine in zwei Kapiteln erzählte Geschichte aus den Annalen des Tacitus interpretieren, die, wie der Autor einer vor etwa zehn Jahren publizierten historischen Monografie über die Räuber des Römischen Reiches anmerkt, von Tacitus so detailliert geschildert ist, dass dies durch die geringe geschichtliche Bedeutung der Geschehnisse kaum erklärt werden kann.2 Der Althistoriker bietet denn auch gleich eine Erläuterung an, die dem Geist der antiken Historiografie – z.B. der Charakterisierung von Figuren durch kurze Geschichten – keinesfalls fremd ist: Tacitus sei demnach bestrebt gewesen, mit einer relativ detaillierten Schilderung des Ereignisses seiner eigenen notorischen Abneigung gegen Kaiser Tiberius Ausdruck zu verleihen. Andere Autoren liefern zwar viel subtilere Deutungen, doch scheinen alle Interpretationen darin übereinzustimmen, dass der Episode, die von einem sich als Agrippa Postumus, d.h. als Enkel des Augustus, aufspielenden Sklaven und seiner Bestrafung durch Tiberius handelt, auch innerhalb der Annalen eine weit über sich weisende Bedeutung zukomme. Um lediglich zwei, auch meine Auslegung stark beeinflussende markante Ansätze zu erwähnen: Die Erzählung von Tacitus wird von Holly Haynes im Zusammenhang von fingere/credere (›fingieren/glauben‹) untersucht und zwar als ein Beispiel für die Bloßstellung der Macht als Simulakrum, da die Macht gerade von den Unterworfenen fiktiv/simulativ konstruiert und gleichzeitig als a priori Gegebenes akzeptiert wird;3 die Erzählung über den falschen Agrippa wird andererseits in Philip Hardies Monografie über die unterschiedlichen Ausgestaltungen der fama (›Nachricht, Gerücht, Gerede, Erzählung, Überlieferung, Ruhm, Reputation‹) 1 | Die vorliegende Studie wurde im Rahmen des Projekts MTA TKI 01241 erstellt. Mein besonderer Dank gilt Dániel Kozák für die sorgfältige Durchsicht meines Manuskripts und für seine inspirativen Vorschläge sowie Katalin Teller für die rücksichtsvolle Übersetzung aus dem Ungarischen ins Deutsche. 2 | Vgl. Grünewald: Räuber, S. 174. 3 | Vgl. Haynes: The History, S. 9f.

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bzw. in einer narratologisch orientierten Vorstudie zu dieser Monografie als eine historiografische »fama-Episode« gelesen (d.h. als historiografisches Pendant zu den epischen »fama-Episoden« über die personifizierte Fama und über die von ihr verbreiteten famae); demnach sei die Geschichte eine Narrative, die nicht nur die konstitutive Rolle der Verbreitung von Gerüchten in der Geschichtsentwicklung akzentuiert, sondern auch sich selbst als fama, d.h. als eine auf fragwürdigen Gerüchten basierende historiografische Narrative, deutet oder enthüllt.4 Wie in diesen kurzen Zusammenfassungen sichtbar, wird das Werk von Tacitus in den zitierten Interpretationen vorwiegend nicht als historische Quelle, sondern als literarischer Text behandelt, der die Konstituierung von Geschichte performativ darstellt und dem Leser unermüdlich nahelegt, dass in der Konstituierung von einzelnen historischen Ereignissen gewisse hermeneutische Mechanismen am Werk sind, die eine große Ähnlichkeit mit der nachträglichen Produktion und Rezeption von geschichtlicher Erzählung aufweisen. Besonders exemplarisch kann dies in den ersten sechs Büchern der Annalen, in der sog. »Tiberian hexad« nachvollzogen werden, in der es nach Ellen O’Gorman eine »tight alignement between the reader of Tiberius and the reader of Tacitus« gebe,5 denn hier werden in Bezug auf die Machtpraktiken des Tiberius, die nicht gerade Tacitus’ Gefallen finden, gerade die Eigenschaften außerordentlich akzentuiert, die zugleich Eigenschaften der Narration des Tacitus sind, nämlich »hesitation and delay, withdrawal and absence, disguised or suppressed emotion and ambiguity, punctuated by immoderate anger, heartfelt outbursts and terrifying revelation«.6 Es lohnt sich in diesem Kontext, den Moment des Machtantritts von Tiberius, wie er im ersten Buch der Annalen geschildert wird, zu zitieren: […] setzte doch Tiberius auch in Dingen, die er nicht verbergen wollte, sei es von Natur oder aus Gewohnheit, zweideutig stets und dunkel die Worte (suspensa semper et obscura verba): damals aber, als er sich mühte, seine wirklichen Gedanken völlig zu verstecken, verwirrte sich seine Rede noch mehr zum Ungewissen und Doppelsinnigen hin. Doch die Senatoren, die nur die eine Angst hatten, man könnte ihnen ansehen, daß sie ihn durchschauten, brachen in Klagen, Tränen, Gelübde aus […].7

Diese Charakterisierungen, v.a. die Begriffe obscuritas (›Dunkelheit, Undeutlichkeit‹) und ambiguitas (›Zweideutigkeit‹), die einerseits im rhetorischen Sinne die Erbfeinde der deutlichen Ausdrucksweise und andererseits stets wiederkehrende, nicht unbedingt negativ klingende Schlüsselworte in den Bewertungen von Ta4 | Vgl. Hardie: Fame’s Narratives, S. 565-568; vgl. noch ders.: Rumour, Kap. 8, insb. S. 293f. 5 | O’Gorman: Irony and Misreading, S. 88. 6 | Ebd., S. 81. 7 | Tac. Ann. 1,11,2-3. Übersetzung nach Tacitus: Annalen (Deutsch von E. Heller). Die Zitate werden im Folgenden anhand dieser Ausgabe angegeben.

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citus’ Stil, ließen sich genauso gut auf den Erzähler der Annalen anwenden, der seine Leser ähnlichen Qualen aussetzt, wie sie bei den Senatoren, die in Tiberius’ Gedanken zu lesen versuchen und ihre Haltung offensichtlich verlieren, seitens Tiberius hervorgerufen werden. Die Reihe der Ereignisse, die zum Machtantritt von Tiberius führt, wird, zumindest in der Erzählung von Tacitus, von Prozessen der Benachrichtigung, Gerüchteverbreitung, von Missverstehen und Verstehen, Entstellung und Verschleierung gesteuert, während der Erzähler das Wort mehrfach an die fama, die die öffentliche Meinung repräsentieren soll, gleichsam übergibt; dies geschieht u.a. gerade beim Vergleich der beiden potentiellen Nachfolger des Augustus, seines Enkelsohns Agrippa Postumus und seines adoptierten Stiefsohns Tiberius (zu dieser Zeit ist Augustus noch am Leben!): »[…] der weitaus größte Teil [der Menschen, Á. T.] verschrie die zu erwartenden Machthaber in Redereien verschiedener Art: Agrippa, trotzig und über seine Entehrung erbittert, sei weder seinem Alter noch seiner Erfahrung nach einer so schweren Aufgabe gewachsen; Tiberius Nero sei zwar reif an Jahren, bewährt im Krieg, aber dem alten, der claudischen Familie angeborenen Hochmut verfallen, und viele Anzeichen eines wilden Sinnes, obschon unterdrückt, brächen hervor.«8 Dementsprechend ist die »erste Untat der neuen Regierung«9 nach dem Machtantritt von Tiberius natürlich die Ermordung des Agrippa Postumus, der noch von Augustus auf die Insel Planasia verbannt wurde. Vor der Analyse der Geschichte des falschen Agrippa lohnt es sich, das Kapitel über die Hinrichtung von Agrippa in seinem Gesamtumfang zu zitieren: Die erste Untat der neuen Regierung war des Postumus Agrippa Ermordung; obwohl er ahnungslos und unbewaffnet war, konnte ihn ein Zenturio bei aller Beherztheit nur mit Mühe überwältigen. Keinerlei Erklärung gab Tiberius dazu vor dem Senat ab: des Vaters10 Anordnung suchte er vorzuschützen (patris iussa simulabat), mit der dieser den Tribunen als Befehlshaber des Wachkommandos angewiesen habe, unverzüglich den Agrippa umzubringen, sobald er selbst aus dem Leben geschieden sei. Viel ohne Zweifel (sine dubio) und bitter hatte sich Augustus über den Lebenswandel des jungen Mannes beklagt und durchgesetzt, daß seine Verbannung durch Senatsbeschluß bestätigt wurde; aber niemals hat er sich bis zur Ermordung eines der Seinen verhärtet, und daß er den Enkel für die Sicherheit des Stiefsohnes habe töten lassen, war nicht glaublich (neque … credibile erat). Es kommt der Wahrheit näher (propius vero) anzunehmen, daß Tiberius und Livia, jener aus Furcht, diese aus stiefmütterlicher Abneigung, den verdächtigen und verhaßten (suspecti et invisi) jungen Mann schleunigst beseitigen ließen. Dem Zenturio, der nach militärischer Sitte meldete, es sei ausgeführt, was er befohlen habe, antwortete Tiberius, er habe den Befehl nicht gegeben und man müsse über die Tat vor dem Senat Rechenschaft ablegen. Als Sallustius Crispus, der in das Geheimnis eingeweiht war (particeps secretorum) – er hatte an 8 | Ebd., 1,4. 9 | Ebd., 1,6,1. 10 | D.h. seines Stiefvaters, des Augustus.

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Ábel Tamás den Tribunen das Handschreiben abgeschickt –, dies erfuhr, fürchtete er, als Angeklagter vorgeschoben zu werden, wobei es gleich gefährlich sei, falsche oder wahre Aussagen zu machen (ficta seu vera promeret), und warnte daher Livia, Geheimnisse des Herrscherhauses (arcana domus), Ratschläge von Vertrauten (consilia amicorum) und Dienstleistungen von Soldaten (ministeria militum) in die Öffentlichkeit tragen zu lassen (ne … vulgarentur); auch solle Tiberius die Macht des Prinzipats nicht dadurch schwächen, daß er alles vor den Senat bringe: dies sei ein Grundsatz jeder Monarchie, daß ein Rechenschaftsbericht nur dann stimmen könne, wenn er dem Herrscher allein vorgelegt werde.11

Die narrative Maschinerie von Tacitus kann in dieser Textstelle gleichsam im Hochbetrieb beobachtet werden: In der autoritären Redeweise des allwissenden Erzählers, der die tatsächliche Motivation und die wirklichen Geschehnisse hinter den Kulissen zu erblicken vermag, werden nicht nur die Behauptungen – genauer die Hypothesen – mithilfe von Hinweisen auf die Glaubhaftigkeit legitimiert (»ohne Zweifel«, »war nicht glaublich«, »[e]s kommt der Wahrheit näher«), sondern es wird unter Außerachtlassung der Verifizierung der Informationen auch von Szenen berichtet, bei denen außer den Teilnehmenden andere Ohrenoder Augenzeugen kaum präsent sein konnten und bei denen der Erzähler, würde er über unhinterfragbare Informationen verfügen, keiner Hypothesen bedürfte.12 Der Satz, in dem von Sallustius Crispus die Rede ist, ist besonders bemerkenswert: Er, »der in das Geheimnis eingeweiht war« (particeps secretorum), warnt Livia davor, »Geheimnisse des Herrscherhauses [d.h. in diesem Fall: die Tatsache, dass die Ermordung von Agrippa von ihm und Tiberius angeordnet wurde – erinnert sei daran, dass dies von Tacitus soeben nur noch für wahrscheinlich gehalten wurde, aber wie anders hätte er verfahren können, wenn es sich nun mal um ein arcanum handelt?], Ratschläge von Vertrauten [in diesem Fall wohl den soeben hervorgebrachten Ratschlag des Freundes] und Dienstleistungen von Soldaten [d.h. wiederum die Weisung zur Ermordung von Agrippa] in die Öffentlichkeit tragen zu lassen [ne … vulgarentur, in einer genaueren Übersetzung: ›so zu verfahren, damit kein Gerede daraus entsteht‹]«. Die Worte von Sallustius, die eine Aufforderung zur geheimen Machtausübung darstellen, verstärken ihren eigenen geheimnisvollen Charakter. Der detaillierte Bericht, den Tacitus über diese Aussagen liefert, könnte nur dann der 11 | Tac. Ann. 1,6. 12 | Dem Bericht des Tacitus zufolge hätte Tiberius die Sache im Senat überhaupt nicht angesprochen. Tacitus fährt fort: »[D]es Vaters Anordnung suchte er vorzuschützen«. Doch wo fand denn diese Verstellung (simulabat) statt? Oder handelt es sich lediglich um eine Andeutung, Anspielung, und darum, dass etwas durchsickern lassen wird? Anzunehmen ist, dass es sich hier um die öffentliche Meinung der Zeitgenossen handelt, auf die sich auch der Ausdruck neque … credibile erat und sogar die Zusammensetzung propius vero beziehen. S. dazu Woodman: Tacitus Reviewed, S. 23-39, mit der Hypothese, dass Tacitus dem Leser Livias Schuld und Tiberius’ Unschuld nahelegen wolle.

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Tatsache zu verdanken sein, dass Livia und Tiberius den geheimen Ratschlag des Geheimrats nicht beherzigten, wenn der Erzähler nicht gerade eben die Identität der wahren Auftraggeber und ihre wirklichen Motivationen mit Hinweis auf ihre Wahrscheinlichkeit hypostasiert hätte; dies versuchte er durch Beobachtungen zu untermauern, wie z.B. durch die Schilderung, dass Livia und Tiberius den Agrippa als einen »verdächtigen und verhassten (suspecti et invisi) jungen Mann« ansahen. Die historiografische Narration enthüllt sich eigentlich als fama: als fiktionale Narrative, die aus Beobachtungen zweifelhafter Abstammung, aus nicht unparteiisch psychologisierenden Schlussfolgerungen und aus Dialogen zusammengestellt wurde, die durch konstruierte, über die Natur der Macht in Umlauf gebrachte, vulgäre Vorstellungen authentifiziert werden. Als eine Narrative also, welche unterbunden zu werden gilt, wie dies gerade in dieser Erzählung Sallustius von der Livia und indirekt auch von Tiberius fordert (ne … vulgarentur). * Es war nicht unbeabsichtigt, die Ermordung von Agrippa, wie sie von Tacitus geschildert wird, so ausführlich zu besprechen. Der Bericht über den falschen Agrippa – der den eigentlichen Gegenstand des vorliegenden Beitrags darstellt und dessen Analyse nun in Angriff genommen werden soll – ist trotz seiner Platzierung im zweiten Buch der Annalen nicht nur eine organische Fortsetzung der Erzählung über Agrippas Tod, sondern er weist auch zahlreiche strukturelle Parallelen mit ihr auf, und zwar v.a. in Bezug auf die Rolle der Kopräsenz von Geheimnis und Gerücht in der performativen Konstituierung des historischen Ereignisses. Über den auf simulatio basierenden Putschversuch, der auch als antiker »Medienhack« aufgefasst werden kann, wird Folgendes berichtet: Im selben Jahr hätte eines einzigen Sklaven Verwegenheit, wenn man nicht rechtzeitig eingeschritten wäre, durch Zwistigkeiten und Bürgerkrieg den Staat von Grund auf erschüttert. Ein Sklave des Agrippa Postumus, namens Clemens, faßte auf die Kunde vom Tod des Augustus den nicht von Sklavensinn zeugenden Entschluß (concepit), nach der Insel Planasia zu fahren, mit List oder Gewalt Agrippa zu entführen (raptum) und zu den germanischen Heeren zu bringen. Sein Wagnis wurde durch die Langsamkeit des Lastschiffes vereitelt; und da inzwischen der Mord an Agrippa geschehen war, wandte er sich einem noch größeren und gefährlicheren Vorhaben zu (ad maiora et magis praecipitia conversus): er stiehlt die Asche (furatur cineres), fährt nach Cosa, einem Vorgebirge Etruriens, und sucht in einer unbekannten Gegend Unterschlupf (ignotis locis sese abdit), bis ihm Haar und Bart lang gewachsen waren: denn an Alter und Aussehen war er seinem Herrn nicht unähnlich. Jetzt läßt er durch geeignete, in seine geheimen Absichten eingeweihte Genossen (per … secreti eius socios)13 13 | In wortwörtlicher Übersetzung: »durch die Gefährten seines Geheimnisses/Geheimnisgefährten«. Der Ausdruck »in seine geheime Absichten« ist eine Übersetzung mit ausdrücklicher Interpretation, in der das secretum selbst mit den lediglich vermutlichen, durch

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Ábel Tamás verbreiten (crebrescit), am Leben sei Agrippa (vivere Agrippam), in vertraulichen Gesprächen (occultis … sermonibus) zunächst, wie bei verbotenen Wagnissen üblich (ut vetita solent), dann in weiteren Kreisen als Gerücht (vago rumore), das gerade bei Unerfahrenen williges Gehör fand (apud … promptas auris) – oder andererseits bei unruhigen und deshalb auf einen Umsturz sinnenden Elementen. Er selbst betrat die Ortschaften nur, wenn es dunkel wurde (obscuro diei), und ließ sich weder in der Öffentlichkeit (propalam) noch länger in der gleichen Gegend sehen (aspici); vielmehr war er, weil sich die Wahrheit durch Augenschein und Dauer (veritas visu et mora), der Trug durch Eile und Unbestimmtheit (falsa festinatione et incertis) durchsetzt (valescunt), schon vor dem Gerücht (famam) weg oder kam ihm zuvor. Inzwischen verbreitete sich (vulgabatur) in ganz Italien die Kunde, gerettet durch die Gnade der Götter sei Agrippa (servatum munere deum Agrippam), und fand auch in Rom Glauben (credebatur Romae); schon umdrängte ihn nach seiner Landung in Ostia eine gewaltige Menschenmenge, schon feierten ihn in der Stadt geheime Zirkel (clandestini coetus), während den Tiberius zwiespältige Sorge zweifeln ließ, ob er mit militärischer Gewalt seinen Sklaven zur Rechenschaft ziehen oder abwarten solle, bis die törichte Leichtgläubigkeit (inanem credulitatem) allein durch den Zeitablauf verschwinde (vanescere); bald glaubte er (reputabat), schwankend (ambiguus) zwischen Ehrgefühl und Angst, nichts gering achten zu dürfen, bald wieder, nicht alles Mögliche fürchten zu müssen. Schließlich übertrug er die Angelegenheit dem Sallustius Crispus. Der wählte aus seinen Klienten zwei aus – einige berichten, es seien Soldaten gewesen (quidam milites fuisse tradunt) – und wies sie an, unter geheucheltem Einverständnis (simulata conscientia) an Clemens heranzutreten, ihm Geld anzubieten, treue Hilfe (fidem) in allen Gefahren zu versprechen. Sie taten, wie ihnen befohlen. Dann erkundeten sie eine Nacht, in der er nicht bewacht war, nahmen eine brauchbare Mannschaft mit und schleppten ihn gefesselt mit zugebundenem Mund (clauso ore) in den Palast. Auf die Frage des Tiberius, wie er Agrippa geworden sei (quo modo Agrippa factus esset), soll er geantwortet haben (respondisse fertur): »So wie du Caesar!« (›quo modo tu Caesar.‹) Helfershelfer zu nennen ließ er sich nicht zwingen. Andererseits wagte es Tiberius nicht, ihn in der Öffentlichkeit (palam) zu bestrafen, sondern ließ ihn in einem entlegenen Teil des Palastes (in secreta Palatii parte) hinrichten und die Leiche heimlich (clam) fortschaffen. Und obwohl man von vielen Angehörigen des Kaiserhauses, auch Rittern und Senatoren sagte (dicerentur), sie hätten ihn mit Geldmitteln unterstützt und mit Ratschlägen gefördert, ging man dem nicht nach.14

Tony Woodmann wies darauf hin, dass Tacitus das Umschwenken von Clemens – d.h. die Absicht, sich als Agrippa auszugeben – mit einer Formulierung anzeigt (ad maiora et magis praecipitia conversus, er »wandte […] sich einem noch größeren und gefährlicheren Vorhaben zu«), die sich an die Charakterisierung von den Narrator nie ausgesprochenen geheimen Absichten des Clemens identifiziert wird. Uns ist bloß ein einziges Geheimnis von Clemens bekannt: Dass er nicht Agrippa, sondern Clemens ist. Seine Absichten sind indessen so geheim, dass man nur Vermutungen anstellen kann. S. dazu das »Geheimnisregister« am Ende meiner Studie. 14 | Tac. Ann. 2,39f.

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Agrippa, wie sie von Velleius Paterculus geäußert wurde, anlehnt (in praecipitia conversus).15 Dadurch werde, zumindest für die, die diese Allusion zu detektieren vermögen, im intertextuellen Sinn jene Simulation durch den Erzähler des Tacitus wiederholt, die sich auf der Ebene der Geschichte vollzieht: Sprachlich werde Clemens durch den Erzähler als Agrippa maskiert.16 Und noch zwei Anmerkungen dazu: Einerseits hört hier Clemens auch in dem Sinn auf, Clemens zu sein, dass er jene Charakterzüge, die sein sprechender Name ausdrückt (›zahm, ruhig, fromm‹), ablegt und sogar dermaßen gefährlich wird, dass er, wie der Historiograf nahe legt, imstande gewesen wäre, den Staat in den Bürgerkrieg zu stoßen. (Der historiografische Diskurs, wie er in diesem Typus von »was hätte geschehen können?« erscheint, ist schon deshalb bemerkenswert, weil er der geschichtlichen Fiktion immer freie Bahn bereitet. Die Möglichkeit einer »kontrafaktischen Historiografie« stellt Verbindungen zur zeitgenössischen geschichtlichen Epik her. Es ist zugleich ein Vorzeichen dafür, dass es sich im Weiteren um eine Geschichte handeln wird, die gerade im Zeichen der Kontrafaktualität »geschrieben wird«: Wie hätten sich die Geschehnisse entwickeln können, wenn Agrippa doch nicht gestorben wäre? In seiner Geschichte tritt Clemens dementsprechend als Autor einer solchen kontrafaktischen geschichtlichen Narrative, d.h. fama, auf.17) Andererseits macht Tacitus gewissermaßen nichts Anderes, als die metaphorischen Möglichkeiten im Ausdruck conversus zu entfalten: conversus, d.h. das participium perfectum passivi des Verbs converto, bedeutet nämlich nicht nur, dass sich jemand ›an etwas wendet‹ – bzw. dass jemand, wie bei Velleius, ›auf etwas gefasst‹ ist –, sondern es kann auch die ›Wende‹, ja sogar die ›Umwandlung‹ einer Person bezeichnen.18 Proleptisch gesehen haben wir es hier eben mit dem Letzteren zu tun: mit der baldigen, selbst entschiedenen Metamorphose von Clemens in Agrippa, die gerade in der Wendung conversus angezeigt ist und auf die Tiberius mit seiner Frage (quo modo Agrippa factus esset, »auf welche Weise er Agrippa geworden sei«) später anspielt. Es handelt sich also um eine Art Geschichte einer Metamorphose, die auf der Ebene des literarischen Gedächtnisses v.a. natürlich die Metamorphoses von Ovid zitiert.19 Eine Geschichte einer Metamorphose, die jedoch konträr zum ovidschen Schema ausgerichtet ist: Die Umwandlung weist 15 | Vell. 2,112,7. 16 | Woodman: Introduction, S. 2f. Auf diesen Anklang machte die Kommentarliteratur auch schon aufmerksam (vgl. Goodyear: Annals of Tacitus, S. 308); somit kann sich der Leser, der Tacitus mit Kommentaren vor sich hat, auf diese Allusion stützen. 17 | Dániel Kozák machte mich auf die Auseinandersetzungen mit dem geschichtlichen Epos von Silius Italicus über den zweiten punischen Krieg aufmerksam, in denen heute gerade solche Fragen in den Mittelpunkt des Interesses gerückt sind, vgl. Cowan: Virtual Epic. 18 | Vgl. OLD S. 439f., s. v. conuerto; insb. die Bedeutungen in den Punkten 6, 7 und 8. 19 | Hier sei angemerkt, dass Ovid über seine Verbannung während seines Aufenthaltes auf Elba, der Nachbarinsel von Planasia, ein bis zwei Jahre nach der Verbannung von Agrippa informiert wurde.

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hier nicht auf einen menschliche Taten bestrafenden oder belohnenden göttlichen Akt hin, sondern auf eine allzumenschliche Konstruktion, die von dem metamorphotischen Charakter der fama profitiert, der sich inhaltlich und per­ spektivisch sowie tendenziell ist stetem Wandel befindet und alles zu verändern, umzuformen vermag. Es handelt sich um jene Fama, die nicht nur im Buch 4 der Aeneis von Vergil personifiziert wird, sondern auch in Ovids Metamorphoses mit dem Hinweis auf ihr Vermögen, alles umwandeln zu können, dargestellt wird.20 Ihre Präsenz in der epischen Dichtung macht einerseits deutlich, dass sich die Sammlung, die Aufzeichnung, die Vermittlung und Verbreitung von Informationen keinen Augenblick von jenem Inhalt der Informationen abkoppeln lassen, der gerade diesen Mechanismen ausgesetzt ist, und dass diese Mechanismen andererseits den Inhalt der von der epischen Dichtung vermittelten »Informationen« und somit die epische/narrative Autorität selbst stark beeinflussen können. Mutatis mutandis zeugt die »fama-Episode« bei Tacitus von etwas Ähnlichem: Indem der Geschichtsschreiber eine Parabel für das Funktionieren der Gerüchte in der Geschichte vom falschen Agrippa entwirft, zeigt er zugleich performativ auf, in welchem Maß seine eigene Erzählung samt den »Informationen«, die sie enthält bzw. vermittelt, der destabilisierenden Macht der fama ausgeliefert ist. Die Narrative über den falschen Agrippa wird durch jene Kopräsenz von secretum und fama, von Geheimnis und Gerücht, systematisch gesteuert, die nicht nur die Herrschaft von Tiberius – und potenziell auch jene von Pseudo-Agrippa –, sondern auch die Narration von Tacitus als problematisch erscheinen lässt. Im Folgenden soll deshalb die Erzählung von Tacitus auf diese Zusammenhänge hin in Kommentarform analysiert werden, wobei die Untersuchung natürlich beim zweiten Satz nach dem bereits analysierten conversus ansetzt. Als Abschluss nach den Kommentaren sollen ein Überblick und eine kurze Interpretation der Gestaltwandlungen des ›Geheimnisses‹ in dieser Narrative geboten werden. [E]r stiehlt die Asche (furatur cineres), fährt nach Cosa, einem Vorgebirge Etruriens, und sucht in einer unbekannten Gegend Unterschlupf (ignotis locis sese abdit), bis ihm Haar und Bart lang gewachsen waren: denn an Alter und Aussehen war er seinem Herrn nicht unähnlich.

Die im Geheimen vollzogene Metamorphose erfolgt natürlich heimlich, in einer »unbekannten Gegend«. Die Frage ist nur: Für wen ist diese Gegend unbekannt? Handelt es sich um eine objektive Anmerkung des Geschichtsschreibers, der von dem genauen Aufenthaltsort von Clemens in dieser Übergangsphase – nämlich in der instabilen Phase der Metamorphose – nicht berichten kann, oder um eine interne Fokalisierung, bei der das Adjektiv »unbekannt« darauf hinweisen soll, dass all dies ein Teil jener Strategie war, unseren Helden gleichsam aus dem Nichts als falschen 20 | Verg. Aen. 4,173-197; Ov. Met. 12,39-63. Zu diesen epischen Darstellungen der Fama s. Hardie: Rumour, S. 78-177.

Geheimnis und Gerücht

Agrippa hervortreten zu lassen? Beides ist am Werk, und das hat weitreichende Konsequenzen für die Gesamtheit der Narrative: Die Unsicherheit bzw. das Verfahren, jemanden in Unsicherheit zu halten, wird zum grundlegenden Strukturmoment nicht nur der erzählten Geschichte, sondern auch der Erzählung selbst. Der Leser als Rezipient dieses historiografischen Werkes kann sich dementsprechend in einer ähnlichen Situation finden wie die Zeitgenossen, die die Ereignisse verfolgten und die Tacitus zufolge beinahe zu Gestaltern der Geschehnisse avancierten. Die Kommentatoren von Tacitus stellen die Frage, warum der Diebstahl der Asche als Notwendigkeit dargestellt wurde. Ich zitiere den maßgebenden und sonst auch ausgezeichneten Kommentar von Cambridge: »Why? [D.h. warum stahl Clemens die Asche?] Not, unless he was naive, to prevent their use as proof of Agrippa’s death, for one pile of ashes is much like another, as Freinsheim says. Perhaps he is simply wished to find them another and happier resting-place (Lipsius): cf. Suet. Gaius 15.1. But I cannot really make sense of the story.«21 Abgesehen davon, dass diese Auslegung auch von den Realien ausgehend entkräftet werden könnte, scheint mir viel wichtiger zu sein, dass der Kommentator an dieser Stelle gleichsam nicht den Text des Geschichtsschreibers, sondern die Geschichte selbst zu lesen versucht. Und das, obwohl der Text bereits eine starke Antwort auf seine Frage bereitstellt. Clemens versucht nämlich zuerst, Agrippa aus der Verbannung zu entführen (raptum), nach der Bekanntgabe seines Todes jedoch begnügt er sich bloß mit der Entführung seiner Identität: Deren Symbol ist der Diebstahl der Asche (furatur), der ihm im Rahmen eines quasimagischen Aktes Agrippas »Wiedergeburt« in der Gestalt von Clemens ermöglicht. Dies lässt sich auch auf das Verb concepit im vorangehenden Satz beziehen, das zunächst natürlich »er fasste den Entschluss« bedeutet, das aber gleichzeitig die Bedeutung von ›Geburt‹ und ›Zeugung‹ beinhaltet22 und uns ermöglicht, die Umwandlung von Clemens als eine antike Geschichte des Klonens aufzufassen. Bemerkenswerterweise hilft uns also gerade das sich auf den gesunden Menschenverstand berufende Unverständnis des Kommentators, einen ausschlaggebenden poetischen Zusammenhang zu entdecken. Jetzt läßt er durch geeignete, in seine geheimen Absichten eingeweihte Genossen verbreiten, am Leben sei Agrippa (tum per idoneos et secreti eius socios crebrescit vivere Agrippam)

An diesem Punkt der Erzählung erfolgt eine äußerst spektakuläre Verflechtung von secretum und fama, von Geheimnis und Gerücht, indem gerade die in das Geheimnis eingeweihten Genossen als Personen auftreten, die die falsche Nachricht verbreiten helfen. (Worin dieses Geheimnis besteht, soll am Ende meines Beitrags geklärt werden.) Denken wir doch an den Ratschlag von Sallustius als particeps secretorum: Aus den Geheimnissen sollen keine Gerüchte werden! Im Gegensatz 21 | Goodyear: Annals of Tacitus, S. 309. 22 | Vgl. OLD S. 388, s. v. concipio, insb. die Bedeutungen in den Punkten 3 und 9.

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zu der von Sallustius angesprochenen Formel jedoch bedeutet die fama nicht das Ausplaudern eines Geheimnisses, sondern – mit der Simulation des Ausplauderns – die Verbreitung einer falschen Information (»Am Leben sei Agrippa!«: das ist die fama selbst, genauer ihr nackter und natürlich falscher Informationskern) durch Personen, die als Verschwörer in ein Geheimnis eingeweiht sind, das einen der fama entgegen gesetzten Sinn hat. Clemens verkehrt also den ihm natürlich unbekannten Ratschlag von Sallustius gleichsam in sein Gegenteil. In den epischen fama-Episoden wird die Natur des Gerüchtes als eine Vermengung von Wahrem und Falschen charakterisiert. Im Vergleich dazu fällt die Extremität von Tacitus ins Auge: Während Sallustius mit dem Argument zur geheimen Machtausübung auffordert, das Gerücht (vera fama) könne die wahren Geheimnisse der Herrschaft leicht bloßlegen, kommt im Falle von Clemens dem Gerücht die Funktion zu, eine gänzlich falsche Information (falsa fama) in der Gesellschaft zu verbreiten. Die Opposition von Wahrem und Falschem wird erst die Pointe der Erzählung abbauen. [I]n vertraulichen Gesprächen zunächst, wie bei verbotenen Wagnissen üblich, dann in weiteren Kreisen als Gerücht, das gerade bei Unerfahrenen williges Gehör fand – oder andererseits bei unruhigen und deshalb auf einen Umsturz sinnenden Elementen. (occultis primum sermonibus, ut vetita solent, mox vago rumore apud inperitissimi cuiusque promptas auris aut rursum apud turbidos eoque nova cupientis)

Das Gerücht verbreitet sich also, wie es im Buch – d.h. in den epischen fama-Episoden – geschrieben steht. Die »in das Geheimnis Eingeweihten« konnten das geheime »Gerücht« verbreiten: Die occulti sermones können die Mitteilung(en) und den Gegenstand der Mitteilung(en) gleichzeitig bezeichnen. Das falsche Gerücht flattert auf, und zwar genau in die Richtung, in die der falsche Agrippa seinen Weg einschlägt; dies wird ermöglicht durch das Vorhandensein eines Umfelds der Rezipienten, das sich als fruchtbarer Nährboden für das Gerücht erweist: als Gehör23 der unwissenden bzw. unruhigen und sich nach dem Neuen sehnenden Menschen. Das Gerücht erscheint als ein die Gesellschaft destabilisierendes und die politische Macht bedrohendes sozialpsychologisches (massenpsychologisches) Phänomen,24 und zwar mit einer Beschreibung seines Funktionierens, die bei Vergil und Ovid ähnlich zu finden ist und dieses Phänomen v.a. als eine Naturerscheinung begreifbar macht. Es handelt sich primär um das auch bei Ovid nachvollziehbare akustische Phänomen, dem in diesem Fall die Vorstellung von einer epidemischen oder 23 | Vgl. bei Ovid cavas ad aures (12,42); vacuas aures (12,56) bzw. in Form von abstrakten menschlichen Eigenschaften (s. das Folgende). 24 | Der ausgezeichnete ungarische Altertumsforscher Gyula Hornyánszky trug in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich zur Aufdeckung von massenpsychologischen Zusammenhängen der antiken Geschichte bei. Vgl. die kurze Zusammenfassung seiner Forschungen in Hornyánszky: Görög társadalomrajz, S. 236-241.

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lauffeuerartigen Ausbreitung beigegeben wird: Das Gerücht verbreitet sich dank der jeweiligen psychischen Einstellung der Menschen blitzschnell von Ohr zu Ohr – an diese Einstellungen wird auch in Ovids Vision von Leichgläubigkeit, Arglosigkeit, Schadenfreude, Angst, Aufruhr und Gezischel in Famas Haus erinnert.25 Der Leichtgläubigkeit kommt bald auch in unserem Fall eine wichtige Rolle zu. Er selbst betrat die Ortschaften nur, wenn es dunkel wurde (obscuro diei), und ließ sich weder in der Öffentlichkeit (propalam) noch länger in der gleichen Gegend sehen (aspici); vielmehr war er, weil sich die Wahrheit durch Augenschein und Dauer (veritas visu et mora), der Trug durch Eile und Unbestimmtheit durchsetzt (falsa festinatione et incertis valescunt), schon vor dem Gerücht (famam) weg oder kam ihm zuvor.

Handelte der vorangehende Satz noch von der Akustik, so gehört der soeben zitierte Satz der Visualität, und zwar im Zeichen der Opposition »hell/Wissen/ Wahrheit« vs. »dunkel/Unwissen/Falschheit«, und weist in seinem rhetorischen Auf bau auf eine soziale Gesetzmäßigkeit hin, die ebenfalls in Anlehnung an die Naturgesetze geschildert wird.26 Das falsche Gerücht, das sich akustisch, von Ohr zu Ohr geflüstert verbreitet und verstärkt, muss auch visuell genährt werden, um den inhaltlichen Umschwung in sein Gegenteil zu verhindern: Clemens tut sein Bestes, sich in einer Weise zu zeigen, in der die Wahrheit verdeckt bleibt (vgl. in Dunkelheit, »weder in der Öffentlichkeit noch länger in der gleichen Gegend«). Der visuelle falsche Agrippa beschreitet genau den gleichen Weg wie die akustische Fama, die als die andere Protagonistin der Geschichte vom Narrator des Tacitus beim Namen genannt wird, jedoch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit: Einmal überholt er, ein anderes Mal geht er dem falschen Gerücht, der falsa fama voraus, um ihm eben den Nährboden vorzubereiten und es gleichzeitig keinesfalls zu dementieren.27 Die Bewegung der beiden weist indessen eine Reihe von 25 | Ov. Met. 12,59-61: »Töricht Vertrauen ist da, da ist voreiliger Wahn, ist/eitle Freude, da sind die sinnverwirrenden Ängste,/plötzlicher Aufruhr und Gezischel aus fraglichem Ursprung.« (Übersetzung nach Ovid: Metamorphosen, deutsch von E. Rösch) 26 | Ries: Gerücht, S. 157: »Die Verbindung von Parallelismus im Großen (jedes Kolon besteht aus 1+2 Substantiven) und Variatio im Kleinen (dem Singular-Substantiv veritas entspricht der Plural des substantivierten Adjektivs falsa), dazu der Chiasmus zwischen visu und incertis, mora und festinatione, schließlich die doppelte Alliteration veritas visu und falsa festinatione – diese Ausschmückung läßt uns vermuten, daß hier nicht nur, wie es die Syntax nahelegt, eine Begründung (quia) für den Schlußteil des Hauptsatzes (relinquebat famam aut praeveniebat) gegeben werden soll. Mindestens ebenso wichtig – das zeigt das gnomisch verwendete Präsens – erscheint es unserem Autor, in diesem Kausalsatz eine Gesetzmäßigkeit zu formulieren, d.h. den vorliegenden Fall ins Allgemeingültige auszuweiten.« 27 | Das relinquebat bedeutet hier natürlich nicht nur, dass der falsche Agrippa seine fama »überholt«, sondern auch, dass er eine Portion fama an der vorigen Aufenthaltsstelle »hinter sich lässt«. Für diese treffende Beobachtung bin ich Dániel Kozák zu Dank verpflichtet.

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Ähnlichkeiten auf: Wie die Fama sich in Form von geheimem Gerede verbreitet, so lässt sich auch Clemens nur in einer gewissen Distanz von der Öffentlichkeit, d.h. »im Geheimen«, blicken. (Eine kleine Anmerkung zum Filmischen der Narration bei Tacitus: Die visuelle Wahrnehmbarkeit von Clemens in den unterschiedlichen Städten wird so vage und zerrissen wie eine qualitätsschwache, mit vielen Schnitten operierende, den Protagonisten nie in Vorderansicht zeigende schwarzweiße Filmaufnahme. Oder sogar vielmehr wie eine Aufnahme mit versteckter Kamera.) Der falsche Agrippa verfolgt an diesem Punkt nichts Anderes als die Versteckstrategie des Tiberius: Die von Tacitus mehrfach akzentuierten Merkmale des Kaisers sind ja seine Distanz von der Öffentlichkeit, seine seltene Sichtbarkeit, seine Vagheit.28 Dadurch wird Clemens, und das ist Ausschlag gebend für die folgenden Ausführungen, zur Trope des Tiberius, während das Gerücht über Clemens zur Trope der »Tiberian hexad« der Annalen wird. Inzwischen verbreitete sich in ganz Italien die Kunde, gerettet durch die Gnade der Götter sei Agrippa, und fand auch in Rom Glauben (Vulgabatur interim per Italiam servatum munere deum Agrippam, credebatur Romae).

Der Ausdruck vulgabatur (man sprach herum) kommt der Natur des Gerüchtes sehr nahe, indem er nicht nur seinen vulgären Charakter, sondern auch den Prozess seiner Verbreitung von Mund zu Mund im Volk ausdrückt: Dieses Verb ist auch im Kapitel über den Tod Agrippas zu finden, in dem Sallustius die Livia warnt, aus den Akten der geheimen Machtausübung kein Gerücht entstehen zu lassen (ne … vulgaretur). Der Gegenstand des vulgabatur ist also das Gerücht selbst, das an dieser Stelle in einer spannend modifizierten Form auftritt.29 Die fama hat natürlich keine singulär authentische Form, denn sie kann nur in ihrer Variabilität charakterisiert werden; sollte sie von einem Autor sozusagen zitiert werden, kann es sich auch nur um eine einzige, aus vielen Varianten herauskristallisierte »Nachricht« handeln. Interessanterweise wird sie aber bei Tacitus sogar zweimal zitiert, und zwar in zwei unterschiedlichen Formen, wodurch eine feine und den vermutlichen Zielen des falschen Agrippa keineswegs widersprechende Modifikation des Gerüchtes explizit sichtbar wird: Während im vorangehenden Kapitel die Worte vivere Agrippam (»am Leben sei Agrippa«) den Inhalt der fama anzeigten, taucht er hier in einer abgewandelten Form auf: servatum munere deum Agrippam (»gerettet durch die Gnade der Götter sei Agrippa«). Worin könnte – natürlich neben der stilistischen variatio – der Sinn dieser Modifizierung und Ergänzung bestehen? Das servatum (wortwörtlich: 28 | Vgl. O’Gorman: Irony and Misreading, S. 81. 29 | Ries: Gerücht, S. 158: »… in der Formulierung dagegen finden wir einen Unterschied, der sehr aufschlußreich ist. vivere Agrippam hieß es 39, 3; in 40, 1 hingegen lautet der Text: servatum munere deum Agrippam. Das ist weit mehr als eine schriftstellerische Variante des knappen Verbs vivere. Tacitus dokumentiert damit, daß er die Psychologie des Gerüchts genau kennt.«

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»blieb erhalten«) beinhaltet das Moment der Rettung, wodurch die Information über Agrippas Tod von der fama nicht einfach, wie in der früheren Variante, als falsch dementiert wird (»es ist unwahr, dass er ermordet wäre«), sondern sie wandelt sich in dem Sinne ab, dass »der Mordversuch fehlschlug«, sei es wegen des Widerstands von Agrippa (auf den Tacitus an der entsprechenden Stelle hinweist) oder anderen Umständen zufolge. Das Kriterium munere deum (»durch die Gnade der Götter«) stellt zugleich einen eindeutig positiven religiösen und politischen Kontext her: Das Ziel der Götter, die das Leben von Augustus’ Enkel retteten, konnte ja nichts Anderes sein, als ihm eine politische Rolle zukommen zu lassen. An diesem Punkt avanciert »Agrippa« (d.h. der sich als Agrippa aufspielende Clemens) zum Schützling der Götter und zum Anwärter auf die Macht. Der Ausdruck credebatur Romae (es »fand auch in Rom Glauben«) stellt eine bemerkenswerte Zusammensetzung in zweierlei Hinsicht dar: Erstens erfährt der Leser in diesem Fall, dass die Nachricht dem Hochstapler vorangegangen war (Erst der zweite Satz handelt von seiner Ankunft in Ostia, während die Nachricht bereits in Rom umgeht!), zweitens scheint hier das Moment des fingere im Gegensatz zu den beiden anderen Hochstaplergeschichten von Tacitus (über den falschen Drusus und die falschen Neros), in denen das Verb credere, ›glauben‹ mit dem Verb fingere, ›erfinden, erschaffen‹ (vgl. Fiktion) gemeinsam vorkommt,30 zu fehlen, aber in Wirklichkeit ist es weitgehend und in beiden Bedeutungen des Wortes präsent:31 Clemens verwandelt sich einerseits im Rahmen einer politischen Fiktion tatsächlich in Agrippa (vgl. den späteren Dialog mit Tiberius, factus esset), andererseits kommt jene fiktionale Narrative in Form einer von Clemens und seinen Genossen verbreiteten fama zustande, an der die Römer einfach nur noch glauben mussten. schon umdrängte ihn nach seiner Landung in Ostia eine gewaltige Menschenmenge, schon feierten ihn in der Stadt geheime Zirkel (clandestini coetus)

Es handelt sich selbstverständlich um »geheime Zusammenkünfte«, und zwar nicht nur, weil die Sache immer mehr den Charakter einer Revolte und des Hochverrats annimmt, sondern auch wegen der Erwartungen, die eine Narrative stellt, die im Zeichen des secretum entstand und im Zeichen des secretum ihr Ende nehmen wird. Der Inhalt wird hier eindeutig durch die narrative Form hergestellt (vgl. the content of the form). während den Tiberius zwiespältige Sorge zweifeln ließ, ob er mit militärischer Gewalt seinen Sklaven zur Rechenschaft ziehen oder abwarten solle, bis die törichte Leichtgläubigkeit (inanem credulitatem) allein durch den Zeitablauf verschwinde (vanescere).

30 | Tac. Ann. 5,10: fingebant simul credebantque; Tac. Hist. 2,8,1: fingentibus credentibusque, vgl. Haynes: The History, S. 8. 31 | Vgl. ebd., S. 10.

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Auch an dieser Stelle soll auf das Filmische der Narration hingewiesen werden: Auf Ostia folgt ein allgemeines Rombild, um mit einem raschen Schnitt auf den Palatin zu kommen und sogar durch die Kamera das Gesicht von Tiberius zu sehen, so nah, dass man – dank der Technik der Psychonarration – in seine Seele blicken kann. Das »Verflüchtigen« der auch bei Ovid vorhandenen credulitas (›Leichtgläubigkeit‹) verdient schon deshalb unsere Aufmerksamkeit, weil hier eine offensichtliche metonymische Vertauschung des Gerüchtes und der Leichtgläubigkeit als seines fruchtbaren Nährbodens vor sich geht: In Wirklichkeit ist es nicht die leere Leichtgläubigkeit (vgl. die leeren Ohren, die stets mit neuen Informationen gefüllt werden wollen), die sich zu verflüchtigen vermag (vanescere), sondern das aktuelle Gerede, das sich aus den leeren, nach Gerede durstenden Ohren verflüchtigt, genau so wie es sich damals mithilfe dieser Ohren verbreitet (crebrescere) bzw. verstärkt hatte (valescunt): die drei Verben mit dem Affix -sc für den Inchoativ dienen offensichtlich der »naturwissenschaftlichen« Beschreibung der Verbreitung, Verstärkung und Verteilung von Gerede als akustischem Phänomen.32 bald glaubte er (reputabat), schwankend zwischen Ehrgefühl und Angst (ambiguus pudoris ac metus), nichts gering achten zu dürfen, bald wieder, nicht alles Mögliche fürchten zu müssen

In Ovids Erzählung war Actaeon mit einem ähnlichen Dilemma konfrontiert: Nach seiner Verwandlung in einen Hirsch konnte er sich nicht entscheiden, ob er in den Königspalast zurückkehren oder im Wald ausharren solle – ersteres untersagte ihm die Angst, letzteres die Scham.33 Es ist weitgehend charakteristisch, wie das Dilemma von Tiberius die Form der ambiguitas annimmt: Der Kaiser ist ambiguus nicht nur vor der Öffentlichkeit, sondern auch in seiner inneren Grübelei, die nur durch den Narrator von Tacitus zugänglich wird. Die psychologisierende Schilderung des Geschichtsschreibers deckt wiederum ein Geheimnis auf: Die Geheimnisse eines kaiserlichen Herzens. Die Angst vor Beschämung gewährt zugleich einen Einblick in einen zweiten Aspekt der fama, nämlich in den auch durch das Verb reputabat verstärkten Aspekt der Reputation (›guter Ruf, Ruhm‹). Tiberius muss aufpassen, denn wenn er auf die Angst hört und »nichts gering achtet«, riskiert er seinen Ruf: Mit seinem Verhalten kann er neuere Gerüchte generieren, die seine Ängstlichkeit – und somit seine Verletzbarkeit und Schwäche – aufs Korn nehmen, was er sich aber nicht erlauben darf. Eine irrtümliche Behandlung der durch die fama konservierten politischen Gefahr kann also neuere und ebenfalls gefährliche Gerüchte entstehen lassen. 32 | Zu Parallelitäten zwischen crebrescere und vanescere vgl. Hardie: Fame’s Narratives, S. 567. 33 | Ov. Met. 3,204f.: quid faciat? repetatne domum et regalia tecta/an lateat silvis? pudor hoc, timor inpedit illud. (»Was soll er tun? Zum Haus des Königs zurückfliehn, im Wald sich/bergen? Die Scham, die Furcht verbietet das Eine, das Andre.«)

Geheimnis und Gerücht Schließlich übertrug er die Angelegenheit dem Sallustius Crispus.

Logischer hätte sich der Kaiser auch nicht entscheiden können, zumindest nicht in dem narrativen Rahmen des Tacitus. Der Name von Sallustius kann in diesem Zusammenhang mit der auf Geheimnis gründenden Machtausübung – und mit dem Wissen um die realen Umstände von Agrippas Tod – als gleichwertig angesehen werden. Nur er kann die im Geheimen entstandene fama – und damit ihren Autor – insgeheim ins Jenseits befördern. Der wählte aus seinen Klienten zwei aus – einige berichten, es seien Soldaten gewesen (quidam milites fuisse tradunt) – und wies sie an, unter geheucheltem Einverständnis (simulata conscientia) an Clemens heranzutreten, ihm Geld anzubieten, treue Hilfe (fidem) in allen Gefahren zu versprechen. Sie taten, wie ihnen befohlen. Dann erkundeten sie eine Nacht, in der er nicht bewacht war, nahmen eine brauchbare Mannschaft mit und schleppten ihn gefesselt mit zugebundenem Mund (clauso ore) in den Palast.

Wie es von Philip Hardie angemerkt wurde, enthüllt sich die Narrative über die fama auch in diesem Fall als fama.34 Offensichtlich macht der Narrator von Tacitus auch hier deutlich, wie sehr seine Informationen unzuverlässig sind und beruft sich eigentlich auf ein Gerede über die möglichen Delinquenten des falschen Agrippa (»einige berichten, es seien Soldaten gewesen«). Die Rolle der simulatio besteht lediglich darin, mithilfe einer falschen Narrative die vorherige Narrative außer Kraft zu setzen; auch die Methoden sind ähnlich: Wie Clemens bevorzugen auch seine Mörder die Nacht, die die Geheimbündelei begünstigt.35 Die Mehrdeutigkeit der fides soll hier hervorgehoben werden: Die Beauftragten des Sallustius versprechen Clemens ›Treue, Vertrauen‹, was zugleich ›Glauben‹ bedeutet. Sie versprechen ihm nämlich, ihm zu glauben, er sei derjenige, als der er sich ausgibt. Anders formuliert treten die vermeintlichen Soldaten als geübte Leser der falsa fama über den falschen Agrippa auf, als Personen, die bereit sind zu akzeptieren, dass der Autor in dieser nun in erster Person Singular erzählten fiktionalen Narrative eben dem Protagonisten entspricht. Und in diesem Moment werden auch die »geübten Leser« zum Teil der Fiktion: Sie maskieren sich »unter geheucheltem Einverständnis«, genauer »unter geheuchelter Unterstützung seiner Absicht/ unter geheuchelter Bereitschaft zur Verschwörung« (simulata conscientia)36 als Verschwörer und verschleiern, dem Protagonisten nicht unähnlich, ihre wahren 34 | Hardie: Fame’s Narratives, S. 568, im Bezug auf die fertur im nächsten Satz, was auch für das tradunt ebenda gilt. 35 | Vg. ebd., S. 567. 36 | Zum Bedeutungsfeld des Wortes vgl. OLD S. 411, s. v. conscientia. Hier ist v.a. die Bedeutung 1b als relevant anzusehen (›the fact of being privy to a crime, complicity‹). Vgl. noch Goodyear: Annals of Tacitus, S. 311 ad loc. (»They pretended they were privy and sympathetic to his designs.«)

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Absichten. (Clemens geht nicht zufällig in die Falle: Sein Plan hätte nur dann zum Erfolg führen können, wenn sich ihm möglichst viele einflussreiche Personen aus dem Umfeld des Kaisers angeschlossen hätten.) Liest man den Ausdruck simulata conscientia indessen wortwörtlich, kann er sich als paradox erweisen: Die Agenten des Sallustius täuschen gerade nicht ihr ›Mit-Wissen‹ (con-scientia) mit Clemens vor. Würden sie es nämlich deutlich machen – und nicht verschleiern –, dass sie wissen, was er weiß (d.h. Clemens ≠ Agrippa), könnten sie dem Hochstapler sofort als verdächtig erscheinen. Was aber das andere Geheimnis, nämlich den Machtanspruch betrifft, können sie ihre heuchlerische conscientia zum Ausdruck bringen. Auch das Moment des Zubindens des Mundes verdient Aufmerksamkeit: Es handelt sich wiederum um das Einhalten des Prinzips von Sallustius, dass es mit allen Mitteln zu verhindern gilt, Gerede über die geheimen Maßnahmen des Kaisers entstehen zu lassen. Auf die Frage des Tiberius, wie er Agrippa geworden sei, soll er geantwortet haben: ›So wie du Caesar!‹ (percontanti Tiberio quo modo Agrippa factus esset respondisse fertur ›quo modo tu Caesar.‹)

Hier liegt die Pointe, die zugleich der berühmteste Satz der Episode ist, vor: die kurz, aber umso prägnanter geschilderte Konfrontation des Sklaven und des Kaisers. Interessanterweise will der Kaiser genau die Art und Weise der Metamorphose in Erfahrung bringen, worauf der bloßgestellte falsche Agrippa ohne Zögern seine pointierte Antwort gibt. Holly Haynes liest den Dialog selbstverständlich im Einklang mit ihrem Interpretationsmuster als die Bloßstellung der Macht als fiktionaler Konstruktion; Philip Hardie setzt sich indessen mit dem Aspekt der fama auseinander: Einerseits mache der Erzähler an dieser Stelle, an der das einzige direkte Zitat von Clemens steht, deutlich, dass seine eigenen Quellen auch nichts Anderes seien als das Gerede selbst (Agrippa »soll geantwortet haben«, respondisse fertur), andererseits gelte es, auch den Sinn des Witzes auf die fama zu beziehen. Clemens hätte sich ja genauso durch die Generierung von Gerede in Agrippa verwandelt, wie Tiberius durch die auf Nachrichtenmanipulation gerichtete Tätigkeit von Livia zum Kaiser auserkoren worden sei.37 Diese treffenden Beobachtungen sollen um den Aspekt des secretum ergänzt werden, der die Umwandlung von Clemens in Agrippa, den Machtantritt von Tiberius und die Narration von Tacitus gleichermaßen prägt. In der Analogie quo modo – quo modo (»wie« – »so wie«) spielt neben der simulatio und der fama auch das Geheimnis (d.h. Geheimbündelei, Aktivitäten hinter den Kulissen, Vagheit, Unzugänglichkeit) eine wichtige Rolle. Die geistreiche Äußerung von Clemens stellt eine Anekdotenvariante über Alexander den Großen dar. Im Kommentar von Cambridge steht: »Clemens does not mean he too had been adopted, but that they had both usurped places to which they 37 | Vgl. Haynes: The History, S. 9f.; Hardie: Rumour, S. 565-568.

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had no right (Seager 176). Wölfflin, Philologus 30 (1870), 744, observes that their dialogue recalls Alexander’s with the pirate, narrated at Cic. Rep. 3.24 (cf. August. Ciu. 4.4.) nam cum quaereretur ex eo quo scelere inpulsus mare haberet infestum uno myoparone, ›eodem‹, inquit, ›quo tu orbem terrae‹ [Denn als man ihn fragte, von welcher Verruchtheit getrieben er mit einem Kaperschiff das Meer gefährlich mache, sagte er: ,Von derselben, von der du den Erdkreis.‹38]. These similarities hardly justify him in finding here a ,Nachbildung‹. But, even if the story is apocryphal, it still, as Seager says, tellingly echoes the sneers which Tiberius’ accession engendered and to which he was not a little sensitive (1.7.7).«39 Äußerst aufschlussreich ist die hier zu beobachtende Bestrebung des Kommentators, den Leser vor jener Intertextualität zu schützen, die die Stabilität der Geschichte ebenso ernsthaft bedroht wie jene der Macht, indem sie auf die Konstruiertheit der beiden aufmerksam macht. Sollte sich dieser Dialog zwischen Tiberius und Clemens tatsächlich an die Anekdote über Alexander den Großen anlehnen, müsste einerseits das Verhältnis zwischen Geschichte und Geschichtsschreibung obsolet und beide in den Wirkungskreis von Rhetorik gewiesen werden, andererseits könnte die Bemerkung des falschen Agrippa eine Lesart fördern, in der die politische Macht als willkürliches Gewaltmonopol bloßgestellt wird (vgl. Piraterie). Wie das angeführte Zitat nahe legt, ist dem Kommentator weitgehend klar, dass die kommentierte Passage auch dann über einen gleichen Destabilisierungseffekt verfügt, wenn sie nicht als Allusion identifiziert wird (vgl. die Anspielungen auf Seager), und mehr noch: Die Replik von Clemens ist gewissermaßen radikaler als jene des Seeräubers, da sie deutlich macht, dass die kaiserliche Macht ausschließlich als eine willkürliche, auf fiktionalen Narrativen basierende Konstruktion anzusehen ist. Für den Kommentator scheint es trotzdem wichtig zu sein, eine Erzählung, die ihre eigene Fiktionalität mit allen möglichen Mitteln signalisiert, als authentisch in Schutz zu nehmen. Es handelt sich ja um einen geheimen Dialog zwischen dem Kaiser und dem Hochstapler vor der geheimen Hinrichtung, um einen Dialog also, der ja geheim und außerordentlich war und von dem daher per definitionem keine zuverlässigen Aufzeichnungen vorliegen können und über den auch Tacitus per definitionem nur mit dem Hinweis auf die fama berichten kann, indem er ein Exempel entwirft, das die Kraft der fama zur Wirklichkeits-/Scheinkonstitution und die unsicheren Grundlagen der Macht veranschaulichen soll. Helfershelfer zu nennen ließ er sich nicht zwingen. Andererseits wagte es Tiberius nicht, ihn in der Öffentlichkeit (palam) zu bestrafen, sondern ließ ihn in einem entlegenen Teil des Palastes (in secreta Palatii parte) hinrichten und die Leiche heimlich (clam) fortschaffen. Und obwohl man von vielen Angehörigen des Kaiserhauses, auch Rittern und Senatoren sagte (dicerentur), sie hätten ihn mit Geldmitteln unterstützt und mit Ratschlägen gefördert, ging man dem nicht nach. 38 | Cicero: De re publica, 3,14 [IV], Übersetzung nach Cicero: De re publica, Deutsch von K. Büchner. 39 | Goodyear: Annals of Tacitus, S. 311f.

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Die Abschlusspassage macht die wichtigsten Motive der Narrative wiederum verdichtet deutlich. Clemens wird an einem geheimen Ort des Palatium (hier: des Kaiserpalastes) hingerichtet, die Leiche aus Angst vor der Öffentlichkeit ebenso insgeheim fortgeschafft. Die von Tiberius angewandte Methode für die Eliminierung des falschen Agrippa bzw. der fama über ihn ist die gleiche Methode, die Clemens zu Agrippa und Tiberius zum Kaiser werden ließ, nämlich die Methode des Geheimnisses. Die natürlich zustimmende Antwort, die von Tiberius auf den geistreichen Satz des falschen Agrippa gegeben wird, besteht in der unhörbaren und unsichtbaren Hinrichtung von Clemens. Der Narrator von Tacitus beruft sich wiederum auf die fama: Die Lösung hätte »angeblich« (dicerentur) auch unter den Eliten Unterstützung gefunden. Die Geschichte des Hochstaplers entwickelt sich also von einem Geheimnis zum anderen, von einem Gerücht zum anderen. Und genauso wie Clemens mit der Eliminierung der Asche seine Karriere als falscher Agrippa antrat, sorgt auch Tiberius im Abschluss der Geschichte dafür, dass die Leiche des falschen Agrippa unauffindbar bleibt. Das Verwischen von Beweisen ist ein Ausschlag gebendes Moment jener Geschichte im Konjunktiv (vgl. »Im selben Jahr hätte eines einzigen Sklaven Verwegenheit, wenn man nicht rechtzeitig eingeschnitten wäre, durch Zwistigkeiten und Bürgerkrieg den Staat von Grund auf erschüttert.«), von der die Erzählung des Tacitus handelt. * Diesen Kommentaren soll abschließend ein Überblick der unterschiedlichen Ausgestaltungen des Geheimnisses folgen. Welche Typen des Geheimnisses liegen in der Geschichte des falschen Agrippa vor und mithilfe welcher Gegenbegriffe können sie definiert werden?40

1. Noch in der Geschichte des Todes von Agrippa liest man von den arcana domus, den »Geheimnissen des Herrscherhauses«. Dies beinhaltet die »Wirklichkeit« der Machtausübung, d.h. die Personen, die die wirklichen Entscheidungen treffen, und ebenso die wirklichen Motivationen der Entscheidungen, die unrechtmäßigen Taten, mithilfe derer das Kaiserhaus seine Macht sichert usw. Die Konzeption der arcana domus hypostasiert, dass sich die Wahrheit hinter den Kulissen verbirgt, die entweder durch Gerede (dessen Entstehung 40 | In den Kulturwissenschaften des 20. und 21. Jhs. versuchen die einschlägigen Forschungen zum Begriff »Geheimnis«, die Bedeutungsfelder des Geheimnisses vorwiegend anhand unterschiedlicher Gegenbegriffe in verschiedenen Kontexten zu identifizieren; in meiner Zusammenfassung stütze ich mich auf diese Analysen. Vgl. v.a. die folgenden Sammelbände: Assmann/Assmann: Schleier und Schwelle; Engel: Das Geheimnis. Zu den oben erwähnten lateinischen Etymologien und Bedeutungsfeldern vgl. die entsprechenden Artikel des OLD.

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dem geheimen Rat des Sallustius zufolge verhindert werden soll) oder durch den Geschichtsschreiber aufgedeckt wird. Etymologisch stammt das arcanum aus dem Verb arceo, ›fernhalten‹, das oft zur Unterscheidung zwischen dem Heiligen und dem Profanen gebraucht wird (vgl. odi profanum vulgus et arceo); dementsprechend haben im arcanum religiöse Konnotationen eine starke Präsenz; es findet auch in der Bedeutung ›Mysterium‹ Verwendung. Der Gegenbegriff von ›Geheimnis‹ als Wahrheit ist in diesem Fall ›Revelation‹. 2. In der Geschichte des falschen Agrippa steht bereits secreti eius socios, »in seine geheimen Absichten eingeweihte Genossen«. Das secretum ist weniger stark mystisch konnotiert, denn es handelt sich um einen viel allgemeineren Begriff, der vom Verb secerno, ›trennen‹ stammt. Doch was soll das Geheimnis des falschen Agrippa sein? Besteht dieses Geheimnis darin, dass er überhaupt nicht Agrippa ist (was der Leser weiß), oder darin, dass er die Macht ergreifen will (was der Leser nur vermuten kann)? Dies bleibt in der gesamten Erzählung unsicher, hat aber seine erzähltechnische Funktion: Als das Geheimnis der Erzählung kann aufgefasst werden, dass der Leser nicht wissen kann, in was für ein secretum die Genossen des Agrippa eingeweiht sind. Dass Clemens nicht Agrippa ist, wissen wir als Leser vom Anfang an, doch was seine Absichten sind, davon werden wir nie in Form einer direkten Auskunft des Narrators unterrichtet. Zu Beginn wird nur festgestellt, wozu der potentielle Erfolg des Clemens hätte führen können; gegen Ende erfahren wir, wie Clemens in Rom empfangen wurde; und zum Schluss wird deutlich, dass ihn Tiberius als gefährlich für seine eigene Macht beurteilte. Was Clemens in Wirklichkeit beabsichtigte – außer, dass er sich als Agrippa maskierte und er die fama, die z.T. durch ihn verbreitet wurde, systematisch ausnutzte –, bleibt bis zum Ende ein Geheimnis. Dies alles trägt zu jener dunklen, vagen, geheimnisvollen Atmosphäre der Narration bei, die die Narrative des Tacitus, die die fama selbst thematisiert, wiederum als eine mit dem Charakter der fama verwandte Narrative hervortreten lässt. In diesem Fall kann der Gegenbegriff von secretum unmöglich definiert werden, da sein Inhalt strenggenommen unbekannt ist. 3. Im Satz über die Verbreitung der fama liest man: vetita (»verbotene Wagnisse«), occulti sermones (»vertrauliche Gespräche«). Im ersten Fall wird das Geheimnis als Verbot definiert, sein Gegenbegriff wäre offensichtlich das ›Erlaubte‹. Das Wort vetita signalisiert an sich schon die politisch subversive Natur der Nachricht, Agrippa wäre am Leben geblieben: Es weist darauf hin, dass die fama dem Clemens als dem falschen Agrippa auch dann den politischen Machtanspruch nachsagen würde, wenn Clemens seine Rolle nur aus purer Leidenschaft spielte. Das Attribut der Gespräche, genauer der Gerüchte (occulti) hingegen kann am ehesten als eine Anspielung auf die Modalität der fama gelesen werden: Sie wird von den Menschen geflüstert, vor den »Kaisers Augen und Ohren« – d.h.

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vor den Geheimagenten – verborgen, insgeheim verbreitet (occultus < occulo, ›verbergen‹).41 Der Gegenbegriff von ›geheim‹ ist hier mit Sicherheit ›öffentlich‹. 4. In der römischen Szene steht clandestini coetus (»geheime Zirkel«). Diese bilden offensichtlich einen Gegensatz zu dem, was ›öffentlich‹ und ›erlaubt‹ ist (clandestinus, ›geheim‹ < clam, ›verborgen, insgeheim‹ < celo, ›verbergen‹). 5. »den Tiberius [ließ] zwiespältige Sorge zweifeln«: Mithilfe der Technik der Psychonarration berichtet Tacitus noch vor den arcana imperii (den ›Geheim41 | Einer Erzählung des Xenophon zufolge wurden die Geheimagenten von Kyros als »die Augen und Ohren des Königs« bezeichnet. Die gesamte Textstelle soll im Folgenden zitiert werden, weil sie in Bezug auf die von mir analysierten Zusammenhänge äußerst aufschlussreich ist: »Wir haben auch erfahren, daß er sich die sogenannten Augen und Ohren eines Königs nicht anders verschaffte als durch Geschenke und Ehrungen. Denn indem er diejenigen, die ihm wichtige Auskünfte gaben, großzügig belohnte, brachte er viele Leute dazu, ihre Ohren und Augen für alles offenzuhalten, was sie dem König mitteilen konnten, um ihm nützlich zu sein. Darum hieß es auch, der König habe viele Augen und Ohren. Falls aber jemand annimmt, es sei wünschenswert, daß der König nur einen einzigen Menschen als Auge zur Verfügung habe, so irrt er sich. Denn ein einziger Mensch dürfte nur wenig sehen und hören, und die anderen hätten dann gleichsam den Auftrag, ihre Augen zu schließen, wenn nur ein einziger mit dieser Aufgabe betraut wäre. Wenn außerdem die Leute erführen, wer das Auge sei, wüßten sie auch, vor wem sie sich in acht zu nehmen hätten. Doch so ist es nicht, sondern der König hörte jeden an, der erklärte, er habe etwas gehört oder gesehen, was Aufmerksamkeit verdiene. In diesem Sinne hat der König viele Ohren und Augen. Überall hatte man Angst, etwa für den König Nachteiliges zu sagen, als ob er selbst es hörte, oder etwas für ihn Nachteiliges zu tun, als ob er selbst dabei sei. So ergab es sich, daß niemand es wagte, einem anderen gegenüber etwas Schlechtes über Kyros zu erwähnen, sondern jeder verhielt sich so, als ob er überall den allgegenwärtigen Augen und Ohren des Königs ausgesetzt sei. Dieses Verhalten der Menschen ihm gegenüber hatte meines Wissens keinen anderen Grund als seinen Wunsch, kleine Gefälligkeiten mit großen Belohnungen zu vergelten.« (Xen. Cyr. 8,2,7; Übersetzung nach Xenophon: Kyrupädie, deutsch von R. Nickel) Das Konzept des »totalen Staates«, wie es hier ausformuliert wird, ist auch mediengeschichtlich gesehen äußerst radikal: Die Untertanen werden zu Sinnesorganen des Herrschers, der somit – wie ein »totaler Körper« – in den Besitz von unendlich vielen »Augen« und »Ohren« kommt, die das Gehirn des Staatskörpers nicht nur mit Informationen füttern, sondern sich auch gegenseitig kontrollieren, indem sie die Gesamtheit ihrer Taten und ihrer Worte im Medium der konstanten Überwachung realisieren. Der mit Millionen von Augen und Ohren versehene König ähnelt dem mythischen Argus oder eben der epischen Fama (zumindest was den Input betrifft; hinsichtlich des Outputs unterscheiden sie sich natürlich), vgl. die Schilderung bei Vergil: monstrum horrendum, ingens, cui quot sunt corpore plumae,/tot vigiles oculi subter (mirabile dictu),/tot linguae, totidem ora sonant, tot subrigit auris. (»Gräßlich und groß an Gestalt. So viele Federn sie decken,/So viel wachsame Augen darunter – o Staunen –, so viele/Zungen und Mäuler ertönen, so viele Ohren macht spitzt sie.« Verg. Aen. 4,181ff, Übersetzung nach Vergil: Aeneis, deutsch von W. Plankl/K. Vretska)

Geheimnis und Gerücht

nissen des Imperiums‹) von den arcana cordis (den ›Geheimnissen des Herzens‹).42 Die Erzähltechnik des Tacitus gewährt uns nicht nur einen Einblick in die Tiefen des Kaiserpalastes, sondern auch in die privaten, niemandem mitgeteilten Dilemmata des Kaisers. Der Gegenbegriff von ›Geheimnis‹ als ›Unausgesprochenem‹, ›Nichtkommuniziertem‹ ist in diesem Fall das ›Gesagte‹. 6. »Andererseits wagte es Tiberius nicht, ihn in der Öffentlichkeit (palam) zu bestrafen, sondern ließ ihn in einem entlegenen Teil des Palastes (in secreta Palatii parte) hinrichten und die Leiche heimlich (clam) fortschaffen.« Diesen Satz habe ich noch einmal in seiner gesamten Länge zitiert, weil er ganz deutlich bezeugt, mit welchem Genuss sich Tacitus in die Semantik des Geheimnisses vertieft. Zunächst liest man den Gegenbegriff (palam, ›öffentlich‹), dem schon das mit einer Negation versehene propalam im Zusammenhang mit der »geheimnisvollen Verbreitung« der fama wie auch des Clemens voranging, wobei das clam (›heimlich‹) am Satzende auf den Gegenbegriff gleichsam eine Antwort gibt; die beiden Adverbien sind durch ihre morphologische Ähnlichkeit unbedingt als Pendants anzusehen. Auch der Rahmen gibt vor, dass es sich hier um eine Gegenüberstellung von geheimer und öffentlicher Machtausübung (Erstere à la Sallustius) handelt. All dies wird in der Satzmitte durch in secreta Palatii parte auch bildlich/tropologisch vergegenwärtigt: Tacitus berichtet von einer secreta Räumlichkeit des Palatins (hier: des Kaiserpalastes), wobei die wörtliche und die figurative Bedeutung des Adjektivs secretus zusammenfallen. Der Raum ist ›abgesondert‹ und ›geheim‹ zugleich. Ein Ort, in den kein Uneingeweihter einen Blick werfen kann und dessen Aufdeckung, Revelation ausschließlich durch die historiografische fama erfolgt.

S iglen OLD – Oxford Latin Dictonary

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Grenzen der Gewalt Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas Ervin Török

Michael Kohlhaas ist eine der meist zitierten kleistschen Erzählungen. Durch die unendlich vielen Überarbeitungen gewann die Hauptfigur der Novelle mythischen Charakter; die Häufigkeit der Verarbeitungen,1 die fortdauernde Faszination, die dieser Text in der Literatur und der Kunst des 20. Jahrhunderts geweckt hat, hängt nicht allein mit ihrer nuancierten ästhetischen Ausführung, sondern auch mit jenem in vielen Fällen nur geahnten, aber manchmal nicht explizit artikulierten politik- und rechtstheoretischen Dilemma zusammen, wofür Kleist eine durchschlagende literarische Formulierung gibt. Die unmittelbare gesellschafts- und politikgeschichtliche Umwelt des Textes von Kleist bilden die napoleonischen Kriege und die daraus folgende Legitimationskrise der monarchischen Staatsformen. Die auf Massenmobilisierung gründenden napoleonischen Kriege riefen nicht nur in technisch-logistischer Hinsicht Innovationen ins Leben; das Neue in ihnen lag auch darin, dass das gerade erst in Erscheinung tretende bürgerliche Selbstbewusstsein der Teilnahme am Prozess der Geschichte ihre Basis bildete. Der west-europäische Nationsbegriff2 löste sich von seiner früheren ständischen Bestimmung und verschmolz unter dem Druck der französischen Revolution immer stärker mit dem Begriff des dritten Standes. Dieser Nationsbegriff definierte sich selbst nicht mehr nach seinem Standescha1 | Allein in der ungarischen Literatur gibt es drei bedeutsame Bearbeitungen der Kohlhaas-Erzählung (András Sütő: Egy lócsiszár virágvasárnapja [Palmsonntag eines Roßhändlers], Péter Hajnóczy: A fűtő [Der Heizer] und István Tasnádi: Közellenség [Kohlhaas] [Feind der menschlichen Gemeinschaft (Kohlhaas)]). Zählt man die Verfilmungen, die Bühnenbearbeitungen dazu und berücksichtigt die mittelbaren Wirkungen auf die Erzählungen und Romane von Franz Kafka oder ihren Einfluss auf die Fachliteratur der Dekonstruktion und des Postrukturalismus (unmittelbar und durch Kafka vermittelt), so kann man wirklich von einer unüberbietbaren Wirkung reden, die sie auf die Künste des XX. Jahrhunderts geübt hat. 2 | Siehe Bibó: Die Misere.

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rakter, sondern ganz im Gegenteil, nach der Entfernung von diesem, d. i. nach der Idee, die strengen Grenzen der ständischen Hierarchie könnten durch ihn überwunden werden. Das in dem Nationalbewusstsein sich auflösende bürgerliche Selbstbewusstsein hängt mit einem neuen Gefühl der Allgemeinheit zusammen, das mit den verfassungsrechtlichen Vorstellungen des 18. Jahrhunderts3 verbunden ist, die das Volk als den letzten Grund der Souveränität betrachteten. Das neue Bewusstsein der Gleichberechtigung wird zugleich von dem Selbstgefühl begleitet, selbst die tatsächliche Quelle aller Macht zu sein, somit tritt dieses Bewusstsein als das von der wichtigsten Antriebskraft im Bereich des Politischen in Erscheinung. Das neue Rechtsgefühl und das neue Selbstbewusstsein von Kohlhaas lässt sich wohl nicht aus dem Kontext des XVI. Jahrhunderts herleiten, aus dem das historische Vorbild für die Hauptperson stammt. Dies gilt auch für die Unbedingtheit und die Allgemeinheit seiner Anforderungen, wie er den Schutz seiner Rechte als die eigentliche Sicherung der Souveränität des Staates in seiner Totalität betrachtet. Kleists Text erweist sich als ein in vieler Hinsicht verspätetes Dokument über die Verflechtung eines neuen bürgerlichen Bewusstseins mit einem neuen Machtbewusstsein – die Wirksamkeit der Darstellung besteht nicht so sehr in dieser Verknüpfung, sie ist vielmehr durch die Unbedingtheit gesichert, mit der die Erzählung diese Verflechtung als Tatsache darstellt. Zugleich ist Kleists Erzählung kein historisches Dokument und auch kein philosophischer oder politiktheoretischer Traktat, sondern ein literarischer Text, der als solcher nichts bestätigt. Wäre sie nur ein Beweis für die Hypertrophie des bürgerlichen Bewusstseins im ausgehenden XVIII. Jahrhundert oder für seine Erprobung, so hätten sich in ihrer Wirkungsgeschichte und Rezeption keineswegs die Erklärungsschwierigkeiten ergeben, deren versuchte Überbrückung bzw. Bekämpfung das Nachleben des Werkes hervorgerufen hat. Das »KohlhaasDilemma«, das durch die Erklärungsversuche immer (wieder)formuliert wird, besteht in seiner elementaren Form in der Spannung zwischen Rechtmäßigkeit und Gerechtigkeit, in der Korrelation zwischen dem Gerechtigkeitsgefühl als Tugend und der aus diesem stammenden Schuld – diese Korrelation ist mindestens erklärungsbedürftig. Die Ambivalenz der Hauptfigur drückt sich in einem temporalen Moment aus, das auf die verborgene oder geheime Dynamik des bereits erwähnten »neuen Bewusstseins« hinweist. Der berühmte einleitende Satz der Erzählung konstatiert und benennt dieses Dilemma, und die Erzählung figuriert es in der mythischen Gestalt von Kohlhaas. Der Text erzeugt eine Konstellation des Gesetzes, der politischen Souveränität, der (auch im theologischen Sinn genommenen) Schuld, die auf die kryptische, latente Dynamik dieses neuen Bewusstseins hinweist, und die später von Franz Kafka fortgesetzt und weiterver3 | Jenő Szűcs z.B. weist in seinem Buch Die drei historischen Regionen Europas darauf hin, dass Termini wie »Volksouveränität«, »contrat social« usw. eine sehr intensive mittelalterliche Vorgeschichte und Vorbereitung haben, ohne die die verfassungstheoretischen Werke von Hobbes, Rousseau usw. nur einseitig zu verstehen sind.

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arbeitet wird. Die Herausforderung der Erzählung besteht m.E. im spezifischen Konflikt zwischen dem zeitlichen Verlauf der Ereignisse und der Ordnung ihrer Wahrnehmung. Die Latenzstruktur, die durch die Erzählung lesbar wird, kann als jene Reflexion auf die Dimension des Politischen untersucht werden, die aus der kritischen Überprüfung der Voraussetzungen der »traditionellen« Erzählungsweisen folgt. In meinem Aufsatz versuche ich, die literarischen Formen der genannten Konstellation zu untersuchen. Da im Text von Kleist (um eine mögliche Konklusion vorauszuschicken) diese Konstellation durch die Frage nach der Erzählbarkeit von Geschichten und nach den Rahmenbedingungen des Erzählens als ein literarisches Problem erscheint, ist es nicht sinnvoll, die politischen und die sprachlich-literarischen Fragen voneinander zu trennen.

