Shakespeares Mädchen und Frauen: 53 Porträts aus Leben und Dichtung [2 ed.] 9783534450169, 9783534450176, 3534450167

Die sterbliche Wahrheit des prosaischen Lebens begegnet in diesem Großgemälde der Frauenwelt Shakespeares eher am Rande.

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Shakespeares Mädchen und Frauen: 53 Porträts aus Leben und Dichtung [2 ed.]
 9783534450169, 9783534450176, 3534450167

Table of contents :
Cover
Impressum
Inhalt
Vorbemerkung
Elisabeth Tudor
Mary Shakespeare
William Shakespeare
Anne Shakespeare
Susanna Hall
Judith Quiney
Elisabeth Tudor
Jeanne d’Arc, genannt La Pucelle
Königin Margaretha
Königin Margaretha
Lady Gray
Lady Grey / Königin Elisabeth
Lavinia
Julia / Silvia
Silvia / Julia
Lady Anna
Ämilia, Äbtissin zu Ephesus
Catharina
Prinzessin von Frankreich
Constanze
Julia
Titania
Lady Percy
Jessica
Portia
Frau Margaret Page
Frau Alice Ford (Fluth)
Jungfer Anna Page
Hero
Beatrice
Portia
Prinzessin Catharina
Rosalinde
Ophelia
Olivia
Maria
Viola • Olivia • Maria
Helena
Cressida
Cassandra
Helena
Isabella
Desdemona
Cordelia
Lady Macbeth
Kleopatra
Virgilia
Thaisa / Marina
Imogen
Perdita
Miranda
Anna Boleyn
Königin Katharina
Anhang
Zur Textgestalt der Zitate
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Backcover

Citation preview

Nach der Mode der Galeriewerke des 19. Jahrhunderts werden in diesem Buch alle wichtigen Mädchen und Frauen aus Shakespeares Leben und Dichtung in empfindsamen Bildern, in nacherzählendem und interpretierendem Wort und in ausführlichem Zitat vorgestellt. Kein Dichter ist so reich an poetischer Einbildungskraft, was Frauen betrifft, wie Shakespeare; und wenn es wirklich einen sinnvollen Grund gäbe, seine Verfasserschaft anzuzweifeln, dann allenfalls mit der Behauptung, Shakespeare sei eine Frau gewesen.

Shakespeares Mädchen und Frauen

Prof. Dr. Joseph Kiermeier-Debre M.A. (* 1946) ist Literatur-, Theaterund Kunstwissenschaftler. Er lehrte an der Universität München, arbeitete als Museumsleiter und hat zur Literatur und Kunst zahlreiche Veröffentlichungen vorgelegt.

Joseph Kiermeier-Debre

www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-45016-9

Joseph Kiermeier-Debre

Shakespeares Mädchen und Frauen 53 Porträts aus Leben und Dichtung

Shakespeares Mädchen und Frauen

Abb. 1: Shakespeare-Denkmal in Weimar im Park an der Ilm (© Michak)

Joseph Kiermeier-Debre

Shakespeares Mädchen und Frauen 53 Porträts aus Leben und Dichtung

2022 Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt

Prof. Dr. Joseph Kiermeier-Debre war bis zu seinem Ruhestand Leiter des Antoniter-/Strigelmuseums in Memmingen, Gründer und Leiter der MEWO Kunsthalle in Memmingen und Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität München. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Veröffentlichungen zur Literatur vom Barock bis in die Gegenwart, großer Kunstbücher und Ausstellungskataloge und zahlreicher Anthologien mit den Gedichten von Eichendorff (dtv 13600), Goethe (dtv 13512), Schiller (dtv 13270) und Klabund (dtv 20641) etc. Von 1997 bis 2013 betreute er als Herausgeber die dtv Bibliothek der Erstausgaben. Die insgesamt 80 Bände in originaler Orthographie und Interpunktion waren ergänzt durch Nachweise zur Textgestalt, versehen mit einem Glossar, einer Zeittafel zu Leben und Werk und einem Nachwort des Herausgebers. Ferner erschien beim Deutschen Taschenbuchverlag 2009 die Erstausgabe von „Schillers Frauen“ (Nr. 13769) und 2011 die Erstausgabe von „Goethes Frauen“ (Nr. 14025).

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio­ graphie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. wbg Academic ist ein Imprint der wbg c 2022 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Umschlaggestaltung unter Verwendung des Stahlstichs „Bildnis von Shakspeare” von Edouard Schuler (1806–1882) Gesetzt aus Minion Pro / Avenir Next Condensed Satz: Fritz Franz Vogel, Diessenhofen Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-45016-9 Elektronisch ist folgende Ausgabe erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-45017-6

6•

Inhalt

Vorbemerkung 

8

Silvia / Julia

125

Die beiden Veroneser (1591 / 1593)

Elisabeth Tudor

11

Lady Anna

139

Mary Shakespeare

17

Ämilia, Äbtissin zu Ephesus

149

Catharina

161

Prinzessin von Frankreich

177

Constanze

189

Julia

207

Titania

223

Lady Percy

237

Jessica

245

1533–1603

geb. Arden um 1540–1608

Die Komödie der Irrungen (1592 / 1594)

William Shakespeare

23

Anne Shakespeare

31

1564–1616

geb. Hathaway 1556–1623

Susanna Hall

geborene Shakespeare 1583–1649

Judith Quiney 

geborene Shakespeare 1585–1662

37

41

Elisabeth Tudor

45

Jeanne d’Arc, genannt La Pucelle

53

1533–1603

Heinrich VI. (I. Teil) (1589 / 1590)

König Richard III. (1592 / 1593)

Der Widerspenstigen Zähmung (um 1593 / 1594) Liebes Leid und Lust (Verlorene Liebesmüh) (1593 / 1595) König Johann (1594 / 1596) Romeo und Julia (1595 / 1596) Ein Sommernachtstraum (1595 / 1596) König Heinrich IV. (1. und 2. Teil) (1596 / 1597)

Königin Margaretha

61

Königin Margaretha

81

Lady Gray

89

Portia

259

Lady Grey / Königin Elisabeth

93

Frau Margaret Page

273

Frau Alice Ford (Fluth)

279

Jungfer Anna Page

289

Heinrich VI. (I. bis III. Teil) (1589–1592) Richard III.

Heinrich VI. 3. Teil und Richard III. (1590 / 1592 / 1593) Richard III.

Lavinia

Titus Andronicus (um 1590 / 1591)

Julia / Silvia

Die beiden Veroneser (1591 / 1593)

101

117

Der Kaufmann von Venedig (1596 / 1597) Der Kaufmann von Venedig (1596/1597) Die lustigen Weiber von Windsor (1597) Die lustigen Weiber von Windsor (1597) Die lustigen Weiber von Windsor (1597)

• 7

Hero303

Desdemona539

Beatrice319

Cordelia569

Portia 

335

Lady Macbeth

Prinzessin Catharina

355

Kleopatra615

Celia371

Virgilia647

Rosalinde381

Thaisa / Marina

Ophelia401

Imogen695

Olivia429

Perdita721

Maria435

Miranda749

Viel Lärm um nichts (1598 / 1599) Viel Lärm um nichts (1598 / 1599) Julius Cäsar (1598 / 1599) König Heinrich V. (1599)

Wie es euch gefällt (1599 / 1600) Wie es euch gefällt (1599 / 1600)

Hamlet, Prinz von Dänemark (1600 / 1601) Was ihr wollt (1601 / 1602) Was ihr wollt (1601 / 1602)

Viola • Olivia • Maria Was ihr wollt (1601 / 1602)

441

Othello, der Mohr von Venedig (1603 / 1604) König Lear (1605 / 1606) Macbeth (1605 / 1606)

591

Antonius und Kleopatra (1606 / 1607) Coriolanus (1608)

Perikles, Fürst von Tyrus (1606 /1608)

667

Cymbeline (1609 / 1610)

Das Wintermärchen (1610 /1611) Der Sturm (1610 / 1611)

Nachklang776

Helena467

Anna Boleyn

777

Cressida 

Königin Katharina

785

Ende gut, Alles gut (1600 / 1604)

Troilus und Cressida (1601 / 1603)

487

König Heinrich VIII. (1613) König Heinrich VIII. (1613)

Cassandra505 Troilus und Cressida (1601 / 1603)

Helena513 Troilus und Cressida (1601 / 1603)

Isabella521 Maß für Maß (1603 / 1604)

Zur Textgestalt der Zitate 797 Literaturverzeichnis797 Abbildungsverzeichnis799

8•

Vorbemerkung

Das häufig zitierte Bonmot über Shakespeare als dem „dritten deutschen Klassiker“ neben Goethe und Schiller findet sich nicht zuletzt in dem Umstand bestätigt, dass die beiden Weimarer, indem sie den Mann aus Stratford zu ihrem Gewährsmann und Bundesgenossen bestimmten, selber zu Klassikern wurden. Ihre und ihrer Mitstreiter (Lessing, Herder, Wieland, Eschenburg, Lenz) Vorhersage in Bedeutung des fremden Dichters auf seine Zukunft wirkte wie sich selbst erfüllende Zukunft. Und spätestens seit August Wilhelm von Schlegel, Ludwig Tieck, Dorothea Tieck und Wolf Graf Baudissin (nach Wieland, Eschenburg und Lenz) Shakespeare in kongenialer Übersetzungsleistung endgültig eingedeutscht hatten, erfüllte sich die geistreich-treffende Bemerkung und wurde ein deutscher Mythos. Sein gestaltgewordener Ausdruck für das literarische Dreigestirn ist der Umstand, dass der dritte deutsche Klassiker neben den beiden Dichterfürsten vor dem Weimarer Nationaltheater im Park an der Ilm ebenfalls ein Denkmal bekam. Es ist erstaunlicherweise das einzige Denkmal auf europäischem Festland, das an den englischen Dichter und Dramatiker erinnert. Welche Hauptrolle der nicht immer nur „holden Weiblichkeit“ in ihrer dreier Leben und Werk zukam, zeigt dieser Band über „Shakespeares Mädchen und Frauen“, der zusammen mit dem Band über „Schillers Frauen“ (1. Aufl. dtv 2009, Nr. 13769 / 2. Aufl. Wiss. Buchgesellschaft 2022) und über „Goethes Frauen“ (1. Aufl. dtv 2011, Nr. 14025 / 2. Aufl. Wiss. Buchgesellschaft 2022) die „drei deutschen Klassiker“ auch bei diesem elementaren Thema in grundsätzlicher Einigkeit verbunden sieht. Rückte Goethe schon in den frühen Weimarer Jahren Shakespeare an den Himmel seiner Bewunderung und Verehrung – „William! Stern der schönsten Höhe“ –, folgten ihm die Astronomen, indem sie für alle Zeit und für alle Menschen den dritten deutschen Klassiker ans Firmament hefteten. Nicht der Dichter selbst, sondern sein Figurenzauber, seine Mädchen und Frauen, ziehen als Uranus-Monde ihre Kreise in schönster Höhe. Just zu dem Zeit-

• 9

punkt, da Goethe „William“ zum „Stern der schönsten Höhe“ erklärte, entdeckte der deutsche Musiker und Astronom Wilhelm/ William Herschel am 13. März 1781 den Planeten Uranus (den ersten Planeten, der mit Hilfe eines Teleskops gefunden wurde und noch nicht seit dem Altertum bekannt war) und 1787 seine beiden ersten Monde Titania und Oberon. Herschels Vermutung eines ganzen Ringsystems um den Uranus fand sich erst ab 1986 durch die Raumsonde Voyager 2 bestätigt. Mittlerweile zählt man im Atlas des Himmels insgesamt 27 Uranusmonde: Bianca, Cordelia, Cressida, Desdemona, Juliet, Margaret, Miranda, Ophelia, Perdita, Portia, Rosalind, Titania u.s.w. Aber auch Shakespeares Wundermänner – so viel Geschlechtergerechtigkeit musste sein – ziehen ihre Kreise im Weltall: Ariel, Oberon, Puck, Prospero und auch Caliban und seine Mutter, die Hexe Sycorax. Diese Versetzung von Shakespeares Theaterkosmos an den Himmel ist ein sensationelles mythologisches Wunder der Neuzeit und zeigt, dass aller Aufklärung zum Trotz ihr ein neuer Zauber erwächst, nicht unähnlich, wie bei Shakespeare Text zu Wortzauber wird. Am grandiosen Himmelstheater wie durch Shakespeares Welttheater wurde der Raum unseres Verstehens erweitert bei gleichzeitiger Bestätigung unseres Nichtverstehens der ins Gigantische erweiterten Räume der Unendlichkeit.

Elisabeth Tudor • 11

Elisabeth Tudor 1533–1603

regierte als Königin Elisabeth I. von England 1558–1603

Abb. 2: Vermutlich Guillem Scrotes (tätig um 1537–1554) Royal Collection Prinzessin Elisabeth mit 13 Jahren um 1546

12 • Elisabeth Tudor

Elisabeth Tudor • 13

Teil I

Als Elisabeth Tudor am 7. September 1533 als Tochter von Anne Boleyn und König Heinrich VIII. geboren wurde, war ihre Anwartschaft auf den englischen Thron eher eine Fata Morgana denn eine reale Möglichkeit. Von einem inskünftigen „Elisabethanischen Zeitalter“ zu träumen, war außerhalb aller denkbaren Entwicklungen. Das Kind war eine Enttäuschung, und Heinrich VIII. behandelte Mutter und Kind mit kalter Abweisung. In seinen Augen hatte Anne Boleyn versagt. In der Rückschau von heute ist uns das nur noch schwer verständlich. Was hatte sich der Mann nicht alles kosten lassen, um einen Sohn zu erhalten. Wegen der Scheidung von seiner ersten Frau Katharina von Aragon hatte er sich und England extra dafür von der römischen Kirche losgesagt und zum höchsten Oberhaupt der Kirche von England gemacht. Unter welchen Druck setzte er damit die zweite Frau, die „nur“ ein Mädchen als das enttäuschende Ergebnis ihrer Schwangerschaft präsentieren konnte? Dabei war eine Schwangerschaft damals immer eine lebensgefährliche Unternehmung, und für König Heinrich VIII. zu „arbeiten“ war doppelt lebensgefährlich. Anne Boleyn, die Frau, die Elisabeth gebar, wird bald diese Erfahrung machen, die später der englische Abzählvers auf den Nenner für Heinrichs sechs Frauen brachte: “Divorced, Beheaded, Died, Divorced, Beheaded, Survived.” „Geschieden, geköpft, gestorben, geschieden, geköpft, überlebte.“

„Nicht einen Moment lang gab es im England des sechzehnten Jahrhunderts keine Thronfolgekrise, von Heinrichs VII. Gründung des ungesicherten Königshauses der Tudors über Heinrichs VIII. verzweifelte Suche nach einem Sohn bis zur Frage nach einem Erben während der Regentschaften von Eduard, Maria und Elisabeth“, schreibt Neil MacGregor in seinem Buch „Shakespeares ruhelose Welt“.1 Der Dichter, der sich knapp 60 Jahre später in seinen Historienstücken der theatralen Erkundungen der Thronfolgerkonflikte

14 • Elisabeth Tudor

und der damit immer wieder ausgelösten Bürgerkriege widmete, wird ausgerechnet im Falle der Regentschaft von Elisabeth I. die entscheidende Frage, wer der jungfräulichen Königin nachfolgen würde, die Antwort verweigern. Endlich, von der dritten Frau, von Jane Seymour, erhielt Heinrich VIII. am 12. Oktober 1537 den ersten und einzigen legitimen Sohn, Edward Tudor. Die Feierlichkeiten zu dieser Geburt waren kaum ausgeklungen, da verstarb wenige Tage später, am 24. Oktober, die Mutter im Kindbett. Da war die erste Frau in unfreiwilliger Haft am 7. Januar 1536 schon verstorben und Elisabeths Mutter, Anne Boleyn, hatte unter vorgeschobenen Gründen Platz für eine Heirat mit Jane Seymour machen müssen, indem sie am 19. Mai 1536 in London enthauptet wurde. Die Schicksale von Frau Nr. 4, Nr. 5 und Nr. 6. spielen für die Geschichte von Elisabeths unwahrscheinlicher Thronbesteigung keine Rolle. Hier ist nur eine kurze Skizze aus Chronistenpflicht: Die vierte Frau hieß Anna von Kleve, war eine Deutsche, sprach kein Englisch, wurde im Januar 1540 geheiratet und bereits im Juli wurde das Bündnis wieder annulliert. Noch im selben Monat Juli trat Catherine Howard als fünfte Frau auf die Szene und wurde nach 18 Monaten zur Abwechslung am 13. Februar 1542 wegen Ehebruchs enthauptet. Und die sechste Dame, Catherine Parr, eine bereits zweimal verwitwete Frau, trat als dreißigjährige Frau am 12. Juli 1543 bei einem dicken, kranken und herrschsüchtigen Mann ihren unmöglichen Dienst an und konnte kurz vor Heinrichs Tod gerade noch einem Ketzerprozess entkommen. Immerhin hatte Heinrich, als er am 28. Januar 1547 starb, einen Sohn als legitimen Thronerben. Eduard war aber erst neun Jahre alt und stand unter Vormundschaft, bis er unerwartet am 6. Juli 1553 mit 15 Jahren starb. Überraschend kam anstatt der beiden Halbschwestern, der älteren Maria bzw. der jüngeren Elisabeth, seine Cousine Jane Grey für neun Tage auf den Thron. Dann eroberte sich Maria, die Tochter aus erster Ehe mit Katharina von Aragon, Englands Thron. Sie schaffte fünf Jahre und verdiente sich durch den Versuch der Rekatholisierung den Beinamen „Bloody Mary“. Sie musste sich aber auch rechtzeitig um einen Thronfolger kümmern; schnell sollte es gehen, denn sie war schon 37 Jahre alt. Jetzt ging das Spiel anders herum. Jetzt suchte die Frau einen Mann – katholisch sollte er sein –, der ihr

Elisabeth Tudor • 15

einen legitimen Sohn zeugen sollte. Am Ende blieb dennoch die Last bei ihr: ein Kind. Ihre Entscheidung, den katholischen Philipp aus Spanien zu heiraten, kam nicht gut an in England. Eine Verschwörung, wie so oft, bahnte sich an, eine Scheinschwangerschaft und noch eine zweite Scheinschwangerschaft. Maria hatte sich körperlich und seelisch in fünf Jahren derart ruiniert, dass sie ohne Nachkommen starb. Am 6. November 1558 gab Maria ohne Aussichten auf eine Zukunft aus eigener Kraft schließlich nach und benannte ihre Halbschwester Elisabeth offiziell als ihre Erbin und Thronfolgerin. Kurz vor Mitternacht am 16. November erhielt sie die katholischen Sterbesakramente. Sie starb am Tag danach, dem 17. November 1558 mit zweiundvierzig Jahren zwischen fünf und sechs Uhr morgens. Sechs Stunden nach ihrem Tod wurde Elisabeth Tudor zur Königin proklamiert. Das Unwahrscheinlichste, hier wurde es Ereignis. Eine 25-jährige gut gebildete Frau bestieg den Thron Englands und herrschte für 45 Jahre. Das Elisabethanische Zeitalter konnte beginnen, eine große Epoche. Der Mann Shakespeare klopfte erst spät an die Tür des Zeitalters, aber eine lautlose Frage blieb konstant im Vordergrund: die Thronfolge. „Von Anbeginn ihrer Regentschaft stand die entscheidende Frage im Raum, wer Elisabeth nachfolgen würde“, schreibt Neil MacGregor.2 Am Beginn der 1590er Jahre, als Shakespeare in den Dunstkreis der jungfräulichen Königin trat, war Elisabeth fast 60 Jahre alt und eine natürliche Lösung ausgeschlossen. Die Zukunftsängste vor neuen Bürgerkriegen wuchsen. Shakespeare hat die Frage ausgeklammert. Sie durfte nicht gestellt werden. Soweit reichte das Historienstück nicht in die Gegenwart. Und ab 1603 erübrigte sich die Frage mit dem „jungfräulichen“ Tod Elisabeths. Erst ganz spät tritt sie wirklich bei ihm auf in „The Famous History of The Life of King Henry the Eight“. Auftritt ist ein Euphemismus; sie kommt von der Taufe. Sie wird von der ersten Gevatterin, der Herzogin von Norfolk, getragen. Der Herold spricht: Der Himmel verleihe nach seiner endlosen Güte Gedeihen, langes und immer glückliches Leben der hohen und mächtigen Prinzessin von England, Elisabeth! (V,4)

Und der König, also Heinrich VIII., küsst die Prinzessin. Mein Segen mit dem Kuß! Gott sei mit dir, In seine Hand leg’ ich dein Leben! –

16 • Elisabeth Tudor

Cranmer

Amen (V,4)

Die Königin liegt noch im Kindbett, d.h. wir sind im September des Jahres 1533. Das ist die Bühnenzeit. Aber Shakespeares Stück datiert von 1613 und gespielt wurde es im Globe Theater, das bei einer der ersten Aufführung von „Heinrich VIII.“ am 29. Juni 1613 bis auf die Grundmauern niederbrannte. Da war die Szene achtzig Jahre alt, Heinrich VIII. war 66 Jahre und Elisabeth war 10 Jahre tot und ihre Nachfolge hatte mit Jakob VI. von Schottland als Jakob I. von England ein überraschend glückliches Ende gefunden. Er übernahm von eben jener Elisabeth den Stab, die seiner Mutter Maria Stuart 1587 den Kopf abschlagen ließ. Aber das ist ein Stück von Friedrich Schiller. Das Stück, in dem wir uns augenblicklich befinden, erlaubt sich bei der Chronologie der historischen Ereignisse viele Freiheiten und die Faktenlage wird arg strapaziert. Es ist Shakespeares letztes Stück: „König Heinrich VIII.“ (Fortsetzung folgt: s. Anna Boleyn und Katharina von Aragon) 1) Neil MacGregor: Shakespeares ruhelose Welt. München: C.H. Beck 2013, S. 62 2) ebd., S. 63

Mary Shakespeare • 17

Mary Shakespeare geb. Arden um 1540–1608

Abb. 3: Mary Ardens Farm

18 • Mary Shakespeare

Mary Shakespeare • 19

Shakespeares Mutter Mary war die jüngste von acht Töchtern von Robert Arden, einem wohlhabenden Grundbesitzer in Wilmcote, Warwickshire. Sein hübsches Bauernhaus lag etwa fünf Meilen von Stratford-upon-Avon entfernt. Sie war wohl der Liebling ihres Vaters, und als er 1556 starb, hinterließ er ihr ein Erbe, das John Shakespeare, den Vater von William Shakespeare, zu einigem Ansehen brachte, als er sie bald darauf heiratete. Das muss um 1557 gewesen sein. Mary war knappe 20 Jahre alt und John etwa 26 Jahre. Beide Eheleute waren vermutlich katholischer Herkunft. Aber in den konfessionell turbulenten Zeiten im elisabethanischen England hatte man es schwer, wenn man sich eindeutig einer der beiden großen Konfessionen zurechnete. Während John Shakespeare sich erfolgreich als Handschuhmacher und Wollhändler etablierte und zunehmend öffentliche Ämter bekleidete, gebar Mary in den Jahren 1558 bis 1580 acht Kinder, vier Mädchen und vier Knaben. Die beiden ersten Kinder waren Mädchen und starben bald nach der Geburt, so dass der drittgeborene William 1564 zum ältesten Kind der Familie wurde. Er wuchs in dem vom Vater später durch Zukauf zu einem stattlichen Komplex erweiterten Haus in der Henley Street zusammen mit weiteren fünf Geschwistern auf. 1579 verstarb die Schwester Anne mit acht Jahren; nicht an die beiden vor seiner Geburt verstorbenen Schwestern, aber an diese achtjährige Schwester dürfte sich doch ein wenig Erinnerung geknüpft haben, und vielleicht hinterließ ihr Tod beim 15-jährigen Bruder Spuren, die als ein bescheidener Vers da und da im Werk nachklingen. Verblieben also noch vier Kinder, eine Schwester und drei Brüder. Der jüngere Bruder Gilbert, der 1566 geboren wurde und 1612 starb, blieb vor Ort in Stratford und arbeitete als „Krämer“. Der 1580 geborene Edmund ging wie sein Bruder William nach London, um dort Schauspieler zu werden. Er starb aber 1607 mit 27 Jahren. Über den dritten Bruder Richard, der 1574 auf die Welt kam, weiß man nichts. Er starb 1613. Die alle Shakespearekin-

20 • Mary Shakespeare

der weit überlebende Joan, die 77 Jahre alt wurde und 1646 starb, heiratete einen armen Hutmacher. Als William 18 Jahre alt war und 1582 Ann Hathaway heiratete, war der Bruder Gilbert 16 Jahre alt; die Schwester Joan war 13, der Bruder Richard 8 und der Bruder Edmund 2 Jahre alt. Wo das junge Paar danach lebte, ist unbekannt. Dem Brauch der Zeit nach ist anzunehmen, dass sie zu Williams Eltern gezogen sind. Wenn dem so gewesen sein sollte, hätte diese Situation mit einem Bruder und seiner schwangeren Frau die geschwisterliche Verbundenheit sicherlich nicht gefördert. Hat es einen eigenen Wohnort gegeben, war eine gemeinsame Kindheit ohnehin beendet. Die geschäftlichen Erfolge von Shakespeares Vater begannen ab 1577 zu stagnieren. Auch öffentliche Auftritte mied er zunehmend. Es kam zu finanziellen Engpässen und zu gerichtlichen Auseinandersetzungen. Eindeutige Erklärungen sind schwer zu belegen; auch religiöse Verfolgungen werden vermutet. In der Folge dieser Probleme hat er nach und nach die reiche Mitgift von Mary Arden aufgebraucht. Zu Beginn der 90er Jahre begann sich seine Lage wieder zu erholen. 1596 wurde ihm ein Familienwappen gewährt, das auch für seinen Sohn Gültigkeit hatte. Der hat vermutlich die Führung eines Familienwappens vorangetrieben und finanziert und durfte seither den Zusatz „gentleman“ als Standesbezeichnung führen. 1601 verstarb Shakespeares Vater im Alter von etwa 70 Jahren und wurde am 8. September 1601 in Stratford-upon-Avon begraben. Bei so spärlichen biographischen Fakten verbieten sich Spekulationen auf des Dichters Kindheitseindrücke und Familienerfahrungen. Dennoch hat man versucht vom Werk her Rückschlüsse auf Shakespeares Leben zu ziehen. Sentimentalerweise steht dabei immer die Mutter im Vordergrund des Interesses. Natürlich gibt es kein klar benennbares Bild von Shakespeares Mutter, aber es gibt frei assoziierbare Stellen, die ein Bild zeichnen, das man auf seine Mutter beziehen könnte. Im „Wintermärchen“ zeichnet ein alter Schäfer für die junge und schüchterne Perdita das Bild einer tüchtigen Hausfrau, ganz so, wie man sich die Mutter eines kinderreichen und stattlichen Haushalts vorstellt, ganz so, wie es im Hause von Mary Shakespeare gewesen sein könnte. Der Alte Schäfer Pfui, Tochter! Da noch meine Alt’ am Leben,

Mary Shakespeare • 21

An dem Tag war sie Schaffner, Kellner, Koch, Hausfrau und Magd, empfing, bediente jeden, Sang ihren Vers, tanzt’ ihren Reih’n; bald hier, Zu oberst an dem Tisch, bald in der Mitte; Auf den gelehnt und den; ihr Antlitz Feuer Durch Arbeit und durch das, womit sie’s löschte, Denn allen trank sie zu; du bist so blöde [schüchtern], Als wär’st du von den Gästen, nicht die Wirthin Des Hauses; bitte, geh und heiß willkommen Die unbekannten Freunde; denn so werden Sie uns zu bessern und bekanntern Freunden. Komm, dämpfe dein Erröten; zeige dich Vorstand des Festes, wie du bist; komm her Und heiß bei deiner Schafschur uns willkommen, Daß dir gedeih’ die Herde. (IV,3)

Was da vielleicht als freundliches Bild im Werk auf Shakespeares Mutter gedeutet werden kann, hat insofern einige Berechtigung, weil das Loblied knapp nach ihrem Tod entstand. Mary Shakespeares Beerdigung ist für den 9. September 1608 belegt: „Mayry Shakspere, wydowe“. Sie wurde auf dem Kirchhof der Holy Trinity Kirche begraben. Die Grabstelle ist heute nicht mehr bekannt. „Das Wintermärchen“ entstand 1610 und wurde am 15. Mai 1611 uraufgeführt.

William Shakespeare • 23

William Shakespeare 1564–1616

Abb. 4: Grabmonument Shakespeares in der Holy Trinity Church, Stratford Upon Avon

24 • William Shakespeare

William Shakespeare • 25

Eine authentische Biographie des berühmtesten Dichters der Neuzeit bedarf weniger Raum als die literarischen kleinen Charakterbilder der Mädchen und Frauen seines Lebens und vor allem seiner Theaterstücke. Die Skizze der wenigen gesicherten Fakten seines Lebens geht in etwa so: William Shakespeare wurde vermutlich am 23. April 1564 in dem kleinen Städtchen Stratford-on-Avon in der englischen Grafschaft Warwickshire geboren. John und Mary Shakespeare, geborene Arden, waren seine Eltern. Vater John war Mitglied der Zunft der Handschuhmacher. Die Mutter Mary war die jüngste Tochter von Robert Arden, einem wohlhabenden Grundbesitzer in Wilmcote. Mit ziemlicher Sicherheit besuchte William die King’s Grammer School in Stratford und machte in den Jahren 1579–84 erste Bekanntschaft mit dem Theater durch gastierende Truppen in Stratford. Am 30. November oder am 1. Dezember 1582 heiratete William im Alter von 18 Jahren Anne Hathaway aus dem nahegelegenen Shottery. Die Tochter Susanna wurde am 26. Mai 1583 getauft und ein Zwillingspaar Judith und Hamnet erhielten am 2. Februar 1585 das Taufsakrament. Im gleichen Jahr verließ Shakespeare Stratford und findet erst 1592 in einem Pamphlet des Dichters Robert Greene eine namentliche Erwähnung als Schriftsteller und Schauspieler in London. Was der zweimalige Lockdown der Londoner Theater wegen der Pest-Epidemie vom 20. September bis zu 8. Dezember 1592 und vom 2. Februar 1593 bis zum Juni 1594 für einen Schauspieler und angehenden Theaterdichter bedeutete, bedarf heute im Jahre 2020 keiner weiteren Erklärung mehr. Shakespeare nutzte die Zeit für das Versepos „Venus und Adonis“ (1593) und die Verserzählung „Der Raub der Lucretia“ (1594). Es sind seine ersten zwei Veröffentlichungen und sie waren ziemlich erfolgreich. Erst nach Wiedereröffnung der Theater kam nach und nach auch der Durchbruch für den Theaterautor, Schauspieler und Geschäftsmann Shakespeare. Als Teilhaber des Globe-Theaters er-

26 • William Shakespeare

warb er ein beachtliches Vermögen und großen Einfluss. Er war Mitglied der nach ihrem Mäzen und Sponsor benannten „Lord Chamberlain’s Men“, die öfter auch am Hof der Königin Elisabeth auftraten. Unter Elisabeths Nachfolger König Jakob I. nannten sie sich nach ihrem königlichen Gönner „King’s Men“. Seine Bekanntschaft mit dem Schriftsteller Ben Jonson ist belegt. 1596 wurde seinem Vater John Shakespeare ein Familienwappen gewährt. In London lebte der Dichter zumeist nahe seinen Arbeitsplätzen in bescheidenen Verhältnissen. Um 1610/11 zog er sich aus der Londoner Theaterarbeit in seine Geburtsstadt Stratford zurück, wo er am 23. April 1616 starb und am 26. April 1616 im Chorraum der Holy Trinity Church begraben wurde. Auf der Grabplatte steht: GOOD FREND FOR JESUS SAKE FORBEARE, TO DIGG THE DVST ENCLOASED HEARE. BLESTE BE THE MAN THAT SPARES THES STONES, AND CVRST BE HE THAT MOVES MY BONES „Guter Freund, unterlasse es um Jesu Willen, den hier eingeschlossenen Staub umzugraben. Gesegnet sei der Mann, der diese Steine schont, und verflucht sei, wer meine Knochen bewegt.“

Vermutlich bald nach Shakespeares Tod wurde in der Seitenwand der Kirche eine Gedenkbüste mit dem Familienwappen und einer lateinischen Inschrift von einer bis heute unbekannten Person errichtet. Diese Porträtbüste wurde angeblich von dem in London arbeitenden flämischen Künstler Gheerart Janssen geschaffen und ist sowohl von den Freunden und Bekannten in Stratford als auch von Shakespeares Witwe Anne und den Töchtern Susanna und Judith als authentisch akzeptiert worden. Sie kannten ihn alle ja noch in Person.1 1623 veröffentlichten Shakespeares ehemalige Theaterkollegen John Heminges und Henry Condell seine Werke unter dem Titel „Mr. William Shakespeares Comedies, Histories, & Tragedies“ in einem großformatigen Buch, First Folio genannt. Man kann die herausgeberische Leistung der beiden Freunde nicht hoch genug wertschätzen. Sie bieten zum ersten Mal alle Dramen Shakespeares (außer „Perikles“) in einer autorisierten Fassung und sie bestätigen in einem kleinen Vorwort seine Verfasserschaft.

William Shakespeare • 27

Die First-Folio-Ausgabe präsentiert zudem auf der Titelseite ein Porträt Shakespeares, das Martin Droeshout dem Jüngeren zugeschrieben wird. Das Bildnis ist sicherlich nicht nach dem Leben gearbeitet, weil der Künstler im Todesjahr Shakespeares erst 15 Jahre alt war, aber nach welcher Vorlage auch immer er gearbeitet hat, die beiden Herausgeber haben es als authentisch zertifiziert. Eine zusätzliche Bestätigung der Verfasserschaft Shakespeares liefert sein Dichterkollege Ben Jonson in einer kleinen, aber feinen Würdigung: Triumph, my Britaine, thou hast one to showe, To whom all scenes of Europe homage owe. He was not of an age, but for all time! … Britannien, frohlocke, du nennst ihn dein eigen, vor dem Europas Bühnen sich verneigen. Nicht einer Zeit gehört er, sondern allen Zeiten!

Und da Ben Jonson den Mann Shakespeare ja noch von Angesicht zu Angesicht kannte, bestätigt er ihm auf der gegenüberliegenden Seite ausreichende Ähnlichkeit: Das Bild, das du hier siehst, fürwahr, stellt unsern edlen Shakespeare dar; mit so viel Wahrheit ist’s gegeben, als sollt es überbieten noch das Leben. O, wenn der Künstler so wie das Gesicht Den Geist auch dargestellt, der zu uns spricht, wir würden dann ein Bildnis haben, wie keins noch in Metall gegraben. Da aber keinem solches würde glücken, magst du aufs Bild nicht, nein, ins Buch nur blicken. B.J.

Das sind die Fakten zum Rätsel „Shakespeare“. Sie werden nicht getrübt durch geschmackliche Abqualifizierungen der qualifizierten Bildnisse – „selbstzufriedenes Spießertum“: Jannssen-Gedächtnisbüste,2 „überwältigende Mittelmäßigkeit“: Droeshout-Stich3 –, aber sie werden mittlerweile seit gut 150 Jahren durch höchst spekulative Verfasserschaftstheorien in Frage gestellt. Zumeist sind die Ausgangsfragen und Zweifel bedenkenswerte Einwände und Überlegungen, aber ihre konsequente Verfolgung endet zumeist in mehr oder weniger unhaltbaren Ergebnissen, die ihrerseits mehr Fragen aufwerfen als das Ausgangsszenario mit zweifellos unbefriedigen-

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der Faktenlage. Mittlerweile wetteifern mehr als fünf Dutzend Anwärter um die Ehre, Shakespeares Vermächtnis zu beerben. Ob Shakespeare überhaupt gelebt hat oder nicht ist dabei eine eher nebensächliche Frage. Für wen der ungebildete, gleichwohl nicht erfolglose Schauspieler und Geschäftsmann aus Stratford-on-Avon der Strohmann gewesen sein soll, – es wäre schon für die Zeitgenossen schön gewesen, es zu wissen. Auch sie waren für Skandalgeschichten empfänglich. Shakespeares Theater beweist es selbst.

Das hatten sie begeistert beklatscht und seine Stücke umjubeln wir noch heute, denn die Werke, von wem auch immer geschrieben, die gibt es jedenfalls bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt, die Verserzählungen, die Sonette, die irrwitzigen Komödien und die rabenschwarzen Tragödien, die Schlachthäuser der Königsdramen und die zauberhaften Romanzen.