1. Partisan , R egul arität Die umfangreiche und intensive Kleist-Rezeption bezog die Erzählung Michael Kohlhaas oft (und nicht unbegründet) auf das Phänomen der irregulären Kriegsführung und auf deren emblematische Figur, den Partisanen. Der Kampf des Partisanen nimmt keine Rücksicht auf die Regeln des konventionellen oder regulären Krieges, den (souveräne) (Staats)mächte gegeneinander führen. Einerseits verdoppelt die irreguläre Kriegsführung die reguläre, andererseits richtet sie sich gegen die Regularität, indem sie ihrem Wesen, ihren grundsätzlichen Kategorien und ihrem tatsächlichen Bestand zufolge die Souveränität selbst herausfordert, die – der Theorie von Carl Schmitt nach – ihr Wesen genau dem Recht auf die Entscheidung verdankt, zwischen Freund und Feind unterscheiden zu können. Dennoch schafft die Absage oder die Zurückweisung der Regularität die durch die Regularität eingeführte Unterscheidung keineswegs ab, denn der Guerillakampf macht den Anspruch für sich geltend, als quasi militärische oder politische Aktion beurteilt zu werden. Er beansprucht die politische Legitimation, die Anerkennung einer Gemeinschaft; er will keinesfalls als Brutalität einer Bestie angesehen werden, sondern als eine die Grenze der Legalität überwindende Aktion, die von der Bestialität des Gegners erzwungen wird. Die primäre Zielsetzung der Guerilla-Kriegsführung – ebenso wie, könnte man hinzufügen, aller Terrorakte – besteht in Delegitimierung; die Abschaffung der Regeln konventioneller Kriegsführung zielt auf die Wiederherstellung einer Regularität jenseits der bestehenden Gesetzlichkeit (also in Form einer – göttlichen – Gerechtigkeit) ab, die mit rechtlichen Mitteln nicht erreichbar ist. Die Aktion des Partisanen, die die Grenze der Legalität zunichte macht, ist das Supplement der Handlung des Souveränen. Der Partisan ist »der Wolf der Wüste«4, seine Handlung ist seinem Wesen nach

4 | Kleist: Sämtliche Werke, S. 674. Seitenangabe nach dieser Ausgabe.

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die ungemeinschaftliche, unkonventionelle, unmenschliche (also bloß tierische5) Handlung, die zugleich die endgültige Garantie und Form der Gemeinschaftlichkeit und Souveränität angibt. Der Krieg des Partisanen bezieht sich auf die Regularität: er ist das irreguläre Reguläre als Irregularität des Regulären. Carl Schmitt lässt die moderne Geschichte der irregulären Kriegsführung mit dem spanischen Guerillakrieg gegen die napoleonische Okkupation beginnen.6 Kleist selbst hat für eine Weile an der Propaganda gegen die napoleonische Herrschaft teilgenommen. Die Novelle kann – auch wenn sich die dargestellten Ereignisse in den deutschen Fürstentümern des 16. Jahrhunderts abspielen – als eine (ganz und gar nicht selbstverständliche) Interpretation der Volkssouveränität gelesen werden. In dieser Hinsicht ist es nicht die Ganzheit der Gemeinschaft, sondern das an ihr teilnehmende Individuum, das die auf das Souveräne übertragene Macht zurücknehmen darf. Obwohl die erste Hälfte der Erzählung die militärische und symbolische Logik der Guerillakriegsführung evoziert, geht das Ganze des Textes weit darüber hinaus, die Logik, die Formen der Verängstigung und des Terrors der irregulären Kriegsführung einfach darzustellen. Man mag sogar Carl Schmitt zustimmen, dass nicht einmal eindeutig bestätigt werden kann, dass Figur und Handlung von Kohlhaas mit der Figur des Partisanen identisch sein sollen. Als ebenso problematisch erweist sich die Idee, das »Rechtsgefühl« von Kohlhaas könne mit »den revolutionären Sachen« (Schmitt) in Verbindung gebracht werden, die den Hintergrund der tatsächlichen Aktionen des Partisanen bilden. Im letzten Kapitel seines Aufsatzes (»Vom wirklichen zum absoluten Feind«) behauptet Schmitt, der »Aufstand« von Kohlhaas habe (a) bloß privatrechtliche Aspekte, (b) demzufolge keine Beziehung zum Gebiet des Politischen, und (c) verliere somit er auch die Möglichkeit der nachträglichen Legitimation, so dass die Handlungen von Kohlhaas mit strafrechtlichen Kategorien zu beurteilen seien: In der Feindschaft sucht der rechtlos Gemachte sein Recht. In ihr findet er den Sinn der Sache und den Sinn des Rechts, wenn das Gehäuse von Schutz und Gehorsam zerbricht, das er bisher bewohnte, oder das Normengewebe der Legalität zerreißt, von dem er bisher Recht und Rechtschutz erwarten konnte. Dann hört das konventionelle Spiel auf. Doch braucht dieses Aufhören des Rechtsschutzes noch kein Partisanentum zu sein. Michael Kohlhaas, den das Rechtsgefühl zum Räuber und Mörder machte, war kein Partisan, weil er nicht politisch wurde und ausschließlich für sein eigenes verletztes privates Recht kämpf5 | Das Seminar von Jacques Derrida über die Problematik der Souveränität und des Souveränen hat die eigenartige Verknüpfung der Figur des Tieres, besonders des Wolfs, mit der Figur des Souveränen in der Geistesgeschichte des Westen zum Ausgangspunkt. (Siehe Derrida: The Beast, S. 1-32.) Zum Problem der Bestialität, die diese Zusammenknüpfung hervorruft, siehe z.B. Derridas Erklärungen in seinen Deleuze-Kommentaren, ebd., S. 139-162. 6 | Schmitt: Theorie des Partisanen, S. 11-17.

Grenzen der Gewalt te, nicht gegen einen fremden Eroberer und nicht für eine revolutionäre Sache. In solchen Fällen ist die Irregularität unpolitisch und wird rein kriminell, weil sie den positiven Zusammenhang mit einer irgendwo vorhandenen Regularität verliert. Dadurch unterscheidet sich der Partisan vom – edlen oder unedlen – Räuberhauptmann.7

Meines Erachtens benennt Schmitts Interpretation, die im Kontext seines Textes nur als beiläufiges Beispiel erscheint und keineswegs im Fokus der Untersuchung steht, die zentralen Fragen der Auslegung des Textes von Kleist, ohne ihre Ansätze richtig zu erwägen. Schmitts Behauptung (»Michael Kohlhaas […] war kein Partisan, weil er nicht politisch wurde, [weil er] für sein eigenes verletztes privates Recht kämpfte«) ist nämlich in der Novelle keinesfalls als Prämisse, sondern als die eigentliche Frage der Erzählung zu betrachten. Letztlich lässt sich Schmitts Urteil über das Problem von Michael Kohlhaas in dem Urteil zusammenfassen, dass es in der Novelle keine Vermittlung zwischen dem Privat(rechtlich)en und dem Gemeinschaftlichen gibt. Der Grund dafür bestehe darin, dass gerade das einfach Private (das Einzelinteresse von Kohlhaas) verletzt wurde und demzufolge dieses Interesse die Ursache seines Privatkrieges bildet. Deshalb komme das Private mit dem Gebiet des Politischen nicht einmal in Berührung. Die Herausforderung von Kohlhaas beziehe sich nicht auf die Totalität der Sphäre des Politischen, also nicht auf die von der Perspektive der »Ausnahmesituation« her gedachte Sphäre des Politischen; sie könne im Rahmen einer schon bestehenden Ordnung beurteilt werden, somit sei seine Gesetzwidrigkeit eine einfache strafrechtliche Frage. Entgegen Schmitt möchte ich dafür argumentieren, dass die Hauptfrage von Michael Kohlhaas keineswegs die persönliche Rache oder das »Rechtsgefühl« sind, die keine Beziehung zur Sphäre des Politischen und zu ihrem zentralen Begriff der politischen Souveränität haben. Andererseits will ich auch nicht das Gegenteil behaupten, nämlich dass Kleists Novelle die Frage der politischen Souveränität thematisiere. Nach meiner Interpretation bezieht sich die eigentliche Frage gerade auf die Grenze zwischen den beiden, d. i. auf den Unterschied und auf die Schwierigkeit der Unterscheidung, wodurch die beiden – das Private und die Souveränität – sichtbar werden. Die Erzählung stellt die Geschichte von Kohlhaas im Zusammenhang von Ausnahme und Beispielhaftigkeit dar, dessen Kontext die Beispielhaftigkeit der Ausnahme und die Ausnahmehaftigkeit des Beispiels bildet; das Werk beschreibt die Subsumption unter das Allgemeine und das zum Allgemeinen gewordene Private. Kleists Novelle erzählt eine Geschichte der Gewalt, in der die Gültigkeit gerade der Begriffe fragwürdig wird, mit deren Hilfe Schmitt sein Urteil über die Erzählung trifft. Zuerst werde ich die Form und die Grundlage des Allgemeinen untersuchen (sei es die Allgemeinheit eines gemeinschaftlichen Anliegens, einer Idee oder aber eines Begriffes), von denen Schmitt behauptet, sie spielten im Kohlhaas keine Rolle, und danach werde ich 7 | Ebd., S. 92.

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deren Beziehung zum Bereich des Politischen analysieren. Am Ende steht eine Untersuchung des Status der »Entscheidung«, die sowohl in der Staatstheorie von Schmitt als auch in Kleists Erzählung eine herausragende Rolle spielt, und des Status der »Frage«, die sich als eine spezifische kleistsche Reflexion auf die Funktion der »Entscheidung« artikuliert.

2. G renze , P erformativität, G ese t z Nach einer kurzen und enigmatischen Einführung berichtet uns die Erzählung davon, wie ein Pferdehändler auf seinem Weg auf einen ausländischen Markt aufgehalten wird. Die Ausgangsereignisse der Erzählung sollen aber nicht als Bindeglieder einer kausalen Kette einer Geschichte aufgefasst werden, sondern als Teile einer dramatischen Situation; als eine Leidener oder Kleistsche Flasche, die Elektrizität kondensiert, die sich beinahe zufällig entlädt und nicht unbedingt in eine kausale Struktur integrierbar ist.8 Dieser Teil der Erzählung ist eng mit mindestens zwei anderen Passagen von Kleist verwandt: mit der ersten Szene von Amphitryon, wo Sosias in der von Göttern verlängerten und stockfinsteren Nacht herumstolpert und seinen Monolog probt, und mit der ersten Hälfte der Allmählichen Verfertigung des Gedanken beim Reden, wo der Erzähler durch den nur gefühlten Blick der Schwester dazu veranlasst oder gezwungen wird, seiner Rede eine Form zu geben. Diese Konstruktion ist eines der erstaunlichen Merkmale der kleistschen Erzählungen: die Novellen führen durch ihre eigenen Formen genau das vor, was Kleist in den Essays als Trennung zwischen Handeln (Performativität) und Vorstellen, Kognition, zwischen (zwingenden) Umständen und Ereignissen behandelt. Ein anderes Merkmal der Episode und des ganzen Textes lässt sich dadurch feststellen, dass – da in ihm der Einklang zwischen Geschichte und Ereignis fehlt – nicht nur die Wiederkehr einer Figur, einer Form oder einer Fassung thematisch akzentuiert wird, sondern ganze Szenen wiederkehren: so taucht auch diese Eingangszene später wieder auf. Da das Signal der Wiederkehr immer ein fast zufälliges Moment ist, das als Indiz funktioniert, werde ich auf die scheinbar nebensächlichen Momente fokussieren: auf das Regnen, dessen Stärke immer wechselt, auf ein zugeworfenes Fenster, auf das Murmeln in den Bart. Kurz, auf die Elemente, die als »Umstände« gelten und die Roland Barthes in seiner strukturellen Analyse der Geschichten für die »Katalysatoren« der Narrativen hält und von den »Kernfunktionen« absondert, die dafür verantwortlich sind, die Geschichte

8 | Siehe Török: A másik, S. 227-253. Bettine Menke spricht in ihrer Analyse über Die Heilige Cäcilie in Bezug auf die in diesem Text geöffnete Kluft zwischen Stimme und Rausch über eine ähnliche »Unintegrierbarkeit«.

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weiterzuführen (genau die hierarchische Entgegensetzung9 von Vordergrund und Hintergrund bzw. von Nebensächlichem und Zentralem bildet den eigentlichen Zielpunkt der Kritik des Textes, und ihrer Kritik wird eine »politische« Dimension zugeschrieben). Da es heftig regnet, sucht der Pferdehändler vor dem Schlagbaum eilig die Groschen, um den Wächter zu bezahlen. In diesem Moment wird ein Fenster im Turm des Schlosses zugeworfen, und eine Stimme (die des Burgvogts) fordert den Passschein von ihm. Die namenslose und unpersönliche Stimme verwandelt diese pragmatische Schranke in eine Barriere, die man nicht so leicht überwinden kann. Die Stimme fordert ihn auf, sich selbst auszuweisen und die Legitimität der Durchfahrt zu beweisen. Kohlhaas steht fremd vor der Barriere der fremden Stimme, die hinter einem geöffneten Fenster – wegen ihrer Fremdheit – befugt ist, ihn über die Legitimität seiner Tätigkeit zu befragen. Die Frage des Rechtes erscheint in der Novelle (abgesehen von der Erwähnung des »Rechtsgefühls« am Beginn des Textes) erstmals durch den Imperativ einer mächtigen und namenlosen Stimme, die ihn aufhält und zum Stillstand verurteilt. In einer seiner Repliken spricht Kohlhaas darüber, dass er hier schon vielmals durchgefahren sei, ohne dass er irgendeinen Ausweis vorzeigen musste. Einmal habe der Schlossherr sogar den Weg verbessern lassen, weil sich eines seiner Pferde verletzt habe. Die Bewegung erscheint als Verkehr, wobei die Sicherung seiner bedingungslosen Durchfahrt und der Handel schon voraussetzen, dass sowohl die durchquerende Person als auch ihre Tätigkeit als legitim anerkannt wurden. Dieses neue Hindernis, das nicht nur in Form einer räumlichen Trennung (der des Schlagbaumes), sondern auch in Form einer unpersönlichen Stimme erscheint, die hinter einem Fenster – selbst Metapher der Vertrennung und Vermittlung – erschallt, ist nicht bloß ein ärgerlicher Umstand. Die Stimme fragt danach, was evident und offensichtlich ist: nach der Evidenz der Person. Sie bestreitet nicht etwas Faktisches oder Sachliches, sondern selbst die Rechtmäßigkeit der Person. Die Stimme fragt nicht nach dem Anlass, dem Zweck der Durchfahrt, sondern nach der Legitimität der Person, die passieren will. Damit, dass sie die Unschuld des Anderen bezweifelt, setzt sie zugleich sich selbst: aber nicht als etwas Zweckrationelles oder einfach Rationelles, sondern als etwas, das seiner bloßen Existenz zufolge »von vornherein« befugt ist, irgendwen aufzuhalten. Die aus der Deckung des Fensters ertönende Stimme ist die Stimme des Gesetzes. Es ist die eines Gesetzes, das transzendental ist, da sie die Person frei von allen empirischen Beschränkungen, d. i. in Form eines leeren Imperativs, anspricht – deshalb ist es schwierig, wenn 9 | In seinem frühen Werk, in der L’analyse structurale du récit, appelliert noch Barthes an eine solche Hierarchie. »Pour reprende la classe des Fonctions, ses unités n’ont pas toutes la même »importance«; certaines constituent de veritables charnières du récit (ou d’un fragment du récit); d’autre ne font que »remplir« l’espace narratif qui sépare les fonctions-charnières: appelons les premières des fonctions cardinales (ou noyeaux) et les secondes, eu égard à leur nature complétive, des catalyses.« Barthes: L’analyse, S. 15.

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nicht gar unmöglich, dieser Stimme auszuweichen. Überquerte man unmittelbar nach 1989 die Grenzen der postsozialistischen Staaten Osteuropas, konnte man dieses verblüffende (und zugleich erniedrigende) Gefühl erleben. Der Reisende wurde behandelt, als wäre nur durch seine bloße Anwesenheit schuldig, und er musste erklären, was in der Tat keiner weiteren Erklärung bedarf. Diese reine Performativität der Stimme gebietet etwas, »Halt dort, der Roßkamm!«, aber vor allem gebietet sie ihre eigene Berechtigung. Kohlhaas betritt das Schloss, wo der Junker Wenzel sich im Kreis fröhlicher Ritter vergnügt. Der Schlossherr will nichts von ihm; die Ritter drängen sich zum Fenster (wieder das Fenster), sie werfen einen Blick auf die Pferde und loben sie. Dieser nichts wollende Blick entspricht der Stimme des Gesetzes (die Ritter, wie Wenzel wollen kein Geschäft schließen); ihr Verhalten wird durch eine Art ästhetischer Distanzierung bestimmt. Die Ritter, Wenzel, Kohlhaas und der Schlossvogt gehen hinunter in den Schlosshof und betrachten die Pferde, da es wieder anfängt zu regnen, beenden sie das Gespräch mit dem Aufruf, er solle etwas als Garantie zurücklassen. Wenzel schlägt vor, man solle Kohlhaas »rennen lassen«, aber der Schlossvogt erwidert »in den Bart murmelnd«, Kohlhaas solle gerade die Pferde zurücklassen, bis er die benötigten Papiere besorgt habe. »Nun«, sprach der Junker, da eben das Wetter wieder zu stürmen anfing und seine dürren Glieder durchsauste, »lasst den Schlucker laufen! Kommt!« sagte er zu den Rittern, kehrte sich um, und wollte nach dem Schlosse gehen. Der Schloßvogt sagte, zum Junker gewandt, dass er wenigstens ein Pfand, zur Sicherheit, dass er den Schein lösen würde, zurücklassen müsse. Der Junker blieb wieder unter dem Schloßtor stehen. […] Der Verwalter meinte, in den Bart murmelnd, er könne ja die Rappen selbst zurücklassen. […] Kohlhaas, über eine so unverschämte Forderung betreten, sagte dem Junker, der sich die Wamsschöße frierend vor dem Leib hielt, dass er die Rappen ja verkaufen wolle; doch dieser, da in demselben Augenblick ein Windstoß eine ganze Last von Regen und Hagel durchs Tor jagte, rief, um der Sache ein Ende machen: »Wenn er die Pferde nicht loslassen will, so schmeißt ihn wieder über den Schlagbaum zurück!«, und ging ab. (647-648)

Die ganze dargestellte Situation, die aus der Perspektive der späteren Ereignisse die Rolle der »Urschuld« erfüllt, wird von konfusen und verwirrten Gesten geleitet. Das schlechte Wetter erzwingt eine Entscheidung, die die ganze Situation abschließen kann. Die Entscheidung wird nicht von seiner Rechtmäßigkeit oder (Un)gerechtigkeit, sondern von der Unbequemlichkeit der Situation her gerechtfertigt. Die Entscheidung gehört zur Situation, nicht zum Gesetz: sie macht Schluss mit der Richtungslosigkeit, die von dem Gesetz der Stimme, genauer, vom Gesetz als »reiner Stimme« (als eine als leere Aufforderung gegebene Stimme) geöffnet wurde. Wenzel steht in der Schloßtür und friert, und als es wieder zu hageln beginnt, akzeptiert er den nächstliegenden Einfall, um die Situation beenden zu können, und zwar ohne irgendeine andere Möglichkeit zu erwägen. Der

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Einfall stammt vom Schlossvogt, der ihn »in den Bart murmelnd« ins Gespräch einbringt. Dieses Murmeln, das der Formulierung der Gedanken vorausgeht und den richtungslosen und völlig zufälligen sprachlichen Automatismen lauten Ton verleiht (parallel zum schreienden Ausruf), stellt einen performativen Mechanismus dar, der sprunghaft, aus dem »breakdown«10 von sinnhaftem Sprechen erzeugt wurde. Wenzel akzeptiert den »schamlosen« Vorschlag aus dem Murmeln des Schlossvogts und legitimiert ihn. Diese Entscheidung artikuliert das Gesetz (aber nicht die Gesetzlichkeit, die später – in der sorgfältig dargestellten Prozedur – als Verschiebung aller sachlichen Entscheidung auftritt); in dieser Entscheidung gewinnt das Gesetz Gestalt, dem Kohlhaas sich – und das ist auch ironisch – wegen seiner unaufschiebbaren Geschäfte nolens volens unterwirft. Aber der rechtliche Grund der Maßnahme ist höchst ambivalent. Als Kohlhaas nachfragt, was für einen Passschein er besorgen müsse, wird sofort klar, dass das ganze Verfahren auf einem »Märchen« (648) beruht und Wenzel keine rechtliche Grundlage gehabt hätte, ihn aufzuhalten. Etwas später wird dem Leser berichtet, dass es wirklich »ein kurfürstliches Edikt« gab, das der Isolation von der Viehseuche diente11 – die Vertreter von Wenzel berufen sich auf dieses Edikt, um die Rechtmäßigkeit des Aufhaltens zu gerechtfertigen. Aus all dem wird klar, dass diesem Teil des Texts die Kluft zwischen dem transzendentalen Charakter des Gesetzes und seinem zufälligen Ursprung zugrunde liegt. Durch die Figur von Kohlhaas, der den Anforderungen aus dem transzendentalen Charakter des Gesetzes restlos entsprechen will, interpretiert die Novelle das Gesetz als einen Aufruf zur Überbrückung seiner eigenen zufälligen Voraussetzungen. Die Erzählung zeigt die paradoxe Form des Gesetzes: es entfaltet sich als eine von allen inhaltlichen Momenten freie Setzung, die sich in den Modi der Ansprache und der Zuschreibung der Verantwortlichkeit zeigt. Das Gesetz ist die Instanz, auf die man antworten muss, die einen (als Einzelnen) anspricht, und deren Anforderungen man entsprechen muss. Die rätselhafte Formulierung am Beginn der Erzählung, die das »Rechtsgefühl« von Kohlhaas beschreibt, darf auf dieses Entsprechenwollen bezogen werden. Das Gesetz hält einen auf: Kohlhaas ist an einer Grenze angekommen; das unsichere Warten, das Aufhalten der Bewegung und des Verkehrs geraten in die Relation einer möglichen oder suspendierten Bewegung. Das Überschreiten der Grenze des Gesetzes aber bedeutet, sich von dem Gesetz, von seinem verzaubernden Blick loszusagen, der eigentlich nichts von einem will. In diesem Fall erscheint diese Durchfahrt als die Folge einer plötzlich getroffenen Entscheidung: als Ungesetzlichkeit.

10 | Ausdruck von Ekkehard Zeeb: Die Unlesbarkeit, S. 77. 11 | »[…] brachten sie gar ein kurfürstliches Edikt bei, worin vor einem von zwölf Jahren, einer Viehseuche wegen, die Einführung von Pferden aus dem Brandenburgischem ins Sächische verboten worden war […]« Kleist: Sämtliche Werke, S. 696.

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Auf das Überschreiten der Grenze des Gesetzes durch eine zeitweilige Entscheidung (und jede Entscheidung ist zeitweilig), erzwungen durch die Frist der Ereignisse bzw. die Situation (die in der Form des schlechten Wetters und der Unterbrechung des heiteren, geselligen Amüsierens gestaltet wird), folgt keine Rückkehr zum Alltäglichen und Regulären (zum Bereich des Legalen), sondern das Überschreiten zum Unrechtlichen, zur »Ausnahmesituation«. Die Unterbrechung der Zeit des Gesetzes – während auch das Gesetz an dieser Unterbrechung teilnimmt – führt nicht zum Gewöhnlichen, nicht zum Sein im Rahmen des Legalen, sondern zum Unrechtlichen, zur Suspendierung des Gesetzes. Die Entscheidung, die von der Geste des zweideutigen »Murmelns in den Bart« eingeleitet wurde, ist durch diesen unmöglichen Durchgang bedingt: diese Geste entscheidet das Unentscheidbare, das infolge des Aufhaltens zustande kam: und die Entscheidung führt das Gesetz jenseits von sich selbst. Zuerst betrachtet Kohlhaas die Gewalt, auf die er gestoßen ist, als etwas Äußerliches, das ihn physisch aufhält. Aber nachher nimmt er die Fremdheit der Stimme und des Blickes des Gesetzes in sich selbst wahr. Später liest man, dass er sich sowohl von seiner Frau als auch von seiner Familie entfremdet und keine Lust mehr an seiner Arbeit findet. Diese äußerliche Grenze erblickt er in sich selbst, und sie löst ihn aus der »natürlichen« Gemeinschaft seiner Familie. In einem merkwürdigen Satz der Erzählung liest man Folgendes: Doch sein Rechtsgefühl, das einer Goldwaage glich, wankte noch; er war, vor der Schranke seiner eigenen Brust noch nicht gewiss, ob eine Schuld seinen Gegner drücke. (649, Hervorhebung T. E.)

In diesem viel zitierten Satz ist die Metaphorik der vorigen Episode leicht wiederzuerkennen. Sein »Rechtsgefühl« wird metaphorisch mit einer »Waage« und einer »Schranke« gleichgestellt – Kohlhaas stößt an seine Vorbehalte wie vorher an den Schlagbaum. Die Metapher der »Schranke seiner Brust« revidiert zugleich die vorige Szene. Der Metapher nach steht Kohlhaas auf beiden Seiten der Grenze zugleich: er ist derjenige, der nach dem Gesetz strebt, der das Gesetz fordert, und derjenige, der seine eigene Rechtlichkeit erwägt, also der befugt ist, im Namen des Gesetzes etwas zu beurteilen. Die beiden Seiten des Gesetzes werden durch die Grenze getrennt und zugleich verknüpft. Die Grenze des Gesetzes ist das Gesetz selbst. Kohlhaas identifiziert sich mit der setzenden Gewalt der Einführung dieser Grenze und steht – wie der Mann vom Lande in der Parabel von Kafka – vor dem Gesetz, und verlangt nach dem Zustand, der jenseits von diesem beginnt, also nach der göttlichen Gerechtigkeit, die selbst nichts anderes sein soll als die totale Auflösung dieses zeitweiligen Gesetzes. Noch wichtiger ist in der vorigen Metapher die Benennung dessen, wie das Gesetz als die Zeit des Gesetzes konzipiert wird. Kohlhaas »wankte«, er balancierte an der Grenze des Gesetzes, und das Gesetz selbst ist dieses Wanken, das Moment des Suspendierens, wenn man noch einmal alles prüft, bevor man zur Entscheidung schreitet.

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3. E ntscheidung , P rosopopeia , G eschichte – der B ereich des P olitischen Nachdem Kohlhaas von seiner Reise zurückkehrt und erfährt, dass der Mann, den er mit der Pflege der Pferde beauftragt hat, misshandelt wurde, bringt er seine Klage vor Gericht. Er verfasst Beschwerden, aber die von ihm initiierten Prozesse werden nacheinander aufgehoben, da der angeklagte Wenzel mit einflussreichen Personen des sächsischen Hofs verwandt ist. Seine Frau, um die annähernde Katastrophe zu vermeiden, übernimmt das Vorgehen im Namen ihres Mannes. Sie wird von einem Wächter aufgehalten und mit einem Speerschaft so schwer an der Brust verletzt, dass sie an den Folgen stirbt. Nach dem Begräbnis fängt Kohlhaas mit »dem Geschäft der Rache« (664) an, brennt methodisch das Schloss von Tronka nieder und ermordet die dort befindlichen Menschen. In der Novelle wird ebenso interessant wie problematisch die Art und Weise entfaltet, wie man von der Registrierung der Abfolge der Ereignisse bzw. von der archivierenden Arbeit der gesetzlichen Ordnung an das ankommt, was der Text als »Geschäft der Rache« bezeichnet. Ich gehe nicht davon aus, dass es im Allgemeinen keinen Durchgang zwischen der Ordnung der Schrift und der Ordnung der Handlungen gibt: die kodifizierten Gesetze können nur bei Annahme dieses Überganges existieren. Die Erzählung untersucht das rechtliche »Geschäft«, die seltsame Beziehung zwischen dem Fallen von rechtlichen Urteilen und dem »Geschäft der Rache«. Kohlhaas erwartet, dass das rechtliche Urteil die Gewissheit des erduldeten Unrechts bestätigt, indem man den Gegenständen, die ihm weggenommen wurden, »Recht gibt«, oder indem sie vergütet werden. Die Frage bezieht sich demnach darauf, was für eine »Vergütung« er erwartet. Die ganze rechtliche Prozedur wiederholt die Eingangszene und stellt durch die Wiederholung ihren Sinn fest. Es ist aber schwierig, das zu wiederholen, was keine eigentliche Form hat. Es bleibt problematisch, nach welcher Art die im Text sorgfältig umschriebenen Beschwerden, Resolutionen, Suppliken, Schlüsse usw. sich an die erste Szene anschließen. Was stellen eigentlich die Schriften fest, was erhalten, entscheiden und wiederholen sie? In erster Annäherung befasst sich die rechtliche Prozedur mit der Frage der Gerechtigkeit, in dem Sinne, wie sie die Sache von Kohlhaas sichtbar macht. Theoretisch beurteilt das Recht die Ereignisse nach dem Zusammenhang, nach dem sie einer kodifizierten Regel entsprechen. In diesem Sinne ist die Rechtlichkeit die Frage einer Festsetzung. Kohlhaas muss sich aber mit der Tatsache auseinandersetzen, dass Wenzel, den er für seinen Gegner, dann Feind und danach totalen Feind hält, durch seine Freunde erreicht, dass Kohlhaas’ Rechtssache unberücksichtigt bleibt. Man darf Kohlhaas nicht für den Schutzpatron der Parteilosigkeit halten: er sucht auch einflussreiche Befürworter, die zwar kein rechtliches Urteil fällen, aber doch dem Prozess zu einer Entscheidung verhelfen können. Die rechtliche Prozedur erscheint als Schlacht von Mächten, Interessen, die den rechtmäßigen Urteilsspruch verunmöglichen, und an seine Stelle die Formen von Vermittlung einschieben. Kurz, man kann die

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Geschichte von Kohlhaas als bittere Anklageschrift gegen Korruption und bürokratische Verwaltung lesen. Aber nach einer genaueren Lektüre erweist sich nicht einmal als eindeutig, worin Kohlhaas’ »Sache« besteht. Warum klagt er Wenzel überhaupt an? Warum nicht den Schlossvogt, der den Einfall hatte, die Rappen zu requirieren und der die Misshandlung von Herse auslöste (natürlich spielte da auch ein Missverständnis eine bedeutende Rolle)? Oder das schlechte Wetter und die unbequeme Situation? Warum hält er die Requirierung der Pferde und das Verjagen von Herse für eine einheitliche Geschichte (und nicht für Ereignisse, die zeitlich nacheinander, kausal aber nicht auseinander folgen)? Warum akzeptiert er nicht den Beschluss des Gerichtes und nimmt die Pferde zurück; warum stellt das für ihn keine mögliche Lösung dar? Hätte er – so seine spätere Argumentation gegenüber Luther – gewusst, dass er für sein Prozessieren mit dem Leben seiner Frau zahlen muss, so hätte er nicht so hartnäckig auf seiner Wahrheit beharrt. Da er aber für sie »zu teuer« bezahlt hat, lässt er seinem Streit mit dem Junker freien »Lauf«. (Dagegen kommt seine Frau nicht wegen seines Streits ums Leben, sondern weil er von diesem Streit nicht ablässt. Lisbeth nimmt die Rolle des Boten an, um die Gewalttätigkeiten zu vermeiden, die durch das Behalten der Waffen drohten.) Überhaupt, was ist eigentlich die »Sache«, die Kohlhaas »vertritt«? Kohlhaas’ »Sache« zeigt eine Komplexität, die rechtlich beurteilt werden kann, aber ihrem Wesen nach mehrere Aspekte hat. Einerseits ist sie eine sprachliche, andererseits eine politische Frage, drittens die Frage der Politik der Sprache. Kohlhaas benennt einerseits sehr genau, was sein Anspruch sei, der auf etwas Gegenständliches gerichtet ist. Andererseits kann sein Anspruch nur als legal anerkannt werden, wenn er hinreichend verallgemeinerbar ist. Nachdem er es ablehnt, seine heruntergekommenen Pferde zu übernehmen, fällt ihm ein, dass die ihm zustehende Genugtuung über seine Person weit hinausgeht. Der Eingriff gegen Wenzel dient zugleich dem Schutz seiner Mitbürger, damit der Junker kein Unrecht mehr begehen kann.12 Kohlhaas beurteilt das, was ihm widerfährt, von Anfang an mit Bezug auf eine zweifelhafte Allgemeinheit. Diese Verallgemeinerung, die seine Handlung zur beispielhaften macht, ermöglicht die Allgemeinheit seiner Sache, was von vornherein die Form der Parabel, der Gesetzlichkeit, gar des Gesetzes ist: diese Allgemeinheit sichert dadurch auch das Bestehen seines Einzelfalles. Es ist das »Vorbild«, das Eidos, das Muster seines eigenen Unglücks, es kann deshalb in seinem Vorgang nicht zufällig, sondern muss gesetzmäßig sein. 12 | »Dagegen sagte ihm ein ebenso vortreffliches Gefühl, und dies Gefühl faßte tiefere und tiefere Wurzeln in dem Maße, als er weiterritt und überall, wo er einkehrte, von den Ungerechtigkeiten hörte, die täglich auf den Reisenden verübt wurden: daß, wenn der ganze Vorfall wie es allen Anschein habe, bloß abgekartet sein sollte, er mit seinen Kräften der Welt in der Pflicht verfallen sei, sich Genugtuung für die erlittene Kränkung und Sicherheit für zukünftige seinen Mitbürgern zu verschaffen.« ebd., S. 651.

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Zugleich gewinnt das Bild, das er während seiner Rechtshandlung errichtet, oder dem seine Handlung Form gibt, dadurch den Status der Parabel und Allgemeingültigkeit, dass es als »Bild« gegenstandbezogen ist. Es ist also das Ergebnis einer Konkretion, einer Tätigkeit, die es zu einem Konkreten gemacht hat, das vorgezeigt werden kann. Kohlhaas’ Angelegenheit wird später »eindeutig«, weil seine Forderungen konkret sind: die Auffütterung seiner Pferde, die Groschen und die Pflegekosten für Herse. Sie sind in ihrer Dinglichkeit vorzeigbar – bei ihnen mangelt es am Murmeln in den Bart, am schlechten Wetter, am Zulauf oder am Schwefelfaden Herses usw., also an denjenigen Momenten, die Barthes im zitierten Artikel für »Katalysatoren« hält. Es sind nur in ihrer »Gegenständlichkeit« begreif baren »Nuklei« (noyeaux – Barthes). Um seine »Sache« in ihrer Eindeutigkeit herauszuheben und klar zu machen, unternimmt Kohlhaas eine Reduktion. Für die Angelegenheit soll derjenige verantwortlich sein, der restlos und als Rechtsperson zur Verantwortung gezogen werden kann: Wenzel, in dessen Namen der Schlossvogt verfährt. Im Text taucht mehrmals die Frage nach der Vorrangigkeit, nach der ursprünglichen Ursache auf. Zum Beispiel, dass man nicht jedem Beschädigten des kohlhaasischen Feldzuges Recht geben kann, weil das zu unendlichem Prozessieren und zum Zerfallen des Staates führen würde. Man muss die auslösende Ursache beurteilen, und die Beurteilung der ersten Ursache ermöglicht – durch ihre Allgemeinheit – die Wiederherstellung der durch Kohlhaas’ Kriegszug destabilisierten Staatsgewalt dadurch, dass die waltende Staatsgewalt in ihrer Wirksamkeit, im Fokus dieses einzigen »Ereignisses« erscheint und alle anderen Geschehnisse, Beleidigungen und Rechtsstreite verdrängt. Graf Wrede, […] stellte dem Kurfürsten sein Bedenken vor, die Staatsgewalt zur Durchsetzung einer offenbar unrechtlichen Maßregel in Anspruch zu nehmen, bemerkte, mit einem bedeutenden Blick auf den Zulauf, den der Roßhändler fortdauernd im Lande fand, dass der Faden der Freveltaten sich auf diese Weise ins Unendliche fortzuspinnen drohe, und erklärte, dass nur ein schlichtes Rechttun, indem man unmittelbar und rücksichtslos den Fehltritt, den man sich zuschulden kommen lassen, wiedergutmachte, ihn abreißen und die Regierung glücklich aus diesem hässlichen Handel herausziehen könne. (680-681)

Nach Graf Wredes Argumentation soll die institutionalisierte Gewalt des Staates deshalb und solcher Art in Anspruch genommen werden, dass die Ausbreitung der Gewalt verhindert wird. Man müsse durch vorbeugende Maßnahmen erreichen, dass jeder in seinem eigenen Namen verfahre, und zwar auf Grund der Zurückführung der Geschehnisse auf ein einziges Ereignis. Die Gewalt, die zugleich die Gewalt einer zentralisierten Macht, d.h. Staatsgewalt, ist, bedeutet physische Gewalt, baut aber zugleich auf einen hermeneutischen Sprung (also auf »Gewalt«) auf: auf einen kaum begründbaren Rücksprung zum Ausgangspunkt, der seine Wirklichkeit – als Ausgangsereignis – gerade aus dem gewaltigen Moment der Auslegung gewinnt.

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Für die Besprechung in der Kanzlei über den durch den kohlhaasischen Feldzug verursachten Ausnahmezustand, nämlich dass die Beurteilung der Situation und das Gerichtsurteil seiner »Sache« ein gewaltiges Moment impliziert, findet man schon früher ein Vorbild in der hermeneutischen Aktivität von Kohlhaas. Die von Kohlhaas geforderten (und durch diese Forderung vorgezeigten) Dinge werden zu Beweisen. Sie sind Beweise für die ursprüngliche Ursache, für das auslösende Ereignis, für die Sicherung der Allgemeinheit und der Verallgemeinerung der Bedeutung des mit ihm Geschehenen. Durch diese Beweise, die als Ursachen aller späteren Ereignisse gedacht werden, kehrt man zur Urstiftung dieser Geschichte bzw. zu ihrer auslösenden Ursache zurück. Und wie die Ursache, die alles etabliert hat, nur etwas Aktives sein kann, so muss sie eine Person sein, die die Ereignisse unterschreiben und gegenzeichnen kann: Wenzel. Kohlhaas will Wenzel bestraft sehen. Er ist der »Feind aller Christen«, wie er in seinem zweiten »Manifesto« formuliert. Der Feind kann aber nur ein souverän Handelnder sein, der seine Tätigkeit nicht unter Zwang (nicht etwa, weil es hagelt und eine murmelnde Stimme eine zeitweilige Entscheidung erpresst) ausführt, sondern über unbedingte Macht bezüglich seines Entscheidungsprozesses verfügt. Seine Entscheidung ist selbstständig und unteilbar, sie kann auf keine höhere Instanz zurückgeführt werden: dies macht seine Souveränität aus. Kohlhaas geht gegen jemanden vor, um seine eigenen Rechte und die seiner Männer zu schützen: jener steht also ihm gegenüber, und Kohlhaas trifft die Entscheidung, diese Person sei sein Feind. Die Entscheidung ist offensichtlich die Geste der Prosopopeia: jemandem wird die Stimme und das Antwortenkönnen zugeschrieben, disparate Elemente werden zum ersten Glied einer Kausalkette zusammengefügt, werden als einheitlicher erster Grund identifiziert, der sich als Glied einer Handlungskette erweist, das zu weiteren Handlungen führt. Dieses Verfahren setzt ihn selbst auch als Souverän, der seine Macht auf den Staat übertragen hat, der in seinem Namen vorgeht. Jede Person, der über Recht(e) verfügt, ist Souverän, und als solche Bürger eines Staates, der ihn als letzte Souveränität beschützt, deshalb wird man zu der institutionalisierten Souveränität verpflichtet. Der Akzent liegt nicht – wie häufig angenommen – auf dem Verzicht, sondern eher auf der Bedingtheit des Verzichtes, die auch die Rücknahme der Rechte ermöglicht, auf die man verzichtet hat. Vor dem Angriff, in dem ins Schloss von Tronka gesendeten »Rechtsschluss« bezieht sich Kohlhaas betreffend seiner Forderungen auf die Rechte, die ihm »kraft der ihm angeborenen Macht« gegeben sind. Die angeborene Macht ist göttlich, denn sie ist keine gestiftete, gesetzte, sondern eine gegebene Macht, ganz wie die Macht des Souveräns, die von Gott gegebene Macht – auch wenn sie gesetzt und prothetisch ist.13 Kohlhaas bezieht sich schon in seinem ersten »Schluss«, und nicht erst in seinem »krankhaften und mißgeschaffenen« (668) »Manifesto« auf diese Unbedingtheit, die gegenüber den Rechten beliebiger An-

13 | Derrida: The Beast, S. 42.

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derer absolute Validität hat. In diesem Fall betone ich, dass Kohlhaas’ Schluss, der ihn als Souverän setzt, der Grund aller weiteren Souveränität ist. Die »Entscheidung« impliziert zweierlei: zuerst das Bestehen und Existieren dessen, worüber die Entscheidung getroffen wird oder getroffen werden kann. Die eigentliche Macht der Novelle besteht darin, dass sie darauf hinweist, dass dieses Bestehen, über das man entscheidet, selbst Konsequenz der »Entscheidung« sei. Dies bedeutet aber nicht, dass Kohlhaas die ganze Beschwerde erfunden hat und die ganze Angelegenheit bloße »Fiktion« wäre. Niemand zweifelt daran, dass er »Recht« hat. Dieser Zusammenhang folgt eher daraus, dass die ganze »Sache« ihre Form, Sichtbarkeit und Bedeutsamkeit dadurch gewinnt, dass Kohlhaas sie als einen »ursprünglichen« stiftenden Akt setzt, der nicht weiter zu teilen ist. Setzung bedeutet hier einen interpretativen Akt, der eine ganze Reihe von Ereignissen und Handlungen in der Einheit einer Person, eines Moments oder eines Gegenstandes zusammenfasst und als Ursache einer Wirkung vor-stellt. Die Einheit einer so vor-gestellten Person, eines so vor-gestellten Dinges wird durch die Macht oder Gewalt der Vor(rangig)stellung gesichert. Diese Vor(rangig)stellung kommt als Aufruf an »jeden guten Christen« zum Wort. Der Aufruf zielt also auf »jeden guten Christen« ab, dessen »Feind« Wenzel ist, der Kohlhaas etwas – nämlich eine Antwort – »schuldet« und wegen seiner Schuld zu Verantwortung gezogen werden muss.14 Zweitens erzeugt dieser in die Form einer Geschichte aufgenommene Akt der Zuschreibung von Verantwortlichkeit auch den Handelnden. Das Moment 14 | Werner Hamacher verschiebt die Beziehung zwischen der Frage der »Schuld« und dem Problem der Totalität in einen anderen Kontext (in der Analyse des Textes von Walter Benjamin »Kapitalismus als Religion«) in seiner »Schuldgeschichte«. »Was geschieht, ist Schuld. Deshalb ist Schuld ›die höchste Kategorie der Geschichte‹ [Benjamin]. Benjamin fährt in seiner Notiz fort: ›Jedes weltgeschichtliche Moment ist verschuldet und verschuldend. Niemals können Ursache und Wirkung für die Struktur der Weltgeschichte entscheidende Kategorien sein, denn sie können keine Totalität bestimmen. Die Logik hat den Satz zu erweisen, daß keine Totalität als solche Ursache oder Wirkung sein kann. Es ist ein Fehler der rationalistischen Geschichtsauffassung, irgend eine historische Totalität (d.h. einen Weltzustand) als Ursache oder Wirkung anzusehen. Ein Weltzustand ist aber immer nur Schuld (mit Beziehung auf irgend einen späteren).‹ […] Wenn Benjamin hier die Totalität zum Kriterium dafür macht, daß etwas Schuld und nicht Ursache ist, dann vermutlich deshalb, weil eine Ursache als solche ganz darin aufgeht, Ursache für Anderes zu sein, und deshalb keine Totalität sein kann. Zwar ist auch Schuld eine Kategorie der Beziehung auf Anderes […], aber im Unterschied zur Ursache ist Schuld nicht nur eine Herkunftskategorie, sondern eine Kategorie moralischer und näherhin rechtlicher Beziehungen, die es nicht nur erlaubt, sondern erfordert, dass der Schuldige er selbst […] und also eine Totalität sei. […] Verschuldung ist nicht mechanische Kausierung, wohl aber ist sie als Veranlassung, Auslösung, Hervorbringung – causa im Sinn des griechischen aítion.« Hamacher: Schuldgeschichte, S. 80f.

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der Geschichte – der von Kohlhaas nicht verhinderte »Lauf« (678) des Prozesses, während dessen Wenzel zu Verantwortung gezogen wird – ist weder Medium des Verstehens und des Seins noch etwas ab ovo Gegebenes, sondern eine nachträgliche Ausformung und Setzung, die ihren Anfang mit der »Entscheidung« nimmt, und das durch die Entscheidung befreit wird. Kohlhaas beharrt auf seinem Entschluss, Wenzel zur Verantwortung zu ziehen. Diese Entschiedenheit gestaltet auch ihn um, sie lässt ihn zu dem werden, der die Rechtlichkeit einfordert. Kohlhaas wird während seines Prozesses zu einer Person, die durch ihre abgrenzende Geste (die gleichwohl die anzeigend-auszeichnende Geste eines Beharrens auf einem Moment oder einem Punkt ist) jemanden auf bedingungslos souveräne Art aufruft, ihre Forderung zu beantworten. Das »Erpressen der Gerechtigkeit« – und hier müsste man mit der Zweideutigkeit der Formulierung kalkulieren – erzeugt auch ihn, er wird nämlich als Souverän hergestellt. Carl Schmitt folgert (ähnlich wie Luther in der Erzählung) in der oben zitierten Stelle darauf, dass Kohlhaas’ persönliche Angelegenheiten keinesfalls ins Gebiet des Politischen überschlagen könnten – dies ist aber doch der Fall. Es ist ja eben das unbedingte Beharren auf den Kleinigkeiten als Bildern, das seine Handlung in eine eigentliche politische Handlung verwandelt. Der Erzähler erwähnt, aus welchen (jeweils ganz zufälligen) Gründen sich Leute Kohlhaas’ Schar anschließen: wegen der Hoffnung auf reichlich Beute oder weil der polnisch-türkische Krieg gerade zu Ende gegangen ist. Aber unabhängig von den manchmal ganz zufälligen Zielsetzungen der sich anschließenden Leute und beschädigten Bürger kann Kohlhaas’ Hinweis auf sein Unglück, das durch den Prozess und den Guerillakrieg geformt wird, zur anziehenden Macht werden: es ist fähig, die heterogensten Anliegen mit der Bewahrung seiner Beispielhaftigkeit zu verknüpfen, ohne selbst zufällig zu werden. Die Handlungen und Anliegen von Kohlhaas werden oft mit dem Attribut »unerhört« gekennzeichnet, es haftet ihnen also etwas Außerordentliches an. Die »Benennung« (die hier das Signal der »Entscheidung« und selbst Entscheidung ist) löst sich nicht in der Erklärung aktueller Begebenheiten auf – deshalb wird sie zum Legendären, d. i. zur (leeren) Plattform der Bildung von Meinungen und der (Selbst)repräsentation und zum Bereich des Gesetzes. Mithilfe des Guerillakriegs gelingt es Kohlhaas, seine Forderungen sichtbar zu machen, die in ihrer Sichtbarkeit und Konkretheit rätselhaft werden. Letztlich sind sie »unerhört«, und zwar in solchem Maße, dass sogar die Bürger mit Kohlhaas sympathisieren, die von seinem Heer fortlaufend terrorisiert werden (d. i. die Bürger von Wittenberg und Dresden). Dazu konnte es gewiss nicht deshalb kommen, weil sich in Kohlhaas’ Heer Menschen versammelten, die das friedliche Leben der Bürger gefährdeten, es kam vielmehr dazu, weil Kohlhaas etwas repräsentiert, über das man sich eine Meinung bilden kann. Diese Repräsentation kann eben durch die Benennung, durch die Gegenständlichkeit des überaus präzisen Hinweises bestehen, die je sachlicher ist, desto stärker kann die Plattform der Meinungsverschiedenheit erfüllen. Diese prosopopoetische Geste, die sich in Gegenständen und konkreten

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Erforderungen objektiviert, gewinnt ihre Kraft daraus, dass sie den mythischen Feind (»Feind aller Christen«) und dadurch zugleich die mythische Quelle des Gesetzes erzeugt, den Souverän, der der Stellvertreter Gottes auf Erden ist und in diesem Fall in Kohlhaas Gestalt annimmt. Aber dieser Sachverhalt kommt durch eine »Entscheidung« der Auslegung zustande, die sich vergegenständlicht. Dieses gegenständliche Zeigen verleiht dem Souveränen die Legitimität. Souveränität und Prosopopeia gehören zueinander. Es gibt keine Souveränität ohne Prosopopeia und keine Prosopopeia ohne Souveränität; beide sind nicht denkbar ohne die Dimension der Geschichte. Nach Kohlhaas’ Entscheidung ist Wenzel sein Feind, und diese Entscheidung ist nicht weniger willkürlich als das ambivalente Murmeln des Schlossvogts. Durch sie kommen die Bahnen der Taten als nachträgliche Reihen der Ereignisse zustande, die zu einer anderen Situation führen. Diese nächste Situation bedarf einer anderen Entscheidung, als Austritt aus der Zeit des Gesetzes ins Gesetzlose, als Umschlag in eine neue Situation, die erneut zur Unentschiedenheit führt. Wenn die »Entscheidung« gerade dadurch das zentrale Element des Bereiches des Politischen ist, dass sie sowohl den Souverän ausmacht als auch den Ereignissen die Form der Geschichte und der Historie gewährleistet, dann kann diese Geschichte und diese Historie nichts anderes sein als unendliche Reihe von Kataklysmen. Der Novelle Kleists zufolge besteht die faktische Funktion des Staates15 nicht unbedingt in der Entscheidung, sondern auch in der Institutionalisierung der Ohnmacht, die den Staat als solchen erhält. Das Wesen dieser »Ohnmacht« bildet die Idee, dass der Staat niemandem sachlich (sondern nur formal) Recht geben kann (würde es ihm gelingen, würde ihn das selbst bedrohen). Die zu Kataklysmen führenden Entscheidungen und die Institutionalisierung des Unvermögens sind die beiden entgegengesetzten Kräfte, in deren Beziehung der Text über die Souveränität und die Wahrheit, über die Wahrheit als Folge einer Entscheidung spricht.

15 | Die Relation von Rechtsprechung und Gerechtigkeit wird ganz in diesem »kohlhaasischen« Sinne auch in dem Lustspiel Der zerbrochne Krug aufgefasst, und dadurch ist die Funktion der Justiz (als autonomes Bereichs der Staatsgewalt) als Institutionalisierung des Unvermögens angesehen. Frau Marthe verspottet darüber, dass der Rechtsspruch ihren zerbrochenen Krug wiederherstellen, ersetzen oder sie entschädigen würde: »O ja. Entscheiden. Seht doch den Klugschwätzer!/den Krug mir, den zerbrochenen, entscheiden./ Wer wird mir den geschiednen Krug entscheiden?/Hier wird entschieden werden, daß geschieden/Der Krug mir bleiben soll. Für so’n Schiedsurteil/Geb ich noch die geschiednen Scherben nicht. […] Meint er, dass die Justiz ein Töpfer ist?/Und kämen die Hochmögenden und bänden/Die Schürze vor und trägen ihn zum Ofen,/Die könnten sonst was in den Krug mir tun/Als ihn entschädigen. Entschädigen!«. Kleist: Sämtliche Werke, S. 188f.

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4. A ussen I nnen (der »W olf der W üste « und die »P ferde des Teufels «) Die Erzählung reflektiert explizit auf die Relation zwischen Gerechtigkeit und Unrechtlichkeit, auf die Relation zwischen der kausalen Logik der Erzählung und dem zufälligen Ereignis, auf die Latenz des Übergangs unter ihnen und auf die immanente Gewalt dieser Latenz. Kohlhaas’ Feldzug endet durch Luthers Aufruf, der die Legitimität der Handlungen von Kohlhaas in einem »Plakat« öffentlich in Frage stellt: Kohlhaas, der du dich gesandt zu sein vorgibst, das Schwert der Gerechtigkeit zu handhaben […] brichst, wie der Wolf der Wüste, in die friedliche Gemeinheit, die er beschirmt. Das Schwert, wisse, das du führst, ist das Schwert des Raubes und der Mordlust, ein Rebell bist Du und kein Krieger des gerechten Gottes […]. (673-674)

Luthers Brief untersucht Kohlhaas’ Status in der Relation zwischen Souveränität und Gemeinschaft, zwischen Frieden und bestialischer Handlung, Gemeinschaftlichkeit und Tierhaftigkeit. Luthers Brief an Kohlhaas erörtert die Aktionen des Pferdehändlers in scharfen und unauflöslichen Gegensätzen. Kohlhaas wird als der »Wolf der Wüste« beschrieben, der die friedliche Gemeinschaft angreift. Der Pferdehändler gebe sich als Bote Gottes bzw. als »Krieger des gerechten Gottes« aus, er sei aber kein göttlicher Gesandter, sondern ein Rebell, der die ihn beschützende Gemeinschaft angreift. Luther bezieht sich auf die bedingungslose Grenze, die den Frieden vom Terror, die Frömmigkeit und das Gerechte von der Welt der »Wüste« trennt, die durch den Mangel am Menschlichen (und zugleich am Göttlichen) gekennzeichnet ist, im scharfen Gegensatz zu den gesellschaftlichen und institutionalisierten (also durch die Gemeinschaft gewährleisteten und die Gemeinschaft bewahrenden) Formen des Schutzes. »Den Schutz« sichert der Souverän (hier: der Fürst), der als Hirt die Rolle des Spiegels der göttlichen Macht auf der Erde spielt. Aber Kohlhaas, der von Außen auf die Gemeinschaft losstürzt, befindet sich zugleich innerhalb der Gemeinschaft, und so hat er kein Recht, das Schwert gegen den zu erheben, der ihn beschützt. Kohlhaas’ Klage wurde nicht einmal angehört (das klingt ironisch hinsichtlich des Kohlhaas qualifizierenden Attributs »unerhört«), so kann er kein »Krieger«, sondern nur ein »Räuber« sein, da er in der Person des Anderen den Fürst selbst angreift, der in seiner Person allgemein ist. Nach Luther dienen die Handlungen von Kohlhaas keineswegs dem Souverän (oder sind keine Handlungen eines Souveränen), daher können sie nur unrechtliche Handlungen sein. In seiner Verteidigung bezieht sich Kohlhaas ebenfalls auf die Fiktion »des natürlichen Zustands«, wie dieser in dem offenen Brief von Luther im Kontext des »Wolfs der Wüste« schon erwähnt wurde. Da der Pferdehändler aus der Gemeinschaft der Menschen ausgewiesen, »verstoßen« wurde, indem man ihm den »Schutz des Gesetzes« versagte, wirft diese (ausgefallene) »Entscheidung« ihn

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aus der Gemeinschaft hinaus (»der stößt mich zu den Wilden der Einöde«), und gibt ihm »die Keule«, das Recht, sich selbst zu beschützen. Kohlhaas widerlegt nicht die Tatsache der Gewalt, sondern er modifiziert ihren Sinn. Er verknüpft die Frage des »Schutzes« mit der Logik des »Exils«. Derjenige, dessen Beschwerde nicht gehört wird, befindet sich in der »Wüste«, außerhalb der Gemeinschaft, und so muss er sich selbst beschützen. »Wenn das Gehäuse von Schutz und Gehorsam zerbricht« (Schmitt), muss derjenige, der sich in diesem fiktiven »natürlichen Zustand« findet, sich selbst seinen Schutz besorgen. Er muss sich also wie ein Souverän verhalten, und seine Souveränität offenbart sich in der »Feindlichkeit«. Kohlhaas übersetzt mit »Schutz«, was Luther für »Angriff« hält: der wirkliche Unterschied zwischen ihnen besteht darin, wie sie das Eingeschlossensein und den Ausschluss beurteilen. Luther zufolge gibt es keine Alternative zum Innen, nach Kohlhaas’ Ansicht macht allein der freiwillige Austritt als klare Aussage und Explizitwerden des Exils seine Stimme hörbar. So offenbart die Gewalt der »Keule« die Wahrheit des frommen und gesetzestreuen Wesens. Mit der Deklarierung seiner Souveränität (in der Kanzlei werden die Taten von Kohlhaas nicht als Aufruhr eines Untertanen, sondern als Angriff einer »fremden Macht« beurteilt, sie fallen außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der »inneren« Legislative) wiederholt er die Wahrheit des Souveränen, die das Recht über die »Keule« ist und nur durch die Einschließung des Äußeren (d. i. der Gewalt) verwirklicht werden kann, und zwar durch die Schöpfung der hervorgerufenen Wahrheit des »gesetzlichen Schutzes«. Diese zirkuläre Logik, auf der Kohlhaas’ Argument beruht, macht sichtbar, dass sich dieses nomadische Verhalten (er gerät durch seine Aktionen in die »Wüste« oder »Einöde«) unabhängig von den möglichen Deutungen nicht von der Gemeinschaft trennt, sondern zur gleichen Zeit innerhalb und außerhalb der Welt des Menschen besteht. Der »Austritt« schließt ihn noch stärker an die Gemeinschaft an, weil dieser – Kohlhaas zufolge – eine Anerkennung durch die Gemeinschaft erzwingt, die mit den Mitteln der Gemeinschaft nicht zu verwirklichen war. Der Austritt ist eine Form des Eintritts, während der Verbleib in der Gemeinschaft zur Exklusion führt. Diese erzwungene Anerkennung als Gegenübersetzung mit der Ganzheit der Gemeinschaft (durch seinen Privatkrieg) ereignet sich im Namen der Gemeinschaft, indem er als Verbannter das Gesetz der Gemeinschaft (»den Schutz«) einfordert. Diese Existenz an der Grenze – d. i. an der Grenze der Gerechtigkeit, des Gesetzes der Gemeinschaft und der physischen Gewalt – wiederholt oder simuliert zugleich die Seinsweise des Souveräns. Die Wahrheit von Kohlhaas ist die Wahrheit des Souveräns, der sich zur gleichen Zeit innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft befindet, der in seiner Person den »natürlichen Zustand« bewahrt hat, indem er gegen jeden Einzelnen in seiner jeweiligen Individualität verfahren darf, und deshalb bestimmt er sich selbst zugleich in Bezug auf die Ganzheit des Gemeinwesens, in dessen Mittelpunkt er selbst steht. Die Wiederholung von Kohlhaas disseminiert das Prinzip der letzten Souveränität. Er wiederholt den begründenden Akt der Souveränität, und sie

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scheint weiterhin auf die Wiederholung angewiesen zu sein, wobei ihre Funktion (die Souveränität kann nämlich keine Geschichte haben, weil in ihr der Mythos des Anfangs verkörpert wird) wegen der Wiederholung korrumpiert wird. Kohlhaas ist kein »Fürst«, und noch weniger kann er das Prinzip der Volkssouveränität vertreten. Deshalb bezieht sich sein Beispiel auf das allgemein gewordene Singuläre, das über sein Wesen nicht durch eigenes Recht verfügt. Während der Erzähler Kohlhaas zunächst als »unerhört und beispiellos« (671) bezeichnet, beschreibt ihn die Exklamation Luthers als »unbegreiflich« und »entsetzlich« (677). Seine Akte sind keineswegs beispielhaft und gerecht (sondern unrechtlich und gewaltsam), während sie ihrer Form nach die Charakteristika des Beispiels und der Allgemeingültigkeit zeigen. Kohlhaas’ Handlungen und Handlungserklärungen sind Beispiele für die Ausnahme, sie können durch diese wesentliche Ausnahmenatur die Allgemeingültigkeit des Beispiels für sich selbst beanspruchen. Luther lehnt es ab, Kohlhaas an der Eucharistie teilnehmen zu lassen, aber nachdem er gegangen ist, vermittelt er Kohlhaas’ Anliegen dem Kurfürsten und setzt durch, dass Kohlhaas vor Gericht gestellt und für seine Kriegshandlungen begnadigt wird. Die Ambivalenz von Luthers Taten betont die Zweideutigkeit von Kohlhaas’ »Beispiel« und »Souveränität« (die, wie schon betont, als Wiederholung und Darstellung jedwedes souveränen Aktes gilt). Dass Kohlhaas »die Schuld« nicht erlassen und seine Amnestie aufgehoben wird, ist einem Ereignis zu verdanken, das in vieler Hinsicht die Eröffnungsszene widerhallt und vom Erzähler als »Wendung der Dinge« (686) bezeichnet wird. Diese »Wendung« spielt sich ähnlich theatralisch ab wie die erste Situation (der Erzähler spricht von einem »Schauspiel«, 687): vor der versammelten, neugierigen Menschenmenge, in der auch Kohlhaas zu finden ist, erscheint der Abdecker aus Döbbeln, der die völlig verhungerten Pferde von Kohlhaas vor Wenzels Verwandten bringt. Vor dem Gelächter des Publikums spielt sich die Szene der Identifizierung ab: der Kämmerer Kunz fordert Wenzel auf, die Identität der Pferde festzustellen. Wenzel erkennt sie nicht. Kunz versucht, bei dem sich mit dem Tränken seiner Tiere beschäftigenden Abdecker nachzufragen, woher die Pferde stammen, dieser beantwortet seine Frage halbherzig. Endlich identifizierte Kohlhaas die Pferde »aus einer Ferne von zwölf Schritten«16 und tritt ab. Der Kämmerer fordert einen Knecht auf, die Pferde zu seinem Haus zu führen, und als der Knecht dem Einwand seines Verwandten folgt und es zurückweist, die »unehrlichen« »Schindmähren« (690) anzutasten, kommt es zu einer Plünderung. Nur eine Truppe »berittener Landesknechte«, die zufällig vorbeikommt, kann ver-

16 | Der Text verknüpft diese Situation durch dieses Motiv mit der Problematik des Gesetzes. Später wird das kurfürstliche Edikt erwähnt, das »vor einem Zeitraum von zwölf Jahren« (696) eingeführt wurde und den Grund für die Aufhaltung bilden soll.

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hindern, dass die Situation eskaliert und die verhetzten17 Zuschauer Kunz, den Verwandten Wenzels, töteten. Dieses Ereignis verursachte eine »höchst gefährliche Stimmung« (692), die die Beurteilung von Kohlhaas’ Prozess betrifft. Nach diesem Vorfall wird Kohlhaas verhaftet; der die ihm angebotene »märchenhafte« Gelegenheit (mit Hilfe des Amuletts zur Freiheit zu gelangen) bleibt ungenutzt, und so endet der »Lauf« seiner Geschichte, den er in Gang gesetzt und auf den er hartnäckig bestanden hat. Wie in der ersten Szene, spielen auch hier Kohlhaas’ Pferde – als Nebenfiguren – die Hauptrolle. Vor dem versammelten Publikum erscheint der Widerspruch auf vier Beinen: dass die Pferde, »um derenthalben der Staat wanke, an den Schinder gekommen wären« (687). Kohlhaas Pferde sind lebendige Tote, sie haben kaum noch Leben in sich, gleichwohl ist ihretwegen die letzte Souveränität in eine Krise geraten. Unter den forschenden Blicken der Umherstehenden benehmen sich Ritter und Kämmerer gänzlich verwirrt, da sie nicht wissen, wie sie mit den Tieren umgehen sollen, die eigentlich schon zum Abdecker gehören, zugleich aber sehr wichtig sind. Aber wie betreten waren die Ritter, als sie bereits von einen Augenblick zu Augenblick sich vergrößernden Haufen von Menschen, den das Schauspiel herbeigezogen, um den zweirädrigen Karren, an dem die Tiere befestigt waren, erblickten; unter unendlichem Gelächter einander zurufend, daß die Pferde schon, um derenthalben der Staat wanke, an den Schinder gekommen wären. […] Der Kämmerer, der auf der Welt Gottes nicht wußte, was er mit den Pferden […] machen sollte, falls es nicht diejenigen wären, auf welchen der Teufel durch Sachsen ritt, forderte den Junker auf, ein Wort zu sprechen (687-688)

Die Pferde stehen außerhalb des rechtlichen Machtbereichs, des Gesetzes der Gemeinschaft, der Welt des Nomos, so leben die Pferde eigentlich nicht. Da das Leben dieser Tiere ein »außerrechtliches« Leben ist, bedarf ihre Anwesenheit der Legitimation. Die Pferde müssen »ehrlich gemacht werden« (691), sagt der Knecht, und erst dann werden sie antastbar. Graf Kallheim erklärt später, die Pferde »sind tot, sind in staatsrechtlicher Bedeutung tot, weil sie keinen Wert haben« (693, Hervorhebung im Original). »Leben« bedeutet hier nicht das physische Existieren, sondern die Existenz im Sinne der Gesetzgebung, das Leben vor dem Gesetz, das den Grund der Wertigkeit bietet. Deswegen ist die physische Anwesenheit der Pferde widersprüchlich, da sie physisch (kaum) leben und vor dem Gesetz gar nicht. Diese Exterritorialität bedeutet nicht das Fehlen der Symbolisation, sondern betrifft ihre äußere Grenze. Die Pferde sind im eigentlichen Sinne nicht einmal Tiere, weil sie nicht das Nicht-menschliche (das »Tierische«) bezeichnen,

17 | Die Situation der Identifizierung zeigt strukturelle Homologien mit der Klimax einer anderen Erzählung Kleists, Das Erdbeben in Chili. Siehe dazu Hamacher: Das Beben, S. 235-280.

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sondern sie bezeichnen nichts.18 Besser gesagt, sie bezeichnen das Nichts, das außerhalb der Gesetzgebung liegt. Trotzdem bezieht sich dieses Nichts, der Tod »in staatsrechtlicher Bedeutung« nicht auf das Fehlen des Lebens, sondern auf die Außenseite des Gesetzes, auf die Grenze des Gesetzes, aus dem Grund alles geschieht. Diese Heterogenität außerhalb des Gesetzes bestimmt die Form des Gesetzes: jeder Kampf läuft um dieses Exterritoriale, um Einbeziehung ins Gesetz. Und im »nackten Leben«19 der Pferde erscheint das, was als solches nicht zu berechnen ist und in sich selbst nichts signifiziert – während die Pferde die inhärente Liminalität des Gesetzes vorführen. Das Leben jenseits der Existenz, das rechtlich nicht beurteilbare Leben, das die liminale Form des Gesetzes und der Geschichte darstellt, ist das, was im Theater der Blicke abläuft: der Befehl des Adeligen, die Ehre des Bürgers, die Arbeit des Knechtes gerät vor diesem »nackten Leben« in Verlegenheit.

18 | In einem eleganten Aufsatz untersucht Francisco Larubia-Prado die verschiedenen Sinnzusammenhänge, die die Pferde von Kohlhaas hervorrufen. In den Schlussfolgerungen (»In sum, we find horses everywhere in Kleist’s text. They perform different and decisive functions such as being the frontier itself (as parergon), the bridge between two frontiers (the frontiers between discourses since they are the shared presence between realism and romance), or transiting between both sides of the frontier (they are on both sides of life and death and come back from each one). As a symbol of the integrity of a text configured as an experience of the frontier, it is fitting that the Rappen are two.« Larubia-Prado: Horses, S. 348) unterstreicht er noch einmal die Funktion der »Überbrückung«, der symbolischen Vermittlung, die er den Pferden zuschreibt. Was aber in Kleists Novelle radikal in Frage gestellt wird, ist eben diese Logik der Symbolisierung, die Möglichkeit der Sinnübertragung: die Pferde erscheinen dem lachenden Publikum als materielle Zeichen, als Spuren, die ganz gewiss keinen (bestimmten oder unbestimmten) Sinn haben können; eben das führt zum Aufruhr. Die »Restauration« am Ende der Erzählung als ironische Beschreibung der »Genugtuung« scheint eine zeitweilige Lösung des Konflikts zu sein und ist zugleich eine ironische Reflexion auf die Unmöglichkeit, diese Kluft zwischen Zeichen und Sinn in seinem Walten (auch literarisch) wahrnehmen zu können. 19 | Mit dem Hinweis auf den aus Giorgio Agamben Homo sacer bekannt gewordenen Terminus, »das nackte Leben«, möchte ich keineswegs gleichzeitig das behaupten, dass die Logik der Sakralität in der Form, wie Agamben sie definiert, im allgemeinen auf die Pferde von Kohlhaas und auf die »Grenzen-Logik« der Erzählung anzuwenden sei, auch wenn sehr viele Momente das ermöglichen würden. Agamben definiert den Bereich des Politischen so: »Politik gibt es deshalb, weil der Mensch das Lebewesen ist, das in der Sprache das nackte Leben von sich abtrennt und sich entgegensetzt und zugleich in einer einschließenden Ausschließung die Beziehung zu ihm aufrechterhält.« (Agamben: Homo sacer, S. 18) Kleists Text beharrt auf der Ereignishaftigkeit der »einschließenden Ausschließung«, die, mindestens nach der Erfahrung von Kleists Text, eben wegen dieser zu keiner (biopolitischen) Technik politischer Einrichtungen gemacht werden kann.

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Aber genau der Ausschluss, das Verbot des Berührens, wie man das Nichts der Pferde behandelt, führt zu einer neuen Geschichte: da sie von der rechtlichen Existenz ausgeschlossen sind und nicht einmal das Ritual der Reinigung oder Wiederherstellung (durch »Schwingung einer Fahne über ihre Häupter« 724) an ihnen durchführbar ist, muss man eine Entscheidung treffen: was jetzt zu tun sei. Es findet wieder ein »breakdown« (Zeeb) statt, der eine noch genauere Form der Auflösung des Gesetzes zeigt als die erste Szene: die Auflösung bedeutet hier Unruhe und Pogrom. Die Rolle des Opfers wurde früher von den Pferden besetzt, hier wird sie von Kunz vertreten. Die »Wendung der Dinge« (686), wie der Erzähler diese Ereignisse bezeichnet, benennt das Außer-sich-geraten des Gesetzes20, des Status quo, der durch eine vorherige Entscheidung zustande kam, während die Situation die erste Szene des vor-dem-Gesetz-Seins wiederholt. Was »wirklich« geschah, erschien sogar vor dem Gemäßigten so, als ob Kohlhaas gehetzt hätte. An dieser Stelle kann man nicht über die »Tat« von Kohlhaas (er war als Zuschauer anwesend), die zu diesem öffentlichen Urteil führt, reden. Ganz wie über die kohlhaasische Vorstellung über »Wenzel als Feind«, die nicht von dem Herumlungern vor der Rampe ableitbar ist. Kohlhaas erleidet die gefährliche »Wendung der Dinge«; aber auch diese Situation behält den gefährlichen, brisanten Rückstand der in kausalen Zusammenhänge eingereihten »Gegenständlichkeit«, das unmögliche Gedächtnis der außerhalb der »Benennung«, des Ausgesagten gebliebenen Ereignisse.

5. D enken des U ndenkbaren als F r age Luther sagte: »Schau her, was du forderst, wenn anders die Umstände so sind, wie die öffentliche Stimme hören läßt, ist gerecht, und hättest du den Streit, bevor du eigenmächtig zur Selbstrache geschritten, zu des Landessherrn Entscheidung zu bringen gewußt, so wäre dir deine Forderung, zweifle ich nicht, Punkt vor Punkt bewilligt worden. Doch hättest du nicht, alles wohl erwogen, besser getan, du hättest, um deines Erlösers willen, dem Junker vergeben, die Rappen, dürre und abgehärmt, wie sie waren, bei der Hand genommen, dich aufgesetzt und zur Dickfütterung in deinen Stall nach Kohlhaasenbrück heimgeritten?« – Kohlhaas antwortete: »Kann sein«, indem er ans Fenster trat, »kann sein, auch nicht […]!« (678)

20 | In der Auslegung von J. Hillis Miller wird das »Kohlhaas-Dilemma« aus der Perspektive einer kantianischen Ethik interpretiert. Hillis Miller behauptet, dass das Paradox von Michael Kohlhaas sich daher rührt, dass Kohlhaas sich stets und konsequent als ein strenger Kantianer verhält. Diese vergleichende Lesart kippt sich daran um, dass einerseits im Text von Kleist sich ans »Gesetz« immer etwas Zufälliges und Materielles anhaftet, zweitens dass es keine Realität außer seines »Ereignens« (als »Wankung«) hat.

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Kohlhaas weigert sich, Luthers Frage zu bejahen oder gegenzuzeichnen; dass er ans Fenster tritt, unterstreicht diese Weigerung. Die Ironie des Textes besteht darin, dass man durch das Fenster nicht hinausblicken kann: vorher ist zu lesen, dass draußen Nacht ist, später meldet sich ein Famulus »mit Licht«. Hier erscheint gewiss die vorher skizzierte Vorstellung, dass das Gesetz als ein nicht durchlässiges Medium erscheint. Es fordert uns auf anzuhalten, und zugleich verspricht es den Übergang ins Jenseits. Kohlhaas sieht in dunklem Fenster nur sich selbst, als ein Bild, das sich im Jenseits des Zimmers befindet. In seinem Spiegelbild/Imago ist Kohlhaas in dem versprochenen Raum, vor dem er von der Oberfläche des Fensters (als Spiegel) aufgehalten wird. Kohlhaas’ Tritt ist die Antwort auf Luthers Frage, die er (Luther) im Konjunktiv gestellt hat. Luther spricht über die göttliche Gewaltlosigkeit, die nicht als Aufforderung erschallt – nicht wie die Stimme, die aus dem Fenster ihre schiere Gewalt setzt –, sondern als eine Frage, die sich auf eine nicht mehr bestehende, verpasste Möglichkeit bezieht: Hättest du nicht besser getan, deinem Feind zu vergeben? Die Möglichkeit der Verzeihung erscheint als das Unmögliche, das außerhalb der Sphäre des Gesetzes liegt, als eine stumme, dem Bereich der Aufforderung und des Performativen fremde Möglichkeit. Diese ist eine bedingte Möglichkeit, die – weil sie den Ruf des Gesetzes entbehrt – nicht als Aufruf erscheint, der bestätigt werden soll. Die Möglichkeit, Geschehenes ungeschehen zu machen, liegt außerhalb der auf der göttlichen Gewalt gründenden Gerechtigkeit, und als machtlose Frage stellt sich gegenüber allem Bestehenden. Die Wahl der göttlichen Gewaltlosigkeit (Luthers Vorschlag folgend) löst das Paradox des Gesetzes nicht auf, sondern sie erlöst es. Die gespenstische Wiederkehr von Lisbeth in der Figur der Zigeunerin in den späteren Abschnitten der Erzählung gehört in den Bereich des Märchenhaften. Der Erzähler verlangt von den Lesern nicht, dass sie Lisbeths Wiederkehr, die in den Bereich des Märchenhaften/Undenkbaren gehört, bestätigen (wie zum Beispiel Kohlhaas seine Legitimität vor dem Gesetz gegenzeichnen muss). [D]ie Wahrscheinlichkeit [ist] nicht immer auf Seiten der Wahrheit […], so traf es sich, daß hier etwas geschehen war, das wir zwar berichten, die Freiheit aber, daran zu zweifeln, demjenigen, dem es wohlgefällt, zugestehen müssen. (720)

Diese ironische Gabe der Erzählung, die mit dem Konjunktiv der lutherschen Frage und der göttlichen Gewaltlosigkeit des Ungeschehen-Machens korrespondiert, erscheint noch einmal in der Gabe der Zigeunerin, die als Rätsel das nicht dechiffrierbare Geheimnis der Zukunft in sich birgt. Die Erzählung von Kleist schafft ein Muster von Ereignis und Geschichte, Zufälligkeit und Gesetz, Transzendenz und formaler Leere des Gesetzes und die darauf gegebene Antwort, die auf Asymmetrien beruht: so führt ihre Beziehung, die durch die Figur der »Entscheidung« vorgestellt wird, zwangsläufig dazu, dass

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Kataklysmus und Wiederherstellung, Wanken an der Grenze des Gesetzes und Vorlaufen zum Gesetz ins Gebiet des Gesetzlosen als unüberbrückbare Ambivalenzen erscheinen. Im Text stellt sich die Figur der machtlosen und des Gegenzeichnens nicht bedürfenden »Frage« dieser Ambivalenz entgegen. Das nach mehreren Auslegungen ungerechtfertigte Auftauchen des Märchenhaften bezeugt im Text einerseits die Macht der Literatur. Die Sprache der Erzählung, die selbst fiktiv ist, macht deshalb die Liminalität des Gesetzes lesbar, und der Leser soll keine Entscheidung über Wahr und Falsch treffen. Der Leser wird nicht unmittelbar in die dargestellte Situation der Entscheidungen oder in die sprachliche Struktur der Entscheidung miteinbezogen, und so kann er im schwebenden Raum der Unentschiedenheit den paradoxen Auf bau der Entscheidung in der Freiheit von dieser erfahren. Andererseits lenkt die Figur des Übergangs durch das Gesetz (d.i. zum »Jenseits« des Gesetzes, zur unbedingten, nicht menschlichen, sondern göttlichen Gerechtigkeit), die von Kohlhaas’ Spiegelszene wiederholt wird, die Aufmerksamkeit darauf, dass die Erlösung vom Gesetz selbst konstitutiver Teil des kohlhaas’schen Gedanken des Gesetzes ist: demnach trägt die literarische Imagination nicht zur Abschaffung der liminalen Form des Gesetzes bei, sondern eben zu ihrer Sicherung. Die unbedingte Ironie am Ende der Erzählung, die »rüstige Nachkommen« von Kohlhaas visioniert, kann man deshalb nach einer metafiktionalen Lesart als das Bejahen der literarischen Imagination und als eine Art vernichtende Kritik ihres ergänzenden, vollstreckenden Charakters denken.