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Ob Shakespeare gelebt hat, diese nebensächliche Frage wird hier definitiv ausgeklammert bleiben. Wenn er gelebt hat, dann steht eins fest: Shakespeare ist tot. Jeder andere Ersatzautor ist ebenfalls tot. Bekanntermaßen ist zu viel biographisches Wissen nach Schema Leben und Werk ohnehin nicht hilfreich. Wer auch immer der Urheber gewesen sein könnte, die Stücke sind da. Und die kann man lesen und erörtern, man kann sie inszenieren, verfilmen und sich den Kopf darüber heiß reden, dass zum Beispiel eine beson-

Abb. 5: Titel der First-Folio-Ausgabe von 1623

ders anmutige Seite dieser Stücke ihre Frauengestalten sind. Das schließt sogar ein paar Frauengestalten ein, die nicht nur Produkte seiner poetischen Einbildungskraft sind, sondern einem Mann namens William Shakespeare Kontur gegeben haben. Das Bild Shakespeares hin oder sein Leben her, sein Werk ist es, das allen Zeiten gehört. Drum, so Ben Jonsons Beherzigung,

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„magst du aufs Bild nicht, nein, ins Buch nur blicken“; dort leuchtet dir sein Geist entgegen. 1) Die aktuellste These zur Frage nach der Ähnlichkeit der Gedächtnisbüste in der Stratforder Holy Trinity Church mit Shakespeare liefert die renommierte Shakespeare-Forscherin Lena Cowen Orlin. Sie glaubt, die Büste sei schon vor dem Tod Shakespeares durch einen Künstler namens Nicholas Johnson entstanden und im Auftrag des Dichters nach dem Leben gearbeitet. Ihre Indizien legen den Schluss nahe: „Mehr Shakespeare geht kaum“ (Tobias Döring: FAZ-net Mo, 26.4.2021) 2) Ina Schabert, S. 188 3) Bill Bryson, S. 12

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Anne Shakespeare geb. Hathaway 1556–1623

Abb. 6: Anne Hathaway’s Cottage, Stratford-Upon-Avon, ca. 1940. Collections University of St Andrews

Abb. 7: Anne Shakespeares Grabplatte in der Holy Trinity Church, Stratford Upon Avon photographiert von Tom Reedy

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Der Platz, an dem sie zur letzten Ruhe gebettet ist, könnte prominenter kaum sein: Sie liegt vom Betrachter aus gesehen linkerseits von William Shakespeare im Altarraum der Holy Trinity Church in Stratford-on-Avon begraben. Der Stein, der ihre sterblichen Überreste bedeckt, ist der gleiche, der die Gebeine ihres Gemahls deckt. Auf der Metallplatte steht geschrieben: „Heere lyeth interred the body of Anne wife of William Shakespare, who departed this life the 6th day of August 1623 being of the age of 67 yeares“

Ihr Geburtsdatum lässt sich aus diesen Angaben nur vage errechnen: Anne muss 1555 oder zu Beginn des Jahres 1556 geboren worden sein. Sie hieß mit Mädchennamen Anne Hathaway und war wahrscheinlich die älteste Tochter aus erster Ehe von Richard Hathaway, einem Grundbesitzer in Shottery, das gerade einmal eine Meile von Stratford entfernt lag. Begonnen hatte ihre Geschichte mit William Shakespeare spätestens im Sommer 1582. Da war Shakespeare gut 18 Jahre und Anne 26 Jahre alt. Da ihrer beider Tochter Susanna am 26. Mai 1583 getauft wurde, ist der Monat August eine annähernd verlässliche Zeitangabe in ihrer beider Beziehung, die sich fixieren und auch qualifizieren lässt. Bis auf das weitere Datum des gemeinsamen Aufgebots am 27. November 1582 und den Taufeintrag ihrer Zwillinge Judith und Hamnet im Kirchbuch von Stratford vom 2. Februar 1585 gibt es nichts, was uns über das Verhältnis der Eheleute Shakespeare zueinander und zu ihren Kindern weiterhelfen könnte. Erst viel später, am 11. August 1596, verzeichnet das Kirchenregister das Begräbnis von Shakespeares Sohn Hamnet. Er starb wohl an der Beulenpest, aber das ist bereits wieder reine Vermutung. Mit dem Erwerb von „New Place“ am 4. Mai 1597 gibt es dann endlich auch einen dokumentarischen Hinweis auf Shakespeares und seiner Familie Wohnort. Shakespeare hatte nicht nur als erfolgreicher Theaterautor, sondern als Geschäftsmann mit Immobilien

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gute Geschäfte gemacht. Er kaufte das zweitgrößte Haus der Stadt und erachtete es als seinen Herrensitz, den er ab 1610 bis zu seinem Tode bewohnte. Das Haus war 1483 wohl im frühen Tudorstil ganz aus Ziegelsteinen gebaut und wurde 1759 abgerissen. Wir dürfen uns darin getrost eine Familienszene imaginieren, wie sie uns ein unbekannter englischer Künstler um 1890 als historisierendes Produkt seiner Hand anbietet. Angeblich rezitiert William Shakespeare aus seinem Stück „Hamlet“ im Familienkreis. Seine Frau Anne Hathaway sitzt in einem Stuhl

Abb. 8: William Shakespeare liest seiner Familie aus „Hamlet“ vor

rechter Hand, sein Sohn Hamnet steht hinter ihm linker Hand; seine zwei Töchter Susanna und Judith sind hingegossen zu seinen Seiten. Im Hintergrund ganz links außen sind vermutlich Shakespeares Eltern John und Mary zu sehen, die beide um 1600 noch lebten, als „Hamlet“ entstand. Überhöht ist die Szene durch das Bild an der Wand, auf dem Queen Elisabeth zu sehen ist. Die Familienidylle hat einen verzeihlichen Fehler. Wenn Shakespeare aus „Hamlet“ liest und das Bild das Haus „New Place“ an der Chapel Street zeigen soll, dann ist Hamnet nicht mehr am Leben. Gegen eine Vordatierung vor 1596 spricht die Entstehungszeit von

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„Hamlet“ und natürlich die Wohnsituation. In künstlerischer Freiheit wird hier die disparate Chronologie leicht für ein Idealbild korrigiert. Eine Berufung auf Shakespeares freien Umgang mit historischen Daten und Fakten mag ihn entschuldigen. Ansonsten vermittelt die Szene ein Beziehungsbild von Eltern, Ehefrau und Kindern mit dem Dichter, das so viel oder so wenig Beweiskraft besitzt wie die angestrengtesten wissenschaftlichen und spekulativen Untersuchungen zu den absoluten Leerstellen in Shakespeares Biographie. Zu diesen blinden, leeren Stellen der Geschichte gibt es dumme Fragen, die der Eheleute schlechthin geheimnisvolles Leben zu beleuchten versuchen, etwa: Was hatte der 18-jährige Shakespeare für einen Grund eine um acht Jahre ältere Frau zu heiraten? Der dummen Fragen nicht genug: Warum hat Shakespeare seiner Frau testamentarisch nur sein „zweitbestes Bett“ vermacht? Es gibt weiters dumme Fragen zu Hauf: Konnte die Frau lesen, um überhaupt ansatzweise zu begreifen, mit welchem Genie sie da verheiratet war? Das obige Bild lässt die Frage unbeantwortet. Wer sich vorlesen lässt, ist nicht deshalb schon lese- und schreibunfähig. Die Fragen sind nicht beantwortbar und ihre Beantwortung dürfte dem Verständnis dieser Ehe trotzdem kaum weiterhelfen. Diese Ehe bleibt geheimnisvoll, aber sie hatte insoweit immer Bestand, weil sich der erfolgreiche Dichter, Schauspieler und Geschäftsmann immer um eine angemessene finanzielle Unterhaltung von Frau und Kindern gekümmert zu haben scheint. Er hat sich sicherlich nicht als Weltenbummler herumgetrieben und Frau und Kinder im Elend verkommen lassen. Und, ebenso wichtig zu sagen: Natürlich hat auch Anne das ihrige beigetragen zum Unterhalt der Familie und der Hauswirtschaft. Die Fakten zu ihrem Leben sind im Laufe der Jahrhunderte nicht mehr geworden, nur irritierende Vermutungen und Spekulationen haben sich breit gemacht. Unter den heute so beliebten 101 wichtigsten Fragen zu einer Person von zeitgenössischer oder historischer Bedeutung drängt sich schnell die Frage auf: „War Shakespeares Ehe glücklich?“ Das ist, mit Verlaub, schon im Allgemeinen eine ziemlich heikle Frage, aber ohne jegliche geschichtlichen Fakten ist sie eine Wette auf einen blinden Fleck in der Geschichte. Shakespeares Ehefrau ist nicht zu haben, Frau Shakespeare geb. Anne Hathaway ist nie laut geworden in der Geschichte, sondern sie gehört wie zu großen Teilen Shakespeare selbst zu den Verbor-

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genheiten, zu den Heimlichkeiten der Welt. Geschichte ohne Faktizität ist einer wissenschaftlichen Darstellung unzugänglich. Aber Geschichte im Sinne von Historie lässt sich befreien in die Geschichten, die Erzählungen über die Heimlichkeiten, über das Verschwiegene, auch das Unterdrückte in der Geschichte. Aus Historie wird Poesie. Shakespeare hat das für sich vorbildlich für alle Zeiten gelöst und uns einen Werkkosmos von ungeheuren Geschichten hinterlassen. Im Falle der Ehefrau schlagen wir die Befreiung ihrer eigenen bedeutenden oder unbedeutenden Lebensereignisse, schlagen wir für die Offenbarungen der Heimlichkeiten ihrer Geschichte das Reich der Fiktionen vor. Früher hätte man auch das „Reich der Poesie“ gesagt. Da kann die schmerzliche Lücke mit Phantasie gefüllt werden, da kann eine klare Antwort erteilt werden, ob Anne schreiben und lesen konnte, ob ihre Ehe glücklich war oder ob sie nicht sogar die Co-Autorin oder die heimliche Verfasserin aller Stücke ihres Mannes war. Freuen wir uns darüber! Es lassen sich um diese geheimnisvolle Ehe viele Romanzen spinnen. Shakespeare hat selbst beispielhafte Romanzen vorgelegt.

Susanna Hall • 37

Susanna Hall

geborene Shakespeare 1583–1649

Abb. 9: Hall’s Croft, April 1951, after restoration, Photographer F. Daniel, 10 Bridge Street

Abb. 10: Unterschrift von Susanna Hall

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Hall’s Croft, das schöne Haus von Shakespeares Schwiegersohn John Hall, ist heute ein Museum für Medizin zu Zeiten des Dichters. Dieses Haus bezog der Doktor Hall zusammen mit Shakespeares erstgeborener Tochter Susanna, die er am 5. Juni 1607 heiratete. Susanna war 24 Jahre und John war 32 Jahre alt. Die Taufe ihres ersten und einzigen Kindes namens Elisabeth war am 21. Februar 1608. Es war Shakespeares einzige Enkelin, von der er wusste, weil die beiden Kinder der Tochter Judith erst nach seinem Tod geboren wurden. Während die jüngere Tochter Judith in der Gunst des Vaters eher im Abseits stand, bedachte Shakespeare in seinem Testament Susanna und die Enkelin Elisabeth ziemlich großzügig. An Susanna ging aller Haus- und Grundbesitz, Pachtanteile und der Hausrat. Das heißt, dass vor allem das stolze „New Place“ in den Besitz von Susanna überging. Das Ehepaar Hall bezog denn auch nach des Vater Tod das Elternhaus. Der Ehefrau Anne verblieb als Witwe ohne ausführliche Erwähnung im Testament nach Gewohnheitsrecht ein Drittel vom gesamten Grundbesitz und ein Wohnrecht im Hause „New Place“ auf Lebenszeit. Über das „zweitbeste Bett“ ist der Deutungsstreit eher müßig. Shakespeare hat seine testamentarischen Verfügungen wie seine lebenslangen Immobiliengeschäfte sicherlich als Nebenbeschäftigungen verstanden. Er hat sie aber ohne großes Aufsehen, in stiller Beständigkeit für seine Altersversorgung und für seine Nachkommenschaft getätigt. Er war ein stiller Nutznießer seiner weltlichen Geschäfte und die literarische Welt mag rätseln, ob seine still ordnende Hand der letzten Dinge mit den Themen seiner späten Stücke sinnvoll in einen Zusammenhang zu bringen sind. Es scheint nicht zwingend, die räumliche und häusliche Nähe mit der Familie ab etwa 1610 schon in der Problematik des 1605/06 entstanden „König Lear“ gespiegelt zu sehen. Shakespeare sah sein eigenes Leben vermutlich nicht im Brennglas heutiger psychologisierender Betrachtung. Er konnte seine zwei Leben ganz gut unterscheiden.

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Zugegebenermaßen behandeln seine letzten Stücke – etwa „Perikles“, „Das Wintermärchen“ und „Der Sturm“ – das zentrale Thema der Vater-Tochter-Beziehung und man darf vermuten, dass dafür das familiäre Umfeld in Stratford bessere Anschauung und Erfahrung lieferte als die in dieser Beziehung eher abgehobene Welt Londons. Ob seine Tochter Susanna als Blaupause dieser Stücke diente, dass sie zum Kernthema dieser letzten Werke wurde, kann man glauben oder auch nicht. Stephen Greenblatt legt in seinem Buch „Will in der Welt“ steile Thesen vor. Während Shakespeares Testament für jeden die Kränkungen gegenüber seiner Frau und seiner Tochter Judith sichtbar zeige, sei dieses Dokument „auf seine stille Art auch eine außergewöhnliche Liebes­ erklärung, eine Erklärung, die vielleicht verstehen hilft, was ihn nach Stratford zurückzog. Die Frau, die auf Shakespeare den stärksten Reiz in seinem Leben ausübte, war 20 Jahre jünger als er: Es war seine Tochter Susanna.“1

Noch nicht genug, mit der Blaupause namens Susanna dieser letzten Stücke, „die als zentrales Thema die Vater-Tochter-Beziehung behandeln“, damit verrät Vater Shakespeare auch sehr „tiefe Ängste vor inzestuösen Wünschen“.2 Mit Verlaub, andere Väter haben auch geliebte Töchter, und was sie wollen, ist nur das, was sie wie Shakespeare „auf die gewöhnlichste und natürlichste Weise“ haben wollen: „die Freude, nahe bei seiner Tochter, ihrem Mann und ihrem Kind zu leben.“3 Adieu verbotene Wünsche; das klingt schon wesentlich weniger abgehoben, und wenn man – wie bei Shakespeare immer und überall zu beobachten – noch die alexandrinische Methode seiner Textproduktion berücksichtigt, dann wird man vielleicht einräumen, dass Literatur mindestens so gut Literatur produziert wie inzestuöse Wünsche. 1) Stephen Greenblatt: Will in der Welt, S. 467 2) ebd., S. 467 3) ebd., S. 467

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Judith Quiney

geborene Shakespeare 1585–1662

Abb. 11: Haus von Judith Quiney, Shakespeare›s Tochter, Stratford, 1903

Abb. 12: Thomas Quiney›s Unterschrift

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Judith, die zweite Tochter von William Shakespeare, wurde zusammen mit ihrem Zwillingsbruder Hamnet am 2. Februar 1585 getauft. Am 10. Februar 1616, also gute zwei Monate vor des Vaters Tod, heiratete Judith den Winzer und Tavernenbetreiber Thomas Quiney in der Holy Trinity Kirche in Stratford. Da war sie 31 Jahre alt und lebte bis zu diesem Zeitpunkt im Elternhaus. Thomas war um vier Jahre jünger, also 27 Jahre alt. Er kam aus einem respektierten Haus, hatte eine gewisse Bildung erhalten, die ihn befähigte, sogar etwas Französisch zu verstehen und zu schreiben. Danach zog das Paar vermutlich in das sogenannte Quiney House an der Ecke High Street und Bridge Street. Judith lebte dort bis zu ihrem Tode 1662. Ihr erster Sohn starb schon nach 5 Monaten am 8. Mai 1617; die beiden anderen Söhne starben kurz hintereinander im Januar und Februar 1639; sie wurden nur 21 und 19 Jahre alt. Ob das Zusammenleben mit den Eltern in New Place unter einem guten Stern stand, ist nicht bekannt, dass die Heirat mit Thomas Quiney unter ziemlich unguten Umständen zustande kam, ist einigermaßen erkennbar. Am 15. März 1616, also fünf Wochen nach der Hochzeit, wurde eine Frau namens Margret Wheeler in Stratford zusammen mit ihrem neugeborenen Kind begraben, dessen Vater vermutlich Judiths frischvermählter Ehemann Thomas war. Das war nicht schön, das war nach damaligen Begriffen „unkeusch“. Thomas gestand, dass er mit der Frau Geschlechtsverkehr hatte. Eine erträgliche Strafe folgte durch das Kirchengericht, dem er sich am 26. März stellte. Aber die eben erfolgte Heirat war belastet und getrübt. Am 25. März änderte Shakespeare sein Testament zum Nachteil von Judith mit Rückversicherungen gegen seinen Schwiegersohn. Am 26. März stellte sich Thomas dem Kirchengericht und zahlte die Gebühr für seine Verfehlungen. Der Argwohn des Schwiegervaters gegen Thomas Quiney ähnelt ein wenig einer Selbstbestrafung. Vielleicht hat Shakespeare geglaubt, sein „Vergehen“ im Falle von Anne Hathaway durch ein pflichtschuldiges Leben getilgt zu haben. Am 23. April starb er, aber die Zeche be-

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zahlte seine Tochter Judith. Ihr Unglück, wenn man es so nennen kann, wurde, als seien es Akte ausgleichender Gerechtigkeit, gerne fiktional ausgeschmückt und auserzählt, z.B. in Kenneth Branaghs Film „All is True“ von 2018. Kathryn Wilder spielt Judith Quiney bzw. Judith Shakespeare, Jack Colgrave Hirst ihren Mann Tom Quiney. In den weiteren Rollen dieses Epos’, das sich den alternativen Titel von „Heinrich VIII.“ ausborgt, spielten Kenneth Branagh (William Shakespeare), Dame Judi Dench (Anne Shakespeare), Ian McKellen (Earl of Southampton), Sam Ellis (Hamnet Shakespeare), Eleanor de Rohan (Margaret Wheeler), Doug Colling (Douglas), Darryl Clark (Mr. Wheeler), Penny Ryder (Mrs. Wheeler), Lydia Wilson (Susanna Hall), Gerard Horan (Ben Jonson). https://www.filmdienst.de/film/details/593639/all-is-true#bilder

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Elisabeth Tudor 1533–1603

regierte als Königin Elisabeth I. von England 1558–1603

Abb. 13: Marcus Gerards der Jüngere (ca. 1561–1636): Königin Elisabeth I. Das sog. „Ditchley portrait” befindet sich in der National Portrait Gallery und zeigt Königin Elisabeth I. stehend auf einer Karte von England, etwa 1592

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Teil II

Man bezeichnet die Regierungszeit von Königin Elisabeth I. von England und Irland gerne als „Elisabethanisches Zeitalter“. Die Zeit ihrer 45-jährigen Regentschaft überschneidet sich allerdings nur ein gutes Dutzend Jahre mit William Shakespeares Wirkungszeit als Dichter, Dramatiker und Schauspieler in London. Dennoch hat sich im kollektiven Bewusstsein der Jetztzeit festgeschrieben, dass die Dramen Shakespeares und sein Theater ziemlich deckungsgleich mit dem Begriff „Elisabethanisches Theater“ zu verstehen seien. Dieser verengte Blick übersieht eine stattliche Reihe anderer Dichter, Theaterautoren, Theatergrößen und Theater- und Literaturformen, die das „Elisabethanische Zeitalter“ hervorgebracht hat: John Lyly (1554–1606), Thomas Kyd (1558–1594), Ben Jonson (1572–1637) oder Christopher Marlowe (1564–1593), um nur einige wenige zu nennen. Sie alle bedienten auf ihre Art dramatische Traditionen in sehr vielfältigen Aufführungsstätten von der Hofbühne über die privaten und öffentlichen Theater bis hin zu den reisenden Truppen. Die nationale Geschichte trat im „history play“ zunehmend in den dramatischen Fokus, die mittelalterlichen „mystery plays“ und „morality plays“ fanden sich in die neue Sittenkomödie umverwandelt, die italienische Commedia dell’arte schlich sich mit ihren komischen Bühnentypen über die Nebenhandlungen in die Haupthandlungen mit dem Standespersonal ein und erzeugte jene Mischformen, über die die strenge klassische Poetik noch bis weit ins 18. Jahrhundert die Nase rümpfte. In Konzentration konnte sich Elisabeth I. mit Ende der Pestzeit etwa ab 1594 die verblüffend neuen dramatischen Ergebnisse des federführenden Mannes der „Chamberlain’s Men“ in diversen Herrschaftshäusern oder in ihrem Palast in Richmond vorführen lassen. Die Truppe hat 32 mal vor Königin Elisabeth gespielt und hatte gegenüber Auftritten anderer reisender Schauspieltruppen damit eine Vorrangstellung.1 „Königin Elizabeth sah noch ein paar Tage vor ihrem Tod im März 1603 eine Aufführung der Chamberlain’s Men in ihrem Palast in Richmond.“2 Unter ihrem Nachfolger James

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I. wurde die Truppe in „The King’s Men“ umbenannt und brachte es vor dem theaterbegeisterten König auf 175 Hofvorstellungen. Den Löwenanteil bei den präsentierten Stücken lieferte der Autor Shakespeare. Alles war geschrieben und gespielt, was den Begriff „Elisabethanisches Theater“ mit Leben füllte. Und erst jetzt, da das nach der Königin benannte Zeitalter längst Geschichte geworden war, erlaubt sich Shakespeare in seinem letzten Stück – wir schreiben das Jahr 1613 – die Nachfolgefrage in den Raum zu stellen. Er erörtert sie in der Rückschau vor ihrem schon lange regierenden Nachfolger als einem potentiellen Zuschauer seines Stücks, denn bei einer der ersten Aufführungen im Globe Theater, am 29. Juni 1613, wird Jakob I. nicht dabei gewesen sein. An diesem Abend ist Shakespeares Bühne bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Mit dem Theater war wohl auch das „Elisabethanische Zeitalter“ irgendwie zu Ende. Der steile Aufstieg zur kulturellen Weltmacht, vor allem zur Theater-Weltmacht, erlahmte in den rauschenden Theaterfesten des Hofes, die in den puritanischen Kreisen zunehmend auf erheblichen Widerstand stießen. Bis zur endgültigen Abschaffung und Schließung jeglichen Theaterlebens am 2. September 1642 für ganze 18 Jahre durch das Parlament dauerte es wohl noch eine erhebliche zeitliche Strecke, aber die Permanenz der Zukunftsängste vor Bürgerkrieg, Rebellion oder Invasion fremder Mächte infolge der immerwährenden Thronfolgekrise hatte ihre dramatischen Aufarbeitungen verflacht. Das Theater war zahnlos geworden. Der Puritaner Oliver Cromwell führte das Land schließlich in den blutigen Bürgerkrieg, den die Tudorzeit als Menetekel an der Wand geschrieben sah. Solche Verflachung hin zum rauschenden Bühnenereignis zeigt auch schon Shakespeares Heinrich VIII. Das Stück trug ursprünglich den Titel „All is true“, und dieser Titel kündigt nicht eigentlich ein Historienstück an, sondern es ist mit seinen vielen prunkvollen Szenen schon fast wie ein Festspiel auf etwa 15 Jahre Tudorgeschichte von 1521 (Hinrichtung des Herzogs von Buckingham) bis 1536 (Tod der Katharina von Aragon). Wo alles wahr und richtig ist, kommt es aufs geschichtliche Detail nicht an, und so zeigt Shakespeare die Herrschaft Heinrich VIII. doch arg verklärt. Kein Schatten fällt auf den König, alles Kompromittierende ist getilgt. In der Aburteilung des skrupellosen papistischen Kardinals Wolsey offen-

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bart sich des Königs Gerechtigkeitssinn, und auch der von katholischer Seite heftig attackierte Reformator Thomas Cranmer wird durch des Königs Eingreifen rehabilitiert. Für seine Unterstützung bei dessen Ehe-Annullierung von Katharina von Aragón gewann er nicht nur die Gunst des Königs, sondern am 30. März 1533 auch den Stuhl des Erzbischofs von Canterbury. In der Schlussszene von Shakespeares Stück, die dann im September des gleichen Jahres spielt, entwirft der Erzbischof für des Königs und der Anna Boleyna Kind Elisabeth eine apotheotischverklärte glorreiche Zukunftsvision. Der hymnische Lobpreis auf die Zukunft des königlichen Kindes erinnert sehr an den Lobgesang des greisen Simeon im Tempel, der im neugeborenen Jesus den Retter der Welt erkennt. Cranmer Laßt mich reden, Gott wills; und achte keiner hier mein Wort Für Schmeichelei, denn Wahrheit sollt ihrs finden. Dieß Königskind, – (stets sei mit dir der Himmel!), Ob in der Wiege noch, verheißt dem Reich Tausend und aber tausend Segensfülle, Die Zeit zur Reife führt. Du wirst dereinst (Nur Wen’ge, jetzt am Leben, schaun es noch) Ein Muster aller Könige neben dir Und die nach dir erscheinen. Saba’s Fürstin Hat Weisheit nicht und Tugend mehr geliebt Als diese holde Unschuld. Jede Zier, Jedwede Anmuth so erhabnen Haupts, Und jede Tugend, die den Frommen schmückt, Ist doppelt stark in ihr. Der Glaube nährt sie, Himmlische Andacht wird ihr rathend beistehn, Geliebt wird sie, gefürchtet seyn; gesegnet Von ihren Freunden. Die Feinde zittern gleich geschlagnen Halmen, Gebeugt das Haupt in Gram. Heil wächst mit ihr, In ihren Tagen ißt in Frieden jeder Unter dem eignen Weinstock, was er pflanzte. Des Friedens heitre Klänge tönen rings, Gott wird erkannt in Wahrheit; ihre Treuen, Durch sie geführt um wahren Pfad der Ehre, Erkämpfen hier sich Größe, nicht durch Blut. Auch schläft mit ihr der Friede nicht; nein, wie Der Wunder-Vogel stirbt, der Jungfraun-Phönix,

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Erzeugt aus ihrer Asche sich der Erbe, So wunderwürdig auch, wie sie es war; So läßt sie einem andern allen Segen, (Ruft sie der Herr aus Wolken dieses Dunkels), Der, aus der heil’gen Asche ihrer Ehre, Sich, ein Gestirn, so groß wie sie, erhebt, Glanzhell: Schreck, Friede, Fülle, Lieb’ und Treu, Die Diener waren dieses hehren Kindes, Sind seine dann, wie Reben ihn umschlingend; Wo nur des Himmelshelle Sonne scheint, Da glänzt sein Ruhm, die Größe seines Namens, Und schaffet neue Völker; er wird blühn Und weit, wie Berges Zedern, seine Zweige Auf Ebnen strecken. – Unsre Kindes-Kinder, Sie sehn, Gott preisend, dieß. König

Ha, du sprichst Wunder!

Cranmer Sie wird zu Englands schönstem Ruhm gesegnet Mit hohen Jahren; viele Tage sieht sie, Und keinen doch ohn’ eine That des Ruhms. (V,4)

Der Mann hat gut reden. Seine Prophezeiung eines „Goldenen Elisabethanischen Zeitalters“ legt ihm sein Verfasser aus der vollendeten Zukunft in den Mund. Elisabeth ist schon 10 Jahre tot und Jakob Stuart regiert schon ebenso lange zu aller Glück und Zufriedenheit. Und auch der Mann Shakespeare hat gut reden. Jetzt endlich, wo die Nachfolgefrage für Königin Elisabeth längstens erledigt ist, spricht er das Tabu bezüglich ihrer Nachfolge an. Jetzt, da es frei von Strafe ist, getraut er sich durch den Mund seines Protagonisten geheimnisvoll zu raunen: Cranmer O säh’ ich weiter nicht! Doch sterben mußt du, Du mußt, die Heil’gen woll’n dich; doch als Jungfrau, Als fleckenlose Lilie senkt man dich Hinab zur Erd’, und alle Welt wird trauern. (V,4)

Der König, der in seiner geschichtlichen Wirklichkeit alles getan hat, seinen Frauen einen Sohn abzufordern, gibt sich zufrieden mit einer Tochter und es herrscht eitel Sonnenschein über der Szene. Happy End auf ganzer Linie!

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König Lord Erzbischof, Ihr habt mich jetzt zum Mann gemacht; kein Kind Erzeugt’ ich noch vor diesem sel’gen Wesen. Dieß Trostorakel hat mich so beglückt, Daß ich dereinst im Himmel wünschen werde, Das Thun des Kinds zu sehn und Gott zu preisen. Ich dank’ euch Allen. euch, werther Lord Mayor, Und euren Brüdern bin ich höchst verbunden; Ich ward geehrt durch Eure Gegenwart Und will mich dankbar zeigen. Kommt, ihr Herrn, Ihr müßt die Königin noch alle sehn; Euch Alle muß sie ihres Danks versichern, Sonst wird sie nicht genesen. Heut soll Keiner Des Hauses warten, Alle bleibt als Gäste; Durch diese Kleine wird der Tag zum Feste. Alle ab. (V,4)

Aus dem vollendeten Futur wusste Shakespeare und jeder Zuschauer im Globe Theater, dass das Goldene Zeitalter Elisabeths noch ein Viertel-Jahrhundert auf sich warten ließ, dass noch viel Blut vergossen werden musste, bis zur Morgenröte. „Heinrich der VIII.“ oder „All is true“ war Shakespeares letztes Stück und im Happy End dieses Stücks spiegelt sich auch die Morgenröte seines parallelen Welttheater-Zeitalters, das viele Tage sah, und keinen ohne eine Tat des Ruhms. Ob dieser schönen Parallelität und weil „alles wahr ist“, war Shakespeare, so die Version des Amerikaners Paul Streitz bzw. des Films „Anonymus“ von Roland Emmerich vielleicht doch ein Sohn der kaum 16-jährigen, künftigen Königin Elisabeth I. gewesen. On July 21, 1548 in the early hours of the morning, Princess Elizabeth gave birth to a son. The father was Thomas Seymour, her stepfather. The child was placed in the home of John de Vere 17th Earl of Oxford. The child was raised was Edward de Vere, 17th Earl of Oxford. He is better known to the world by his pen name, „William Shakespeare.“ 3

Der selbstironische Titel von Shakespeares letztem Stück „All is true“ wirkt in dieser Perspektive ebenso klangvoll wie schrill. Die Wahrheit der Geschichte war damals nicht in „Geschichten“ zu haben, die Wahrheit über die Biographie des Geschichtenerzählers noch weniger. Und das ist gut so!

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1) Ina Schabert, S. 160 2) Wolfgang Höbel, in: Der Spiegel 29.07.2014 3) Paul Streitz: Oxford, Son of Queen Elizabeth I., Oxford Institute Press, 2001

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Jeanne d’Arc, genannt La Pucelle Heinrich VI. (I. Teil) (1589 / 1590)

Johanna von Orléans (um 1412–1431)

designed by Edward Henry Corbould and engraved by G. Inglis

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Jeanne d’Arc, genannt La Pucelle • 55

Talbot Wo ist mein Muth und meine Stärk’ und Kraft? Die Schaaren weichen, ich kann nicht sie halten; Sie jagt ein Weib, mit Rüstung angetan. (Die Pucelle kommt zurück) Hier kommt sie, hier: – Ich messe mich mit dir, Beschwör’ dich, Teufel oder Teufelsmutter! Ich lasse Blut dir, du bist eine Hexe, Und stracks gieb deine Seel’ dem, so du dienst. (1,I,5)

Lord Talbot hat keine Chance gegen das Teufelsweib. Er zieht sich zurück und Jeanne erscheint auf den Mauern von Orleans mit der Fahne. Pucelle Pflanzt unsre weh’nden Fahnen auf die Mauern; Den Englischen ist Orleans entrissen, So hielt euch Jeanne la Pucelle Wort! (1,I,6)

Was für ein Entree auf der Bühne des Welttheaters! Fünf kurze Szenen braucht der Autor, um ein Panorama von welthistorischer Bedeutung zu skizzieren und seine erste Frau, ein 17-jähriges Mädchen, am Ende des 1. Akts im vollen Glanz als Siegerin erstrahlend uns vors Auge zu führen. Welch eine Dramaturgie! Von der Westminster-Abtei, mit der Leiche Heinrichs des V. – wir schreiben den 31. August 1422; sein Sohn, der spätere Heinrich VI., ist gerade einmal 8 Monate alt –, springt der Autor nach Frankreich, wo vor den Toren Orleans die Jungfrau wie im Nebenbei den Dauphin, den späteren König Karl VII., von ihrer Sendung unterrichtet. Und schon sind wir wieder in London, wo vor dem Tower eine weitere Perspektive für den zweiten Akt eröffnet wird. Mit Affenzahn zurück nach Orleans vor eines der Stadttore und schon pflanzt Jeanne die Fahnen auf. Orleans ist zurückerobert; wir schreiben den 8. Mai 1429. Trompetenstoß, sagt die kurze Anweisung, dann gehen alle ab und der erste Akt ist zu Ende. Die Ereignisse von sieben historischen Jahren sind auf we-

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nige Wochen Bühnenzeit verdichtet. Die Krönung zu Reims am 17. Juli 1429 hat ein Bote schon in der ersten Szene gemeldet. Das ist Umgang mit der Faktenlage in großer dichterischer Freiheit. In überzeugender ineinandergreifender Struktur und in einem geschlossenen Geschichtsverständnis stürmt das Stück „Heinrich VI.“ über drei Teile, kommt die Trilogie, mit jeweils 5 Akten an ein Ende, das mit „Richard III.“ noch einmal einen riesigen 5-Akter zur Verlängerung dransetzt und sich zur Lancaster-Tetralogie erweitert. Das ist eine dramatische Langstrecke, die für den Autor eine schier unglaubliche Herausforderung war wie für das Publikum in ihrer epischen Breite eine Zumutung. Nicht nur der heutige Leser bzw. Zuschauer im Theater stöhnt ob der Fülle an Handlung, der Schauplätze und der historischen Bezugspunkte, sondern der Zuschauer im Londoner Theaterrund war mindestens so herausgefordert von der kolossalen geschichtlichen Überwältigung des noch unbekannten Autors William Shakespeare. Englisches Geschichtswissen in Ehren, aber die „groundlings“ von damals waren dem kleinbürgerlichen Publikum von heute sicherlich in Geographie nicht überlegen. Und die Ereignisse lagen auch für sie schon gute 160 Jahre zurück. Trotzdem hat dieses Publikum Shakespeares Herausforderung angenommen, der mit der Heinrich VI.-Trilogie seinen ersten großen Theatererfolg hatte.1 Was wusste man über die Pucelle, die Jungfrau von Orléans? – Vermutlich sehr wenig und so konnte Shakespeare seinem Publikum das Wissen, das ihm aus Raphael Holinsheds „Chroniken Englands, Schottlands und Irlands“ zur Verfügung stand, in Blankversen weitergeben. Natürlich benützte Shakespeare zur Abrundung auch noch andere Quellen, aber bei Holinshed konnte er lesen, dass man, als die Engländer Orleans besetzt hielten, „ein junges 18-jähriges Frauenzimmer namens Johanna Arc usw. usw. ….. von hübschen Gesichtszügen, starkem und mannhaftem Körper, kräftigem und mutigem Sinn, wohl kundig der Politik, wenngleich sie nicht zu Rate saß, dem Anschein nach keuschen Leibes und Wesens, demütig, gehorsam, bei jedem Geschäft den Namen Jesu im Mund, mehrere Tage in der Woche fastend – kurz, eine Person wie ihre Bücher sie schildern, durch die Macht Gottes zur Rettung des französischen Staates erweckt, der sich damals in tiefer Not befand.“2

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Alles, was Holinshed über die Pucelle erzählt, ist schön eingebettet in den größeren Zusammenhang des englischen Krieges in Frankreich nach dem Tod Heinrichs V. Das Hin und Her der Besetzungen französischer Städte und der Entsetzungen, der Befreiungen aus der Umzingelung des Feindes wird personalisiert in den Figuren von Jeanne d’Arc und ihrem englischen Widersacher Lord Talbot. Talbot galt als ein aggressiver und wagemutiger Heerführer, und es ist verständlich, dass er an dem Mädchen nichts Gutes lässt, das ihm, dem erfahrenen Haudegen mitsamt seinem Sohn, so unverfroren den Schneid abkauft. Das ist so erniedrigend und kann nicht mit rechten Dingen zugehen. Vor den Toren der Stadt Rouen trifft man sich wieder. Und wieder muss Talbot zunächst zuschauen, wie die Französischen mit der Pucelle die Mauern erobern: Talbot Frankreich, mit Thränen sollst du mir dieß büßen, Wenn Talbot den Verrath nur überlebt. Die Hexe, die verfluchte Zauberin, Stellt unversehns dieß Höllen-Unheil an, Daß wir dem Stolze Frankreichs kaum entrinnen. (1,III,2)

Ein zweiter Anlauf wird von ähnlichen Verwünschungen begleitet. Talbot Dämon von Frankreich, aller Greuel Hexe, Von deinen üpp’gen Buhlern eingefaßt! […] Ich muß noch einmal, Dirnchen, mit euch dran, Sonst komme Talbot um in seiner Schmach! (1,III,2)

Diesmal gelingt es Talbot, die Mauern zu erstürmen und Rouen zurückzuerobern. Talbot In einem Tag verloren und gewonnen! (1,III,2)

Da fällt ihm ein Stein vom Herzen, dass ihm die Pucelle die Stadt Rouen überlässt. Aber es ist ein Pyrrhussieg. Er verliert gleichwohl eine Schlacht hinter der Front. Das Mädchen macht ihm den verbündeten französischen Partner Burgund mit großer Beredsamkeit abspenstig. Sie überzeugt ihn, nicht wider, sondern für seine Landsgenossen zu kämpfen, für die Sache Frankreichs. Burgund Ich bin besiegt; ‘dieß’ ihre hohen Worte Zermalmen mich wie brüllendes Geschütz,

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Daß ich auf meinen Knien mich fast ergebe – Verzeiht mir, Vaterland und Landsgenossen! Und, Herrn, empfangt die herzliche Umarmung! All meine Macht und Schaaren Volks sind euer; Talbot, leb wohl, ich trau dir länger nicht. (1,III,3)

Rouen verloren und an einem Tag Burgund gewonnen. Das sagt Jeanne allerdings nicht, sondern Shakespeare legt ihr ein unerwartet ironisch-spitzzüngiges Wort in den Mund. Pucelle (beiseit) Wie ein Franzos: gewandt und umgewandt! (1,III,3)

Machen wir der Schlachten ein Ende. Die Englischen sind uneins und verlieren auch vor Bordeaux und in der Gascogne, und Talbot und sein junger Sohn fallen für Englands Ehre auf französischem Felde. Shakespeare erspart den beiden Haudegen die Schmach, sie eigenhändig von der Jungfrau besiegt zu sehen. Und der Dauphin meint leichthin: „Nun nach Paris, von Siegeslust getragen; Nichts widersteht, da Talbot ist erschlagen. (IV,7)

Der Gerechtigkeit halber muss man sagen, dass Talbot erst 22 Jahre nach der Hinrichtung der Jungfrau von Orléans am 17. Juli 1453 in der Schlacht von Castillon fiel; ebenso sein Sohn Thomas. Es war die letzte entscheidende Niederlage der Engländer im Hundertjährigen Krieg. Die Pucelle hatte den Weg geebnet, aber sie hatte ihrerseits ihren Preis zu bezahlen. Im fünften Akt wird sie vor Angers von Richard Plantagenet, dem nachmaligen Herzog von York, gefangengesetzt. Vergeblich hat die Jungfrau ihre Geister um Hilfe angerufen, die sie ohne Antwort ließen. Versteht sich, dass es böse Geister waren, denn dem Dichter scheint sie eine wirkliche Hexe. Er lässt sie erscheinen, schweigen und wortlos verschwinden. Pucelle. Seht, sie verlassen mich! Nun kommt die Zeit, Daß Frankreich muß den stolzen Helmbusch senken, Und niederlegt sein Haupt in Englands Schooß. Zu schwach sind meine alten Zauberein, Die Hölle mir zu stark, mit ihr zu ringen; In Staub sinkt, Frankreich, deine Herrlichkeit. (1,V,3)

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Dieser Coup mit der Geisterszene und der Gefangennahme ist ziemlich fiktional und wohl stark von englischem Patriotismus eingefärbt. Dass das Werkzeug Gottes gegen die Engländer in den Augen der englischen Soldaten als Hexe und Hure gesehen wird, ist erklärlich. Dass Frankreichs Herrlichkeit in Staub sinken möge, ist englisches Wunschdenken. Die wechselseitigen Pöbeleien zwischen York und Johanna sind dem Theater geschuldet. Insgesamt ist Shakespeare von vielen Seiten ob seiner parteiischen Einseitigkeit in Darstellung der Johanna von Arc gescholten worden. Schon Heinrich Heine hat in seinen Essays „Shakespeares Mädchen und Frauen“ mit dem jungen Dichter gehadert: „Shakespeare hat sich an der Pucelle versündigt, und wo nicht mit entschiedener Feindschaft, behandelt er sie doch unfreundlich und lieblos, die edle Jungfrau, die ihr Vaterland befreite! Und hätte sie es auch mit Hülfe der Hölle getan, sie verdiente dennoch Ehrfurcht und Bewunderung!“3