L iter atur Agamben, Giorgio: Homo sacer, Frankfurt a.M. 2002. Barthes, Roland: L’analyse structurale du récit, Paris 1981. Bibó, István: Die Misere der osteuropäischen Kleinstaaterei, Frankfurt a.M. 2005. Derrida, Jacques: The Beast and the Sovereign I. (Englisch von G. Bennington), Chicago/London 2009. Hamacher, Werner: »Das Beben der Darstellung. Kleists Erdbeben in Chili«, in: ders. (Hg.), Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt a.M. 1998, S. 235-280. — »Schuldgeschichte. Benjamins Skizze ›Kapitalismus als Religion‹«, in: D. Baecker (Hg.), Kapitalismus als Religion, Berlin 2003, S. 77-119. Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke (Hg. von Hans Jürgen Meinerts), Gütersloh 1961. Larubia-Prado, Francisco: »Horses at the Frontier in Kleist’s Michael Kohlhaas«, in: Seminar: A Journal of Germanic Studies 46 (2010), S. 330-350. Menke, Bettine: Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München 2000.

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Miller, J. Hillis: »Laying Down the Law in Literature. The Example of Kleist.«, in: Cardozo Law Review 11 (1990), S. 1491-1514. Schmitt, Carl: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 2010. Szücs, Jenő: Die drei historischen Regionen Europas, Frankfurt a.M. 1990. Török, Ervin: »A másik adománya« [Die Gabe des Anderen], in: Filológiai Közlöny [Philologische Mitteilungen] 3-4 (2007), S. 227-253. Zeeb, Ekkehard: Die Unlesbarkeit der Welt und die Lesbarkeit der Texte: Ausschreitungen des Rahmens der Literatur in den Schriften Heinrich von Kleists. Würzburg 1995.

Die zwei Körper des Feindes Repräsentation, Form und Öffentlichkeit bei Carl Schmitt Zoltán Kulcsár-Szabó

Kurz nach der Veröffentlichung von Politische Theologie fasst Carl Schmitt seinen Begriff von Repräsentation in der zuerst 1923 erschienenen, neuerdings oft zitierten Schrift Römischer Katholizismus und politische Form (wo er wie gewohnt mit einem entschlossenen Auftakt beginnt, der eine Streitsituation erkennen lässt: »Es gibt einen anti-römischen Affekt.« – RK 51), d.h. wieder im Kontext der Säkularisierungsthese zusammen. Wie er das bereits in seiner Untersuchung zur »politischen Romantik« deutlich gemacht hat, sieht Schmitt die schwerwiegendste Eigentümlichkeit und Mangelhaftigkeit (in gewissem Sinne sogar: die Unpolitisierbarkeit) der politischen Dimension der romantischen Ideologie (und des – um es leicht vereinfacht auszudrücken – auf diese zurückgeführten liberalen Parlamentarismus) darin, dass diese nichts mit Repräsentativität anfangen kann.2 Da das auf den ersten Blick nach einem ziemlich inkonsequenten Ein1 | Auf folgende Arbeiten Schmitts wird im Text durch die Abkürzungen mit Seitenangabe hingewiesen: PT –Politische Theologie (1922); BP – Der Begriff des Politischen (1932); RK – Römischer Katholizismus und politische Form (1923, 21925); V – Verfassungslehre, Berlin 1928. 2 | Vgl. ders.: Politische Romantik, S. 16-17. Dazu sei gleich angemerkt, dass es falsch wäre, Schmitt, der in den 1910ern in verschiedenen avantgardistischen (expressionistischen, später sogar dadaistischen) Kreisen sozialisiert wurde (vgl. dazu Kennedy: Politischer Expressionismus), kategorisch als einen definitiven Feind der Romantik zu handeln. Bereits ein Schmitt nahestehender Zeitgenosse, nämlich Hugo Ball, hat auf die Zweiseitigkeit seines Romantikbildes aufmerksam gemacht (Ball: Carl Schmitts Politische Theologie, S. 101f). Schmitts Untersuchung aus dem Jahr 1916 über das 30000 Verse starke und von den Lesern von heute vermutlich außerordentliche Ausdauer verlangende Epos Theodor Däublers, des in Schmitts Oeuvre mit größtem Gewicht behandelten und – wie später gezeigt wird – an entscheidenden Stellen zitierten Dichters würdigt die bei Däubler erkannte Tradition der Romantik z.B. noch als eine unerschöpfliche geistige Quelle (Schmitt: Nordlicht, S. 12). Anfang der 1920er spricht übrigens Ernst Robert Curtius in einem Brief an

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wand klingt gegen eine Institution, die auf die Logik der Repräsentation aufgebaut wurde, soll hier angenommen werden, dass Schmitts Kritik in Wahrheit von einer semantischen Alternative ausgeht, d.h. eine Begriffsverwendung (oder eine Tradition) aktualisiert, die diesen Begriff nicht auf die auf der Hand liegenden zeichentheoretischen Definitionen zurückführen lässt. Es überrascht kaum, dass Schmitt diese Tradition im (hier vielleicht noch mehr im institutionellen als im theologischen Sinne genommenen) Katholizismus auffindet, eine Tradition, die, wie dies in Politische Romantik des Öfteren (und vielleicht etwas einseitig – wäre hier hinzuzufügen) festgestellt wird, dem protestantischen Geist der (deutschen) Romantik grundsätzlich fremd sei.3 Die katholische Kirche erscheint in Schmitts Darstellung als eine vielfach angegriffene politische Instanz, ja sogar ein politisches Modell, das gerade mit Blick auf die Krisensymptome der modernen parlamentarischen Demokratien oder im Allgemeinen des säkularisierten modernen Lebens seine Wirksamkeit entfaltet. Die politische Kraft der Kirche liegt nach Schmitt in einer Art Elastizität, die ihre ganze Geschichte bestimmt hat, in dem wiederholten Zustandekommen einer »complexio oppositorum«, und diese politische Lebensfähigkeit lässt sich auf das Prinzip der Repräsentation zurückführen (ebd., 14). Repräsentativität wird, in dem hier angeführten Sinne, vor allem durch ihren konkreten Charakter beschreibbar: der katholische Begriff von Repräsentation lässt demnach keine formale Abgrenzung zwischen den Dimensionen von Präsenz und Absenz zu, da sowohl das Repräsentierende, als auch das Repräsentierte präsent zu sein haben (Repräsentation ist folglich zugleich Präsentation4), was ferner ausschließlich auf eine personengebundene und öffentliche Weise erfolgen kann, die letztere Voraussetzung hat ja auch in der These über die »Sichtbarkeit« der Kirche nicht gefehlt.5 Aus ihrer konkreten Natur folgt weiter, dass Repräsentation nicht als ein gegebenes oder bereits konstituiertes Zeichensystem beschrieben werden kann, Schmitt davon, dass es »beschämend [ist] für uns Literaturhistoriker, dass die einzig sinnvolle Bestimmung der Aufgabe, die sich die Romantikforschung zu setzen hat (›bewusste Begrenzung auf einen bestimmten historischen Komplex‹) von einem Juristen kommt« (zitiert bei Bendersky: Politische Romantik, S. 472). 3 | Vgl. z.B. Schmitt: Politische Romantik, S. 27, 61. 4 | Die Beziehung von Repräsentation und Präsentation spielt auch in der Struktur der »Ausnahme« eine wichtige Rolle, s. dazu Giorgio Agambens auf die Kategorien Alain Badious gestützte Analyse (Agamben: Homo sacer, S. 34-35). 5 | Die These der »Sichtbarkeit« der Kirche steht bereits in Schmitts »scholastischer Erwägung« von 1917 im Vordergrund (Schmitt: Die Sichtbarkeit der Kirche), in Verfassungslehre tritt sie im allgemeinen Sinne als Bedingung für einen Repräsentationsbegriff hervor, in dem »das Unsichtbare als abwesend vorausgesetzt und doch gleichzeitig anwesend gemacht wird« (V 209-210). Darüber hinaus ist sie auch in der Terminologie von Schmitts viel später verfassten Arbeiten zu finden, vgl. dazu Franco de Sá: The Event of Order bzw. Okajangas: Carl Schmitt and the Sacred Origins.

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das sich auf unterschiedliche Weisen aktualisieren lässt, sie steht vielmehr dem Ereignishaften nah, da ihr performativer Charakter (z.B. in der Formerzeugung) kaum zu verkennen ist. Die »formale Überlegenheit über die Materie des menschlichen Lebens«, die daraus entspringt, dass die so aufgefasste Repräsentation »die substantielle Gestaltung der historischen und sozialen Wirklichkeit« (ebd.; herv. ZKSz) ermöglicht und in diesem Sinne rational bleibt und auch den Bereich der konkreten Existenz nicht zu verlassen hat, trifft – so Schmitts zeitkritischer Befund – in der modernen, von der Logik ökonomischen Denkens eroberten Welt ausschließlich im Katholizismus auf ein Muster, da in diesem die Macht der Repräsentation immer noch sichtbar ist. Dass die Kirche auf das Dogma der persönlichen Repräsentation von Christus, und zwar nachdrücklich des in der geschichtlichen Wirklichkeit zum Mensch gewordenen Gottes, nicht verzichten kann (ebd., 32), zeuge davon, dass ihre politische Kraft dadurch gesichert ist, dass die Autorität hier, einerseits, aus einem Amt entspringt und deshalb nicht an irgendein persönliches Charisma gebunden ist (diese Abgrenzung ist offensichtlich auch als Bezug auf Max Weber lesbar), andererseits jedoch weiterhin persönlich oder an Personen gebunden bleibt (ebd., 24), da sie – im Gegensatz zur unpersönlichen Funktionalität der Macht moderner Beamter – in einer lückenlosen Kette auf die Person von Christus bzw. auf die auf Christus zurückgeführte Mission zurückgeht (Schmitt verweist hier als Illustration auf das vom Ersten Vatikanischen Konzil verkündigte Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes, die wieder nicht durch die Person, sondern durch die Repräsentation von Christus in der Person gewährleistet ist). Eine Person nach dieser Auffassung ist keine Privatperson, aber ebenso wenig eine »Rechtsperson«. Aus dem weiteren Gang der Argumentation Schmitts wird noch deutlicher, dass er hier diejenige Bedeutungsschicht von Repräsentativität aktualisiert, die aus der heutigen Wortverwendung vor allem als der Selbstausdruck oder die Selbstdarstellung einer (politischen, wirtschaftlichen, ästhetischen usw.) Kraft oder Macht bekannt sein dürfte, z.B. wo von repräsentativen Gebäuden, Kleidung oder dergleichen die Rede ist. Es ist also die Repräsentation selbst, die dem Repräsentierenden und dem Adressaten des Prozesses – u.a. – Würde verleiht, d.h. – so könnte die erste Folgerung lauten – Repräsentation selbst erzeugt irgendeine Art von Autorität, also ggf. auch Macht, und zwar – Schmitt zählt diesbezüglich die Eigentümlichkeiten der Bereiche von Kunst, Recht und Politik auf – gerade dadurch, dass sie Form erzeugt. Rhetorik z.B. kommt hier (im scharfen Gegensatz zu der in bürgerlichen Demokratien herrschenden »diskutierenden Klasse«) nicht als einem Mittel zur Besprechung der Angelegenheiten öffentlichen Lebens oder als Mittel der Persuasion Bedeutung zu, sie ist nämlich kein Mittel6, sondern repräsentative Rede, die wiederum selber die Würde erzeugt, die es verdient, 6 | In seiner Interpretation des Epos von Däubler beschäftigt sich Schmitt ausführlich damit, wie die Mittelbarkeit der Sprache in der poetischen Sprache in den Hintergrund

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repräsentiert zu werden, und zwar dadurch, dass sie die Form(ung) in der Rede sichtbar macht: die »in der Rationalität sich formenden Sprechens sichtbar gewordene menschliche Würde« (RK 40). Wie dies eben in der vorigen Formulierung ersichtlich werden kann, ist in diesem Schema auch eine entgegengesetzte Richtung zu finden: obzwar einerseits die Repräsentation selbst Form und Macht erzeugt, kann andererseits – wie Schmitt später in seiner Verfassungslehre ausführlicher darstellen wird (vgl. z.B. V 209-210) – nur das repräsentiert werden, was selber groß, erhaben, ruhmreich, würdevoll usw. ist. Es geht also vielmehr um ein zirkuläres Muster: Größe (oder Macht) und Repräsentation setzen voraus und erzeugen einander, und es ist die entstandene Form, an der dieser doppelte Prozess wahrgenommen werden kann. An diesem Punkt drängt sich selbstverständlich die Frage auf, in welche Richtungen oder welchen Zusammenhängen diese Auffassung von Repräsentation politisiert werden kann. Der erste Problemkreis entfaltet sich aus der Personengebundenheit der Repräsentation, dies ist zugleich der Zusammenhang, in dem sich die Linien, die Schmitts politische Theologie mit der späteren nationalsozialistischen Diktatur verbinden, am deutlichsten abzeichnen. Die Stellung des »Führers« in der nationalsozialistischen Staatslehre, zu der nach 1933 auch Schmitt sich mehrmals geäußert hat, ist in dieser Hinsicht an eine Vorstellung von Staatsregierung angeknüpft, für die die unmittelbare oder gar allgegenwärtige Präsenz des Führers eine zentrale Bedeutung hat: in der dreifachen Konstellation von Staat, Bewegung und Volk, die die Opposition von Individuum und Masse ohnehin auflöst oder im gewissen Sinne sogar die Unterscheidung zwischen beiden verhindert 7, soll das Prinzip der »Führerpräsenz«8 mit allen möglichen Mitteln auch begrifflich die Idee rechtfertigen, nach der der Führer die politische Macht oder Institution nicht bloß repräsentiert, sondern als unmittelbare Realität gegenwärtig ist. Schmitt scheint in diesen Jahren, wenn auch nicht ganz explizit, seine Idee über die Politisierbarkeit des Repräsentationsbegriffs aufgegeben zu haben, was hier jedoch eher in der Hinsicht wichtig sein kann, dass dadurch das Balancieren sichtbar wird, das er in Römischer Katholizismus und politische Form auszuführen hatte. Das katholische Modell bietet nämlich einerseits eine Alternative für eine wirkungsmächtige semiotische Tradition an, löst sich andererseits genauso wenig in der Idee einer totalen oder unmittelbaren Präsenz auf – was sich z.B. daran zeigt, dass es letztendlich nicht dazu getaugt hat, ein nichtregedrängt wird. Er macht z.B. auf euphonische Effekte aufmerksam, weist sogar auf Anagramme hin. Vgl. Schmitt: Nordlicht, S. 43-51. 7 | Wie übrigens auch in Jüngers Utopie Der Arbeiter, S. 104-106. Für Jünger ist der Führer der »erste Arbeiter«, s. ebd. S. 19. 8 | Vgl. dazu Agamben: Homo sacer, S. 182. bzw. – über die körperliche Präsenz der Stimme (das unmittelbare Wort) des Führers als Autoritätsquelle – Dolar: A Voice and Nothing More, S. 116. (»Führerworte hatten Gesetzkraft« – so eine Aussage Adolf Eichmanns vor dem Gericht in Jerusalem, vgl. Arendt: Eichmann, S. 148).

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präsentativistisches Konzept der Macht des nationalsozialistischen »Führers« zu begründen. Das bedeutet jedoch bei weitem nicht, dass dieses Modell nicht auf zum Teil säkulare Traditionen von Machtkonzepten zurückgeführt werden könnte. Es liegt z.B. auf der Hand, es mit der mittelalterlichen Tradition der politischen Theologie in Zusammenhang zu bringen, die Ernst Kantorowicz in der Formel »zwei Körper des Königs« zusammengefasst hat und die – trotz ihrer Verwurzeltheit in der Antike – ausschließlich in den Rahmen der christlichen Theologie systematisch nachzuweisen ist9. Mit Blick auf den Vorschlag Louis Marins, der von der Zeichentheorie der Port-Royal und der Praxis der Machtrepräsentation des französischen Absolutismus ausgeht und die Formel von Kantorowicz gerade mit dem Hinweis auf die Eucharistielehre zu einem dreigliedrigen Modell ergänzt10, liegt die Folgerung nahe, dass der Begriff von Repräsentation in diesem Zusammenhang bei der Ausübung politischer Macht gar nicht fehlen kann. Repräsentation lässt sich hier nämlich nicht auf die Leistung begrenzen, dass sie Abwesendes vergegenwärtigen kann, denn es ist zugleich die Repräsentation selbst, die das Anwesende (oder Präsenz überhaupt) autorisiert (ein profanes Beispiel Marins aus dem Alltag ist der Pass) und dadurch freilich sich selbst – eben als Repräsentation – im selben Schritt legitimiert. Die Repräsentation von Souveränität ist deshalb keineswegs ein äußerliches, sondern vielmehr ein Wesenselement von Souveränität selber: die Gewalt, die in der politischen Macht institutionalisiert wird, ist in der Tat die Gewalt der Repräsentation, das bedeutet aus einem anderen Blickwinkel, dass Macht eigentlich nichts anderes ist als die Repräsentation dieser Gewalt bzw. – drittens – dass Macht die Macht der Repräsentation ist. Repräsentation ist (selbst die) Macht, deshalb kann nur Macht repräsentiert werden. Es ist gerade diese Auffassung von Repräsentation, die den Übergang von dem sterblichen, physischen Körper des Herrschers zu seinem unsterblichen, rechtlichen oder politischen Körper ermöglicht und damit zugleich – was auch im Hinblick auf Schmitts diesbezüglichen Vorstellungen von entscheidender Bedeutung sein kann – den Unterschied zwischen den beiden verschleiert, die Tatsache nämlich, dass der Souverän in der Repräsentation dennoch nicht er selbst ist. Marin erblickt übrigens eben in diesem Paradox, in diesem eigentlichen Bruch der Repräsentation, eine Variante für die »arcana imperii«, die Geheimnisse des Imperiums11, was hier insofern erwähnenswert ist, als dieser politische Begriff, dessen kosmologische Herkunft bis zum 17. Jahrhundert immer mehr von regierungstechnischen bzw. theatralischen Bedeutungszusammenhängen (z.B. dem der vorgetäuschten Kommunikation) verdrängt wurde12, auch in Schmitts Terminologie einen wichtigen Platz hat. Mit seiner These der Personengebundenheit 9 | Vgl. dazu Kantorowicz: The King’s Two Bodies, S. 199, 505-506. 10 | S. Marin: Porträt, bes. S. 9-24. 11 | Ebd., S. 383. 12 | Zur Begriffsgeschichte s. Luhmann: Geheimnis, Zeit und Ewigkeit, S. 116-121.

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der politischen Repräsentation scheint Schmitt wie so oft wieder auf die Bedrohung der Theatralisierung zu stoßen: es soll die Möglichkeit abgewehrt (oder verdrängt oder verheimlicht) werden, dass die Person, die die Autorität verkörpert, sich als theatralischer oder gar nicht existierender Körper entpuppt.13 Von hier aus gesehen scheint es äußerst konsequent, dass Schmitt dort, wo er die staatstheoretisch-verfassungsrechtlichen Bezüge des Repräsentationsbegriffs zu klären sucht, diesen streng auf den Bereich der Öffentlichkeit (d.h., um sein früher erwähntes Kriterium zu verwenden, des Sichtbaren) als auf den eigentlichen Bereich des Politischen begrenzt. Dieser Bereich, wäre hier anzumerken, ist zwar bekanntlich selten dazu fähig, die ihm innewohnende Theatralität zu verbergen (man denke u.a. an Edmund Burke und die Reflections on the Revolution in France), Schmitt geht es hier jedoch vielmehr darum, diese Öffentlichkeit als die Dimension der politischen Handlung überhaupt gegenüber der Sphäre der individuellen, privaten und – was vor dem Hintergrund des vorhin Gesagten paradox klingen mag – persönlichen Handlungen und Interessen abzugrenzen. Schmitts spätere Hobbes-Interpretation liest sich im Wesentlichen als ein Versuch, diese Abgrenzungen zu historisieren. Die Idee der öffentlichen Repräsentation zeugt hier – in enger Nähe zu bedenklichen ideologischen Kontexte – im gewissen Sinne von dem Bedarf nach einer Art Selbsttherapie oder Selbstrestauration des Politischen, da Schmitt die Zerstörung des absolutistischen Staates, des Leviathans geschichtlich von einer Spaltung zwischen Privat- und öffentlicher Sphäre, d.h. zwischen Innerem und Äußerem, Unsichtbarem und Sichtbarem (was die politische theologische Ebene betrifft: zwischen fides und confessio, faith und confession) herleitet, einer Spaltung, die bereits bei Hobbes aufzufinden sei und in der Spinoza, der »erste liberale Jude« die »Einbruchstelle« des modernen Liberalismus erkannt habe. Dass der moderne Rechtsstaat sich die Aufgabe gestellt hat, die sich auf diesem Wege auftuende (genauer gesagt freilich eher sich schließende oder unzugänglich gewordene) Bereiche des »Inneren« zu verteidigen, liegt für Schmitt auf der Hand, da »in dem Augenblick, wo die Unterscheidung von Innen und Außen anerkannt wird, (…) die Überlegenheit des Innerlichen über das Äußerliche und damit des Privaten über das Öffentliche im Kern bereits entschiedene Sache« ist. In dieser Hinsicht wird der (moderne) Staat als (bloß) öffentliche Macht den nun nicht mehr beherrschbaren Bereichen des »Innerlichen« ausgeliefert (Schmitt: »als eine bloß öffentliche und bloß äußerliche Macht ist sie hohl und von innen her bereits entseelt«) und als solchem bietet sich ihm als einzige 13 | Eine Version dieser Bedrohung zeigt sich in Schmitts Hobbes-Interpretation in dem (zum Fall des Mythos führenden) Widerspruch, dass die »souverän-repräsentative Person«, die hier als Person mit dem Staat zwar nicht identisch, bloß dessen »Seele« ist, als das »Produkt höchster menschlicher Schöpfungskraft«, als bloßes Glied im Mechanismus des Staates entlarvt wird, vgl. Schmitt: Leviathan, S. 48-54. Zum Souverän, der über die Gesamtheit der Hoheitsrechte verfügt, als Seele des Staates s.u.a. Hobbes: Leviathan, S. 187.

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Überlebenschance die bürokratische, mechanische Staatsform an, die auf Legalität begründet ist.14 Darauf – auf die mechanische Seelenlosigkeit der öffentlichen Wirklichkeit des Politischen – soll also Schmitts Begriff der öffentlichen Repräsentation eine Antwort anbieten. Schmitt legt im verfassungstheoretischen Kontext sehr viel Wert auf die gegenseitige Wechselbedingung von Öffentlichkeit und Repräsentation. Es geschehe z.B. durch Repräsentation, dass irgendeine politische Einheit (etwa eines Volkes) zustande kommt15, und obwohl seine Verfassungslehre die Möglichkeit der »Vertretung« von Privatpersonen, Privatangelegenheiten oder Privatinteressen einräumt, wird diese auch terminologisch von wahrer Repräsentation unterschieden (vgl. ebd., 214, aber s. bereits RK 47): Dieser Wortgebrauch verrät hier zudem, dass sein Repräsentationsbegriff sich nicht ohne weiteres mit dem Prinzip der »Volksvertretung« vereinen lässt. Dabei muss allerdings ein Paradox aufgelöst (oder gehandhabt) werden. »Volk« ist nämlich eine »offiziell nicht organisierte«, formlose, aus politischer Sicht eigentlich nur negativ definierbare Größe (V 277), eben deshalb bedarf es der Repräsentation, eben deshalb ist es jedoch eigentlich nicht repräsentierbar, zumindest im Sinne von Volksvertretung: es muss als Volk in der Öffentlichkeit präsent sein, was aber präsent ist, kann in diesem Sinne nicht repräsentiert werden (ebd., 243).16 Von diesem grundsätzlichen Dilemma geht Schmitts Kritik der liberalen Demokratie im Wesentlichen aus. An mehreren Stellen der Verfassungslehre wird auf symptomatische Weise mit sehr verschiedenen Werteakzenten auf den zwingenden Umstand hingewiesen, dass die Äußerung oder die Entscheidung des Volkes als einer unorganisierten Einheit meistens (sowohl im Plebiszit als auch bei den Parlamentwahlen) auf die Bejahung oder Verneinung einer ihm gestellten Frage begrenzt ist17, also von vornherein der Frage ausgeliefert ist, die eben deshalb ggf. die Möglichkeit der eigentlichen Entscheidung auszuschließen vermag (vgl. z.B. ebd., 278), einem Fragen also, das – wie dies in Deutschland nur einige Jahre später zur politischen Alltagsrealität wurde – seine Manipulationskraft gerade aus seinem Entscheidungscharakter gewinnt – als Paradigma hierfür könnte auf Joseph Goebbels’ berühmte Sportpalastrede – »Wollt ihr den totalen Krieg?« – hingewiesen werden. Der Ernst des Problems wird durch den Blick auf diejenige – von hier gesehen: – Schwäche moderner parlamentarischen Demokratien deutlich, dass solche (Pseudo-)Entscheidungen ja, so Schmitt, in der Tat gar nicht vom Volk, sondern – was nicht dasselbe ist – von der statistischen Menge der Wahlbürger, also von Privatpersonen getroffen werden. Zwar sind die Vorteile der individuellen Geheimwahlen (z.B. die Resistenz gegenüber heimlicher Einflussnahme – vgl. ebd., 244-245) selbstverständlich auch Schmitt klar, dennoch scheint es für ihn viel wichtiger, 14 | S. zu den obigen Schmitt: Leviathan, S. 85-94. 15 | Vgl. dazu z.B. Böckenförde: Begriff des Politischen, S. 296f. 16 | Vgl. ferner Schmitt: Legalität und Legitimität, S. 315. 17 | Vgl. ferner ebd., S. 340.

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dass die addierte Gesamtheit von privaten Meinungen privater Wähler keine öffentliche Meinung, nicht die publike Meinung einer Gemeinheit darstellt – wie ja immer auch mit dem Verdacht gerechnet werden muss, dass die unmittelbare Äußerung des Gemeinwillens nicht unbedingt mit dem Willen zusammenfällt, der sich im Ergebnis von geheimen Wahlen äußert und der aus dieser Perspektive kaum Wille des Volkes, vielleicht ja nicht einmal Wille genannt werden kann. In der geheimen Einzelwahl wird der citoyen genau in dem einzigen Augenblick zur Privatperson, in dem es ihm die moderne Demokratie ermöglicht, unmittelbare politische Verantwortung zu übernehmen (und Schmitts Voraussage scheint sich in diesem Punkt allmählich äußerst genau zu bewahrheiten, denkt man an seine Zukunftsvisionen über die technische Ermöglichung von Abstimmungen, die von zu Hause aus erledigt werden können). Dies bedeutet, dass es in Wahrheit nicht die Mehrheit ist, die entscheidet, genauer gesagt: »Mehrheit entscheidet nicht« (ebd., 281). Gerade hier lässt sich eines der arcana der modernen liberalen demokratischen Systeme vermuten (ebd., 243): Schmitt, für den diese beiden Attribute (liberal und demokratisch) in Wahrheit eine contradictio in adjecto darstellen (dies zeige sich u.a. an der Unvereinbarkeit der beiden demokratischen Grundprinzipien, nämlich Identität und Repräsentation, vgl. ebd., 276), meint hinter diesem Geheimnis, also hinter der Hülle demokratischer Machtpraktiken den Schutz der Privatperson zu erblicken – ihr Schutz sogar vor dem Volk als Entität. In den obigen Ausführungen dürfte es deutlich werden, dass die Kritik Schmitts in Wahrheit auch in diesem Zusammenhang eine Kritik der Dialektik vom Einzelnen oder Besonderen und Allgemeinen, anders formuliert eine Kritik der Dialektik vom Konkreten und Abstrakten ist. Volk ist, so formlos es auch sein mag, nicht gleich bzw. nicht homolog mit der Menge von Privatpersonen. Interessant ist dabei, dass überall, wo Schmitt nach Beispielen für die politische Äußerungen des Volkes selbst sucht, sich nicht von der Vorstellung der im Chor auf Entscheidungsfragen antwortenden Horde loslösen kann. Schmitts Begriffsvorschlag ist – wie auch Jüngers in Der Arbeiter18 – die Akklamation (ebd., 243246, 277): der öffentliche Zuruf des versammelten (also anwesenden, nicht vertretenen) Volkes, der zwar über äußerst diverse, mehr oder weniger verfeinerte politische Formen verfügt (von der Athener Ekklesia über die Römischen Foren und die Volksabstimmungen der Schweizer Kantone bis zu Straßendemonstrationen, öffentlichen Feiern oder sogar der Welt der Sportstadien), und dessen moderne Version Schmitt gerade in der öffentlichen Meinung erblickt, der aber kaum diejenigen Widersprüche von Entscheidung und Unentschiedenheit lösen mag, die daraus folgen, dass das Wort des Volkes auf Ja und Nein begrenzt wird. Der Wortschatz des Volkes scheint ziemlich gering zu sein. Dieser Mangel wird auch durch das moderne System der parlamentarischen Vertretung nicht wettge-

18 | Jünger: Der Arbeiter, S. 274.

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macht: wie Schmitt in mehreren Zusammenhängen betont (s. hier ebd, 315-31919), ist das Parlament, anscheinend Forum öffentlicher Diskussion, keineswegs die Stätte der politischen Öffentlichkeit. Es trifft im tieferen (existentiellen) Sinne des Wortes keine Entscheidungen, ist nicht wirklich repräsentativ, sondern vielmehr der Schauplatz des permanenten Kampfes zwischen Parteien-FraktionenInteressengruppen, funktioniert eigentlich einfach als eine Art Behörde (wenn überhaupt – Schmitt war ja Zeitzeuge eines parlamentarischen Betriebs, der auch in diesem Sinne sich im Großen und Ganzen hoffnungslos im Ringen um das eigene Funktionieren zermürbt hat). Die Repräsentation des Volkes erfolgt in Wahrheit erst dann, wenn eine Einheit repräsentiert, d.h. eine Einheit, folglich also eine Form hervorgebracht wird. Diese Form ist der Staat. Der Vorgang ist im vorhin bereits behandelten Sinne vielmehr von existentiellem, als von bloß rechtlichem Charakter, da er auch in dieser Hinsicht die eigentümliche, grundsätzliche Form eines Seins hervorzubringen hat. In Verfassungslehre finden sich zahlreiche Bezüge auf diesen Zusammenhang: Staat ist der Zustand bzw. die Verfasstheit (Status) der politischen Einheit; die Staatsform ist die bestimmte Art der Gestaltung dieser Einheit (ebd., 205); die Verfassung ist nicht auf eine Norm begründet (ebensowenig begründet sie eine Norm), sie ist vielmehr eine (vom Charakter her existentielle) Entscheidung über einen definitiven Seinsmodus der politischen Einheit (ebd., 76); die Repräsentation (die Schmitt hier, wie auch in Römischer Katholizismus und politische Form, mit Größe, Würde, einer »gesteigerten Art Sein« bzw. der »Heraushebung in das öffentliche Sein« verbindet) selbst vielmehr ein existentieller, als ein normativer Prozess (ebd., 209-210) usw. An diesem Punkt werden freilich wieder die – unmittelbaren, obwohl erst durch die Simplifikation des Repräsentationsbegriffs herstellbaren – Verbindungspunkte etwa zum Dogma des totalen oder des »Führerstaates« sichtbar: auch wenn dieser Zusammenhang hier nicht weiter verfolgt werden kann, soll angemerkt werden, dass die Vision eines »Staates«, der nicht mehr der »Gesellschaft« gegenübersteht, auf der ideologischen Weiterführung oder (Fehl-)Lektüre der These über das sich selbst im Staat repräsentierenden Volk gründen dürfte.20 Eine wichtige Voraussetzung Schmitts in der Verfassungslehre (die als das größte Hindernis auch den jüngsten Versuchen im Wege steht, die die Wiederverwendung seiner politischen Theorie erwogen haben21) betont jedenfalls auch in diesem Zusammenhang das Kriterium von Einheit, die (zumindest in der öffentlichen Repräsentation) jeden Pluralismus ausschließt: das Volk ist erst als Einheit dazu fähig, sich zum Staat zu formen, erst durch Einheit wird Akklamation möglich, und die Entscheidung, in der sich diese Einheit äußert, scheint wie von selbst 19 | Vgl. ferner Schmitts eigentlich erste Arbeit zur Politiktheorie (Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage). 20 | Vgl. Schmitt: Wendung; ferner Der Führer schützt das Recht. 21 | Vgl. Mouffe: Über das Politische, S. 18-22.

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jede Heterogenität neutralisieren oder sich von jeder Heterogenität zu befreien: in der Entscheidung taucht in Wahrheit eine latent bereits gegebene Einheit auf, sie wird durch die Entscheidung offensichtlich (und repräsentiert). Schmitt verzichtet also nicht auf das demokratische Prinzip der Gleichheit, schreibt ihm aber nicht mit Verweis auf eine zahlenmäßige (also eine potentielle Mehrheit verkörpernde) Menge, sondern in Hinblick auf eine Homogenität politische Bedeutung zu, die imstande ist, sich in eine Art Substantialität umzuwandeln.22 Schmitts politisch-anthropologische Voraussetzung, wonach politische Existenz auf die Entscheidung über Freund und Feind begründet ist, spielt auch in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle. Diese Unterscheidungen stehen nämlich im wechselseitigen Bedingungsverhältnis zur Seinsform (oder Selbstrepräsentation) der Einheit: politische Einheit wird durch den Feind definiert, der die eigene Existenzform eben dieser Einheit angreift, während – umgekehrt – nur eine politische Einheit imstande sein kann, über den Feind (der im politisch-existentiellen Sinne kein Privatgegner, sondern öffentlicher Feind sein muss, vgl. BP 29) zu entscheiden. Diese Konstellation bestimmt übrigens selbstverständlich bereits auch das katholische Modell von Repräsentation (wo die Berufung der Repräsentation dem Kreuzopfer Christi entspringt, also ebenfalls auf den Feind zurückgeht)23, es könnte sogar mit Recht behauptet werden, dass gerade die oben behandelte Auffassung von politischer Öffentlichkeit dazu geführt hat, dass die Dimension des »Politischen« auf die Unterscheidung Freund/Feind begründet werden sollte.24 Obwohl Öffentlichkeit auch in Der Begriff des Politischen weiterhin zu ihren Bedingungen gehören wird, ist diese Dimension für Schmitt bekanntlich weniger als ein bestimmter oder abgrenzbarer Bereich gesellschaftlichen Seins oder Handelns aufzufassen, sie äußert sich vielmehr als die spezifische, gesteigerte Intensität dieser. In der 1932er Fassung von Der Begriff des Politischen (die sein Autor 1963 in der vierten Ausgabe als den endgültigen Text festgesetzt hat) wird die erste Variante von 1927 genau mit Blick auf diesen Zusammenhang revidiert.25 22 | S. dazu Schmitt: Gegensatz. Vgl. hierzu ferner, aus der frühen Phase der SchmittRezeption, Löwith: Max Weber und seine Nachfolger, S. 417. 23 | Vgl. dazu Weber: Targets, S. 40. 24 | S. dazu Dyzenhaus: Legality, S. 58-70. Es ist übrigens gut möglich, dass der Gegensatz selbst auf George Sorels Begriff des Mythos zurückgeht, den Schmitt in einem Aufsatz von 1923 (Schmitt: Die politische Theorie) behandelt hat. S. dazu Maschke: Zweideutigkeit, S. 220. 25 | Die erste Fassung wurde im Heft 1/1927 von Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik veröffentlicht und gleich 1928 wieder abgedruckt. Darauf folgte die bearbeitete Ausgabe von 1932 und bereits 1933 eine dritte Fassung. Die Veränderungen im Text von 1933 können einerseits auf die äußerst aufschlussreichen Vorbehalte von Leo Strauss zurückgeführt werden, der seine These, nach der Schmitts Kritik des Liberalismus sich immer noch auf dem Horizont vom Liberalismus bewegt u.a. damit illustriert hat, dass »das Politische« als solches für Schmitt weiterhin einen Bereich darstellt, der auf Affirmation oder

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Schmitts Argumentation geht freilich auch hier vom Problem des Begriffs Staat aus (vgl. den wieder einmal sentenzartigen Auftakt: »Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus.« – ebd., 20), welcher Begriff nun – im Sinne von Status – als »ein besonders gearteter Zustand eines Volkes« definiert wird. Der Staat ist – zumindest in seiner von Schmitt propagierten totalen Version – kein Gebilde, das der »Gesellschaft« übergeordnet oder gegenübergestellt werden kann, er ist »gegenüber keinem Sachgebiet« desinteressiert, im totalen Staat ist folglich »alles wenigstens der Möglichkeit nach politisch« (ebd., 24): das Politische kann dementsprechend nicht vom Staat hergeleitet werden, sondern eher umgekehrt. Wie jedoch aus fast allen Abgrenzungen und Voraussetzungen des Textes hervorgeht, scheint die Sache noch komplizierter zu sein, da Schmitt die Erscheinungsformen des Politischen eigentlich dennoch ausschließlich auf diejenigen Relationen begrenzt, in denen der Staat als geschlossene politische Einheit (und Substanz) auftritt.26 Feindschaften z.B. des Bürgerkriegs, der Parteipolitik und anderer »innerer« Konflikte werden wiederholt ausgeschlossen, das Problem des »Völkerbundes« bzw. eines potentiellen »Weltstaates« in einem eigenen Kapitel behandelt um zu beweisen, dass »die Welt« als solche sich nicht als »Einheit«, sondern höchstens als »politisches Pluriversum« beschreiben lässt (ebd., 54-58).27 In den späteren Arbeiten zur Theorie der Politik beschäftigt sich Schmitt mit symptomatischer Häufigkeit mit Feindformationen, die dem »klassischen« Modell der »nach innen geschlossen befriedeten, nach außen geschlossen als Souverän gegenüber Souveränen auftretenden politischen Einheit« (vgl. ebd., 11) nicht angepasst werden können: 1963 wird die Konzeption um eine Theorie des Partisanen erweitert, 1937 das Phänomen der Piraterie untersucht als Beispiel für eine nicht auf (zwischen)staatlicher Ebene erfolgende Kriegsführung, in der das »Menschengeschlecht« den Feind darstellt, der in diesem Krieg notwendiger-

Negation angewiesen ist und damit durchaus in der Form einer Toleranz angenähert werden kann (vgl. Strauss: Anmerkungen, S. 122-125). Andererseits geht es um den zweifelhaften Versuch, die Abhandlung der mit dem Machtwechsel von 1933 herbeigeführten neuen »konkreten Ordnung« anzupassen (im Text taucht z.B. der Rassenaspekt auf, es kommt auch zu einigen terminologischen Änderungen: »ethnisch« wird etwa durch »völkisch« ersetzt). Die vierte Ausgabe von 1963 (in der die Existenz der 1933er Fassung nicht erwähnt ist) kehrt zum Text von 1932 zurück, der hier um ein neues Vorwort, »Corollarien« und Kapitelüberschriften erweitert wird. Zur Relation der Textvarianten s. Meier: Carl Schmitt, S. 2733; Mehring: Carl Schmitt, S. 126-127. 26 | Es soll hier jedoch angemerkt werden, dass in der Fassung von 1933 Schmitt die Gleichsetzung des Staates und des Politischen ausdrücklich verwirft, vgl. z.B. Schmitt: Der Begriff des Politischen (Hamburg 1933), S. 11f. 27 | Eine solche Einheit »kennte weder Staat noch Reich noch Imperium, weder Republik noch Monarchie, weder Aristokratie noch Demokratie, weder Schutz noch Gehorsam, sondern hätte überhaupt jeden politischen Charakter verloren.« (BP 58)

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weise als nicht-politische Einheit erscheint.28 Er hätte folglich mit genauso viel Recht behaupten können, dass der Begriff des Politischen den Begriff des Staates voraussetzt, oder eben – mit noch mehr Recht – dass beiden Begriffen erst in dieser reziproken Wechselbeziehung Sinn zugeschrieben werden kann.29 Die Unterscheidung von Freund und Feind grenzt also das Politische von allen »relativ selbstständigen Sachgebieten« ab, die auf jeweils anderen Unterscheidungen basieren, wie z.B. das Moralische (Gut/Böse), das Ästhetische (Schön/Hässlich) oder das Ökonomische (Rentabel/Nicht-Rentabel), das so gewonnene spezifisch politische Kriterium begründet aber – im Gegensatz zur Fassung von 1927, in der von einem »eigenen Gebiet« des Politischen die Rede war30 – keine Selbstständigkeit im territorialen Sinne. Die grundlegende Unterscheidung umfasst oder komprimiert hingegen beinahe alle Elemente, auf denen der Dezisionismus von Politische Theologie bzw. die zentralen Begriffsbestimmungen der Verfassungslehre aufgebaut sind. 1. Die Unterscheidung ist in Wahrheit eine Entscheidung (über Freund und Feind), ohne die keine politische Handlung möglich ist. 2. Sie ist auch mit Blick auf ihre Situationsgebundenheit bzw. begriffliche Verwirklichung hin konkret (vgl. ebd. 28), genau deshalb kann sie »weder durch eine im voraus getroffene generelle Normierung, noch durch den Spruch eines »unbeteiligten« und daher »unparteiischen« Dritten« ausgeführt oder legitimiert werden (ebd., 27) – wie auch eine Fehde sich nicht auf diesem Wege schlichten lässt. 3. Die Unterscheidung ist von existentieller Natur, da – hiervon war schon die Rede – der Feind, der hier im anthropologischen Sinne als der »Fremde« beschrieben wird, »die Negation der eigenen Art Existenz bedeutet« und »die eigene, seinsmäßige Art von Leben« gefährdet. 4. Darüber hinaus muss diese Unterscheidung öffentlich sein, und zwar deshalb, weil die Unterscheidung zwischen Freund und Feind »den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation« bezeichnet, also – wäre hier hinzufügen – eine substantielle Einheit erzeugt, die sich im politischen Sinne als eine Art Gemeinschaft betrachten lässt, auf die gerade durch diese Unterscheidung öffentlich Bezug genommen werden kann (»Feind ist nur der öffentliche Feind, weil alles, was auf eine solche Gesamtheit von Menschen, insbesondere auf ein ganzes Volk Bezug hat, dadurch öffentlich wird« – ebd., 29). Hier ist es also wieder der Feind, genauer formuliert die Freund/Feind-Unterscheidung, die eine politische Entität oder Substanz, ja überhaupt das Politische als solches sozusagen in die Öffentlichkeit stellt oder sichtbar macht: keine von den drei Instanzen (der Feind, das Politische, die Öffentlichkeit) wäre ohne die jeweils anderen beiden denkbar, es könnte sogar 28 | Vgl. Schmitt: Der Begriff der Piraterie, S. 509. Zur Unterscheidung zwischen Partisan und Pirat s. Schmitt: Theorie, S. 21. In Politische Theologie II hebt Schmitt, sozusagen im Rückblick auf diesen Zusammenhang, die Entwicklung hervor, dass »der Staat das Monopol des Politischen verlor« (Schmitt: Politische Theologie II, S. 24). 29 | Vgl. dazu Derrida: Politik der Freundschaft, S. 169. 30 | Schmitt: Begriff des Politischen (1927), S. 196.

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die Folgerung gewagt werden, dass in diesem Zusammenhang Repräsentation (zumindest in dem oben behandelten Sinne) in Wahrheit nichts anderes ist als eben die Unterscheidung von Freund und Feind! Schmitt befasst sich ausführlich mit den Bedingungen, durch die diese Unterscheidung von den anderen »Sachgebieten« abgegrenzt werden kann: der Feind im politischen Sinne ist weder notwendigerweise in moralischer Hinsicht böse (er ist mithin kein Privatfeind, gerade deshalb muss er nicht gehasst werden, der politische Feind ist – um es mit Derrida auszudrücken – »nicht notwendig un-freundschaftlich«31) noch ein Gegenspieler im wirtschaftlichen oder ein Gesprächsgegner im geistlichen Sinne usw. Die begriffsgeschichtliche Begründung dieser Abgrenzungen bestätigt wieder den Code privat/öffentlich: der Feind im politischen Sinne ist ein hostis, kein inimicus bzw. πολέμιος, nicht ἐχθρός (im berühmen neutestamentlichen Gebot der Feindesliebe [Matth. 5, 44; Luk. 6, 27] steht letzterer Begriff – es ist folglich kein politisches Gebot). In Wahrheit hängt die gesamte Konzeption von Der Begriff des Politischen davon ab, ob diese Trennlinie gezogen werden kann, was bei Schmitt jedoch – wie Derrida in seinem gründlichen Kommentar zu einer kurzen, diesbezüglich aber äußerst wichtigen Anmerkung Schmitts, die dem V. Buch von Platons Politeia und den Begriffen »πόλεμος« und »στάσις« gewidmet ist, überzeugend dargelegt hat32 – nicht ganz selbstverständlich ist. Die Annahme aber, dass es zwischen den beiden Begrifflichkeiten dennoch einen stufenmäßigen Übergang oder zumindest die Möglichkeit des Überganges geben soll, steht eigentlich in keinem Widerspruch zur Logik von Der Begriff des Politischen (zumindest der Fassung von 1932, die gerade in diesem Zusammenhang zur Intensitätsthese zurückkehrt), da laut dieser jede Art von Feindschaft politisch werden muss an dem Punkt, wo sie ein endgültiges Maß der Intensität erreicht. Genau deshalb verfügt das Politische (obwohl die Formen seiner Manifestierung in Schmitts Argumentation zwangsläufig auf die Feindschaft zwischen Staat und Staat begrenzt werden) über kein ausgezeichnetes Terrain: jede Feindbeziehung wird politisch, wenn sie eine konkrete und existentielle Gestalt annimmt. »Jeder religiöse, moralische, ökonomische, ethnische oder andere Gegensatz verwandelt sich in einen politischen Gegensatz, wenn er stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind effektiv zu gruppieren.« (ebd., 37) Die Sachgebiete sind folglich in gewissem Sinne als Quellen bzw. – aus einer anderen Perspektive – als Medien des Politischen aufzufassen: »Das Politische kann seine Kraft aus den verschiedensten Bereichen menschlichen Lebens ziehen, aus religiösen, ökonomischen, moralischen und andern Gegensätzen; es bezeichnet kein eigenes Sachgebiet, sondern nur den Intensit ätsg rad einer As31 | Derrida: Politik der Freundschaft, S. 130. 32 | Vgl. ebd., S. 130-161. Es sollte hier dazu allerdings angemerkt werden, dass die Tatsache, dass »das Politische« bei Schmitt – der Intensitätsthese entsprechend – in erster Linie nicht territorial abgegrenzt wird, für Derrida eine eher unwichtige Rolle spielt. Vgl. dazu Marder: Concept of the Political, S. 63.

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soziation oder Dissoziation von Menschen«, und diese Intensität, schlägt sie sich einmal in der Unterscheidung Freund/Feind nieder, stellt die »bisherigen »rein« religiösen, »rein« wirtschaftlichen, »rein« kulturellen Kriterien und Motive« in den Hintergrund33 (ebd., 38-39; auffallend ist die wiederholte Verwendung von Anführungszeichen für das Wort »rein«, was auch an anderen Stellen des Textes beobachtet werden kann: wie im Falle des polemischen Konkretismus des Politischen, der sich auch im »landläufigen Sprachgebrauch« [ebd., 30] der Alltagssprache zu erkennen gibt, geht es auch in dieser Pseudo-Definition des Politischen um eine »reine Unreinheit« und/oder um eine »unreine Reinheit«34). Um 1933, als Schmitt diese Annahme in mehreren Schriften – u.a. im von Neuem zugeschnittenen Text von Der Begriff des Politischen – auf die Konzeption eines »totalen Staates« hin ausrichtet, der in seinen Augen zu dieser Zeit eine konkrete (deutsche) Gestalt anzunehmen schien (s. eine seiner üblichen Thesensätzen aus Januar 1933: »Es gibt einen totalen Staat.«35), geht es ihm – des Öfteren in einem abstoßenden ideologischen Kontext – in erster Linie darum, die Vorstellung einer Totalität, die sich in der Intensität des Politischen manifestiert, von den auf der Hand liegenden Missdeutungen abzugrenzen. Die Begriffserklärung, die in dieser Hinsicht am meisten irreführend werden kann, begreift die totale Politik (die also den Gegensatz von Staat und Gesellschaft aufhebt und keinen spezifischen Bereich für die eigentliche Politik absondert36, weil diese – als Vorlage dienten Ernst Jüngers »totale Mobilmachung« und Erich Ludendorffs Begriff des »totalen Krieges«37 – als die Intensivierung jedes möglichen Sachgebietes zu verstehen ist) in dem Sinne, dass die Welt der Politik oder der Staat insofern total sein können, als sie nach den Regeln einer selbstständigen Ordnung des Handelns und mit ständigem Blick auf die eigenen – in erster Linie parteipolitischen – Machtinteressen und Mechanismen alle Bereiche des gesellschaftlichen Seins besetzen oder gespensterhaft durchdringen. Schmitts Urteil über die überall vorherrschende moderne Parteipolitik (die z.B. die Verkommenheit des Parlamentes verantwortet, aus dem ein um jede Repräsentativität gebrachtes Terrain der Interessenvertretung geworden ist) fällt immer wieder niederschmetternd aus38: diese Art von Politik, die also die Unterscheidung zwischen Freund und Feind innerhalb der politischen Einheit verortet, ist im Wesentlichen gar keine Politik, da keine Staatspolitik mehr (ebd., 30). 33 | In der Fassung von 1927 fehlen die auf den Intensitätsgrad bzw. auf die in Anführungszeichen gesetzten Reinheit bezogenen Satzteile, vgl. Schmitt: Begriff des Politischen (1927), S. 201. 34 | Vgl. Derrida: Politik der Freundschaft, S. 163-166. 35 | Schmitt: Weiterentwicklung, S. 360. 36 | Vgl. bereits etwa Schmitt: Wendung, S. 148. 37 | Vgl. z.B. Schmitt: Totaler Feind, S. 481. Vgl. dazu ferner Bolz: Auszug, S. 56. 38 | Vgl. Schmitt: Weiterentwicklung, S. 360-363. Vgl. ferner Schmitt: Legalität und Legitimität, S. 345.

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Diejenige Instanz, die über den Intensitätsgrad, d.h. das Auftreten des Politischen entscheidet, ist der Extrem-, ja sogar der Ausnahmefall, nämlich der Krieg, dessen spezifische Rolle von Schmitt hier statt dem moralischen wieder im politischen und zugleich anthropologischen Zusammenhang begründet wird. Die Denkfigur, die die Entfaltung der Argumentation von Der Begriff des Politischen bestimmt, wird von Schmitt im Großen und Ganzen aus Politische Theologie übernommen: es ist die Ausnahme, der Extrem- oder Grenzfall (und mithin der Kriegsfall39), der die eigentliche Seinsweise oder Bedeutung des Normalfalls, der Norm oder einer Begrifflichkeit erhellt – wie in diesem Zusammenhang also der Krieg (die Möglichkeit des Krieges) das Politische. Es sei dazu allerdings gleich angemerkt, dass Schmitt hierfür in Wahrheit doch bestimmte Ausnahmen ausschließen muss. Als er – um erneut das Vorwort von 1963 zu zitieren – den Staat, d.h. die »nach innen geschlossen befriedete, nach außen geschlossen als Souverän gegenüber Souveränen auftretende politische Einheit« als klassisches Modell zur eigentlichen Voraussetzung für die Untersuchung des Politischen erklärt, erblickt er das Attribut dieser Klassizität in der »Möglichkeit eindeutiger, klarer Unterscheidungen«: »Innen und außen, Krieg und Frieden, während des Krieges Militär und Zivil, Neutralität oder Nicht-Neutralität, alles das ist erkennbar getrennt und wird nicht absichtlich verwischt«, wobei das Grundmuster für diese Unterscheidbarkeit selbstverständlich der Krieg zwischen Souveränen liefern muss, wo die Unterscheidung zwischen Freund und Feind (auch was die Äußerlichkeiten betrifft) offensichtlich (und was vielleicht noch wichtiger ist: öffentlich) ist. Spezifische oder Ausnahmefälle wie z.B. Piraterie oder der Partisanenkrieg, die Schmitts Aufmerksamkeit freilich nicht entgehen (hierzu würden vermutlich auch die verschiedensten Varianten des [post]modernen Terrorismus zählen), dürften in diesem Vergleich das selbstständige Kriteriensystem des Politischen durchaus verfehlen oder eben provozieren – was selbstverständlich nicht bedeutet, dass sie in Hinblick auf die anthropologischen Zusammenhänge desjenigen Ausnahmefalles (des klassischen Krieges) irrelevant wären (ggf. sind sie sogar durchaus aufschlussreich), der diese Kriterien bestimmt. Wie dem auch sei, der Begriff des Politischen gewinnt seine eigentliche (immer konkrete) Bedeutung aus dem Krieg, weil Krieg – die »seinsmäßige Negierung eines anderen Seins« – aus der Feindschaft abgeleitet werden kann, und zwar als ihre »äußerste Realisierung« (ebd., 33). Dass der Krieg einen Ausnahmefall darstellt, zeigt sich ferner in der Endlichkeit der biologischen Existenz des Menschen (die bei Schmitt übrigens ziemlich animalische Züge trägt), da die extremen Formen von Feindschaft im Krieg in der Zerstörbarkeit und unveränderlichen Sterblichkeit des Menschen bzw. in seiner gewaltsamen Fähigkeit konkretisiert werden, menschliches Leben zu vernichten. Die politische Einheit selbst wird ebenfalls durch die Macht über das physische Leben der Menschen definiert, genauer formuliert durch diejenigen Formen dieser Macht, die mit einer Feind39 | Vgl. dazu Derrida: Politik der Freundschaft, S. 181.

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schafts- bzw. Kriegserklärung verbunden sind (ebd., 47). »Die Begriffe Freund, Feind und Kampf erhalten ihren realen Sinn dadurch, dass sie insbesondere auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung Bezug haben und behalten.« (ebd., 33).40 Obwohl diese Koordinaten erst im Krieg real werden, erscheint es wichtiger, dass sie in ihrer Möglichkeit (und zwar als reale Möglichkeit) den Begriff des Politischen entscheidend mitbestimmen. Ohne das Töten, ohne die (von Derrida mit der Blutsymbolik von Benjamin und Rosenzweig in Zusammenhang gestellte41) Möglichkeit der körperlichen Vernichtung (die ja die äußerste Negation der Seinsform des Feindes darstellt, da sie diesen in seiner Existenz verneint) wäre das Politische weder als Sachgebiet noch als Intensität abzugrenzen. Bestimmt also der Krieg (die reale Möglichkeit oder Notwendigkeit, den Feind zu töten) das Politische, so gibt es diesen Krieg – in dieser Hinsicht nicht ohne Grund zum Vater aller Dinge erklärt – als Extrem- oder Ausnahmefall immer schon, er ist potentiell in jeder tatsächlich politischen Feindschaft bereits am Werke, unabhängig davon, was (oder ob überhaupt etwas) auf den Gefechtsfeldern geschieht.42 Es ist der Krieg, wo die anthropologischen Koordinaten des Menschen (seine Sterblichkeit, seine Verletzlichkeit und seine Brutalität – in Der Begriff des Politischen sind umfangreiche Ausführungen zu lesen, die beweisen sollen, dass die Theorien der Politik sich mit keinem anthropologischen »Optimismus« vertragen: der Mensch ist böse), letztendlich sogar seine Eigenart oder sein Wesen sich offenbaren: die spezifische Form seiner Existenz oder: die Pluralität dieser Formen werden darin sichtbar, dass sie – sozusagen wegen ihrer Eigenartigkeit – vom Feind angegriffen (in Frage gestellt) werden (oder eben darin, dass sie gleichsam zwangsweise eine Bedrohung für den Feind darstellen, indem sie seine konkrete Existenz in Frage stellen, einfach dadurch, dass sie da sind). An diesem Punkt fällt es schwer, nicht auch an Heidegger zu denken: z.B. daran, dass er – ungefähr zur gleichen Zeit wie Schmitt – die Bestimmung des Menschen in seiner Auseinandersetzung mit dem Seienden erblickt und diese »Auseinandersetzung« gerade auf Heraklits »polemos« zurückführt: in dieser Auseinandersetzung, in diesem Krieg findet der Mensch zu sich als Seiendem zurück.43 »Im Kriege steckt der Kern der Dinge« – so lautet die Schmittsche Version, in einen der üblichen Thesensätzen komprimiert.44 40 | Es ist vielleicht erwähnenswert, dass Reinhart Koselleck, also (in gewisser Hinsicht) ein Schüler Schmitts, in seiner viel zitierten Debatte mit Hans-Georg Gadamer der hermeneutischen Annahme des Primats von Sprache in der geschichtlichen Erfahrung den Hinweis auf die gleichen anthropologischen Koordinaten, d.h. auf das nicht ganz symmetrische Begriffspaar von »Sterbenmüssen« und »Tötenkönnen« entgegengestellt hat. Vgl. Koselleck: Historik und Hermeneutik, S. 13-14. 41 | Derrida: Politik der Freundschaft, S. 184-185. 42 | Vgl. dazu Hobbes: Leviathan, S. 151. 43 | Heidegger: Einführung in die Metaphysik, S. 153. 44 | Schmitt: Totaler Feind, S. 482.

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Das stellt auch die Struktur der Entscheidung über Freund und Feind in ein genaueres Licht. Wenn die Gruppierung Freund/Feind in diesem Sinne, also als reale Möglichkeit, bereits gegeben ist oder besteht (offenbar durch die seinsmäßige Bedrohung des anderen Seins), dann kann die zum tatsächlichen Krieg führende Entscheidung schwerlich als eine völlig aus dem Nichts kommende oder der reinen Willkür eines Souveräns entspringende (und noch weniger als eine im Sinne der Subjektivität eigenmächtige) Entscheidung betrachtet werden, denn – darauf hat Derrida hingewiesen45 – die Entscheidung darüber, wer oder was der Feind sein soll, war sozusagen immer schon gefallen. So gesehen kann nicht nur die Entscheidung über Freund und Feind, sondern vermutlich ebenso wenig die Entscheidung über den Ausnahmezustand einfach als eine Art äußerstes Superperformativ hinreichend beschrieben werden: zwar wird sie in Politische Theologie im Wesentlichen als eine Entscheidung ex nihilo (als »absolut« [PT 18], als eine Entscheidung, die »normativ betrachtet, aus dem Nichts geboren« ist [ebd., 38]), dargestellt, das bedeutet kaum mehr als einen Hinweis darauf, dass sie sich nicht auf eine (Rechts-)Ordnung oder auf eine Norm begründen lässt. Sowohl der Ausnahmezustand als auch die Entscheidung über Freund und Feind lassen nämlich vielmehr eine konkrete existentielle Bestimmtheit zu oder bestätigen diese als die seinsmäßige Bedrohtheit einer politischen und biologischen Existenz bzw. Seinsform. Deshalb kann Schmitt in Politische Theologie behaupten, dass auch im vom Souverän erklärten Ausnahmezustand eine gewisse Ordnung weiter besteht (die aber keine »Rechtsordnung« mehr ist – ebd., 18). An dieser Stelle scheint es jedoch wichtiger zu sein, dass die Entscheidung (sogar die Entscheidung über den Krieg), aus dieser Perspektive betrachtet, sozusagen eine nachträgliche Entscheidung ist, die sehr wohl über eine konstative Dimension verfügt: als Entscheidung ist sie zugleich eine Art Urteil, das darüber zu entscheiden hat (fast wie ein Gerichtsprozess oder ein Richter), ob eine Sachlage (z.B. die Feindschaft oder die reale Möglichkeit des Krieges) besteht oder nicht. (Hierzu ist vielleicht anzumerken, dass diese paradoxe Figur auch bei Walter Benjamin beobachtet werden kann, an derjenigen Stelle von Zur Kritik der Gewalt, an der, in einem nicht ganz unkomplizierten Satz, von den Schwierigkeiten einer nachträglichen Entscheidung die Rede ist, die das Stattfinden oder die wirkliche Erscheinung »göttlicher Gewalt« betrifft: »Nicht gleich möglich, noch auch gleich dringend ist aber für Menschen die Entscheidung [herv. ZKSz], wann reine Gewalt in einem bestimmten Falle wirklich war.«46 Diese Entscheidung – die Benjamin aufgrund der Unerkennbarkeit göttlicher Gewalt für unmöglich erklärt – steht überhaupt nicht fern von der Logik der Rechtsordnung, da sie an das richterliche Urteil erinnern dürfte, das über die Vorhandensein eines Tatbestandes oder das Stattfinden eines Ereignisses gefällt wird. Göttliche Gewalt soll sich andererseits in der Negation oder Zerstörung der Rechtsordnung manifestieren, ihre Performativität kann 45 | Vgl. Derrida: Politik der Freundschaft, S. 178-180. 46 | Benjamin: GS II/1, S. 202f.

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sich deshalb nur als die Unmöglichkeit konstativen Urteilens, als das Paradox des Konstativen offenbaren, vielleicht ist Performativität sogar nichts anderes als der Selbstwiderspruch des sich gegen sich selbst wendenden Feldes des Konstativen. Auch bei Schmitt geht es mehr um etwas Ähnliches als um eine reine Performativität der Entscheidung.) Genau deshalb stünde der Folgerung, dass der Krieg für Schmitt im gewissen Sinne selbst das Urteil, selbst der Urteilende ist, nichts im Wege. Das Primat des Krieges im Bezug auf die Freund/Feind-Gruppierung bleibt nämlich nicht in jeder Hinsicht gültig: Schmitt betont an mehreren Stellen, dass der wahre Krieg aus einer bestehenden politischen Feindschaft folgen muss (die ihrerseits freilich nichts anderes ist als die reale Möglichkeit des Krieges), und nicht umgekehrt. Der Unterschied wird 1937 am Beispiel des ersten Weltkrieges illustriert: hier ging es um Formen von Feindschaft, die »sich aus dem Kriege entwickelt, statt dass, wie es sinnvoll und richtig ist, eine vorher bestehende, unabänderliche, echte und totale Feindschaft zu dem Gottesurteil eines totalen Krieges führt« (herv. ZKSz)!47 Der Krieg ist vielleicht genau deshalb Gottesurteil, weil er nicht als ein (rechtlich-richterliches) Mittel für einen Zweck betrachtet werden kann, er ist im gewissen Sinne ein selbstbezwecktes und reines Mittel48, und es ist äußerst interessant zu beobachten, wie nahe Schmitt auch in diesem Zusammenhang (und, noch verwirrender, gerade in diesen Jahren) dem jungen Benjamin steht, der sich am Schluss des Gewalt-Essays, wo es um die Frage nach den Erscheinungsformen der reinen (göttlichen) Gewalt geht, auf die Vorstellungen eines »wahren Krieges« bzw. statt auf Gerichtsurteile auf das »Gottesgericht« bezogen hat, das die Menge am Verbrecher ausübt49. Der Krieg ist jedoch zugleich die Form von Feindschaft, da er – wie früher erwähnt – den Feind identifizierbar, erkennbar – aber nicht unbedingt zum Verbrecher – macht (vgl. z.B. BP 12), was in diesem Zusammenhang nicht weniger bedeutet, als dass die damit erzwungene Form- oder Gestaltwerdung des Feindes (oder, um die Heideggersche Variante einzufügen: sein Zurückstellen in sein Sein, in Grenze und Gestalt) mit dem (Gottes-)Gericht identisch ist (oder zumindest dessen Bedingung darstellt), das sich im Krieg (oder als Krieg) offenbart. Das Primat des Feindes (oder der »Feindschaft«), d.h. diejenige – von Schmitt selbst übrigens nicht gänzlich geteilte (ebd., 11) – Voraussetzung, die bis heute das 47 | Schmitt: Totaler Feind, S. 485. Vgl. ferner das zweite Corollarium (Über das Verhältnis der Begriffe von Krieg und Feind) von Der Begriff des Politischen aus 1938 (»Der sogenannte totale Krieg muss sowohl als Aktion wie auch als Zustand total sein, wenn er wirklich total sein soll. Er hat daher seinen Sinn in einer vorausgesetzten, begrifflich vorangehenden Feindschaft. Deshalb kann er auch nur von der Feindschaft her verstanden und definiert werden. Krieg in diesem totalen Sinne ist alles, was [an Handlungen und Zuständen] aus der Feindschaft entspringt.« – BP 102) bzw. Theorie, S. 96. 48 | Vgl. Derrida: Politik der Freundschaft, S. 187. 49 | Benjamin: GS II/1, S. 202f.

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zentrale Argument für die Ablehnung schmittianischer Politiktheorien liefert 50, rührt auch an die Vorstellungen über die Konstitution der politischen Sphäre oder der autonomen (souveränen) politischen Entität. Der Feind trägt nämlich als Instanz der Grenzziehung oder der Formbildung auf konstitutive Weise (wenn auch als eine Art konstitutives »Außen«51) zum Auf bau jeglicher politischer (staatlicher) Identität bei. Der Feind ist die Seinsbedingung für jede Form des »Eigenen«, und kann eben deshalb – wie Derrida einleuchtend dargestellt hat, der darin mit unfehlbarer Konsequenz und unnachahmbarer Invention sogar für seine »Politik der Freundschaft« Stützpunkte gefunden hat – überhaupt nicht bloß als fremd betrachtet werden. Dass die Anerkennung und Identifizierung des Feindes für eine tatsächlich politische Einheit oder Entität in Wahrheit eine konstitutive Notwendigkeit ist, impliziert freilich – hieran hat Derrida wiederholt erinnert 52 – die Anerkennung seines Seins, die Anerkennung des Lebens oder des Lebendigen in ihm. In diesem Sinne scheint das Gebot der Liebe zum Feind (oder zumindest ein Aspekt dieses Gebots) sich nicht derart auf den Privatfeind begrenzen zu lassen, wie Schmitt das am Anfang von Der Begriff des Politischen behauptet: liegt die Bedingung des Politischen in der biologisch-anthropologischen Eigenart, in der Einmaligkeit, der Endlichkeit und der Zerstörbarkeit des menschlichen Lebens, sowie ferner in seiner Fähigkeit zu töten, so sind es genau diese Eigenschaften (und folglich sein Leben), die im Feinde anerkannt, ja sogar bejaht werden müssen, falls dieser im politischen Sinne als Feind identifiziert werden soll. Schmitt nimmt freilich weitere Unterscheidungen innerhalb des Feindbegriffs vor, die dem Leser zu der Einsicht verhelfen, dass auch der Feind über extreme, besondere, außerordentliche Formen verfügt, auch in Bezug auf den Feind gibt es also Ausnahmen. Er geht z.B. detailliert auf die Etymologien oder Begriffsgeschichten der europäischen Sprachen ein, die allem voran davon zeugen, dass die etymologische Entwicklung sich als die »Privatisierung und Psychologisierung« der Freund- und Feindbegriffe nachzeichnen lässt (vgl. ebd., 105). Aus dem wortsemantischen Umfeld des im Grimm-Wörterbuch zugleich als inimicus und als hostis erläuterten Begriffs »Feind« hebt er – bei aller Ungeklärtheit der Etymologie – die Bedeutungsmomente von »Fehde« (die bei den Grimms übrigens auf inimicus zurückgeführt ist) und damit von Todfeindschaft hervor, die im Laufe der Zeit an Schärfe verloren (und »zu festen Formen und damit auch zur agonalen Auffassung des Fehdegegners« geführt) haben. Die englische Sprachgeschichte erinnert ihn daran, dass der strengere (u.a. die Dämonisierung des Todfeindes 50 | »Jeder Privatdozent in der Politologie in seiner Antrittsvorlesung – schreibt dazu Taubes – muss natürlich einen Tritt in den Arsch von Carl Schmitt geben, dass Freund/Feind nicht die richtige Kategorie sei. Da hat sich eine ganze Wissenschaft etabliert, um das Problem zu unterdrücken.« (Taubes: Politische Theologie, S. 142) 51 | Arditi: On the Political, S. 13. 52 | Vgl. z.B. Derrida: Politik der Freundschaft, S. 175, 223-224.

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implizierende) Bedeutungskreis von »foe« vom milderen »enemy« verdrängt wurde (1963 fügt er jedoch den Hinweis hinzu, dass mit dem kalten Krieg, der die Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden allmählich verwischt hat, sowie im Schatten der »nuklearen Vernichtungsmittel« das Wort »foe« plötzlich »aus seinem vierhundertjährigen archaischen Schlummer erwacht« ist – ebd., S. 18-19), in anderen Sprachen ist Feind einfach die negative Bestimmung von Freund.53 Die Etymologie zeugt – darüber hinaus, dass, wie zu sehen war, im Falle der modernen europäischen Sprachen die eindeutige Möglichkeit der semantischen Abgrenzung einer politischen Feindschaft, die Schmitt im Griechischen und im Lateinischen gefunden hat, gar nicht vorliegt – letztendlich davon, dass die Annahme einer spiegelartigen Symmetrie zwischen den Begriffen von Feind und Freund, von Krieg und Frieden, die die extremeren ursprünglichen Bedeutungsfelder von »foe« und »Fehde« verblassen ließ, kaum etwas zum Verständnis von Feindschaft beiträgt. Es gibt jedoch einen anderen Zusammenhang, in dem ein besonderer oder Ausnahmefall der tödlichen, extremen Feindschaft sich in einem moderneren begrifflichen Rahmen fassen lässt, nämlich das Konzept der »totalen Feindschaft«. Die »totale Feindschaft« ist selbstverständlich der Grund des »totalen Krieges«, in dem die »kontinentale Unterscheidung von Kombattanten und NichtKombattanten« aufgehoben wird (für das Grundmuster hierfür weist Schmitt auf Englands Seekrieg gegen Spanien hin)54, in diesem Falle könnte es jedoch noch sehr wohl um eine klassische politische Form gehen. Diejenigen Formen von Feindschaft hingegen, in denen der Feind in jedem denkbaren (kriegs- oder strafrechtlichen, sogar moralischen) Sinn für außergesetzlich erklärt wird, damit also auch diejenigen Fälle, wo es nicht um die politische Feindschaft zwischen Staat und Staat geht, zeugen von einer äußersten Absolutisierung des Feindes.55 Dies erfolge u.a. in Revolutionen (durch die Moralisierung der Feindschaft bzw. die moralische Brandmarkung des Feindes), in Bürgerkriegen (ebd., 43)56, in Kriegen, die im Namen der »Menschheit« geführt werden (ebd., 49)57, bzw. im Falle des irregulären Kämpfers, des Partisanen, der das Risiko der Außergesetzlichkeit und der schlichten Kriminalisierung bewusst in Kauf nimmt und – wie Schmitt in seinen Kommentaren zu Lenin ausführt58 – gerade dadurch zum bittersten Angreifer eines absolutisierten Feindes wird, dass er diesen Feind (den für Lenin die kapitalistischen Ordnung verkörpert) bereits durch die eigene Irregularität 53 | Zur Etymologie von »Feind« und »Fehde« s. Grimm/Grimm: Wörterbuch, Sp. 14171418, 1457-1460. Zu »foe« und »enemy« s. OED V, S. 238-239, 860, 1129; bzw. Schwab: Enemy or Foe. 54 | Schmitt: Totaler Feind, S. 484. 55 | Vgl. Schmitt: Theorie, S. 36; BP 11-12. 56 | Vgl. ferner Schmitt: Ex Captivitate, S. 56-57. 57 | S. zu diesem Zusammenhang Derrida: Séminaire I, S. 110-116. 58 | Schmitt: Theorie, S. 53-57.

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sozusagen in seinem Bestehen, d.h. »seinsmäßig«, bedroht. Wo der reale (oder gar der totale) Feind zum »absoluten Feind« erklärt wird, dient die reguläre Staatlichkeit – weder bei Lenin noch in der »vorhandenen Wirklichkeit des nuklearen Zeitalters« (1962!) – nicht mehr als die Voraussetzung des Politischen par excellence, wodurch die Gefahr besteht, dass dieser Feind, das zur Vernichtung verurteilte Andere, auch im moralischen Sinne vernichtet wird (da die Tätigkeit des Partisanen oder auch der Terror bzw. der Einsatz von Massenvernichtungswaffen erst dadurch gerechtfertigt werden kann). Die »Unentrinnbarkeit eines moralischen Zwanges« besteht darin, dass Kämpfer, die auf diese Weise Kriege führen bzw. irreguläre Mittel einsetzen, »die Gegenseite als Ganzes für verbrecherisch und unmenschlich erklären [müssen], für einen totalen Unwert« – denn mangels dieser Erklärung würden sie selber zu »Verbrechern oder Unmenschen«. Schmitt verweist hier, um die äußerste Folge der in diesem Zusammenhang begriffenen absoluten Feindschaft vor Augen zu führen, (ohne jede konkrete historische Referenz) auf die »Vernichtung alles lebensunwerten Lebens«, gleich im Anschluss darauf macht er jedoch klar, dass, was daran wirklich extrem oder »furchtbar« erscheint, eigentlich die Tatsache ist, dass die Vernichtung »ganz abstrakt und ganz absolut« erfolgt, dass der Feind »in aller Form noch vorher geächtet und verdammt wird, bevor das Vernichtungswerk beginnen kann«, dass also die Kontrahenten einander »in den Abgrund der totalen Entwertung hineinstoßen«, noch bevor es zu der eigentlichen »physischen« Vernichtung kommt. In der klassischen politischen Feindschaft muss, wie bereits erwähnt, der Feind nicht geliebt oder gehasst werden, es ist vielleicht sogar überhaupt nicht möglich, einen wirklich politischen Feind zu lieben oder zu hassen (die »besonders intensiven und unmenschlichen Kriege« – argumentiert Schmitt in Der Begriff des Politischen –, in denen der Feind auch moralisch herabgesetzt wird, zu einem Feind also, der »definitiv vernichtet werden muss, also nicht mehr nur ein in seine Grenzen zurückzuweisender Feind ist«, gehen in Wirklichkeit über das Politische hinaus – ebd., 37). Töten bzw. das Bereitsein zum Sterben haben im Krieg keinen »normativen«, sondern nur »existenziellen Sinn«, was für Schmitt jedoch keineswegs den Anlass für irgendeine Apologie des Tötens liefert, sondern wieder die Folgerung untermauert, dass man Krieg (als die Offenbarung der Intensität des Politischen) weder mit »ethischen«, noch mit »juristischen Normen« begründen kann: »Es gibt keinen rationalen Zweck, keine noch so richtige Norm, kein noch so vorbildliches Programm, kein noch so schönes soziales Ideal, keine Legitimität oder Legalität, die es rechtfertigen könnte, dass Menschen sich gegenseitig dafür töten.« Krieg ist nur dann »sinnvoll«, wenn es »wirkliche Feinde in der seinsmäßigen Bedeutung« gibt, und das einzige Kriterium, das das Töten von Menschen rechtfertigen kann, liegt wieder in der Geltendmachung bzw. Verteidigung der »eigenen Existenzform« (ebd., 49-50). Damit tritt eine äußerst verwirrende Konstellation hervor. Im klassischen Krieg, im Falle der tatsächlich politischen Feindschaft ist Töten – da es weder moralisiert noch normativ beurteilt werden kann – in gewissem Sinne gar kein

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Töten, es ist vielleicht vielmehr eine Art apathische Gewalt, vielleicht also nicht mehr oder nichts anderes, als eine Manifestierung der eigenen seinsmäßigen Form von Existenz (die, wie es nun scheint, immer die eigene Bedrohtheit, d.h. – obwohl Schmitt sich in dieser Hinsicht selten äußert – eine gewisse Pluralität dieser Existenzformen einschließt). In der von Lenins Ansichten abgeleiteten Idee der »absoluten Feindschaft« wird der Vernichtung des Lebens hingegen gerade durch die ihr vorausgehende moralische, rechtliche usw. Herabsetzung oder Exklusion, durch eine Art Entrechtung, letztendlich also durch die Verwendung einer Norm Sinn zugeschrieben. Einerseits könnte man auch in dieser Hinsicht kaum vom Töten sprechen, da hier nicht der Feind getötet wird, denn ein absoluter Feind wird ja sozusagen bereits lange vor seiner physischen Vernichtung zerstört (also gar nicht erst als ein Feind anerkannt, der daraufhin vernichtet werden soll), andererseits ist diese Vernichtung – eben deshalb – dennoch viel eher ein Töten als die physische Vernichtung eines »regulären« Feindes, da sie hier nicht als die (bloße) Verteidigung einer eigenen Existenzform, sondern erst von einem Zweck, einem Ideal oder einer Norm gerechtfertigt wird. Der absolute Feind ist kein Feind mehr, da seine Absolutisierung gerade dadurch erfolgt, dass ihm die Anerkennung als Feind im politisch-existentiellen Sinne abgesprochen wird. Was die Sache noch konfuser machen dürfte, ist die Definition des Politischen als Intensität in der 1932er Fassung von Der Begriff des Politischen: im Sinne dieser Definition nämlich könnte absolute Feindschaft – aufgrund Schmitts Analyse in Theorie des Partisanen – nichts anderes sein als die äußerste Form (oder der Ausnahmefall) eben dieser Intensität. Das als Intensität definierte Politische scheint sich in diesem Sinne hierin (in der absoluten Feindschaft) in seiner reinsten Form zu zeigen, in einer Form jedoch, die also – da absolute Feindschaft ihre moralische, rechtliche o. ä. Rechtfertigung durch Normen anderer Sachgebiete begründen muss und, ferner, sich üblicherweise nicht als ein Konflikt zwischen Staat und Staat realisiert – keine politische ist. Die Unterscheidung lässt sich auch mit Bezug auf die anthropologische Dimension des Politischen kaum hinreichend begründen. Obwohl, im Gegensatz zu der Vernichtung des absoluten Feindes, die eigentlich die Vernichtung des bereits außer Gesetz gestellten, wertlosen, bloßen Lebens bedeutet, im klassischen Krieg die (An-)Erkennung des Seins des Feindes unverzichtbar ist, wird der Wert dieses Seins von Schmitt auf eine negativ formulierte Norm zurückgeführt (es gibt keine Norm, die die Zerstörung menschlichen Lebens rechtfertigen könnte), die aber gerade im Krieg außer Kraft gesetzt werden muss: der Feind ist also auch hier letztendlich mit seinem bloßen Leben gleichgesetzt. Der Feind (wie, könnte man hinzufügen, auch der Freund) scheint also daran, an seinem bloßen Leben (an seiner Sterblichkeit, seiner körperlichen Zerstörbarkeit) erkennbar und als solcher identifizierbar zu sein, was einen wichtigen Aspekt der Funktion erhellt, die das Leben, genauer die Lebendigkeit im körperlichen Sinne (die hier eigentlich, darauf hat bereits die Kritik von Leo Strauss auf-

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merksam gemacht, geradezu als eine Art Animalität begriffen wird59), im Diskurs von Schmitt erfüllt. Zahlreiche – darunter auch einige bereits erwähnte – Argumente könnten die Annahme bestätigen, dass die konkrete Bedeutung dieses Begriffs bei Schmitt zumeist vom symmetrischen Gegenbegriff des Todes oder zumindest des Unlebendigen bestimmt ist (man denke an die Gegensätze zwischen Repräsentation als »lebendiger« Form und dem formalen, mathematisch-statistischen Charakter der parlamentarischen Repräsentation, zwischen der Situativität konkreter Ordnungen und der abstrakten Seinsweise rechtlicher oder politischer Normen, oder aber an den mit dem Tod drohenden Feind, der als Voraussetzung für die Vitalität einer politischen Einheit dient usw.), das Politische lässt sich jedoch nicht entlang der Symmetrie des Codes Leben/Tod beschreiben. Um dies zu begründen, soll hier das Wort für eine Weile Schmitt übergeben werden, nämlich dem Schluss von Der Begriff des Politischen, der auf die Erkenntnis hinausläuft, dass »es falsch ist, ein politisches Problem mit Antithesen von mechanisch und organisch, Tod und Leben zu lösen. Ein Leben, das gegenüber sich selbst nichts mehr hat als den Tod, ist kein Leben mehr, sondern Ohnmacht und Hilflosigkeit. Wer keinen anderen Feind mehr kennt, als den Tod und in seinem Feinde nichts erblickt als leere Mechanik, ist dem Tode näher als dem Leben, und die bequeme Antithese vom Organischen und Mechanischen ist in sich selbst etwas Roh-Mechanisches. Eine Gruppierung, die auf der eigenen Seite nur Geist und Leben, auf der anderen nur Tod und Mechanik sieht, bedeutet nichts als einen Verzicht auf den Kampf und hat nur den Wert einer romantischen Klage. Denn das Leben kämpft nicht mit dem Tod und der Geist nicht mit der Geistlosigkeit.« (ebd., 95 – herv. ZKSz).60 Als Schmitt in seinen Aufzeichnungen nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, also in der vielleicht krisenreichsten Phase seiner Lauf bahn – nun in einem nicht streng wissenschaftlichem Rahmen – seine Bestimmung des Feindbegriffs wieder aufgreift, macht er – was mit Blick auf die obigen Überlegungen kaum von Ungefähr ist – keinen Unterschied mehr zwischen privatem und öffentlichem Feind. Die Definition wird nun Theodor Däublers Gedichtzyklus Hymne an Italien, einem Vers des Gedichts Sang an Palermo entliehen: »Der Feind ist unsere eigne Frage als Gestalt«.61 Diese Vorstellung einer zur Form oder zur »Gestalt« gewordenen Frage impliziert in dieser Formulierung selbstverständlich mindestens zwei verschiedene Deutungslinien, da sie – unmittelbar – als die Gestaltwerdung der vom Ich gestellten Frage, andererseits aber – und besonders im Hinblick auf den Feindbegriff von Der Begriff des Politischen – auch als diejenige Frage verstanden werden kann, die an das in der eigenen Existenzform bedrohte, in diesem Sinne in Frage gestellte Ich gerichtet ist und als solche – im Sinne des 59 | Vgl. Strauss: Anmerkungen, S. 116-117. 60 | Als eine interessante und relevante Parallele für diese Kritik am Gegensatz Mechanisch/Organisch aus derselben Zeit s. Jünger: Der Arbeiter, S. 104-106. 61 | Schmitt: Weisheit der Zelle, S. 217.