Die Tadler und Kritiker Shakespeares haben ihrerseits ziemlich einseitig die vorletzte Szene (1,V,4) des Stückes gelesen. Natürlich findet da keine Schillersche Verklärung statt, aber doch der Versuch, der schönen „Feindin“ gerecht zu begegnen. Selbstverständlich umgibt er Johanna, die vom Feind zum Feuer verdammte Zauberin mit Zweifeln – es waltet ja auch ein großes Geheimnis um sie –, aber er gibt ihr auch Gelegenheit für eine große Selbstpräsentation, die man glauben kann oder auch nicht. Da ist nichts von Lieblosigkeit und Feindschaft seitens des Dichters und keine Falschheit seitens der Jungfrau. Pucelle. Laßt mich euch sagen erst, wen ihr verdammt. Nicht mich, erzeugt von Hirten auf der Flur, Nein, aus der Könige Geschlecht entsprossen; Heilig und tugendsam; erwählt von droben, Auf Erden hohe Wunder zu bewirken. Mit bösen Geistern hatt’ ich nie zu thun; Doch ihr, befleckt von euren eignen Lüsten,. Besudelt mit der Unschuld reinem Blut, Verderbt und angesteckt von tausend Lastern, Weil euch die Gnade fehlt, die Andre haben, So achtet ihrs für ein unmöglich Ding, Ein Wunder wirken, ohne Macht der Teufel. Nein, Mißbelehrte! wißt, daß Jeanne d’Arc Seit ihrer zarten Kindheit Jungfrau blieb,

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Selbst in Gedanken keusch und unbefleckt; Daß ihr jungfräulich Blut, so streng vergossen Um Rache schrein wird an des Himmels Thoren. (1,V,4)

Wenn man bedenkt, dass da nur Feinde zuhören, dass sie um ihr Leben kämpft, dass sie das Zeugnis des angeblichen Vaters als eine bestellte Aussage zurückweist, dass sie als letztes Mittel eine Schwangerschaft ins Feld führt: Die Kommentare der Anwesenden sind höhnisch und zynisch sondergleichen. Es ist aber keineswegs erwiesen, dass das Shakespeares Stimme ist, die da aus ihnen spricht. Er gibt der Jungfrau ein letztes Wort, das nicht das einer Heiligen ist, aber aus einer menschlichen Brust kommt, die ihr Vaterland liebte und sich dafür opferte. Pucelle. So führt mich fort – euch laß ich meinen Fluch. Die lichte Sonne werfe ihre Strahlen Nie auf das Land, das euch zum Sitze dient! Umgeb’ euch Nacht und düstrer Todesschatten, Bis Unheil und Verzweifelung euch drängt Den Hals zu brechen, oder euch zu hängen! (sie wird von der Wache abgeführt.) (1,V,4)

Shakespeare hat sich hoher poetischer Gerechtigkeit befleißigt, anders als sein Landsmann, der nachmalige Herzog von York. York. Brich du in Stücke, und zerfall’ in Asche, Verfluchte schwarze Dienerin der Hölle! (1,V,4)

So hatte das Raphael Holinshed vermutlich nicht gemeint, als er in seiner Chronik in Bezug auf die Pucelle vorschlug: „Ihr habt schon oben manches von dem seltsamen Beginnen und Tun dieses Frauenzimmers gehört, und da das Ende von Wundertätern es gewöhnlich zutage bringt, mit welchen Mitteln und Kräften sie wirken, so will ich erzählen, was schließlich aus ihr wurde, und ihr könnt dann über sie denken, wie ihr Grund zu haben glaubt.“4 deutsche Übersetzung: August Wilhelm von Schlegel 1) Stephen Greenblatt, S. 227 2) Günter Jürgensmeier, S. 68 3) Heinrich Heine, (2014) S. 89 4) Günter Jürgensmeier, S. 69

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Heinrich VI. (I. bis III. Teil) (1589–1592) Margarete von Anjou (um 1430–1482)

designed by J. Herbert and engraved by William Henry Mote

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designed by J. Herbert and engraved by William Henry Mote

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Wenn im dritten Teil von Shakespeares „Heinrich VI.“ Ludwig XI. von Frankreich, dessen Vater wir schon im ersten Teil als Dauphin und nachmaligen König Karl VII. kennengelernt haben, die Königin Margaretha in seinem Palast galant auffordert, Platz zu nehmen, ist schon eine lange blutige Geschichte erzählt. Ludwig (aufstehend) Setzt, schöne Königin von England, euch Hier, würd’ge Margaretha, zu uns her!: Es ziemt nicht eurem Range noch Geburt, Daß ihr so steht, indessen Ludwig sitzt. (3,III,3)

Die Szene datiert ums Jahr 1461. Wir haben schon im ersten Teil des Dramas erfahren, dass sie die Tochter des Reignier ist, des Herzogs von Anjou und Maine, der auch Titularkönig von Neapel ist. Und genau so stellt sie sich zu Beginn der Trilogie vor. Margaretha Margaretha heiß’ ich, eines Königs Tochter, Königs von Napel; sei du, wer du seist! (1,V,3)

Er, das ist Suffolk, Graf von Suffolk. Dem stolzen Wort der Dame folgt eine Werbung des Grafen, die es in sich hat. Eben gefangen vor Angers und sofort gefreit für den englischen König Heinrich VI. Suffolk Ich mache dich zu Heinrichs Ehgemahl, Geb’ in die Hand ein goldnes Scepter dir, Und setz aufs Haupt dir eine reiche Krone, Wenn du herab dich läßt zu meiner – Margaretha

Was?

Suffolk Zu seiner Trauten. (1,V,3)

Der Versprecher „meiner : seiner“ von Graf Suffolk ist Programm, auf das sich Margaretha unausgesprochen einlässt. Sie akzeptiert Suffolk als ihren Cicisbeo mit weitreichenden und unerfreulichen Folgen für die Zukunft Englands.

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Nach der Chronologie darf man indes nicht immer genau fragen. Zeitlich befinden wir uns bei der Werbung Suffolks für Heinrich VI. noch vor 1431 – die Jungfrau von Orléans wird gerade zur Hinrichtung geführt– und bei der Begegnung mit Ludwig XI. mindestens nach 1461. Zwischen beiden Porträts liegen 30 Jahre; das ist eine lange Zeit und die will auf dem Theater einigermaßen mit Bravour gemeistert werden. Deshalb hat Shakespeare im Übergang von Teil eins zu Teil zwei etwa 15 Jahre der wirklichen Welt in der gedichteten Welt unterschlagen. Die von Graf Suffolk als französische Braut für den englischen Heinrich geworbene Margaretha, so werden wir am Ende des ersten Teils des Dramas unterrichtet (1,V,5), wird als künftige Königin willkommen geheißen und gebeten, sich zur Überfahrt nach England bereit zu machen. Dort ist die Hochzeit und die Krönung geplant und ein Arrangement, das die gefreite Dame mit stillem Bejahen akzeptiert und das der ehrgeizige, skrupellose Höfling so ausformuliert: Suffolk Margretha soll den König nun beherrschen, Ich aber sie, den König und das Reich. Ab. (1,V,5)

Das verspricht nichts Gutes, und tatsächlich kommt nicht nur „nichts Gutes“, sondern am Ende der Trilogie – da sind dann 40 Jahre seit der Verbrennung der Jungfrau vergangen – werden Margarethas 18-jähriger Sohn, Prinz Eduard, und ihr Gemahl, König Heinrich VI., brutal niedergemetzelt, der Sohn auf dem Schlachtfeld von Tewksbury (4. Mai 1471), sein Vater im Tower von London (21. Mai 1471). Und der Bruder des neuen, mörderischen Königs Eduard IV. frägt: Clarence Was ist mit Margarethen euer Schluß?

Darauf antwortet der Bruder bestimmt:

König Eduard Fort mit ihr, setzet sie nach Frankreich über. […] Tönt, Pauken und Trompeten! Leid, fahr hin! Wir hoffen dauerhaften Glücks Beginn. Alle ab. (3,V,7)

Mitnichten! Die unheilvolle Königin, das harte, frevelhafte Weib, so Heinrich Heine,1 geht in der Wirklichkeit 1476 nach Frankreich ab, aber bei Shakespeare beschäftigt sie uns im Anschlussstück „Ri-

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chard III.“ weiter. Und weiter beschäftigt natürlich die Frage, warum wir bei solchem Ende mit dieser Frau nicht unendliches Mitleid haben sollten? Das hat Shakespeare ausgeschlossen, das hat er ihr verweigert wie allen Figuren dieses Dramas bis auf einen: den König, Heinrich VI. Gehen wir an den Punkt ihres ersten Auftretens zurück. Sie wird zwar für einen König geworben, aber ihr öffentlicher Werber paktiert mit ihr hinter dem Rücken des Herrschers. Er wird zum heimlichen Liebhaber, zum Mitwisser und Mittäter aller Schandtaten, die in aller Grausamkeit auf sie zurückfallen. Rache ist das beherrschende Prinzip des ununterbrochenen Gemetzels zwischen den Häusern York und Lancaster, aus deren Spirale niemand zu entkommen vermag. Dass die Rache ständige Beschönigung erhält, ist dem hohen Zynismus des Dichters gedankt. Kaum dem König vorgestellt, erhebt sich im Palast einiger Aufruhr ob der kärglichen Mitgift der Braut. Der Protektor, Herzog von Gloster, erklärt unmissverständlich: Gloster O Pairs von England! Schmählich ist dieß Bündniß, Die Eh’ verderblich; euren Ruhm vertilgt sie …. (2,I,1)

…. und noch vieles mehr wird in Frage gestellt durch den schäbigen Vertrag, den Graf von Suffolk mitgebracht hat und für den er soeben vom König zum Herzog befördert wurde. Ein schöner Spaß, kommentiert Gloster sarkastisch, und der Herzog von York von der Partei der weißen Rosen weiß einen Trumpf draufzulegen: Eheweiber müssen Geld bringen! York Nie las ich anders, als daß Englands Kön’ge Mit ihren Weibern Summen Golds erhielten: Und unser Heinrich giebt sein eignes weg, Um die zu frein, die keinen Vortheil bringt! (2,I,1)

Es sind mehr als bewegte Zeiten in England, seitdem die Regentschaft des strahlenden Heinrich V. auf seinen sanften, frömmelnden und schwachen Sohn Heinrich VI. überging. Was in Frankreich erobert wurde, ist seit Jeanne d’Arc wieder weggebrochen: Verluste über Verluste, Streit über Streit um die Legitimität des Königs. Jede Linie beansprucht die Herrschaft für sich und kämpft darum mit mehr als harten Bandagen. Wechselseitige Verleumdungen, Anschuldigungen, Mord und Totschlag bestimmen die Regie-

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rungszeit Heinrichs VI., und man hat dem Mann eine Frau geworben, die zwar eine glatte Fehlpartie bezüglich ihrer Mitgift ist, die aber mit allen Mitteln im Spiel um die Macht mitmischen will. Margaretha und Suffolk arbeiten im Verborgenen zusammen und planen, ihre Gegner der Reihe nach auszuschalten. Gloster, der Protektor, ist der erste der Vorlauten; York, der ebenfalls ziemlich vorlaut über seine Ambitionen auf den Thron doziert, kommt später an die Reihe. In einem Zimmer des Palasts lässt uns Shakespeare an ihrer Unterredung teilnehmen. Königin [Margaretha] Nächst dem Protektor haben wir noch Beaufort, Den herrischen Pfaffen; Somerset, Buckingham, Den murr’nden York: und der Geringste dieser Kann mehr in England als der König thun. (2,I,3)

Da hat sie recht die stolze Französin. Heinrich ist das Mündel all der Genannten. Dabei dachte sie sich ihren Heinrich gleich dem Herzensbrecher Suffolk, aber diesem König fehlt es leider an Sitte und schöner Leibsgestalt, und außerdem steht all sein Sinn nur auf Frömmigkeit, auf „Ave Maria am Rosenkranz zu zählen“. Königin [Margaretha] Ihm sind Propheten und Apostel Kämpfer, Und seine Waffen heil’ge Bibelsprüche, Sein Zimmer seine Rennbahn, seine Liebsten Kanonisirter Heil’gen ehrne Bilder. Daß doch das Cardinal-Kollegium Zum Papst ihn wählt’, und brächte ihn nach Rom, Und setzt’ ihm die dreifache Kron’ aufs Haupt: Das wär’ ein Stand für seine Frömmigkeit. (2,I,3)

Das ist kein schönes Bild; so spricht man nicht von einem frischangetrauten Ehemann. Für Suffolk ist das Wasser auf seine Mühlen, die Maschine beginnt zu laufen. Durch beider Intrigen wird Gloster als Verräter verhaftet und York nach Irland abkommandiert. Dort sammelt er sich eine Armee, um auf seine Stunde zu warten. York Ja, dann komm’ ich mit meiner Macht von Irland, Und ernte, was der Bube hat gesä’t. Denn, ist nur Humphrey todt, was bald wird seyn, Und Heinrich weggeschafft, wird Alles mein. (Ab.) (2,III,1)

Suffolk engagiert sich zwei Mörder, die Gloster in seinem Bett er-

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sticken. Das war vielleicht übereilig und das Volk empört sich, so dass ihn Heinrich verbannt. Jetzt hat er einmal etwas erkannt und entschieden, da fällt ihm seine eigene Frau in den Rücken. Königin [Margaretha] O laß mich für den holden Suffolk reden! König Heinrich Unholde Königin, ihn hold zu nennen! Nicht weiter, sag’ ich; wenn du für ihn redest, Wirst du nur höher steigern meinen Zorn. (2,III,2)

Dynastisch kalkulierte Ehen waren keine Liebesheiraten, aber was der König durch seinen Abgang nicht hören und sehen kann, hätte ihn zum Weinen gebracht, obwohl die beiden ausgebuffte Intriganten und Mörder sind. Suffolk Ich kann nicht leben, wenn ich von dir scheide; Und neben dir zu sterben, wär’ es mehr Als wie ein süßer Schlummer dir im Schooß? (2,III,2)

Das geht so eine Weile hin, bis sich Margaretha ermannt: Königin [Margaretha] Fort! ist die Trennung schon ein ätzend Mittel, Sie dient für eine Wunde voller Tod. Nach Frankreich, Suffolk! Laß von dir mich hören, Denn, wo du seist auf diesem Erdenball, Soll eine Iris dich zu finden wissen. Suffolk Ich gehe. Königin [Margaretha] Und nimm mein Herz mit dir. (2,III,2)

Wer sich einmal auf die Regeln des Schlachthauses eingerichtet hat, kommt darin um. Kaum auf See Richtung Frankreich gerät Suffolk in Gefangenschaft und wird enthauptet. Pathetisch rhetorische Selbststilisierungen und heroische Vergleichung – mit Cicero, Cäsar oder Pompeius – offenbaren sich als hohle Phrasen. Erster Edelmann O ein barbarisches und blut’ges Schauspiel? Ich will zum König seine Leiche tragen; Rächt der ihn nicht, so werden’s seine Freunde, Die Königin, die lebend hoch ihn hielt. (Ab mit der Leiche.) (2,IV,1)

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Wir schreiben den 2. Mai 1450. In Blackheath, dem Stadtviertel, das als eine Art Massengrab für die Opfer der Pestepidemie von 1347 bis 1353 verwendet wurde, sammelt schon der Rebell Jack Cade für den Herzog von York aufrührerisches Gesindel, das König Heinrich öffentlich als Usurpator beschimpft. Königin Margaretha sitzt derweilen trauernd im Palast in London mit dem Kopf von Suffolk. Die Szene ist nicht wirklich herzerschütternd, sondern grell und vulgär. Königin [Margaretha] Oft hört’ ich, Gram erweiche das Gemüth, Er mach’ es zaghaft und entart’ es ganz: Drum denk’ auf Rache und laß ab vom Weinen. Doch wer ließ’ ab vom Weinen, der dieß sieht? Hier liegt sein Haupt an meiner schwell’nden Brust: Wo ist sein Leib, den ich umarmen sollte […] Ah, die Barbaren! Hat dieß holde Antlitz Mich wie ein wandelnder Planet beherrscht? (2,IV,4)

Die Barbaren sind immer die anderen auf dem Schlachthof, dessen Ordnung nur von einem Ziel bestimmt ist: die Rache, die Krone, die Herrschaft. Es ist nur folgerichtig, dass dieser Greueltat die nächste folgt. Wir schreiben den 12. Juli 1450. Da wird der Möchtegern-König Jack Cade mit seinen rund 20.000 Rebellen schon wieder entmachtet. Ein Edelmann aus Kent schlägt Jack tot, und da ist kein Schimmer von Heroik und Größe, von Fallhöhe und Heldentum; es gibt nur schäbigen Hass und wüsten Ton, ob beim Rebellen oder beim Edelmann. ‚Fluch der Frau, die dich gebar’, schreit der eine im Blankvers, während der andere in niederer Prosa brüllt, dass er mit seinem Stahl „diesen pfündigen Tölpel in lauter Schnittchen Fleisch“ zerhacken wird. Iden Und wie mein Schwert dir deinen Leib durchstieß, So stieß’ ich gern zur Hölle deine Seele. Ich schleife häuptlings fort dich an den Fersen Auf einen Misthauf, wo dein Grab soll seyn; Da hau’ ich ab dein frevelhaftes Haupt, Das ich zum König im Triumph will tragen, Den Krähn zur Speise lassend deinen Rumpf. (Ab mit der Leiche, die er hinausschleift.) (2,IV,10)

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Eine ungeschriebene dramaturgische Regel besagte, dass die Protagonisten in der jeweils anschließenden Szene nicht auftreten sollten. Zynischerweise erfüllt sich die Regel im Schlachthaus von selbst. Im fünften Akt des zweiten Teils kommt Herzog von York mit seiner Armee von Irland. An der einen Seite das Lager des Königs, auf der anderen Seite der Bühne ist York mit seinen Irländern. Man ist gelinde erstaunt über den Aufmarsch im Frieden, über den zornbebenden Untertan, der nur eines wissen will: Ist Herzog von Somerset gefangen. Ja, versichert Buckingham von der königlichen Partei. Der Verräter, er soll sterben, so der Heerführer, dann rüste er sofort ab. Dazwischen kommt der Edelmann aus Kent mit dem Kopf von Jack Cade. Der König schlägt ihn zwischen Tür und Angel zum Ritter für seine Tapferkeit. Da kommt Königin Margaretha mit Somerset. Ausgerechnet mit dem, der auch versucht hatte, Regierungsgewalt in England zu übernehmen. Damit kam er dem Herzog von York in die Quere, der glaubte, die ersten Ansprüche zu haben. Und jetzt steht er belogen da. Somerset ist gar nicht im Tower. Kurzerhand setzt er den König ins Abseits. Er wagt die offene Rebellion. York Ich nannte König dich? Du bist kein König, […] Dies Haupt da steht zu einer Krone nicht! Den Pilgerstab mag fassen deine Hand Und nicht ein würdig Fürstenszepter schmücken. (2,V,1)

Das ruft Somerset auf den Plan. Wieder fliegen die Widerworte hin und her. „O Erzveräter!“, schreit Somerset. „Gehorch, verwegner Frevler! Knie um Gnade!“ Anstatt zu knien, lässt er seine Söhne als Bürgen rufen. Die schimpft die Königin „Bastard-Buben“. Da legt York seinerseits sich keine Zügel mehr an. York O blutbefleckte Neapolitanerin! Auswurf von Napel! Englands blut’ge Geißel! (2,V,1)

Von der einen Seite kommen die York-Buben mit Truppen, von der anderen die Truppen der königlichen Partei unter Führung von Lord Clifford und seinem Sohn. Man schaukelt sich immer höher in den wechselseitigen Beschimpfungen. Shakespeare hat seine Dramaturgie vortrefflich im Griff: Die Szene ist Sankt Albans und es gibt Getümmel, Angriffe und man