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Däublerverses – die Gestalt des Feindes aufnimmt. Die beiden Lesarten sind freilich nicht unvereinbar, da eine Frage, und zwar die eigne, vielleicht ja die eigenste Frage überhaupt, vermutlich eine Art Ungewissheit, ein Nicht-Wissen offenbart und dementsprechend die Fraglichkeit oder Fragwürdigkeit, ja die Unbestimmtheit dessen bezeugen dürfte, der sie stellt – auf die selbe Weise, wie die Frage, die sich an diesen richtet oder diesen in Frage stellt, und in der der – eigenste? – Feind zur Gestalt wird. Die Vereinbarkeit beider Lesarten wird von Schmitt selbst angezeigt (»Das Motiv der Fragestellung ist meistens, uns selbst in unserer Existenz in Frage zu stellen«62), ebenso wie von der – für Schmitts Begriffsverwendung ziemlich relevanten – diskursiven Umgebung, in der die Quelle der existentiellen Bestimmtheit oder Unbestimmtheit des Seienden vorzugsweise gerade in der (außerordentlichen) Frage oder Fragestellung erblickt wird. Es wäre hier wieder einmal auf Heidegger zu verweisen, auf die »formale Struktur« der Seinsfrage in Sein und Zeit oder auf eine diesbezüglich wichtige Stelle von Einführung in die Metaphysik (die auch die vorhin behandelte doppelte Ausgerichtetheit der Frage illustrieren könnte: »Weil jedoch dieses Fragen […] einen Rückstoß auf sich selbst erwirkt, ist nicht nur das, wonach gefragt wird, außerordentlich, sondern das Fragen selbst«), oder eben auf die »unkonstruierbare Frage« Blochs, die in Geist der Utopie gerade als »Gestalt« dargestellt wird63. Die Frage ist aggressiv (oder zumindest polemisch), da sie immer zugleich den Befragten in Frage stellt – dies wird am reinsten in Schmitts einleitender Meditation in Ex Captivitate Salus deutlich, und zwar in der Erörterung der Formel »Wer bist du? Tu quis es?« (diese »abgründige« und von der Undurchsichtigkeit »meiner Persönlichkeit und meines Wesens« provozierte Frage soll Eduard Spranger 1945 an Schmitt gestellt haben; solches Fragen macht »wehrlos« und führt zu charakteristischen Gegenfragen: »Wer bist Du denn eigentlich, der Du mich so in Frage stellst? Woher diese Überlegenheit? Was ist das Wesen der Macht, der dich ermutigt mir solche Fragen zu stellen, Fragen, die mich selbst in Frage stellen sollen und die infolgedessen in ihrer letzten Auswirkung nur Schlingen und Fallen sind?«64). Selbst Erkenntnis oder Verstehen werden in den Aufzeichnungen dieser Jahre in ähnlichem Sinne als polemische, aggressive oder 62 | Vgl. dazu jedoch: »Die Fragebogen machen nicht wir, sondern andere, die dich mitsamt deinen Fragen in Frage stellen.« (Schmitt: Weisheit, S. 87). 63 | Heidegger, Einführung in die Metaphysik, S. 15. Vgl. Bloch: Geist der Utopie, S. 247249. Die »ausgesagte, aber unkonstruierte, an sich selbst existente Frage« ist die eigentlich reine Frage, auf die »ihre reine Aussage« die erste Antwort gibt. Zur Frage als »Gestalt«: »Die Frage liegt so nahe, die wir sind, deren eines Wort in jedem Augenblick verschlossen mitzittert, überhell in dieser dunklen Kammer, im steil an uns aufragenden Selbstgebirge des Staunens: aber sucht man sie schon umrissen zu sagen, so wird sie unterwegs zugleich gebogen, unterschlagen, überschlagen, zurecht konstruiert« (erste Herv. ZKSz). Vgl. ferner, zu den »Gestalten der universalen Selbstbegegnung« als »Eschatologie«, ebd., S. 332-342. 64 | Schmitt: Gespräch mit Eduard Spranger, S. 10.

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geradezu Unterwerfungsakte behandelt: »Erobern kann nur derjenige, der seine Beute besser kennt, als sie sich selbst«; »man muss seinen Feinden unbegreiflich bleiben« usw.65 Aus der Frage wird der Feind erkennbar, und der einzige (existenzielle) Sinn des Fragens scheint eben hierin zu liegen. Schmitt geht z.B. kaum auf den eigentlichen Gegenstand des Fragens ein, was insofern ja durchaus konsequent ist, als die für das Politische formative Unterscheidung, die Unterscheidung von Freund und Feind, bereits in Der Begriff des Politischen ohne besonderes Augenmerk für das eigentliche oder jeweilige Objekt der Konfrontation dargestellt bzw. definiert wurde.66 Das Verhältnis Freund/Feind – wie auch die Frage – verfügt also, semiologisch formuliert, über keinen Referenten, mehr noch, es gibt überhaupt keine äußere oder dritte Position, von der diese Unterscheidung überblickt, beobachtet, beschrieben oder identifiziert werden könnte.67 Das durch die Freund/Feind-Unterscheidung aufgerissene Feld des Politischen bleibt vom Außen unzugänglich, da (dies drückt sich auch in der den ganzen Text von Der Begriff des Politischen durchwebenden Skepsis gegenüber die Position des Neutralen aus) »die Möglichkeit richtigen Erkennens und Verstehens und damit auch die Befugnis mitzusprechen und zu urteilen (…) hier nämlich nur durch das existenzielle Teilhaben und Teilnehmen gegeben« ist (ebd., 27). Die »Gestalt« und der Gehalt der Frage sind für eine dritte Position unerkennbar und unzugänglich. Wer (oder was) ist also diese Gestalt, in der sich der Feind als Frage verkörpert? Schmitts Antwort auf diese Frage ist der folgenden, oft zitierten Ausführung zu entnehmen: »Wen kann ich überhaupt als meinen Feind anerkennen? Offenbar nur den, der mich in Frage stellen kann. Indem ich ihn als Feind anerkenne, erkenne ich an, dass er mich in Frage stellen kann. Und wer kann mich wirklich in Frage stellen? Nur ich mich selbst. Oder mein Bruder. Das ist es. Der Andere 65 | Schmitt: Antwortende Bemerkungen, S. 18; Glossarium, S. 216. 66 | Auch in der neueren Literatur über Schmitt taucht immer wieder das Problem solcher politischer Aktionen (bestimmter Arten von Demonstrationen oder Veranstaltungen wie etwa Live 8) auf, die sich jedoch eher über einen Gegenstand (oder einen Zweck) als durch einen Feind definieren lassen, vgl. z B. Arditi: On the Political, S. 28. Versuchte man auf diese Einwände im Sinne Schmitts zu antworten, könnten solche Beispiele vom Begriff der »Akklamation« her gedeutet, und es könnte darauf hingewiesen werden, dass eine spezifische Leistung der öffentlichen Akklamation doch im Herstellen einer – repräsentierten – politischen Einheit liegt (Dass Akklamation auch den politischen oder theologischen Öffentlichkeitsformen der neuesten Zeit nicht ganz fremd ist, wurde zuletzt in der berühmt gewordenen Forderung der für Johannes Paul II. Totenwache haltenden bzw. trauernden Masse – »santo subito« – in Rom demonstriert). Aus der anderen Richtung könnten die hier erwogenen Grenzen von Schmitts zentralen Voraussetzungen an der Frage nach der Möglichkeit einer Souveränität ohne Feinde getestet werden, vgl. dazu Derrida: Séminaire II, S. 47. 67 | Zu Schmitts Skepsis gegenüber der Position eines »höheren Dritten« s. ferner PT 60, RK 14.

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ist mein Bruder. Der Andere erweist sich als mein Bruder, und der Bruder erweist sich als mein Feind. Adam und Eva hatten zwei Söhne, Kain und Abel. So beginnt die Geschichte der Menschheit. So sieht der Vater aller Dinge aus«.68 Der Feind ist also (auch) ein innerer Feind, der Krieg (der Vater aller Dinge) erweist sich als innerer Krieg, weil die Frage des Feindes, die Frage, in der er zur Gestalt wird, sich als das in Frage gestellte Ich entpuppt, die Infragestellung des Ichs. Auf genau dieses Moment wird in Derridas Politik der »Freundschaft« ständig hingewiesen69: der Feind nämlich, ohne den das Ich (oder eine politische Einheit) unbegründbar wäre, ist deshalb ein Bruder, weil er in jeder politischen Entität präsent ist, immer schon da ist, diese ständig begleitet oder heimsucht: das Eigene, das Ich im politischen Sinne wäre also durch die (eigene) Infragestellung oder durch die (reale) Möglichkeit der Infragestellung definiert. Es geht dennoch weniger um eine schlichte Inklusion: der Feind als Gestalt ist nicht einfach mit der Frage oder der Fragwürdigkeit des Ichs als Gestalt identisch, da Schmitt an der zitierten Stelle doch einen gewissen Unterschied macht (zwischen »mir« und dem Bruder, zwischen Kain und Abel), der Feind ist vielmehr Identität und Nichtidentität zugleich, was ja, denkt man an die Definierung des Feindes als eine polemische Frage, durchaus konsequent ist, denn was die Frage (die Frage als Gestalt, die fragliche Gestalt) bewirkt, ist die Infragestellung einer Instanz (des Ichs), für die diese Infragestellung freilich von konstitutiver Bedeutung ist, weil sie (im politischen Sinne) ohne einen Feind gar nicht existieren würde. Diese unbestimmte Relation zwischen konkreter, gestaltartiger Identität und der Verunsicherung (Infragestellung) solcher Identitätsformen meldet sich hinter fast jeder zentralen These Schmitts an. Sie ist präsent z.B. hinter dem Begriff der Repräsentation (im arcanum der potentiellen Theatralität einer Repräsentationsform, die an Person und Körper gebunden ist), wie auch in der Bedrohung, die im Begriff des Partisanen erblickt wurde (in der Unerkennbarkeit des Feindes), ferner im Paradoxon der »absoluten Feindschaft« (die intensivste Realisierung politischer Feindschaft zerstört den Begriff des Politischen), eigentlich auch in Schmitts Ablehnung der Frage »Wer bist du?« (die Undurchsichtigkeit – hier auch eine Art arcanum? –, die in dieser Frage angegriffen wird, folgt vielleicht gerade daraus, dass das Ich immer zugleich das Andere, der Bruder, der Feind ist), sogar noch in Schmitts Festhalten an der konkreten Natur politischer Ordnungen und Begriffe (die Einheit dieser wird außerhalb der konkreten Situation deshalb fraglich, weil sie als »leere und gespenstische Abstraktionen« weiterleben können – ebd., 31, herv. ZKSz). Identität ist also immer gespensterhafte Identität 70, und in dieser Hinsicht geht es in der Feindschaft (oder, aus anderer Perspektive: in der Entscheidung über das Wesen des Politischen) in Wahrheit darum, diese Gespensterhaftigkeit 68 | Schmitt: Weisheit, S. 89. 69 | Zur Deutung vom »Bruder« s. hier Derrida: Politik der Freundschaft, S. 225-227, 232. 70 | Auf die Präsenz der Gespenstmetapher in Der Begriff des Politischen wird selbstverständlich auch Derrida aufmerksam. S. ebd., S. 164-166, 190.

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zu bekämpfen. Der Krieg wird um die konkrete, seinsmäßige Identität geführt, und in diesem Zusammenhang macht es wenig Unterschied, ob die Konstitution einer politischen Entität eher auf die Bedrohung durch einen Feind, auf Angegriffenheit, oder aber, genau im Gegensatz, auf politische Aggression, auf Selbstidentifikation durch Angriff auf einen Feind zurückgeführt wird.71 Dass Schmitt soviel Wert auf die »Gestalt«, auf lebendige und konkrete Formen legt, könnte damit erklärt werden. Hierbei rückt ein Begriff in den Vordergrund, der für Schmitt auch als wissenschaftliches Modewort bekannt gewesen sein könnte (das Spektrum reicht von der Gestaltpsychologie über deutsche »Geistesgeschichte«, etwa Oswald Spengler oder Oskar Walzel bis zu der Terminologie Ernst Cassirers), und der auch von den politiktheoretischen, philosophischen und ideologischen Kontexten der Zeit, die – von Rosenzweig bis Alfred Rosenberg – mit Blick auf Schmitt relevant genannt werden könnten, selten gefehlt hat.72 Jünger beschrieb z.B. den »Arbeiter« selbst als »Gestalt«: für ihn ist »Gestalt« eine Form, die eng mit Lebendigkeit verbunden ist (als Beispiel dient die Formerzeugung bei Tieren, z.B. die Bienenwabe), ein Ganzes, das mehr ist als die Summe seiner Teile und das die Erscheinungsformen, in denen es verankert ist, weit übertrifft (Beispiele: die »Gestalt« des Menschen ist unsterblich, zeitlos, sie existiert vor dem Geburt und nach dem Tod; der deutsche Frontsoldat als »Gestalt« ist trotz der Niederlage unbesiegbar und unsterblich usw.).73 Bei Heidegger wäre wieder auf den »polemos« zu verweisen, die Auseinandersetzung des Menschen mit dem Seienden, wo das Sein des Menschen dadurch hervortritt, dass er das Seiende in seine Grenzen zwingt und in seine »Gestalt« stellt. Ein mindestens genauso wichtiger Kontext findet sich aber bei Hegel. Schmitt verweist in seinem Briefwechsel mit Alexandre Kojève in den 1950ern auf eine Stelle in der Phänomenologie des Geistes, wo Hegel – während er das dritte »Verhältnis« des »unglücklichen Bewusstseins« behandelt – die gleiche Feindformel verwendet (»der Feind in seiner eigensten Gestalt«, »der Feind in seiner eigentümlichsten Gestalt«)74, die Schmitt von Däubler übernommen hat. Kojève interpretiert diesen Feind in seiner Antwort als tödlichen Feind, während »Gestalt« hier einfach Körper bedeuten soll: der Feind ist »Gestalt« insofern, als er bereit zum Töten ist und vernichtet werden kann, womit eigentlich die Mindestbedingungen der animalischen politischen Anthropologie Schmitts wiederholt werden.75 Aus der Stelle bei Hegel geht hervor, dass diese eigenste Gestalt des Feindes sich in den bloßen »tierischen Funktionen« zeigen soll, die an sich von keinerlei Bedeutung für den Geist sind (der Feind »erzeugt« sich in dieser »Niederlage«, herv. ZKSz), das Bewusstsein erkennt jedoch eben durch diese tierischen Funktionen 71 | Vgl. dazu Lefebvre: The Political. 72 | Vgl. dazu Bojanić: The USA. 73 | Vgl. Jünger: Der Arbeiter, S. 37-43, 86, 237-243. 74 | Hegel: Phänomenologie, S. 174. 75 | Vgl. Tommissen: Kojève und Schmitt, S. 115.

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die Einzelnheit, auf die es gerichtet ist. Aus Schmitts Perspektive dürfte hier offensichtlich das Moment des Animalischen von besonderer Bedeutung sein, das im Einzelnen erblickt wird. Der Feind wird gleichsam hierin, in den »tierischen Funktionen«, zur Gestalt, was dann auch heißt: die körperlich-tierhafte, die einzelne oder einmalige, sterbliche Gestalt ist der eigentliche Feind. In dieser Hinsicht ist es äußerst bedeutungsvoll, dass es im unmittelbaren Kontext des Däublerverses in Sang an Palermo von Tieren geradezu wimmelt, und zwar von mit Menschen gekreuzten oder an der Seite von Menschen erscheinenden Tieren: Menschen, die in Beutejäger verwandelt werden (»Das eitle Tier in dir wird sich hinübersetzen./Wohin? Auf Schollen, die schon Priester vorgeweiht!/Wir sollen dann die Beute schreckensbleich zerfetzen:/Der Feind ist unsere eigne Frage als Gestalt./Und er wird uns, wir ihn zum selben Ende hetzen./Doch aus der Volksbesonnenheit kommt die Gewalt.«), Schlangenmenschen, die ihre menschliche Gestalt hinterlassen (»Aus unsrer Tierverlängerung ist Gott gekommen./(…)/Die Schlangen sind in meiner Seele Überwindung/Der kalten Ansprache des andren Ichs in mir.«), oder tierischen Gefährten, die den Menschen – als seine Brüder? – auf seinem Weg begleiten (»Mein Tier, du hast mich armen Bleichen ganz verlassen,/Was bin ich, wenn mich kein bekanntes Tier begleitet?/Ein eitler Reiter, ohne sein verwegnes Pferd«). Wie Petar Bojanić anhand der diesbezüglich relevanten Parallelstellen bei Hegel dargestellt hat 76, sind die »tierischen Funktionen« in der Tat im mehrfachen Sinne als der eigentliche »Feind« des Menschen, als Funktionen des im Menschen verborgenen Feindes zu betrachten. Sie tauchen z.B. in einer Sektion des Kapitels über Skulptur in den Vorlesungen über die Ästhetik auf, wo Hegel die Bekleidung behandelt und hier das Schamgefühl des Menschen erörtert. Der Mensch, schreibt er hier, »der sich seiner höheren Bestimmung, Geist zu sein, bewusst wird, muss das nur Animalische als eine Unangemessenheit ansehen und vornehmlich die Teile seines Körpers, Leib, Brust, Rücken und Beine, welche bloß tierischen Funktionen dienen (…) als eine Unangemessenheit gegen das höhere Innere zu verbergen streben«.77 In diesem Kontext kommt Schmitts Weisheiten der Zelle eine besondere Bedeutung zu, da diese zahlreiche Hinweise auf die (freilich nicht unbedingt im wortwörtlichen Sinne zu verstehende) Nacktheit als die eigentliche Grunderfahrung der Zeit der Untersuchungshaft enthalten (»am nacktesten ist der Mensch, der entkleidet vor einen bekleideten Menschen gestellt wird« »die Kleidungsstücke, die man mir gelassen hat, bestätigen nur die objektive Nacktheit« »die Zelle ist das Kleid, das er [nämlich der Feind – ZKSz] mir stiftet« usw.78). Der Feind ist also – in seiner tierischen Gestaltartigkeit – zugleich derjenige, der einen zur Nacktheit verdammt (in bestimmtem Sinne also außer Gesetz stellt), der die tierischen Funktionen hervorlockt, der das Bewusstsein zu 76 | Bojanić: The USA. 77 | Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik 2, S. 402. 78 | Schmitt: Weisheit, S. 79-80, 89.

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der Einzelnheit zurückdrängt, die es zu hinterlassen hat: die zur Gestalt gewordene Frage oder Fragwürdigkeit ist mithin nichts anderes als diese »Gestalt«, der Bruder, das Tier, das Andere, das das Ich – gerade in seiner konkreten Körperlichkeit – gespensterhaft heimsucht.79 Diese »Gestalt« stellt den Menschen gerade in der Politik in Frage, weil – wie vorhin sichtbar wurde – Schmitt seine Definition des Politischen als »Intensität« nur auf eine animalische Vorstellung eines bloßen »Lebens« begründen konnte. Dass die Fragwürdigkeit des Menschen paradoxerweise darin zum Vorschein kommt, dass ihm in der Freund/Feind-Beziehung eine (notwendigerweise animalische) konkrete Gestalt aufgedrängt wird, zeugt jedoch weniger vom Fiasko der politischen Theologie, als vielmehr von der Unbegründbarkeit einer Art politischer Anthropologie. Denn im Krieg geht es, letztendlich, um die Definierbarkeit (Schmitt aus seiner Zelle: die »tausend Definitionen« 80) des Menschen. Indem das Politische in der Frage nach dem Menschen die konkrete, jedoch nicht-menschliche »Gestalt« dieser (die Gestalt des Feindes) hervorbringt, zeugt es ununterbrochen von der Undefinierbarkeit des Menschen.

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Öffentlichkeit und Narrativität bei Hannah Arendt 1 Csaba Olay

Vorliegender Beitrag versucht, den systematischen Zusammenhang zwischen dem Konzept der Öffentlichkeit und dem der narrativen Struktur des Handelns im Werk von Hannah Arendt zu rekonstruieren und kritisch zu prüfen. In einem ersten Schritt kommt es darauf an, den deskriptiven Gehalt dieses Konzeptes bei Arendt zu skizzieren. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei der eigentümlichen Struktur des öffentlichen Raumes gewidmet, die Arendt zufolge mit der Kon­ stitution eines politischen Gebildes zusammenhängt. In einem zweiten Schritt wird die Verknüpfung von Öffentlichkeit und narrativer Struktur erörtert, vor allem unter dem Gesichtspunkt, wie die prominente Stellung der Narrativität bei Arendt dargestellt und begründet wird. Dabei wird die These vertreten, dass der öffentliche Raum und die narrative Struktur für Hannah Arendt aus verschiedenen und teilweise heterogenen Gründen grundlegend sind, ohne dass sie diese Aspekte hinreichend getrennt hätte. Dementsprechend sollen schrittweise die Problemkomplexe der Öffentlichkeit als Wesensbestimmung des Politischen und danach der Narrativität behandelt und dabei folgende Thesen plausibel gemacht werden: 1. Das Übergewicht der Öffentlichkeit in der Bestimmung des Politischen drängt instrumentelle Aufgaben in den Hintergrund. 2. Arendt kommt es aus strukturellen Gründen nicht darauf an, die narrative Zugänglichkeit eines jeden zur eigenen Identität zu klären, sondern vielmehr darauf, wie beispielhafte Taten und Leben innerhalb eines öffentlichen Raumes narrativ auf bewahrt und erinnert werden können.

1 | Vorliegender Aufsatz wurde in der MTA-ELTE Forschungsgruppe Hermeneutik ausgearbeitet und von einem Bolyai-Forschungsstipendium der Ungarischen Akademie der Wissenschaften sowie vom Projekt 81997 des ungarischen Wissenschaftlichen Landesforschungsfonds (OTKA) gefördert.

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1. Ö ffentlichkeit als W esensbestimmung des P olitischen Für Hannah Arendt bildet die Öffentlichkeit im Sinne eines öffentlichen Raums die Fundamentalbestimmung des Politischen. Allein vom öffentlichen Raum her lässt sich das, was wir Politik nennen, verstehen. Der öffentliche Raum seinerseits hat Arendt zufolge notwendigerweise mit der Pluralität derer zu tun, die in ihm erscheinen, vergangene und künftige Personen mit inbegriffen, und derart besagt der Gedanke auch, dass die Politik als Erscheinung der Pluralität zu fassen ist. Im Hinblick auf die Pluralität habe Arendt bereits seit 1950 die These vertreten, könnte man ferner anführen, dass die Politik auf der Tatsache der Pluralität der Menschen beruht.2 Die Politik ist so gesehen eine, wenn auch wohl nicht die einzige Erscheinung der Pluralität menschlicher Wesen. Die Pluralität jedoch lässt sich, wie Arendt selber tut, derart mit dem öffentlichen Raum verbinden, dass die fundamentale Rolle beider für die Politik einsichtig wird. Es bleibt von vornherein zu betonen, dass in diesem Ansatz die fundamentale Vorentscheidung liegt, der zufolge die so verstandene Politik nicht, zumindest nicht primär auf die Bewältigung von vorgegebenen Aufgaben gleichwelcher Art bezogen werden soll.3 Das Politische ist also für Arendt eher eine Dimension, die unser Leben bereichert und die auch, unter bestimmten Umständen, bedroht werden bzw. verschwinden kann. Indem Hannah Arendt diese Zusammenhänge nicht explizit thematisiert, erschwert sie die positive Anknüpfung an ihr Konzept, wie darauf noch zurückzukommen sein wird, in zumindest zwei Hinsichten: zum einen bleibt dadurch der Status politischer Tätigkeit innerhalb der Hierarchie menschlicher Tätigkeiten unklar, zum andern wird dadurch der Bezug des Politischen, das von Arendt als ein Selbstzweck bestimmt wird, zum offenbar instrumentellen politischen Handeln mangelhaft beleuchtet.4 Um das zu verdeutlichen, sollen zumindest zwei Aspekte geklärt werden: zum einen soll erläutert werden, warum das Öffentliche eine Wesensbestimmung des Politischen sein sollte. Zum anderen soll die Möglichkeit der Abgrenzung eines solchen Raums, d.h. die Möglichkeit seiner Unterscheidung von anderen Räumen oder Feldern in Grundzügen verdeutlicht werden. Hannah Arendt geht von der normativen Voraussetzung aus, dass es in der Politik um Freiheit, und zwar um politische Freiheit geht: »Der Sinn von Politik ist Freiheit«, heißt es bei ihr lapidar.5 Es handelt sich dabei, genauer genommen, um eine in der Öffentlichkeit sich manifestierende Freiheit, und das ist mit der Präzisierung in Richtung der politischen Freiheit gemeint. Dieser Ausgangspunkt versteht sich jedoch keineswegs 2 | Arendt: Was ist Politik, S. 9. Vgl. auch: »Politik handelt von dem Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen.« (Ebd.) 3 | Deswegen spricht Arendt manchmal an einigen Stellen vom Politischen als etwas, was aus der Welt verschwinden könnte (ebd., S. 13). 4 | Siehe dazu zusammenfassend Villa: Public Freedom, S. 338ff. 5 | Arendt: Was ist Politik, S. 28.

Öffentlichkeit und Narrativität bei Hannah Arendt

von selbst. Einerseits wird damit das Politische implizit als Erscheinungsort eines grundsätzlichen Wertes bzw. einer Grundbestimmung des Menschen genommen. Andererseits lässt sich fragen, wie das Gemeinwohl, das auf naheliegende Weise als ein wesentlicher Faktor der Politik verstanden werden könnte, in diese Konzeption der Öffentlichkeit integriert oder eingegliedert werden kann. Was den ersten Punkt angeht, findet man bei Arendt nichts weiter als eher sporadische als systematische Berufungen auf eine nicht näher charakterisierte republikanische Tradition. Die nicht eigens thematisierte Anlehnung an die republikanische Tradition kommt zum Beispiel in der folgenden Passage aus einem unveröffentlichten Manuskript klar zum Vorschein, die von Machiavelli, Montesquieu und Tocqueville handelt: »They never ask: what is the end of politics, what is the end of government, for this is what they take for granted, that the political life is the best life. It cannot have an ›end‹, a goal that would be higher than itself.«6 Arendt geht meines Wissens nirgends näher darauf ein. Ähnliche Passagen ließen sich mit Blick auf die Hochachtung der politischen Tätigkeit in der griechischen Polis anführen, die jedoch die allgemeine Gültigkeit dieser Bewertungen nur nahelegen, aber nicht eigens begründen. Die Art und Weise, wie Arendt den Zusammenhang von Freiheit und Öffentlichkeit in ihrem Konzept bestimmt, verdeutlicht auch die wichtigsten Punkte in Arendts Anknüpfung an eine republikanische Tradition. Was den öffentlichen Raum angeht, unterscheidet Arendt zwei Bedeutungen des Ausdrucks »öffentlich«, die miteinander zusammenhängen, wobei für sie die zweite Bedeutung maßgebend ist. Zum einen bedeutet das Adjektiv, dass etwas für jedermann zugänglich ist, dass es gesehen und gehört werden kann. Diese Art von Öffentlichkeit bildet für Menschen ein schwerwiegendes Indiz der Realität dessen, was derart öffentlich ist. Zum anderen ist das »Öffentliche« die Welt selbst, insofern uns gemeinsam ist und »als solches sich von dem unterscheidet, was uns privat zu eigen ist, also dem Ort, den wir unser Privateigentum nennen.« 7 Die so verstandene Welt ist sowohl »ein Gebilde von Menschenhand wie der Inbegriff aller nur zwischen Menschen spielenden Angelegenheiten, die handgreiflich in der hergestellten Welt zum Vorschein kommen.«8 Für die Akzentuierung, die Arendt hier vornimmt, ist es wesentlich, dass der maßgebende Sinn von Öffentlichkeit nicht auf der Zugänglichkeit für jedermann beruht, sondern auf der Abgrenzung gegen unsere privaten Angelegenheiten, die in ihren Ausführungen über den Gegensatz von Haushalt und öffentlichem Raum erläutert wird. Deswegen ist es ein Missverständnis, wenn man im Anschluss an Ottfried Höffe bezweifelt9, dass der Markt zur Sphäre des Haushalts gehört, weil der Warentausch sich öffentlich vollziehe und so die Welt der Wirtschaft öffentlichen Charakter besitze. Zum einen versteht Höffe hier das Adjektiv »öffentlich« im 6 | Zit. nach Breier: Hannah Arendt, S. 163. 7 | Arendt: Vita activa, S. 65. 8 | Ebd. 9 | Höffe: Politische Ethik im Gespräch, S. 24.

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Sinne der Zugänglichkeit für jedermann, also anders als Arendt. Zum anderen macht das Vorhandensein vorgegebener Ziele, und zwar privater Art, den Markt unfrei, wogegen der öffentliche Raum, wie Arendt ihn versteht, eo ipso frei ist. Der Haushalt ist Arendt zufolge der Ort der Erhaltung des Lebensprozesses des Einzelnen. Damit wird die Privatsphäre nicht als Bereich jener Angelegenheiten verstanden, die andere nicht angehen, sondern funktional von der Notwendigkeit her, den Lebensprozess zu erhalten. Im Gegensatz zur bloßen Lebenserhaltung hat der öffentliche Raum für Arendt in erster Linie die Funktion, die Taten einzelner Menschen gegen die Vergänglichkeit zu sichern. Diese Bestimmung wird vom Modell der Polis abgelesen, die »für die Griechen – wie die res publica für die Römer – primär eine Garantie gegen die Vergeblichkeit und Vergänglichkeit des Lebens der Einzelnen [war], der Raum nämlich, der gegen alles nur Vergängliche geschützt und dem relativ Dauerhaften vorbehalten, also geradezu dafür bestimmt war, sterblichen Menschen Unsterblichkeit zu gewähren.« (VA, 70) Diese Leistung der Öffentlichkeit macht sowohl möglich, dass man sich als vortrefflich auszeichnen kann, als auch die Erfassung der Einzigartigkeit des Einzelnen mithilfe einer Lebensgeschichte10 – worauf noch zurückzukommen sein wird. Damit bekommt aber der öffentliche Raum einen antiinstrumentellen Akzent: Vortrefflichkeit und Auszeichnung gegen andere und vor anderen lassen sich nicht als Mittel zum Zweck, sondern nur als Selbstzweck begreifen. Wie man auch die Bedeutung des öffentlichen Raums für die Erfassung der personalen Individualität bestimmen mag, ist es entscheidend, dass die Politik nach Arendts Grundüberzeugung als das Schicksal des öffentlichen Raums bestimmt werden kann. Darin spielt die Eigentümlichkeit von Arendts Bestimmung der Öffentlichkeit insofern eine Rolle, als ihr zufolge nicht nur zeitgenössische Personen, sondern auch die aus vergangenen wie auch künftigen Epochen an derselben Öffentlichkeit teilhaben: »Nur die Existenz eines öffentlichen Raumes in der Welt und die in ihm erfolgende Verwandlung von Objekten in eine Dingwelt, die Menschen versammelt und miteinander verbindet, ist auf Dauerhaftigkeit angewiesen. Eine Welt, die Platz für die Öffentlichkeit haben soll, kann nicht nur für eine Generation errichtet oder nur für die Lebenden geplant sein; sie muß die Lebensspanne sterblicher Menschen übersteigen.«11 Arendt hält »dies Übersteigen in eine mögliche irdische Unsterblichkeit« für eine unerlässliche Voraussetzung sowohl der Politik wie auch einer gemeinsamen Welt und einer Öffentlichkeit. Demnach ist die Öffentlichkeit im Sinne Arendts ein gemeinsamer Raum für verschiedene Zeiten, wobei eine Schwierigkeit dieser Auffassung leicht in die 10 | Endre Szécsényi weist in seinem Aufsatz »Remarks on Hannah Arendt’s Political Phenomenology« darauf hin, dass Arendt »das gesellige Jahrhundert« mit seinen verschiedenen Formen der guten Gesellschaft in ihrer Verfallsgeschichte des Politischen vernachlässigt hat, was als eine neue Form einer politischen Öffentlichkeit hätte begriffen werden können. 11 | Arendt: Vita activa, S. 68.

Öffentlichkeit und Narrativität bei Hannah Arendt

Augen springt: Ihr liegt die Voraussetzung der zeitlichen Unwandelbarkeit der Öffentlichkeit zugrunde, die zwar ein Kommen und Gehen von Generationen der Handelnden erlaubt, aber die Grundstruktur des öffentlichen Raums für konstant hält. Wie dem auch sei, Arendt sieht deutlich, es gebe keine Garantie dafür, dass es einen solchen Raum jederzeit und überall gibt: »Ein Erscheinungsraum entsteht, wo immer Menschen handelnd und sprechend miteinander umgehen; als solcher liegt er vor allen ausdrücklichen Staatsgründungen und Staatsformen, in die er jeweils organisiert wird. […] Er liegt in jeder Ansammlung von Menschen potentiell vor, aber eben nur potentiell; er ist in ihr weder notwendigerweise aktualisiert, noch für immer oder auch nur für eine bestimmte Zeitspanne gesichert.«12 Letztendlich lässt sich aber der öffentliche Raum nicht aus sich selbst oder aus dem Gegensatz zum Verhüllten und Geheim-Gehaltenen, sondern nur aus dem Gegensatz zum Bereich des Privaten entfalten. Mehr noch: wenn gilt, dass es diesen Raum nicht jederzeit gibt, dann müsste wohl das Private insofern einen Vorrang haben, als es immer da sein muss, da es etwas mit der Erhaltung des Lebens zu tun hat. Man sollte das Verhältnis beider vermutlich eher so deuten, dass das Private und das Öffentliche zusammengehören und erst gegeneinander profiliert werden können. Arendt trennt diese Bereiche aufgrund der Funktionen, die ihnen ihr zufolge zukommen. Das Private als der Bereich der Erhaltung des Lebensprozesses diktiert eine eigentümliche Notwendigkeit, beim Eintritt in den öffentlichen Bereich wird man dagegen von der Last der Notwendigkeiten der Lebenserhaltung entbunden, und man kann in diesem Sinne frei handeln. Derart wird der öffentliche Raum als Bereich der ausdrücklichen Freiheit im Gegensatz zum Haushalt als Ort der Realisierung der für die Lebenserhaltung erforderlichen Ziele gefasst.13 An dieser Stelle wird besonders greif bar, dass Arendt die Öffentlichkeit nicht oder zumindest nicht nur aufgrund einer wie auch immer bestimmten Gesamtheit öffentlicher Angelegenheiten deutet, sondern als Freiheit im Sinne von Freiheit von den Lebensnotwendigkeiten. Die eigentümliche Ungebundenheit derer, die in den öffentlichen Raum eintreten, ermöglicht auch ihre Gleichheit, also den Umstand, dass sie von niemandem beherrscht werden und sie einander für gleich halten. Diese Ungebundenheit folgt, genauer gesehen, aus der Abwesenheit von Zielen, weil die Verfolgung von Zielen diejenigen hierarchisiert, die daran teilnehmen. So wird das Konzept des öffentlichen Raums für Arendt eine Rahmentheorie des politischen Handelns, ohne spezifische inhaltliche Prinzipien oder Aufgaben vorzuschreiben. Der Gedanke des öffentlichen Raums bestimmt nur den eigentümlich strukturierten Ort, wo inhaltliche Prin-

12 | Ebd., S. 251. 13 | Für eine kritische Diskussion der Arendtschen Auffassung des Privaten siehe Rössler: Der Wert des Privaten. Gábor Kovács bezieht Arendts Kritik des Prozess-Denkens auf die Trennung vom Öffentlichen und Privaten. Kovács: H. Arendt’s Interpretation, S. 97.

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zipien vertreten werden oder eine Rolle spielen können, ohne dass die Existenz eines solchen Raums garantiert sein könnte.14 Mehrfach wurde Arendts Auffassung mit der Kritik konfrontiert, dass sie jede Art von Fachkenntnis (Versorgungsfragen, ökonomische, finanzielle Probleme) aus der politischen Tätigkeit auszuschließen scheint oder zumindest nicht imstande ist, solche Probleme zu berücksichtigen. Dabei sollte aber beachtet werden, dass Arendt diese Fragen keineswegs aus dem Auge verliert, sie betrachtet aber sie als solche, die aufgrund von erst in der Öffentlichkeit auszudiskutierenden Prinzipien zu behandeln sind. Die Philosophin vergisst nicht die Auffassung der Politik als Verwaltung der Lebensnotwendigkeiten, vielmehr ordnet sie dieses Verständnis, an das wir uns in den letzten Jahrzehnten sehr gewöhnt haben, einem anderen unter, das das Politische auf nicht instrumentelle Weise zu fassen sucht. Damit hängt auch zusammen, dass Arendt ein rein instrumentelles Verständnis des Politischen abweist: »Die Griechen wußten aus eigenster Erfahrung, daß ein vernünftiger Tyrann (das, was wir einen aufgeklärten Despoten nennen) für das schiere Wohlergehen der Stadt und die Blüte von materiellen und intellektuellen Künsten von großem Vorteil war. Nur mit der Freiheit war es dann vorbei.«15 In einem tatsächlich stattgefundenen Gespräch reagierte sie auf den erwähnten Einwand mit der Unterscheidung von Diskussionsfragen und Verwaltungsfragen. Arendt wies darauf hin, dass es Fälle gibt, in denen man die richtigen Maßnahmen errechnen kann. »Diese Dinge können wirklich verwaltungsmäßig erledigt werden und sind dann nicht mehr Gegenstand öffentlicher Debatten. Die öffentliche Debatte kann nur Dinge behandeln, die wir – wenn wir es negativ formulieren wollen – nicht mit Sicherheit errechnen können.«16 Die Strategie von Arendt bestand hier darin, vom Politischen nur eine negative Bestimmung zu formulieren, d.h. das Politische vom Fachwissen abzugrenzen. Politisch im Sinne des Gegenstandes öffentlicher Debatte ist, worüber kein Fachwissen möglich ist. Offensichtlich ist jedoch die Schwäche dieser Bestimmung, da nicht alles, worüber Fachwissen unmöglich oder zumindest sehr begrenzt möglich zu sein 14 | Dazu gehört auch die Richtigstellung, die Arendt in der Deutung der Bestimmung des Menschen als zóon politikon bei Aristoteles vornimmt: »Aristoteles, für den das Wort ›politikon‹ durchaus ein Adjektiv der Polis-Organisation und nicht eine beliebige Bezeichnung für menschliches Zusammenleben überhaupt war, meinte keineswegs, daß alle Menschen politisch seien oder daß es Politik, nämlich eine Polis, überall gäbe, wo Menschen lebten. Aus seiner Definition waren nicht nur Sklaven ausgeschlossen, sondern auch die Barbaren asiatischer, despotisch regierter Reiche, an deren Menschsein er keineswegs zweifelte. Was er meinte, war lediglich, daß es eine Eigentümlichkeit des Menschen ist, daß er in einer Polis leben kann und daß diese Polis-Organisation die höchste Form menschlichen Zusammenlebens darstellt und daher in einem spezifischen Sinne menschlich ist« Arendt: Was ist Politik, S. 37. 15 | Ebd., S. 41 16 | Arendt: Ich will verstehen, S. 89.

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scheint – etwa ästhetische Fragen –, dem Politischen gehört. Man kann Arendt auch so verstehen, dass der Akzent auf den öffentlichen Charakter der Debatte gelegt wird, aber auch dann müsste sich angeben lassen, womit die Gegenstände der öffentlichen Diskussion zu tun haben, um sich als solche qualifizieren zu können. Es bedarf also einer näheren Charakterisierung dessen, was das Politische konstituiert, und diese Frage erhält im Kontext des Denkens von Hannah Arendt eine gewisse Antwort in der Analyse der Macht. Dadurch, dass Arendt den öffentlichen Raum nicht als eine fixierte Größe ansieht, wird es möglich, dass sie das Schicksal des öffentlichen Raums als solche betrachten kann. Die Herausbildung und die Dynamik eines öffentlichen Raums sind für sie eng mit der Entstehung dessen verknüpft, was sie »Macht« nennt. Der als »Erscheinungsraum« gedeutete öffentliche Bereich, in dem Menschen handelnd und sprechend miteinander umgehen, macht den Sinn der Polis und den häufigen Hinweis auf die Griechen in den Ausführungen von Arendt verständlich. Die Polis meint hier nämlich nicht die Stadt als geographisch lokalisierbaren Ort, sondern sie ist die »Organisationsstruktur« der Stadtbewohner, die sich nicht einfach, sondern »aus dem Miteinanderhandeln und -sprechen ergibt«, und zwar zwischen denen, die »um dieses Miteinander willen zusammenleben«.17 Damit wird auch der Sinn des öffentlichen Raums präzisiert, indem es nicht bloß darauf ankommt, dass Menschen voreinander erscheinen, wie andere Dinge der Welt, sondern »ausdrücklich in Erscheinung treten.«18 Es handelt sich nicht mehr um eine »Öffentlichkeit« im Sinne von Zugänglichkeit für jedermann, es geht um ein ausdrückliches Erscheinen, und deswegen lässt sich die Herausbildung dieser Öffentlichkeit auch nicht als ein Ereignis auffassen, das automatisch aus dem Zusammenleben vieler folgt. Arendt zufolge ist es nun die Macht, die den Erscheinungsraum zwischen Handelnden und Sprechenden überhaupt ins Dasein ruft und der Erscheinungsraum lebt von dieser Macht. Die Macht ist demnach immer ein »Machtpotential«, das sich in einem menschlichen Miteinander bildet.19 Nimmt man den Hinweis auf die Organisationsstruktur einer Menschengruppe auf, wird auch verständlich, warum die Entstehung der Macht das menschliche Zusammensein voraussetzt: »Nur in einem Miteinander, das nahe genug ist, um die Möglichkeit des Handelns ständig offen zu halten, kann Macht entstehen […] 17 | Arendt: Vita activa, S. 250. 18 | Ebd. 19 | Aus dieser Bestimmung ist ersichtlich, dass die so verstandene Macht extrem unbestimmt ist, und das ist der Grund für die Rede vom Machtpotential, das nur in seinen Realisierungen zu erblicken ist, aber sich nie verdinglichen lässt: »Macht ist immer ein Machtpotential, und nicht etwas Unveränderliches, Meßbares, Verläßliches wie Kraft oder Stärke. Stärke ist, was ein jeder Mensch von Natur in gewissem Ausmaße besitzt und wirklich sein eigen nennen kann. Macht aber besitzt eigentlich niemand, sie entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen.« Arendt: Vita activa, S. 252.

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Was eine Gruppe von Menschen als Gruppe zusammenhält, wenn der immer flüchtige Augenblick des Zusammenhandelns verflogen ist, und was wir heute Organisation nennen, ist Macht, die wiederum ihrerseits dadurch intakt gehalten wird, daß die Gruppe sich nicht zerstreut.«20 Derart hat Macht für Arendt im weitesten Sinne mit den gemeinsamen Handlungsmöglichkeiten einer Gruppe von Menschen zu tun, wobei es sich nicht einfach um den Vollzug gemeinsamer Handlungen handelt, da die Macht in den gemeinsamen Aktionen zwar zur Geltung kommt, aber sich nicht darin erschöpft. Demnach lässt sich Macht im Anschluss an Arendt als das inhaltlich noch unbestimmte Zusammenhalten einer Gruppe verstehen, das für sich genommen weder an bestimmte Ziele noch an bestimmte Organisationsformen gebunden ist. Die Rede von einer Gruppe meint also in diesem Zusammenhang nicht eine Menschengruppe überhaupt im Sinne eines bloßen Nebeneinanders von Menschen, sondern in einem noch zu klärenden Sinne »organisierte« oder »gegründete« Gruppen. Die Macht bei Arendt hat zunächst nicht mit der Fähigkeit eines politischen Körpers, bestimmte Zwecke zu verfolgen, zu tun, sondern mit dem Handlungspotential von Gruppen, deren Mitglieder füreinander hinreichend ausdrücklich präsent sind und bleiben können. Demgegenüber wäre ein Bündnis zu einem bestimmten Zweck darin instrumentell, dass der Zweck des Zusammenseins von vornherein festgelegt wird. Ferner kann die Präsenz der Gruppenmitglieder füreinander nicht einfach ein physisches Zusammensein bedeuten, weil das allein gewiss nicht hinreichend dafür wäre, dass sie voreinander ausdrücklich erscheinen. Durch die Verhinderung des Zusammenseins lässt sich aber, wie Arendt es mit Blick auf totalitäre Regimes betont, auch die Entstehung von Macht unterbinden. Es handelt sich also darum, dass die Mitglieder der Gruppe aufeinander derart eingestellt sein müssen, dass das Miteinander-Reden und das gemeinsame Handeln möglich bleiben. Die Macht lässt sich demnach als jenes sich dynamisch ändernde, vorläufige Einverständnis bestimmen, das inhaltlich noch ganz unbestimmt ist und das die Mitglieder der Gruppe, sofern sie sich um öffentliche Angelegenheiten kümmern, aufeinander achten und sich aufeinander einstellen lässt.21 Sie ist weniger als eine konkrete Zielsetzung oder gemeinsame Handlung, weil sie nur die Bereitschaft zur gemeinsamen Diskussion und zum gemeinsamen Handeln bildet, und auch weniger als ein Konsens über bestimmte Überzeugungen oder Themen. Ein solches Einverständnis muss aber den öffent20 | Ebd. S. 252ff. 21 | Dieses Konzept bezieht sich auf solche, die zumindest bereit sind, politisch aktiv zu werden. Arendt ist sich natürlich dessen bewusst, dass nicht jeder sich um politische Gelegenheiten kümmert. Darin aber einen verwerflichen Elitarismus sehen zu wollen, wäre jedoch unbegründet: »Daß Arendts Denken einen gewissen Elitarismus in sich birgt, unterscheidet sie im Grunde nicht von anderen politischen Theoretikern. Keine politische Philosophie kommt ohne eine Unterscheidung zwischen politisch aktiven und passiven Bürgern aus.« Schönherr-Mann: Hannah Arendt, S. 142.

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lichen Raum als Erscheinungsraum tragen, genauer gesagt »ins Dasein rufen«, weil ohne eine solche Bereitschaft und ohne vorläufiges Einverständnis Menschen nicht ausdrücklich voreinander erscheinen könnten. Andererseits kommt die so gedeutete Macht darin zur Geltung, dass der öffentliche Raum als solcher erhalten und beachtet bleibt. Die Frage, ob und wie eine Öffentlichkeit in diesem Sinne unter Bedingungen der heutigen Massengesellschaften, ja überhaupt unter Bedingungen der Moderne verwirklicht werden kann, bestimmt auch die Tragfähigkeit dieser Theorie der politischen Macht. Diese eigentümliche Bestimmung der Macht bei Arendt wird dadurch für die politische Theorie relevant, dass sie einen wesentlichen Bestandteil eines jeden Gemeinwesens bildet: »Was einen politischen Körper zusammenhält, ist sein jeweiliges Machtpotential, und woran politische Gemeinschaften zugrunde gehen, ist Machtverlust und schließlich Ohnmacht. […] und die Geschichte ist voll von Beispielen, die zeigen, daß kein materiell greif barer Reichtum der Welt diesen Machtverlust auszugleichen vermag. Mit realisierter Macht haben wir es immer dann zu tun, wenn Worte und Taten untrennbar miteinander verflochten erscheinen, wo also Worte nicht leer und Taten nicht gewalttätig stumm sind«.22 Außerdem ist es nicht nur der politische Körper, dessen Kern die Macht konstituiert, sondern alle politischen Institutionen sind Arendt zufolge »Manifestationen und Materialisationen der Macht«, und dementsprechend erstarren und verfallen diese Institutionen, wenn »die lebendige Macht des Volkes« nicht mehr hinter ihnen steht.23 Auf Anhieb ist es gewiss nicht ganz klar, wie die lebendige Macht des Volkes zu verstehen sei. Die zitierte Stelle aus Macht und Gewalt gibt jedoch einen wichtigen Hinweis auf einen »ursprünglichen Konsens«, der die Institutionen und Gesetze erst ins Leben gerufen hat, und dessen Fortsetzung als Unterstützung des Volkes den politischen Institutionen und Gesetzen Macht verleiht. Um die Herausbildung dieses ursprünglichen Konsenses zu klären, muss man berücksichtigen, dass Arendt auch von einem »Machtursprung« spricht, der mit der Gründung der Gruppe zusammenfällt: »Macht bedarf keiner Rechtfertigung, da sie allen menschlichen Gemeinschaften immer schon inhärent ist. Hingegen bedarf sie der Legitimität. Macht entsteht, wann immer Menschen sich zusammentun und gemeinsam handeln, ihre Legitimität beruht nicht auf den Zielen und Zwecken, die eine Gruppe sich jeweils setzt; sie stammt aus dem Machtursprung, der mit der Gründung der Gruppe zusammenfällt. Ein Machtanspruch legitimiert sich durch Berufung auf die Vergangenheit, während die Rechtfertigung eines Mittels durch einen Zweck erfolgt, der in der Zukunft liegt.«24

22 | Ebd., S. 252. 23 | Arendt: Macht und Gewalt, S. 42. Zum Problemkomplex der politischen Institutionen und deren Rolle im Denken Hannah Arendts siehe die sehr ausführliche Arbeit von Jürgen Förster. 24 | Ebd., S. 53.

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Dieser Hinweis spezifiziert die Gruppe, innerhalb der Macht entsteht: es ist nicht eine Gruppe gleichwelcher Art, sondern eine, die eigens gegründet werden musste. Bei der Frage, wie diese Gründung zu fassen ist, schwebt Arendt sicherlich die Gründung der Vereinigten Staaten, die constitutio libertatis, wie in einer Kapitelüberschrift des Buchs über die Revolution genannt wird, als Musterbeispiel vor Augen. Gleichwohl ist die Gründung der Vereinigten Staaten darin spezifisch, dass die Founding Fathers sich die Bewahrung der Freiheit als Ziel gesetzt haben.25 Die Entstehung der Macht im Sinne Arendts scheint aber nicht an ein bestimmtes Leitziel der Gruppe gebunden zu sein; es wäre sinnlos zu sagen, dass die Entstehung der Macht in der Gründung einer Gruppe notwendig auf die Bewahrung der Freiheit gerichtet sein muss. Dem entspricht, dass die Ausbildung einer dauerhaften Stätte der Freiheit nicht als »Macht«, sondern im Anschluss an den Sprachgebrauch von Condorcet als »Revolution« bezeichnet wird. Damit knüpft sich die Macht in Arendts Deutung an die Zusammensetzung einer Menschengruppe, ohne konkrete Ziele vorzuschreiben. Man könnte von einer eigentümlich modifizierten Vertragstheorie sprechen, ohne einen konkret beschriebenen Naturzustand, der die vom Vertrag zu realisierenden Ziele bestimmen würde. Weder im Text von Vita activa noch in Macht und Gewalt gibt Arendt darüber Auskunft, wie sie die Gründung eines politischen Körpers im Einzelnen konzipiert. Das Essay »Ziviler Ungehorsam« skizziert eine »horizontale Version« des Gesellschaftsvertrags als die Form der Bildung politischer Gemeinwesen, und es stellt die Vorstellung von Arendt darüber dar, wie durch die Gründung einer Gruppe Macht entsteht.26 Unter der horizontalen Version versteht Arendt ein Gemeinwesen, das aus wechselseitiger Verpflichtung von verschiedenen Subjekten entsteht, und diese Art von Gründung wird von den Modellen des biblischen Bundes, der auf dem Gehorsam gegen Gott beruht, und der vertikalen Version des Gesellschaftsvertrags (Hobbes), in dem die Einzelnen ihr Gewaltpotential dem

25 | Helmut Dubiel macht in diesem Kontext auf die Doppeldeutigkeit des Begriffs »Konstitution« aufmerksam, die für unseren Zusammenhang aufschlussreich ist: Arendt bezieht den Begriff auf zwei getrennte Aspekte des Prozesses der Verfassungsgebung: »einmal auf sie als abgeschlossenen und dokumentarisch vorliegenden Akt, das andere Mal auf den Prozeß wechselseitiger Abstimmung, Beratung und Debatte, der diesem Akt vorausging. Erst Hannah Arendts Theorie der Macht erlaubt es uns zu begreifen, daß dieser Prozeß der Instituierung einer Verfassung, die sie am Fall der amerikanischen Verfassung nachgezeichnet hat, mindestens so wichtig ist wie das Dokument, in dem sich ihr Abschluß niederschlägt. Die politische Autorität dieses Dokuments, die sich z.B. in der Schlichtung zukünftiger Konflikte zu bewähren hat, kann nur so groß sein wie die kommunikative Energie, die während des Beratungsprozesses in sie eingegangen ist.« Dubiel: Das nicht angetretene Erbe, S. 49. 26 | Vgl. dazu Schindler: Geglückte Zeit, S. 257.

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Souverän zuschreiben, unterschieden.27 Dabei besteht die Funktion der wechselseitigen Verpflichtung darin, die Zukunft in »menschenmöglichem Ausmaß berechenbar und verläßlich zu machen«.28 Gleichwohl ist es nicht ganz eindeutig, dass sich Arendt die horizontale Version des Gesellschaftsvertrags zu eigen macht. Der Aufsatz »Ziviler Ungehorsam« behandelt ja den konkreten Fall der Vereinigten Staaten, und allein schon deswegen scheint es fraglich, ob die geschilderte Form des Gesellschaftsvertrags auch das Fundament ihres Machtbegriffs abgeben sollte. Ein wesentlicher Unterschied von Arendts Konzeption und der Vertragstheorie besteht darüber hinaus darin, dass es für Arendt kein konkretes Ziel des Vertrags gibt. Von diesen Aspekten her lassen sich wichtige Bestimmungen des Machtbegriffs von Hannah Arendt besser verstehen. Zum einen wird daraus klar, dass die Macht ihrem Wesen nach schrankenlos ist, woraus folgt, dass Macht nur durch die gleichzeitige Existenz von anderen Machtgruppen, also durch Pluralität begrenzt werden kann.29 Zum anderen resultiert ein sehr charakteristischer Zug der Machtauffassung Arendts, die scharfe Entgegensetzung von Macht und Gewalt aus den ausgeführten Überlegungen. Die Macht wird von der Gewalt und jeder Art von Zwang abgehoben, und damit wird die Gewalt vom Zwangscharakter her gedeutet. Derart wird Gewalt abhängig von Gewaltmitteln, wogegen Macht wesentlich unabhängig von materiellen Faktoren ist, wenngleich sie als einzige materielle Voraussetzung vom Zusammensein von Menschen abhängig ist. Obwohl sich dieses Zusammensein mit Gewalt verhindern lässt, kann die Gewalt derart die Macht nur zerstören, aber nicht ersetzen.30 Schließlich folgt aus der gegebenen Bestimmung der Macht für Arendt, dass keiner die Macht »besitzen« kann, sondern eine solche Redeweise nur so viel besagen kann, dass einer von mehreren beauftragt wird, in ihrem Namen zu handeln.

2. N arr ativität Bisher wurde in groben Zügen dargestellt, wie Hannah Arendt das Politische mit der Öffentlichkeit eng verknüpft. Es wurde bereits auch ihre Überzeugung berührt, der zufolge die Einzigartigkeit und Einmaligkeit von Individuen sich nur

27 | Arendt: Ziviler Ungehorsam, S. 145. »Die Figur der ›Gründung‹ ist hier mißverständlich, handelt es sich doch um einen Vertrag zwischen einer schon bestehenden Gesellschaft und einem außerhalb ihres Kontextes lokalisierten Herrscher. Der hypothetische Urvertrag hat einzig die Funktion, eine bereits ausgeübte Herrschaft zu rechtfertigen.« Dubiel: Das nicht angetretene Erbe, S. 45. 28 | Arendt: Ziviler Ungehorsam, S. 151. 29 | Arendt: Vita activa, S. 254. 30 | Ebd., S. 255.

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in einer Öffentlichkeit, nur vor einem Gegenüber zeigen kann.31 Die politische Theorie von Arendt wurde auch mehrfach wegen des vermeintlichen Übergewichtes der Öffentlichkeit kritisiert, mit der Begründung etwa, sie stelle die Politik als Spielplatz vor, wo Egomanen sogenannte »große Taten« vollziehen wollen. Sicherlich ist das Konzept des Politischen bei der deutschen Philosophin in gewissem Sinne ambivalent: an einigen Stellen legt sie nahe, das Politische habe mit Herausbildung, Erhaltung und Verschwinden, kurz: mit der Dynamik der Macht zu tun, an anderen Stellen aber wird der öffentliche Raum als Ort beschrieben, wo sich die Vortrefflichkeit und mithin die Einzigartigkeit der Einzelnen zeigen kann. Die beiden Aspekte jedoch – Dynamik der Macht und dauerhafte Einzigartigkeit – sind keineswegs ohne weiteres identisch; es ist sogar möglich, dass sie miteinander nur unter bestimmten Voraussetzung zu tun haben. Dass es sich um unterschiedliche Phänomene handelt, zeigt eine Passage aus Vita activa, wo Arendt sagt, die Griechen haben die Mühe des Gemeinwohls nur auf sich genommen, um sich in ihrer Einzigartigkeit und Vortrefflichkeit zeigen zu können.32 Jedenfalls braucht sowohl die Vortrefflichkeit wie auch die negative Einzigartigkeit (Schlechtigkeit) ein »Publikum«, und deswegen ist die Verbindung zwischen der Pluralität und dem Politischen ohne den Gedanken einer starken Individualität undenkbar. Man sollte jedoch zwischen der Erscheinung oder Erfassung der Einzigartigkeit und deren Rolle in der Pluralität und im Konzept des Politischen unterscheiden. Der Aspekt der Narrativität, den es jetzt zu erörtern gilt, scheint auf den ersten Blick den ersten Gesichtspunkt zu betreffen. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass nach Arendt auch die großen Taten eine narrative Struktur haben bzw. haben müssen, die eine Öffentlichkeit in eine politische verwandeln lassen. Arendt verbindet auf explizite Weise die Öffentlichkeit und die großen, bedeutenden Taten, genauer gesagt: in Verbindung gebracht wird das Politisch-Werden eines öffentlichen Raums und die als organisiertes Gedächtnis aufgefasste Öffentlichkeit, die polis. Dazu heißt es in einem aufschlussreichen Fragment aus Was ist Politik?:

31 | Auf bemerkenswerte Weise bleibt es in diesem Zusammenhang unklar, ob für Arendt Gott so ein Gegenüber sein kann. Eine verneinende Antwort scheint daraus zu folgen, wie sie den Öffentlichkeitsverlust durch die frühchristliche und mittelalterliche, vom Christentum motivierte Abwendung vom öffentlichen Handeln beschreibt. 32 | Die als öffentlicher Raum verstandene Polis betrachtet Arendt als Ort des Wettstreits in der Vortrefflichkeit, »in dem ein jeder sich dauernd vor allen anderen auszeichnen mußte […] Mit anderen Worten, der öffentliche Raum war gerade dem Nicht-Durchschnittlichen vorbehalten, in ihm sollte ein jeder zeigen können, wodurch er über das Durchschnittliche hinausragte. Um dieser Möglichkeit willen, das Außerordentliche zu leisten und geleistet zu sehen, waren die Bürger der Polis dann auch mehr oder weniger bereit, ihren Teil an der Rechtsprechung, der Verteidigung, der Verwaltung der Stadt auf sich zu nehmen« Arendt: Vita activa, S. 53.

Öffentlichkeit und Narrativität bei Hannah Arendt »[I]n der Welt, die sich den Beherzten, den Abenteurern und Unternehmungslustigen öffnet, [entsteht] zwar bereits eine Art öffentlicher, aber noch nicht ein im eigentlichen Sinne politischer Raum. Öffentlich wird dieser Bereich, in den die Tatenlustigen vorstoßen, weil sie unter ihresgleichen sind und einander jenes Sehen und Hören und Bewundern der Taten gewähren können, auf deren Hörensagen hin der Dichter und Geschichten-Erzähler dann später ihnen den Ruhm bei der Nachwelt sichern kann. Im Gegensatz zu dem, was im Privaten und in der Familie geschieht, in der Verborgenheit der eigenen vier Wände, erscheint hier alles in jenem Licht, das nur in die Öffentlichkeit, und das heißt die Anwesenheit der Anderen, erzeugen kann. Aber dies Licht, das die Vorbedingung allen wirklichen Erscheinens ist, ist trügerisch, solange es nur öffentlich und nicht politisch ist. Der öffentliche Raum des Abenteuers und des Unternehmens verschwindet, sobald alles an sein Ende gekommen ist, das Heereslager aufgelöst ist und die ›Helden‹ […] wieder nach Hause zurückgekehrt sind. Politisch wird dieser öffentliche Raum erst, wenn er in einer Stadt gesichert ist, also an einen greifbaren Platz gebunden, der sowohl die denkwürdigen Taten wie die Namen der denkwürdigen Täter überleben und der Nachwelt in der Folge der Geschlechter überliefern kann. Diese Stadt, die den sterblichen Menschen und ihren flüchtigen Taten und Worten eine bleibende Stätte bietet, ist die Polis«. 33

Der Zusammenhang besteht also Arendt zufolge zwischen dem öffentlichen Raum und den bedeutsamen Taten, sofern sie in erzählter Form bewahrt und erinnert werden. Der öffentliche Raum wird demnach für Arendt nicht allein schon deshalb ein politischer, weil er alles, was in ihn eintritt, zugänglich macht. Gleichwohl handelt es sich um zwei Aspekte, die das Politisch-Werden einer Öffentlichkeit bedingen: zum einen soll der öffentliche Raum ein konkreter und als solcher derart dauerhaft sein, dass er nicht sofort mit dem Abenteuer und den Handlungen verschwindet, zum anderen kommt es auf die Bewahrung konkreter Handlungen als beispielhaft für eine politische Gemeinschaft an. Im Hinblick auf den ersten Aspekt wurde der öffentliche Charakter bereits skizzenhaft geklärt, während mit Blick auf den zweiten die Mechanismen der Bewahrung durch Narrativen noch erläutert werden sollen. Gezeigt werden soll im Folgenden, wie eingangs schon bemerkt, dass es Arendt aus strukturellen Gründen nicht darauf ankommt, die Zugänglichkeit eines jeden zur eigenen Identität zu klären, vielmehr darauf, wie beispielhafte Taten und Leben innerhalb eines öffentlichen Raumes auf bewahrt und erinnert werden können. Zu diesem Zweck sollte zunächst der Handlungsbegriff bei Arendt näher bestimmt werden. Hannah Arendt nimmt eine Dreiteilung menschlicher Tätigkeiten vor, die dadurch die Grundlage für ihre Diskussion des Politischen bildet, dass sie die politische Tätigkeit als Handeln im eigentümlichen Sinne begreift. Arendts Differenzierung menschlicher Aktivitäten in Arbeit, Herstellen und Handeln lässt sich programmatisch als eine scharfe Kritik an der philosophischen Überlieferung verstehen: die Philosophie ist prinzipiell für die theoretische 33 | Arendt: Was ist Politik, S. 45f.

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Abwertung und Zurückdrängung des öffentlich-politisch-praktischen Lebens verantwortlich.34 Das aus dieser Diagnose sich ergebende Programm kann als Rehabilitierung der vita activa gefasst werden und steht im Zentrum des philosophischen Hauptwerkes Vita activa oder Vom tätigen Leben. Die drei Tätigkeitstypen – Arbeit, Herstellen und Handeln – unterscheiden sich nicht nur voneinander, sondern sie entsprechen darüber hinaus drei grundsätzlichen Bedingungen menschlichen Lebens. Als Arbeit definiert Arendt jede Tätigkeit, die für die Erhaltung des Lebensprozesses des Einzelnen verantwortlich ist, und darin weist die Arbeit auf das Leben hin. Herstellen dagegen bezeichnet jene Tätigkeiten, die eine dauerhafte Welt der Gegenstände, die Menschen ein Heim bieten kann, also die Weltlichkeit im Sinne Arendts hervorbringen. Schließlich fasst Arendt das Handeln als die Enthüllung der Einzigartigkeit des Handelnden, und auf diese Weise entspricht das Handeln der Pluralität, die mit dem Erscheinen und zugleich mit dem Erfassen des Handelnden zu tun hat.35 Diese Typologie menschlicher Tätigkeiten wurde in der Literatur über Arendt oft kritisiert.36 Sowohl bei der Unterscheidung von Arbeit und Herstellen wie auch bei der von Herstellen und Handeln ist es problematisch, dass sie sich nicht allein aufgrund einer Beschreibung der Tätigkeiten deutlich machen lässt.37 Wie anderswo gezeigt wurde, kann man jedoch in beiden Fällen darauf bestehen, dass die Unterscheidung aus der Perspektive des Handelnden sinnvoll bleibt.38 Selbst wenn aus der Beobachtungsperspektive nicht eindeutig festzustellen ist, ob jemand als Hobby oder zum Geldverdienen (also als Arbeit) Holz fällt, ist es aus der 34 | An einigen Stellen scheinen auch andere Faktoren, wie etwa das Christentum mit seiner spezifischen Vermeidung der Öffentlichkeit, eine Rolle zu spielen. Für eine eingehende Erörterung des komplexen Verhältnisses von Arendt zur öffentlichen Religion vgl. den Aufsatz von Gángó: Hannah Arendt. 35 | Arendt: Vita activa, S. 16ff. 36 | »Attempts to distinguish among types of human activity, such as labor, work, and action in Arendt’s case … are subject to a standard objection: it is pointed out that any complex human activity, form factory work, to writing a book, to making a meal, cannot simply be seen as an exemplar of a single action type. … When human acitivities are considered as complex social relations, and contextualized properly, what appears to be one type of activity may turn out to be another; or the same activity may instantiate more than one action type.« Benhabib: The Reluctant Modernism, S. 131. Siehe z.B. das Buch von Trottmann: Faire. 37 | Eine ähnliche Schwierigkeit ergibt sich mit Blick auf das Denken. Arendt stellt den Denkprozess dem sprachlich formulierten Gedanken (z.B. dem geschriebenen Aufsatz) mit der Begründung gegenüber, dass Letztere bereits zur Kategorie des Herstellens gehört. Diese Beschreibung verkennt m.E., dass das Denken nicht ohne die Formulierung von einzelnen Gedanken auskommt, und derart gehört das »reine« Denken mit einzelnen Gedanken als seinen Resultaten zusammen. 38 | Olay: Cura rei publicae.

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Perspektive des Handelnden ganz unproblematisch zu entscheiden, um welchen Fall es geht. Selbst wenn die Unterscheidung von Arbeit und Herstellen problematisch sein sollte, folgt daraus für sich genommen noch nichts für die Deutung der politischen Tätigkeit als Handeln. Was den Gebrauch des Ausdrucks »Handeln« bei Arendt betrifft, ist er ganz unüblich enger als der alltägliche Gebrauch, weil im Deutschen der Ausdruck jede Tätigkeit überhaupt bezeichnen kann. Die Eigentümlichkeit ihrer Auffassung lässt sich am besten in Abhebung vom Konzept des Aristoteles verdeutlichen. Nach Aristoteles liegt das Unterscheidungsmerkmal von Herstellen und Handeln (poiesis und praxis) im Verhältnis vom Ziel der Tätigkeit und der Tätigkeit selbst. Während das Ziel der Tätigkeit im Herstellen außerhalb desselben liegt, liegt das Ziel im Handeln innerhalb des Vollzugs. Arendt folgt nun Aristoteles darin, dass die Arbeit und das Herstellen ihr Ziel außerhalb von sich haben, wogegen das Handeln sein Ziel in sich trägt. Ihr Handlungsbegriff wird aber enger gefasst, da bei Aristoteles auch solche Tätigkeiten zur Praxis gehören (etwa das Spiel und die Unterhaltung), die im Sinne Arendts keine Handlungen sind, weil sie den Handelnden in seiner Einzigartigkeit nicht enthüllen. Der Grund dieser Abweichung besteht darin, dass Arendt Handlung nicht über das Verhältnis der Tätigkeit zu deren Ziel definiert, sondern dadurch, dass der Handelnde sich in ihr offenbart: im Handeln »zeigt sich« der Handelnde als dieser Einzelne im Gegensatz zu anderen.39 Für Hannah Arendt sind Sprechen und Handeln die Tätigkeiten, in denen die Einzigartigkeit des eines Menschen sich zeigt, wobei die Rede von Einzigartigkeit anstelle der Verschiedenheit den Umstand unterstreichen soll, dass es um ein aktives Sich-Unterscheiden und nicht um ein bloßes Verschieden-Sein geht.40 Der Gedanke wird etwas später in einer wesentlichen Hinsicht präzisiert, weil sich vor allem durch Reden zeigen kann, wer der Handelnde ist. Zwar besteht die enge Verbindung von Reden und Handeln darin, dass beide auf die Frage »Wer bist Du?« antworten, aber gleichzeitig räumt Hannah Arendt den Reden eine gewisse Priorität ein.41 Das bedeutet freilich nicht, dass das einmalige »Wer-einer-ist« eindeutig sprachlich formuliert werden könnte, wofür Arendt als letzten Grund den Unterschied zwischen Personen und verfügbaren Sachen angibt: »das unverwechselbar einmalige des Wer-einer-ist« eines jeden, »das sich so handgreiflich im Sprechen und Handeln manifestiert, entzieht sich jedem Versuch, es eindeutig in Worte zu fassen. Sobald wir versuchen zu sagen, wer jemand ist, beginnen wir Eigenschaften zu beschreiben, die dieser Jemand mit anderen teilt und die 39 | Arendt betont auch, dass Handeln im Sinne des Neuanfangens auch mit der Freiheit zusammenhängt: »Die Tatsache, daß der Mensch zum Handeln im Sinne des Neuanfangens begabt ist, kann […] nur heißen, dass er sich aller Absehbarkeit und Berechenbarkeit entzieht« Arendt: Vita activa, S. 217. 40 | Ebd., S. 214. 41 | Ebd., S. 217f.

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ihm gerade nicht in seiner Einmaligkeit zugehören. Es stellt sich heraus, daß die Sprache, wenn wir sie als Mittel der Beschreibung des Wer benutzen wollen, sich versagt und an dem Was hängen bleibt«.42 Damit stellt sich die eigentümliche Schwierigkeit, dies Wer-einer-ist, »das eigentlich Personale« zugänglich zu machen. Ferner denkt Arendt dies Wer-einer-ist auf eine zutiefst anti-kartesianische Weise so, dass es der jeweiligen Person nicht von vornherein zugänglich ist, sondern diese Person im Sprechen und Handeln auch für sie selbst erst enthüllt wird.43 Zunächst sollte festgestellt werden, dass es wesentlich zum Handlungsbegriff von Hannah Arendt – und, wie ergänzt werden muss, zum Begriff der Reden – gehört, dass sie auf den öffentlichen Raum, der durch die Anwesenheit anderer konstituiert wird, angewiesen sind. Die Pluralität ist in diesem Zusammenhang auf doppelte Weise Vorbedingung des Handelns. Zum einen ist sie die Bedingung dafür, dass etwas sich zeigen kann; die Pluralität, wie Arendt sie fasst, impliziert die radikale Einzigartigkeit des einzelnen Menschen.44 Zum anderen bildet sie das »Medium«, worin der Handelnde sich zeigen kann, denn die Pluralität in diesem Sinne ist der Erscheinungsraum, wo Handlungen vollzogen werden können, derart, dass sie Realität gewinnen, indem andere sie sehen und über sie berichten können. Der öffentliche Raum sichert also einen Ort, wo Handlungen, die sonst mit dem Ende ihres Vollzugs verschwinden würden, eine dauerhafte Existenz erhalten können.45 Eine narrative Festlegung, also die Formulierung in einer Erzählung braucht das Handeln also deswegen, weil es von sich aus kein Resultat erzeugt, das es überdauern würde: »Das Handeln ist die einzige Tätigkeit der Vita activa, die sich ohne Vermittlung von Materie, Material und Dingen direkt zwischen Menschen abspielt«.46 Diese Überlegung führt aber aufgrund der

42 | Ebd., S. 222f. 43 | »The fundamental gain derived from action, though not its goal, is self-knowledge. According to Arendt, we do not know ourselves and than reveal to others what we know. Rather, we discover who we are in the process of revealing ourselves to others.« Zaretsky: Hannah Arendt, S. 223. 44 | Die »menschliche Pluralität ist eine Vielheit, die die paradoxe Eigenschaft hat, daß jedes ihrer Glieder in seiner Art einzigartig ist.« ebd., S. 214. 45  |  Diese beiden grundlegenden Aspekte zeigen deutlich, dass die politische Ausarbeitung der Pluralität zum Zentrum des Denkens von Hannah Arendt gehört. »Human togetherness implies a world that exists between them, in which we all appear, in which we all perceive one another. This ›world‹ is equally lost through rulership-based political theories as well as through liberalism’s individualistic-based political expression. Neither recognizes the importance and necessity of both distinctness and interaction. In fact, Bernstein claims that, from the perspective of Arendtian political philosophy, liberalism’s understanding of plurality can only appear superficial.« Hull: The Hidden Philosophy, S. 22. 46 | Arendt: Vita activa, S. 17.

Öffentlichkeit und Narrativität bei Hannah Arendt

Voraussetzungen von Arendt zu der unvermeidlichen Leistung des Erzählers, der die Geschichte der Taten in Gestalt einer überlieferbaren Geschichte formuliert. Eine dieser Voraussetzungen wurde bereits oben berührt: Arendt geht es um die Wirklichkeit von Taten und exemplarischen Leben in und für eine Öffentlichkeit, die diese Taten und diese Lebensabläufe überdauert. Ihre mögliche Bedeutung und Wirkung hängt dabei offenbar davon ab, ob sie in tradierbarer Form weitergegeben werden können oder nicht. Damit handelt es sich offensichtlich nicht oder zumindest nicht allein um die Frage, wie jemand die eigene Einzigartigkeit und Identität mithilfe einer Geschichte fassen kann. Es geht mit anderen Worten nicht um die eigene Lebensgeschichte, sondern um eine Lebensgeschichte, die anderen zugänglich gemacht werden kann. Es leuchtet ein, dass eine solche Geschichte nur von einem Beobachter erzählt werden kann. Arendt argumentiert zwar dafür, dass eine Handlung und eine Lebensgeschichte nur von einem Beobachter erzählt werden kann, aber ihre Argumente können das nur unter ihren spezifischen Voraussetzungen einer politischen Öffentlichkeit plausibel machen. Die Form der Erzählung macht zwar eine wesentliche Gemeinsamkeit mit den narrativen Theorien der personalen Identität aus, aber die Unverzichtbarkeit des Beobachters folgt allein aus dem spezifischen Interesse Arendts. An dieser Stelle lässt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Identitätskonzept von Arendt und dem von Theoretikern einer narrativen persönlichen Identität, etwa von McIntyre oder Ricœur, angeben, da diese Autoren im Gegensatz zu Arendt vom Vorrang der Perspektive der ersten Person ausgehen, indem sie die Frage stellen, wie einem die eigene Identität zugänglich wird. Wenn Ricœur in der Frage nach dem »Wer« bei Arendt eine Vorläuferin seiner Fragestellung zu erkennen glaubt, übersieht er die Fragerichtung bei Arendt, die nicht auf die Erfassung der personalen Identität der jeweiligen Person zielt, sondern auf das dauerhafte Zugänglich-Machen einzelner Taten und exemplarischer Leben.47 Diese Präzisierung erklärt auch, warum für Ricœur die Beobachtungsperspektive keine Rolle spielt. Das bedeutet nicht, dass Arendts Überlegungen von vornherein nicht für

47 | »Le rejeton fragile issu de l’union de l’histoire et de la fiction, c’est l’assignation à un individu ou à une communauté d’une identité spécifique qu’on peut appeler leur identité narrative. › Identité › est pris ici au sens d’une catégorie de la pratique. Dire l’identité d’un individu ou d’une communauté, c’est répondre à la question : qui a fait telle action ? qui en est l’agent, l’auteur ? Il est d’abord répondu à cette question en nommant quelqu’un, c’està-dire en le désignant par un nom propre. Mais quel est le support de la permanence du nom propre ? Qu’est-ce qui justifie qu’on tienne le sujet de l’action, ainsi désigné par son nom, pour le même tout au long d’une vie qui s’étire de la naissance à la mort ? La réponse ne peut être que narrative. Répondre à la question › qui ? ›, comme l’avait fortement dit Hannah Arendt, c’est raconter l’histoire d’une vie. L’histoire racontée dit le qui de l’action. L’identité de qui n’est donc elle-même qu’une identité narrative.« Ricœur: Temps et récit, S. 442-443.

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eine Theorie der narrativen Identität lehrreich sein könnten, aber ihre Gedanken sollten nicht auf dieses Grundmotiv oder Leitziel hin geprüft werden.48 Arendt ist sich dieser impliziten Vorentscheidung für die Perspektive des Beobachters nicht bewusst und versucht zu begründen, warum eine Handlung und auch eine Lebensgeschichte nur aus der Beobachterperspektive beschrieben werden kann. Der wohl wichtigste Schritt ihrer Argumentation betrifft das »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten«, das wie folgt eingeführt wird: [D]iese unwillkürlich-zusätzliche Enthüllung des Wer des Handelns und Sprechens [bildet] einen so integralen Bestandteil allen, auch des ›objektivsten‹, Miteinanderseins, daß es ist, als sei der objektive Zwischenraum in allem Miteinander, mitsamt der ihm inhärenten Interessen gleichsam, von einem ganz und gar verschiedenen Zwischen durchwachsen und überwuchert […]. Dieses zweite Zwischen, das sich im Zwischenraum der Welt bildet, ist ungreifbar, da es nicht aus Dinghaftem besteht und sich in keiner Weise verdinglichen oder objektivieren läßt; Handeln und Sprechen sind Vorgänge, die von sich aus keine greifbaren Resultate und Endprodukte hinterlassen. Aber dies Zwischen ist in seiner Ungreifbarkeit nicht weniger wirklich als die Dingwelt unserer sichtbaren Umgebung. Wir nennen diese Wirklichkeit das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten, wobei die Metapher des Gewebes versucht, der physischen Ungreifbarkeit des Phänomens gerecht zu werden.49

Das Bezugsgewebe bedeutet im Hinblick auf die Handlung, dass sie für den Handelnden eine Unberechenbarkeit mit sich bringt, weil es verhindert, dass der Handelnde seine Ziele wie geplant realisiert. Deswegen kommt Arendt zur interessanten Schlussfolgerung, dass das wahre Ergebnis des Handelns nicht die Realisierung vorher geplanter Ziele und Zwecke, sondern »die von ihm ursprünglich gar nicht intendierten Geschichten« ist, »die sich ergeben, wenn bestimmte Ziele verfolgt werden, und die sich für den Handelnden selbst erst einmal wie nebensächliche Nebenprodukte seines Tuns darstellen mögen. Das, was von seinem Handeln schließlich in der Welt verbleibt, sind nicht Impulse, die ihn selbst in Be48 | Ein Generalverdacht gegen die Idee der Lebensgeschichte überhaupt wurde von Pierre Bourdieu formuliert, der über »l’illusion biographique« und über »l’idéologie de sa propre vie« spricht: »parler d’histoire de vie, c’est présupposer au moins, et ce n’est pas rien, que la vie est une histoire et qu’une vie est inséparablement l’ensemble des événements d’une existence individuelle conçue comme une histoire et le récit de cette histoire« Bourdieu: L’illusion biographique, S. 81. Interessanterweise erwägt Arendt in einer Passage von Vita activa eine ähnlich akzentuierte »Verlegenheit«, die daher kommt, dass »jede Abfolge von Geschehnissen, wenn sie nur zeitlich verbunden ist und gleich, wie zufällig und disparat die Veranlassungen jeweils sein mögen, immer noch genug Zusammenhang aufweist, um erzählbar zu sein und in dem Erzähltwerden einen Sinnzusammenhang zu ergeben.« Arendt: Vita activa, S. 229. Der Einwand von Bourdieu bleibt in dem Sinne zu abstrakt, als es unklar bleibt, worin sein Gegenvorschlag bestünde. 49 | Ebd., S. 225.

Öffentlichkeit und Narrativität bei Hannah Arendt

wegung setzten, sondern die Geschichten, die er verursachte; nur diese können am Ende […] im Gedächtnis der Generationen wieder und wieder nacherzählt und in allen möglichen Materialien vergegenständlicht werden.«50 Die Geschichten, von denen Arendt spricht, sind noch sprachlich zu formulieren oder anderswie zu vergegenständlichen. Sie sind also res gestae, und noch nicht historia rerum gestarum. An dieser Stelle führt Arendt die Leistung des Erzählers ein, die wegen der strukturellen Beschränktheit der Perspektive des Handelnden notwendig ist.51 Die Aktivität des Verfassers bleibt aber dabei auf eine merkwürdige Weise unterbetont: »Obwohl […] erzählbare Geschichten die eigentlichen »Produkte« des Handelns und Sprechens sind, […] mangelt der Geschichte selbst gleichsam ihr Verfasser. Jemand hat sie begonnen, hat sie handelnd dargestellt und erlitten, aber niemand hat sie ersonnen.«52 Damit ist zwar zunächst gemeint, dass eine solche Geschichte nicht bewusst gelenkt oder erfunden wird. Man kann die These auch so verstehen, dass die erzählte Geschichte einer Handlung oder eines Lebens nicht konstruktivistisch verstanden werden sollte. Trotzdem scheint diese Überlegung die Möglichkeiten der Gestaltungsfreiheit im Erzählen eines jeden Geschehens nicht hinreichend zu berücksichtigen. Ein weiteres Problem besteht darin, dass das Sich-Zeigen des Handelnden in seinen Taten sich nur mit Einschränkungen geltend machen lässt. Der Handelnde enthüllt sich ja nicht als sich selbst, sondern als Täter dieser bestimmten Taten, welche Taten sich ihrer Einzigartigkeit zum Trotz mit anderen Taten vergleichen lassen, und so bewegen sie sich auf der Ebene einer gewissen Allgemeinheit. Derart können diese Taten die unverwechselbare Einzigartigkeit, die strenge Individualität des Handelnden nicht ausdrücken. Arendt könnte jedenfalls darauf entgegnen, dass sie nicht anzunehmen braucht, der Handelnde sei imstande, sich vollkommen und restlos in seinen Taten zu enthüllen, und auch mit dieser Einschränkung kann die These, dass der Handelnde in seiner Einzigartigkeit nur in seinen Handlungen zeigen kann, aufgestellt werden. Ziehen wir Fazit: Arendts Betonung der Notwendigkeit des Beobachters und der Unmöglichkeit der Erzählung der eigenen Identität schien nicht überzeugend, weil man geneigt ist zu sagen, dass man das intimste Verhältnis zu dem hat, wer man ist. Nimmt man die Auffassung von Hannah Arendt ernst, folgt daraus, dass wir ohne eine überzeugende Vorstellung davon, wer wir sind, leben – und das ist sicherlich unplausibel. Ihr zufolge weiß ich prinzipiell bis zu meinem Tod nicht, wer ich bin, und erst danach wird ein Beobachter imstande sein, meine Lebensgeschichte zu erzählen. Darauf könnte jedoch geantwortet werden, dass man grundsätzlich immer seine Lebensgeschichte als Antwort auf die Frage, wer 50 | Ebd., S. 226f. 51 | Die »volle Bedeutung dessen, was sich handelnd jeweils ereignete, [kennen] nicht diejenigen, die in das Handeln verstrickt waren und direkt von ihm betroffen, sondern derjenige, der schließlich die Geschichte überblickt und sie erzählt.« ebd., S. 240. 52 | Ebd., S. 227.

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er oder sie ist, zu erzählen fähig ist. Ferner gründet man in der Regel das eigene Leben in einem elementaren Sinne auf diese Lebensgeschichte, die die persönliche Identität umschreibt und Handlungen, Entscheidungen und Bewertungen mitbestimmt. Es scheint übertrieben, dass aus der Perspektive Arendts all das nur Selbstverkennen und falsches Selbstbild sein könnte. Selbstverständlich ist es möglich, dass ich mich mit Bezug auf mich selbst in mehrerer Hinsicht täusche, irre, möglicherweise kann ich mich selbst bewusst oder unbewusst stilisieren usw., aber all diese Möglichkeiten könnten noch in einer Auffassung integriert werden, die ein narrativ strukturiertes Erfassen der eigenen Identität zumindest denken lässt. Natürlich hat Arendt Recht, als sie das Moment des Mitgenommenseins in einer Situation betont. Sie berücksichtigt jedoch nicht die Möglichkeit der späteren Reflexion, wo es doch im Prinzip möglich ist, sich von dem Geschehen zu distanzieren und dadurch von sich ein Bild zu machen, und zwar unabhängig davon, ob andere dieses Bild für überzeugend halten oder nicht. In diesem Sinne geht die These der Selbstignoranz bei Hannah Arendt, die erst aus einer nachträglichen Beobachtungsperspektive aufgeklärt werden könnte, zu weit. Die Eigentümlichkeit von Arendts Gedankengang kommt aus ihrer eigentümlichen Perspektive, die in erster Linie auf die Nachwirkung von großen Taten und Leben auf eine Öffentlichkeit fokussiert. Dies Interesse macht auch den Akzent, der auf die Beobachterperspektive gelegt wurde, verständlich. Damit zeigt sich Narrativität für Arendt als Grundstruktur der wesentlichen Elemente einer politischen Öffentlichkeit, als offene Menge von beispielhaften Leben und Taten. Mit anderen Worten, Arendt fragt nicht danach, wie einer die eigene Identität zu fassen imstande ist; sie fragt vielmehr, wie vergangene große Taten und Personen als erzählbare Maßstäbe und Motivationen für alle, die am organisierten Gedächtnis der konkreten Öffentlichkeit teilnehmen, weitergegeben werden können. Mit dieser Präzisierung ihrer Perspektive lässt sich vielleicht die mehrmals bemerkte Zweideutigkeit des Handlungsbegriffs bei Arendt erläutern: Handeln als agonales Hervortretenlassen der Individualität und Handeln als machterzeugendes Miteinanderhandeln bilden weniger einen Widerspruch innerhalb eines als einheitlich geplanten Handlungsbegriffs, sondern zwei Aspekte der Leistungen des Handelns im Zusammenhang des Politischen.

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Geschichte, Ereignis, Trauma

Historical event and structure, and their relationship Gábor Gyáni

A difference of opinion exists through the present day as to whether events or structures should be the focus of historians’ interest. The well-known definition of historical research that says the past should be narrated as how it actually was (wie es eigentlich gewesen) suggests at least implicitly the preponderant and indisputably fundamental importance of events in the historical past.1 Emphasis is thus placed on the political events and history of the nation-states per se. The reading public and many (perhaps even most) historians unanimously hold the view that the focus on events is the sole way of doing historical research and writing history. Recent developments in the field have, however, noticeably changed the possible themes and, not least of all, the conceptual tools available for historians. It is true, however, that even before and especially after Leopold von Ranke’s work, an entire group of historians followed another track because they were not wholly satisfied with the event-centered Prussian-style historism. In this context one could mention Voltaire and the Scottish social scientist, John Miller, who held the view that events amount only to the surface of reality »which engages the attention of the vulgar historian.«2 The Rankean conception of history, which focuses on the undisputed importance of historical events, was almost from the beginning accompanied by a manner of conceptualization closely inspired by the French philosopher, Auguste Comte. The positivist school of historical scholarship represented by T. H. Buckle, H. W. Lecky or H. Taine and the classical cultural history practiced at that time by Jacob Burckhardt were all meant to show a real alternative to the German-style historism.3 The first explicit critique of the state history-writing was advanced by some French historians at the turn of the nineteenth and twentieth centuries (Paul La-

1 | Ranke: Geschichten, vi. 2 | Burke: History, p. 233. On Voltaire in this context see Revel: Retour, pp. 95f. 3 | R. Várkonyi: A pozitivista, pp. 58-86; Burke: What is, pp. 7-15.

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combe, and especially François Simiand),4 followed by several British historians (Lewis Namier, and R.H.Tawney), who also took structures, not events, to be the backbone of historical inquiry.5 The latter approach has become of prime importance for the Annales historians (M. Bloch and L. Febvre), who nourished the ambition of placing the image of history on a structural base. Instead of dwelling too much upon the succeeding generations of the Annales historians, in the present essay we will take a close look at the notions elaborated by Fernand Braudel in the context of longue durée, in which the concepts of event and structure take on specific meaning.

C harting the C oncep t of E vent (and S tructure) from B r audel to K oselleck The guiding principle of the linear sequence of historical time was not, at least until the mid-twentieth century, challenged in historians’ daily practice. The implicit supposition that the time of history (»objective time«) is empty was intended to create the potential for describing it by simply filling it in various occurrences of sequential events and processes and a linear plot. Accordingly, »The date assigned to an event depends upon the base point of our chronology; the important issue is the relationship of the event to other happenings.«6 A radical though not complete break with the concept occurred when Fernand Braudel, influenced by French sociologists, introduced a new scheme of temporality in his monumental work, The Mediterranean and the Mediterranean World in the Age of Philip II, published in the late 1940s.7 Braudel later provided an explicit concept of structured historical temporality by making clear-cut distinction between brief and ephemeral moments of historical events; the more durable time filled by the economic, cultural and social processes; the temporality of conjunctures of the trends of social history; and the still grander scale of time beyond the temps cour and even the moyenne durée: the longue durée as the temporality of an ecological history.8 The varying length in duration of each of the temporalities concerned as well as the striking difference between how they are perceived by the people of the past, the historical agents, and the historians serves as evidence for their distinctiveness. The time of conjuncturers is barely visible or perceptible to contemporary observers. It manifests itself so gradually as to fall outside the range of perception; it might be contrasted with the time of events, the knowledge which is wholly 4 | Simiand: Méthode, pp. 113-169. 5 | Burke: What is, pp. 233. 6 | Starr: Historical, p. 32. 7 | For its English edition see: Harper Collins, 1972. Trans. Siân Reynolds. 8 | Braudel: History, pp. 25-54.

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self-evident for contemporaries. Ultimately, the notion of longue durée postulated by Braudel gradually evolves so that it is almost imperceptible and is thus equal to the history of constant repetition and everlasting cycles. Braudel’s construct of historical temporality swiftly became widely accepted among the structure-oriented French scholars as well as other historians and philosophers. Only recently has it turned into a hotly debated issue.9 As early as at the late 1970s, Lawrence Stone proposed a reconsideration of the question of historical narrative as a mode of historical writing vis-a-vis analytical structural history. He then contended that »the movement to narrative by ›new historians‹ marks the end of an era: the end of the attempt to produce a coherent scientific explanation of change in the past.«10 Stone’s prediction that the analytical (deductive) history of structures will and should decline, allowing the return of narrative with the event at its focal point, proved to be a self-fulfilling prophecy. But what kind of event-centered history is demanded or even possible after the intermediate »episode« of structural history? Stone did not answer the question, but an Annales historian, Jacques Le Goff, has argued for a return to narrative in historical discourse, where some fundamental changes in the concepts with which the historian approaches the political event need to be discussed. Not the politics (or policy), but the domain of polity (le politique) must be relied upon, in which the realm of power is or may be revealed by describing the history of the events. The event is linked in myriad ways to the demographic, economic, social, and mental structures operating behind the (political) events. Le Goff has thus insisted that the renewed event-centered political history is as much concerned with the influences of the underlying structures as it is with particular political events.11 In stating this, Le Goff could already take advantage of an argument advanced by Pierre Nora in the mid-1970s. The French mentalité historian argued that the event is a specifically modern historical development that refers to how people perceive social reality in a modern world. It is thus meant to represent social facts as they are being created. Consequently, the event is nothing other than a product of modern mass media, beginning with the mass press of the nineteenth century and ending with the internet in our own age. The media that informs us about the event does more than merely reflect something real. It acquires a constitutive role in producing or at least contributing to the establishment of reality. The event that is obviously real may also be considered communicated knowledge about the reality made possible by modern media.12 Applying Nora’s argument to the notion of any past event, one can say that historical sources (testimonies of past occurrences) 9 | Revel: Retour; Czoch: A ›longue durée‹. 10 | Stone: The Revival, p. 19. 11 | Le Goff: Les »retours«. 12 | Nora: Le retour. The concept of »aboutness« serving the need of defining the historical representation as against the historical description was brought into currency by Ankersmit. Id.: Meaning, pp. 79ff.

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play a role similar to modern media. They register and disseminate knowledge of various occurrences that would otherwise remain unknown in the absence of them. Historians are not the only ones who have long been preoccupied with Braudel’s sharp distinction between event and structure. Historical theorists are also concerned with the problem. Reinhart Koselleck’s theoretical contribution is relevant here, although it too underwent some modification. Koselleck first assumed that the chronologically based historical time was not at all a universal mode of the experience of time. He suggested that one look at the case of the historians of the Middle Ages, the chroniclers per se, who had a specific time consciousness. They thus saw themselves as successores who demand of their successors to add in their work those new events which will have happened in the following ages until the end of the world, brought about by the Second Coming of Jesus.13 Time as a formal and generalized condition for possible events remained quite neutral to them with respect to epochal episodes and distinct historical periods. The so called additive mode of writing history and storytelling, labeled by Koselleck, displayed a uniform and static experience of time in which the chronicler was content to register ever-present novelty from event to event. His aim was simply to preserve the memory of the most recent occurrences and hand it down to the coming generation. That is why all such histories resemble each other so much and they are structurally quite similar. It ended, however, at the moment when substantial changes occurred in the time consciousness of the historical actors at the dawn of the European modern era, the late eighteenth century. This led, as Koselleck stated, to a split of two basic time categories, the one tied to experience, that is the so called space of experience, and that of the future vision, designated as horizon of expectation. The bifurcation of the two entities later served as the basic mental source of a wholly new, modern historical consciousness that prepared the way before the rise of the academic historical scholarship.14 That was the development that could allow the fundamental temporal difference between event and structure to be postulated. In fact, they represent since that time very diverse durations, in which different experiences are articulated: whereas the event seems to be closely available for human experience, the structure that exceeds the memory of one or more generations may thus be made known only by the aid of a rational recognition. Temporality and experience therefore work hand in hand to define the basic and distinctive characteristics of events and structures. »Events […] can be experienced by contemporary participants as a coherent event, as a discernible unity capable of narration.«15 This explains why the content of an event is its before and after and its consistency is closely tied to 13 | Koselleck: Neuzeit, p. 229. 14 | Koselleck: Space. 15 | Koselleck: Representation, p. 105.

Historical event and structure, and their relationship

its temporal sequence. »Before and after constitute the semantic dimensions of a narrative […], but only because historical experience of what constitutes an event is always constrained by temporal sequence.«16 Structure, however, amounts to a kind of duration where »those temporal aspects of relations« are relevant which are »not covered by the strict sequence of experienced events«.17 Consequently, structures cannot be experienced the same way as events. It may not be denied, however, that the »structural pre-givens« are also open before human experience through their entering into a momentary event. Nevertheless, structures are regularly invisible existents and change very slowly. This makes them inaccessible to the historical agents.18 Koselleck finally draws the conclusion. »While events are caused or suffered by specific subjects, structures as such are supra-individual and intersubjective.«19 Events and structures, as having »in the experiential space of historical movement diverse temporal extensions« need different ways of representation: the events carrying plot-like characteristics »can only be narrated,« structures in accordance with their basically deductive epistemology, »can only be described« in a rigidly scientific representation.20 Still, not even Koselleck argues that they are fully alien to each other, but rather considers them to be interactive elements that relate to each other without merging. The question that arises at that point is how the two entities, being autonomous, relate to each other. In demonstrating his standpoint, Koselleck cites the following example: »Statistical time series thus live on concrete individual events that possess their own time, but gain only structural expressiveness within the framework of long periods. Narration and description are interlocked, and the event becomes the presupposition of structural expression.«21 Although events are not prerequisites for the structural statements, one is still tempted to think about them in this way. Koselleck has thus assumed the occasional merging of events and structures without postulating their complete fusion. He therefore insists that a concrete event might acquire structural status due to the investigated level of reality and that structure can also become an event.22 If this is the case, what and how can history teach by telling the past (for the sake of the future)? As a result of the acceleration of a modern historical development, less opportunity is left for using the past as a model to be followed in the present. Let’s think about Koselleck’s hypothesis mentioned above, according to which there has been an increasing divergence of experience (accumulation of 16 | Ibid., p. 106. 17 | Ibid., p. 107. 18 | Ibid., pp. 107f. 19 | Ibid., p. 108. 20 | Ibid., p. 105. 21 | Ibid., pp. 108f. 22 | Ibid., p. 111.

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knowledge of the past) and expectation (openness with regard to the future) since the eighteenth century that necessarily produces human agency. One may thus easily say (as Koselleck actually does) that the topos expressed by the well-known wisdom, Historia Magistra Vitae (Cicero), has dissolved into a modernized historical process and consequently loses its relevance altogether.23 Amid such circumstances it is difficult to explain the present (and prepare for the future) by relying on the past. It also implies that long-term structures preparing and anticipating the future tend increasingly to become events or acquire event-like patterns whose possible and probable influences are difficult to project into the future. When the historical future comes under human control, as is the case now, prediction is no longer possible based on insights coming from the past. Prediction has been possible only when the large trajectories of the structural developments transcended the lifespan of more than one generation.24 When Koselleck addressed the issue of how perceptions brought forward by the linguistic turn affected the formulation of historical representation, he emphasized two things: the diverse temporalities that characterized linguistic phenomenon (the historical narrative) and the event. Every concept historian is well aware of the huge difference between »the repeatability of the linguistic phenomena and the uniqueness of the sequence of events […], even if in everyday experience the two structures are indistinguishable in their mutual interaction. The slower rate of change of semantic structures and their greater durability allows them to reappear at different temporal moments, during different historical events, ›repeatably,‹ as though they were static.«25 Koselleck is, however, not alone in stating that language resists the change in reality referred to, and that it puts many obstacles in the way of adequately articulating the experience engendered by temporal change. By trying to evade problems that have arisen at that point, Koselleck postulates an uninterrupted process of registering the historical experience. It is first recorded by the historical agents and is later inscribed by those who just remember the past; the constructs of the latter are finally rewritten by the succeeding generations of historians.26 This argument strongly reminds us of the continuity concept in historical narrative elaborated by David Carr27 and suggests that although event and structure are, in terms of the relationship between experience and historical narrative, wholly distinct entities, they cannot exist without each other. To dwell on the philosophical discussion of the relationship between linguistic representation and reality would exceed the scope of this essay, so I now turn to the problem of the possible (and alternative) representation of event and structure 23 | Koselleck: Historia. 24 | Koselleck: Die unbekannte Zukunft. 25 | Koselleck: Lingustic. 26 | Koselleck: Erfahrungswandel. 27 | Carr: Time.

Historical event and structure, and their relationship

in historical narrative. A thorough analysis of it has already been produced by Philippe Carrard in his book on the special use of the language by the French historians attached to the journal Annales.28 More recently, Allan Megill made a remarkable attempt at elaborating the conceptual distinction between explanation and description in historical narrative. Without mentioning Koselleck, he also distinguishes between the narrative mode applied to the representation of events and the truly scientific discourse based on explanation that is customarily used when talking about structures.29 Arriving at that point, it seems necessary to raise the problem of the obvious difference between the culture of orality and the literate one in terms of the authentic historical experience and its later transmission to the coming generations. Walter Ong and others have already successfully proven that the structures of consciousness made available by the chirographic and, in particular, the printed culture of the early modern and the modern European world convey a peculiar social knowledge and experience which are in no way present under the exclusive power of orality. One of the most basic differences between them has been that oral expression tends to be copious as it relies on preset formulaic phrasing. Literate expression, on the contrary, tends to be spare by preferring to lend itself to abstract thought.30 The deep insight gained from this analytical distinction between orality and literacy reveals that the knowledge provided by the professional (academic) historical investigation on the past does not necessarily fit in with the once existing (historical) experiences. Accordingly, historical research relying on the written testimonies of the past seems not to be the best way of knowing the once existing consciousness, the historical experience per se, in which the »presence of the word,« binds past and future to the present perceptions. The discussion of the latter, however, goes much beyond our present horizon.

R aymond A ron ’s C oncep t of E vent Both historians and theorists came to a common agreement that there is a fundamental difference between event and structure, based on their very diverse duration. Raymond Aron is not an exception, although he does not exclude the possibility that structure may also function as an experiential reality and he argues at the same time that an event cannot be defined solely by relating it to the category of experience. All this comes from his conviction that event is not an elementary existent, but something coming into existence only in the form of a sequence of events. If there is no atomic event, there is no experience attesting to its reality. 28 | Carrard: Poetics. 29 | Megill: Narrative. 30 | Ong: Orality. The thesis advanced by Ong has been applied to the various modes of memory and communication by Hutton: History, pp. 13-17.

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The event is thus at once part and whole, corresponding to the sequence of a great number of atomic events, or unit of events. In advancing his thesis, Aron cites as evidence the episode of a battle. »The battle of Austerlitz is a ›whole‹ in relation to the action of a grenadier or to the charge of the cavalry in the centre of the battlefield; it is an event in relation to the campaign of 1805, just as the latter is an event in relation to the Napoleonic wars.«31 The quotation helps us realize why Aron finds it almost impossible to define the notion of elementary unit of events, assessed as an atomic event. »Nor is it possible to grasp a historical atom through documents or by direct experience. Each one of the thousands or millions of men engaged in a battle lives through it in a different way The text of a treaty is, physically, a single thing. In its meaning it is manifold: for those who draft it, it is not the same as for those who apply it; it is different again, perhaps, for the enemy who signs it with contradictory mental reservations.«32 What can be concluded from this? First, »A conglomeration of meanings, it acquires a unity, like the battle, only in the mind which rethinks it, the mind of a historian or of a historical personality.«33 Although an event may directly be perceived and experienced, still one cannot consider it to be absolute existent. Not because the same event may be lived through and experienced (perceived and interpreted) in many different ways. In addition, it is also difficult to decide where the event begins, where it ends, and where the dividing line between an atomic event and the sequence of events is. The latter is important because one may discern in the sequence of events many signs (or attributes) of a structure. »In fact, every event involves duration and range, in exactly the same way as a whole complex of events. For there to be any essential antithesis, the event would have to be instantaneous or individual. And this is not so.«34 Not even Aron denies the unambiguous distinctiveness of event and structure (the totality as he calls the latter). The problem lies more at the size (extension, duration and complexity) of the most various types of occurrences that may alternatively be events or structures. »As a complex of events grows larger, the less clear become its outlines, the less obvious its internal unity.«35 So, they are seen as structures rather than events. They, in addition, hold diverse relation to the human experience. »The spatio-temporal unity of the battle of Austerlitz, the interconnection between the various actions subsumed under this title, were evident to contemporaries and remain so to the historian. On a higher level, this unity was not grasped by those who lived through the event; the link between the various elements is indirect, ambiguous. With the widening of the gap between

31 | Aron: The Opium, p. 140. 32 | Ibid., p. 139. 33 | Ibid. 34 | Ibid., p. 140. 35 | Ibid.

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experiences and their reconstruction by the historian, the risk of arbitrary judgment increases.«36 The deep insights provided by Aron on the referential content of event may further help us in clarifying the intricate relationship between event and structure.

I s E vent »M ore R e al« than S tructure ? With regard to the current positions concerning the distinctive features of event and structure, one may, in general, define them by how they refer or do not refer to the past historical experience. This, however, is not the last word in the matter. Since historical experience is as much an »inadequate perception and memorialization practice« as some other evidence, it cannot provide the final referential truth of history (historical narrative). One may think at that point of the specific culture of orality, in which memory of events is not handed down very »authentically« with reference either to the historical meaning and significance. According to the teachings of analytical philosophy of history, the primary experience of a historical actor is in no way sufficient for verifying the truth of the sentence found in the historical narrative. Arthur Danto’s debate with A. J. Ayer leads him to conclude that: »If there are true descriptions of events under which those events cannot be witnessed, our incapacity to witness those events has, with this class of descriptions, no bearing whatsoever. For even if we could witness them, we could not verify them under these descriptions.«37 The main problem that lies here concerns the two possible temporal horizons of meaning, an epistemological context which is always given for the practice of historical recognition. Historians may venture to make verified (historical) statements about the past only if they have already acquired the knowledge of what happened after the past in question, knowing the after-history. After realizing this one may say with Danto that, »the most important kinds of sentences which occur in historical writings give descriptions of events under which those events could not have been witnessed.«38 A further aspect of the problem concerns the specific epistemology of structures, which are supposed to exist »out of experience.« The once factual existence of a structure may not (easily) be verified simply by referring to the historical experiences; this, however, does not mean that we ought to deny their referentiality. 36 | Ibid. 37 | Danto: Analytical Philosophy, p. 62. The thesis criticized by Danto is to be found in: Ayer: The Problem, pp. 155f. The phrase »his class of description« is meant to allude to the truly historical (historian’s) statements made retrospectively at a moment when the knowledge of what actually happened in the future of the past events referred to has already been available. 38 | Ibid., p. 61.

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In explaining this problem, Paul Ricoeur holds that the lived past experience is in itself insufficient for defining the reality of the most various existents. Structures, Ricoeur insists, are as much real as are the events, although the historical experience demanded for verification is not available. »Ce sont certes là des constructions, au regardde l’expérience vive qui ne forme pas spontanèment l’idèe de durèes multiples, d’échelles de durèes; ce qui est plus précisément une construction, c’est la corrélation établieentre la nature du changement considéré – économique, social (au sens limitatif du terme), politique, culturel ou autre –, l’échelle sous laquelle il est appréhendé et le rythme temporel approprié à cette échelle. […] Mais ces constructions sont présumées appropriées àla nature du phénomène en question et, en ce sens, tout sauf arbitraires, donc tout sauf fictives.« 39

The statement cited sounds plausible indeed, but it also has to be admitted that the notion of structure occurring in historical narrative re-presents 40 not the past that is described by an event-centered historical account. Koselleck’s standpoint looks very similar, although it is supported by a different argument. Events, he says, are no more real than structures »merely on the grounds that the concrete course of the event is bound up with an empirically demonstrable before and after in a naturalistic chronology.«41 Structures, which are as real as events, exercise their influence on an other level of reality. In addition, »the facticity of events established ex post is never identical with a totality of past circumstances thought of as formerly real. Every event historically established and presented lives on the fiction of actuality; reality itself is past and gone. This does not mean, however, that a historical event can be arbitrarily set up in this or that manner. The sources provide control over what might not be stated. They do not, however, prescribe what may be said. Historians have a negative obligation to the witnesses of past reality.«42 The question is now how and to what extent may the notion of structure be connected to the historical experience with the explicit aim of giving it a referential value? »Structures of great duration, especially when they escape the consciousness or knowledge of former participants, can even be (or have been) ›more effective‹ the less they enter as a whole into a single, empirically ascertainable event. But this can only be the basis for hypothesis.« Consequently, »The fictional nature of narrated events corresponds at the level of structures to the hypothetical character of their ›reality.‹«43 39 | Ricoeur: L’écriture, pp. 740f. 40 | The term used for describing the specific practice of historian engaged in representing the past is taken from, Berkhoffer: Fashioning. 41 | Koselleck: Representation, p. 111. 42 | Ibid. 43 | Ibid., p. 112.

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The paradoxical nature both of event and of structure in particular does not entail any hardship for the historian engaged in pursuing empirical research. A case in point is Braudel’s postulate about the fundamental difference between event and structure with which he intended to set up a conceptual base for a more scientific history. Braudel’s endeavor to replace events with structures paved the way for the spread of structural historical scholarship (social science history, sozialwissenschaftliche Geschichte), in which the category of historical experience had no function. After losing during the last few decades many of the illusions that the Annales school (and the cliometrians) attached to the project of transforming the writing of history into an entirely »scientific« undertaking,44 the entire problem now awaits a total reformulation.45 In seeking how resolve the huge dilemmas raised before on a conceptual level, I will turn now for help to William Sewell, an American social historian. Sewell declared his firm »commitment to accounts of social life that are at once interpretive or hermeneutic and historical. In such accounts the central questions about any social action, institution, or event are, first, its meaning to those who experience it and, second, its place in the changing frameworks that make meanings, decipherable both to those whom we study and to ourselves.«46 The quotation demonstrates such an intermediary epistemological position that Sewell is probably capable of conceptualizing event and structure as constituting a mutually interactive force and social existent.

H istorical E vent as a S tructur al F orce What moves structures, and how and why do they change at all? These are the questions that are placed into the centre of Sewell’s argument. His short answer to the first question is that exclusively the historical events are supposed to have the capacity of moving or dislocating structures.47 The historical event indeed is not a structural pattern, although it exists and comes into surface alongside certain structural givens. How can a historical event alter a structure amidst such circumstances?

44 | This program and agenda was most clearly advanced by Fogel: Scientific. 45 | Sewell: Logics, pp. 1-80, pp. 318-372; Eley: A Crooked. 46 | Sewell: Logics, p. 318. 47 | Four chapters of his book deal with this concept. »Three Temporalities: Toward an Eventful Sociology«; »A Theory of Structure: Duality, Agency, and Transformation«; »A Theory of the Event: Marshall Sahlin’s ›Possible Theory of History‹«; »Historical Events as Transformations of Structures: Inventing Revolution at the Bastille.« In: ibid., pp. 81-151, pp. 197-270.

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Anthony Giddens provides the starting point for Sewell, who has elaborated a notion of structure. This concept, however, is »frustratingly underspecified,«48 not giving plausible explanation for how structures change. Sewell finds that Giddens underrates or misses altogether the great role that human agency plays in the whole process. Without assuming the actual or potential presence of the latter, one cannot understand why structure may change at all. There is no room left in Giddens’ conceptual construct for the relatively autonomous force capable of bringing into motion the set of mechanisms and institutional elements of structures. He only assumes that structures are made up of rules and resources which are »virtual,« put automatically into practice in the course of production and reproduction of social life. This seems for Sewell an unacceptable tenet, since he holds that the resources imbedded in structures are actual rather than virtual. In that case, structures, including both »virtual« rules and »actual« resources (and schemas), may not only be givens, found at the deep level, but also entities that embrace a great variety of cultural schemas (various conventions, recipes, scenarios, principles of action and habits of speech and gestures). The resources, »effects of cultural schemas,«49 give birth to agency. The basic difference between the notion advanced by Sewell and the one linked to Giddens is that the concept of agency is not taken by Sewell to be only in opposition to structure, but is assumed to be a constituent of it. The historical actor, on the basis of some degree of autonomy, has already acquired the knowledge of the schemas operating social life and is familiar with them, and that is what makes him capable of occasionally reorganizing the available human resources. When this happens, the aim is to apply them to new contexts that are wholly inconsistent with the given structures. Sewell thus contends that the »agency arises from the actor’s control of resources, which means the capacity to reinterpret or mobilize an array of resources in terms of the schemas other than those that constituted the array. Agency is implied by the existence of structures.«50 The historical event, Sewell contends, comes into existence only at a moment when the historical actor carries out through the act of rearranging the human resources a cultural innovation – hence the novelty of a historical event, shown by its sudden, unexpected and incalculable occurrence. The historical event, posed in this way, is equal to the destabilizing force that induces a thoroughgoing change of structure. The unexpectedness of a historical event thus has a lot to do with its inability to fit in with the mechanistic operation of a structure. This attribute of a historical event is sometimes realized even by contemporaries as it is evidenced by the words of the nineteenth-century Hungarian revolutionary, Lajos Kossuth, who once (some years after the event) said with regard to the 1848 revolution: »The logic of history sometimes keeps quite for long, but sometimes steps forward a century in just a minute. It takes such 48 | Ibid., p. 128. 49 | Ibid., p. 135. 50 | Ibid., p. 144.

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a great step forward that the short-sighted person shouts ›who would believe it‹ and talks about accident.«51 Several historians are also aware of that aspect to a historical event. François Furet, detailing the causes of the First World War, has aptly remarked that »the more significant of the consequences of an event, the more difficult it is to think about it from the perspective of its causes. World War I is no exception: no one has ever managed to demonstrate that it was preordained by the economic rivalries of the great powers. Nor does anyone believe that the peoples of Europe, by hailing the war with such transports of enthusiasm, actually provoked it by their respective nationalistic sentiments. None of the links in the chain of events that led to the war explain what set it off other than the diplomatic and political intrigue in which the European royal courts were embroiled between the assassination of Archduke Ferdinand in June 1914 and the first days of August of that year, when all the governments in Europe accepted the war and thereby made it an inevitable fact.« 52

The concept of historical event, as has been outlined above according to Sewell and Aron, refers, first of all, not to an atomic existent, but rather a longer sequence of occurrences. Secondly, the historical event amounts to or refers to the past that has already been held an important moment by (several) contemporaries. Thirdly, the historical event is the exceptional happening which alone may produce the deep transformation of a structure.

C onstructing a H istorical E vent : The S iege of the B astille The case study dedicated to describing the historical episode of the taking of the Bastille in 1789 serves as empirical evidence for the proposed concept of historical event. In recapitulating the sequence of events that finally made the act of taking the Bastille the symbol of the French Revolution, Sewell concludes that they actually transcended the point-like (short) duration of a (historical) event. The taking of the Bastille was a kind of historical event that could gain its fame only some time later through the process of conceptualization. In the absence of this after-history, the violent actions taken in the afternoon of that day, which did not differ from the ones occurring before and after July 14th, could not have been lifted to the historical level. The 14th of July could acquire an entirely new meaning due to a sequence of events, the first being among them that the king, Louis XVI, withdrew his troops from the city as a reaction to the atrocities in Paris. The second important moment that played some role in the process was that the Estates General (the Third Estate member of which declared themselves on June 17 to be the National Assembly), holding a continuous session in Versailles, came to the conclusion that it alone remained in power, 51 | Kossuth: Felelet, p. 203f. 52 | Furet: The Passing, p. 34.

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and that its legitimacy was no longer restricted or endangered by the royal authority. The third factor contributing to the conceptualization process has been that the violent actions occurring in the afternoon of 14th of July were reinterpreted by members of the National Assembly. The fact that the possibility of such a reinterpretation was already in the air is shown even by the change of the opinion of a few members of the old elite. Let’s quote here the dialogue between the king and one of his aristocratic friends. »When Louis XVI heard from the Duc de la Rochefoucauld-Liancourt of the fall of the Bastille, the liberation of a few prisoners, and the defection of the royal troops before a popular attack [… the] king, we are told, exclaimed, ›C’est une révolte,‹ and Liancourt corrected him: ›Non, Sire, c’est une revolution.‹« Hannah Arendt, in her comment on the dialogue quoted above, concludes that »The king, when he declared the storming of the Bastille was a revolt, asserted his power and the various means at his disposal to deal with conspiracy and defiance of authority; Liancourt replied that what had happened there was irrevocable and beyond the power of a king.«53 She thus suggests that the perceptible difference in the use of the language (révolte as opposed to revolution) is a clear sign of how a new concept looks to emerge in reference to the people’s violent action taken on July 14th. The new connotation given to »revolution« expresses that a shift from the lawlessness of rotating cyclical movements (analogue to that of the stars on the sky) to the irresistibility of a human movement. When the term »revolution« is applied now to interpreting the occurrences of 14th of July, the phenomenon (revolutio) is automatically dislocated from the nature to the context of human society; it now refers not to circulation, »a return, a rotation of movement back to a point of departure, as in the original Latin usage,«54 but a transhistorical and ideologically justified human undertaking. The decisive step taken for attributing a wholly new meaning to »revolution« was made by the National Assembly, which settled the revolutionary character of 14th of July between the 20th and 23rd of July. With this »moment of ecstatic discovery« (Sewell) the National Assembly brought about a »cultural innovation« linking two, so far distinctive elements to each other. One of them concerns the political and philosophical claims about sovereignty of the people (represented by the Parisian mob) who allegedly owned the unalienable right of a public action pursued for the end of their own salvation, to create their political autonomy. This claim was linked to the one according to which solely the National Assembly might vindicate for itself the right of representing the sovereignty of the people. If the violent mass actions of the 14th of July were, in fact, public manifestation of the sovereignty of the people, their full meaning and exceptional importance may only be realized by the National Assembly. The two tenets, thus combined, provided the guiding idea for revealing the meaning of a totally new political order that was born on that day. »What happened at the Bastille [thus] became the establishing

53 | Arendt: On Revolution, pp. 47f. 54 | Koselleck: Historical, p. 45.

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act of revolution in the modern sense. By their action at the Bastille, the people were understood to have risen up, destroyed tyranny, and established liberty.«55 Little is known about the thoughts of the common people, the rioters, who actually committed the »revolutionary acts« of July 14th. What is known comes either from members of the ancien regime elite or from the politicians who constituted the National Assembly. As regards the former, Louis XVI did not hold the view, not even several years after the events of the 14th of July that a thoroughgoing change was then on the agenda which would have demand a changed attitude on his side towards it. His perseverance is evident in the words announced before his judges when he was blamed for committing crime against the Parisian masses, by allegedly destroying their liberty for the sake of royal tyranny. He then replied to these blames: »There was no such a law, which would prevent me from doing all this. […] Then [at around the days of 14 July] I could order troops everywhere.«56 The process of fabricating a historical event from the 14th of July in order to symbolize the French Revolution needed some time, not just because the decision of the National Assembly made more than a week after July 14th. The practice of memorializing the day as a revolutionary action also elapsed. It is true that Charles Villette claimed very early, on 18th of July 1789, the demand of a new festival labeled Bastille Day with the aim of celebrating the »unprecedented« revolution. And the first ceremonial commemoration was actually held the following year.57 It was also complemented by several other gestures dedicated to the memory of the glorious events of July 14th. A medal »for 954 heroes of Bastille« was established, granted first the relatives of the rioters who died at the attack of the Bastille. In addition, a collection of the objects was displayed in the ruined building of the Bastille, consisting of coins made from the chains with which the prisoners were then tied.58 Canonizing the memory of a revolutionary 14th of July eventually met several obstacles. It took at least a hundred years of successfully establishing the Bastille Day to express in the form of public ritual the nation’s commitment, solidarity, and military might; it only became an official national holiday of the French Republic in 1880.

E xperiencing and C onstructing the H istorical I mage of M arch 15, 1848 in H ungary Let us consider another, also instructive manifestation of how the notion of historical event has been created by taking the example of the Hungarian revolution of the mid-nineteenth century. The French Revolution needed nearly ten days for invention; its Hungarian counterpart was slower to gain the same label. The time 55 | Sewell: Logics, p. 236. 56 | Soboul: XVI, p. 120. 57 | Ozouf: Festivals, pp. 32f. 58 | Haycroft: A francia, p. 57.

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period between the outbreak of the Pest disturbances on 15th of March 1848, and its qualification as a revolution, opening new chapter in the life of the country’s political life, lasted for nearly one month. It is true, however, that a few historical actors considered as early a date as March 15th as the manifestation of the revolution, modeled after the French case. »The liberty of the Hungarian nation begins with this day. This was the epochal day in history of the nation. […The] people woke up, demanded their rights that were denied for centuries, the people won their rights, the restrictions of which were imposed on them.«59 The quote taken from the first account of the events of the March 15th, appearing in four days in a daily, was written by Mór Jókai, a young intellectual who was later to become one of the greatest novelists in Hungary. The rhetoric, the tone, and not least of all the content of the article expressed Jókai’s firm conviction that the 15th of March was indeed a turning point for the country. His persuasion was, however, no more than an idealized image of the Pest events. The factual statements of the paragraph cited above, that the people allegedly won their rights on that day, must not be taken at face value; this was achieved only a month later. The demands announced by the protesting Pest masses and their leaders were also articulated by the official political representation of the country, the Hungarian Diet then meeting in Pozsony (now Bratislava). What is more, the delegation of the Diet, led by Lajos Kossuth, carried them to Vienna during these days. The political claims, including the demand for a sovereign Hungarian Prime Minister and cabinet responsible for the elected Parliament, were finally answered positively by the monarch on April 11th. The term »lawful revolution,« applied to the events occurring in Pest-Buda and Pozsony these days, described the sequence of events concerned far more precisely.60 To be sure, the occurrences of the March 15th protests in Pest-Buda, and especially the rumors about a large demonstration organized by the March Youngers mobilizing 40 thousand men, had some impact on the decision-making process.61 They contributed to the final success of the Pozsony Diet initiating radical reforms in the political make-up and the socio-economic structure of the country (establishing the bourgeois property rights by emancipating the peasantry from feudal obligations). However, nearly one month elapsed between the two events (the demonstrations in Pest-Buda and the date of passing the April laws). The Hungarian revolution of 1848, as it was called later on, needed a little bit longer than the French to be won. That is the why some historians refrain from overemphasizing the historical impact of March 15th without denying, however, its historical significance. István Deák says, »Hungarians tend to overestimate the importance of the events of March 15 in Budapest [more correctly in Pest-Buda]. In reality, their significance was mainly symbolic: the people had taken matters into their own hands.«62 59 | Jókai: Március, p. 13. 60 | Deák: Lawful. 61 | Varga: A jobbágyfelszabadítás, pp. 94-124. 62 | Deák: The Revolution, p. 213.

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Not all contemporaries assessed the occurrences of 15th of March in the same way. The consensus was not even reached among those who personally were involved in the riot. Sándor Petőfi, the Romantic poet and leading member of the March Youngers who organized the public events of the day, was indeed then a central figure. It is no wonder that he was full of revolutionary enthusiasm, as one can read in his diary. »Today the Hungarian freedom was born, because the press shook off its shackles. […] Be saluted on the day of your birth, Hungarian liberty!«63 Or: »This was March 15. Its outcomes are the ones which make that day eternally memorable in the Hungarian history.«64 This originated from Petőfi’s peculiar, not very general way of thinking affected by his unending longing for a revolution. The entry from 17th of March in his diary also attests the latter. »My exclusive reading was for years, it was morning and evening prayer, or even everyday bread what I have read about the history of the French revolution, this new gospel of the world in which the second Redeemer of humankind, the freedom preaches. […] Therefore, I looked for the future, waiting for the moment when the ideas and sentiments of my freedom, the damned souls of my heart can be freed from the prison, the site of the suffering […]. I also waited for the minute; not only hoped for, but was sure that it would immediately come.«65 Petőfi, as demonstrated by several of his subjective testimonies (his poems included), knew well before what would happen and how, cherishing a strong vision of a coming revolution. It is exactly the case when the experience of a historical agent is shaped and even determined by the so called »horizon of expectation« (Koselleck), under the influence of which we project our wishes and ideals onto the perceived facts of reality. For all those who lacked any similar anticipation and expectation, the image of the (revolutionary) events looked very different. Not only Lajos Kossuth thought that the events of March 15th had much less importance than was ascribed to them by Petőfi in the process of transforming the political and socio-economic life of the country. Several members of the March Youngers were also disinclined to foster the kind of revolutionary apotheosis in terms of March 15th that was so typical for Petőfi. Jókai, who also was directly involved in the disturbances, has given signs of a non-committal attitude when talking about the occurrences of the day. By stressing that the most outstanding characteristics of March 15th were that the mass actions were well controlled (from above), and they therefore did not fall into the states of disorder, he gave an account of it in which the silent and peaceful nature of the (revolutionary) day was accentuated. He also added that not any shop was robbed, and not even the market held on this day was interrupted. He thus suggested that March 15th was like any other normal weekday, despite the mass events taking place right then. His explanation for it was that the masses, even when demonstrating, proved to be decent and self-restrained, and that the people’s 63 | Petőfi: Lapok, p. 402. 64 | Ibid., p. 409. 65 | Ibid., p. 403.

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guard succeeded in maintaining the public order. The new world brought into existence was created without any bloody incidents and atrocities.66 If one takes another contemporary account of the day that appeared in the pages of the daily, Pesti Hírlap, one can also encounter this rhetoric bearing the message that the revolutionary deeds of the day lacked any disorder and scandal.67 How did the people living further away, without personal experiences on the events of March 15th, perceive and interpret the Pest events? The least one might say about this is that they did not identify themselves with the revolutionary spirit of March 15th. Consider, for example, the diary entry by a barber living in a provincial city, Veszprém. »Residents of Veszprém came home on seventeenth and eighteenth of March from the Pest market, merchants, artisans, Jews, and each brought a printed paper, the following points were printed on it with capital letters: What the Hungarian nation demands. They also brought the National song [Sándor Petőfi’s poem] attached to it. Furthermore, the people being back from the [Pest] market talked a lot about the rebellion that broke out in Pest on March 15th. They told marvelous things what we listened to and were amazed, and asked only smilingly, would it be true at all?«68 March 15th may also be utilized as a paradigmatic case for describing the process of how an event may be made a historical event by ascribing it revolutionary meaning. That was finally achieved by the memorial practice surrounding the event in the long run. The first occasion for its commemoration came about on 15th of March, 1849, but the next similar act was delayed until 1860. The latter, however, exercised a great and lasting influence on the process of canonization as it was coupled with a protest against the rule of the Habsburg absolutism established after the fall of the War of Independence of 1848-49. In addition, there was a fatality (a university student) of the mass demonstrations that took place in Pest on that day, which gave the commemoration a tragic tone. After 1860, March 15th soon became and remained the most important Hungarian historical place of memory (national holiday), holding its great importance both for the collective (communicative) and cultural memory.

C oncluding R emarks In summarizing the main thesis of recent study, it may be argued that the question of the relationship between event and structure is now hotly debated. It follows in part from the many changes in how event has been conceptualized during the last few decades. In conclusion, one may say that the event (1) cannot simply be defined as merely a point-like atomic existent, but is rather constituted by a series 66 | Jókai: Március, p. 13. 67 | Ibid., p. 26. 68 | Francsics: Visszaemlékezései, p. 152f.

Historical event and structure, and their relationship

(or sequence) of occurrences, (2) although the event per se is characterised by a relatively short duration, the sequence of events tend to encompass a somewhat longer time-period, and (3) it is also true that the historical significance of a given past event, and to some extent its inherent meaning, depends on the primary experiences gained by the historical agents. Still, the historical relevance of a single past event or sequence of events, and especially the specific meaning attached to them, comes as much, if not more from the knowledge of the so called after-history. The two case studies have clearly demonstrated that the historical event par excellence that is held responsible for the fundamental change of structures, has longer duration than it is supposed to have on the basis of the Braudelian-type concept of event. Structure and event are at once autonomous and interactive entities. If this is the case, we have every reason not to take seriously the rigid boundary separating the event-centered (political and state) history writing from the structure-oriented social science or Sozialwissenschaft type historical scholarship.

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Trauma und Mythos Antigone in der Literatur nach 1945 Ulrike Vedder

1. A ll zu naheliegend : A ntigone nach 1945 Antigone ist im 20. Jahrhundert zu einer bevorzugten Figur für die Auseinandersetzung mit Gewalt und Macht avanciert, wie ihre zahlreichen Aktualisierungen im Zeichen des Ersten und des Zweiten Weltkrieges zeigen – von Romain Rolland und Alfred Döblin über Marguerite Yourcenar und Jean Anouilh bis hin zu Bertolt Brecht und Elisabeth Langgässer, Rolf Hochhuth und Grete Weil.1 Dass es vielleicht allzu naheliegend ist, Antigones widerständiges Handeln auf die tödlichen Konflikte vor allem des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs zu beziehen, hat die Literaturwissenschaftlerin Käte Hamburger 1962 zu bedenken gegeben: Es wäre seltsam, wenn diese Figur [= Antigone] nicht allererst in dem vordergründigen Aspekt ihrer mutigen Persönlichkeit Dramatiker einer Zeit wie unseres Jahrhunderts angeregt hätte, die in Kriegen und Diktaturen die Probleme Macht und Recht in krasser Wirklichkeit erfuhren. 2

Machtkonflikte und Gewalterfahrung in Theben und Nazideutschland in dieser »vordergründigen« Weise analog zu betrachten, lehnt Käte Hamburger ab:

1 | Romain Rolland: A l’Antigone éternelle (1916); Walter Hasenclever: Antigone (1917); Jean Cocteau: Antigone (1922); Marguerite Yourcenar: Antigone ou Le choix (1936); Alfred Döblin: November 1918. Eine deutsche Revolution (Tetralogie, 1939-1950); Jean Anouilh: Antigone (1942); Paul Zumthor: Antigone ou l’espérance (1945); Elisabeth Langgässer: Die getreue Antigone (1947); Bertolt Brecht: Die Antigone des Sophokles (1948), Antigonemodell 1948 (1948); Rolf Hochhuth: Die Berliner Antigone (1975); Grete Weil: Meine Schwester Antigone (1980). 2 | Hamburger: Von Sophokles, S. 208 (Hvh. U.V.).

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Ulrike Vedder Der Begriff Widerstand, der den durch die Nazizeit gegangenen Menschen geläufig geworden war, hatte nichts zu tun mit Antigones Widerstand. […] Ja, man kann sagen, daß das immer noch human-personale Moment, das bei aller Tyrannis des Kreon noch in die Beziehung und Auseinandersetzung zwischen ihm und Antigone eingeht, dasjenige ist, das [nach 1945] keinerlei ›Identifizierung‹ mehr mit ihr möglich macht. 3

Ähnlich dezidiert formuliert Bertolt Brecht im Jahr 1948 in Antigonemodell 1948: Antigone als »die große Figur des Widerstands im antiken Drama repräsentiert nicht die Kämpfer des deutschen Widerstands, die uns am bedeutendsten erscheinen müssen.«4 Wenn es aber nicht der Modus der Repräsentation ist, in dem diese Figur des antiken Dramas auf die Gewalterfahrungen und Schuldverhältnisse der NS-Zeit bezogen werden kann, so stellt sich die Frage, welche Funktionen Antigone abseits einer scheitern müssenden Repräsentation – im Sinne einer Abbildbarkeit des Gegenwärtigen auf das Vergangene – in jenen Texten nach 1945 übernimmt, die Krieg, Verfolgung und Traumatisierung anhand der Figur der Antigone thematisieren. Was also ›leistet‹ Antigone? Oder nochmals mit Brecht formuliert, der über seine Arbeit an der Antigone des Sophokles sagt: »[…] philologische Interessen konnten nicht bedient werden. Selbst wenn man sich verpflichtet fühlte, für ein Werk wie die ›Antigone‹ etwas zu tun, könnten wir das nur so tun, indem wir es etwas für uns tun lassen.«5 Was also kann dieses »etwas« sein? Da diese Fragen nach den Funktionalisierungen und Artikulationsmöglichkeiten der Antigone hier im Kontext eines Nachdenkens über die literarische Darstellung traumatisierender Erfahrungen stehen, sollen zunächst einige Verfahren der Mythenrezeption bzw. Mythenkorrektur6 erörtern werden, die dezidiert ›nach 1945‹ angesiedelt sind. Dabei sind drei Antigone-Modelle der Jahre 1947 bis 1957 zu betrachten, die die jüngste Vergangenheit im Rückgriff auf antike Figurationen in sehr unterschiedlicher Weise reflektieren. Im Anschluss sei dann etwas ausführlicher ein Roman kommentiert, dem es gelingt, anhand der AntigoneFigur die Aspekte der Gewalt, des Überlebens und der Erinnerung in einer Weise zu verknüpfen, die einerseits mit der Schwierigkeit der Inanspruchnahme von Antigone umgeht und die andererseits die latente Gegenwart des Vergangenen, sein Nachleben und seine Spätfolgen darzustellen in der Lage ist: Grete Weils Roman Meine Schwester Antigone (1980).

3 | Ebd., S. 209. 4 | Brecht: Antigonemodell, S. 9. 5 | Ebd., S. 11. 6 | Vgl. Seidensticker/Vöhler: Mythenkorrekturen.

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2. A ntigone -M odelle 1947–1957 Mit George Steiner lässt sich sagen, die griechischen Mythen seien »eine Kurzschrift, deren Ökonomie unbeschränkte Variationen erzeugt«.7 Drei solcher Variationen seien nun erläutert, die so nur nach 1945 denkbar sind, die also alle einen Gegenwartsindex tragen, den sie aus der »Kurzschrift« gewinnen – wenn auch mit sehr unterschiedlichen Verfahren und Konsequenzen: Texte von Bertolt Brecht, Elisabeth Langgässer und Nelly Sachs. Im Zentrum steht dabei der Einsatz von Elementen des Antigone-Mythos8 für die Darstellung von Macht und Gewalt – und das heißt auch für die Problematik einer Darstellung von Undarstellbarem –, für das intrikate Verhältnis von Tod, Leben und Überleben in diesem Kontext und zudem für den schwierigen Umgang mit Erinnern und Vergessen, mit Vergangenem und Vergegenwärtigung, das heißt mit dem Zusammenhang von Trauma und Latenz.

2.1 Durchrationalisierung und Politisierung (Bertolt Brecht) 1948 legt Bertolt Brecht – erst im November 1947 aus den USA über Paris nach Zürich gekommen – in der Schweiz sein neues Stück Die Antigone des Sophokles vor. Darin unternimmt er einerseits eine radikale Aktualisierung des antiken Dramas, die andererseits auf der Grundlage von Hölderlins Sophokles-Übertragung erfolgt, das heißt in einem archaisierenden Sprachgestus gehalten ist.9 Parallel dazu entsteht mit dem Text Antigonemodell 1948 ein Aufführungsmodell des Antigone-Stücks mit programmatischen Überlegungen und inszenierungspraktischen Anweisungen zum epischen Theater. Daraus sollen hier nur einige Aspekte hervorgehoben werden, zunächst die Aktualisierung: »Für das vorliegende theatralische Unternehmen wurde das Antigonedrama ausgewählt, weil es stofflich eine gewisse Aktualität erlangen konnte und formal interessante Aufgaben stellte. Was das stofflich Politische betrifft, stellten sich die Analogien zur Gegenwart, die nach der Durchrationalisierung überraschend kräftig geworden waren, freilich als eher nachteilig heraus: die große Figur des Widerstands im antiken Drama repräsentiert nicht 7 | Steiner: Die Antigonen, S. 375. 8 | Mit dem Antigone-Mythos ist hier nicht ein geschlossener mythischer Text gemeint, sondern »ein Abstraktum, ein ideales Konstrukt«: »Antigone-Mythos als System von aufeinander bezogenen Texten« (Craciun: Die Politisierung, S. 6). 9 | Vgl. Brechts durchaus distanzierte Notiz vom 16.12.1947: »Auf Rat von Cas [= Caspar Neher] nehme ich die Hölderlinische Übertragung, die wenig oder nicht gespielt wird, da sie für zu dunkel gilt. Ich finde schwäbische Tonfälle und gymnasiale Lateinkonstruktionen und fühle mich daheim. Auch Hegelisches ist da herum. Vermutlich ist es die Rückkehr in den deutschen Sprachbereich, was mich in das Unternehmen treibt.« (Notizen zur Antigone, in: Brecht: Die Antigone, S. 110.)

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Ulrike Vedder die Kämpfer des deutschen Widerstands, die uns am bedeutendsten erscheinen müssen. […] Daß von ihnen [den deutschen Widerstandskämpfern] […] hier nicht die Rede ist, wird nicht jedem ohne weiteres klar sein, und nur der, dem es klar ist, wird das Maß von Fremdheit aufbringen, das nötig ist, soll das Sehenswerte dieses Antigonestückes, nämlich die Rolle der Gewaltanwendung bei dem Zerfall der Staatsspitze, mit Gewinn gesehen werden.«10

Es ist also nicht der Topos des Widerstands gegen Tyrannei, der Brecht hier interessiert, und es ist auch nicht die Sophokleische Antigone-Figur »auf der Schwelle zwischen antiker Heldengestalt und Märtyrerfigur avant la lettre«11. Gegen beides bietet Brecht seine Arbeit an einer Aktualisierung auf, die die Bedingungen eines »Zerfall[s] der Staatsspitze« erkennbar machen soll. Dafür, so hebt er hervor, bedarf es aber weder der Identifikation noch der Repräsentation, sondern der »Fremdheit«, die im Stück hauptsächlich durch zwei Verfahren erzielt wird. Ein erstes Verfahren besteht im Vorschalten eines sog. »Vorspiels«, das »Berlin. April 1945«12 datiert ist und so eine offensive Indizierung der Gegenwart – oder besser: der gerade erst vergangenen Vergangenheit – unternimmt. Zwei Schwestern werden mit der Hinrichtung ihres desertierten Bruders durch einen SS-Mann schockartig konfrontiert. Während die eine Schwester den gehenkten Bruder verleugnet, will die andere ihn, trotz der Bedrohung durch den SS-Mann, vom Haken schneiden. Dabei bleibt am Ende offen, ob sie das tatsächlich tut, und ob der Bruder vielleicht noch lebt. So lauten die letzten Verse des Vorspiels: »DIE ERSTE. Da sah ich meine Schwester an./Sollt sie in eigner Todespein/Jetzt gehen, den Bruder zu befrein?/Er mochte nicht gestorben sein.«13 Epische und dramatische Form stehen nebeneinander und erzeugen reflektierte Distanz: Die Figuren agieren im Präsens, das heißt im dramatischen Modus, und treten zugleich aus ihrer Rolle heraus ins epische Präteritum, wenn sie ihr Tun beobachten und kommentieren. Der Konflikt zwischen den Schwestern, die Schwester-Bruder-Konstellation, das Machtgefälle und die Todesdrohung sind Elemente des Antigonemythos, der im direkten Anschluss an das »Vorspiel« zur Aufführung kommt, und zwar im antiken Setting »Vor dem Palast des Kreon. Tagesanbruch«. Nach dem Berliner »Vorspiel« erscheint nun diese Szenerie umso ferner und fremder, und zugleich ist sie durch das »Vorspiel« in gewisser Weise ›kontaminiert‹, zumal wieder zwei Schwestern auf der Bühne erscheinen, die nun das berühmte Zwiegespräch des Sophokleischen Prologs führen. Das zweite Verfahren zur Produktion von Fremdheit fasst Brecht im Begriff der »Durchrationalisierung«14. Damit treibt er dem Stück die mythisch-transzen10 | Brecht: Antigonemodell, S. 9f. 11 | Weigel: Schauplätze, S. 27. 12 | Brecht: Die Antigone, hier S. 2275. 13 | Ebd., S. 2279. 14 | Brecht: Antigonemodell, S. 9.

Trauma und Mythos

denten Begründungszusammenhänge aus, wobei er zugleich die sophokleische Struktur beibehält, neben dem Handlungsgerüst auch Motive sowie zum Teil wörtliche Übereinstimmungen. An die Stelle von Schicksal und religiösem Bezugsrahmen tritt die durchgängige Einfügung neuer inhaltlicher Elemente, die auf das Historische verweisen, nicht auf das Mythische: Kreon als gewissenloser Diktator, dem Antigone zum Opfer fällt; Polyneikes ist kein Verräter, sondern ein Deserteur (»Weinend/Reitet er aus unfertiger Schlacht«15); Theben führt Krieg als Angriffskrieg, nicht zur Verteidigung; für den Frieden würde Antigone eine Niederlage Thebens in Kauf nehmen: »Besser zwischen den Trümmern der eigenen Stadt/Säßen wir doch und sicherer auch«.16 Gerade in Letzterem sieht Brecht Antigones große Tat: »Die große sittliche Tat der Antigone, die sich gegen den Tyrannen auflehnt, besteht darin, daß sie, bewegt durch tiefe Menschlichkeit, nicht zögert, durch offenen Widerstand das eigene Volk in die Gefahr des Besiegtwerdens in einem Raubkrieg zu bringen.«17 Tod und Untergang sind bei Brecht keinem unerkennbaren Schicksal geschuldet, sondern politischem Handeln, das im Stück erkennbar gemacht wird: Wenn Antigones Auflehnung, die bei Sophokles aus der verbotenen Bestattung des Bruders motiviert ist, bei Brecht aus Kreons Tyrannei folgt, so findet eine Politisierung statt, die auch an zahlreichen weiteren Handlungen und deren Herleitungen deutlich wird. Dem entspricht auf der Ebene des dramatischen Modus die Episierung, durch die das dramatische Personal zum distanzierten Beobachter und Berichterstatter seiner selbst wird. Eine solche Durchrationalisierung zielt nicht auf die Aneignung einer antiken Vorlage, sondern auf ihren Gebrauch, dessen Ziel es ist, »einen realen Vorgang […], nämlich den Untergang des Herrscherhauses des Ödipus«18 begreif bar zu machen. Deshalb kann Brecht auch die Frage »Geht eure Darstellungsweise nicht den ›Untiefen der menschlichen Seele‹ aus dem Weg?« mit einem bündigen »Nein.« beantworten.19 Mit dieser Entscheidung wird allerdings nicht nur das allzu Naheliegende der Antigone als Bewältigungsfigur, die auf ihren Widerstand gegen den Willkürherrscher und ihre Menschlichkeit gegenüber den Lebenden und den Toten setzt, auf offensive Weise in die Distanz gerückt. Sondern, so formuliert Brecht mit Bedauern selbst, von den »Kämpfer[n] des deutschen Widerstands« – und es ist anzufügen: ebenso von den Verfolgten – ist »auch hier nicht die Rede«.20

15 | Brecht: Die Antigone, S. 2280. 16 | Ebd., S. 2297. 17 | Brecht: Anmerkungen, S. 46. 18 | Ebd., S. 45. 19 | Brecht: Antigonemodell, S. 37. 20 | Ebd., S. 9f.

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2.2 Christianisierung und Universalisierung (Elisabeth Langgässer) Die kurze Erzählung Die getreue Antigone (1947) von Elisabeth Langgässer erzählt von einer jungen Frau namens Carola, deren Bruder Clemens im KZ Mauthausen ermordet wurde und die nun das Grab eines unbekannten gefallenen Soldaten pflegt. Ihr Geliebter macht ihr deswegen Vorwürfe: »das alles für einen Fremden, von dem du nicht einmal weißt – […] Was er für einer war. […] Vielleicht ein SS-Kerl.«21 Carolas Ziel hingegen: »Damit er … Ruhe hat«.22 Die so erwünschte Versöhnung, ja Erlösung wird geradezu aufdringlich im christlichen Kontext verortet, was zugleich heißt: im explizit nicht-jüdischen Kontext. So trägt der ermordete Bruder den bedeutenden Papstnamen ›Clemens‹, und Carola wünscht am Ende, ihr Geliebter möge als Ministrant in der katholischen Messe fungieren. Die religiöse Dimension des antiken Dramas wird umstandslos ins Christliche übertragen und mit Erlösung verbunden. Ja mehr noch, die Erzählung entwirft eine Verschmelzung von christlicher Religion, Liebe und All-Natur, wenn es um die Frage der Seelenrettung geht 23: Carola »richtete ihre Fragen an einen ganz anderen. ›Ist das Sterben schwer? Du kannst es mir sagen. Der Augenblick, wo sich die Seele losreißt von allem, was sie hat?‹ Nun bewegte sich doch noch ein leiser Wind und hob die äußersten Enden der Weißdornzweige empor; die schräge fallenden Sonnenstrahlen wanderten über den Stahlhelm und entzündeten auf der erblindeten Fläche einen winzigen Funken von Licht.« 24

Die Erzählinstanz stellt dieses Geschehen – im Titel und nur dort – unter den Namen »Antigone« und betreibt dabei eine christlich konzipierte Universalisierung: Alle Toten, seien sie Verfolgte, Wehrmachtssoldaten oder SS-Angehörige, werden in fürsorglicher Versöhnung gleich. »Antigone« dient dabei nurmehr als Chiffre für Treue und Glauben, die die Voraussetzung für Seelenrettung sind – während das Politische diffundiert. Ebenso verschwindet der Schock der Strafe, die Antigone für ihre Tat erleidet: lebendig begraben zu werden, von ihrem Selbstmord ganz zu schweigen. Und auch ihre Zugehörigkeit zum tyrannischen Herrscherhaus, die Brecht in seinem Antigone-Stück herausstellt (weil Antigones Widerstand nur dank ihrer Zugehörigkeit zum Herrscherhaus eine solche Wirkung für den »Zer-

21 | Langgässer: Die getreue Antigone, S. 243. 22 | Ebd., S. 246. 23 | »Eine als mitfühlend geschilderte Natur, der zu sanfter Entschiedenheit gedämpfte Charakter der Heldin und die Figur eines sich ihr in kreatürlicher Ergebenheit anschmiegenden Jünglings, all diese narrativen Elemente verschmilzt die Autorin zu einem Sehnsuchtsbild kosmisch-heiligen, erotisch getönten Friedens.« (Bossinade: Das Beispiel, S. 123.) 24 | Langgässer: Die getreue Antigone, S. 245.

Trauma und Mythos

fall der Staatsspitze«, der Brecht allein interessiert, entfalten kann),25 ist in Langgässers Erzählung an keiner Stelle relevant. Langgässers Die getreue Antigone erscheint demnach als ein vor Sinnstiftung bedeutungsschwerer, ja geradezu abgeschotteter Text, in dem keine Irritation eine Lücke für Unverständliches, Inkohärentes oder Undarstellbares lässt. Und so wird zwar die beängstigend unbeantwortbare Frage »Ist das Sterben schwer?« im Text gestellt, aber schnell zur Seite geschoben. Dabei könnte sie doch an den Schock erinnern, den die sophokleische Antigone artikuliert – obwohl sie auf den Tod vorbereitet zu sein glaubte –, wenn nämlich der Gang ins Felsengrab vollzogen werden soll und sie ganz allein ihre eigene Totenklage anstimmen muss. So heißt es bei Sophokles im 4. Auftritt: Wie unbeweint von Freunden, nach was/Für Recht ich muß in den Kerkerschacht,/Ins unerhörte Grab./Io! Ich Unselige hause/Nicht lebendig bei Menschen/Noch bei Toten ein Toter. […] Du rührst an das Wundeste meiner Not,/Wieder und wieder aufgerissen:/Vaters Unheil […] Unbeweint, ungeliebt, unvermählt/Führen sie mich den beschloßnen Weg./Nie mehr darf ich Arme dich schauen,/Heiliges Auge des Lichts,/Und mein Los beklagt/Keines Freundes Träne. 26

Doch Schock und Klage spielen für Elisabeth Langgässers Antigone-Figur keine Rolle, auf deren Treue allseits mit Treue geantwortet wird – seitens der Toten, des Geliebten, eines christlichen Gottes.

2.3 Vergegenwärtigung und Rettungslosigkeit (Nelly Sachs) Ein drittes Modell lässt sich anhand eines Gedichts von Nelly Sachs entwickeln, die seit 1940 im Exil in Schweden lebte, von wo aus sie nicht dauerhaft nach Deutschland zurückkehrte. Der Titel des Gedichts, 1957 in dem Band Und niemand weiß weiter publiziert, lautet Gebogen durch Jahrtausende und zählt zum Zyklus »Von Flüchtlingen und Flucht«.27 Die ersten beiden Verse lauten: »Traumgebogen weit, weiter/sternenrückwärts in der Erinnerung« – eine Rückwärtsbewegung also in Richtung auf eine Erinnerung, die gleich in der ersten Strophe mit »Staubsäulen«, »Kanaan« und »Wüste mit Honig und Milchgeschmack« verbunden wird: der Weg durch Wüste und Staub in ein zugleich erinnertes und gelobtes Land, in eine Vergangenheit und zugleich eine versprochene Zukunft. Doch die Traum25 | Vgl. z.B. Brechts Gestaltung von Antigones Gang in den Tod: »Über den Platz dort/Ging sie, wo schon die Säulen des Siegs/Ehern errichtet sind. Schneller ging sie da;/Schwand./ Aber auch die hat einst/Gegessen vom Brot, das in dunklem Fels/Gebacken war. In der Unglück bergenden/Türme Schatten: saß sie gemach, bis/Was von des Labdakus Häusern tödlich ausging,/Tödlich zurückkam.« 26 | Sophokles: Antigone, vv. 848-853, 858ff, 876-882. 27 | Sachs: Gebogen, S. 14f. Im Folgenden zitiert ohne Seitenangabe.

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reise führt im Folgenden nicht aus dem ägyptischen Exil ins gelobte Land der biblischen Tradition, sondern durch verschiedene Szenarien hindurch, die untereinander verbunden sind durch die Thematik von Todesdrohung und Vergeltung, von Widerstand und Gehorsam. Zwei dieser Szenarien sollen nun interessieren: Und wieder ein Strahlenfinger,/hoch zeigend durch Bibelnacht/auf Tyrannenwort,/Rizpa,/ das Muttergestirn,/gehorsam ihrer Herzader,/ließ Schakale abfallen/wie Mondwasser/von der Söhne über/den Tod verurteilten Leichenhaut. Tiefer in Aschenzeit,/auch Antigone/siebte Freiheit/im Echo des Staubes –

Zusammengefügt werden hier hellenistische und alttestamentarische Figuren: Antigone und Rizpa. Rizpa, deren Geschichte im Buch Samuel erzählt wird, hat mit dem inzwischen verstorbenen König Saul zwei Söhne (vgl. 2. Sam. 21). Als unter König David eine Hungersnot herrscht und er nach Abhilfe sucht, eröffnet ihm Gott, dass eine alte Blutschuld gesühnt werden müsse, die zwischen Saul und den Gibeonitern herrsche. Die Gibeoniter fordern die Hinrichtung von sieben Nachkommen Sauls, Blutrache also; dies geschieht – und zwar ohne Bestattung der Gehenkten. Damit sind sie, wie es im Gedicht heißt, »über den Tod« hinaus »verurteilt«.28 Den beiden weiblichen Figuren Antigone und Rizpa ist gemeinsam, entgegen herrscherlicher Weisung – durch Kreon bei der einen, durch König David bei der anderen – ihren Toten einen verbotenen Dienst zu erweisen, damit diese doch ins Totenreich eingehen können: jene Toten, die aus Gründen der Staatsräson, wie in beiden Fällen behauptet wird, nicht bestattet werden dürfen. Antigone bedeckt ihren Bruder Polyneikes mit Staub; Rizpa, »gehorsam ihrer Herzader« und nicht dem König, verjagt tags die Vögel und nachts die wilden Tiere, die ihren gehenkten Söhnen zu nahe kommen. Als König David von dieser mütterlichen Totenwache erfährt, lässt er die Gehenkten doch bestatten. Über diese Antikebezüge des Gedichts hinaus sind Bezüge auf das Vernichtungsgeschehen der NS-Zeit unverkennbar, die Nelly Sachs’ Lyrik immer wieder bestimmen, so auch hier: »Tyrannenwort«, »Leichenhaut«, »Aschenzeit«. Begriffe und Bilder werden im Gedicht in Beziehung gesetzt – zunächst im Modus des Nacheinander, entlang dem Zeitbogen, auf dem zurückgegangen wird; dann aber zeigt sich, dass die Zeitebenen einander durchsetzen. Alte und jüngste Vergangenheiten sind ineinander geschoben – nicht Teleologie, sondern Téléscopage. In psychoanalytischer Hinsicht hat Haydée Faimberg den Begriff der Téléscopage genutzt, um das Phänomen der Transgenerationalität der Shoah-Traumatisierung zu bezeichnen. Damit kommt eine Zeitrechnung des Traumas ins Spiel, die durch den Modus der Nachträglichkeit ebenso gekennzeichnet ist wie durch die Wiederholung. Die transgenerationelle Traumatisierung, so Faimberg, stelle eine »Ineinanderrückung der Generationen« dar und vermittele so »die Gewiß-

28 | Vgl. Sophokles: Antigone, vv. 1029f.: »Ist das ein Sieg, den Toten nochmals töten?«

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heit einer kreisförmigen, sich immer wiederholenden Zeit«,29 die auf die Herstellung von Gegenwärtigkeit und auf eine Simultaneität der Toten und der Lebenden ausgerichtet ist. In der Moderne mit ihrem Zeitkonzept der Progression und Futurisierung sowie der diesem Konzept innewohnenden Notwendigkeit des Vergessens und der beständigen Innovation durch die jeweils junge Generation30 stellt es allerdings ein pathologisches Verhalten dar, das Vergangene stets gegenwärtig halten zu müssen. Auch in den Geschichten von Rizpa und Antigone geht es um ein Ineinanderrücken der Generationen (die späteren Nachkommen haben für die Schuld des längst verstorbenen Saul zu büßen; Antigones Vater ist zugleich ihr Bruder), verbunden mit der genannten Struktur von Wiederholung und Vergegenwärtigung (so etwa wenn die Flucht aus Ägypten durch das geteilte Meer mit einer Angstszene an einer Mauer verbunden wird, die die Assoziation mit Erschießungen nahelegt: »die Flucht abgeschnitten/mit des Meeres weinendem Schwert/oder/ im Angstschweiß vergraben/an einer Mauer«). Die »traumgebogen« rückwärts laufende Erinnerungsbewegung folgt keinem linearen Zeitstrahl. Folglich tritt an die Stelle einer kohärenten Narrativierung hier eine lyrische Schreibweise der Schnitte und Verknüpfungen, die einerseits hermetische Züge hat, andererseits aber eine literarische Fassung traumatischer Erinnerungen erlaubt. Die »Wüste« als Bild für Exil und Suchbewegung des Volkes Israel im hebräischen Testament, der »Staub« der Antigone-Tragödie der hellenischen Antike und die »Asche« der Vernichtungslager überlagern und durchdringen einander – nicht um wie in Langgässers Erzählung in unspezifischer Vermischung unerkennbar zu werden, sondern im Gegenteil: um das Sehnsuchtsbild des Gelobten Landes, das zugleich von Schreckensszenarien durchsetzt ist, aus der Perspektive von Exil und Vernichtung im 20. Jahrhundert her erkennbar zu machen. Dementsprechend formulieren die letzten beiden Strophen in Nelly Sachs’ Gedicht ein rettungsloses Ende: Flucht aus den schwarzgebluteten Gestirnen/des Abschieds,/Flucht in die blitztapezierten/Herbergen des Wahnsinns, Flucht, Flucht, Flucht/in den Gnadenstoß der Flucht/aus der zersprengten Blutbahn/kurzer Haltestelle –

Eine Bilderflut unmöglicher Fluchten bricht im Gedankenstrich ab, der hier eine Lücke markiert, ein Nicht-weiter-Können.31 Ein solches Ende überhöht die Antigone-Figur nicht, sondern zeigt die Unmöglichkeit einer rettenden Flucht, und das heißt: die Unmöglichkeit eines Überlebens ebenso wie die Unmöglichkeit einer Erlösung. 29 | Faimberg: Die Ineinanderrückung, S. 128. Vgl. auch Faimberg: The Telescoping. 30 | Vgl. Parnes/Vedder/Willer: Das Konzept, Kap. 5. 31 | Vgl. Vedder: Verhoffen, S. 345-361.