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schreibt den 22. Mai 1455. York sucht sich sofort den alten Clifford. Der fällt, von York erstochen. Der Sohn des Clifford tut, als er seinen toten Vater erblickt, einen Racheschwur von unvorstellbarer Grausamkeit. Clifford Sohn Bei dem Anblick Versteinert sich mein Herz, und steinern sei’s, So lang’ es mein ist! – York schont nicht unsre Greise: Ich ihre Kinder nicht; der Jungfrau’n Thränen, Sie sollen mir wie Thau dem Feuer seyn, Und Schönheit, die Tyrannen oft erweicht, Soll Öl mir gießen in des Grimmes Flammen. Ich will hinfort nichts von Erbarmen wissen; Treff ’ ich ein Knäblein an vom Haufe York, Ich will’s zerhauen in so viele Bissen, Als am Absyrtus wild Medea that: Ich suche meinen Ruhm in Grausamkeit. Komm, neue Trümmer von des alten Cliffords Haus! (nimmt die Leiche auf) (2,V,2)

Da kommt noch einiges auf uns zu. Die Rosenkriege beginnen mit der ersten Schlacht von Albans. Aber diese Szene ist noch nicht zu Ende. Kaum hat Clifford den Vater abgeschleppt, kommen der aufrührerische Herzog York und Somerset wortlos fechtend. Somerset fällt und York, der heute für seine weiße Partei einen überwältigenden Sieg errungen hat, spottet abgehend über den Satz der Bergpredigt: „Liebe deine Feinde“. Nein, das ist Pfaffengewäsch, Prinzen, so wie er, töten lieber ihre Feinde. Die Königin muss mit dem König einen schmählichen Rückzug antreten, aber sie hofft den Riss in ihrem Glück baldmöglichst zu heilen. Die Mittel für die Heilung bleiben die Gleichen: Gewalt und Rache auf allen Seiten. Der Beginn des dritten Teils schließt deshalb nahtlos ans Ende des zweiten Teils an. Im Parlamentshaus in London wirft der Sohn Yorks, mit Vornamen Richard wie sein Vater, den Kopf von Somerset auf den Tisch. Der Vater lobt ihn dafür und der junge Richard betont: Richard So hoff ’ ich König Heinrichs Kopf zu schütteln! (3,I,1)

Der Bogen ans Ende des dritten Teils, ans Ende einer Spirale von Gewalt und Mord, ist mithin leicht zu schlagen. Richard, jetzt zum

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Herzog von Gloster aufgestiegen, steht vor König Heinrich im Tower und durchsticht ihn. Gloster [Richard] Nichts weiter! Stirb, Prophet, in deiner Rede! […] (durchsticht ihn) Hinab zur Höll’! Und sag’, ich sandte dich, (durchsticht ihn noch einmal) Ich, der nichts weiß von Mitleid, Lieb’ und Furcht. – (3,V,6)

Wir schreiben den 21. Mai 1471 und solches Ende war abzusehen. Insofern bietet der Handlungsbogen wenig dramatische Spannung. Sie kommt allenfalls durch einen ständigen Überbietungswettbewerb im geschichtlichen Schlachthaus auf. Denn dieser Tod des Königs war seinerseits die Antwort auf die Antwort einer Antwort und so fort. Die erzwungene Ermächtigung der Nachfolge von König Heinrich für das Haus York lässt Königin Margaretha nicht ruhen. Sie hat dem frommen Heinrich 1453 einen Sohn geboren – Prinz Eduard – und möchte keinesfalls auf dessen Rechte verzichten. Jetzt steht ihr Eduard gegen einen Sohn von Herzog York, der zufällig auch Eduard heißt und gute zehn Jahre älter ist (*1442). Das will sie keinesfalls dulden. Sie und ihr Söhnchen opponieren entschieden gegen den eben durch Gewalt erwirkten Vertrag. Wäre sie dabei gewesen, hätte sie sich dem Vertrag nicht gefügt. Margaretha [Königin] Und da ich dieses sehe, scheid’ ich hier Mich, Heinrich, selbst von Tisch und Bett, Bis man den Parlaments-Schluß widerruft, Wodurch mein Sohn gebracht wird um sein Erb. (3,I,1)

Sie geht entschlossen ab und nimmt den Sohn natürlich mit sich. Und schon in der zweiten Szene vermeldet der obligate Bote, dass die Königin mit 20.000 Mann vor Wakefield, dem Aufenthalt von Herzog York, aufmarschiert ist. Die Schlacht von Wakefield kann beginnen. Das Datum ist der 30. Dezember 1460. Das Schlachtenglück ist diesmal auf Seiten der Königin. Der Kampf endet mit dem Sieg der roten Rosen vom Hause Lancaster und dem Tod von Richard von York. Aber wie inszeniert uns Shakespeare diesen Sieg? Er schildert entschieden mehr als „nur“ eine militärische Auseinandersetzung. Er führt ein Lehrstück für seine Zeitgenossen vor, das allen Irrsinn

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einer völlig aus den Fugen geratenen Welt zeigt. Eine Antwort auf eine Frage ist, dass der junge Clifford sich für den Tod seines Vaters rächt, indem er dem Vater York seinen Sohn Edmund, Graf von Rutland, ersticht. Jetzt kommt der Vater, und Margaretha bremst Clifford aus, um sich zunächst sadistisch um York zu bemühen. Sie bittet, ihn auf einem „Maulwurfshügel“ aufzustellen; der Hohn ist groß, der Spott über seine Söhne noch größer. Der „Papa“ möge sich umschauen, wo die Großmäuler sind. Nur der tote Rutland ist zu sehen. Und mit dem toten Sohn treibt sie nun ein qualvolles Spiel mit dem Vater. Königin [Margaretha] Sieh, York! dies Tuch befleckt’ ich mit dem Blut, Das mit geschärftem Stahl der tapfre Clifford Hervor ließ strömen aus des Knaben Busen; Und kann dein Aug’ um seinen Tod sich feuchten, So geb’ ich dirs, die Wangen abzutrocknen. [(Sie wirft es ihm zu.)] Ach, armer York! haßt’ ich nicht tödlich dich, So würd’ ich deinen Jammerstand beklagen. So gräm’ dich doch, mich zu belust’gen, York! Wie? dörrte so das feur’ge Herz dein Innres, Daß keine Thräne fällt um Rutlands Tod? Warum geduldig, Mann? Du solltest rasen; Ich höhne dich, um rasend dich zu machen. Stampf, tob und knirsch, damit ich sing’ und tanze! Du forderst, seh’ ich, Lohn für mein Ergötzen. York spricht nicht, wenn er keine Krone trägt. Eine Krone her! und, Lords, neigt euch ihm tief. – Ihr haltet ihn, ich setze sie ihm auf. (Sie setzt ihm eine papierne Krone auf) Ei ja, nun sieht er einem König gleich! (3,I,4)

Das Bild ist bekannt und spielt mit der biblischen Verspottung Christi. Die Königin weiß um ihr blasphemisches Tun und weidet sich an Yorks Antwort. Shakespeare lässt ihn ein Urteil über die Frau sprechen, die/das er nicht erfunden, sondern aus der Geschichte entliehen hat. Vielleicht ist deshalb die furchterregende Königin Margaretha, die über ihren Feind York triumphiert, nachdrücklicher als die grässliche Lady aus dem „Macbeth“. York Wölfin von Frankreich, reißender als Wölfe, Von Zunge gift’ger als der Natter Zahn!

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Wie übel ziemt es sich für dein Geschlecht, Daß du, wie eine Amazonen Trulle, Frohlockst beim Weh deß, den das Glück gebunden! Wär dein Gesicht nicht wandellos wie Larven, Durch böser Thaten Übung frech geworden, So wollt’ ich suchen, stolze Königin, Erröthen dich zu machen; denn dir sagen, Woher du kamst, von wem du abgestammt, Wär gnug dich zu beschämen, wärst du nicht schamlos. Dein Vater heißt von Napel und von beiden Sicilien König, und Jerusalem: Doch reicher ist ein Bürgersmann in England. Hat trotzen dich der arme Fürst gelehrt? Es kann nichts helfen, stolze Königin, Als daß das Sprichwort sich bewährt: der Bettler, Der Ritter worden, jagt sein Pferd zu Tod. Die Schönheit ist’s, was stolz die Weiber macht: Allein Gott weiß, dein Theil daran ist klein! Die Tugend ist’s, warum man sie bewundert: Das Gegentheil macht über dich erstaunen; Die Sittsamkeit läßt göttlich sie erscheinen: Und daß sie ganz dir fehlt, macht dich abscheulich. Du bist von allem Guten so getrennt, Wie es von uns die Antipoden sind, Und wie der Mittag von der Mitternacht. O Tigerherz, in Weiberhaut gesteckt! Du fingst des Kindes Herzblut auf, und hießest Den Vater sich damit die Augen trocknen, Und trägst noch eines Weibes Angesicht? Weiber sind sanft, mild, mitleidsvoll und biegsam: Du starr, verstockt, rauh, kieselhart, gefühllos. Ich sollte rasen? Ja, dir ist’s gewährt. Ich sollte weinen? Ja, du hast’s erreicht. Denn Schauer stürmt der wüste Wind herbei Und, wenn der Sturm sich legt, beginnt der Regen. Die Totenfeier meines holden Rutlands Sind diese Thränen; jeder Tropfe schreit Für seinen Tod um Rache wider euch, Grausamer Clifford! tückische Französin! (3,I,4)

Da hat einer gut klagen und in grandioser Verblendung seine Seel zum Himmel wünschen. Vermutlich trifft man sich dort wieder. Clifford ersticht ihn um seines Vaters Tod willen, die Königin ersticht ihn gleichfalls um ihres sanften Königs Recht.

74 • Königin Margaretha

York Thu auf dein Thor der Gnade, guter Gott! Durch diese Wunden fliegt mein Geist zu dir. Stirbt. Margaretha [Königin] Den Kopf ab! setzt ihn auf das Thor von York; So überschaue York nun seine Stadt. Alle ab. (3,I,4)

Der Rhythmus der szenischen Einrichtung wird vom Auf und Ab des Kriegsgeschehens bestimmt. Jetzt schilt Yorks Sohn Eduard den wieder eingesetzten Heinrich „meineidig“ und beansprucht seinerseits den Thron als rechtmäßiger Erbe seines Vaters. Die verbliebenen drei York Brüder lecken ihre Wunden und marschieren zusammen mit dem Graf von Warwick, auch Königsmacher genannt, vor der Stadt York auf. Warwick bringt 30.000 Mann mit und wirft sie der Königin entgegen. Zuerst aber wirft man sich theaterwirksame Beleidigungen an die Köpfe: „Meineidiger“ ist noch das bescheidenste Schimpfwort, „missgeschaffnes Scheusal“, „giftige Kröte“ für den buckligen Richard-Sohn ist auch nicht korrekt. Der schimpft die Königin eine „Dreckspfütze“, einen „Strohwisch“, ein „hadersüchtig Weib“. Am 29. März 1461 ist es dann so weit. Der Yorksche Eduard besiegt mit Hilfe Warwicks die Armee der Königin in der Schlacht von Towton und Saxton in Yorkshire. Steht alles bei Shakespeare, aber Wikipedia weiß uns noch zu sagen, dass diese Schlacht der Rosenkriege als eine der blutigsten Englands gilt – von den etwa 80.000 Soldaten auf beiden Seiten kamen 20.000 bis 30.000 ums Leben. Im Speziellen aber beißt bei Shakespeare nun der junge Clifford ins Gras nach dem Motto von Warwick Mit Gleichem Gleiches muß erwiedert seyn. (3,II,6)

Die königliche Familie zieht sich in nördliche Gegenden zurück, die York-Brüder werden mit neuen Titeln ausgezeichnet und Warwick kommandiert: Warwick

… nun nach London, Um in Besitz der Würden uns zu setzen. (3,II,6)

Am 28. Juni 1461 wird des toten Yorks ältester Sohn als Eduard IV.

Königin Margaretha • 75

zum König von England gekrönt. Jetzt herrscht das Haus York und allüberall gibt es weiße Rosen. Während König Eduard auf Brautschau geht und sich Lady Grey zur heimlichen Gattin wählt – sein Gefolgsmann Warwick würde sich im Grab umdrehen, wenn er schon drin läge –, flieht Königin Margaretha zu König Ludwig XI. nach Frankreich, um sich von Landsmännin zu Landsmann Hilfe zu erbitten für ihren Eduard, den Prinzen von Wales. Es darf erinnert werden, dass sich hier die lange blutige Geschichte endlich einholt, die ganz zu Beginn dieses Kapitels angekündigt wurde. *** Der königliche Landsmann taktiert ein wenig; da taucht unversehens der „Stifter ihrer Leiden“, Graf Warwick, als Brautwerber beim französischen König auf und bittet um die Hand von dessen Schwester, Fräulein Bona, für den neuen englischen König, um alte Freundschaften wiederzubeleben. Es steht nicht gut um Margarethas Anliegen. Graf Warwick hat die besseren Karten. Aber ihrer Beharrlichkeit kommt ein Umstand zu Hilfe, den sich Shakespeare nicht besser hätte ausdenken können. Da schickt der junge König seinen Vertrauten zur Verhandlung einer französischen Heirat an Ludwigs Hof, und just als er des Königs Zusage hat und sich die alte Königin mit letztem Einsatz für ihr Anliegen aufbäumt, hört man draußen ein Posthorn: wie immer, ein Bote. Er hat einen Brief, nein drei, einen an Warwick, einen an den König und einen an Margaretha. Und was steht drin? – König Eduard hat heimlich am 1. Mai 1464 in Grafton Regis gegen den Rat seiner Vertrauten Elisabeth Woodville, verwitwete Lady Gray geheiratet. Die Brüskierung für den treuen Botschafter Warwick ist nicht zu beschreiben. Da setz ich ihm die königliche Krone auf, so beginnt Warwick Stieß Heinrich aus dem angestammten Recht? Und wird zuletzt mir so gelohnt mit Schande? Schand’ über ihn! Denn ich bin Ehre werth. Und, die für ihn verlorne herzustellen, Sag’ ich ihm ab, und wende mich zu Heinrich. Laß, edle Königin, den alten Groll: Ich will hinfort dein treuer Diener seyn,

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Sein Unrecht an der Fräulein Bona rächen, Und Heinrich wieder setzen auf den Thron. (3,III,3)

Die Königin bedankt sich außer sich vor Freuden, König Ludwig verspricht dem falschen Eduard ein paar Masken zum Tanz mit seiner neuen Braut zu schicken und Warwick verkündet neuen Krieg, jetzt auf der anderen Seite der Front. Warwick Ich kam von Eduard als Gesandter her, Doch kehr’ ich heim als sein geschworner Feind Zur Heirathsstiftung gab er Auftrag mir, Doch drohnder Krieg erfolgt auf sein Begehren. Hatt’ er zum Spielzeug niemand sonst als mich? So will nur ich den Spaß in Leid verkehren, Ich war voraus, zur Kron’ ihn zu erheben, Und will voraus sein, wieder ihn zu stürzen: Nicht, daß mir Heinrichs Elend kläglich sei, Doch rächen will ich Eduards Neckerei. (Ab.) (3,III,3)

Zurück von Frankreich; die Szene ist in London. Ein Zimmer im Palast. Der König tritt auf und Lady Grey als Königin. Aber das ist eine eigene Geschichte in diesem Buch. Hier ist der Bote aus Frankreich wichtig, der die Antwort des französischen Königs vermeldet. Bote Dieß waren seine Worte, da ich schied: „Geh, sage deinem eingebild’ten König, Dem falschen Eduard, daß ihm Ludewig Von Frankreich Masken will hinübersenden, Zum Tanz mit ihm und seiner neuen Braut.“ (3,IV,1)

Neue Hoffnung, ja Begeisterung sind eins im Lager der roten Rosen. Alle sind umgehend zurück aus Frankreich, und alle rufen mit ihrem neuen Führer Warwick den Namen König „Heinrichs!“ aus. Es geht hin und her, und ein wenig her und hin. Warwick nimmt Edward gefangen. Wenig später vermag jedoch Yorks böser Richard, jetzt auch Herzog von Gloster genannt, seinen Bruder Eduard wieder zu befreien. Der stellt sich sofort wieder an die Spitze. König Eduard Auf, tapfre Schaaren! Zweifelt nicht am Siege, Und nach dem Sieg am reichen Lohn der Kriege! (3,IV,7)

Und schon in der nächsten Szene trifft man sich in London mit König Heinrich in einem Zimmer seines Palastes. Sein neues

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Schutzschild Warwick geht ab nach Coventry, und die York’schen Buben schnappen sich König Heinrich. König Eduard Ergreift den blöden Heinrich, führt ihn fort, […] Fort mit ihm in den Thurm [Tower], laßt ihn nicht reden! (3,IV,8)

Und Gloster sekundiert: Gloster Auf, wackre Krieger! Frisch nach Coventry! (3,IV,8)

Vor beziehungsweise auf der Mauer von Coventry treffen König Eduard und Warwick zur Unterhandlung zusammen. Diverse Verstärkungen stoßen zu Warwick. Der aber lässt sich überreden, gegen König Eduard aus der Stadt aufs Schlachtfeld bei Barnet zu ziehen. Ein Marsch ist zu hören, schon ist Warwick verwundet; schon spricht er seinen Sterbemonolog. Die Königin wird mit großen Truppen aus Frankreich angekündigt, aber – leider – stirbt Warwick mit der Mahnung auf den Lippen: Warwick Flieht und rettet euch, Denn Warwick sagt euch Lebewohl bis auf den Himmel. (3,V,2)

Wieder einer mehr am Ort der Seligen, wo die Friedfertigen versammelt werden. Im Sterberegister kann eingetragen werden: 14.04.1471. Indessen ist Königin Margaretha aus Frankreich mit einer Armee aufmarschiert, die man, so Gloster, auf 30.000 schätzt. Mit ihrem noch jungen Sohn Eduard spornt sie die Soldaten an und schon naht sich König Eduard mit seinen Truppen. Auf dem Schlachtfeld von Tewksbury gibt es Getümmel, Angriffe und Rückzug, und am 4. Mai 1471 kann König Eduard aufgrund der militärischen Unerfahrenheit seines Namensvetters von der LancasterPartei einen großen Sieg für das Haus York einfahren. Der erst 18-jährige Sohn Eduard von Königin Margaretha und Heinrich VI. wird auf der Flucht erschlagen. Auf Shakespeares Bühne verschont man uns nicht mit seinem Tod. Stolz richtet sich der Jüngling vor den York-Brüdern auf: Prinz [Eduard] ich bin Eur Obrer. Du maßest meines Vaters Recht und meins dir an! (3,V,5)

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Eduard gegen Eduard: Ich, nein Ich! Der Irrsinn ist vollkommen. Drei Brüder in einem nichtigen Ziel vereint. König Eduard (durchsticht ihn) Nimm dieß, du Abbild jener Schmäherin. Gloster(durchsticht ihn) Zuckst du? Nimm dieß, um deine Qual zu enden! Clarence (durchsticht ihn) Dieß hier, weil du mit Meineid mich gezwackt. [Königin] Margaretha O tödtet mich mit ihm! (3,V,5)

Diese Gnade wird ihr verwehrt. Ihr Jammer und ihr Geschrei ist groß: Schlächter, Kannibalen!!! Derweil sie selbstgerecht tobt, wird sie abgeführt. Richard Gloster ist, so sein Bruder, schon vorausgeeilt nach London … Clarence

… ganz in Eil, um, wie ich rathe, Ein blutig Abendmahl im Thurm [Tower] zu halten. (3,V,5)