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3. G re te W eil : »M eine S chwester A ntigone « (1980) Grete Weil emigrierte 1936 ins Amsterdamer Exil, 1941 wurde ihr Mann im KZ Mauthausen ermordet. Sie war im Jüdischen Rat tätig, tauchte dann im September 1943 in Amsterdam unter und lebte dort ein Jahr lang im Versteck; 1947 kehrte sie nach Deutschland zurück. In einer ganzen Reihe von Prosatexten hat Grete Weil die Gegenwart des Vergangenen thematisiert; das spricht schon aus den Titeln ihres Romans Generationen (1983) oder ihrer Erzählsammlung Spätfolgen (1992) – eine Téléscopage also zwischen Krieg/Shoah und der Gegenwart der Bundesrepublik Deutschland. In ihrem Roman Meine Schwester Antigone (1980) kommt eine dritte Zeitebene hinzu: das antike Theben. Während der Roman zunächst Die Todestreppe heißen sollte – bezogen auf die berüchtigte Todestreppe in Mauthausen –, wählte der Verlag den Titel Meine Schwester Antigone und reagierte damit auf die zeitgenössische Aufmerksamkeit für den Einsatz des Antigone-Mythos in Debatten um den bundesdeutschen RAF-Terrorismus.32

3.1 Antigone schreiben, Antigone überleben Die Ich-Erzählerin ist eine alte Schriftstellerin, die schon lange ein AntigoneProjekt verfolgt, ohne damit voranzukommen. Das »schwarzgebundene Heft, auf dem der Arbeitstitel ›Antigone‹ steht«,33 enthält Skizzen, Szenen, Vorarbeiten, die immer wieder im Roman auftauchen, sich aber zu keinem Ganzen fügen wollen, im Gegenteil: Je weiter der Roman voranschreitet, desto mehr zerfällt das Antigone-Bild. Zunächst wird die Antigone-Figur noch als diejenige bezeichnet, mit der »gut […] umzugehen« ist, »mein Lieblingsspielzeug«, »es ist alles klar zwischen uns« (10f.). Dieses Näheverhältnis wird mehrfach artikuliert, wenn die Protagonistin eine Ich-Rede der Antigone entwirft, wenn sie nach »Ähnlichkeiten« (38) zwischen sich und Antigone sucht, wenn sie beider Schicksale parallelisiert: Ich glaube ihr einfach nicht, daß es sie in ihrem rasenden Schmerz interessierte, was mit seiner [= Polyneikes] Leiche geschah. ›Das Schlimmste ist‹, sagte meine holländische Putzfrau […], als Waiki [der Ehemann der Ich-Erzählerin] in Mauthausen ermordet worden war, ›daß er kein Grab hat.‹ Nein, das ist das einzige, das nicht schrecklich ist. (12)

Dieses Näheverhältnis gegenüber Antigone ist zwar schwierig, doch hält die IchErzählerin an ›ihrer‹ Figur fest: Ich möchte ein Buch schreiben über ein Mädchen, das sich von mir nicht schreiben lassen will, meinen Eigensinn an ihrem Eigensinn messen, sehen, wer zum Schluß die Oberhand 32 | Vgl. den Film Deutschland im Herbst 1978 mit Volker Schlöndorffs Antigone-Episode; 1979 sind drei Antigone-Inszenierungen zum Berliner Theatertreffen eingeladen. 33 | Weil: Meine Schwester, S. 9. Im Folgenden zitiert mit Seitenzahl im Text.

Trauma und Mythos behält. Einmal muß sie mir ja antworten auf meine Frage, warum sie dieses kindische Begräbnis inszenierte, das niemandem half, ihr das Leben kostete und in Theben alles beim alten beließ. Warum hat sie, die zu jedem Opfer Bereite, Kreon nicht umgebracht? Fürchtete sie sich davor, die Macht zu übernehmen? (17)

Erst über 30 Seiten später wird deutlich, dass auch diese aggressiven Fragen an Antigone ein Näheverhältnis zur Ich-Erzählerin etablieren, stellt sie doch an sich selbst dieselben Fragen: »Warum habe ich den Hauptsturmführer nicht umgebracht bei der großen Razzia im Juni 43 […]? Ich trug die Armbinde des Jüdischen Rates, konnte mich frei bewegen, brauchte nur an ihm vorbeigehen und abdrücken. Den Revolver, den ich nicht hatte, doch warum hatte ich ihn nicht?« (51f.) Das Schreibprojekt im Roman stellt also den Versuch dar, anhand der Antigone-Figur die Erinnerungsbilder traumatischer Erlebnisse in eine erkennbare und erzählbare Ordnung zu bringen: »Antigone fungiert für die Ich-Erzählerin […] als ein Medium des Erinnerns, das das unkontrollierbare Auferstehen, die Allgegenwart der Bilder traumatischer Erlebnisse zu ersetzen trachtet durch den Versuch eines konsistenteren Durchquerens der Ereignisgeschichte […], um im Modus eines – auch historischen – Erkennens etwas von der traumatischen Last abzubauen«.34 Das Unbegreifliche und Unzumutbare einer zweifachen ›Schuld‹ der Ich-Erzählerin – nicht gehandelt zu haben und überlebt zu haben – soll in eine narrativ und historisch kohärente Ordnung überführt werden, die sich einer Identifizierung mit Antigone, einer Schwesternschaft mit ihr, einer neuen mythisierenden Variation der Antigone-»Kurzschrift« (George Steiner) verdanken würde. Der Roman, der von diesem Schreibprojekt erzählt, verhandelt demnach auch das Dilemma einer kohärenten Narrativierung des Traumas: Einerseits hilft sie der Erzählerin zu überleben, andererseits trägt sie dank der damit verbundenen Sinnstiftung zum Vergessen bei, insofern die Erzählmuster die Singularität der traumatisierenden Erfahrung überlagern.35 Der Roman stellt dieses Dilemma dar und arbeitet sich aus ihm heraus, nicht zuletzt dank seines reflexiven Einsatzes solcher Erzählmuster, die auf vielschichtige Weise hintertrieben werden: beispielsweise durch Spaltungen und Verdopplungen von Zeitsträngen oder Figurenidentitäten, durch unzuverlässige Erinnerung und unkommentierte Auslassung, durch das Nebeneinanderstellen so unterschiedlicher Register wie des Autobiographischen, des Fiktionalen, des Mythischen und des Dokumentarischen36 – allesamt Versuche, das Inkommensurable der Latenzen und Einbrüche traumatischer Erfahrungen literarisch zu artikulieren.

34 | Braese: Die andere Erinnerung, S. 522f. 35 | Vgl. zum Darstellungsproblem von Traumata v.a. Caruth: Trauma, sowie Bronfen/ Erdle/Weigel: Trauma. 36 | »Thus, narrative constellations and textual juxtapositions record contradictory and incompatible experiences – memories of traumatic moments difficult to integrate. The

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Das, was so viele Antigone-Adaptionen vor und nach 1945 unternommen haben, nämlich der Einsatz der Antigone als Bewältigungs- und Beruhigungsfigur, will der Ich-Erzählerin in Grete Weils Roman nicht gelingen. Denn diese Funktion Antigones wird im Roman durch die Ich-Erzählerin selbst auf schmerzhafte Weise erkannt, und zwar anhand von Antigones berühmtem Satz »Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da«. Dieser Satz begleitet die Ich-Erzählerin stets, wie sie zu Beginn des Romans formuliert: »Zum Hasse nicht, zur Liebe bin ich. Manchmal denke ich ihn [Antigones Satz] auch, wie er meistens zitiert wird: Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da. Doch gefällt mir die einsamere, hochmütigere Fassung Hölderlins besser.« (12)37 Doch kurz darauf wird die alte Ich-Erzählerin mit einer jungen Frau konfrontiert, die als Sympathisantin des bundesdeutschen RAF-Terrorismus sich für kurze Zeit bei ihr versteckt: Sie interessiert sich nicht für die Verfolgungsgeschichte der alten Frau, erinnert in ihrer kompromisslosen Art die Ich-Erzählerin aber an ein Leben im Widerstand, woraufhin, wie es heißt, ›die Wunde aufreißt‹: Mein oberflächliches Leben, mein vergnügliches Leben, zwölf Jahre weggewischt, immer so tun als ob, Mauthausen ist nie gewesen, wie könnte ich atmen, wenn es gewesen wäre. Nicht hassen, lieben; Antigones vieldeutigen Satz verfälschen, den Satz, der ihr den Tod brachte, zum Leben mißbrauchen. Ausreden, Ausreden. (86)

Die Ich-Erzählerin erkennt hier die »Ausreden«, die auch Elisabeth Langgässers Erzählung prägen und die von Käte Hamburger und Bertolt Brecht als eine Gefahr erkannt worden sind, die es zu vermeiden gilt – mit der bereits genannten Konsequenz, dass bei Brecht von den »Kämpfer[n] des deutschen Widerstands« »nicht die Rede« ist.38 Grete Weils Roman aber zeigt diese »Ausreden« mit aller Bitterkeit als ein Medium des Weiterlebens und Überlebens. So hat es der Satz »Nicht hassen, lieben« der Ich-Erzählerin erlaubt, »den Weg zurück ins Land der Mörder« zu gehen, »während die Liebe der mythologischen Antigone-Fabel doch gerade tödlich bestrafte Loyalität zum Bruder gewesen war.«39 Konsequenterweise imaginiert die Ich-Erzählerin am Ende die Antigone-Figur zwar als diejenige, die den Hauptscharführer mit dem Revolver erschießt, mit den umgekehrten Worten »Nicht mitzulieben, mitzuhassen bin ich da.« (151) Antigone vollbringt also nachträglich die ersehnte Tat, indem sie eine Umkehrung ihres berühmten

most striking of these textual juxtapositions is the insertion of an eyewitness report of the liquidation of the Polish ghetto in Petrikau.« (Baackmann: Configurations, S. 275.) 37 | Der Roman bezieht sich nicht nur auf die Antigone-Figur des Sophokles, sondern auch auf deren Rezeption durch Hölderlin, Goethe, Kerényi, Schadewaldt u.a., vgl. Meyer: Neinsagen, S. 246f. 38 | Brecht: Antigonemodell, S. 10. 39 | Braese: Die andere Erinnerung, S. 533.

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Satzes, dieses »zum Ideologem erstarrten Credos humanistischen Denkens«40 formuliert – und damit in gewisser Weise Käte Hamburgers Ansicht spiegelt, das »human-personale Moment« der Sophokleischen Antigone sei mit der Erfahrung von Krieg und Vernichtung im 20. Jahrhundert nicht zu vermitteln.41 Allerdings ist durch Antigones Tat in Grete Weils Roman nichts gut gemacht, kommt sie doch für immer zu spät. Darüber hinaus ist die mythische Antigone damit als Bewältigungsfigur verloren; folglich heißt es: »Plötzlich lasse ich sie [Antigone] los, sie fällt zu Boden, bleibt liegen, wie sie gefallen ist. Ich laufe fort, laufe, laufe.« (152) Während also in Elisabeth Langgässers Erzählung die Protagonistin tatsächlich eine »getreue Antigone« darstellt, »nämlich eine Figur, die ein altes Modell neu beglaubigt«,42 fungiert Antigone in Nelly Sachs’ Gedicht Gebogen durch Jahrtausende ebenso wie in Grete Weils Roman als Handelnde und als Erinnerungsfigur, ohne jedoch zur rettenden Widerstands-, Bewältigungs- oder Erlöserfigur zu avancieren, im Gegenteil: »Flucht, Flucht, Flucht« heißt es bei Nelly Sachs, am Ende durch einen Gedankenstrich unterbrochen; »Ich laufe fort, laufe, laufe« in Grete Weils Roman, dessen letzter Satz lautet: »Und morgen?« (153) Das Überleben ist hier eines ohne Rettung. Und auf diese Weise ist es doch möglich, davon zu sprechen, wovon Brechts Stück nicht erzählen konnte und wollte: von Widerstand, Verfolgung, Vernichtung, Traumatisierung, ohne dafür eine beruhigende Mythologisierung der Antigone-Figur zu betreiben.

3.2 ›Spätfolgen‹: Die alte Antigone In Grete Weils folgendem Roman Generationen (1983) ist der letzte Abschnitt mit »Noch einmal Antigone« überschrieben, was sich als ein wiederholter Auftritt (noch einmal) verstehen lässt, aber auch als ein letztes Auftauchen (noch einmal). Die Ich-Erzählerin imaginiert hier eine Antigone, die dem Tod entkommen ist – ein ebenso unwahrscheinliches Entkommen wie das, das der Ich-Erzählerin zuteil geworden ist, »deren Tod ja gleichfalls beschlossene Sache war«.43 Diese gealterte Antigone, eine Überlebende, hat sich über alles beruhigt, denkt kaum noch an das Felsengrab, von dem niemand mehr spricht. Theben ist inzwischen ein Rechtsstaat, »[n]iemand will an die blutige Vergangenheit erinnert werden.«44 Dann aber, nach Jahrzehnten, beginnt eine Rückschau, die durch ein Theaterstück initiiert wird – das sich als Anspielung auf die Holocaust-TV-Serie verstehen lässt –, weitere öffentliche Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit folgen. Alle wollen nun von Antigone wissen, was sie damals dachte und fühlte. Doch 40 | Weigel: Die Stimme, S. 302. 41 | Hamburger: Von Sophokles, S. 209. 42 | Bossinade: Das Beispiel, S. 124. 43 | Weil: Generationen, S. 210. 44 | Ebd.

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sie kann das nicht, wie gefordert, ›aufarbeiten‹, rückt immer weiter fort von den anderen Thebanern, leidet. Dann heißt es: »Eines Tages stirbst du. Die Ärzte wissen genau, an welchen Krankheiten – bei sehr alten Menschen kommen meist viele zusammen. Aber das Felsengrab, an dem du in Wahrheit zugrunde gehst, ist nicht dabei.«45 Der Tod aus Altersschwäche ist nicht ›natürlich‹, sondern eine Spätfolge – die andere Zeitrechnung des Traumas, das andere Wissen dieser Antigone-Texte.

L iter atur Baackmann, Susanne: »Configurations of Myth, Memory, and Mourning in Grete Weil’s ›Meine Schwester Antigone‹«, in: The German Quarterly 73 (2000), S. 269-286. Bossinade, Johanna: Das Beispiel Antigone. Textsemiotische Untersuchungen zur Präsentation der Frauenfigur von Sophokles bis Ingeborg Bachmann, Köln u.a. 1990. Braese, Stephan: Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur, Berlin/Wien 2001. Brecht, Bertolt: Die Antigone des Sophokles. Materialien zur Antigone, Frankfurt a.M. 1965. — »Anmerkungen zur ›Antigone‹ des Sophokles«, in: ders., Schriften zum Theater. Band 4, Berlin/Weimar 1964, S. 45-49. — »Antigonemodell 1948«, in: ders., Schriften zum Theater. Band 4, Berlin/Weimar 1964, S. 7-49. — »Die Antigone des Sophokles«, in: ders., Gesammelte Werke. Band 6, Frankfurt a.M. 1967, S. 2273-2327. Bronfen, Elisabeth/Erdle, Birgit/Weigel, Sigrid (Hg.): Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster, Köln 1999. Caruth, Cathy (Hg.): Trauma. Explorations in Memory, Baltimore 1995. Craciun, Ioana: Die Politisierung des antiken Mythos in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Tübingen 2000. Faimberg, Haydée: »Die Ineinanderrückung (Telescoping) der Generationen. Zur Genealogie gewisser Identifizierungen«, in: Jahrbuch der Psychoanalyse 20 (1987), S. 114-142. — The Telescoping of Generations. Listening to the Narcissistic Links Between Generations, London/New York 2005. Hamburger, Käte: Von Sophokles zu Sartre. Griechische Dramenfiguren antik und modern, Stuttgart u.a. 51974 [1962]. Langgässer, Elisabeth: »Die getreue Antigone«, in: dies., Erzählungen, Düsseldorf 1964, S. 241-246. 45 | Ebd., S. 213.

Trauma und Mythos

Meyer, Uwe: »Neinsagen, die einzige unzerstörbare Freiheit«. Das Werk der Schriftstellerin Grete Weil, Frankfurt a.M. 1996. Parnes, Ohad/Vedder, Ulrike/Willer, Stefan: Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt a.M. 2008. Sachs, Nelly: »Gebogen durch Jahrtausende«, in: dies., Werke (Hg. A. Fioretos). Band 2, Frankfurt a.M. 2010, S. 14-15. Seidensticker, Bernd/Vöhler, Martin (Hg.): Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption, Berlin/New York 2005. Sophokles: Antigone. (Deutsch von W. Kuchenmüller), Stuttgart 2000. Steiner, George: Die Antigonen. Geschichte und Gegenwart eines Mythos, München 1988. Vedder, Ulrike: »›Verhoffen‹: Gedankenstriche in der Lyrik von Ingeborg Bachmann, Nelly Sachs und Paul Celan«, in: A. Nebrig/C. Spoerhase (Hg.), Die Poesie der Zeichensetzung. Studien zur Stilistik der Interpunktion, Bern u.a. 2012, S. 345-361. Weigel, Sigrid: Die Stimme der Medusa. Schreibweisen in der Gegenwartsliteratur von Frauen, Dülmen 1987. — »Schauplätze, Figuren, Umformungen. Zu Kontinuitäten und Unterscheidungen von Märtyrerkulturen«, in: dies. (Hg.), Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern, München 2007, S. 11-37. Weil, Grete: Generationen, Zürich/Köln 1983. — Meine Schwester Antigone, Frankfurt a.M. 2000.

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Die Latenz der Naturgeschichte Sprache und Zeugenschaft in W.G. Sebalds Luftkrieg und Literatur Csongor Lőrincz

Die Rezeption des Essays Luftkrieg und Literatur von W.G. Sebald war bekanntlich bestenfalls gespalten, ansonsten überwogen in ihr vor allem Töne, die sich auf einer Skala von der Enttäuschung bis zur überlegenen Belehrung verteilten. Unabhängig von der Beantwortung der Frage, ob Sebald da tatsächlich einen neuralgischen Punkt der soziohistorischen, kulturellen und politischen Mentalität der Deutschen in der Nachkriegsepoche getroffen hat, ist es klar, dass dieses Thema ohne politische Nebenwirkungen nicht zu behandeln, gar überhaupt zu erwähnen ist.1 Jegliche Thematisierung dieser historischen Geschehnisse muss womöglich mit kontroversen Reaktionen rechnen. Diese scheinen bestimmte Frageinteressen und Dilemmata des Sebaldschen Textes öfters geradezu verdeckt zu haben. Bei solchen politisch intrikaten Problemen besteht immer die Gefahr, dass eine gestische Ebene Fragestellungen in den Hintergrund drängt, die auf jene Ebene möglicherweise nicht zu reduzieren sind. Überhaupt wird die Deixis des Gegenstandes »Luftangriffe auf Deutschland« unvermittelt als eine politische Gebärde aufgefasst und die Bedeutung dieses primär deiktischen (aber darin vielleicht nicht ganz aufgehenden) Diskurses erschöpft sich für viele bereits im Gebärdenhaften. So ist es symptomatisch, dass die meisten Kommentare sich auf weitere Dimensionen im Text von Sebald eigentlich nicht mehr einlassen. Diese Dimension stellt in der vorliegenden Arbeit die Problematik der historischen Zeugenschaft dar, welche Problemstellung gewissermaßen die Ebene der empirischen Ereignisse, auf die vordergründig referiert wird, auch übersteigt. Entlang dieses Komplexes sollen also im Folgenden verschiedene Schichten, überhaupt die zentrale geschichtstheoretische und anthropologische Perspektive des Textes 1 | Zur Sichtung verschiedener Vokabulare und Diskurse in den betreffenden Erinnerungspolitiken beider deutscher Staaten nach 1945 vgl. u.a. den Band Niven: Germans as Victims.

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freigelegt werden – und zwar in Verbindung mit bestimmten textuellen Aspekten, die gelesen werden wollen. Somit soll der Mitteilungsanspruch des Textes von Sebald nicht von vornherein beschnitten und die Interpretation mit Verweisen auf referentielle oder gar fragwürdige moralökonomische Momente nicht auf eine wahr-falsch-Alternative reduziert werden. Jedoch ist bei allem kritischen Lesen das politische Hauptproblem einer »Naturgeschichte der Zerstörung« nicht unbedingt auszuräumen, zumindest muss diese Möglichkeit hier offen bleiben, da eine Naturalisierung des Luftkriegs (und a fortiori der Geschichte) Gefahr läuft, letztlich den ganzen Krieg (und dabei vor allem die diesen auslösende Provokation seitens Nazideutschlands) quasi als Naturphänomen darzustellen und gewissermaßen zu legitimieren. Eine entsprechende Intention Sebald zuzuschreiben sollte zwar nicht als ausgemacht gelten, das Problem bleibt dennoch ohne Zweifel bestehen. Trotzdem besitzt der Text von Sebald eine Ausrichtung, deren Erkenntnisanspruch es verdiente, aufmerksam verfolgt zu werden. Zumal Bilder von den Schrecken des Luftkriegs im kollektiven Unbewussten weiterhin präsent zu sein scheinen (wohl nicht unabhängig von 9/11), wie dies etwa im Film Avatar zu sehen war. (Überhaupt kränkt die Debatte um »die Literaten und den Luftkrieg« daran, dass andere Medien und Künste in die Suche nach Zeugnissen nicht einbezogen werden, dabei stellt die zwischen 1947-1951 entstandene und auch eine symptomatische Aufnahme erfahrene Sinfonie in einem Satz von Bernd Alois Zimmermann ein markantes Beispiel der Bezeugung des Luftkrieges in der Musik dar.) »Naturgeschichte« könnte eher als Index der Unmöglichkeit jeglicher »Geschichtsphilosophie« begriffen werden.2 Vor allem markiert aber dieses Emblem eine Auslieferung der »humanen« Aspekte der Geschichte an die nicht-anthropomorphen Züge der Technik und der quasi-naturhistorischen Konsequenzen moderner Kriege. Es steht in Verbindung erstens mit der Ausnahme in prominentem Sinne, also mit dem Krieg, und zweitens mit einer Ohnmacht des Erleidens, die ein grundsätzliches Strukturmoment des Zeugen bezeichnet: die Passivität. Luftkrieg und Literatur wirft nämlich radikale Fragen in Bezug auf die Möglichkeiten der historischen Zeugenschaft auf – als eines Komplexes zwischen Öffentlichkeit und Latenz (Geheimnis), in welchem Zwischenraum jedes Zeugnis agiert. Diese Fragen werden von eventuellen Kurzsichtigkeiten oder Unausgewogenheiten bezüglich der historischen Hintergründe oder gar bestimmter 2 | »Die heutige Wende zur Anthropologie«, hat Odo Marquard 1973 festgestellt, besagt Folgendes: »die Geschichte scheint derart aussichtslos zu sein, daß einzig noch die radikale Nichtgeschichte, die Natur, als solider oder wenigstens praktikabler Bezugspunkt übrig bleibt; so ist die gegenwärtige Konjunktur der philosophischen Anthropologie und ihres Namens vor allem der Ausdruck für eine Krise des Vertrauens in die Geschichte und ihre Philosophie«. Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, S. 135. Wie weiter unten zu sehen sein wird, hat Adorno »die Idee der Naturgeschichte« indes bereits vor dem Zweiten Weltkrieg dialektischer zu fassen versucht, als dies in der Kompensationstheorie Marquards der Fall ist.

Die Latenz der Naturgeschichte

Selbstwidersprüche im Text noch nicht unbedingt außer Kraft gesetzt. Es könnte nämlich sein, dass die Ebene dieser Fragen nicht restlos auf den referentiellen historischen Kontext zurückzubinden ist. Gleichwohl ist es problematisch, diese Ebene als eine Art Signifikat von der historischen Referenz trennen zu wollen, auch wenn diese Operation das Verfahren der Kritik (als Unterscheiden) darstellt. Diese Trennung oder Unterscheidung ist vonnöten, damit man eine kritische Lektüre vollziehen kann,3 zugleich kann die Möglichkeit nicht ausgeräumt werden, dass sie letztlich nicht ganz zu gelingen vermag (und auch die Kritik von einem politischen Index nicht gefeit ist, indem sie Sebald entschuldigt, so wie er den Luftkrieg gewollt oder ungewollt als Naturphänomen legitimiert). Diese Schwierigkeit einmal beiseite lassend, lautet die erste These der vorliegenden Arbeit in Bezug auf die Testimonialität als Hauptproblem des Essays wie folgt: Luftkrieg und Literatur will nicht einfach eine historische Begebenheit, vielmehr auch das Fehlen oder die Latenz des Bezeugens dieser Begebenheit, also eine genuine Nachträglichkeit (gar eine post-histoire) bezeugen4 (welche Latenz dann von einem intersubjektiven bzw. politischen, nicht nur psychologischen Aspekt gekennzeichnet ist).5 Der Text richtet sich nicht einfach, sogar nicht vordergründig auf das Trauma des Luftkrieges, vielmehr auf das Fehlen seines (angemessenen) Bezeugens (damit betritt der Text die komplexe, mitnichten nur »sekundäre« Dimension des »Wer zeugt für den Zeugen?«, einer genuinen Aporetik der Zeugenschaft). Diese von einer Verdrängung bedingte Latenz – die von Sebald auch in intentionierten Berichten entdeckt wird – scheint zum Ereignis selbst dazugehören, in einer Weise, die teilweise auch von der Sebaldschen Inventarisierungsrhetorik verdeckt wird. (Hier läuft seine Analyse letztlich darauf hinaus, dass die erwähnte Verdrängung sowohl in den Texten als auch in ihrer 3 | Vgl. dazu Kulcsár-Szabó: Tetten érhetetlen szavak, S. 251. 4 | Vgl. hierzu die Ausführungen von Cathy Caruth: »The experience of trauma, the fact of latency, would thus seem to consist, not in the forgetting of a reality that can hence never be fully known, but in an inherent latency within the experience itself. The historical power of the trauma is not just that the experience is repeated after its forgetting, but that it is only in and through its inherent forgetting that it is first experienced at all. And it is this inherent latency of the event that paradoxically explains the peculiar, temporal structure, the belatedness, of the Jew’s historical experience…« Caruth: Unclaimed Experience, S. 17. 5 | Zur psychologischen bzw. politischen Verdrängung des Luftkriegskomplexes vgl. Wilms: Taboo, S. 175-189. (Ob wiederum die Geschichte von einer solchen Einteilung – die bei Wilms auf die Dichotomie von »Innen« und »Außen« zurückverweist – auf allegorische Weise, vom »Innerlichen« zum »Äußerlichen« erzählt werden kann, ist fraglich, diese Aufteilung dürfte höchstens einen hypothetischen Wert besitzen. Die erwähnte Allegorie stellt nämlich eine genuin geschichtsphilosophische Figur dar, gegen die Sebald sehr wohl Stellung bezogen hatte.) Zur »mit der Hegemonie des Sozialen einhergehende Neutralisierung der Gedächtnisse des Zweiten Weltkrieges« in der Nachkriegszeit, wobei die »Wirkung« dieser Gedächtnisse jedoch »chiffriert« fortlebe, vgl. Diner: Vom Stau der Zeit.

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Rezeption stattfindet, im letzteren Fall aber auffälliger – manifester? – ist.) Sogar wird das Gedächtnis des Ereignisses von der Latenz potenziert, nicht nur abgeschwächt. Denn der Zeuge wird bei Sebald von dieser von der Öffentlichkeit verdrängten Latenz auf quasi autobiographische Weise traumatisiert.6 Demnach ist die Katastrophe auch dieses Vergessen (oder Verdrängtheit), das es aufzuhalten gilt. Zugleich entdeckt der Text – zweite These dieser Arbeit – in dieser traumatisierenden Latenz eine textuelle Dimension, die die wesentliche Seinsweise des Zeugnisses – auch in Verbindung mit einer eigentümlichen Geschichtsvorstellung – markiert. Zur Darstellung dieses Komplexes analysiert der Essay sprachliche Bedingungen der (Un)möglichkeit des Zeugnisses an einer Reihe von Autoren und ihren Texten. Bereits dieser Punkt deutet darauf hin, dass Sebalds Ziel nicht in einem referentiellen Verweis als vermeintlichem Telos der Zeugenschaft besteht, vielmehr findet diese in einer sprachlichen Dimension statt. Deren Ausleuchtung soll weiter unten versucht werden, hier genügt vorerst die Feststellung, dass die Verlagerung der Problematik auf diese Ebene in sich bereits jegliche ressentimentgebundene politische Gebärde hinter sich lässt. Sebalds Interesse zielt vielmehr auf die diskursive und sprachlich-textuelle Selbstpräsentation des Zeugnisses (und auf die in ihnen teilweise verdrängte Latenz der Naturgeschichte),7 er ermahnt die deutsche Nachwelt des Zweiten Weltkrieges nicht einfach wegen ihrer Verdrängungsattitüde. Und genau an diesem Punkt wird die ganze Konstellation zu verwickelt, als dass man ihr noch mit gestischen Reaktionen begegnen könnte. Sebald sichtet im Grunde Abwehr- oder Immunisierungsstrategien gegen das Geschehen, gegen das Trauma und die Katastrophe im individuellen wie im kol6 | Es ist freilich nicht ganz sicher, ob da die herkömmliche Terminologie der Traumatheorie wirklich greift. Zum Zweifel am psychoanalytischen Begriff des Traumas vgl. Huyssen: Rewritings, S. 175-176. Vgl. noch die Feststellung von Mark Ilsemann, laut der Austerlitz’ Melancholie mit dem Bewusstsein der »Latenz der Katastrophe unserer Zeit« verbunden, folglich weniger das Ergebnis eines Traumas sei, zumindest in dem Sinne, dass sie mit Prozessen von »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten« nicht zu heilen ist (Ilsemann: Melancholy, S. 308). 7 | Es ist symptomatisch, dass dieses zentrale Interesse des Sebaldschen Essays in be­ stimmten Aufsätzen überhaupt nicht in Erwägung gezogen wird, so z.B. bei Vees-Gulani: The Experience of Destruction, S. 335-349. Das hält die Verfasserin aber nicht davor zurück, ihren Text so zu beenden: »Sebald’s personal quest […] remains necessarily a disappointing one.« Der Aufsatz thematisiert nun aber zentrale Punkte des Essays gar nicht und sieht dessen Verdienst nur im deiktischen Verweis: »Luftkrieg und Literatur is an important text, calling attention to the bombings and their often neglected psychological effects on the people who went through them and on the immediate postwar generation.« Mit ihrem letzten Satz nimmt aber die Verfasserin das Recht des Sebaldschen Zeugnisses, insofern sie diesem seine idiomatische, autobiographische Testimonialität bestreitet.

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lektiven Sinn. Eine geradezu synchrone Variante dieses Widerstandes stellt die quasi-geschichtsphilosophische Denkfigur eines »Verhängnisses« dar, indem nicht wenige die »riesigen Feuerbrände« »als eine gerechte Strafe, wo nicht gar als Vergeltungsakt empfanden, mit der nicht zu rechten war« (21). Hier wird die Naturgeschichte auf eine transzendent(al)e Ebene gehoben und dadurch kompensiert bzw. legitimiert (wie die Zerstörung »als die erste Stufe der erfolgreichen Wiederauf baus« erscheint, 14). Sogar bei Nossack entdeckt Sebald diese universalisierende apokalyptische Modalität (Universalisierung des Bezeugten als seine Verdrängung). Ein weiterer, andersartiger Abwehrreflex soll die »erstaunliche Fähigkeit der Selbstanästhetisierung« (19) sein, die offenbar auch den gesellschaftlichen Pakt über das Schweigen bezüglich des Vernichtungskrieges ermöglichte (»eine stillschweigend eingegangene und für alle gleichermaßen gültige Vereinbarung«, 17). Dieser defensive Habitus ist jedoch bereits auf der mentalen, gar physiologischen Wahrnehmungsebene, quasi ungewollt da, angesichts des Ausmaßes und der Beispiellosigkeit der Ereignisse: »Offenbar hatte unter dem Schock des Erlebten die Erinnerungsfähigkeit teilweise ausgesetzt oder arbeitete kompensatorisch nach einem willkürlichen Raster« (31).8 Diese letzteren Reflexe beschreiben mehr oder weniger die Erfahrung des Erhabenen als Grund und Effekt der Traumatisierung. Trauma und Erhabenheit korrelieren also, und notgedrungene Abwehrreflexe übersetzen diese traumatische Erfahrung immer schon in »willkürliche Raster«, die jene Erfahrung auch verdecken, zugleich ihre Spuren sind. Sebald geht es aber dezidiert nicht um eine Ästhetisierung der Katastrophe, auch wenn er die diesbezügliche Versuchung nicht ausschließt, vielmehr um die Grenzen von bestimmten literarischen Codes, um eine »alle künstlerische Imagination übersteigende[] Erfahrung«,9 die den menschlichen Wahrnehmungsapparat im Sinne Benjamins durch Schockerlebnisse bedroht.10 Es gibt im Text Beispiele für die visuellen und akustischen Seiten der katastrophischen Ereignisse, für die sensorischen Effekte, eine genuine Ästhesiologie des Traumas, die Erhabenheitscharakter aufweisen.11 Die »Selbst8 | Vgl. hierzu eine wichtige Stelle aus Alexander Kluges Der Luftangriff auf Halberstadt (Zitat aus einem fingierten Interview mit einem britischen Brigadier): »Im Herzen oder Kopf ist offenbar gar nichts […] Denn die, die zertrümmert sind, denken oder fühlen nichts.« S. 65-66. 9 | Vgl. Sebald: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte, S. 80. 10 | Vgl. das Gespräch von Volker Hage mit Sebald in: Hage: Zeugen der Zerstörung, S. 265, 277. Sebald spricht hier vom »menschlichen Gefühlsapparat« (in Bezug auf Kluges Luftkriegstext). 11 | Akustischer Aspekt: »… daß die Luftströme Orkanstärke erreichten und dröhnten wie mächtige Orgeln, an denen alle Register gezogen wurden zugleich.« (S. 34) Und nachher sein Fehlen, die Stille (Zitat aus Kluges Der Luftangriff auf Halberstadt): »Auffällig ist die Stille, die über der Trümmerstätte liegt.« (S. 73) Optische Erscheinung (Zitat aus einem Brief aus Hamburger an Sebald): »Ich […] blickte in diese Farbensymphonie, die sich lang-

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anästhetisierung« könnte auch auf den Effekt des Erhabenen hindeuten, in der Beschreibung Kants als »Hemmung«, als »Affektlosigkeit (Apatheia, Phlegma in significatu bono).«12 Das traumatisierende Erhabene führt zu einer Desubjektivierung. Diese Erhabenheit entpuppt sich etwa in den Aufzeichnungen Adornos gegen Ende des zweiten Weltkrieges als eine mechanische Folge von Schocks, eine syntagmatische, zugleich diskontinuierliche Reihe, die das Ereignishafte bzw. die Erfahrung, ihre Erzählbarkeit im Zeichen des »epischen Elements« und damit Zeugenschaft in diesem Sinne unmöglich macht. Die folgende Stelle aus Minima Moralia könnte einen der Infratexte des Essays Luftkrieg und Literatur darstellen, da sie die bereits bei Benjamin thematisierte Problematik der Zeugenschaft angesichts moderner Kriegsgeschehen mit dem technisch-industriellen Aspekt verschränkt: Weit vom Schuß. – Bei den Meldungen über Luftangriffe fehlen selten die Namen der Firmen, welche die Flugzeuge hergestellt haben: Focke-Wulff, Heinkel, Lancaster erscheinen dort, wo früher einmal von Kürassieren, Ulanen und Husaren die Rede war. Der Mechanismus der Reproduktion des Lebens, seiner Beherrschung und seiner Vernichtung ist unmittelbar der gleiche, und demgemäß werden Industrie, Staat und Reklame fusioniert […] Jede lobende Erwähnung der Hauptfirma in der Städtezerstörung hilft ihr den guten Namen machen, um dessentwillen ihr dann die besten Aufträge beim Wiederaufbau zufallen. Wie der Dreißig jährige, so zerfällt auch dieser Krieg, an dessen Anfang sich schon keiner mehr erinnern wird, wenn er zu Ende sein wird, in diskontinuierliche, durch leere Pausen getrennte Feldzüge, den polnischen, den norwegischen, den französischen, den russischen, den tunesischen, die Invasion. Sein Rhythmus, der Wechsel stoßweiser Aktion und völligen Stillstands aus Mangel an geographisch erreichbaren Feinden, hat selber etwas von dem mechanischen, der die Art der Kriegsmittel im einzelnen charakterisiert […] Dieser mechanische Rhythmus aber bestimmt völlig das menschliche Verhalten zum Krieg […] bis in die geheimsten Zellen der Erlebnisweisen hinein. Schon das vorige Mal machte die Unangemessenheit des Leibes an die Materialschlacht eigentliche Erfahrung unmöglich. Keiner hätte davon erzählen können, wie noch von den Schlachten des Artilleriegenerals Napoleon erzählt werden konnte. Das lange Intervall zwischen den Kriegsmemoiren und dem Friedenschluß ist nicht zufällig: es legt Zeugnis ab von der mühsamen Rekonstruktion der Erinnerung, der in all jenen Büchern etwas Ohnmächtiges und selbst Unechtes gesellt bleibt, gleichgültig, durch welche Schrecken die Berichtenden hindurchgingen. Der Zweite Krieg aber ist der Erfahrung schon so völlig entzogen wie der Gang einer Maschine den Regungen des Körpers, der erst in Krankheitszuständen jenem sich anähnelt. Sowenig der Krieg Kontinuität, Geschichte, das ›epische‹ Element enthält, sondern gewissermaßen in sam veränderte. Nie habe ich später, auch bei keinem Maler, solche satten, leuchtenden Farben mehr gesehen.« (S. 92) 12 | Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 178. (»Allgemeine Anmerkung zur Exposition der ästhetischen reflektierenden Urteile«)

Die Latenz der Naturgeschichte jeder Phase von vorn anfängt, sowenig wird er ein stetiges und unbewußt aufbewahrtes Erinnerungsbild hinterlassen. Überall, mit jeder Explosion, hat er den Reizschutz durchbrochen, unter dem Erfahrung, die Dauer zwischen heilsamem Vergessen und heilsamem Erinnern sich bildet. Das Leben hat sich in eine zeitlose Folge von Schocks verwandelt, zwischen denen Löcher, paralysierte Zwischenräume klaffen.13

Angesichts der unscheinbaren, sich entziehenden Realität des modernen Krieges werden hier also grundlegende Schranken bzw. die Bedrohung der anthropologischen Disposition gesichtet und ihre Unüberwindbarkeit anerkannt. Beunruhigend ist vor allem die Veränderung der Wahrnehmung selbst, die von dem Rhythmus der Ereignisse nicht einfach getrennt bleibt, sondern von diesem okkupiert wird und die Singularität der Erfahrung auslöscht oder vergessen, in eine Latenz untertauchen lässt. Sein eigener Rhythmus löscht das Ereignis selbst aus oder lässt es vergessen, könnte man sagen, zumindest eine temporale Ökonomie als Möglichkeitsbedingung der Erfahrung (»die Dauer zwischen heilsamem Vergessen und heilsamem Erinnern«), die selber einem »stetigen und unbewußt auf bewahrten Erinnerungsbild« aufruht. Dieses Bild als Erinnerungsträger, zugleich als Produkt jener zeitlichen Ökonomie wäre gewissermaßen der immunisierende Reizschutz selbst, der aber vom Vergessensindex einer maschinellen Synkopierung, zugleich einer experimentellen Diskontinuität als Wiederholung (»in jeder Phase von vorn anfängt«) durchbrochen wird. Das ist für Adorno ein Index für die Unmöglichkeit des Zeugnisses, das auch die von Sebald monierte Verzögerung der Zeugnisse zumindest teilweise erklären könnte. Und hier wird auch klar, dass es die »Erfahrung« als solche nicht gibt, erst in »der mühsamen Rekonstruktion der Erinnerung« kann man, wenn überhaupt, von ihr sprechen. Es gibt keine Erfahrung, die dann zu einem gegebenen späteren Zeitpunkt auch noch in Erinnerung gerufen werden soll, vielmehr kann man erst aus der nachträglichen Perspektive der Erinnerung, besser: des Über- oder Nachlebens über »Erfahrungen« sprechen, in welcher Perspektive sich nicht »das« Ereignis oder das Vergangene »als solches«, vielmehr dialektische Bilder als Kopien von Spuren ergeben. Das ist sowohl eine Chance als auch eine Bedrohung des Zeugnisses. Inmitten der Zeugnisse klafft nämlich eine Lücke oder eine Leere, insofern es von einer erst nachträglich artikulierten Erfahrung, von einem Supplement der Erfahrung her eine Latenz bezeugt. In dieser Metalepsis des Zeugnisses wird letzteres zu einer Chiffre. In welchem Verhältnis steht aber die Sprachverwendung selbst zu dieser Unmöglichkeit des Zeugnisses? Das nämlich ist eine der Hauptsorgen von Sebald. »Erfahrung« wird nämlich sowohl von vornherein als auch in der Nachträglichkeit (auf der quasi-politischen Ebene) von der Sprache verdeckt oder gar verunmöglicht. Laut seinen kritischen Beobachtungen und Überlegungen soll diese Herausforderung an die Sprache selbst von den meisten Zeugnissen (die sparsam 13 | Adorno: Minima Moralia, S. 59-60. Man beachte das Wort »Ohnmächtiges«.

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an Anzahl seien) im Endeffekt nicht wahrgenommen oder gar verdeckt worden sein (und zwar von herkömmlichen Augenzeugenberichten bis zur avancierten Prosakunst). Sein Haupteinwand gegen sie meint die bereits erwähnte – bewusstunbewusste – Abwehrstrategie. Das Wort »Strategie« ist freilich auch zu sehr an Intentionalität gebunden, sollte man als ihr Gesetz eben die Norm, die Normalität bezeichnen, die ein »Immergleiches« suggeriert, also sich selbst gewissermaßen naturalisiert, die Relation von Referent und Signifikant als solche normativ wiederherstellt (wie etwa in der von Sebald heranzitierten Bildunterschrift über »unsere herrliche Naturlandschaft«, »unberührt und blühend wie eh und je«, 77). Die Funktion dieser Norm(alität) ist somit die des Vergessens als einer Verdrängung, welches Vergessen jedoch vom Funktionieren der Sprache selber getätigt wird, wo dieses das Zeugnis verunmöglicht, indem es das Bezeugte als solches verheimlicht. Die »Funktion« von »stereotypen Wendungen«, sprachlichen Konventionen also, ist demzufolge: »die über das Fassungsvermögen gehenden Erlebnisse zu verdecken und zu neutralisieren«, und dieses »anscheinend unbeschadete Weiterfunktionieren der Normalsprache« beeinträchtige vordergründig die »Authentizität« dieser Augenzeugenberichte (32). Und hierbei besteht kein Unterschied zwischen dem »Psychologischen« und dem »Politischen«, für welche Unmöglichkeit die Sprache verantwortlich ist, die Sprache, die in bestimmten sozialen Verwendungsweisen die Grammatik der Immunisierung (von der Viktimisierung bis zu trostspendenden Formeln) und a fortiori von politischen Normen entwickelt. Der Status der Sprache oszilliert demnach selbst zwischen dem Naturgeschichtlichen und dem Politischen. Im Sinne von Adorno kann man sogar sagen, dass die Macht der Stereotype auch von den sich verbergenden Ereignissen potenziert wird (indem sie diese abwehrt), indem sie eine Maschinerie, eine Grammatik in Gang setzen oder prägen, die gleichsam eine Immunisierung gegen den erwähnten maschinenartigen Rhythmus oder die experimentelle Synkope darstellt. Eine eindeutige Kausalrelation festzustellen wird hier nicht gelingen.14 Wichtiger erscheint es auf die Differenz oder gar den Bruch zwischen der ereignishaften Ausnahme und der Grammatik der sprachlichen Übersetzung

14  |  Vgl. die Frage von Reinhart Koselleck: »Sind es primär die Kriegsereignisse und deren gemeinsame Strukturen, die das vorgegebene Bewußtsein verändert haben – oder sind es vorzüglich die aufgeführten überkommenen Bewußtseinshaltungen, die die Kriegserfahrungen in ihrer Eigentümlichkeit geprägt haben?« (Koselleck: Erinnerungsschleusen und Erfahrungsschichten, S. 271.) Diese Bewusstseinshaltungen sind auch sprachlich bedingt: »Die jeweils gesprochene Sprache oder der jeweils gesprochene Dialekt sortiert die Erfahrungsmöglichkeiten nach Vorgaben der Sprachbilder, der Metaphern, der Topoi, der Begriffe, der Textualisierung, überhaupt der Artikulationsfähigkeit, der Aussagefähigkeit, die das Bewußtsein zugleich prägen und begrenzen. Es gibt kollektive Sprachvorgaben, die durch Kriegserfahrungen verändert, aber nicht völlig durchschlagen werden können.« Ebd., S. 267.

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hinzuweisen, die auf eine Latenz der (Nicht-)Erfahrung – der »paralysierten Zwischenräume« – verweist.15 So stellt nicht zuletzt die Sprache selbst das Hindernis für die Zeugenschaft dar und nicht einfach eine intentionierte Verdrängung von (empirischen) Referenzen. Auch in Fällen, wo man sich auf diese richtet, gibt es keine Gewähr für das Gelingen des Zeugnisses, wenn die Sprache dessen Herausforderungen nicht gewachsen ist. Daher treffen die vermeintlichen Belege bezüglich der in Vergleich zu Sebalds These zahlreicheren Trümmerliteratur den Punkt nicht unbedingt,16 der hauptsächlich jene testimoniale Funktion der Texte betrifft, die auf der sprachlichen Ebene der Ausnahme als einen Bruch zwischen Signifikant und Signifikat, Grammatik und Referenz gerecht werden könnte. Angesichts der laut Sebald letztlich fehlenden Bezeugung der Ereignisse, die die anthropologischen Grenzen unlesbar machen, stellt sich die Frage, welche Funktion der Literatur da eigentlich zukommen könnte. – Vorab aber eine allgemeine Bemerkung bezüglich der denkbaren Motivation jeglicher »Trümmerliteratur« als Literatur. Die Fixierung auf die Trümmer oder Ruinen birgt nämlich eine metapoetische Dimension in sich, sie wird von einem solchen Interesse veranlasst: sie ist von jenem Vergessen gebannt, das im Modus des Restes das Fehlen der Referenz bedeutet, die Relation zwischen Signifikant und Signifikat auftrennend. Das ist die Chance der Literatur, genauer: der Mehrdeutigkeit ihrer poetischen Funktion (im Sinne Roman Jakobsons), zugleich aber auch ihre Versuchung, die Trümmer in ästhetisierender Manier zu Ruinen, die Ruinen zu Erhabenheiten zu monumentalisieren und so die voll und ganz desanthropomorphe Welt des Krieges mit ästhetischen Mitteln etwa zu humanisieren.17 Angesichts der letztlich nicht-repräsentierbaren Realität des Luftkrieges lässt der Versuch der Darstellung jedem Bericht eine Position angedeihen, die zwangsläufig die des 15 | Vgl. nochmals Koselleck: »Neue Sprachgehalte als Ergebnis des Krieges, Ideologien, Stereotypen, Parolen überlagern oder verdrängen den ursprünglichen Erfahrungsgehalt des Krieges. Hinzu kommen all jene Erfahrungen, die die Menschen im Kriege gesammelt haben, ohne sie sprachlich artikulieren zu können. Sie wirken in den Einstellungen und Verhaltensweisen weiter, ohne daß das jeweilige Bewußtsein sich davon Rechenschaft ablegen müßte oder könnte.« Ebd., S. 273. 16 | Es grenzt natürlich fast schon an unfreiwillige Komik, wie pflichteifrig und zugleich überlegen einige Kritiker Sebald belehren wollen darüber, dass es doch mehr literarische Zeugnisse über den Luftkrieg gebe als von ihm angenommen. Es könnte sein, dass ohne den Text von Sebald ihnen nie eingefallen wäre, Kataloge hierzu zu erstellen (und noch so farblose »Berichte« aus der Vergessenheit herauszugraben). So bestätigen sie dadurch nur die Geltung der Sebaldschen Thesen. 17 | Diese Gefahr wird auch von Sebald angesprochen: »die Herstellung von ästhetischen oder pseudoästhetischen Effekten aus den Trümmern einer vernichteten Welt [ist] ein Verfahren, mit dem die Literatur sich ihrer Berechtigung entzieht« (Sebald: Luftkrieg und Literatur, S. 59).

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Zuschauers, des Beobachters, gar des Voyeurs sein wird. Daher ist etwa die Kinematographisierung der Repräsentationslogik von Sebald18 einerseits überzeugend, andererseits verbleibt sie doch zu nah am Oberflächencharakter des Blicks. Der »synoptische Blick« bei Sebald meint dagegen möglicherweise nicht nur ein kombinatorisches und verfahrenstechnisches (in diesem Sinne auch laut Presner modernistisches) Blickdispositiv, sondern darüber hinaus die Supplementarität und Zitathaftigkeit des Blicks selbst. Nur so kann unter Umständen eine textuelle Perspektive erkundet werden, die in dem Oberflächenkomplex eine Wiederholbarkeit entdeckt, die zur Chance der Zeugenschaft werden kann. In dieser Arbeit soll nach dieser Dimension des Zeugnisses gefragt werden. Nun aber zurück zur impliziten Frage Sebalds: Was bezeugt oder für wen zeugt die Literatur? Die Beantwortung dieser Frage soll naturgemäß hinausgeschoben werden, zumal die Frage bereits das Gelingen der Zeugenschaft vorauszusetzen scheint. Formallogisch betrachtet scheint jedoch die Kontextualisierung des kritischen Problems in Sebalds Text die Folgerung nahezulegen, dass die Literatur in ihrer testimonialen Funktion gewissermaßen das Unmenschliche oder das Übermenschliche wagen muss,19 wenn sie sich auf eine Ausnahmeerscheinung richtet, die von vornherein die Endlichkeit oder Zerstörbarkeit der anthropologischen Fähigkeiten und Befindlichkeiten bzw. sprachlichen und kulturellen Konventionen darstellt. Auch wenn man nicht so weit gehen möchte, scheint es doch so zu sein, dass die Literatur sich auf das Unmögliche richtet, das Unmögliche versuchen muss (also ihre Funktion letztlich nicht kulturellen Ursprungs ist, da sie vielmehr über bestimmte kulturelle sowie politisch-soziale und rechtliche Konfigurationen – auch – des Menschlichen hinausgeht oder diese zumindest reflektiert). Und zwar als sprachliche Invention,20 in der die Verbindung von Signifikat und Signifikant, Grammatik und Referenz als Grundzug der Norm aufgehoben wird. In diesem Vergessen geistert die Anomie, der Ausnahmezustand 21 und folglich ist es fast schon von zwingender Logik, dass die Bezeugung des Luftkriegs gerade von der Literatur erwartet, sowie gerade der Literatur diesbezüglich 18 | Vgl. Presner: What a Synoptic and Artificial View Reveals, S. 341-360. 19 | Vgl. die berühmten Verse von Celan: »es sind/noch Lieder zu singen jenseits/der Menschen.« (Fadensonnen) Die »grauschwarze Ödnis« im Auftakt dieses Gedichtes ließe sich durchaus auch mit dem Luftkrieg-Thema assoziieren. 20 | Zum Zusammenhang von Invention und Unmöglichem vgl. Derrida: Psyche. 21 | Sebald zu Ledig: »Seine bewußt forcierte, auf die Erzeugung von Abscheu und Ekel gerichtete Kompromißlosigkeit rief in der sich bereits anbahnenden Zeit des Wirtschaftswunders noch einmal das Gespenst der Anarchie herauf, die Angst vor der mit dem Zusammenbruch der totalen Ordnung drohenden allgemeinen Dissolution, vor der Verwilderung und Verbiesterung der Menschen, vor Gesetzlosigkeit und irreversiblem Ruin« (Sebald: Luftkrieg und Literatur, S. 102). Zur Depotenzierung des Themas »Ausnahmezustand« in der Staatstheorie der Bundesrepublik vgl. Möllers: Der vermisste Leviathan, S. 42.

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Widerstand geleistet wird.22 Die Literatur lebt ja von diesem Vergessen, aber auch vom Versprechen, es ästhetisch kompensieren zu können (die Trümmer zu Ruinen zu sublimieren). Vorerst muss jedoch auch auf die quasi-autobiographische Seinsweise des Zeugnisses hingewiesen werden. Diese umkreist Derrida wie folgt: »Jede Autobiographie präsentiert sich als ein Zeugnis: Ich sage oder ich schreibe, was ich bin, lebe, sehe, fühle, höre, berühre, denke. Umgekehrt präsentiert sich jedes Zeugnis als autobiographische Wahrheit: Ich verspreche die Wahrheit in Bezug auf das, was ich, ich selber, wahrgenommen, gesehen, gehört, gefühlt, gelebt, gedacht usw. habe.«23 Das sprechende Subjekt in Luftkrieg und Literatur präsentiert seine Involviertheit im historischen Ereignis in diesem Sinne als eine sekundäre Zeugenschaft auf performative Weise, die etwa über den transgenerationellen Zusammenhang24 hinaus letztlich an den Glauben des Lesers appelliert (nicht einfach an sein souveränes Urteil). Wie Sebald sich also von Spuren der Katastrophe gezeichnet fühlt, kann man nicht restlos mit kollektiven Termini erklären, da diese Spuren hier mit der Singularität des Zeugen zu tun haben. Zwar gilt seine Zeugenschaft nicht im Sinne eines referentiellen Grundes als echt, dennoch nimmt das nichts von der Insistenz ihres Anrufs (Authentizität und Referentialität sind nicht kausal-linear miteinander verbunden): »Dennoch ist es mir bis heute, wenn ich Photographien oder dokumentarische Filme aus dem Krieg sehe, als stammte ich, sozusagen, von ihm und als fiele von dorther, von diesem von mir gar nicht erlebten Schrecknissen, ein Schatten auf mich, unter dem ich nie ganz herauskommen werde.« (77-78)25 Man kann dies natürlich von einer überlegenen Warte her kollektivpsychologisch erklären oder gar als einen Irrtum von Sebald behandeln bzw. ignorieren (wie das in der Fachliteratur auch vielfach passiert ist),26 22 | Vgl. Hage: »Die Lücke […] war und ist weniger eine der Produktion als der Rezeption…« Zeugen der Zerstörung, S. 119. 23 | Derrida: Das Tier, das ich also bin, S. 119-120. 24 | Diese Figur der Traumatheorie wird immer wieder in Bezug auf Sebald herangezogen, s. etwa Huyssen: Rewritings, S. 151, 156 und Hell: The Angel’s Enigmatic Eyes, S. 379. 25 | Es ist übrigens auffallend, wie stark dieser zentrale Satz der autobiographisch-testimonialen Sprechsituation den Duktus der Sebaldschen Erzählweise in seinen fiktionalen Texten (am avanciertesten in Austerlitz) aufweist. Diese Kreuzung von Zeugnis und Fiktion zeigt auch auf einer zusätzlichen intertextuellen Ebene an, wie wenig sich die Zeugenschaft von einer angeblichen, im Voraus bekannten Referenz abhängig machen lässt. 26 | Z.B. Hell attestiert Sebald einen Widerspruch oder eine Inkonsistenz, indem nach ihrer Meinung sein Text zwei gegensätzlichen Begehrensimpulsen gerecht werden möchte, einmal einem repräsentationellen Anspruch (»Realismus«) und zum zweiten dem Bedürfnis des Wiedererlebens (Imagination), vgl. Hell: The Angel’s Enigmatic Eyes, S. 373-374. Das ist in Wahrheit der Doppelaspekt jeder Zeugenschaft als sowohl autobiographischen wie gewissermaßen unpersönlichen diskursiven und performativen Sprachvollzugs. Hell stellt freilich später fest, dass über diese scheinbare Aporie hinaus das Affektive (im »entset-

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jedoch markiert diese Stelle den autobiographischen Aspekt des Zeugnisses als seinen Mitteilungsanspruch. Hier steht also diese virtuelle Spur des Ereignisses im Subjekt zur Diskussion, welche Spur als Singularität auf die öffentlich verdrängte Latenz hinweist. Diese Spur wird sowohl verdeckt als auch angezeigt einmal von einer Absenz, einem Schweigen (»… ich [war] aufgewachsen mit dem Gefühl, es werde mir etwas vorenthalten…«)27 und dann von der Kreuzung zweier Bildregimes in einem dialektischen Bild: »Lese ich diesen Satz [über den Trost, den »unsere herrliche Heimatlandschaft« spenden soll], so verschwimmen vor meinen Augen Bilder von Feldwegen, Flußauen und Bergwiesen mit den Bildern der Zerstörung, und es sind die letzteren, perverserweise, und nicht die ganz irreal gewordenen frühkindlichen Idyllen, die so etwas wie ein Heimatgefühl in mir heraufrufen…« (78) Diese Bildkonstellation weist die Struktur eines kontrastiven déjà vu auf als Index einer »unempfundenen Erfahrung«,28 als eines Bildes, das man – in Abwandlung einer Formulierung Benjamins – nie gesehen hat (seine Referenz als solche), ehe man sich seiner erinnerte.29 Hier wird gerade der empirische, der »eigene« autobiographische Zug ausgelöscht, dem Vergessen anheimgegeben (die »frühkindlichen Idyllen« werden »ganz irreal«) und die fremden Bildspuren schreiben sich der eigenen Erinnerung ein. Deren Nicht-Erfahrung korreliert also auf chiastische Weise mit dem Vergessen der Selbstaffektion durch die eigene Vergangenheit (so wie auf der ikonischen Ebene gerade die Zerstörung des vermeintlich Intakten betrachtet wird). Denn der »Schatten« markiert gleichsam eine photographische Seinsweise des Subjekts, seine Testamentarität. Mit einem Wort: der Zeuge wird zum Gespenst, oder das Subjekt wird zum Zeugen – erhält seine testimoniale Identität – als Gespenst (das die Kreuzung der Zeugenfigur zwischen Singularität und Unpersönlichkeit benennt). Und zwar als Gespenst der Zerstörung, das sowohl auf diese verweist als auch gewissermaßen von zenstarren« Blick des Engels) bei Sebald im Mittelpunkt steht (ebd., S. 375). Das ist ein unpersönlicher Affekt (möglicherweise nicht mit den beiden vermeintlichen »Begehren« zu verrechnen) und auf die Sprechsituation des Zeugnisses projiziert meint es einen kognitiv oder gar intentional nicht beherrschbaren Mitteilungsanspruch. (Presner bestreitet das Präsenzbegehren, das Hell Sebald attestiert, vgl. Presner: What a Synoptic and Artificial View Reveals, S. 352-355., und stellt fest, indem er Sebalds Rhetorik »a kind of cinematic logic« zuschreibt: »Sebald has created a modernist representation of the firebombing Hamburg that no eyewitness or subject could have ever had.«, ebd., S. 356.) 27 | Hierzu nochmals die bereits zitierten Sätze von Koselleck (s. Fußnote): »Hinzu kommen all jene Erfahrungen, die die Menschen im Kriege gesammelt haben, ohne sie sprachlich artikulieren zu können. Sie wirken in den Einstellungen und Verhaltensweisen weiter, ohne daß das jeweilige Bewußtsein sich davon Rechenschaft ablegen müßte oder könnte.« 28 | Dieser Begriff stammt aus Derrida: Bleibe, S. 78. Vgl. die Formulierung von VeesGulani: »identification with an experience one never had«. W.G. Sebald, the Airwar, and Literature, S. 343. 29 | Vgl. Benjamin: Gesammelte Schriften II.3, S. 1064. (Bei Benjamin geht es um Proust.)

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ihr hinterlassen wird. Hier wird die Zerstörung zur Latenz im supplementären Modus der Photographie, welche Verborgenheit für die Sprache auch nicht restlos erreichbar ist.30 Für die Zeugenschaft bedeutet das Folgendes: diese Latenz der Nicht-Erfahrung wird genau von der quasi-autobiographischen Spur des Zeugen markiert, welche Spur eine latente ist (da sie ja von einer Abwesenheit, einem Schweigen und den »Bildern der Zerstörung« eingeschrieben wurde). Der Zeuge legt Zeugnis letztendlich von dieser Latenz ab. Man kann sagen, diese »sekundäre Zeugenschaft« bedeutet nicht etwas Abgeleitetes, sondern ist grundsätzlich verschränkt mit der strukturellen Iterabilität des Zeugnisses.31 Das Zeugnis ist folglich immer schon auch sekundär, bereits im Moment seines »ersten« Vollzugs. Es wäre verfehlt, die Verschränkung des Zeugnisses mit der Geschichte aufgrund von Generationalität deuten und dadurch etwa zwischen Primärem und Sekundärem, Psychologie und Politik, Innen und Außen restlos unterscheiden zu wollen,32 denn dem Zeugnis ist im Zuge seiner Wiederholbarkeit immer schon eine textuelle Zeit zu eigen. Der Zeuge, besser: seine testimoniale Praxis, wird von vornherein auch von dieser Iterabilität seines »eigenen« Zeugnisses imprägniert, was ihm die oben erwähnte quasi-autobiographische Spur einschreibt. Das ist ein Modus des strukturellen Überlebens des Zeugen, genauer: des Zeugnisses als Testament,33 das aus der Zukunft geschieht (und mit empirischen Trennungen zwischen »Primärem« und »Sekundärem«, 30 | Vgl. noch Duttlinger: Traumatic Photographs, bei der die Photographie im Sinne Freuds erscheint »as a substitute for experiences that are inaccessible to conscious memory«. S. 161. 31 | Dazu vgl. Derrida: »Wenn ich mich verpflichte, die Wahrheit zu sagen, verpflichte ich mich, dasselbe einen Augenblick danach, zwei Augenblicke danach, am nächsten Tag und für alle Ewigkeit auf eine bestimmte Weise zu wiederholen. Nun reißt aber diese Wiederholung den Augenblick aus sich selbst heraus. Infolgedessen wird der Augenblick augenblicklich, in dem Augenblick selbst durch das, was er dennoch möglich macht – das Zeugnis – geteilt, zerstört.« Derrida: Bleibe, S. 33. 32 | Vgl. da beispielsweise die Rede vom »secondary trauma oft the secondary generation« bei Huyssen (S. 156). Sebald bestreitet demgegenüber gerade den Primat des Augenzeugen und seiner Sprache. Außerdem war er ja, wenn überhaupt, gerade von der Latenz der Zeugenschaft traumatisiert, weniger von einer Überlieferung des Traumas. 33 | Dazu s. das folgende Zitat aus Sebalds Die Ringe des Saturn: »Derlei farbenprächtige Schilderungen von militärischen Schauspielen und Staatsaktionen bilden im Gesamtzusammenhang der Erinnerungsarbeit sozusagen die Höhepunkte der blindlings von einem Unglück zum nächsten taumelnden Geschichte. Der Chronist, der dabeigewesen ist und der sich noch einmal vergegenwärtigt, was er gesehen hat, schreibt sich seine Erfahrungen in einem Akt der Selbstverstümmelung auf den eigenen Leib. Durch solche Beschriftung zum exemplarischen Märtyrer dessen geworden, was die Vorsehung über uns verhängt, liegt er zu Lebzeiten schon in dem Grab, das sein Memoirenwerk darstellt.« S. 319.

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Leben und Tod etc. nur missverstanden wird). Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass der Zeuge selbst sein Zeugnis auch von der potentiellen Iterabilität her empfängt (quasi wie ein Diktat), vielleicht sogar als eine Gabe, wo die »erste« Bezeugung bereits eine Wiederholung und dadurch die »Katastrophe« der Iterabilität darstellt, in der der Zeuge notwendigerweise in eine autoimmunitäre Bewegung hineinverwickelt wird.34 Der breite Widerstand gegen Sebalds Zeugnis gilt wahrscheinlich ebendieser Iterabilität (vor allem wenn man es unausgesprochen als »überflüssig« oder redundant verbucht mit Hinweisen auf vermeintliche Zeugnisse), nicht einfach dem historischen Trauma als Referenz. Der gleiche Widerstand gilt aber auch der testimonialen Entscheidung, das Zeugnis ablegen zu wollen/müssen, die einen Ausnahmezustand manifest macht, in dem bestimmte Normen und Konventionen politischer, sozialer wie sprachlicher Art nicht mehr gelten. Die Iterabilität als Strukturmoment der Öffentlichkeit des Zeugnisses wird durchkreuzt von einer Latenz der Ausnahme und ihrer geschichtstheoretischen wie anthropologischen Implikationen. Diese Affizierung des Zeugen und die damit einhergehende autobiographische Spur sind ein grundlegender Aspekt für Sebald. Ihm dabei einen realistisch bemühten, affektlosen Blick oder aber eine »reenactment«-Inszenierung zu attestieren, geht fehl. Abgesehen davon, dass dies auch seine Schreibpraxis nicht richtig trifft,35 wäre die unpersönliche, distanzierte Darstellungsweise vielmehr Kluges Text zuzuschreiben, die von Sebald auch gewürdigt, jedoch zugleich überschritten wird (dazu später). Der affektive Blick des zugleich passiven Engels steht, wie erwähnt, der Perspektive des Zeugen näher, die aber keinesfalls mit einem »desire for presence«36 zu verwechseln ist, einfach aus dem Grund (und 34 | Vgl. Derrida: The Beast and the Sovereign II, S. 75. 35 | Z.B. Hell spricht Sebald eine stärker textuelle Schreibweise ab und meint, er sei am Eintauchen in die sichtbaren Elemente der Schreckensszenen interessiert, dabei zitiert er etwa folgende Stelle: »… Fleisch und Knochen oder ganze Körperberge gesotten von dem siedenden Wasser, das aus geborstenen Heizkesseln geschossen war […] daß man die Überreste mehrköpfiger Familien in einem einzigen Waschkorb davontragen konnte.« (S. 36) Diese Stelle ist jedoch ein abgewandeltes Zitat aus Kluges Der Luftangriff auf Halberstadt, welchen Text Hell (übrigens auch Presner) nicht erwähnt (»Frau Schrader wollte wenigstens hier Ordnung schaffen, legte die gekochten und […] unzusammenhängenden Körperteile in die Waschkessel der Waschküche«. Der Luftangriff auf Halberstadt. S. 29). Vgl. die Feststellung von Huyssen (mit dem sich Hell ansonsten einverstanden erklärt): »Sebald’s essay is not just an analysis of those earlier writer’s work but a hidden rewriting of both Nossack’s and Kluge’s texts« (On Rewritings and New Beginnings. S. 149), er spricht auch von einer »reinscription of the trauma by means of quotation« (ebd., S. 156). 36 | Hell: The Angel’s Enigmatic Eyes, S. 392. Hell ist in ihrer umfangreichen Studie permanent auf Sebalds angebliche Fixierung auf die Ruinen und Bilder der Zerstörung, auf das Trauma fixiert, ohne die Schreibweise von Sebald und seine Kritik an sprachlichen Figurationen der Augenzeugenberichte und der Werke bestimmter Schriftstellerkollegen aus-

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man braucht kein raffinierter Dekonstruktivist zu sein, um das wortwörtlich einzusehen), dass der Engel von den Trümmern der Vergangenheit im ständigen Entfernen begriffen ist (welches Entfernen das ikonische Korrelat des Vergessens bildet). Der Geschichtsbegriff von Benjamin ist mit keiner Präsenzvorstellung zu verwechseln. Zugleich ist der Engel freilich auf die Trümmerbilder fixiert, von ihnen (indes nicht von ihren vermeintlichen Referenzen) angezogen, also in eine gegenläufige, nicht totalisierbare Bewegung eingelassen.37 Hier erscheint die bereits früher angemerkte Doppelbedeutung von »Grenze« auf der Ebene der Wortwahl: »Selbst der Tagebucheintrag Victor Klemperers über das Ende von Dresden bleibt innerhalb der von der sprachlichen Konvention gezogenen Grenzen« (ebd., Hervorh. – Cs.L.). Es könnte nämlich sein, dass diese Grenzen nicht vor dem Ereignis bekannt waren, zumindest als solche, sondern vielmehr von diesem selbst eingeschrieben wurden, und folglich erst aus einer Nachträglichkeit erfahrbar sind. Aus der Sicht einer »Ergänzung durch das, was sich erschließt unter einem synoptischen, künstlichen Blick« (33). Unter einem medialisierten, gar supplementarisierten (ein Fehlen in sich bergenden), das heißt: die Konstellation eines dialektischen Bildes (syn-opsis) erzeugenden Blicks. Dieser Blick ist also nicht einfach technomedial aufgerüstet, sondern selbst der von ihm gesehene Anblick, und damit der Blick, die Gegenwart des (dialektischen) Bildes selbst tragen in sich den Aspekt einer (allegorischen) Kopie oder eines Zitats.38 Die Zeugenschaft richtet sich demnach nicht weniger auf die Gegenwart als auf eine bestimmte Vergangenheit. Dadurch kreuzen sich mehrere Zeiten, z.B. vom Bild und vom Text, von Intertexten usw.39 Darauf kommen wir noch zurück, zumal diese Anzeige die textuelle Verfasstheit des Essays weitgehend zu charakterisieren vermag. Zu erwähnen ist ferner, dass die konstatierte Doppelung von »Grenze« auch auf der Ebene des Zeugnisses selbst erscheint: reichend zu analysieren. Daher kann sie nach der an sich richtigen Beobachtung bezüglich einer bestimmten affektbeladenen Eigenschaft des Engelblicks mit diesem letztlich nicht viel anfangen und attestiert Sebald einen vermeintlichen Neoromantizismus (ebd., S. 379380). Wäre also nach dieser Logik auch Benjamin selbst in die angeblich todesbesessene deutsche Tradition (Heidegger, Rilke, gar die Nazis) einzureihen? 37 | Vgl. hierzu eine Formulierung von Sebald in Bezug auf das »Bild der posthistoire«: »Und man weiß nicht genau, in welche Richtung der Sog einen zieht, zurück in die Vergangenheit oder hinein in die Zukunft.« Hage: Zeugen der Zerstörung, S. 278. 38 | Das bringt auch Presner in einer bestimmten Weise (von einem Reprä­ s enta­ tionsgedanken, weniger von der Zeugenschaftsproblematik her) zum Ausdruck: »Sebald is not attempting to represent accurately the reality of the past but rather to create a reality effect of the present in all its uncertainty and contingency.« »What a Synoptic and Artificial View Reveals«, S. 350. 39 | »Synoptisch« besitzt für Sebald auch eine temporale Bedeutung im Sinne der Ver­ schachtelung von »zeitlich weit auseinanderliegenden Ereignissen in der Erinnerung«. Vgl. Sebald: Unheimliche Heimat, S. 143.

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in der Vorbemerkung werden die »Spuren« von der »Katastrophe« im »Gedächtnis« des sprechenden Subjekts »hinterlassen« (5), zwei Seiten später am Ende der Vorbemerkung wird das programmatische Ziel in einer transitiven Wendung formuliert: »…das, was sie gesehen hatten, aufzuzeichnen und einzubringen in unser Gedächtnis« (7). Die »Spuren« werden einmal von der Katastrophe (vom traumatischen Erhabenen) hinterlassen oder eingeprägt, nun sollen sie aber vom Zeugnis, von den Zeugnissen selber dem Gedächtnis eingeschrieben werden. Dagewesensein und Wiederholung bilden gewissermaßen einen Chiasmus. Entgegen einer möglichen Befürchtung ist diese iterative Konstellation, das »déjàvu« der Zeugenschaft, kein Widerspruch, sondern wurzelt in der Struktur des Ereignisses selber, insofern dieses eine Spur ausbildet, d.h. korrelativ (aber nicht identisch) zur Spur zu denken ist. Wie oben erwähnt, stellt die Wiederholung des Bezeugten (in) der Zeugenschaft gewissermaßen das Autobiographisch-Werden der Spur dar (vgl. mit dem »Schatten, unter dem« Sebald »nie herauskommen« werde). Die erwähnte Nachträglichkeit wird von der Tendenz zur »Naturgeschichte« markiert, insofern die Nachträglichkeit selber einen Index der Unverfügbarkeit der Geschichte darstellt. Diese Nachträglichkeit ist nämlich mit der Differentialität von »Grenze(n)« verbunden, welche Differentialität nicht anzuschauen oder zu überblicken ist, da sie vom Ereignis in Gang gebracht wird (ob im Sinne eines Erinnerns an sie oder gar erst ihres Einschreibens – wie in Bezug auf Benjamin zu sehen war, stellt keinen Gegensatz dar). Im Folgenden sollen die Aspekte und Implikationen dieses Zusammenhangs aufgedeckt werden. 1. Die zeitlichen Komplikationen im Essay und seinen Intertexten resultieren wohl aus dieser Verflechtung. Hier kreuzen sich hauptsächlich ein prähistorisches Tempus und eine Zeit »nach« den Ereignissen, in einem virtuellen Moment. Einerseits sollen die vom Bombenkrieg Betroffenen auf eine prähistorische »Entwicklungsstufe« zurückgeworfen werden (vgl. 43-44) und damit erfolgt auch der Bericht wie »von einem furchtbaren Begebnis aus vorgeschichtlicher Zeit« (58., Zitate aus Nossacks Der Untergang). Andererseits soll es den Bewohnern von Halberstadt laut Kluge erst »mit den Gehirnen von morgen« möglich gewesen sein, »praktikable Maßnahmen zu ersinnen«. Diese Disjunktion deutet auf den Schock, den Exzess des Ereignisses, zurück, infolgedessen »die Normalzeit und ›die sinnliche Verarbeitung der Zeit‹ auseinanderstreben« (69). Folglich geht es Sebald hier auch um »die realen Schrecken der Zeit« (56), also steht das Prähistorische nicht für eine »Mythisierung«, die in seiner Analyse vielmehr eine Verklärung der Ereignisse zu einem »transrealen« Bereich liefert (55, in Bezug auf Nossacks Schreibweise). Die »Naturgeschichte« steht für Sebald also gerade nicht für eine geschichtsphilosophische Maskierung »einer in ihrer Rohform der Beschreibung sich verweigernden Wirklichkeit« (ebd.), sondern vielmehr für die »reale« Unbestimmbarkeit und Materialität der ihrer menschlichen Züge beraubten Geschichte. Die Aporie der Zeugenschaft besteht nämlich darin, dass der Zeuge auf eine Erfahrung ausgerichtet ist, die aus dem bisherigen Erfahrungs-

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raum nicht abzuleiten ist, sich jedenfalls asymmetrisch zu ihm verhält40 und man aus ihr gewissermaßen nicht »lernen« kann. Der Bruch zwischen Norm und Ausnahme, Grammatik und Referenz, ferner zwischen Signifikat und Referent kappt die Erfassbarkeit der Erfahrung überhaupt als solcher.41 Vielleicht stellt das Überleben diesen unmarkierten Raum um die fehlende »Erfahrung« herum dar, das Außerzeitliche der Erfahrung, eine Art post-histoire.42 2. Gleichsam analogisch zur (nicht-)zeitlichen Verflechtungsfigur markiert die vom Ereignis in Gang gebrachte Liminalität auch anthropologische Zusammenhänge: das Ereignis verwischt die Eingrenzbarkeit des Menschlichen (einer für allgemein gehaltenen Menschennatur). Die Grenze erweist sich also als Bruch und beschränkt die vermeintliche Universalität einer postulierten Menschennatur (z.B. ob der Mensch von Natur aus »gut« oder »böse« sein soll) ebenso, wie sie sie auf eine Differentialität der (unvorhersehbaren) Veränderung hin öffnet. Diese Entgrenzung als Deaktivierung einer souveränen Potenz bezieht sich einerseits auf die Verfügbarkeit der Geschichte, auf die menschlichen Möglichkeiten angesichts der »Machbarkeit« der Geschichte,43 andererseits auf das »Verstehen von Geschichte«.44 Wie diese zusammenhängen, ist eine verwickelte Frage, eine Möglichkeit könnte man jedoch darin sehen, dass insofern das Geschehen der Verfügbarkeit der Geschichte Grenzen zieht, dadurch tastet es die Verallgemeinerbarkeit (das Allgemeine) des aus ebendieser Verfügbarkeit abgeleiteten Menschlichen an. Dieses Menschliche kann also nicht auf die Basis eines souveränen Umgangs mit dem historischen Geschehen gegründet werden. Jenes Selbstverständnis, das sich aus dieser Generalität und der von dieser legitimierten Souveränität speiste,45 wird suspendiert. Dadurch wird der Mensch nicht nur im Empirischen zurückgeworfen auf Umstände, die prähistorischer, gar anima-

40 | Vgl. dazu Koselleck: ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹, S. 349-375. 41 | Vgl. hierzu die Reflexion bei Nossack: Der Untergang, S. 28-29. 42 | Das wird wiederum bei Nossack reflektiert, z.B.: »Wir hatten nicht viel Zeit, wir hatten überhaupt keine Zeit mehr, wir waren aus der Zeit heraus. Alles, was wir taten, wurde uns sofort sinnlos.« (S. 36) Doch alles ganz schweigsam, ohne Bewegung und Veränderung; des Zeitlichen entkleidet und ewig geworden.« (S. 47) »Wir sind gegenwärtig geworden. Wir haben uns aus der Zeit gelöst.« (S. 70) 43 | Vgl. hierzu Koselleck: Über die Verfügbarkeit der Geschichte, S. 260-277. Eine Leitfrage Kosellecks lautet: »Wo sind die Grenzen zu ziehen, die einer recht begriffenen Geschichte ihre Machbarkeit versagen?« ebd., S. 271. 44 | Vgl. den letzten Vortrag von Hans Robert Jauß (der ebenfalls aus dem Jahr 1997 stammt, wie die Züricher Vorlesungen von Sebald): Das Verstehen von Geschichte und seine Grenzen, S. 188-210. Ein weiterer thematisch verwandter Text ebenfalls aus dem selben Jahr von Koselleck: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, S. 9-31. Koselleck rekurriert hier u.a. auf Theodor Lessing, so wie auch Jauß in seinem Vortrag. 45 | Vgl. Koselleck: Über die Verfügbarkeit der Geschichte, S. 269.