König Eduard frägt ungerührt von der Mordszene hier und von der nächsten sadistischen Szene im Tower nach seiner Gattin. „Sie hat schon, hoff ich, einen Sohn für mich.“ Das ist wohl so. Hauptsache einen Sohn! Seine Aussichten sind trübe. (3,V,6) Ein letzter Besuch im Tower, der die Metzeleien fürs erste zu Ende bringt. Richard Gloster – später als Richard III. berühmt berüchtigt – schickt den Kommandanten weg, sagt dem in seinem Buch lesenden König Heinrich VI. ohne weitere Beschönigung: Gloster

Deinen Sohn Hab’ ich für seinen Hochmuth umgebracht. (3,V,6)

Der König hat nicht mehr viel Gelegenheit seinem Henker zu fluchen; auf die allbekannte Weise unterbricht ihn Richard. Gloster

Stirb, Prophet, in deiner Rede! (durchsticht ihn) Dazu ward unter Anderm ich berufen. (3,V,6)

Man schreibt den 21. Mai 1471, als König Heinrich darauf seine letzten Worte spricht: König Heinrich Ja, und zu vielem Metzeln noch. – O Gott,

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Vergieb mir meine Sünden, ihm verzeih! (stirbt) (3,V,6)

Was mit der Königin geschieht, haben wir schon zu Beginn erfahren: König Eduard Fort mit ihr, setzet sie nach Frankreich über. […] Tönt, Pauken und Trompeten! Leid, fahr hin!

aus König Heinrich der Sechste, Teil 3, Akt 5, Szene 5

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Wir hoffen dauerhaften Glücks Beginn. Alle ab. (3,V,7)

*** Die Trilogie ist zu Ende. Die Geschichte von Heinrich VI. und seiner Gemahlin Margaretha mag exemplarisch verhandeln, was passiert, wenn das Machtzentrum verfällt. Der König erweist sich als unfähig, Macht auszuüben. Die Gesellschaft zerfällt und zum Schluss ergreift in all dem Chaos folgerichtig mit Richard III. ein wahnsinniger Schlächter die Krone und zerstört die schönen Schlussillusionen dauerhaften Glücks. Diese Sichtweise scheint uns falsch. Was wir bisher gesehen haben, waren immerwährende Szenen im Schlachthaus. Das grausige Bild, das uns Shakespeare gezeichnet hat, ist ironisch gesprochen kein „gradus ad parnassum“. Wahnsinnige Schlächter waren unentwegt unterwegs. Die wilde Grausamkeit bei einer Frau, die Shakespeare in die Verszeile zwingt „O Tigerherz, in Weiberhaut gesteckt!“ (3,I,4), ist vom Bild her eher noch infamer. Ist der Schlächter Richard bucklig und hässlich, geht im Falle Margarethas die Brutalität einer Mörderin in weiblicher Schönheit einher. Schiller hat vielleicht an Margarete gedacht als er dichtete: „Da werden Weiber zu Hyänen“. Das ist so wenig heroisch wie bei Richard, sondern wechselseitig vollendet boshaft und teuflisch. Dämon hier wie da. Wenn es um ausgleichende poetische Gerechtigkeit ginge, dürfte sich die unheilvolle Königin nicht ins Altenteil retten. Dass sie nach ihrem Sturz und dem Mord an ihrem Sohn und ihrem Gemahl, nach all dem selbstverschuldeten Unglück, sich in der zur Tetralogie erweiterten Trilogie zur „veredelten Furie“2 verwandeln darf, ist wohl historischen Umständen geschuldet. Sie wurde erst 1476 auf Fürsprache Ludwigs XI. aus der Haft befreit, kehrte dann nach Frankreich zurück und starb 1482 dortselbst. Sie wurde in der Kathedrale von Angers begraben.

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Königin Margaretha Richard III.

Weil Shakespeare die Ereignisse von der Ermordung König Heinrich VI. (1471) bis zum Zeitpunkt, da man den Bluthund Richard totschlägt (1485), auf einige Wochen zusammendrängt, sollten wir uns die Königin-Witwe Margaretha nicht unbedingt als alte Frau vorstellen (41). Das gilt auch für Königin-Witwe Elisabeth, geb. Woodville, verwitwete Lady Grey (34), und für Königin Anna, die 15-jährige Witwe des Prinzen Eduard, des Sohnes der Margaretha, die Richard am Sarge ihres von ihm erschlagenen Schwiegervaters als Gemahlin freit. Sie bleibt im Stück also auf ihre 15 Lebensjahre beschränkt; in der realen Welt waren ihr auch nur 28 Jahre vergönnt, und böse Zungen behaupten ohnehin, dass der König seine Gemahlin vergiftet habe (1483). Jedenfalls haben wir hier im großen Epilogstück eine stattliche Versammlung mehr oder weniger junger Witwen. Das zeigt, dass die Männer im Schlachthaus früh heiraten, um bestmöglichst Söhne zu erhalten, aber sie sterben auch früh zumeist von Mörderhand, weil sie selbst Mörder sind. Und wenn Frauen nicht selbst Mörderinnen sind, so heiraten sie Mörder und schlafen mit ihnen. Was sollten sie auch tun? „Wer im Palast zugelassen war, hatte sich den Zugang mit Schwert und Feuer freigeräumt“, schreibt Urs Widmer in seinen Nacherzählungen von „Shakespeare’s Geschichten“.3 Sie, die Witwen, bekommen ausführliches Rederecht, und insbesondere Margaretha erhält hochtheatralische Auftritte, in denen sie die Handlung des Dramas mit ihren Verwünschungen, Flüchen, Warnungen und Prophezeiungen begleitet. Ob die blutbefleckte historische Vergangenheit damit aber in eine hoffnungsvolle Zukunft umgedeutet werden kann, bleibt in der Schwebe. Kaum ist die Leiche Heinrich VI. in einem offenen Sarge über das Theater getragen, erscheint die Furie im Hintergrunde und beginnt alte Positionen aufzurechnen gegenüber den „Piraten“ von Thron und Macht. Elisabeths königlicher Rang und Thron gebühre ihr, und von Richard Gloster fordert sie den Gatten, den Sohn und das Königreich zurück. (I,3) Ihr Leid sei das der Piraten und deren Lust sei eigentlich für sie bestimmt. Es sei erinnert, meint Richard Gloster zynisch, wie du meinem Vater die Papierkrone aufgesetzt hast, bevor du zu-

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gestochen hast. Ein gerüttelt Maß an Schuld auf dem Gewissen haben alle Beteiligten. Dennoch ist es leicht, gehörig auszuteilen: an Elisabeth, die Gattin König Eduards IV. gewandt, sagt Margaretha Lang’ sterbe deines Glückes Tag vor dir, Und nach viel langen Stunden deines Grams Stirb, weder Mutter, Weib, noch Königin! (I,3) [an Gloster, das Monster, gewandt] Dich nage rastlos des Gewissens Wurm! Argwöhne stets die Freunde wie Verräther, Und Erzverräther acht’ als Busenfreunde! Dein tödtlich Auge schließe nie der Schlaf, Es sei denn, weil ein peinigender Traum Dich schreckt mit einer Hölle grauser Teufel! Du Mißgeburt voll Mäler! wühlend Schwein! Du, der gestempelt ward bei der Geburt Der Sklave der Natur, der Hölle Sohn! Du Schandfleck für der Mutter schweren Schooß! Du ekler Sprößling aus des Vaters Lenden! Du Lump der Ehre! du mein Abscheu – (I,3)

Die Ex-Königin geht ab. Ihre Prophetie wird Ereignis. Ihr Racheschrei, ihr Fluch fällt auf die Häupter der Handelnden und erweist sie als befangen in einem Geschichtsablauf, der schicksalhaft-tragisch determiniert ist. Wenn wir wieder von der Furie hören, wird Bilanz gezogen, und zwar Bilanz von drei Witwen in Schwarz, die wie die Parzen sich zusammenhocken, um die Schicksale zu notieren. Die Königin-Witwe Elisabeth alias Elisabeth Sommerville alias Lady Grey beginnt zu Ende des vierten Akts mit der Totenklage. Elisabeth Ach, arme Prinzen! Meine zarten Knaben! Unaufgeblühte Knospen! süße Keime! (IV,4)

Sie wurden jüngst von Richard Gloster im Tower ermordet. Dann erinnert die Herzogin-Witwe von York an ihren soeben verstorbenen Sohn König Eduard IV., den Vater der kleinen Prinzen. Dessen Tod verrechnet Margaretha, die Witwe Heinrich VI., gegen den Tod ihres Edwards. Margaretha Plantagenet vergilt Plantagenet; Eduard um Eduard zahlt sein Todtenbett. (IV,4)

Königin Margaretha • 83

Die Herzogin-Witwe von York setzt sich selbstbemitleidend nieder. Die Königin-Witwe Elisabeth setzt sich zu ihr, sagt die Regieanweisung. Die Heinrich-Witwe Margarete verweist, indem sie sich zu den beiden dazusetzt, auf den altermäßigen Vorrang ihres Grams und ihres Kummers. Mit ihr beginnt die Reihe der Untaten: Margaretha Und wenn der Gram Gesellschaft dulden mag, Zählt eure Leiden nach, auf meine schauend. Mein war ein Eduard, doch ein Richard schlug ihn; Mein war ein Gatte, doch ein Richard schlug ihn;

… und sie bestätigt Königin-Witwe Elisabeth Dein war ein Eduard, doch ein Richard schlug ihn; Dein war ein Richard, doch ein Richard schlug ihn. (IV,4)

Worauf die Herzogin-Witwe von York weiterzählt und auf Margarete deutet: Herzogin Mein war ein Richard auch, und du erschlugst ihn; Mein war ein Rutland auch, du halfst ihn schlagen. (IV,4)

Margaretha fährt in der Aufzählung fort:

Margaretha Dein war ein Clarence auch, und Richard schlug ihn. Aus deines Schooßes Höhle kroch hervor Ein Höllenhund, der All’ uns hetzt zu Tod. (IV,4)

Und schließlich sind da noch die Zuschauer dieses Trauerspiels. Margaretha Der falsche Hastings, Rivers, Vaughan, Grey, Sind vor der Zeit versenkt ins dumpfe Grab. (IV,4)

Bilanz: Ein gutes Dutzend prominente Tote, einige zehntausend anonym gemordete Soldaten auf den Schlachtfeldern einer unseligen englischen Geschichte – nur Richard lebt, der Höllenhund. Alles Leid des Jahrhunderts ist bilanziert, darin sind sich die „Schnickschnackweiber“, wie Richard III. die Witwen tituliert, einig. Margaretha verabschiedet sich nach Frankreich, wo sie die Fülle des Unglücks abzuschütteln hofft. Sie wird lächeln über ihr englisches Leid. Das kann sie vermutlich, weil sie ihren Hl. Heinrich nie geliebt hatte. Ihr junger Sohn Eduard war „Zutat“, wie sie an anderer Stelle zynisch über andere Kinder Andrer spricht.

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Nachruf / Nekrolog

Im Unterschied zu den chronikalischen Darstellungen, die ein mehr oder weniger heroisches Bild der Rosenkriege zeichnen, hat Shakespeare allen Heroismus, alle echte Tragik in „Heinrich VI.“ vermieden. Die hier auf die Szene gebrachte Historie wird tief pessimistisch gelesen und als dystopische Welt eines dynastischen Darwinismus dramatisiert, deren Begrenzungen ins moralische Nichts ausfransen. Das Auf- und Ab des Kriegsglücks, der säbelrasselnde Irrsinn von Rache und Vergeltung zur Erreichung eines einzigen sinnbefreiten Ziels, begleitet von Flüchen und zynischen Verwünschungen, von falschen Schwüren und gebrochenen Eiden, von Verblendung und Hybris, bildet die klappernde Dramaturgie wunderbar ab. Das hat etwas, was schon Bertolt Brecht gefallen hat. In der Figurenrede Shakespeares bildet sich zudem das gängige Vorurteil der Welt die Person des Königs betreffend überdeutlich ab. Der König ist frömmelnd, schwach und täppisch, geistig labil, unfähig zur Macht. Könige im Schlafrock, im Lehnstuhl, mit Papierkronen, auf Maulwurfs- statt auf Feldherrnhügeln sind wenig überzeugend für das Volk, das Heinrich wohl den „guten König“ nennt, aber dabei wohl das Lächeln nicht verkneift. Das alles ist Personenrede oder Volkes Meinung. Da, wo Shakespeare selber für den König spricht, sollte Ironie und Lächeln aber verstummen. Da ist zunächst des Königs Schlusswort. König Heinrich

– O Gott, Vergieb mir meine Sünden, ihm verzeih! (stirbt) (3,V,6)

Der König verzeiht seinem Mörder Richard von Gloster, dem übelsten Schlächter, dessen Sonne im Aufgehen begriffen ist. Alle andern spotten der Bergpredigt, dem Pfaffengewäsch – „Liebe deine Feinde“ –, und predigen Hass und schreien Rache in ihrem Untergang und erhoffen sich dafür des Himmels Lohn. Eine merkwürdige Art von christlicher Nächstenliebe. Dieses „ihm verzeih!“ ist ein Wort, ein Statement, das Heinrich, wenn nicht „heilig“ spricht, so doch nobilitiert unter den Tigern in Weiber- oder Männerhaut. Und auch sein frommer Wunsch verdient höchste Achtung.

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König Heinrich Nie sehnt ein Unterthan sich nach dem Thron, Wie ich mich sehn’, ein Unterthan zu seyn. (2,IV,9)

Ein Herrscher, ein König, der die Macht als Bürde und Last empfindet, ist kein Mann, der grundsätzlich Verachtung verdient. Diese Empfindung macht ihn noch nicht schuldig. Zusammen mit seiner rührenden Friedenssehnsucht (3,II,5) erbaut er sich ein Denkmal – zwar nicht von Stein, sondern von Shakespeareschem Papier –, das bis heute lebt, mahnt und leuchtet. Seine Utopie im Bilde zeitgenössischer Schäferidyllik ist aktueller denn je; die Kostümierung ist austauschbar. Austauschbar sind auch die Greuel des englischen Bürgerkrieges. Seine wütende Realität begegnet durch die Zeiten und sie ist heute nicht weniger wütend in allen Kriegen der Welt. Dass man auf ihn, auf diesen König auf dem Maulwurfshügel mit spottendem oder vorwurfsvollem Finger zeigt – du bist schuld! – ist ein Topos einer „Verkehrten Welt“. Nicht er ist der Narr, sondern seine „Bénédiction de Dieu dans la solitude“, sein Lobpreis Gottes in der Einsamkeit verdient Bewunderung als Mensch. Warum sollte ihn sein Pazifismus, seine Klage über den Verfall aller Werte als König schuldig machen? Die Topoi einer verkehrten Welt führt ihm und uns Shakespeare exemplarisch im Anschluss an seinen langen Monolog vor: Der Sohn erschlägt den Vater, der Vater schleppt die Leiche des von ihm tödlich getroffenen Sohnes über die Bühne. Wer sind hier die Schuldigen? Wolle Gott die strafen, die schweigen, und den segnen, der ihn in seiner Einsamkeit laut preist, der im Anblick der blutigen Gräuel sein Leben als Opfer anbietet. König Heinrich Weh über Weh! mehr als gemeines Leid! O daß mein Tod die Greuel hemmen möchte! Erbarmen, güt’ger Himmel, o Erbarmen! (3,II,5)

Das „gemeine“, allübliche Leid, ist in der conditio humana begründet. Das „Mehr als gemeine Leid“ meint das Leid aus Taten, Vater grausam, schlächtermäßig, Verblendet, meuterisch und unnatürlich, Die tödtliche Entzweiung täglich zeugt! (3,II,5)

Für dieses klägliche Schauspiel sind die handelnden Protagonisten der Weltgeschichte selbst verantwortlich. Im Augenblick, da dies

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geschrieben wird, ist wieder ein Protagonist schlächtermäßig und verblendet unterwegs. Heute heißt er Putin. Heinrich möchte kein solcher Handelnder sein; dieser pervertierten Lebensform praktischer Politik und sozialer Aktivität stellt er sein Ideal einer Vita contemplativa gegenüber. Shakespeare zeigt ihn nicht mit einem

Abb. 14: William Dyce (1806–1864): Heinrich VI. während der Schlacht vor Towton in Yorkshire auf dem Maulwurfshügel

Schwert in der Hand, sondern Heinrich empfängt seinen Mörder „mit einem Buch in der Hand“. Der Maler des 19. Jahrhunderts zeigt ihn sogar auf dem Maulwurfshügel mit einem Buch. Wer diesen Maulwurfshügel im Sinne der Streiter auf den Schlachtfeldern einschließlich seiner eigenen furchterregenden Gemahlin und ihres Abbilds, seinem Sohn Prinz Eduard (3,V,5), als Verspottung einer schwachen historischen Figur begreift, erliegt einem Irrtum. Der (Bühnen-)Maulwurfshügel ist zwar dramaturgisch parallel zur Verspottung Yorks durch Königin Margarethe eingerichtet, aber es fehlt alle blasphemisch-zynische Bezugnahme zur Verspottung Christi. York wird als ein Möchtegern-König von der Königin verspottet, Christus und Heinrich sind wirkliche Könige. Des einen Reich ist nicht von dieser Welt, des andern Reich leider ein Reich in einer unseligen Welt.