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lischer Natur zu sein scheinen,46 also eine »Naturgeschichte« konnotieren. Zugleich aber sind die Ausnahmeerscheinungen in der Geschichte schwerlich von den Beziehungen zwischen Menschen(gruppen) zu trennen, nur so können sie ihr (moralisches) Selbstverständnis tangieren. Die Rückkopplung auf das Prähistorische, gar Naturgeschichtliche wird zwar zuweilen als Indikator für die unveränderliche menschliche Natur aufgefasst (»Naturzustand«), zugleich untergräbt sie aber das Postulat jener »Machbarkeit« der Geschichte, die einhellig mit dem Konzept des souveränen, rationalistischen Subjekts verbunden ist. Untrennbar erweist sich also die Grenze von einer Differentialität der menschlichen »Natur«, wo die erstere nicht in der letzteren aufzufinden ist, sondern von – gar latenten – Ereignissen der Geschichte gezogen wird (quasi als eine Art »Riss« in der für homogen gehaltenen Menschennatur). Die anthropologische Position oder Beschaffenheit oszilliert also zwischen Invarianz und Veränderung, zwischen Begrenzung und Öffnung (sie ist exzentrisch in diesem Sinne, um einen berühmten Begriff von Helmuth Plessner aufzurufen). Die Grenze markiert folglich keine Immanenz des Menschen laut einer Norm oder einem Gesetz, vielmehr deutet sie die Grenzen der Norm selber, also die Ausnahme, an und subvertiert die Grammatik der Norm durch eine différance der Ausnahme. Dieser Chiasmus stellt sich näherhin folgendermaßen dar: Das, was für das »Historische« im Menschlichen gehalten wurde, induziert sein Quasi-Natürliches (seine Ohnmacht etwa), das hingegen, was als das »Natürliche« empfunden war (z.B. seine Brutalität), erweist sich als Resultat oder Effekt geschichtlicher Prozesse, genauer: der Unmöglichkeit einer autonomen Begegnung mit diesen Prozessen. (Folglich untergräbt dieser Chiasmus die Universalisierung eines Begriffes vom »Menschen«.) In dieser »Konstellation« – Adorno benutzt hier den Begriff von Benjamin – geht es nicht um »Möglichkeiten des Seins«, sondern um »das Seiende als solches in seiner konkreten innergeschichtlichen Bestimmtheit.«47 Das »differentielle Verfahren« kennzeichnet laut Adorno »die Idee der Naturgeschichte«, wo »die Momente Natur und Geschichte nicht ineinander aufgehen, sondern daß sie zugleich auseinanderbrechen und sich so verschränken, daß das Natürliche auftritt als Zeichen für Geschichte und Geschichte, wo sie sich am geschichtlichsten gibt, als Zeichen für Natur.«48 Diese chiastische, ge46 | Vgl. hierzu die Frage von Ulrich in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften: »Warum macht der Mensch nicht Geschichte, das heißt, warum greift er aktiv Geschichte nur wie ein Tier an, wenn er verwundet ist, wenn es hinter ihm brennt, warum macht er, mit einem Wort, nur im Notfall Geschichte?«, S. 362. (Kapitel 83: Seinesgleichen geschieht oder warum erfindet man nicht Geschichte?) Der Souverän und die Bestie verschränken sich also in einer Situation der Gefahr miteinander. (Vgl. Derrida: The Beast and the Sovereign I-II.) 47 | Adorno: Die Idee der Naturgeschichte, S. 354. 48 | Adorno: ebd., S. 360. Ferner: »Es kann sich nicht bloß darum handeln zu zeigen, daß in der Geschichte urgeschichtliche Motive immer wieder vorkommen, sondern daß Urgeschichte selbst als Vergänglichkeit das Motiv der Geschichte in sich hat.« Ebd.,

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nauer: allegorische, chiffreartige Konstellation ist in eine Unentscheidbarkeit eingelassen, die auf der ikonischen Ebene durchaus die Struktur eines »déjà-vu« besitzt49 und die erwähnte Kreuzung von Prähistorie (oder Naturgeschichte) und Nachträglichkeit (nach dem Geschehen) anzeigt. Dieser »dialektische« Komplex ist letztlich Index für eine Aporie des Geschichtlichen selbst, insofern dieses – in einer anthropologischen Sichtweise – dank einer gespensterhaften Seinsweise nicht restlos historisch zu verstehen oder zu erklären ist.50 Das zentrale Zitat des Textes von Sebald hierzu lautet wie folgt: »[…] ist nicht diese [Zerstörung] vielmehr das unwiderlegbare Exempel dafür, daß die gewissermaßen unter unserer Hand sich entwickelnden und dann anscheinend unvermittelt ausbrechenden Katastrophen in einer Art Experiment den Punkt vorwegnehmen, an dem wir aus unserer, wie wir so lange meinten, autonomen Geschichte zurücksinken in die Geschichte der Natur?« (79) Die Gewalt, die Zerstörung bricht die Autonomie der menschlichen Geschichte, ihre souveräne Seinsweise als humane Identitätsbegründung auf und lassen sie in ihrer Endlichkeit und Verletzbarkeit zur Geschichte der Natur werden. Diese Virtualität des »Experiments« – in dessen Latenz(zeit) das (natur)geschichtliche Geschehen antizipiert wird –, eine Gespensterhaftigkeit der Zerstörung (als Wiedergänger) zeitigt gewissermaßen ein Trauma aus der Zukunft, indem sie die Aufhebung der Grenzen zwischen menschlicher Geschichte und Naturgeschichte vorwegnimmt und die Erkennbarkeit oder Bezeugung der ersteren verunmöglicht. Folglich besteht die »Naturgeschichte« aus der Sicht des Testimoniums in nichts anderem als in der Unmöglichkeit der Bezeugung einer genuin »menschlichen« Geschichte. Diese Art von Geschichte bestätigt oder ergibt nun keine Norm des Mensch(lich)en und als Naturgeschichte stellt sie die gestalthafte Identität ebendieses Menschlichen in Frage. Die erscheinende, »menschliche« Geschichte aktiviert das abgründige Geschehen als eine Latenz der Naturgeschichte bzw. führt in diese. »Experiment« kennzeichnet für Sebald die Seinsweise jeglicher historischer Handlung in einer Notsituation (in einem Ausnahmezustand) – der Luftkrieg war gleichsam die einzige Möglichkeit für die Alliierten, in den Krieg einzugreifen. Folglich kann die Handlung keine autonome Geschichte begründen, sich selbst und den vermeintlichen »menschlichen« Handelnden nicht in der Geschichte verorten, sondern mündet in eine Zerstörung und arretiert als deren Irreversibilität zur Naturgeschichte, die dem Verstehen und dem Selbstverständnis Widerstand leistet. So stellt die Naturgeschichte – etwa im Zeichen der Animalität – nicht einfach eine (nicht-)anthropologische Konstante, vielmehr einen von der Geschichte induzierten Rest, eine Inskription dar (die sich dem Menschlichen zugleich als sein AnS. 359-360. Mit dieser Grundthese Adornos wäre die mal fröhlich, mal resigniert verkündete Entdeckung des »wir sind nie modern gewesen« zu differenzieren. 49 | Vgl. ebd., S. 364. 50 | Etwa dieser Sachverhalt könnte teilweise den apokalyptischen Ton bei Nossack auslösen.

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deres einschreiben). Das Experiment aktiviert durch seinen Zerstörungscharakter die Vergänglichkeit der Natur und deutet zugleich auf diese (als eine Latenz) durch Chiffren der Zerstörung selbst. In diesem Sinne ist für den Melancholiker Sebald aus der Geschichte nicht zu lernen, d.h. sie ist etwa auf dialektische Weise nicht zu begreifen, denn die Verbindung zwischen dem Menschen und seiner Geschichte hat sich aufgelöst.51 Ein weiterer Aspekt dieser Problematik führt jedoch in eine genuin politischanthropologische Dimension, und zwar in den Komplex der »Macht«. Das erwähnte Experiment war nämlich nicht beliebig durchzuführen oder auch nicht durchzuführen, sondern stellte die einzige Möglichkeit dar, in den Krieg überhaupt eingreifen zu können (24). Zugleich war es nicht rückgängig zu machen, den Luftkrieg konnte man nicht stoppen, so wenig, wie es unmöglich war, die mit Bomben gefüllten Flieger auf ihren Stammflugplatz zurückzukommandieren. Das Experiment ist also sowohl kontingent wie notwendig (so wie die Alliierten Hitler gegenüber sowohl unter- als auch überlegen waren), eine prekäre Entscheidung. Dieser Komplex bezeichnet »die Macht der modernen Vernichtungsmittel«, die – laut Carl Schmitt, sicherlich keinem Lieblingsautor Sebalds52 – »die Kraft der menschlichen Individuen, die sie erfinden und zur Anwendung bringen, um ebensoviel [übersteigt], wie die Möglichkeiten moderner Maschinen und Verfahren die Kraft menschlicher Muskeln und Gehirne übersteigen«.53 Das hat »die Gefährlichkeit des Menschen gegenüber anderen Menschen entsprechend 51 | Ein weiteres prägnantes Zitat aus Zwischen Geschichte und Naturgeschichte: »An dieser Divergenz [zwischen Katastrophen und ihrer Bewältigung ex post], die freilich dann auch von den ›Gehirnen von morgen‹ nie ausgeglichen wird, bewahrheitet sich das Diktum Brechts, daß der Mensch durch Katastrophen soviel lerne wie das Versuchskaninchen über Biologie, woraus sich wiederum ergibt, daß der Grad der Autonomie des Menschen vor der von ihm bewerkstelligten tatsächlichen oder potentiellen Zerstörung artgeschichtlich nicht größer ist als der des Nagetiers im Käfig des Experimentators…« Sebald: Campo Santo, S. 94. 52 | Dabei weist der Wortschatz von Sebald Ähnlichkeiten mit zentralen Denkfiguren von Schmitt auf: Sebald ist nämlich nicht weniger an »Einbrüchen« interessiert (S. 103), die eine Immanenz bzw. Normativität – bei ihm: vor allem der stereotypisierten Sprache – »durchbrechen« (S. 98), wie der Verfasser etwa von Hamlet oder Hekuba. 53 | Schmitt: Gespräch über die Macht, S. 41-42. Und weiter: »der menschliche Arm, der die Atombombe hält, das menschliche Gehirn, das die Muskeln dieses menschlichen Armes innerviert, ist im entscheidenden Augenblick weniger ein Glied des individuellen Einzelmenschen als eine Prothese, ein Teil der technischen und sozialen Apparatur, die die Atombombe produziert und zur Anwendung bringt.« (Weitere Seitenzahlen in Klammern.) Vgl. dazu aus dem langen Zitat von Adorno (Minima Moralia) weiter oben: »Der Zweite Krieg aber ist der Erfahrung schon so völlig entzogen wie der Gang einer Maschine den Regungen des Körpers…« Vgl. noch den Vorschlag Niklas Luhmanns, »Macht im System und Macht des Systems zu unterscheiden.« Macht im System, S. 113.

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gesteigert«, denn »dadurch wächst der Unterschied von Macht und Machtlosigkeit in einer so uferlosen Weise, daß er den Begriff des Menschen selbst in eine völlig neue Fragestellung hineinzieht« (ebd. 40-41). Die geschichtliche Handlung ist angesichts dieses Machtpotenzials notgedrungen ein Experiment, das von Menschen an Menschen durchgeführt wird, dabei steht in Frage, wer »der Mensch« ist, »derjenige, der diese modernen Vernichtungsmittel produziert oder anwendet, oder derjenige, gegen den sie angewandt werden?« Folglich trennt die Macht die menschliche Natur von sich selber, fügt ihr einen Riß zu. Die »eigentliche Schwierigkeit«, die »Frage« ist für Schmitt, »wer hier über gut und böse entscheidet«. Diese Entscheidung beträfe nämlich auch das Wesen des »Menschen« selbst – und a fortiori die Möglichkeiten des Lernens aus der Geschichte als einer menschlichen »Eigenschaft«, einer kognitiven Autonomie, die die hierarchische Abgrenzung des Menschen vom Animalischen, von seinen animalischen Funktionen garantieren könnte. Macht und menschliche Natur dissoziieren sich, da sich einerseits »Macht und Ohnmacht heute nicht mehr Auge in Auge gegenüberstehen und sich nicht mehr von Mensch zu Mensch erblicken« (45)54 – dessen historisch erstes Paradigma war wahrscheinlich gerade der Luftkrieg als totaler Krieg,55 andererseits die Macht »eine objektive, eigengesetzliche Größe« auch gegenüber dem Machthaber darstellt (43), gerade wegen der Inkommensurabilität des Menschlichen und des Technischen. Wenn also »die Menschen, die mit Hilfe solcher technischen Mittel Macht über andere ausüben, mit jenen, die ihrer Macht ausgesetzt sind, nicht mehr unter sich [sind]« (43), so könnte dies ein weiterer, diesmal politisch-anthropologisch bedingter Grund sein für die Verdrängung und ihre Latenz, für den Grad der Nachträglichkeit der Zeugenschaft oder gar für deren Unmöglichkeit. Im genannten atopischen oder gespensterhaften Machtkomplex wird Feindschaft als Gestaltwerdung, also als Operationsmodus des Politischen allmählich unmöglich und der Mensch auf seine animalischen Züge zurückgeworfen (sei es im Sinne der Brutalität »von oben«, sei es im Sinne von gejagten Tieren »unten«), in eine »transparente Durchgegebenheit auf die 54 | Der heutige Ruf nach »Transparenz« (der ja von einem tiefen Misstrauen herrührt) unter Bedingungen der Informationsgesellschaft, zugleich die Bekräftigung des Rechts auf Geheimnis (s. NSA-Datenaffäre) reagieren beide bei aller scheinbaren Gegenwendigkeit auf ebendiese Disjunktion. 55 | Vgl. hierzu die Ausführungen von Schmitt: Der Nomos der Erde. »Der Horizont des Luftkrieges ist ein anderer als der von Land- und von Seekrieg; es ist sogar eine Frage, wie weit man beim Luftkrieg überhaupt noch von Horizont sprechen kann […] Beim Bombardement aus der Luft wird die Beziehungslosigkeit des Kriegführenden gegenüber dem Boden und der auf ihm befindlichen feindlichen Bevölkerung absolut; hier ist nicht einmal mehr ein Schatten des Zusammenhangs von Schutz und Gehorsam übrig geblieben«. S. 297. Man sieht, eine präzise Diagnose über den Luftkrieg stammt aus dem Jahre 1950, nicht aber von einem »Literaten«, sondern vom angeblichen Reaktionären namens Carl Schmitt.

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Naturhaftigkeit seines Wesens als das Andere seiner selbst«.56 Darin besteht die eigentliche »Gefährlichkeit« des Menschen gegen andere und gegen sich selbst in diesen historischen Situationen. Der hier ausschlaggebende historische Chiasmus besteht in der Auffassung von Schmitt in der folgenden Entwicklung: »gerade seit dem Zeitalter, in dem die Vermenschlichung der Macht sich zu vollenden scheint – seit der Französischen Revolution –, verbreitet sich nun unwiderstehlich die Überzeugung, daß die Macht an sich böse ist.« (38) Infolgedessen wüten die »besonders intensiven und unmenschlichen Kriege« gerade in der Moderne,57 in der man sich schon seit anderthalb Jahrhunderten an die vermenschlichte Macht zu gewöhnen Anlass hatte. Dieser Befund zeigt klar an, dass die Macht nicht nur nicht einfach gut oder böse, sondern auch nicht neutral sein kann. Gerade die Vermenschlichung der Macht führt zu einer Unmenschlichkeit ohnegleichen, in der der Mensch in seinem »bloßen«, quasi-animalischen Leben zu seinem eigenen Feind wird.58 Das Dilemma der »Naturgeschichte« bei Sebald zielt letztlich auf diese Dimension (also nicht auf Aufrechnungen trivialpolitischer Art) und nur so lässt sich auch der Zankapfel Sebalds, die »stillschweigend eingegangene und für alle gleichermaßen gültige«, also gewissermaßen nicht-intentionale »Vereinbarung« (17) erklären. Der Zeuge bezeugt also im Endeffekt die Latenz einer Bedrohung des Menschlichen, die zwar an Menschen von Menschen ausgeübt wird, die aber im Grunde die Bedrohung des »Zurücksinkens in die Geschichte der Natur«, in die animalischen Funktionen des menschlichen Subjekts, bedeutet. Letztlich handelt es sich um das Fehlen eines ontologisch verbürgten Grundes oder Wesens des Menschen, welches Fehlen das Zeugnis (als Bezeugung des Bruchs zwischen dem Allgemeinen und der Ausnahme) sowohl herausfordert als es auch zu einer unmöglichen Aufgabe macht. – Und zwar nicht zuletzt auch von der Gefahr der Ästhetisierung her, die vom technischen Machtpotenzial ermöglicht oder gesteigert wird (bis zu heutigen Kriegen, die sich für die eine, meistens überlegene Seite, sodann für vermeintlich »neutrale« Dritte auf dem Bildschirm 56 | Plessner: Macht und menschliche Natur, S. 232. Man erinnert sich, wie in den Beschreibungen des Luftkriegs bei Nossack, Böll und anderen z.B. die sich nach den Angriffen rasant vermehrenden Ratten die Zeugen erschrecken (s. dazu das »Viel Krabbelgetier« und vor allem die »Stille« bei Kluge weiter unten). Bedeutsam ist auch die von Sebald benutzte Käfigmetapher, wo der Bewohner des Käfigs ja nicht nur Experimenten unterworfen ist, sondern überhaupt sichtbar und beobachtbar wird – ein Opfer, zumindest Gefangener der »Transparenz(gesellschaft)«? 57 | Vgl. Schmitt: Der Begriff des Politischen, S. 35. »Solche Kriege sind besonders intensive und unmenschliche Kriege, weil sie, über das Politische hinausgehend, den Feind gleichzeitig in moralischen und anderen Kategorien herabsetzen und zum unmenschlichen Scheusal machen müssen, das nicht nur abgewehrt, sondern definitiv vernichtet werden muß, also nicht mehr nur ein in seine Grenzen zurückzuweisender Feind ist.« 58 | Vgl. hierzu den Aufsatz von Zoltán Kulcsár-Szabó zu Carl Schmitt in diesem Band, v.a. dessen Schlussfolgerungen. Vgl. noch Bojanić: »The USA has no enemy…«

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abspielen). In diesem Sinne enthält die Tendenz zur Ästhetisierung eine extrem neuralgische politisch-anthropologische Frage. Die Erfahrung der Ohnmacht wiederum ist ein Grund geschichtsanthropologischer (also nicht bloß referentieller!) Art für die erhöhte Präsenz des »Zeugen« in der gegenwärtigen Kultur, welche Insistenz tief mit der Verunsicherung angesichts des Lernens aus der Geschichte als einer Norm für vermeintliche Entscheidungen, darüber hinaus aber, wie zu sehen war, mit der Inkorporierung seines eigenen Feindes, der Affizierung durch das eigene Andere, zusammenhängt. Folglich gibt es nach dieser gespensterhaften Intensivierung der tierischen, naturgeschichtlichen Gestalt des Menschen nur noch post-histoire – die nicht einzuebnende Divergenz infolge der Nachträglichkeit im Geschichtlichen verweist bei Sebald auf diese Dimension zurück. Also wird die Nachträglichkeit der Zeugenschaft von der post-histoire radikalisiert und herausgefordert, der post-histoire, die eine Überlagerung oder Depotenzierung der »menschlichen« Geschichte durch die Naturgeschichte zeitigt. Hierbei zeigt sich, dass die Naturgeschichte erst von der »menschlichen« Geschichte her zu einer solchen wird, aber auch gleichsam umgekehrt, erstere eröffnet überhaupt die Dimension der post-historie. – In der Figur des Zeugen kreuzen sich Macht und Ohnmacht auf denkbar intrikate Weise: jegliches Zeugnis basiert auf einer Entscheidung des Zeugen (nicht erst die Gegenstände und Bedeutungen seines Zeugnisses, sondern überhaupt das Zeugnisgeben betreffend), zugleich war eine gewisse Passivität ja Bedingung der Möglichkeit für den Status des Zeugen, auch dem eigenen Zeugnis gegenüber, das er gewissermaßen als eine Gabe erhält bzw. weiterzugeben hat. Die Performativität des Zeugnisses wendet sich also von einer nicht strikt von ihm selbst vollzogenen (da in einem Ausnahmezustand wurzelnden oder latenten) Entscheidung her gegen sich selbst. Somit kann vom Zeugen als der Figur des Dritten »am allerwenigsten« gesagt werden, dass er/sie neutral sei (46), und zwar auch die politisch-anthropologische Ambivalenz des Menschen betreffend.

Te x tualität des Z eugnisses Wie werden diese Komplexe auf der textuellen Ebene des refigurierten Zeugnisses inszeniert? Im Modus »eines synoptischen, künstlichen Blicks« zeigt sich die gewissermaßen autoimmunitäre Performativität des Zeugnisses an einem Zitierungsgeflecht, das sich auf die Gegenwart der textuellen Wahrnehmung richtet bzw. diese verdoppelt. Die Reinskription der testimonialen Spur erfolgt in einem genuinen, d.h. textuell erzeugten oder wiederholten dialektischen Bild. Sebald zitiert und kommentiert eine Stelle aus Kluges Der Luftangriff auf Halberstadt, in einer Weise, die sowohl auf einer visuellen Inszenierungsebene als auch auf einer abstrakteren Bedeutungsebene verfährt. Dieses Ineinander verwandelt seine Verfahrensweise aus einem metatextuellen (kommentierenden) in einen hypertextu-

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ellen Zitationsmodus.59 Der ganze Abschnitt wird wiederum mit einem Zitat, mit dem Bild des Engels der Geschichte von Benjamin (Über den Begriff der Geschichte) abgeschlossen. Was geschieht in dieser Passage? Das Zitat aus Kluges Text: »(Die Sonne ›lastet‹ über der Stadt, da ja kaum Schatten ist.) Über den zugeschütteten Grundstücken und den durch die Trümmerwelt verwischten Straßenzügen ziehen sich nach einigen Tagen Trampelpfade, die auf legere Weise an frühere Wegverbindungen anknüpfen. Auffällig ist die Stille, die über der Trümmerstätte herrscht. Die Ereignislosigkeit trügt insofern, als in den Kellern Brände noch leben, die sich von Kohlenkeller zu Kohlenkeller unterirdisch dahinziehen. Viel Krabbelgetier. Einige Zonen der Stadt stinken. Es sind Leichensucher-Gruppen tätig. Ein strenger, ›stiller‹ Geruch nach Verbranntem liegt über der Stadt, der nach einigen Tagen ›vertraut‹ empfunden wird.«

Sebalds Kommentar: »Kluge blickt hier im wörtlichen wie im metaphorischen Sinn von einer übergeordneten Warte hinab auf das Feld der Zerstörung. Die ironische Verwunderung, mit der er die Tatsachen registriert, erlaubt ihm die Einhaltung der für jede Erkenntnis unabdingbaren Distanz. Und doch rührt sich sogar in ihm, diesem aufgeklärtesten aller Schriftsteller, der Verdacht, daß wir aus dem von uns angerichteten Unglück nichts zu lernen vermögen, sondern, unbelehrbar, immer nur fortmachen auf Trampelpfaden, die auf legere Weise an die alten Wegverbindungen anknüpfen.« (73) 60

Die Reiteration des zentralen Bildes von Kluge bei Sebald baut »im wörtlichen Sinn« die »Distanz« ab, die nicht nur für die Beobachtung des Feldes der Zerstörung, ferner für die »Erkenntnis« »unabdingbar« ist, sondern auch für eine metasprachliche bzw. metatextuelle Operation der Zitierung. Sebald schreibt seine Beobachterposition in die Spuren selber ein, jene bewegt sich in diesen, sie kann diese nicht »von einer übergeordneten Warte« aus betrachten und beschreiben – sondern nur zitieren (»immer nur fortmachen auf Trampelpfaden, die auf legere 59  |  Ihr Unterschied zeigt die Differenz zwischen modernen und postmodernen Zitationsweisen an, vgl. hierzu Kulcsár-Szabó: Intertextualitás. Vielleicht ließe sich dieser Unterschied auch mit der Benjaminschen Differenz von »Kritik« und »Kommentar« beschreiben. Zur Thematisierung des Zitationellen im essayistischen Werk (hier »über die Bilder Jan Peter Tripps«, »über das in einen Text (oder in ein Bild) einmontierte Zitat«) von Sebald vgl. Logis in einem Landhaus, S. 184. 60 | Vgl. ein nicht unähnliches Bild aus dem soeben erwähnten Kapitel von Musil: »Sie sieht unsicher und verfilzt aus, unsere Geschichte, wenn man sie in der Nähe betrachtet, wie ein nur halb festgetretener Morast, und schließlich läuft dann sonderbarerweise doch ein Weg über sie hin, eben jener ›Weg der Geschichte‹, von dem niemand weiß, woher er gekommen ist.« Musil: Der Mann ohne Eigenschaften I, S. 360.

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Weise an die alten Wegverbindungen anknüpfen«). D.h. der Zitierende selbst ist in die Zitate verwickelt, diesen ausgeliefert und bezieht sich nicht einfach metareflexiv auf sie oder bringt sie als Autorität an (da diese Operation immer noch das »Lernen« aus der Geschichte voraussetzen würde).61 Sebald macht hier wortwörtlich auf den textuellen Pfaden von Kluge weiter, in einer hypertextuellen Weise, also führt die Zitierung auf performative Weise aus, wovon sie spricht. Zugleich wird das Bild allegorisiert, dem Geiste Benjamins getreu, transponiert auf die Ebene der Verstehbarkeit von Geschichte. Dieser zitationell-hypertextuelle sowie allegorische Modus führt über etwa kinematographische Repräsentationsmodi hinaus.62 Die Reste der Stadt, die »Trümmerwelt« werden gewissermaßen zur Natur, in der durch die »Trampelpfade« eine sekundäre Kulturalisierung vorgenommen oder praktiziert wird.63 Die »früheren Wegverbindungen« sind nur noch latent da, über ihrer Latenz, an einer substanzlosen Oberfläche »ziehen sich« die Trampelpfade »auf legere Weise«. Und zwar nicht in einer ursprünglichen Natur, sondern in den zur Natur gewordenen Trümmern des Kulturellen bzw. Geschichtlichen, im Endeffekt jener »Gestalt«, die die politisch-anthropologische Existenz des Menschen artikuliert hätte – und wo auch die Zeit der Zerstörung als eine Latenz erst an der Natur abgelesen werden kann.64 Diese Spuren bilden die Chiffre als Index der Naturgeschichte aus, wo diese selbst als die Figur eines Überrests zur Chiffre der Nachträglichkeit wird.65 Die Nachträglichkeit impliziert verschiedene textuellmediale Supplemente, die auf eine Latenz (also nicht etwa auf einen Ursprung) hinweisen, die durchaus auch aus der Zukunft kommt (vgl. mit dem »potentiellen« Experiment als Trauma aus der Zukunft). Die Folgerung liegt nahe: angesichts dieser Naturwerdung des Geschichtlichen kann man aus der Geschichte 61 | Vgl. hierzu eine Formulierung von Gadamer aus einem anderen Kontext: »Man ist ja immer schon auf der Spur und befindet sich nie in dem Abstand, in dem die unabsehbare Zeichenwelt ausgebreitet vor einem liegt.« Gadamer: Hermeneutik auf der Spur, S. 163. 62 | Wie oben angeführt, identifiziert Presner einen kinematographischen Code auf weiten Strecken im Text von Sebald. Zur Differenz von Kluges (pseudo)dokumentarischer Praxis und der Textmedialität der Bilder bei Sebald vgl. die erhellende Beschreibung von Tischel: Aus der Dunkelkammer der Geschichte, S. 40-42. 63 | Ähnliche Beschreibungen vgl. bei Nossack: Der Untergang, S. 57. Böll: Der Engel schwieg, S. 56-57. 64 | »Man konnte das Datum der Zerstörung an der Bewachsung der Trümmer feststellen: es war eine botanische Frage.« Böll: Der Engel schwieg, S. 92. 65 | Es ist zumindest fragwürdig, Sebald dabei eine »Metaphysik der Natur« zuzuschreiben und diese gegen Geschichte und Politik auszuspielen, wie das Huyssen tut (Rewritings, S. 150-152), der etwa die Intertextualität bei Sebald nicht ausreichend reflektiert. Zur Differenzierung in dieser Frage und distanzierend zu Huyssen vgl. Ward: Ruins, S. 65-68. Ward versucht die Kluge-Benjamin-Konstellation bei Sebald dementsprechend auch ernst zu nehmen (soweit ich sehe, als einziger in der Fachliteratur).

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nicht lernen, zumindest nicht im Sinne einer »autonomen Geschichte« (72) des Menschen (sondern nur jene zur Chiffreschrift gewordenen Konventionen lesen, die auch das Menschliche zu bestimmen wähnten). Dadurch wird das »Menschliche« als solches selbst bezweifelt, das auf eine autonome Weise etwa »böse« sein soll. Denn es könnte sein, dass die Unfähigkeit, aus der Geschichte zu lernen, d.h. dadurch sich selbst in der jeweiligen »Gegenwart« (da gerade diese Gegenwart die Möglichkeit des Lernens aus der Geschichte kappt) erfassen zu können, in einer Verschränkung mit der Intention, die zum »Bösen« führt, existiert.66 Die Latenz der angeblich menschlichen Geschichte, also die Naturgeschichte, drängt jegliche zeitlich-historische Gegenwart in eine radikale Nachträglichkeit, die zugleich den Bruch zwischen dem Allgemeinen und der Ausnahme einführt, welcher Bruch vom Zeugnis manifestiert oder bezeugt wird. Geschichte als Naturgeschichte hinterlässt Chiffren, die sich einem distanzierten Blick entziehen, für ihn nicht deutbar sind, ihn vielmehr als ein »déjà-vu« heimsuchen. Deshalb kann Sebald im Anschluss an seine allegorische Zitierung von Kluges Zeilen das eminent allegorische Bild des Engels der Geschichte von Benjamin anführen: »Kluges Blick auf seine zerstörte Heimatstadt ist darum, aller intellektuellen Unentwegtheit zum Trotz, auch der entsetzenstarre des Engels der Geschichte…« (73) Das Benjamin-Zitat kommt hinter der Beschreibung von Kluge als ein Infratext zum Vorschein, Sebalds Zeuge »sieht« das Bild bei Kluge buchstäblich von einem (anderen) Text her (wie in einem déjà-vu, wo der aktuelle Anblick vor einem anderen Bild verschwimmt). Für das Bild bei Kluge übernimmt ein anderer Text die Verantwortung, jenes wird von diesem beglaubigt,67 zugleich modifiziert (indem der Beobachter der Ruinenlandschaft von seiner »übergeordnete Warte« vom »Sturm« des »Fortschritts« fortgezogen wird, eine radikale Kinetographisierung). D.h. die Chiffren sind nicht einfach da für einen distanzierten epistemologischen Blick, vielmehr entstehen sie gewissermaßen in diesem selber, in seinem Lesen. Der melancholische Blick selbst – impliziert durch den Bruch im Zeugnis – ist zitationeller Natur, nicht einfach das Gesehene oder Gelesene.68 Das somit erzeugte textuelle Bild vollzieht eine Verrückung der Beobachterposition (wohlgemerkt: von einem anderen Bild, einem textuellen Bild her), der Gegenwart selbst. Dadurch wird die Chiffre zu einem Zeugnis, aber auch umgekehrt, das Zeugnis selber zu einer – »öffentlich lesbaren« – Chiffre.69 D.h., diese überantwortet sich dem Lesen, dem bezeugenden Lesen. Das Zeugnis als Chiffre einer Aus66 | Vgl. Koselleck über Hitler: Über die Verfügbarkeit der Geschichte, S. 274-275. 67 | Es erfährt sowohl Treue als Verrat, zu dieser Verdopplung des melancholischen Blicks vgl. Menke: Das Trauerspiel-Buch, S. 150-159. 68 | So kann man vom genuinen Blick des melancholischen Allegorikers sprechen, zu Benjamin vgl. diesbezüglich wiederum Menke: ebd., S. 132-149. 69 | »Chiffre« wird bei Sebald als Synonym zu »Spur« erwähnt, vgl. Sebald: Luftkrieg und Literatur, S. 12. Zur häufigen Verwendung von »Chiffre« in den Essays von Sebald

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nahme, einer Singularität gründet auf einem Nichts, auf einem Fehlen der Norm (wo diese, die Konvention zu einer Chiffreschrift wird), und somit hat es mit einer Chiffre zu tun, es selbst ist aber auch eine Chiffre (performativ gewendet: erst infolge der Zeugenschaft verwandelt sich das Bezeugte in eine Chiffre).70 Also hat das Zeugnis ein Fehlen zu bezeugen, zugleich wird es von einem Fehlen in sich selbst heimgesucht. Dieses Fehlen könnte semiologisch die unscheinbare, unmögliche Differenz zwischen Signifikat und Referent, temporal: eine Kreuzung des Zeitlichen und des Nicht-Historischen, der historischen Gegenwart und ihrer naturgeschichtlichen Latenz darstellen. Zeugnis gibt es nicht als solches, nur Zeugenschaftseffekte – was also ein Zeugnis ist, ist nie von vornherein gegeben oder entschieden, sondern immer nur für jemanden, für eine andere Instanz (daher ist das Zeugnis strukturell öffentlich). Somit ist das Lesen des Anderen die Chance des Zeugnisses, analog zur autobiographischen Affiziertheit des Zeugen in ihrer Differenz zu kollektiven Erfahrungen. Das Zeugnis als Lesbarkeitsfigur der Chiffre ist nicht als solches gegeben, etwa von einer Norm her (vielmehr von deren Unlesbarkeit her), sondern es wird vielmehr erst durch ein Lektüre- oder Zitierungsereignis zu einem solchen. Die Chiffre zeitigt also eine Spur mit bezeugender Kraft, in ihr sind jedoch Referent und Signifikat nicht problemlos zu unterscheiden, also einerseits die Zerstörung, die Trümmer, andererseits die Ruinen, die auf ein früheres Ganzes verweisen möchten (und die eine Monumentalisierung erfahren können). Die problematische Unterscheidung zwischen »Trümmer« oder »Natur« und »Ruine« oder »Geschichte« entspricht also der Trennung von Referent und Signifikat, die zu einem genuinen Problem des Lesens wird. So ist das (nicht einfach empirisch, vielmehr qualitativ verstandene) Fehlen der Zeugnisse sowohl der Referent als auch das Signifikat der »sekundären« Bezeugung von Sebald. Seine Geschichtsauslegung mithilfe auch von Benjamin könnte dann der Seite des Signifikats zugerechnet werden, allerdings führt Sebald sein Geschichtskonzept wie oben gesehen nicht auf eine metatextuell-reflexive Weise aus, sondern in einem Zitierungsvorgang von textuellen Referenzen. Dadurch schreibt sich seine »Interpretation« dem textuellen Tatbestand ein (er schreibt an diesem weiter), sie verleiht diesem nicht einfach eine »Bedeutung«. Im hypertextuellen Komplex sind Bild, Zitate (Texte) und Bedeutung voneinander nicht zu trennen aus der Sicht einer metatextuellen oder gar metasprachlichen Distanz. Denn die metatextuelle Perspektive ist in sprachlicher Hinsicht genau der Index für jene Souveränität, die die Zerstörung »als solche« festzuhalten bemüht ist und die naturgeschichtliche Ebene kompensiert, insofern diese humane Souveränität mithilfe der Sprache das auf jener Ebene aufkommende Animalische vgl. folgende Textstellen: Die Beschreibung des Unglücks, S. 31, 71, 88, 130, 139, 167; Unheimliche Heimat, S. 39, 66, 96; Campo Santo, S. 140. 70 | Sebald geht es darum, dass »das Bild in ein Rätsel sich verwandelt« infolge des bricolage, in eine »Chiffrierung der Wirklichkeit, auch der sprachlichen« führend, vgl. Sebald: Die Beschreibung des Unglücks, S. 139.

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transzendiert.71 Gerade die Unterscheidung zwischen dem Symbolischen und dem Imaginären ist in nahezu sämtlichen Anthropologien des Abendlandes der Vorzug des Menschen gegenüber dem Tier 72 – in dieser textuellen Praxis ist sie aber nicht zu treffen.73 Man sieht, welche Einsätze sich in solchen scheinbar »philologischen« Textdetails – genauer: in ihrer Lektüre – verbergen. Diese Verflechtung kontaminiert auch die Souveränität des Zeugen, insofern diese u.a. in der Potenz, Signifikation und Imaginäres voneinander zu trennen und diese als (immer von einer Autorität verbürgtes) »Wissen« zu »übertragen«,74 überhaupt in der autonomen Beteuerung der Authentizität des eigenen Zeugnisses bestehen soll. Der Zeuge vermag nicht im Sinne eines Souveräns zu unterscheiden zwischen Referenz und Signifikat, Symbolischem und Imaginärem, Historischem und Nicht-Historischem, Manifestation und Latenz und dadurch den Bezug auf die Norm wiederherzustellen. Diese Unfähigkeit zur Souveränität rührt auch von der Iterabilität des Zeugnisses her, die in einen Zitierungsraum führte bzw. diesem entsprang und die gerade die vermeintliche Souveränität des Authentischen und seine Gegenwart teilte. Diese Teilung ist verantwortlich für die Delegierung der Souveränität an den Anderen, den Zeugen des Zeugen, sei dieser der andere Schriftsteller bewertende Sebald oder seine Kritiker, die ihn gerne von einer vermeintlichen Überlegenheit her beurteilen. Solche Reflexe versuchen indes, einen auch gegen die Iterabilität des Zeugnisses zu immunisieren. Im Falle von Sebald war aber zu sehen, dass er nicht einfach von einer metasprachlichen Warte her seine Kritik ausübte, vielmehr das Fehlen in den Zeugnissen auch nur mithilfe von Zitaten benennen, besser: bezeugen konnte. Die Singularität des Zeugnisses steht in einer Spannung mit jenem Aspekt der Sprache selbst, der den Trost des Immergleichen (der stereotypischen Formulierungen u. dgl.) in sich trägt, d.h. ein Vergessen oder Verdrängen tätigt. Insofern dieses Funktionieren der Sprache sich als Norm(alität) darstellt, verdrängt sie sowohl das »als solche« als auch die Ausnahme selbst. Die Unmöglichkeit des Zeugnisses resultiert aus der Aporie der (referentiellen sowie konzeptuell-seman71 | Vgl. Derrida: The Beast and the Sovereign II., S. 226. 72 | Vgl. Derrida: The Beast and the Sovereign I., S. 131. »…the distinction between the symbolic and the imaginary that in the end sustains this whole anthropocentric reinstitution of the superiority of the human order over the animal order, of the law over the living being etc.« 73 | Zu einer systematischeren sowie historisch breiter aufgefächerten Darlegung dieser Überlegungen s. den folgenden Band: Lőrincz: Zwischen Pygmalion und Gorgo. 74 | Mit dieser irreführenden (letztlich freilich in einem technischen Rationalismus gründenden) Redeweise wird die Problematik des Zeugnisses bei Sybille Krämer traktiert, vgl. Bote, Medium, Übertragung. Dabei ist ferner darauf hinzuweisen, dass der Bote öfters Vertreter des Souveräns ist (und durch ihn der Souverän affirmiert wird) und dass der Austausch durch Boten eine Konvention darstellt, mit der die Performativität der Zeugenschaft nicht zu verwechseln wäre.

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tischen) Benennung der Ausnahme »als solcher«, der (souveränen) Entscheidung oder Unterscheidung zwischen Signifikat und Referenz. Denn die Singularität der Ausnahme stellt eher das »Jenseits« der Handlungen, der Geschehnisse usw. dar, die sich laut Sebald als »Wirklichkeiten« der »Beschreibung« grundsätzlich entziehen (55, vgl. noch 76). Somit bedeutet die Unmöglichkeit des Zeugnisses, dass es eine Leere oder »Absenz« (auch des ausgebliebenen Zeugnisses ob auf der Produktions- oder auf der Rezeptionsseite) bezeugen muss und keine Singularität in ihrer vermeintlichen empirischen Positivität. Es ist wohl kein Zufall, dass die unmögliche Entscheidung zwischen Signifikat und Referent (Geschichte und Natur) an Figuren des Fehlens bzw. des Vergessens entzündete (Trümmer bzw. Ruinen als Tropen der Trennung von Signifikant und Signifikat). Somit handelt es sich darum, ein Fehlen in den Zeugnissen offen zu halten, weniger das vermeintlich erfüllte oder authentische Zeugnis zu feiern – ein Fehlen von Normen und Autoritäten bzw. den von ihnen fixierten Bedeutungen, das sich als Chance des Anders-Lesens ergeben kann. Denn dieses Fehlen ist keine neutrale Leere, sondern ein Echoraum oder Rauschen von Textfragmenten, eine Zitierung von ungeschriebenen, virtuellen textuellen Spuren und der Virtualisierung von faktischen Texten. Auf dieses Fehlen im Zeugnis verweisen auch die medialen Transpositionen zwischen Sehen und Sprechen, Sprechen und Schreiben, Sprechen und Schweigen, Sprechen und Zeigen zurück. So wurde das Zitat aus Kluges Text zu einer Chiffre, zu einem dialektischen Bild oder einer Zitationsfigur von aufeinanderkopierten Texten bei Sebald, das obendrein in die – auch textuell-zitationell verstandene – »vergangene Zukunft« des Bildes von Benjamins Engel der Geschichte mündete (und seine überraschende Konkretion aufzeigte). Dieser Engel der Geschichte wird bei Sebald zur Allegorie des Zeugen selbst,75 zu einer intertextuell hochgradig aufgeladenen Allegorie.76 75 | Vgl. dessen Charakterisierung durch Karin Bauer: die Blicke von Austerlitz wie der des Engels von Benjamin schauen »with a mixture of curiosity and horror« in eine Zukunft hinein, die keine Erkenntnis des Vergangenen verspricht. Bauer: Dystopian Entwinement, S. 233. 76 | Der Engel der Geschichte wird zum Protagonisten einiger Gedichte von Heiner Müller und von Motiven organisiert, die auch in vorliegender Arbeit im Zentrum stehen, wie Naturwerdung, Rauschen, Spur: »DER GLÜCKLOSE ENGEL. Hinter ihm schwemmt Vergan-/genheit an, schüttet Geröll auf Flügel und Schultern, mit/Lärm wie von begrabnen Trommeln, während vor ihm sich/die Zukunft staut, seine Augen eindrückt, die Augäpfel/ sprengt wie ein Stern, das Wort umdreht zum tönenden Knebel, ihn würgt mit seinem Atem. Eine Zeit lang sieht/man noch sein Flügelschlagen, hört in das Rauschen die/Steinschläge vor über hinter ihm niedergehn, lauter je heftiger die vergebliche Bewegung, vereinzelt, wenn sie lang-/samer wird. Dann schließt sich über ihm der Augenblick: auf/dem schnell verschütteten Stehplatz kommt der glücklose/Engel zur Ruhe, wartend auf Geschichte in der Versteine-/rung von Flug Blick Atem. Bis das erneute Rauschen mäch-/tiger Flügelschläge sich in Wellen durch den Stein fort-/pflanzt und seinen Flug anzeigt.« Müller:

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Z usammenfassung All die Aspekte, die für Sebald das Zeugnis problematisieren, sind Korrelate der Unterwanderung der »autonomen Geschichte« des Menschen. Einem solchen Geschichtsbegriff entspricht nämlich die Figur des autonomen Zeugen, der als ein Souverän über die Vergangenheit geschichtsphilosophisch, antiquarisch, einfühlend oder kritisierend Rechenschaft ablegen soll. Genau dieser Zeuge erwies sich aber als einer gewissen nicht-historischen Dimension der anthropologischen Zusammenhänge der Geschichte, ferner der Unverfügbarkeit seiner eigenen Sprache ausgeliefert, auf eine animalische oder naturgeschichtliche Stufe zurückgeworfen und somit unfähig, aus der Geschichte nicht nur lernen, sondern sie überhaupt vergegenständlichend erfassen zu können. D.h., menschliche Geschichte »als solche« zu identifizieren oder zu bestimmen, sie zu trennen von der Naturgeschichte und dadurch die vorige zu immunisieren. Die Latenz der »Naturgeschichte« kann kein Gegenstand von »Erinnerungskultur« als Immunisierungsdispositiv und politischer Gemeinschaft sein, sie bleibt für diese unerreichbar.77 Die Aporie des Zeugen bestand nämlich in seiner Ausrichtung auf eine Affizierung, die aus den vorherigen Erfahrungen nicht abzuleiten und folglich aus ihr nicht zu »lernen«, d.h. zur Begründung der Autorität des Zeugen nicht zu benutzen war. (Dies vor allem aus dem Grund, dass die natürliche Seite des Anthropologischen auch von der Geschichte, von der techné bis zu Katastrophen, geprägt wird und in diesem Sinne eine Naturgeschichte zeitigt. Andererseits durchbrechen Mutationen der Geschichte als Quasi-Naturereignisse den kulturell imprägnierten Blick des historischen Menschen und machen das Konzept des »Augenzeugen« somit doppelt problematisch.) Der Zeuge als singuläre oder exemplarische Gestalt stand somit für einen Ausnahmezustand der Geschichte, wo seine »Entscheidung« (die laut Carl Schmitt genau über diesen Ausnahmezustand entscheidet) letztlich das Zeugnisgeben selbst ist (als öffentlicher Akt), das gerade den – nicht vom Zeugnis selbst vollzogenen – Bruch zwischen dem Singulären und dem Allgemeinen, menschlicher Geschichte und Naturgeschichte manifest macht. Diese Entscheidung selbst als ein Exzess oder als Gewalt kehrt Die Gedichte, S. 53. Vgl. noch ebd., S. 212, 236. Bereits der Schluss des Romans von Böll, Der Engel schwieg, inszenierte eine nicht unähnliche Versteinerung, mit der Exposition der Körperlichkeit: »Der Engel schwieg; er ließ sich vom Gewicht der beiden Männer nach unten drücken; seine prachtvollen Locken wurden von gurgelndem Dreck umschlossen, und seine Armstümpfe schienen immer tiefer hinein in die Erde zu greifen.« S. 190-191. 77 | Insofern ließe sich eine charakteristische Formulierung von Sebald auch wörtlich nehmen: »Zum falschen Bewußtsein der Betroffenen, das wir als ihren Mythus entziffern sollen, gehört bezeichnenderweise auch die Erinnerung an überstandene Katastrophen, aus der sie keine Lehre zu ziehen vermögen, es sei denn die von unserer Kultur stets verdrängte, daß auch die nächste Katastrophe ohne jede Vorwarnung kommen wird…« Sebald: Unheimliche Heimat, S. 153.

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gewissermaßen aus einer Latenz jedes Mal in der Zeugenschaft zurück (wie ein déjà-vu oder ein Gespenst) – durchaus als eine Art Trauma – und verdoppelt in ihrer Wiederholung den Blick und die Sprache des Zeugen bzw. wendet sich gegen diese. D.h. sie untergräbt die Souveränität des Zeugen oder weiterer Instanzen, die die Ohnmacht des Zeugen – d.h. hier nun: den nachträglichen, also gleichsam auch konstativen Charakter seiner Entscheidung,78 ferner seine Unfähigkeit, die gekappte »Gestalt« der politisch-anthropologischen Existenz zu restituieren – ausgleichen, seine Entscheidung normativ legitimieren sollten. Die Unterwanderung der metatextuellen Perspektive bzw. ihre Verwandlung in einen hypertextuellen Modus, die Desautorisierung von Zitaten, die Autoimmunität des Zeugnisses als Testament markierten auf der (inter)textuellen Ebene die Unmöglichkeit, den Zeugen (oder – kompensatorisch – die Zeugen für diesen Zeugen) in eine souveräne Position zu bringen, um über Geschichte zu urteilen. Auch die kulturelle Autonomie der Literatur als Garant des autonomen Zeugen, ihre ästhetische Operativität als Effekt einer kulturellen Normierung, kann dieses Problematischwerden nicht ausgleichen, sondern nur die Irreduzibilität des Zeugnisses auf solche Normen bejahen, zugleich aber die eigene Schwäche infolge der ihm immanenten Absenz bestätigen. Da aber Absenz auch einen defensiven Mechanismus nahelegen kann und über die diesbezügliche Entscheidbarkeit nie über ein Wissen zu verfügen vermag, wird dadurch die fundamentale Ambiguität des Zeugnisses nicht aufgehoben. Das undefinierbare »Menschliche« besteht in einer unscheinbaren Verschränkung des Naturgeschichtlichen mit dem Geschichtlichen, die auch vom Zeugnis nicht bestimmt und dadurch einem Begriff, einer Norm oder einer Autorität restituiert werden kann. Das Zeugnis kann die historischen Katastrophen nur als die genannte Verschränkung und zugleich wiederum Differenz des Geschichtlichen und des Naturgeschichtlichen, des Manifesten und der Latenz bezeugen – welche Differenz sich dem Menschen als die Unverfügbarkeit seines »Wesens« einschrieb. Als Präsentation des Bruchs zwischen Singulärem und Allgemeinem, als Testamentarität des Zeugen zeitigt das Zeugnis, seine »öffentlich lesbare Chiffre« eine Latenz, die das politische Versprechen des Zeugnisses, die Figur des Dritten als eine neutrale, ferner eine Entscheidungs- oder gar Versöhnungsinstanz (zwischen dem Menschen und seinem gespenstischen oder latenten eigenen Anderen) darzustellen, auch durchkreuzt oder sich gegen dieses wendet. 78 | Die Entscheidung des Zeugen ist von vornherein eine Entscheidung der Zeugenschaft selber (die sich dadurch auf einen noch so latenten Ausnahmezustand bezieht), also in diesem Sinne konstativ zu nennen (unterschieden von einer autonomen, potenzbehafteten »Performanz«). Zugleich kehrt ebendiese Entscheidung von vornherein und immer wieder im Zeugnis aufs Neue zurück und potenziert dessen Nachträglichkeit. Die Nachträglichkeit des Zeugnisses ist also in diesem quasi-performativen Sinne (nicht einfach zeitlich) zu denken. Das Gespenst der Entscheidung der Zeugenschaft selber (als eines Ereignisses) markiert deren Nachträglichkeit. Von diesem Komplex her könnte man das Zeugnis als eine Gabe denken (und zwar auch für den Zeugen selbst).

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— Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. Berlin 2009 (8. Auflage). Sebald, W.G.: Die Beschreibung des Unglücks. Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke, Salzburg 1985. — Unheimliche Heimat, Frankfurt a.M. 1995. — Luftkrieg und Literatur, Frankfurt a.M. 1999. — Logis in einem Landhaus. Über Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Robert Walser und andere, München/Wien 1998. — Die Ringe des Saturn, Frankfurt a.M. 2001. — »Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung«, in: ders./Sven Meyer (Hg.), Campo Santo, München/Wien 2003, S. 69-100. Tischel, Alexandra: »Aus der Dunkelkammer der Geschichte. Zum Zusammenhang von Photographie und Erinnerung in W.G. Sebalds Austerlitz«, in: M. Niehaus/Cl. Öhlschläger (Hg.), W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, Berlin 2006, S. 31-47. Vees-Gulani, Susanne: »The Experience of Destruction: W.G. Sebald, the Airwar, and Literature«, in: S.D. Denham/M.R. McCulloh (Hg.), W.G. Sebald, History – Memory – Trauma, Berlin 2006, S. 335-349. Ward, Simon: »Ruins and Poetics in the Works of W.G. Sebald«, in: J.J. Long/A. Whitehead (Hg.), W.G. Sebald – A Critical Companion, Edinburgh 2004, S. 58-71. Wilms, Wilfried: »Taboo and Repression in W.G. Sebald’s On the Natural History of Destruction«, in: J.J. Long/A. Whitehead (Hg.), W.G. Sebald – A Critical Companion, Edinburgh 2004, S. 175-189.

Spur und Monument Romuald Karmakar: Das Himmler-Projekt Zoltán Kékesi

Am 4. Oktober 1943 hielt Heinrich Himmler vor hohen Offizieren der SS eine mehr als drei Stunden lange Rede. In Himmlers erster »Posener Rede« ging es unter anderen um den Stand des Krieges und besonders der Ostfront gegen Ende des Jahres 1943, um die »Rasseneigenschaften« der Völker der besetzten östlichen Gebiete sowie um die Aufgaben und »Tugenden des SS-Mannes«. Letztere wurden in Himmlers Rede immer wieder aus der Perspektive einer imaginierten Zukunft formuliert. Himmler schaltete eigenhändig das Gerät ein, das seine Rede auf Wachsplatten – laut anderen Quellen auf Eisenoxid-Tonband – aufzeichnete für eine Zukunft, in der sich das Reich an seine Vergangenheit erinnert. Die Tonaufnahme wurde später von Himmlers Assistent Werner Alfred Venn maschinenschriftlich transkribiert, danach wurde die Transkription von Himmler handschriftlich korrigiert, um von dem hierdurch autorisierten Text maschinenschriftliche Kopien verfertigen zu lassen. Himmler ließ die Kopien den SS-Offizieren zusenden, die bei seiner Rede nicht anwesend waren (achtundfünfzig von hundertundfünfzig) und mit ihrer Unterschrift bestätigen sollten, dass sie den Text erhalten und gelesen hatten.1 Der Text von Himmlers erster Posener Rede war also gleichzeitig ein Monument einer historischen Tat für die Zukunft und das Dokument eines Befehls an seine Untergebenen. Von den 116 Seiten des Textes und der uns überlieferten Tonaufnahme wurde aber nur jener kaum vier Minuten lange Abschnitt der Rede Teil des Gedächtnisses des zweiten Weltkrieges und des Holocaustes, in dem Himmler, der als Chef der Deutschen Polizei, als »Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums« und zur Zeit seiner Rede bereits als Reichsinnenminister eine entscheidende Rolle im Genozid spielte, »mit aller Offenheit« über »die Judenevakuierung, die Ausrottung des jü1 | Vgl. Wolfe: Captured and Related German Records, o. S. (plates); Breitman, The Architect of Genocid, S. 242, wo es heißt, dass »am Anfang seiner Rede brach Himmler die Aufnahme ab und spulte sie zurück, um überzuprüfen, ob das Gerät seine Rede aufzeichnet«; ferner Longerich, Heinrich Himmler: S. 710.

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dischen Volkes« sprach.2 Der Text der Geheimrede hat aber nicht nur diese Wörter archiviert und die Tatsache, dass sie ausgesprochen wurden, sondern zugleich einen sorgfältig reproduzierten und deshalb umso paradoxeren archivierenden Akt, der sich gleichzeitig vollziehen und auslöschen sollte, als Himmler über dieses »niemals genannte und niemals zu nennende Ruhmesblatt« sprach.3 In dem Film Das Himmler-Projekt des Regisseurs Romuald Karmakar liest Manfred Zapatka Himmlers erste Posener Rede.4 Der Schauspieler, der die Tonaufnahme nicht kannte und Himmler nicht spielt, liest den Text vor einem Lesepult und dem neutralen Hintergrund des Studios. In diesem mehr als drei Stunden langen Film nahm Karmakar den berüchtigten Abschnitt der Rede aus der historischen Narration heraus, in dem er immer wieder erscheint (u.a. in historischen Monographien oder Dokumentarfilmen), und fügte ihn in seinen ursprünglichen textuellen Zusammenhang wieder ein, d.h. er stellte den textuellen Zusammenhang des Abschnitts wieder her. Dass heißt, er behandelte die Rede nicht nur als Indiz oder Illustration etwa einer 1933 beginnenden und 1945 zum Abschluss kommenden Geschichte, sondern er wiederholte sie, um »eine Sprache zu vermitteln«5. Die Tonaufnahme der Rede, die Karmakar als Grundlage diente, erfuhr im Film eine mehrfache Umformung: erstens durch die (Re-)Konstruktion eines grammatisch richtigen und fehlerfreien Textes, zweitens durch das Lesen, d.h. durch die Performanz des Schauspielers, die manche Fehler der gesprochenen Rede beseitigte. Die Neuinszenierung der Rede gewinnt ihre Kraft aus diesem Unterschied zwischen der einstigen und der wiederholten Rede. Da Himmler keinen geschriebenen Text, sondern handschriftliche Notizen benutzte, konnte die Sprache durch die Fehler, Unsicherheiten und Diskontinuitäten des Sprechens Zeichen ihres »Widerstandes« auf der Tonaufnahme hinterlassen; der Schauspieler hingegen transformiert diese Rede in eine Performanz, die die archivarischen Spuren (Fehler, Versprecher, Unsicherheiten in der Betonung usf.) überschreibt, die an der originellen Tonaufnahme noch erkennen lassen, dass die Sprache kein völlig beherrschbares Medium der Rede ist. Die präzise, wenn auch nicht fehlerfreie – darauf komme ich noch zurück – Rede des Schauspielers artikuliert sorgfältig die syntaktisch-semantischen Zusammenhänge, die logische Struktur und 2 | Die Tonaufnahme ist heute im National Archive (Washington) sowie im Deutschen Rundfunkarchiv (Frankfurt a.M.) aufbewahrt, die besagte Sequenz ist aber auch online zugänglich, vgl. www.holocaust-history.org/himmler-poznan/ 3 | Die zweite Posener Rede, die Himmler am 6. Oktober »im allerengsten Kreise« hielt, wiederholte was Himmler zwei Tage zuvor über die »Ausrottung der Juden« gesagt hatte, und berührte auch die »ganz klare Lösung«, die er hinsichtlich der Frauen und der Kinder gefunden hatte. Selbstverständlich ordnete Himmler auch in dieser Rede Geheimhaltung an: »Ich bitte Sie, das, was ich Ihnen in diesem Kreise sage, wirklich nur zu hören und nie darüber zu sprechen.« Heinrich Himmler: Geheimreden 1933 bis 1945 und andere Ansprachen, S. 169. 4 | Das Himmler-Projekt (Deutschland 2000, R: Romuald Karmakar) 5 | Romuald Karmakar in einem Gespräch mit Alexander Kluge, 16. 06. 2000. (DVD-extra)

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die rhetorischen Mittel des Textes und zeigt damit die Sprache der pervertierten Rationalität der Rede völlig unterworfen. Die Wirkung des Filmes besteht also darin, dass man Himmlers Rede als diskursive Norm wahrnimmt – und zwar ohne dass die Präsenz einer kritischen Perspektive im Film angedeutet wäre.6 Zum engeren erinnerungsgeschichtlichen Kontext des Filmes gehören u.a. die Debatten, die in den neuziger Jahren in Deutschland die Wehrmacht-Ausstellungen und das Buch Daniel Goldhagens ausgelöst wurden und die Frage der Verantwortung wieder aufwarfen. Noch wichtiger ist aber in diesem Zusammenhang die sog. Täterforschung oder Perpetrator Studies,7 deren wichtigste Frage ja gerade war, welche Bedeutung die Erfahrungen, das Gedächtnis und der Diskurs der Täter für das historische Erkennen und für die kulturelle Erinnerung haben. Diese Forschungsrichtung bedeutete eine wichtige Inspirationsquelle auch für Karmakars späteren Film Das Land der Vernichtung (2003)8, in dem der Regisseur den Weg des Hamburger Reserve-Polizei-Bataillons 101 verfolgte, das 1942/43 im Rahmen der »Aktion Reinhardt« eingesetzt wurde, und dessen Geschichte von Christopher Browning, einem bedeutenden Vertreter der Perpetrator Studies aufgearbeitet wurde.9 Bevor ich zur Analyse des Filmes Das Himmler-Projekt komme, berühre ich drei historische Momente, die ich als biopolitischen Kontext der Rede auffassen werde. Die Hervorhebung dieser Momente mag vielleicht beliebig wirken, sie zeigen aber, wie gleich zu sehen sein wird, eine brutale Kohärenz auf. Ich situiere dann den Abschnitt über »die Ausrottung des jüdischen Volkes« in der Biopolitik der Rede und untersuche, wie die archivierenden Akte, die die Rede aufzeichnen, d.h. Himmlers handschriftliche Notizen, die maschinenschriftliche Transkription und die Tonaufnahme diesen Abschnitt medial vermitteln. Schließlich werde ich der Frage nachgehen, was durch die Neuinszenierung der Rede, durch die nochmalige mediale Transposition unter der Verwendung des Archivmateriales geschieht.

6 | Über die daraus resultierende Bersorgnisse der Fersehsender und Filmfestivale und ihre Bemühungen, den Film mit Gesprächen oder Unterschriften in einen angemessenen pädagogischen Rahmen zu fassen, s.: Ebbrecht: Bilder hinter den Worten, S. 61ff.; Müller: The Easy Way is Always Minded, S. 95.; bzw. Fröhlich: Täterforschung mit der Kamera, S. 185. 7 | Vgl. Matthäus: Historiography and the Perpetrators of the Holocaust, S. 197-215.; bzw. Szejnmann: Perpetrators of the Holocaust: a Historiography, S. 25-54. 8 | Zu den Debatten über den Film s. Köppen: Erinnerungslandschaften. 9 | Vgl. Browning: Ordinary Men. Zur Täterforschung als Inspirationsquelle s. noch Fröhlich: Täterforschung mit der Kamera, S. 179. Zur Frage der Täterperspektive s. auch: Worth­ mann: Dem Täter eine Chance.

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D ie B iopolitik der H and Im Juni 1943 erhielt das sog. Enterdungskommando der SS die Aufgabe, im Rahmen der »Aktion 1005« die Leichname derer, die 1941 in den östlichen Gebieten während der »Strafaktionen«, d.h. in der ersten Welle des Holocausts, erschossen und in Massengräben begraben worden waren, zu exhumieren und zu verbrennen. Man ließ Deportierte die Leichname ausgraben, die aus Konzentrationslagern eingesammelt wurden. Itzak Dugin und Motke Zaïdl, Überlebende des Lagers Vilna, berichten in dem Film Shoah des Regisseurs Claude Lanzmann über einen Fall, in dem die SS den Deportierten, die die Leichen ausgraben mussten, verbot, Werkzeuge zu benutzen (mit der Begründung, dass sie lernen sollten, »ihre Hände zum Arbeiten zu benutzen«), außerdem durften sie die Wörter »Leichnam« oder »Tote« nicht benutzen (statt dessen mussten sie »Holzstück« oder »Figuren« sagen).10 Für diese Anweisungen gab es mehrere Gründe: erstens half es den Tätern, sich von ihrer Tat zu distanzieren, indem den Toten ihre Menschlichkeit abgesprochen wurde, zweitens raubten sie den Deportierten die Technik und die Sprache, d.h. all das, was André Leroi-Gourhan später als grundlegende anthropologische »Menschheitskriterien« betrachten wird,11 und schließlich entfernten sie aus der Sprache die Spuren dessen, dessen Überreste aus der Erde entfernt werden sollten. Am 15. August 1941 reiste Himmler nach Minsk und besuchte einen Einsatz der Einsatzgruppe B, während dessen an der Grenze der Stadt 80 (laut anderen Quellen 300) Juden erschossen wurden. »Himmler war sichtlich bewegt«, schreibt Raul Hilberg, »und beschloß, an die Anwesenden eine Rede zu halten. Er hob hervor, daß die Einsatzgruppen beauftragt seien, eine ›widerliche‹ Pflicht zu erfüllen. […] Für alles, was hier geschehe, trage er vor Gott und Hitler allein die Verantwortung. Sie hätten sicherlich bemerkt, ›daß ihm das blutige Handwerk zuwider‹ wäre und er bis auf den Grund seiner Seele erschüttert sei. Doch auch er gehorche, indem er seine Pflicht erfülle, lediglich einem höheren Gebot, und er handle aus tiefer Einsicht in die Notwendigkeit dieses Auftrags.«12 Nach seiner Rede befahl Himmler den Leitern der Einsatztruppen (wahrscheinlich Erich von dem Bach-Zelewski und Arthur Nebe),13 eine Methode zu finden, die die Soldaten besser schont.14 Infolgedessen wurde Ende 1941 das Gas eingeführt, das ab Januar 1942 u.a. in Chełmno, dem ersten Vernichtungslager, verwendet wurde. Die Entscheidung, aufgund derer zuerst die sog. Gaswagen, dann die Gaskammern in 10 | Shoah (Frankreich 1985, R: Claude Lanzmann) 11 | Vgl. Leroi-Gourhan: Hand und Wort, S. 35. 12 | Aufgrund der Nürnberger Aussage von Erich von dem Bach-Zelewski zitiert Hilberg: Vernichtung, S. 348. 13 | Vgl. Longerich, Heinrich Himmler: S. 565ff; letzterer war Leiter der Einsatzgruppe B (beide waren an Himmlers erster Rede in Posen anwesend). 14 | Vgl. ebd, S. 565ff.

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Betrieb gesetzt wurden, diente (wenigstens teilweise) dem Schutz des »deutschen Körpers«, indem sie ihn vom »blutigen Handwerk« entlastete. Eine solche Entlastung deutscher Soldaten lässt sich auf der gleichen biopolitischen Ebene verorten wie die Anordnungen für die bei den »Enterdungsaktionen« eingesetzten Deoportierten. Walter Frentz, der vor 1939 Kameramann von Leni Riefenstahl und nach 1939 Berichterstatter der Deutschen Wochenschau und ein beliebter Fotograf Hitlers war und Himmler auf seiner Reise nach Minski begleitete (während der er zahlreiche Fotos machte u.a. auch von den Erschießungen),15 wurde 1935 von der Propagandaabteilung mit dem Drehen eines Filmes beauftragt, der den Titel Hände am Werk – Ein Lied von deutscher Arbeit trug. Dieser Film nutzte die ästhetischen Erfindungen der Avantgarde zum Zweck einer filmischen Biopolitik, die die »Hand« der deutschen Arbeiter als organischen Teil eines allegorischen »Volkskörpers« darstellte. Sequenzen dieses Filmes wurden später im Film Der ewige Jude wieder verwendet, der 1940 ebenfalls von Goebbels in Auftrag gegeben wurde und in den Kriegsjahren in breiten Kreisen verbreitet wurde. Frentz’ Bilder sollten in diesem Film den Gegensatz zwischen dem arbeitsamen deutschen Volk und den parasitären Juden anschaulich machen: die Hand der deutschen Arbeiter und das deutsche Handwerk auf der einen Seite und die geldzählende Hand der Juden auf der anderen. Der ewige Jude bedeutete den Tiefpunkt nationalsozialistischer Filmproduktion, da seine wichtigste Aufgabe war, Hitlers Rede vom 30. Januar 1939, eingeblendet in der Endsequenz des Filmes, zu verbreiten und durch die antisemitische Imagination des Filmes zu unterstützen: ein neuer Krieg, sagte Hitler in dieser Rede, wird zur »Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa« führen.16 Für den Film Der ewige Jude wurden unterschiedliche Filmmaterialien verwendet u.a. Aufnahmen, die in dem 1935 gegründeten Reichsfilmarchiv für solche Zwecke auf bewahrt und thematisch geordnet wurden, und außerdem Szenen, die gezielt für diesen Film im besetzten Polen, in den Ghettos von Łódź und Warschau, gedreht wurden.17 Letztere sollten die zu vernichtende Rasse im Bild jener osteuropäischen Juden zeigen, die im geographischen Zentrum des Geno15 | Vgl. Hesse: »…Gefangenenlager, Exekution, …Irrenanstalt….«, S. 182ff.; bzw. Longerich: Heinrich Himmler, S. 552. 16 | Spätere Aussagen der ehemaligen Mitglieder der Einsatzgruppen zeigen, dass diese Rede, die ihre Verbreitung nicht zuletzt der filmischen Reproduktion verdankte, den letzten Schritt zum Töten erleichterte und dazu beitrug, eine (Selbst-)Legitimation für die Massenmorde zu finden, vgl. Matthäus: Die »Judenfrage« als Schulungsthema von SS und Polizei, S. 71. 17 | Vgl. Hornshøj-Møller: »Der ewige Jude«, S. 24ff., bzw. S. 29. Ein Vorläufer des Films war die Wanderausstellung Der ewige Jude. Große politische Schau, die im Münchener Deutschen Museum 1937 parallel zu den Ausstellungen Entartete Kunst und Große Deutsche Kunstausstellung organisiert wurde. Diese Ausstellung machte einen Teil der Materialien,

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zids lebten: Der primäre Zielpunkt des Filmes waren diese jüdischen Bevölkerungen.18 Die Bilder dieses Filmes wurden in Propagandamaterialien in Deutschland und in den besetzten Gebieten auf ewig rezykliert, so dass sie »sich letztlich in die kollektive Vorstellung europäischer Zuschauer tiefer eingegraben haben [mögen] als die Handlung von Jud Süß.«19 Im Frühjahr 1941 sahen den Film »zahlreiche SS-Einheiten an, bevor mit dem Angriff auf die Sowjetunion die Schwelle zur »Endlösung der Judenfrage« überschritten wurde.«20

D ie P osener R ede Obwohl in Himmlers Rede nur wenige Minuten dem Genozid gewidmet waren (in dem Abschnitt über die Aufgaben der SS und des Reichsinnenministers), war das Ganze der Rede vielfach und auf mehreren Ebenen durchdrungen von jener Biopolitik, deren Grundlage aber, wie Giorgio Agamben gezeigt hat, die »Absonderung des jüdischen Körpers«21 war. Die Rede fand vor einer Zuhörerschaft statt (u.a. vor den Kommandanten der Einsatzkommandos), die Himmler als die »Oberschicht des deutschen Volkes, des germanischen Volkes« ansprach, und zwar auf der Grundlage ihrer »Rassenreinheit«. »Und deswegen«, sagt Himmler und verortet das Ereignis der Rede selbst im Rahmen nationalsozialistischer Biopolitik, »sind wir verpflichtet, wann wir auch zusammenkommen und was wir auch tun, uns unseres Grundgesetzes zu besinnen: Blut – Auslese – Härte.«22 Himmler formulierte grundsätzlich alles, vom Stand der Kriege bis zu den »Tugenden des SS-Mannes« in der Sprache dieser Biopolitik. Die Darstellung der Kriegssituation erfolgte ausschließlich aufgrund bevölkerungspolitischer Figuren und rassentheoretischer Begriffe: Himmler sprach über die Größe der gegnerischen »Menschenmasse«, ihre militärische Kraft und Verluste, über die Figuren der kriegsindustriellen Nutzung der Kriegsgefangenen (gemessen in Arbeitsstunden) sowie über die »Rasseneigenschaften« des »slawischen Subjektes«, dieses »Mischvolkes«, und über ihre militärische Bedeutung. Diese Terminologie die später im Film verwendet wurden, bereits vor dem Krieg in breiten Kreisen zugänglich. Vgl. Benz: »Der ewige Jude«, bes. 86ff. 18 | Vgl. Tegel: Nazis and the Cinema, S. 165ff. 19 | Friedländer: Die Jahre der Vernichtung: 1939-1945, S. 128. 20 | Matthäus: Die »Judenfrage« als Schulungsthema von SS und Polizei, S. 66. 21 | Agamben: Homo Sacer, S. 183. 22 | Die Art und Weise, wie sich in Himmlers Rede die Begriffe »Naturgesetz«, »Grundgesetz« und »inneres Gesetz« d.h. die Bereiche der Natur, des Rechts und des Subjekts überlappen, ist ein Beispiel für das Verschwimmen der Grenze zwischen »nacktem Leben« und juristischer Norm – oder mehr noch: eine sehr genaue Beschreibung nationalsozialistischer Biopolitik. Zum Verhältnis von »nacktem Leben« und juristischer Norm s. Agamben: Homo Sacer, S. 180ff.

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eignete sich kaum für eine reale Einschätzung des Krieges und der militärischen Chancen; wir wissen aber, was für eine Rolle die Biopolitik, die diese Terminologie zur Sprache brachte, in all dem spielte, was sich in den besetzten Gebieten sehr real vollzog.23 Hinsichtlich der »Unterrassen«, die in den besetzten Gebieten und auf der anderen Seite der biopolitischen Grenze lebten, sagte Himmler: »Wir Deutsche, die wir als einzige in der Welt eine anständige Einstelllung zum Tier haben, werden ja auch zu diesen Menschentieren eine anständige Einstelllung einnehmen«, was an dieser Stelle den Tod russischer Frauen durch Zwangsarbeit ausdrücklich mit einschloss. Und denjenigen, die den Film Der ewige Jude gesehen hatten – und Himmlers Zuhörer mussten ihn gesehen haben –, musste in puncto »anständige Einstellung« die Sequenz des Filmes einfallen, in der aufgrund des Schlachtens der Tiere anständige und nicht-anständige Bräuche gegenübergestellt wurden, und die zu den bekanntesten Bildern des Films gehörte.24 In dem kurzen, kaum vier Minuten langen Abschnitt der Rede, in dem er über den Genozid spricht, spricht Himmler zweimal das Wort »Ausrottung« aus, bis er in der Mitte des Wortes »Ausschaltung« stolpert. Sein Stolpern ruft einen anderen Versprecher in Erinnerung: den Lapsus von Joseph Goebbels, der in seiner berühmten und auch im Radio gesendeten Berliner Rede vom 18. Februar 1943 statt »Ausschaltung« beinahe »Ausrottung« sagt, bevor er sich in der Mitte des Wortes korrigiert.25 Warum aber stolpert Himmler in der Mitte des Wortes »Ausschaltung«, nachdem er bereits zweimal das Wort »Ausrottung« ausgesprochen hat? »Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. »Das jüdische Volk wird ausgerottet«, sagt ein jeder Parteigenosse »ganz klar, steht in unserem Programm, Aus…schaltung der Juden, Ausrottung, machen wir«. (…) Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen.« 26

Die letzten Sätze beziehen sich auf den Schock (oder das Trauma), den die Mitglieder der Einsatzkommandos erleiden mussten. An dieser Stelle seiner Rede führt Himmler den gleichen biopolitischen Akt durch, wie in seiner oben zitierten in Minsk, mit der er die Mitglieder der Einsatzgruppe B von den Effekten des 23 | Himmlers Rede war Teil des Vorganges, in dem nach dem Januar 1943, d.h. im Gefolge der Niederlage bei Stalingrad, »weltanschauliche Erziehung« noch wichtiger wurde, s. Matthäus: Die »Judenfrage« als Schulungsthema von SS und Polizei, 82. 24 | Vgl. Tegel: Nazis and the Cinema, S. 163ff. 25 | Vgl. Studt: Das Dritte Reich in Daten, S. 207. 26 | Hier stütze ich mich auf die maschinengeschriebene Transkription, da man in der Tonaufnahme anstatt »zugesehen« auch »so gesehen« hören kann (Karmakar folgt der letzteren Interpretation).

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»blutigen Handwerks« entlasten wollte. Deshalb endet dieser Abschnitt der Posener Rede damit, dass »wir diese schwerste Aufgabe in Liebe zu unserem Volke getan [haben]. Wir haben keinen Schaden in unserem Inneren, in unserer Seele, in unserem Charakter daran genommen«.27 Das Stolpern in der Mitte des Wortes »Ausschaltung« hat hingegen mit dem archivarischen Kontext des Sprechens zu tun, da Himmler an dieser Stelle jemanden zitiert, der »mit aller Offenheit« über das spricht, worüber man öffentlich nicht sprechen durfte. Das heißt das Stolpern, die kurze Pause, ist die Spur eines »archontischen« Verbots und verweist auf die »toponomologische« Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Verborgenen – und gleichsam auf die »archontische Macht«, die jene Grenze definierte.28 Diese toponomologische Grenze und diese archontische Macht zeigen sich nur in dem Sprechen und archivieren sich nur in der Tonaufnahme der Rede. Die gleiche toponomologische Grenze trennt Himmlers handschriftliche Notizen von der maschinenschriftlichen Transkription der Rede: in den ersteren findet man nur den Code, den Tarnbegriff, unter dem die nationalsozialistische Sprache den Genozid, dieses »blutige Handwerk« speicherte (»Judenevakuierung«), in der zweiten seine Entschlüsselung (»die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes«).29 Was Handwerk ist, also handgeschriebener Text, fällt unter den Schutz der Biopolitik; was Maschinenschrift ist, fällt unter archivarischen Schutz. Kann man aber sagen, wie ich oben gesagt habe, dass sich all dies durch »den Widerstand der Sprache« vollziehe? Dass es der Widerstand der Sprache sei, der den Bruch oder die Diskontinuität in die Rede und in die Tonaufnahme der Rede einfügt, die die archontische Macht archiviert? Diese »verrückten Sprache«, »in der die gleichen Wörter ihren angeblich gemeinsamen Sinn verlieren oder perver27 | Saul Friedlander und Dominick LaCapra interpretieren diesen Abschnitt der Rede von dem Begriff des »negativen Erhabenen« her, dessen Aufgabe es ist, das Trauma rhetorisch in das Gefühl der Überlegenheit und des »Rausches« zu transformieren, s. Saul Friedlander: Memory, History, and the Extermination of the Jews of Europe, bes. S. 104-111; bzw. LaCapra: History and Memory after Auschwitz, bes. S. 35. 28 | »Archontische« oder »archivarische Macht« bedeutet laut Jacques Derrida die Macht, die sich u.a. in der Herstellung eines Archivs, in der Bestimmung seines Ortes, in der Aufnahme der Dokumente sowie in der Zuordnung einer Bedeutung zeigt. Derrida geht von den beiden Worten arché und archeion aus, ersteres in der Bedeutung von ›Befehl‹, letzteres in der Bedeutung von ›Ort, Wohnort‹. Ein sprachliches oder anderes Zeichengefüge wird erst durch die »archivarische Macht« zu einem Dokument und erhält einen Ort und eine ihm zugewiesene Bedeutung. In diesem Sinne ist das Archiv gleichzeitig ein topologischer und ein nomologischer Begriff: das Archiv steht »an der Überkreuzung […] von Ort und Gesetz« s. Derrida: Dem Archiv verschrieben, S. 33. 29 | Vgl. Wolfe: Captured and Related German Records, o. S. (plates); dieses Detail der Notizen ist auch online zugänglich, s. www.historyplace.com/worldwar2/holocaust/holpix/note.jpg

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tieren«30, und die man nicht als unschuldig ontologisieren kann, händigte dem Sprecher bereitwillig beide Wörter aus: »Ausrottung« und »Ausschaltung«, so dass sich Himmler versprach und die Macht über das eigene Sprechen – die Sprache? – für einen Moment verlor. Oder gibt es in dem Wort »Ausschaltung«, in dem er ins Stolpern gerät, etwas, das in diesem Moment Verwirrung verursachen konnte? Noch genauer in dem Wort »Schaltung«, das auch die Bedeutung von Umschalten, von Hin- und Herschalten zwischen zwei Codes impliziert, das heißt etwas, das an dieser Stelle die Rede entgleitet oder ausgleitet? Und dadurch in der Rede und in der Tonaufnahme der Rede eine Grenze lesbar macht, die toponomologische Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Verborgenen und damit vielleicht auch eine andere Grenze, wo die »archontische Macht« die Sprache nicht mehr beherrschen kann?

A neigung und V erfremdung In der Neuinszenierung der Rede in Karmakars Film verschwindet alles, was sich unter den drei verschiedenen medialen Umsetzungen der Rede, unter dem handgeschriebenen, dem maschinengeschrieben und dem gesprochenen Text, vollzog. Was an seine Stelle tritt, ist ein einziger, medial einheitlicher (aber nicht homogener) und formal unversehrter sprachlicher Akt, der seine ganze Kraft ungeteilt zur Geltung bringt. Deshalb kann man sagen, dass die Wirkung des Filmes darin bestehe, dass man Himmlers Rede als diskursive Norm wahrnimmt. Wie bereits oben angedeutet, gründet sich dieser Effekt darauf, dass die Originalaufnahme der Rede im Film eine mehrfache Umformung erfährt: erstens durch die (Re-) Konstruktion eines grammatisch intakten Textes und zweitens durch die Performanz des Schauspielers. Diese beiden Elemente werden im Film noch durch ein drittes ergänzt, durch die bildliche Vermittlung der Rede. In der Eröffnungsequenz erscheint der Schauspieler vor einem Lesepult und dem neutralen Hintergrund des Studios uns gegenüber und schaut geradeaus in die Kamera. Dies zeigt dem Zuschauer an, dass es im Film keinen imaginierten Raum gibt, in dem das, was man sieht, sich vollziehen würde. Anstatt nach innen, in den imaginierten Raum der Leinwand zu schauen, richtet sich der Blick des Schauspielers geradeaus nach außen, d.h. er lässt die Grenze außer acht, die den Filmraum vom Zuschauerraum traditionell abtrennt. Im späteren Verlauf des Filmes wird diese Grenze mal aufrechterhalten, mal überschritten: der Blick des Schauspielers richtet sich mal in den imaginierten Raum des Filmes, auf seine imaginierten Zuhörer, mal nach außen, in den realen Raum des Kinos. An einer späteren Stelle, als Himmler in seiner Rede durch Geräusche gestört wird, die von außerhalb des Saales kommen, und seine Zuhörer auffordert, die Türen fester zu verriegeln, da das, was er sagt, nicht »für alle Ohren bestimmt« sei, tritt der 30 | Derrida: Einsprachigkeit, S. 104.

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Schauspieler hinter dem Lesepult hervor und stellt sich vor die Kamera, um darüber zu berichten, was im Saal gesagt wird, aber nicht Teil der eigentlichen Rede ist (wo endet aber der eigentliche Text der Rede?). Hinter ihm erblickt man in diesem Moment die Einrichtung des Studio, d.h. jenen Apparat, der im Sinne von Walter Benjamin die ganze Wirklichkeit des Filmes durchdringen muss, damit die Illusion einer »apparatfreien«31 Wirklichkeit vollkommen sei. Während also auf der einen Seite die Türen fester verriegelt werden, um zu schützen, was unter archivalischem Gebot steht, öffnet sich auf der anderen Seite vor den Augen des Zuschauers etwas, was im Kino im Allgemeinen verborgen bleibt. Die bildliche Vermittlung der Rede überschreitet damit die beiden Grenzen, die den Film traditionell vom Raum der Produktion und dem der Rezeption trennt. Nun sind es gerade diese beiden Grenzen, die laut Thomas Elsaesser jene ästhetische Distanz ermöglichen, die den Zuschauer davon befreit, alles, was er sieht, den Normen moralischer Urteilskraft zu unterwerfen.32 Aber der Film bringt nicht nur Abstand, d.h. ästhetische Distanz hervor, sondern bezieht den Zuschauer in die Welt filmischer Geschehnisse mit ein, und zwar durch Identifikation (die gerade durch ästhetische Distanz und das sich daraus ergebende ästhetische Verhältnis ermöglicht wird).33 In Karmakars Film wird die Möglichkeit der Identifikation durch die Blickachse gleichzeitig erschaffen und unterminiert: die doppelte Bewegung des Blickes hat einen doppelten Effekt, sie verleiht dem Zuschauer die Möglichkeit, sich den Kinoapparat bewusst zu machen, und gleichzeitig verknüpft sie miteinander reale und imaginierte Zuhörerschaft, hier und dort, heute und damals, ›uns‹ und ›sie‹. Wenn der Schauspieler einen Fehler macht und einen Satz wieder beginnt, dreht die Aufnahme weiter (d.h. der filmische Apparat verbirgt sich selbst nicht): der Film lässt Himmlers Rede als diskursive Norm wahrnehmen, aber er beseitigt nicht die Fehler, d.h. er lässt zu, dass die Sprache der Deprivierung angeeignet wird und verfremdet sie zugleich. Letzteres – die Technik der Verfremdung – geht auf jene modernistische Tradition zurück, die seit den 20er Jahren bis in die späten 60er, von Benjamin über Brecht bis Adorno, entscheidend den Spielraum politischer Kunst beeinflusst hat: diese politische Kunst dekonstruierte die versöhnende Schönheit bürgerlicher und die gefährliche Faszination nationalsozialistischer Ästhetik durch verschiedene Strategien ästhetischer Verfremdung, kritischer Distanz, rationaler Reflexion – im Film war Montage eine zentrale Kategorie dieser politischen Ästhetik. »We might begin«, schreibt Carsten Strathausen, »by recognizing the fact that the aesthetics of montage has lost its ethico-political edge today. Once we acknowledge the importance of montage in Riefenstahl’s works and recognize the intimate relationship between Nazi aesthetics and postmodern pop culture, than many of the idealist assumptions about the intimate relation31 | Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 158. 32 | Elsaesser, Hagener: Filmtheorie, S. 24ff. 33 | Ebd, S. 51.

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ship between aesthetic form and sociopolitical function – assumptions that once motivated the historical avant-garde and fascinated Marxist theorists like Eisenstein and Vertov, Benjamin and Brecht – become more than questionable. »Dialectical montage«, »critical montage,« or any other kind of »open montage« that seeks to »deconstruct« or »parody« or »reflect upon« contemporary society have all been coopted by the very socioeconomic mechanism they sought to expose. (…) a purely negative deconstruction or critique of aesthetic sensibility remains ineffective (…).«34 Letzteres bedeutet im Bezug auf den Film Karmakars, dass man die perverierte Rationalität und rhetorische Faszination, die in der Rede Himmlers zur Geltung kommt, nicht »verfremden« kann, ohne sie gleichzeitig ästhetisch, durch die Performanz des Schauspielers erfahrbar zu machen. Dass heißt: ohne das Moment der Aneignung kann es keine Möglichkeit zur Verfremdung und kritischen Reflexion geben.35 Für Karmakar geht es um Himmlers »Projekt«, um ein biopolitisches Projekt, das gleichzeitig ein sprachpolitisches und -pädagogisches Projekt war. Karmakars Film, der nicht einfach ein Kinofilm, sondern ein »Filmprojekt« oder ein »Projektfilm« ist, re-inszeniert Himmlers Rede, damit der Zuschauer Teil(habender) eines sprachlichen Ereignisses der nationalsozialistischen Biopolitik werden kann. Es ist dem Zuschauer überlassen, die Distinktion zwischen »bloßem Leben« und politisch definiertem Leben wiederherzustellen.

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34 | Strathausen: Riefenstahl and the Face of Fascism, S. 37ff. 35 | Für ein früheres Beispiel dieser Einsicht s. die Ausstellung Inszenierung der Macht (1987) des NGBK (Berlin): Behnken/Wagner: Inszenierung der Macht, bes. S. 8.

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Zoltán Kékesi

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Did It Happen or Not? Bringing Traumatic Events into the Historical Discourse Dániel Bolgár

What are the potential consequences for us as readers and as historians when a historian who adheres to a sense of responsible patriotism in confronting the past, endeavoring to improve the nation’s understanding of itself, confronts events that the body politic of his society had hitherto rejected from its consciousness? What happens when his work focuses on events previously excluded from the narrative defining national identity because acceptance of these events would destroy the self-image that the community had built up for itself? In other words, what impact will his work have if he is writing about things that happened, although they should not have? And finally, what effect does it have on historical discourse if the historian takes on the task of processing his community’s traumas, or at least forcing the community to process them? Let us take an example from cinema. A fost sau n-a fost? (Did it happen or not?) is the title of a 2006 film by Corneliu Porumboiu. The action – as we discover from the credits – takes place in a crumbling television studio in Vaslui (Moldavia). The studio is hosting a live talk show to mark the sixteenth anniversary of the start of the revolution in Bucharest. The theme of the program is whether there a revolution in Vaslui, and the host and two eyewitnesses try to answer this question. Each character symbolizes a different way of representing the past. The host, Jderescu, trots out a string of commonplaces and declares at the very start of the program that digging in the past is justified insofar as it helps the community process its traumas. This is precisely what he hopes to achieve by answering the question of whether or not the revolution happened in Vaslui. He has a terrible suspicion – nonetheless justified by the events preceding the broadcast – that the people of Vaslui are not the brave and freedom-loving community they claim to be (they boast that they defied the dictator, and he intends to confront his audience with it). As he says, it is important to clarify the past »for the sake of the truth, and for all our sakes.« It quickly emerges during the course of the discussion that the way to test the reality behind the Vasluians’ identity is to find out whether the local demonstrations started before (even one minute before) the

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moment of Ceausescu’s abdication at 12:08 on the 22nd of December, 1989.1 If they began afterwards, then the entire Vasluian revolutionary narrative falls to pieces. Of the studio guests, the first to speak is the local high-school history teacher, the alcoholic Manescu, who does just what historians tend to do: at no point does he bother to prove that the event he believes to have taken place actually did. Rather, he goes about – within his own limitations – providing the context in time and space of the event that he takes for granted. The language he uses is figurative, constructing and embellishing the heroic narrative, even placing (needless to say) his own person at the center of the revolutionary events in Vaslui. He endows the events that took place with meaning – he creates history. But the host constantly interrupts him in the exposition of his version of events, because he is only interested in finding out whether or not the events happened – whether Manescu went out to protest on the main square before 12:08. The teacher claims it was before, but the people who phone in all disagree. Manescu starts off by trying to reason with them. He is clever, but he quickly realizes that he has no way of proving his assertion, just as the people phoning in cannot prove theirs. The communication between the teacher and the host finally breaks down – they are incapable of establishing what really happened. The other guest, Mr. Piscoci, by contrast, has no problem at all establishing what really happened that day: he quarreled with his wife. To make it up to her, he stole her some flowers because he could not buy any at the market. Then he watched Tom and Jerry. The old man presents the past in a way that can only work in theory, and not in practice: he recounts it as it happened, at most stringing events together into a chronicle. For Piscoci, everything he says is obviously meaningful, but this has absolutely nothing to do with the Vasluians or the traumatic events that might challenge their sense of identity. The old man drones on and on while the other participants drift off and there are no callers – the program descends into torpor. In other words, the mimetic experiment fails, because bare facts do not reveal any meaning. The history teacher does not know what happened, but assigns meaning to what allegedly happened – as all historians do. Piscoci knows what happened, but doesn’t attribute meaning to the events – he merely lays the facts before us as they are. This is what most historians who approach the subject with realist preconceptions think they are doing, i.e., this is the unrealistic self-image of the realist historians. The host, however, is only willing to read the past through the lens of its impact on the community’s present. This is how historians think of themselves when they appeal to the social duty with which their profession endows them, and which therefore makes them indispensable. In the fictional narrative of the film, these three different roles of the historian are neatly divided, and the dialogue between them, – or rather their inability to maintain a dialogue, proves inappropriate for the task of processing trauma. In 1 | Referred to in the film’s English title – 12:08 E ast of B ucharest.

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reality, however, and especially when looking at things that happened in the 20th century, the historian frequently wants to play all three roles at the same time. Do these roles, then, inhibit one another in the real world, as they do in the movies?

The limits of representing tr auma Fortunately, we are not entirely alone in asking this question. There is a longestablished discourse that concerns the relationship between traumatic events (first and foremost the Holocaust) and their historical representation.2 Today, the Holocaust is the preferred testing ground for new developments in the theory of history. I will not go into detail here why Hayden White’s narrativist philosophy of history became pre-eminent in this debate,3 but merely record White’s conclusion: that the traumatic events of the twentieth century (which he calls modernist events) cannot be plotted with the traditional literary techniques of historiography. The twentieth-century experience demands twentieth-century literary devices that can focus attention on the limits of representation. The very nature of these modernist events is such that there are limits to their representability. They are things that would have been inconceivable before. Put another way, they defy the notion that history is a coherent, uninterrupted process. White at one point (referring to Barthes) recommends intransitive writing to historians,4 while at another he concludes that any modernist or post-modernist writing technique will do.5 What was the impact of White’s comments on historians, we may well ask? The first historical work to satisfy his criteria appeared after »only« a decade or two. That, at least, is how Wulf Kansteiner greeted Saul Friedländer’s The Years of Extermination.6 Kansteiner maintains that the book’s unusual structure, the renunciation of the omniscient narrator’s role of historian serves precisely to present the Holocaust throughout as something beyond belief, something untamed.7 But let us note that the people sitting in the studio in Vaslui were not quite how White imagined the historian dealing with traumatic events. He conceptualized the historian as someone capable of transmitting a sense of the traumatic nature of the event (capable of presenting the impossibility of representing the trauma), while historians like Jderescu endeavor to erase the trauma. For White, trauma is a factor outside the historical narrative: in his discourse, things take place with trauma outside the narrative, while for historians like Jderescu, they take place 2 | See the summary from Gyáni: A 20. szazad, pp. 6-13. 3 | Braun: Holocaust; Friedländer: Probing; Kisantal: Túlélő; Kisantal: Tömegmészárlásról. 4 | White: Historical Emplotment. 5 | White: The Modernist. 6 | Friedländer: The Years. 7 | Kansteiner: Success.

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through the process of constructing the narrative. One merely seeks to represent the traumatic event, while the other aims to free the nation of the trauma. White’s historian aims merely to reveal it, while Jderescu wants also to put an end to it. Trauma, then, penetrates the plot of historical narrative aimed at processing the trauma and, I would argue, confuses everything. In an essay published in the New York Review of Books, Robert Darnton creates a separate stream for Jderescuian historiography, which he celebrates under the name of »incident analysis.«8 He takes as the most important example of this school of historical writing the subject of my study, Jan Gross’ Neighbours: the Destruction of the Jewish Community in Jedwabne.9 Darnton’s point of departure is that there is a significant demand from readers for studies of historical traumas, which more and more historians aim to satisfy by working in two registers at the same time. On the one hand, they present the traumatic (and generally bloody) event in convincing detail, while on the other hand (and most importantly) they pay just as much attention to the interpretations of the incident in society, usually within the discourses that determine the nature of national identity and the place allocated for it in the national memory. The practitioners of incident analysis therefore do not simply recount the history of a traumatic event without any regard for what was unusual about it, but try to incorporate the traumatic event as traumatic (something that threatens the identity of a community and therefore needs to be processed) into their texts. That is, they are not in the least afraid of correcting, with their own work, the national self-consciousness. Darnton believes this »incident history« approach to be free of difficulties and calls it a significant methodological innovation. He also predicts great professional and popular success for works that make use of it. Before we look at a text to see if Darnton’s confidence is justified, I would like to point out a few peculiarities of »incident history,« arising from logical extensions of Darnton’s definition. My first comment concerns that register – or rather, narrative – in which the event, no longer traumatic, is put into its place in the national consciousness. In this discourse, the task of erasing the trauma in the narrative of the Jderescuian work is placed upon the very work itself. It has to undertake this task itself: the things that happen do not in themselves become historical events. It is the historian who makes them such by bringing them to public attention. Nothing unusual there so far – there is no shortage of this kind of discourse in academia. Looking over a few of my own articles, they all started thus: »dear colleagues, until now you have thought this and this about this subject, but after you have read this paper, you will think that and that,« and afterwards there will be a new narrative that will summarize what we have learned. If I may say so, one narrative is writing the history of reception (Wirkungsgeschichte) of the

8 | Darnton: It Happened. 9 | Gross: Neighbors.

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other and if I am not wrong, this is the basis of all both scholarly and unscholarly revisionist texts. The problem is that in incident analysis, there can be no narrative other than the one processing the trauma. It is a precondition of processing the trauma that the traumatic event should be understood only within the narrative of its processing, that it become a historical event within this context only – by means of its presentation to the public – and not in its own spatial and temporal context. Otherwise, it would not be true that trauma is something that was previously unimaginable. What we have so far labeled traumatic would turn out to belong to the proper course of history. Darnton’s model therefore includes a logical error. There cannot be two registers: if one account already exists, then the other, definitely can not. Either we weave a story of the past around an event that took place in the past, or we tell the future story of coping with the trauma, but these two alternatives negate one another. The incident analysis project therefore contains an innate contradiction, creating a tension between the conventional way of telling a story and the endeavor to process historical trauma.

N eighbors How to dissolve this innate tension? Is it even possible? What can one say about a traumatic event when absolutely forbidden to narrate it? These are the questions I wish to explore in Jan T. Gross’ Neighbours. Of course, looking at the text itself is only one way of measuring its influence. Looking at its reception would be another obvious starting point, to see how this contradiction becomes problematic, if it becomes problematic at all, in the reception the work receives. To be precise: my own interpretation of others’ readings of Neighbours would certainly be at least as representational as my own reading of the book. However, the work in question had such a widespread and profound social and academic impact in Poland and also abroad10 that I won’t even attempt here to refer to other interpretations. I will therefore take the task of evaluating how effective the text is in processing trauma purely as a question of narration and not history. I would characterize the event that caught Gross’ attention in the following way: in Jedwabne, a dusty Polish cross-roads that according to the Molotov-Ribbentrop pact belonged to the Soviets, two-thirds of the village is murdered on the 10th of July, 1941, not long after the Wehrmacht attacks the Soviet Union and occupies the region of Bialystock. The traumatic aspect of this event is that the two-thirds of the population of the village – who were Jews – were murdered not by the Germans, but by the remaining third of the village, i.e., their Polish neighbors. In 1949, the Polish »Stasi« office in Lomża initiated proceedings against one Ramotowski and others, twenty-two men from Jedwabne in all, for aiding the Germans (!) in 10 | See Polonsky/Michlic: The Neighbors Respond; Aleksiun: Polish Historians.

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murdering the Jews. The transcripts of this trial, along with post-war statements from a few survivors, comprise the sources for Gross’ research. How can we understand an event that seemed unimaginable, an unexpected twist in the tale? I have no answer to that, but I can identify the things without which it is impossible to talk of understanding the meaning, or any meaning at all. In Hungary in the 1980s and 90s, there was a popular television soap opera, also called Neighbours, which was set around the problematic everyday world of a single block of a public housing development. Let us assume that what happened in Jedwabne were to happen in this television series, i.e., that after several centuries of peaceful co-existence, without a single one of the viewers expecting it, one half of the residents of the council block murders the other. Let us say that one of the dead is the doctor in the series, Dr Mágenheim, who died after another protagonist of the show (written deliberately by the authors to represent a more plebeian character), the doctor’s next-door neighbor Feri Vágási, set fire to the flat with the doctor inside. For a moment (perhaps not even a moment that will ever really happen, but that is a logical corollary of the event), what had seemed to be a coherent narrative, a story that held together, will seem like nothing more than the past, confused and lacking meaning. But this confusion won’t last long, since we are in the fortunate position of having seen the preceding episodes and being able to watch the future ones – thus we can create after the events an interpretation of the past in which everything already points to the murders. What had previously been banal will now be imbued with importance and meaning. We will start to notice Magenheim’s German-sounding name, we will recall that he is a doctor to boot and will immediately apply universal stereotypes about the social inequality between Jews and non-Jews. Magenheim will become for us all at once a Jewish intellectual, though his ethnicity and religion had never before been an issue. All this will lead us to question, whether Vágási does not actually spell his name with two ›s‹ and a ›y‹ (i.e. Vágássy), the way that Hungarian nobles generally do – and the Hungarian gentry were stereotypically anti-Semitic. In the series, the characters concluded each episode by summarizing what they had learned during the broadcast, mostly voicing their political and existential concerns. If Vágássy spent the end of the episode preceding the murders complaining about the price of petrol and matches, this becomes now more than the mere everyday discontent of the average citizen, and some cynical foreshadowing of the brutality to come. We continue to do the same in the episodes after the murders, only in those we will see references to the past. In other words, in order to understand an otherwise unexpected twist in the plot, for example, the massacre of the 10th July, we need a span of time – we need to know what happened before and after, in order to be able to build up our associations. Do we find anything like this in the book? Of Jedwabne’s past and its topography, we only get a cursory overview. We also get a description of the idyllic life of the Jedwabne Jews from a book of undated memoirs, as well as two or three contradictory reminiscences of the relations between the Jews and Poles from the

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same. This relatively sparse material, however, is about the members of a Jewish community in Jedwabne who we do not again encounter later in the book, since they were put to death on the 10th of July, 1941. The book is not primarily about their sufferings, but about the trauma experienced by the perpetrators of their murder. We get no information at all about the Polish residents of Jedwabne until 1939, and the few residents we do learn about (for example, how they collaborated with the Soviets), were not the same ones who murdered their Jewish neighbors. The situation is the same with the account of the impact of the massacre. The text therefore does not give us a span of time and does not allow us to develop associations – the massacre is not made part of a narrative. Gross himself admits that no-one will be able to understand, on the basis of his book, why the Polish residents of Jedwabne killed their Jewish neighbors.11 It is as if the television series started with Feri Vágássy – a character we are totally ignorant of – leaning down with a match and a flame leaping up; this would signal at once the beginning and the end of the »series.« I am, of course, exaggerating somewhat. The massacre we were just treating as a single event was of course not some elemental happening, but something with its own internal span of time, a successive series of many events.12 The book’s effect, then, on the reader may better be compared to watching the episode with the massacre first, and then finding out that no more episodes will ever be broadcast. We have no space to find out how the villagers of Jedwabne went from a cacophony of violence to rounding up the village’s Jews, calmly escorting them into a barn, and then covering it with petrol and setting fire to it. Suffice it to say that Gross himself unfolds some meaning – albeit trivial – from the flow of events (for example, pointing out the factor of avarice13 and the tradition of pogroms in the way the killings were carried out), although far more exciting interpretations leap to mind. The villagers of Jedwabne did not merely murder their Jewish neighbors, then go back home calmly to bed; rather, they held an entire series of »tribal dances« before they »consumed« their victims (all of which cries out for an anthropologist). This served two purposes. Firstly, the villagers symbolically transferred the responsibility for the murders onto the Jews by presenting the Jews as Soviet collaborators and the murders purely as retribution for this. Secondly, they tried to rob the Jews of their individual identity, by making the Jews a part of rites that presented them not as individuals but as an amorphous mass, and which deprived them not only of their individual, but of their collective dignity as well. The same people who that very morning had appeared in the guise of neighbors

11 | Gross: Neighbors, p. 12. 12 | On the vagueness of the concept of an event, and the unjustified assumption of its elemental nature, see Mink: Narrative Form. 13 | Gyáni: Helyünk, describes and critiques the school that interprets the Holocaust as »robbery«.

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(which is to say people of the most varied kind) were by lunchtime no more than just Jews, which was merely one step from their being no more at all by sundown. The day of the pogrom can be interpreted from the point of view of modernity. Although Gross is absolutely right that the massacre in Jedwabne was very oldfashioned compared to, say, Auschwitz, very important changes took place during the course of the day: although at the beginning the people murdered out of obvious anger, by the time they herded the Jews into the barn, they were behaving rationally, at least in the sense that they made the decision about how most effectively to kill the Jews in the coldest and most calculating possible way. The pogrom rapidly grew more and more organized due to the improvements in the methods they used to murder. At the same time, the victims themselves became more and more clear about what their »role« was. At first, they tried to flee however they could, but on their way to the barn it seems that they too had become loyal servants of the system set up to exterminate them. This would fit well into the discourse by which Zygmunt Bauman aims to show that the Holocaust is indeed deeply rooted in modernity.14 It is clear that taking into account the internal temporality of the murders helps us understand only the »how« of the event and not the »why.« We can give some elements of the events meaning (for example the setting alight of the barn) but we receive no explanation for why the murders took place at all. Our initial thought has been confirmed – the work really does lack the register in which the historian undertaking incident analysis discusses the traumatic event while placing it into its context in space and time. The trauma remains trauma – something that doesn’t fit into history. The text is narrative-based, but the subject of the narrative is not the events themselves but rather what we earlier said it should be, the processing of the trauma. The story can be reconstructed thus: »dear Poles, until now, you though that the Holocaust is to be understood exclusively in terms of Germans and Jews. Poles had nothing to do with it, or at the very most only that they, too, suffered under the Nazis. But this book will tell you that the Poles took an active part in murdering the Jews, and from now on you will have to take this into account when thinking about yourselves…«.15 Since the text 14 | Bauman: Modernity, pp. 83-150. 15 | The way a historian processes trauma does not only raise questions of narration, but also problems of representation. One can see that in Gross’ work, those statements (or elements of identity) that he wishes to bring into question have, without exception, the Polish nation as their subject, but he wants to use a local (not a national) event to do it. What could the bringing to light of the Jedwabne massacre add to the history and memory of the nation; how could such a »minor detail« enlighten general themes? I do not for a moment believe that the author should fill the pages of his book demonstrating the statistically representative nature of the Jedwabne incident; it is not my intention to attack Gross by saying that we learn nothing from his book about the behavior of the vast majority of Poles towards the Jews, and that the people of Jedwabne are by no means a random sample of the en-

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contains no other narrative, we have to assume that the work intended to change Polish self-perception is in fact the account we mentioned just now. The narrative is not, therefore, concerned with the Wirkungsgeschichte of another narrative, but with its own (or so it would appear): it is concerned with its own reception. Is this something that a narrative can be about? Why not? But then it becomes clear to the reader that the text is not telling about something that happened, but about something that can happen. That is to say, the text abandons the effect of reality in favor of its own fictionality. If I am not mistaken, this is what literary theorists call metafiction. At the same time, the position of the narrator is also unusual, since he becomes a participant in the very story he is writing. This does not occur in the same old-fashioned way as say, Caesar in the De Bello Gallico; the narrator of Neighbours becomes a participant in the story he is telling by recounting the process of writing Neighbours. In the course of the narration, the narrator is more than the simple architect of the story, although it is not true to say that things merely happen to him. If my thinking is correct, then »writing« occurs in the intransitive here.16 Metafiction and intransitive writing – here we are faced with two of the methods recommended by Hayden White for representing traumatic events, or to be more precise, the limits of the representation of such events. Are we really being fair in interpreting the unusual nature of this narrative (in the context of White’s recommendations) as the narrator’s loss of confidence, as the abandonment of the realist (self-)image of historical writing? Does Gross’ work deserve to be placed alongside Friedländer’s? Hardly. For the Jderescuian historian trying to analyze the incident, calling into question of the factual accuracy of the account is unacceptable if only because of their commitment to try and process the trauma. For the narrator of Neighbours, the narrative devoted to dealing with the trauma is not fictive, but hypothetical, i.e. a supposition whose veracity is to be proven. Since in the Jderescuian narrative, the narrator is not discussing the meaning of an event but rather the delayed discovery of its existence, the truth of the account can be proven by the fact of the event having happened. If you can show that the Polish villagers did indeed murder their neighbors, or if it turns out that there was not a single soul on the main square in Vaslui in before 12:08, then the Polish reader of the book, or the program viewer in Vaslui will be forced to

tire populace. Instead, I think the question is whether the murderers in Jedwabne on that fateful day did what they did as Poles, or whether they felt they were acting as some other group, such as anti-Communists, Christians or even as the people of Jedwabne. Because only if the answer is that the killers were identifying primarily as Poles on that particular day does every Pole have to confront Neighbours. Gross does not – at any rate explicitly – deal with this problem. The work lacks a discursive approach to the massacre, and does not show how the victims and the perpetrators talked one about the other, something that can call into question the success of the whole enterprise. 16 | Barthes: To Write.

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admit that their community is not the same as they thought it was before reading the book or watching the broadcast. This is how old man Piscoci and his promised handle on reality becomes important, thanks to Jderescu and the teacher in Manescu’s dialogue. This is how both in Gross and the other incident-analytical texts, the question of »did it happen or not« acquires essential prominence (and let me briefly refer to the surprising extent to which works about the 1956 revolution in Hungary or latterly those on the mass-killings carried out by the Hungarian army during the Second World War are generally focused on facts17). This is in contrast to the alternative question of »what is the meaning of what we believe to have happened?« In ordinary practice, the historian does his best to avoid the former question. This statement may come as a shock to those who have read historical texts, since they seem constantly to be concerned with whether or not something happened. The question of whether or not there was an Industrial Revolution is not, however, the same kind of question as whether or not the steam engine was invented in 1769. The latter is really concerned with the whether the invention itself took place, while the former is not really concerned with the occurrence of the Industrial Revolution, but with the meaning of the invention of the steam engine. The historian thinks about what meaning can be ascribed to the storming of the Bastille, while the Jderescuian narrator is concerned with pondering – what if there was no-one at the Bastille at all on the 14th of July? What is the catch in these »did it happen or not« dilemmas? It is that it is impossible to find valid solutions to them since the past is past and inaccessible to us. Let us look at a few examples of what absurd assertions come out of Gross’ questioning of his sources about the same things again and again and the different responses they keep providing (while lacking any rational criterion by which to judge their veracity). The Jewish accounts of the massacre are reliable, Gross tells us, because »Jewish witnesses to the Jedwabne massacre would not have falsified their accounts out of ill will vis-à-vis their Polish neighbors.«18 Why not? In another instance, Gross writes about one of the principal perpetrators of the mass-killings that »it is quite likely that Sobuta was faking mental illness.«19 Why was it quite likely? And so on. The end of the book can be read almost as a parody of incident analysis, because under the title a New Approach to Sources, we read that historians must exchange their a priori critical stance in the case of this period with a more accepting attitude. According to Gross, the way to determine what happened is to accept every account as true until we can prove that what it says is incorrect. But do we really accept as the truth the statement of the Polish residents of Jedwabne during the trial that it was the Germans who murdered the Jews and not them? Not at all, since – as we are told – this rule applies only to the 17 | Krausz/Varga: A magyar megszálló. 18 | Gross: Neighbors, p. 26. 19 | Ibid., p. 223.

Did It Happen or Not?

accounts given by the Jewish survivors. The most maddening stroke is nonetheless when Gross denies the validity of the confessions (and by extension the testimony) of the accused based on the very word of the accused themselves, according to which they were beaten during their interrogation. The consideration of whether the event occurred or not is therefore a crucial experiment in the proving of the hypothetical narrative whose results are not observable in practice. Therefore it is not enough that the Jderescuian historian is not able finally to prove the factuality of his narrative concerned with the processing of trauma, but his demonstrated incompetence in the course of trying to uncover what really happened in the past serves even to bring into question whether the traumatic event they originally wished to bring to the community’s attention happened or not, in other words the reality of the suffering. This then is roughly my conception of the anatomy, or better yet, the pathology of the incident analytical, Jderescuian approach to history (which is trying to process trauma) and indeed all historical discourse that is trying to encourage us to confront the past. My original question was whether a traumatic event can be processed within the framework of a historical discussion. My answer is that any such experiment is bound to fail and in the process will destroy its tools – the historical narrative itself. But incident analysis carries a wider danger beyond self-destruction in placing its ultimate focus on the question of ›did it happen or not‹? For this on the one hand brings the writing of history into an unsustainable position from an epistemological standpoint, when the Jderescuian historian tries to become what the historian only purports to be. The historian merely assumes that what he’s writing is what actually happened, while the historian undertaking incident analysis actually tries to determine whether this assumption is true or not, without ever managing to show convincingly that it is. The greatest attempt at realism so far, the most »Piscocian« approach to history, gives the most subjective, relativist results – and anything more paralyzing is hard to imagine. On the other hand, because of the centrality of the »did it happen or not« question, the methodology of the historian undertaking incident analysis becomes comparable to that of precisely the people who are trying to minimize the trauma and the suffering – or in other words, morally dubious. The difference between them is merely that while every Holocaust denier exploits the fact that one can never say for certain exactly what happened, the historian trying to process the historical trauma becomes a victim of this fact.

L iter ature 12:08 East of Bucharest (RO 2006, R: Corneliu Porumboiu) Aleksiun, Natalia: »Polish Historians Respond to Jedwabne«, in: R. Cherry/A. Orla-Bukowska (eds.), Rethinking Poles and Jews. Troubled Past, Brighter Future, Lanham 2007, pp. 169-188.

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Barthes, Roland: »To Write. An Intransitive Verb?«, in: id., The Rustle of Language, Berkeley/Los Angeles 1989, pp. 11-21. Bauman, Zygmunt: Modernity and the Holocaust, Cambridge 1989. Braun, Róbert: Holocaust, elbeszélés, történelem [Holocaust, narrative, history], Budapest 1995. Darnton, Robert: »It Happened One Night«, in: New York Review of Books 11(2004), pp. 60-64. Friedländer, Saul (ed.): Probing the Limits of Representation. Nazism and the »Final Solution«, Cambridge/Massachusetts/London 1992. — The Years of Extermination. Nazi Germany and the Jews, 1939-1945, New York 2007. Gross, Jan T.: Neighbors. The Destruction of the Jewish Community in Jedwabne, Poland, Princeton 2001. Gyáni, Gábor: »Helyünk a holokauszt történetírásában [Our place in Holocaust historiography]«, in: Kommentár 3 (2008), pp. 15-18. — »A 20. század mint emlékezeti ›esemény‹« [The 20. century like memory ›incident‹], in: Forrás 41 (2009), pp. 3-15. Kansteiner, Wulf: »Success, Truth, and Modernism in Holocaust Historiography. Reading Saul Friedländer Thirty-Five Years After the Publication of Metahistory«, in: History and Theory 2 (2009), pp. 25-53. Kisantal, Tamás: »…egy tömegmészárlásról mi értelmes dolgot lehet elmondani?«. Az ábrázolásmód mint történelemkoncepció a holokauszt-irodalomban [… »there is nothing intelligent to say about massacre«. The representational method as a conception of history in the holocaust-literature], Jyväskylä 2006. — Túlélő történetek. Ábrázolásmód és történetiség a holokauszt művészetében [Surviving stories. Representational method and historicity in Holocaust art], Budapest 2009. Krausz, Tamás/Varga, Éva Mária (eds.): A magyar megszálló csapatok a Szovjetunióban. Levéltári dokumentumok. 1941-1947 [The Hungarian occupying troops in the Soviet Union. Archival documents, 1941-1947], Budapest 2013. Mink, Louis O.: »Narrative Form as a Cognitive Instrument«, in: R.H. Canary/H. Kozicki (eds.), The Writing of History. Literary Form and Historical Understanding, Madison 1978, pp. 129-149. Polonsky, Antony/Michlic, Joanna B. (eds.): The Neighbors Respond. The Controversy Over the Jedwabne Massacre in Poland, Princeton/Oxford 2004. White, Hayden: »Historical Emplotment and the Problem of Truth«, in: S. Friedländer (ed.), Probing the Limits of Representation. Nazism and the »Final Solution«, Cambridge/Massechusetts/London 1992, pp. 37-53. — The Modernist Event, in: H. White, Figural Realism. Studies in Mimesis Effect, Baltimore 1999, pp. 66-86.

Autorinnen und Autoren

Dániel Bolgár lehrt Sozialgeschichte an der Philosophischen Fakultät der LorándEötvös-Universität Budapest. In der Forschung beschäftigt er sich mit modernen Imparitäten zwischen Juden und Christen sowie mit den politischen Diskursen der sozialistischen Periode. In seiner Promotion sucht er eine neue Erklärung für das Entstehen der charakteristischen jüdischen Erfolge und Niederlagen in der Gesellschaft. Tibor Bónus lehrt an der Loránd-Eötvös-Universität Budapest Literaturtheorie, ungarische und französische Literatur des 20. Jahrhunderts und französische Literatur des 17. Jahrhunderts. Publikationen u.a.: Garaczi László, Bratislava 2002, A csúf másik [Die hässliche Andere], Budapest 2006; Az irodalom ellenjegyzései [Gegenzeichnungen der Literatur], Budapest 2012. György Eisemann ist Professor am Institut für Ungarische Literatur- und Kulturwissenschaft der Loránd-Eötvös-Universität Budapest. Lehrtätigkeit: Literatur der Romantik und der Moderne, Literaturtheorie. Forschungsschwerpunkte: ungarische romantische und moderne Literatur, Mediologie. Wichtigste Publikationen: Mikszáth Kálmán, Budapest 1998, A folytatódó romantika [Die Fortsetzung der Romantik], Budapest 1999, A későromantikus magyar líra [Die ungarische Lyrik der Spätromantik], Budapest 2010. Péter Fodor ist Universitätsoberassistent am Lehrstuhl für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Debrecen. Publikationen u.a. zu Bret Easton Ellis (zus. mit Péter L. Varga), zur Geschichte der modernen und postmodernen ungarischen Prosa, zu den kulturgeschichtlichen und kulturwissenschaftlichen Aspekten des Sports sowie zu Medien der Populärkultur. Achim Geisenhanslüke, Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt. Arbeitsschwerpunkte: Literaturtheorie; Europäische Literatur vom 17. bis zum 21. Jahrhundert. Veröffentlichungen u.a.: Der Buchstabe des Geistes. Postfigurationen der Allegorie von

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Bunyan zu Nietzsche, München 2003; Dummheit und Witz. Poetologie des Nichtwissens, München 2011; Nach der Tragödie. Lyrik und Moderne bei Hegel und Hölderlin, München 2012. Gábor Gyáni lehrt Sozialgeschichte, Stadtgeschichte und Geschichtstheorie am Institut für Geschichtswissenschaften der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Loránd-Eötvös-Universität Budapest und an der Central European University Budapest. Er forscht zur ungarischen Stadt- und Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, zur Geistesund Mentalitätsgeschichte sowie zur Geschichtstheorie. Publikationen u.a.: Nép, nemzet, zsidó [Volk, Nation, Jude], Bratislava 2013; Identity and the Urban Experience: Fin-de-Siécle Budapest, New York 2004; Parlor and Kitchen. Housing and Domestic Culture in Budapest, 1870-1940, Budapest/New York 2002. Hajnalka Halász ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Ungarische Literatur und Kultur der Humboldt-Universität zu Berlin; sie lehrt allgemeine Literaturwissenschaft und ungarische Literaturgeschichte. Thema der Dissertation: Der Begriff der Differenz in den Sprachtheorien des 20. Jahrhunderts. Forschungsschwerpunkte: Hermeneutik und Dekonstruktion. Wichtigste Publikationen: Gesetz zwischen Code und Rauschen. Binäre Systeme vs. Chiasmen bei Saussure und Jakobson. In: Ereignis Literatur. Institutionelle Dispositive der Performativität von Texten, Csongor Lőrincz Hg., Bielefeld 2011; Das Bild, der Verdächtige und der Kronzeuge. Horizonte der Bildhaftigkeit bei Gadamer und Husserl. In: Zwischen Pygmalion und Gorgo. Die Gegenwart des Bildes in der Sprache, Csongor Lőrincz Hg., Berlin 2013; Diskurzusok referenciája a referencia diskurzusaiban. A zaj fogalma a kommunikációelméletben [Die Referentialität der Diskurse in den Diskursen der Referentialität. Der Begriff des Rauschens in der Kommunikationstheorie], Irodalomtörténet [Literaturgeschichte] 2007/4. Werner Hamacher, Emmanuel Levinas Professor of Philosophy, European Graduate School. Von 1998 bis 2013 Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt, von 2003 bis 2007 Distinguished Global Professor an der New York University, von 1984 bis 1998 Professor of German and the Humanities an der Johns Hopkins University. Bücher: Pleroma – Reading in Hegel, London/Stanford 1998; Entferntes Verstehen – Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt a.M. 1998; Lingua amissa, Buenos Aires 2012. Arbeiten im Grenzgebiet zwischen den Literaturwissenschaften und der Sprach- und Geschichtsphilosophie, der Ästhetik und der politischen Theorie. Ágnes Hansági lehrt seit 1997 Literaturtheorie und Kulturwissenschaft an der Károli-Gáspár-Universität der Ungarischen Reformierten Kirche in Budapest. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des Feuilletonromans, Serialität in der Li-

Autorinnen und Autoren

teratur, Kanonisierung. Neuere Publikationen: Az Ixión-szindróma [Das IxionSyndrom], Budapest 2006; Geschichtlichkeit der Kultur und metahistorische Reflexionen der Jahrhundertwende, in: Kultur in Reflexion, hg. von E. Kulcsár Szabó et al., Wien 2008; Romanphilologie ist Buchphilologie?, in: Kulturtechnik Philologie, hg. von P. Kelemen et al., Heidelberg 2011. Zoltán Kékesi ist Dozent für moderne und zeitgenössische Kunst und Kunsttheorie am Lehrstuhl für Kunsttheorie und kuratorische Studien an der Universität der Künste Budapest. Sein Buch über Holocaust-Erinnerung und zeitgenössische Kunst mit Fallstudien über Harun Farocki, Romuald Karmakar, Artur Żmijewski, Eyal Sivan, Omer Fast und Yael Bartana erschien 2011 auf Ungarisch (auf Englisch in Vorbereitung). Neueste Veröffentlichungen: Trauma and Simulacra: Cultural Geography, Memory and Hybrid Identities in Omer Fast’s Spielberg’s List, in: J. Pieldner/Zs. Ajtony (Hg.), Discourses of Space, Newcastle upon Tyne 2013; Das neugeordnete Archiv. Nachleben der Bilder in Harun Farockis Aufschub, in: Cs. Lőrincz (Hg.), Zwischen Pygmalion und Gorgo, Berlin 2013. Website: www.zoltankekesi.com Florian Klinger ist Neubauer Family Assistant Professor in Germanic Studies an der University of Chicago, und Junior Fellow der Society of Fellows, Harvard University. Sein Arbeitsgebiet ist Philosophie und Literatur, Veröffentlichungen u.a. Urteilen, Zürich/Berlin 2011, Theorie der Form, München 2013, und Latenz (Hg. mit Hans Ulrich Gumbrecht), Göttingen 2011. Ernő Kulcsár Szabó, Prof. Dr., Direktor des Instituts für Ungarische Literaturund Kulturwissenschaft der Loránd-Eötvös-Universität Budapest, ordentliches Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Herausgeber der literaturwissenschaftlichen Vierteljahrsschrift »Irodalomtörténet« [Literaturgeschichte]. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Medialität der Literatur in der Moderne, literarische Hermeneutik, Kulturwissenschaft, Theorie der Literatur. Neueste Veröffentlichungen: Megkülönböztetések. Médium és jelentés az irodalmi modernségben [Unterscheidungen. Medium und Bedeutung in der literarischen Moderen], Budapest 2010; Der hermeneutische Koloß und die mediale Unterscheidung. Ist die Philologie (noch) eine Textwissenschaft?, in: P. Kelemen/E. Kulcsár Szabó/Á. Tamás (Hg.): Kulturtechnik Philologie. Zur Theorie des Umgangs mit Texten, Heidelberg 2011; Medialisierung des Literarischen. Die Spätmoderne, in: E. Kulcsár Szabó (Hg.): Geschichte der ungarischen Literatur. Eine historischpoetologische Darstellung. Berlin/Boston 2013. Zoltán Kulcsár-Szabó lehrt Literaturtheorie und Komparatistik am Institut für Ungarische Literaturgeschichte und Kulturwissenschaft der Loránd-Eötvös-Universität Budapest. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der modernen Lyrik, Dekonstruktion, Theorien des Politischen. Jüngste Buchpublikationen:

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Tetten érhetetlen szavak (2007; über Sprache und Geschichte bei Paul de Man) und Tükörszínjátéka agyadnak (2010; über das lyrische Werk des ungarischen Dichters Lőrinc Szabó) Tamás Lénárt, seit 2009 Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Ungarische Literatur- und Kulturwissenschaften an der Eötvös-Loránd-Universität Budapest mit den Forschungsschwerpunkten Literatur und Medientheorie, Theorie und Geschichte der Visualität bzw. Prosa der ungarischen Nachkriegszeit; 2012 Promotion über das Verhältnis von Literatur und Fotografie in der ungarischen Kulturgeschichte; 2014 Monografie: Rögzítés és önkioldás. Fotografikus effektusok és fényképészek az irodalomban [Fixieren und Selbstauslösen. Fotografische Effekte und Fotografen in der Literatur] beim Kijárat Verlag; Publikationen u.a. über das Werk von Béla Balázs, Kálmán Mikszáth, Péter Nádas und Miklós Mészöly. Csongor Lőrincz ist Leiter des Fachgebiets Ungarische Literatur und Kultur an der Humboldt-Universität zu Berlin, lehrt Allgemeine und Ungarische Literaturwissenschaft bzw. Literaturgeschichte. Forschungsschwerpunkte: Interpretationstheorie, Theorie und Geschichte der Lyrik, Performativität (Zeugenschaft). Letzte Publikationen: Az olvasás ismétlése [Wiederholungen des Lesens], Budapest 2010. Hg.: Ereignis Literatur. Institutionelle Dispositive der Performativität von Texten. Bielefeld 2011. Hg.: Zwischen Pygmalion und Gorgo. Die Gegenwart des Bildes in der Sprache. Berlin 2013. Csaba Olay, Leiter des Lehrstuhls für neuzeitliche und zeitgenösssiche Philosophie am Institut für Philosophie der Loránd-Eötvös-Universität Budapest. Schwerpunkte (auch in der Lehre): die deutsche Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert; Hermeneutik, Lebensphilosophie, politische Philosophie, Heidegger,  Gadamer, Arendt, Frankfurter Schule. Veröffentlichungen: Hans-Georg Gadamer: Phänomenologie der ungegenständlichen Zusammenhänge, Würzburg 2007; (mit Tamás Ullmann) Kontinentális filozófia a XX. században [Kontinentale Philosophie im 20. Jahrhundert], Budapest 2011; »Die Tradition der Gegenwart und die Gegenwart der Tradition. Heidegger und Gadamer über Tradition«; in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 2013, VII, S. 196-219. Nicolas Pethes ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität zu Köln und forscht zur Medien- und Wissenschaftsgeschichte der Literatur, insbesondere der Fallgeschichte, zum kulturellen Gedächtnis, zur Populärkultur und zu Archivfiktionen in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Publikationen: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2007; Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013 (Mithg.); Fall – Fallgeschichte – Fallstudie. Theorie und Geschichte einer Wissensform, Frankfurt/New York (Mithg.).

Autorinnen und Autoren

Attila Simon ist Dozent an der Universität Debrecen; er lehrt an der juristischen Fakultät Ethik, politische Philosophie und Argumentation und hält an der philosophischen Fakultät Seminare über antike Literatur und Philosophie; Forschungsschwerpunkte: praktische Philosophie in der Antike, antike Rhetorik und Literaturtheorie; deutschsprachige Publikationen über die Antigone des Sopho­ kles, über die Ekphrasis bei Lukian, zur praktischen philosophie des Aristoteles und zur Geschichte der klassischen Philologie (Karl Kerényi, József Balogh). Ábel Tamás, PhD, ist seit 2010 wissenschaftlicher Assistent am Institut für Ungarische Literatur- und Kulturwissenschaft der Loránd-Eötvös-Universität Budapest. Sein Forschungsinteresse richtet sich auf kulturwissenschaftlich orientierte Interpretation klassischer lateinischer Literatur sowie auf die Theorien der Philologie. Er war Mitherausgeber des Sammelbandes Kulturtechnik Philologie (Hg. v. P. Kelemen, E. Kulcsár Szabó und Á. Tamás. Heidelberg 2011). Ervin Török lehrt am Lehrstuhl für Visuelle Kultur und Literaturtheorie der Universität Szeged. Er forscht zur Narratologie, satirischen Literatur, Grenzregionen von Film und Literatur. Seine Dissertation schrieb er über die Dramen und Essays Heinrich von Kleists. 2006 erschien sein Buch Einführung in die Analyse epischer Texte und des narrativen Films (Mitautorin Izabella Füzi). Karl Vajda, Dr. habil., Univ.-Doz., ist Fachbereichsleiter für germanistische Literaturwissenschaft an der János-Selye-Universität in Komorn (Komárno), Slowakei. Er lehrt Hermeneutik, Literaturtheorie sowie deutsche Literaturgeschichte und bemüht sich um eine ontologische Reorientierung der Literaturtheorie. Von ihm auf Deutsch erschienen: Prolegomena zur Literaturontologie, Frankfurt a.M. u.a. 2012. Péter L. Varga lehrt am Institut für Ungarische Literatur- und Kulturwissenschaft der Loránd-Eötvös-Universität Budapest; Forschungsfelder: Literatur- und Kulturwissenschaft; Ungarische Prosa und Lyrik nach 1945; zeitgenössische Literatur; Populärkultur und Medialität; wichtigste Publikationen: A metamorfózis retorikái. Tudomány, diszkurzus, medialitás az irodalomban és az olvasásban [Die Rhetoriken der Metamorphose. Wissenschaft, Diskurs, Medialität in der Literatur und Lektüre], Budapest 2009; Töréspontok [Bruchstellen], Dunaszerdahely 2010; Az eltűnés könyvei. Bret Easton Ellis [Bücher des Verschwindens], Budapest 2012 (Koautor: Péter Fodor). Ulrike Vedder, Professorin für »Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart/ Theorien und Methoden literaturwissenschaftlicher Geschlechterforschung« am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Kulturelle Transformationen von Dingen; Generationen- und Genderforschung; Narrationen an der Grenze des Todes. Publikationen (Aus-

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wahl): Wirklichkeit und Wahrnehmung. Neue Perspektiven auf Theodor Storm (Mithg., 2013); Das Testament als literarisches Dispositiv. Kulturelle Praktiken des Erbes in der Literatur des 19. Jahrhunderts (2011); Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte (Koautorin, 2008).

Personenregister

Adorno, Theodor W.  430, 434f, 436, 446ff., 460, 472 Agamben, Giorgio  40, 121, 131, 330, 333, 336, 338, 363, 468, 473 Aischines 261 Aldrete, Gregory S.  275, 285 Aleksiun, Natalia  481, 487 Alexander, Bernát  150 Anderson, Warwick  115, 131 Andor, Csaba  138, 150, 153, 156, Ankersmit, Frank  393, 409 Anouilh, Jean  413 Arany, János  138-158 Arditi, Benjamin  353, 359, 363 Arendt, Hannah  11, 65. 67, 338, 363, 367-387404, 409, 492 Aristoteles  29, 33, 56, 69, 74, 80, 87, 92, 94, 108, 262f, 265-271, 275, 285f, 372, 381, 493 Aron, Raymond  397ff, 403, 409 Assmann, Aleida  15, 19, 114, 131, 304, 307 Assmann, Jan  15, 19, 69, 87f, 304, 307 Ayer, Alfred Jules  399, 409

Baackmann, Susanne  424, 426 Babits, Mihály  193 Bachleitner, Norbert  179, 182, 185, 195 Bachtin, Michael  84, 87 Bach-Zelewski, Erich von dem  466 Baecker, Dirk  222, 240, 253ff, 333,

Baelo-Allué, Sonia  199, 201f, 211 Bálint, Gábor  191, 195 Ball, Hugo  335, 363 Balzac, Honoré de  87, 132, 195 Bán, Zsófia  205, 2011 Bárdos, József  146, 156 Barthes, Roland  97, 107, 108, 314f, 321, 333, 479, 485, 488 Bartlett, Frederic  113 Bauer, Karin  457, 460 Behnken, Klaus  473 Bendersky, Joseph W.  336, 363 Bene, Kálmán  138, 156 Benhabib, Seyla  380 ,386, Benjamin, Walter  28, 34, 122, 131, 153, 156, 323, 333, 350ff, 363, 433f, 440, 443f, 446, 452-457, 460, 472ff Benz, Wolfgang  468, 473, Bérczy, Károly  151 Berény, Róbert  190 Berkhoffer, Robert F.  400, 409 Bibó, István  309, 333 Binczek, Natalie  217, 226, 253 Blanchot, Maurice  101, 122, 460 Blasberg, Cornelia  130f Bloch, Ernst  358, 364 Bloch, Marc  392 Blume, Horst-Dieter  266, 269, 285 Böckenförde, Ernst-Wolfgang  341, 364 Bojanić, Petar  361f, 364, 450, 460 Bolgár,Dániel 17

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Böll, Heinrich  450, 453, 458, 460 Bolz, Norbert  348, 364 Bónus, Tibor  17 Borges, Jorge Luis  104, 130 Boschung, Urs  130, 132 Bossinade, Johanna  418, 425f Bourdieu, Pierre  182, 195, 384, 387 Bowie, Malcolm  100, 108 Bozzay, Margit  185 Braese, Stephan  423f, 426 Brandom, Robert  54, 67 Braudel, Fernand  392ff, 401, 409 Braun, Róbert  479, 488 Brauns, Jörg  217, 253 Brecht, Bertolt  413-419, 424ff, 448, 472f Breier, Karl-Heinz  369, 387 Breitman, Richard  463, 473 Bródy, Lili  184 Bronfen, Elisabeth  423, 426 Browning, Christopher  465, 473 Buckle, T.H.  391 Burdorf, Dieter  215, 253 Bürger, Peter  177, 198 Burke, Edmund  340 Burke, Peter  391f, 409 Burkhardt, Jacob  391 Busa, Margit V.  180, 195 Butzer, Günter  113, 132

Caesar, Julius  292, 302, 485 Campe, Rüdiger  124, 132 Camus, Albert  203 Canetti, Elias  130 Carr, David  396, 409 Carrard, Philippe  397, 409 Caruth, Cathy  16f, 19, 423, 426, 431, 460 Cassagne, Albert  182, 195 Cassirer, Ernst  361 Castoriadis, Cornelius  16 Ceausescu, Nicolae  478 Chrostowska, Sylwia D.  121, 132

Cicero, Marcus Tullius  82, 87, 259286, 303, 307, 396, Clarke, Jaime  202, 211 Cocteau, Jean  413 Cohen, Roger  199, 202, 211 Colby, Georgina  206, 211 Comte, Auguste  391 Connolly, Joy  270, 272, 278, 286 Corbeill, Anthony,  277f, 286 Cowan, Robert  293, 308 Craciun, Ioana  215, 226 Csapodi, Csaba  178, 197 Csengery, Antal  146f Czoch, Gábor  393, 409

Dánél, Mónika  19 Danto, Arthur  399, 409 Darnton, Robert  480f, 488 Däubler, Theodor  335, 337, 357f, 361, f, 365 Davidson, Donald  66 de Berg, Henk  216, 236, 253 de Man, Paul  18, 98, 108, 250, 461 Deák, István  406, 409 Deleuze, Gilles  96f, 108, 167, 169, 171f, 312, DeLillo, Don  207 Demosthenes  261, 269 Dennerlein, Katrin  69, 87 Derrida, Jacques  10f, 13, 19, 100, 108, 114f, 122, 132, 148, 156, 178, 195, 225f, 236, 250, 252f, 268, 312, 322, 333, 346-354, 359f, 364, 438-442, 446, 456, 460, 470ff Diner, Dan  11, 431, 460, Dinges, Martin  129, 132 Diogenes Laertios  283 Döblin, Alfred  413 Dolar, Mladen  338, 364 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 195 Dubiel, Helmut  376f, 387 Dugin, Itzak  466

Personenregister

Dumas, Alexandre  194f Duttlinger, Carolin  441, 460 Düwell, Susanne  115, 132 Dux, Adolf  147, 183, Dyzenhaus, David  344, 364

Ebbrecht, Tobias  465, 474 Ebeling, Knut  114, 132 Eberly, Rosa A.  203, 212 Eco, Umberto  113 Eder, Annemarie  161, 173 Eibl, Karl  69, 87 Eichendorff, Joseph von  165, 173 Eichmann, Adolf  338, 363 Eisemann, György  15, 137-158 Eley, Geoff  401, 410 Ellis, Bret Easton  198-213 Emich, Gustav  143, 147, 150, 180, 183, Emrich, Hinderk M.  113, 134 Encke, Julia  73, 87 Engel, Gisela  304, 308 Engl, Géza  140, 157 Enyedi, Sándor  150, 156 Eötvös, József  146 Erdélyi, János  147 Erdle, Birgit  423, 426 Erkel, Gyula  154, 157 Ernst, Wolfgang  114, 118, 120, 129f, 132 Esposito, Elena  114, 132 Esquirol, Jean-Étienne  120 Estermann, Alfred  179, 195 Faimberg, Haydée  420f, 426 Fantham, Elaine  259, 265f, 277, 286 Farge, Arlette  116ff, 132 Fasbender, Christoph  215, 253 Febvre, Lucien  392 Fejér, László  151, 156 Figal, Günter  69, 87 Fodor, Péter  15, 19, 206, 212 Fogel, Robert William  401, 410 Fögen, Thorsten  259, 283f, 286 Földesdy, Gabriella  153, 156

Förster, Jürgen  375, 387 Foucault, Michel  18, 114-123, 125, 130134 Franco de Sá, Alexandre  336, 364 Francsics, Károly  408, 410 Frentz, Walter  467, 474 Freud, Sigmund  12, 40, 107f, 114, 160, 162ff, 165, 169, 171ff, 441 Friedlander, Saul  470, 474 Friedländer, Saul  468, 474, 479, 485, 488f Friedrich, Hugo  81, 87 Fritz-El Ahmad, Dorothee  178ff, 185, 194, 196 Fröhlich, Margit  465, 474 Fuchs, Peter  227, 254 Furet, François  403, 410

Gadamer, Hans-Georg  23, 76, 83, 87, 222, 350, 364, 453, 460, 490 Gángo, Gábor  380, 387 Geisenhanslüke, Achim  17, 160, 166, 173 Gellért, Oszkár  188 Gellius, Aulus  269, 278, 283, Genette, Gérard  69, 87, 96ff, 101, 108 Giddens, Anthony  402 Giesecke, Michael  225, 254 Glatz, Eduard  183 Goebbels, Joseph  341, 467, Goethe, Johann Wolfgang von  124ff, 131, 133, 140, 424 Gomel, Elena  200, 212 Gould, Stephen  116, 133 Graevenitz, Gerhart von  180ff, 190, 195 Grassi, Ernesto  39 Greguss, Ágost  146f, 150 Grey, Paul  208, 212 Grimm, Jakob  353, 364 Grimm, Wilhelm  353,364 Gross, Jan T.  480-488 Grube, Gernot  81, 87, 155

497

498

Signaturen des Geschehens

Grünewald, Thomas  287, 308 Gumbrecht,Hans Ulrich  9, 12, 19, 153, 156, 216f, 254 Günter, Manuela  113, 122, 132, Günzel, Stephan  114, 132, Gyáni, Gábor  10, 391-411, 479, 483, 488 Gyárfás, Miklós  153, 156 Gyulai, Pál  146, 151

Habermann, Frank  225, 254 Habermas, Jürgen  23, 183 Hacking, Ian  115, 133 Hage, Volker  433, 439, 443, 460 Hajnóczy, Péter  309 Halász, Hajnalka  16 Hall, Jon  260, 265f, 273, 275, 278, 286 Hamacher, Werner  10, 14, 21-35, 323, 329, 333 Hamburger, Käte  412, 424ff Han, Byung-Chul  15, 19, 41, 44, 50 Hansági, Ágnes  15 Hardie, Philip  287f, 294, 300ff, 308 Harmat, Georg  183 Harper, Collins  392 Hartmann, Nicolai  82, 87 Hasenclever, Walter  413 Hauser, Arnold  180, 183, 196 Haverkamp, Anselm  9, 12, 19, 160, 173 Haycroft, John  405, 410 Haynes, Holly  287, 299, 302, 308 Heath, Malcolm  269, 286 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  21, 28, 33, 125, 133, 145, 165f361f, 364, 415 Heidegger, Martin  10f, 13, 19, 23, 33, 39-46, 48ff, 53-68, 72-82, 84, 87, 153, 156, 159f, 173, 222, 231, 254, 350, 352, 358, 361, 363f, 443 Heider, Fritz  228, 233, 240 Heisenberg, Werner  39, 51 Hell, Julia  439, 442, 460

Helmholtz, Hermann von  40 Heraklit  33, 350 Hess, Volker  115, 129, 133 Hesse, Klaus  467, 474 Hilberg, Raul  466, 474 Hillis Miller, John  99, 108, 331, 334 Himmler, Heinrich  463-475 Hippolyte, Jean  159 Hitler, Adolf  448, 454, 466f, 474 Hobbes, Thomas  310, 340, 350, 364f, 376, Hochhuth, Rolf  413 Höffe, Ottfried  369, 387 Hölderlin, Friedrich  29, 79, 87, 415, 4242 Hornshøj-, Stig  467, 474 Hornyánszky, Gyula  296, 308 Horváth, Károly  147, 156 Hull, Margaret Betz  382, 387 Humboldt, Wilhelm von  77, 88 Humphrey, Richard  70, 88 Husserl, Edmund  33 Huxley, Aldous  99 Huyssen, Andreas  432, 439, 441f, 453, 460

Illyés, Katalin  178, 196 Ilsemann, Mark  432, 460 Imre, Zoltán  154, 156 Iser, Wolfgang  222, 254

Jäger, Georg  179, 196 Jahraus, Oliver  215ff, 225ff, 236, 254 Jakobson, Roman  437 Jauß, Hans Robert  16, 71, 88, 205, 212, 445, 460 Johannes Paul II.  359 Jókai, Mór  180, 183f, 187, 190, 195, 406ff, 410 Jünger, Ernst  338, 342, 348, 357, 361, 363f.

Personenregister

K afka, Franz  130, 162, 170, 172, 309f, 318, 333 Kaizinger, Rita  154, 157 Kansteiner, Wulf  479, 488 Kant, Immanuel  28f, 39, 56f, 67, 145, 331, 333, 434, 460 Kántor, Lajos  150 157 Kantorowicz, Ernst  339, 364 Kárffy, Titus  180 Karinthy, Frigyes  184f. 190f Karmakar, Romuald  463-475 Kassák, Lajos  190 Kayser, Wolfgang  81, 88 Keiter, Heinrich  194, 196 Kékesi, Zoltán  18 Kelényi, István  153, 157 Kellen, Tony  194, 196 Kennedy, Ellen  335, 364 Kerényi, Ferenc  138f, 150f, 157 Kerényi, Karl  424 Khurana, Thomas  251f, 254 Kierkegaard, Søren  33 King, Stephen  206ff, 212 Kirkpatrick, David D.  208, 212 Kisantal, Tamás  479, 488 Kittler, Friedrich  40, 51, 125, 133, 141ff, 145, 152, 157 Kleist, Heinrich von  14, 309-334 Klinger, Florian  11f, 14, 19, 53-68, Kluge, Alexander  433, 442, 444, 450454, 457, 461, 464 Kogge, Werner  155 Kojève, Alexandre  361, 366 Kölcsey, Ferenc  148 Kolesch, Doris  141, 157 Köppe, Tilman  215, 254 Köppen, Manuel  465, 474 Korthals, Holger  70, 88 Koschorke, Albrecht  123, 133, 171ff Koselleck,Reinhart  9, 15f, 19, 244f, 255, 350, 364, 392, 394-397, 400, 404, 407, 410, 436f, 440, 4450, 454, 461

Košenina, Alexander  117, 133 Kossuth, Lajos  402f, 406f, 409f Kosztolányi, Dezső  193, 203, Kovács, Gábor  371, 387 Kozák, Dániel  287, 293, 298 Krafft-Ebing, Richard von  162f, 171, 173 Krajewski, Marcus  127, 133 Krämer, Sibylle  144, 157, 217f, 255, 456, 461 Krausz, Tamás  486, 488 Kreuzer, Helmut  182, 196 Krúdy, Gyula  46, 510, 185ff Kuhn, Thomas  64, 67 Kulcsár Szabó, Ernő  9, 155, 157 Kulcsár-Szabó, Zoltán  11, 14, 431, 450, 452, 461 Künzler, Jan  241, 255 Küpper, Joachim  268, 286

L. Varga, Péter  15, 19, 206, 212 LaCapra, Dominick  470, 474 Lakatos, Éva  179, 196 Langgässer, Elisabeth  413, 415, 418f, 421, 424ff Lanzmann, Claude  466, 474f Larubia-Prada, Francisco  330, 333 Le Goff, Jacques  393, 410f Lecky, H.W.  391 Lefebvre, Alexandre  361, 364 Lehmann-Haupt, Christopher  198, 212 Lehr, Thomas  130ff Lenin, Wladimir Iljitsch  354ff Leroi-Gourhan, André  466, 474 Lessing, Theodor  445 Link, Jürgen  116, 133 Lipták, Dorottya  181, 196 Löhnig, Martin  160, 173 Longerich, Peter  463, 466f, 474 Lőrincz, Csongor  10, 13, 18, 19, 456, 461 Lotman, Jurij Michailowitsch  70f, 88 Löwith, Karl  344, 364

499

500

Signaturen des Geschehens

Ludendorff, Erich  348 Luhmann, Niklas  16, 114, 133, 182, 196ff, 215-256, 339, 364, 448, 461 Lukács, György  81, 88 Luther, Martin  320, 324, 326ff, 331f

Machiavelli, Niccolò  369 Madách, Imre  15, 137-158 Mailer, Norman  203f, 212 Mankin, D.  263, 265f, 277, 280f, 284, 286 Márai, Sándor  46 Marder, Micheal  347, 364 Marin, Louis  339, 364 Marius, Benjamin  217, 256 Marquard, Odo  430, 461 Martinez, Matthias  69, 88 Marx, Karl  32, 473 Maschke, Gunter  344, 364 Máté, Zsuzsanna  146, 153, 157 Matthäus, Jürgen  465, 467f, 469, 474 McCarthy, Andrew  207, 210, 212 McDowell, Edwin  199, 202, 212 McIntyre, Alasdair  383 Megill, Allan  397, 411 Mehring, Reinhard  345, 364 Mendelsohn, Andrew  115, 133 Menke, Bettine  314, 333, 454, 461 Meran, Josef  71, 88 Merklin, Harald  280 Meyer, Uwe  424, 427 Michlic, Joanna B.  481, 488 Miklós, Andor  184, 193 Miller, John  391 Mink, Louis O.  483, 488 Moennighoff, Burkhardt  215, 253 Mohácsi, Jenő  140, 157 Möllers, Christoph  438, 461 Molnár, György  152 Montesquieu, Charle de Secondat Baron von  369 Móricz, Virág  187ff, 196 Móricz, Zsigmond  175-196,

Moritz, Carl Philipp  115 Mouffe, Chantal  343, 364 Moxter, Michael  70, 88 Müller, Heiner  457, 461 Müller, Olaf  465, 474 Müller, Ulrich  161, 173 Munteanu, Dana Lacourse  275, 286 Murphet, Julian  204, 212 Murphy, Cullen  128, 134 Musil, Robert  10f, 19, 446, 452, 461

Nacsády, József  180 Nádas, Péter  46 Nagy, István  140 Nagy, Péter  186 Namier, Lewis  392 Nassehi, Armin  216, 256 Nebe, Arthur  466 Németh, Antal  150 ,158 Neuhaus, Volker  125, 133 Neuschäfer, Hans-Jörg  178ff, 185, 194, 196 Nietzsche, Friedrich  33, 45, 47, 49, 51, 113, 119, 154, 158, 159f, 260, 363f, Niven, Bill  430, 461 Nora, Pierre  117, 393, 411 Nossack, Hans-Erich  433, 442, 444f, 447, 450, 453, 461 Nünning, Ansgar  215, 256 Nüßlein, Theodor  261, 280, 286 O’Gorman, Ellen  288, 298, 308 Olay, Csaba  11, 380, 387 Ong, Walter  397, 411 Ottlik, Géza  46f, 51, Ovid  167, 170, 173, 293f, 296f, 300, 308 Ozouf, Mona  405, 411

Pan, David  204, 212 Panizza, Oskar  121 Parnes, Ohad  421, 427 Paul, Jean  126ff, 133

Personenregister

Paulay, Ede  150, 153, 156ff Pétery, Károly  149 Pethes, Nicolas  17, 115, 132 Petőfi, Sándor  407f, 411 Pignatelli, Frank  120, 133 Platon  29, 33, 40, 47, 113, 264, 268ff, 347 Plessner, Helmuth  446, 450, 461 Plinius 282f Polonsky, Anthony  481, 488 Pomata, Gianna  115, 134, Porumboiu, Corneliu  477 Poulet, Georges  103, 108 Prangel, Matthias  216, 253 Praznovszky, Mihály  138, 158, Presner, Todd Samuel  438f, 442f, 453, 461 Priotto, Cristina  182, 196 Pristin, Terry  203, 212 Proust, Marcel  17, 89-94, 96, 99ff, 103-109, 440

Quételet, Adolphe  124 Quintilian  262, 269, 272f, 276-279, 281ff, 286 R. Várkonyi Ágnes  391, 411 Raabe, Wilhelm  130f, 134 Radó, György  138, 158 Rákosi, Jenő  153, 158 Ranke, Leopold von  391, 411 Rathje, William  128, 134 Rathmann, Thomas  10, 20, 114, 122, 134 Revel, Jacques  117, 391, 393, 411 Reviczky, Szevér  147 Ricoeur, Paul  70, 88, 383, 387, 400, 411 Riefenstahl, Leni  467, 472ff Rieger, Stefan  116, 134 Ries, Wolfgang  297f, 308 Riot, Philippe  121, 134 Rolland, Romain  413 

Rollka, Bodo  182, 196 Rosenberg, Alfred  361 Rosenblatt, Roger  201, 212 Rosenzweig, Franz  350, 361 Rosner, Krisztina  153, 158 Rössler, Beate  371, 387 Rousseau, Jean-Jacques  310

Sacher-Masoch, Leopold von  159-173 Sachs, Nelly   415, 419ff, 425, 427 Sade, Donatien Alphonse François de  161, 171f Saussure, Ferdinand de  13, 219, 224ff, 229, 231, 236, 254 Sauter, Michiel  165, 173 Schadewaldt, Wolfgang  242 Scheffel, Michael  69, 88 Schindler, Roland  376, 387 Schlöndorff, Volker  422 Schmid, Wolf  71, 88 Schmidt, Johannes F.K.  215f, 256 Schmitt, Carl  11, 311-314, 324, 327, 334366, 448ff, 458, 461 Schmitz, Herrman  44f, 51 Schneider, Ute  193, 196 Schnitzler, Arthur  79 Schönert, Jörg  117, 134 Schönherr-Mann, Hans-Martin  374, 387 Sebald, W.G.  429-462 Sebestyén, Arnold  184 Seidensticker, Bernd  414, 427 Sewell, William H.  401-405, 411 Sheppard, R.Z.  199f, 212 Simiand, François  392, 411 Simon, Attila  17 Simonyi, Mária  190 Simpson, Philip L.  202, 212 Šklovskij, Viktor  176 Smith, Gary  113, 134 Soboul, Albert  405, 411 Sonkowsky, Robert  260, 265f, 272, 286

501

502

Signaturen des Geschehens

Sophokles  413ff, 417, 419f, 424-427 Sorel, George  344 Sőtér, István  144, 158 Spencer-Brown, George  219-222, 250, 253 Spengler, Oswald  361 Spitzer, Leo  103, 108 Spranger, Eduard  358, 365 Stäheli, Urs  217, 225, 235f, 256 Stanitzek, Georg  217, 256 Stanzel, Franz Karl  69, 81, 88 Starr, Chester G.  392, 411 Steinbrink, Bernd  259f, 286 Steiner, Georg  415, 423, 427 Stempel, Wolf-Dieter  9, 19 Stierle, Karlheinz  107, 109 Stifter, Adalbert  128-132, 134 Stiles, Todd  200, 212 Stone, Lawrence  393, 411 Strathausen, Carsten  472ff Strauss, Leo  344f, 356f, 366 Striker, Sándor  138, 158 Studt, Christoph  469, 474 Suter, Andreas  71, 88 Sütő, András  309 Szász, Károly  146ff Szécsényi, Endre  370, 387 Szejnmann, Claus-Christian W.  465, 475 Szinnyei, József  178, 180 Szomory, Dezső  184 Szontagh, Pál  139, 141 Szűcs, Jenő  310

Tacitus, P. Cornelius  281, 287-308 Taine, Hippolyte  391 Tamás, Ábel  17 Tasnádi, István  309 Taubes, Jacob  353, 366 Tawney, R. H.  392 Tegel, Susan  468f, 475 Tersánszky, Józsi Jenő  184, 196 Theophrast 275

Thielking, Sigrid  130, 134 Thompson, Michael  128, 134 Thorne, Matt  211f Thury, Zsuzsa  184f Tibull  276, 283 Tischel, Alexandra  453, 462 Tocqueville, Alexis de  369 Toldy, Ferenc  146 Tommissen, Piet  361, 366 Török, Ervin  14, 314, 334 Tóth, András  178, 195 Tóth-Czifra, Júlia  139, 158 Trefort, Ágoston  178 Trottmann, Christian  380, 387 Turk, Horst  130, 134 Turner, Victor  46, 51 Tynjanov, Jurij  175f, 196

Urban, Amanda  199f Vajda, János  147 Vajda, Karl  10 Varga, Éva-Mária  486, 488 Varga, János  406, 411 Vedder, Ulrike  18, 128, 134, 421, 427 Vees-Gulani, Susanne  432, 440, 462 Venn, Werner Alfred  463 Vértesy, Miklós  178, 195 Villa, Dana  368, 387 Villette, Charles  405 Virchow, Rudolf  115 Vismann, Cornelia  113, 134 Vogt, Jürgen  80, 88 Vöhler, Martin  414, 427 Voltaire 391 Vörösmarty, Mihály  146, 148 Wagner, Frank  473 Walter, Klaus-Peter  178-181, 194, 196 Walzel, Oskar  361 Ward, Simon  453, 462 Warnecke, Boris  269, 286 Waters, Tom  202, 213

Personenregister

Weber, Max  337 Weber, Samuel  344, 365f Wegmann, Nikolaus  113, 134 Weil, Grete  413f, 422-427 Weinrich, Harald  113, 134 Weitin, Thomas  113, 134 Wellberry, David E.  41 White, Hayden  479f, 485, 488 Wild, Markus  62, 68 Willemsen, Roger  161, 173 Willer, Stefan  421, 427 Wilms, Wilfried  431, 462 Winko, Simone  122, 135, 215, 254 Winterbottom, Michael  259, 266, 286 Wisse, Jacob  259, 263, 286 Wittgenstein, Ludwig  23, 33, 54f, 60, 62, 67, 91 Wöhrle, Georg  259, 286 Wolf, Burkhardt  113, 134 Wolfe, Robert  463, 470, 475 Woodman, Anthony J.  290, 292f, 308 Worthmann, Merten  465, 475 Wunsch, Matthias  59, 68

Xenophon  306, 308 Young, Elisabeth  198, 213 Yourcenar, Marguerite  413

Zaïdl, Motke  466 Zapatka, Manfred  464 Zaretsky, Eli  382, 387 Zeeb, Ekkehard  317, 331, 334 Zilahy, Károly  147 Zimmermann, Bernd Alois  430 Zimmermann, Johann Georg  130, 132, 135 Zipfel, Frank  69, 88 Zons, Raimar  71, 88 Zumthor, Paul  413

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