Königin Margaretha • 87

Beide opfern sich für die Welt; Frieden bringen sie ihr beide nicht. Nach der Verspottung kommt noch eine kleine Leidensstrecke. Dann wird Heinrichs Opfer angenommen. In einem Anschlag auf die metaphysische Ordnung, auf das königliche Gottesstellvertretertum, wird Heinrich vom Schlächter und künftigen König Richard III. brutal ermordet. Vom Kreuz kommt die nämliche Botschaft wie aus dem Tower: „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ // „O Gott, / Vergieb mir meine Sünden, ihm verzeih.“ (3,V,6) deutsche Übersetzung: August Wilhelm von Schlegel 1) Heinrich Heine, (2014), S. 97 2) Alexander von Gleichen-Russwurm, S. 145 ff. 3) Urs Widmer, II, S. 233

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Lady Gray

Heinrich VI. 3. Teil und Richard III. (1590 / 1592 / 1593) Elizabeth Woodville (um 1437–1492), verwitwete Lady Grey, dann Königin von England

designed by F. P. Stephanoff and engraved by C. Cook

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In Shakespeares Kosmos wimmelt es von Witwen. Lady Grey von der York-Partei ist zudem eine attraktive junge Witwe. Das weiß sie auch. Und sie lässt sich so hofieren, wie die englische Königin Margaretha von König Ludwig XI. von Frankreich hofiert wird. Die Situation ist die nämliche – Bitte gefälligst Platz zu nehmen! –, aber die Witwe Grey hat anders als Königin Margaretha beim französischen Regenten alle Trümpfe in ihrer Hand, wenn sie der englische König empfängt. König Eduard Bei meinem Thron schwör’ ich dir, holde Wittwe, Ich sage nur, was meine Seele wünscht: Das ist, dich als Geliebte zu besitzen! (3,III,2)

Diesen Moment legte der Künstler seinem Porträt von Lady Grey oder Gray zugrunde. Was das Geständnis des Königs für ihre Zukunft bedeutet, zeigt sein Bild in seiner Momentaufnahme mehr als deutlich. Die Krone der Königin ist rechter Hand schon in Griffweite zu sehen. Aber die tugendstolze Lady lehnt des Königs plumpe Offerte ab. „Plump“, das sagt der Bruder des Königs Clarence, der die Szene aus dem Off beobachtet. Und in der Tat, plump ist König Eduard, der mit der Türe ins Haus fällt. Leise sagt er zu sich selbst: König Eduard Sie wird mein Liebchen oder mein Gemahl. – (3,III,2)

Er versucht es zunächst mit der für ihn billigeren Variante. Aber Liebchen, Kebsweib, das ist für Lady Grey kein Angebot, über Gemahlin könnte man schon reden. Gesagt, getan! König Eduard Ihr, Wittwe, geht mit uns! – Lords, haltet sie in Ehren! (3,III,2)

Nun wissen wir, dass Eduard IV., der Erstgeborene der Yorkbuben, angeblich ziemlich notgeil war. „Wollüstig“ hätte man damals gesagt. Er war, wir schreiben das Jahr des Heils 1464, gerade 22 Jahre alt, die Witwe war fünf Jahre älter, war eine geborene Woodville,

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Elisabeth mit Vornamen, und hatte schon zwei Söhne. Mit Eduard wird sie noch zehn Kinder kriegen. Sie war durchaus machtbewusst und auf den Vorteil der eigenen Seite bedacht. Während der Yorksche König Eduard den Grafen von Warwick nach Frankreich auf Brautschau schickte, hat er ruckzuck die Witwe Lady Grey heimlich geheiratet und ins Ehebett gezogen. Man fühlte sich brüskiert in Frankreich, und der Brautwerber lief zur roten Lancaster-Partei über. Die so schnell zur Königin aufgestiegene Witwe musste zunächst die Vorurteile beim Clan bezüglich ihrer Abstammung aus einer eher unbedeutenden Familie überwinden, und der Skandal der heimlichen Ehe war auch nicht zu verachten. Lady Grey Mylords, eh Seine Majestät beliebte Mich zu erhöhn zum Rang der Königin, Seid gegen mich so billig, zu bekennen, Daß ich von Abkunft nicht unedel war, Und daß Gering’re gleiches Glück gehabt. Doch wie der Rang mich und die Meinen ehrt, So wölket ihr, die ich gewinnen möchte, Mir abhold, mit Gefahr und Leid die Freude. (3,IV,1)

Der König beruhigt seine Frau im Vertrauen auf seine Königsgewalt, der sie alle unterworfen sind, aber schon die vierte Szene des nämlichen vierten Akts sieht sie in Nöten. Graf Warwick zieht gegen ihren Gatten Eduard ins Feld; man nimmt ihn gefangen und sie ist schwanger. Zusammen mit ihrem Bruder Rivers geht sie ins Kirchenasyl, bis die Turbulenzen vorüber sind, um den Sprössling Eduards, Englands echten Erben, zu bewahren. Die Ereignisse bewegen sich auf das bekannte Ende von Heinrich VI. zu. Eduard behauptet seinen Königsanspruch, indem er Heinrichs Sohn ersticht. Dann eilen wir, so Eduard, nach London König Eduard Und sehn, was unsre theure Gattin macht. Sie hat schon, hoff ’ ich, einen Sohn für mich. (3,V,5)

Bruder Richard erledigt in der nächsten Szene noch schnell König Heinrich VI. im Tower, und die Schlussszene sieht den Clan im Palast versammelt. König Eduard, so das Schlusstableau, sitzt auf dem Thron, daneben Königin Elisabeth mit dem kleinen Prinzen, dann die Königsbrüder Clarence und Gloster und andere um sie her.

Lady Grey / Königin Elisabeth • 93

Eduard zählt die Gegner auf und lobt sich prahlerisch und seine Tapferkeit. Das alles habe er und seine Brüder auf sich genommen, auf sich genommen, einzig für das Kind. König Eduard Komm, Betty, her, laß meinen Sohn mich küssen. – (3,V,7)

Die drei Töchter, die die gebärfreudige Elisabeth vor dem Sohn geboren hat, waren nicht erwähnenswert. Aber die historischen Fakten und die Chronologie sind nicht so wichtig, weil nach Aristoteles die literarisch-poetische Weltsicht philosophischer und erkenntnisträchtiger ist als die Geschichtsschreibung. Das ist wohl der Unterschied zwischen Shakespeare und den Chronikschreibern, wie z.B. Raphael Holinshed oder Thomas More.

Lady Grey / Königin Elisabeth Richard III.

Die Mürrischen, so nannte König Eduard die Clanbrüder, sind nicht aus der Welt. Der Teufel geht um und er heißt Richard, Herzog von Gloster. Er macht kein Hehl daraus, dass er um jeden Preis König werden will. Das Publikum ist mit seinen Plänen qua Eingangs-Monolog gut vertraut. Vorrangig stehen ihm seine beiden Brüder, also König Eduard selbst und sein Bruder Clarence im Weg. Diesen „Einfältigen“ schickt er in den Tower und behauptet, es sei auf Anordnung von Königin Elisabeth geschehen. Er streut gerne das Gerücht, dass der König von seinem Weib regiert wird, dass die „eifersüchtge, abgenutzte Witwe“ (I,1) und ihre Sippschaft sich alle Macht über den Clan verschafft haben. Lord Hastings bringt eine Richard Gloster nicht unerwünschte Botschaft. Hastings Der Fürst ist kränklich, schwach und melancholisch, Und seine Ärzte fürchten ungemein. – (I,1)

In der Tat starb Eduard IV. überraschend schnell nach nur einwöchiger Krankheit am 9. April 1483. Der in Liebesdingen ausschweifende König hatte sich in seinen Lüsten verzehrt. Aber Shakespeare spielt uns wieder einen großen chronologischen Streich, denn in der zweiten Szene des ersten Aktes von „Richard III.“ lässt er in

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London auf offener Straße die Leiche Heinrich des Sechsten hereintragen. Und der wurde am 21. Mai 1471 ermordet. Da schnurren 12 Jahre zwischen Tod und Tod zu Nichts zusammen. Die Szene an der Leiche ist unter Lady Anne nachzulesen, hier ist die Erinnerung nötig, dass sich Königin Elisabeth Sorgen um den Gesundheitszustand ihres Gatten macht und auf den schlimmsten Fall Überlegungen anstellt. Königin Elisabeth Was würde mir begegnen, wär’ er todt? (I,3)

Elisabeths Bruder tröstet, kann aber die Sorgen der Königin ob ihrer Kinder, vor allem des kleinen Thronfolgers Eduard – wie der Papa genannt –, nicht vertreiben. Königin Elisabeth Ach! er ist jung, und bis zur Mündigkeit Führt über ihn die Sorge Richard Gloster, Ein Mann, der mich nicht liebt, noch wen von euch. (I,3)

Das ist fatal. Richard tritt auf und stiftet sogleich Verwirrung ob der Verhaftung seines Bruders Clarence, die er selbstherrlich betrieben hat. Die Königin weist alle erfundenen Schuldvorwürfe Richards zurück. Da erscheint die Königinwitwe Margaretha wie eine böse Hexe im Hintergrund und spricht ihren Fluch über Richard, mit dem sie zum eigentlichen Gegenspieler des „Höllensohns“ wird. Er und alle, die mit ihm paktieren, werden dafür teuer bezahlen. Auch Königin Elisabeth wird ihre Rechnung erhalten, obwohl sie sich keiner Schuld bewusst ist. Königin Elisabeth Ich that ihr nie zu nah, soviel ich weiß. (I,3)

Der Zyniker Richard pariert schlagfertig: Gloster Doch habt allen Vortheil Ihres Leids. – (I,3)

Will sagen, wer einem Mörder Kinder gebiert und neben ihm thront, zahlt auch einen Preis. Dieser Vorteil kostet sie ihre zwei Söhne. Nachdem Clarence im Auftrag Richards heimlich umgebracht und in einem Fass mit Malvasierwein entsorgt wurde, bestimmt der kranke Eduard in einer großen Audienz allgemeine Friedfertigkeit für den Clan. Da platzt die Nachricht von seines

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Bruders Tod in die Runde. Das erschüttert den König so sehr, dass sein Abgang durch Tod unvermeidlich ist. Klagen, Klagen, allgemeines Klagegeschrei: Königin Elisabeth, die Kinder des Clarence, ihre Großmutter, die Herzogin von York, und Richard, der Brudermörder. Er tanzt wie Rumpelstilzchen und sagt „Amen!“ Gloster Und lass’ als guten alten Mann mich sterben! – (II,2)

Richard ist einen guten Schritt weitergekommen. Tot sind seine zwei Brüder. Bleiben nur die jungen Prinzen, Elisabeths Söhne. Schnell richten sich aller Gedanken auf den Erstgeborenen der Prinzen, den man nach London zur Krönung herzuholen gedenkt. Und ausgerechnet Richard ist des Prinzen Vormund. Die Bürger auf der Straße wittern schlimme Neuigkeiten. Auch Königin Elisabeth ist sehr besorgt: Königin Elisabeth Weh mir! ich sehe meines Hauses Sturz! Der Tiger hat das zarte Reh gepackt; Verwegne Tyrannei beginnt zu stürmen Auf den harmlosen, ungescheuten Thron. Willkommen, Blut, Zerstörung, Metzelei! Ich sehe, wie im Abriß, schon das Ende. (II,4)

Der Tiger, der Lord-Protektor Richard, gaukelt den beiden Prinzen zunächst sein Wohlwollen vor und lässt sie alsbald zu ihrer angeblichen Sicherheit in den Tower bringen. Dann lässt er sie für unehelich erklären. Richard hatte ob Eduards Hurerei und Mätressenwirtschaft gute Argumente, die ihm Herzog von Buckingham lieferte. Buckingham Aus diesem unrechtmäß’gen Bett erzeugt Ward Eduard, Prinz aus Höflichkeit genannt. (III,7)

Das trifft die Königin in ihrer Ehre und trifft den Sorgenpunkt Elisabeths: die Kinder. In den Tower wird sie zum Besuch der Prinzen nicht vorgelassen. Ihr tiefer Schmerz bäumt sich vor den Gefängnismauern auf. Königin Elisabeth Erbarmt euch, alte Steine, meiner Knaben, Die Neid in euren Mauern eingekerkert! Du rauhe Wiege für so holde Kinder! Felsstarre Amme! finstrer Spielgesell

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Für zarte Prinzen! Pflege meine Kleinen! So sagt mein thöricht Leid Lebwohl den Steinen. (IV,1)

Hatte sich Richard in einer grotesken Inszenierung schon zur Krönung bitten lassen, beschließt er nun klare Verhältnisse zu schaffen, indem er die Prinzen der Königin töten lässt. König Richard Sag’ ich’s heraus? Die Buben wünsch’ ich tot Und wollt’, es würde schleunig ausgeführt. (IV,2)

Mit diesem Befehl lässt Richard gleichzeitig das Gerücht streuen, dass seine Gattin Anna gefährlich krank sei. Beides wird ziemlich schleunig ausgeführt. James Tyrrel, ein alter Haudegen Richards, meldet Vollzug und Richard bilanziert kühl: König Richard Den Sohn des Clarence hab ich eingesperrt, Die Tochter in geringem Stand verehlicht; Im Schoß des Abraham ruhn Eduards Söhne, Und Anna sagte gute Nacht der Welt. Nun weiß ich, der Bretagner Richmond trachtet Nach meiner jungen Nicht’ Elisabeth, Und blickt, stolz auf dieß Band, zur Kron’ empor: Drum will ich zu ihr, als ein muntrer Freier. (IV,3)

Nach dieser Ansage hat die Königin nicht viel Zeit, um ihre zwei Prinzen zu betrauern. Elisabeth Ach, arme Prinzen! meine zarten Knaben! Unaufgeblühte Knospen! süße Keime! Fliegt eure holde Seel’ in Lüften noch, Und hält sie nicht ein Spruch auf ewig fest, So schwebet um mich mit den luft’gen Flügeln Und hört die Wehklag’ eurer Mutter an! (IV,4)

Richard ist im Anmarsch. Die zur Klage versammelten Witwen treten ihm in den Weg. Richard ist empört. König Richard Wer hält in meinem Zuge hier mich auf? Herzogin O sie, die dich möcht’ aufgehalten haben, In ihrem fluchbeladnen Schooß dich würgend, Eh du, Elender, all den Mord verübt.

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Elisabeth Birgst du die Stirn mit einer goldnen Krone, Wo, gäb’s ein Recht, gebrandmarkt sollte stehn Der Mord des Prinzen, deß die Krone war, Und meiner Söhn’ und Brüder grauser Tod? Du büb’scher Knecht, sag, wo sind meine Kinder? Herzogin Du Molch, du Molch, wo ist dein Bruder Clarence, Und Ned [Eduard] Plantagenet, sein Sohn? Elisabeth Wo ist der wackre Rivers, Vaughan, Grey? Herzogin Wo ist der gute Hastings? König Richard Ein Tusch, Trompeten! Trommeln, schlaget Lärm! Der Himmel höre nicht die Schnickschnack-Weiber Des Herrn Gesalbten lästern: schlagt, sag’ ich! (IV,4)

Das mit lärmendem Getöse abgewürgte Schreien der Damen hält noch einige Zeit an, dann geht die Herzogin-Mutter und auch die Königswitwe Elisabeth will mit einem „Amen“ abgehen. Da hebt Richard zu einer tolldreisten Nummer an. Er bittet die Schwägerin auf ein Wort. König Richard Ein’ eurer Töchter heißt Elisabeth, Ist tugendsam und schön, fürstlich und fromm. (IV,4)

Elisabeth wittert höchste Gefahr. Ausgerechnet der Mörder ihrer Kinder, der Mörder der Brüder ihrer Tochter erdreistet sich, sie zwischen Tür und Angel um die Hand ihrer Tochter zu bitten. Seit seine Anna tot ist, sei auch er ein Witwer und die königliche Abkunft ihrer Elisabeth die beste Voraussetzung für eine Erhebung in den Glücksstand irdischer Herrlichkeit. Er liebe sie von Herzen und möchte sie neben sich auf den Thron von England setzen. Unglaublich! Eigentlich nicht denkbar! Man möchte meinen, der Antrag hat der trauernden Frau die Stimme verschlagen. Aber das geht nicht auf dem Theater Shakespeares. Sowohl in monologischen als auch in dialogischen Passagen wird das Unmögliche, das nicht Denkbare dieses Antrags abgehandelt. Shakespeare entfacht ein Dialoggewitter von unglaublicher Scharfsinnigkeit auf beiden Seiten, voller Ironie und subtiler Sarkasmen, voll von sophistischen und rabulisti-

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schen Argumenten, von Zirkelschlüssen, von Zynismen, um schlussendlich das Unmögliche möglich zu machen. Zur Verdichtung der hasserfüllten Reden und Gegenreden dient ihm ein formales Mittel, das das Drama schon seit der Antike kennt: die Zeilenrede, auch Stichomythie genannt. Im schnellen Hin und Her der Wechselrede gestaltet sich ein Parforceritt witziger Gedankensplitter, der auch eine Paradeszene für die Schauspieler ist. Sie mündet in ein Ende, wie es das Welttheater selten gehört und gesehen hat. Bitte die ganze Szene laut lesen! Des Teufels Antrag endet so: König Richard Drum, liebe Mutter (so muß ich euch nennen), Seid meiner Liebe Anwalt: stellt ihr vor Das, was ich seyn will, nicht, was ich gewesen; Nicht mein Verdienst, nein, was ich will verdienen; Dringt auf die Notdurft und den Stand der Zeiten, Und seid nicht launenhaft in großen Sachen. Elisabeth Soll ich vom Teufel so mich locken lassen? König Richard Ja, wenn der Teufel dich zum Guten lockt. Elisabeth Soll ich denn selbst vergessen meiner selbst? König Richard Wenn eurer selbst gedenken selbst euch schadet. Elisabeth Du brachtest meine Kinder um. König Richard In eurer Tochter Schooß begrab ich sie; Da, in dem Nest der Würz’, erzeugen sie Sich selber neu, zu eurer Wiedertröstung. Elisabeth Soll ich die Tochter zu gewinnen gehn? König Richard Und seid beglückte Mutter durch die That. Elisabeth Ich gehe; schreibt mir allernächstens, Und ihr vernehmt von mir, wie sie gesinnt. König Richard Bringt meinen Liebeskuß ihr, und lebt wohl!

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(küßt sie. Elisabeth ab) Nachgieb’ge Thörin! wankelmüthig Weib! (IV,4)

Tatsächlich tut Elisabeth das Unglaubliche. Sie verspricht dem schrecklichen Werber, ihre Tochter für ein Bündnis zu gewinnen, das den Zwist der Parteien in einen dauerhaften Frieden verwandeln soll. Es konnte einfach nicht so kommen. Aller Glaube an eine in der Geschichte obwaltende Gerechtigkeit wäre mit dieser Wendung der Geschichte in des Wortes doppelter Bedeutung zunichte geworden. Shakespeares Geschichte wurde glücklicherweise von der Geschichte unterlaufen. Die Tochter Elisabeths wird nicht mehr in die Lage kommen, ja oder nein zu sagen zum unglücklichen Rat ihrer Mutter. Das ist kein Thema mehr in Shakespeares Historiendrama. Die Ladies verschwinden wie blinde Figuren aus dem Stück, bzw. es kommt leicht anders, als man gerne denkt. Quasi in einem Nebensatz wird am Ende des vierten Akts angedeutet, dass Königin Elisabeth ihre Tochter zu einer Partie mit einem Mann gewinnen konnte, dessen Namen zuvor noch nie jemand im Drama hatte nennen hören: Heinrich, Graf von Richmond. Einer seiner Gefolgsmänner übermittelt kurz und bündig: Stanley Sag’ ihm, die Königin woll’ ihre Tochter Elisabeth ihm herzlich gern vermählen. (IV,5)

Das Drama stürzt sich daraufhin gespenstisch und kämpferisch ins Ende des Stücks und schreckt seinen königlichen Schurken mit allen Geistern seiner bösen Mordtaten. Umgekehrt versichern sie Heinrich, Graf von Richmond, den Sieg in der Schlacht von Bosworth. Er verkündet im Glanze seines Sieges als künftiger König Heinrich VII. eher demütig als prahlerisch eine glückliche Zukunft. Richmond Nun mögen Richmond und Elisabeth, Die ächten Erben jedes Königshauses, Durch Gottes schöne Fügung sich vereinen! Mög ihr Geschlecht (wenn es dein Will’ ist, Gott!) Die Folgezeit mit mildem Frieden segnen, Mit lachendem Gedeihn und heitern Tagen! (V,4)

In der Tat, beider Ehe begründete das Königshaus der Tudors, das die Häuser Lancaster und York vereinigte. Die Roten und die Weißen waren Vergangenheit. Insoweit kann man durchaus sagen, dass Elisabeth Woodville, verwitwete Lady Grey, Königin und schließ-

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lich Königin-Witwe bei allen Tiefschlägen ihres Lebens die Rosenkriege nicht nur überlebte, sondern die Vorteile auch machtbewusst auf ihre Seite zu bringen wusste. Sie wurde über ihren kometenhaft aufgestiegenen Schwiegersohn Heinrich Graf von Richmond die Stammmutter aller folgenden Könige von England. Sie starb 1492 im Alter von 55 Jahren und ist zusammen mit König Eduard IV. in der St. Georgs Ordenskapelle auf Windsor Castle in einer vom König erbauten Kapelle begraben. Auf einer Grabplatte zu Füßen des Monuments stehen die Worte: King Edward and his Queen, Elizabeth Widville

deutsche Übersetzung: August Wilhelm von Schlegel

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Lavinia

Titus Andronicus (um 1590 / 1591)

designed by John Bostock and engraved by James Charles Armytage

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Die Darstellung des Menschlichen wird man in „Titus Andronicus“ vergeblich suchen. Es ist ein Gräuelstück. Dabei scheint allein der Hintergrund der Szene, die die Tochter des „edlen Römers und Heerführers“ Titus Andronicus zeigt, eine Idylle anzudeuten. Der Schauplatz ist ein „Einsamer Platz im Walde“ und eine verschwiegene Höhle zeichnet sich als Hintergrund von Lavinia ab. Der Dichter gaukelt dem Zuschauer eine Dekoration auf der kahlen Bühne vor, indem er auf die mythologische Geschichte von Dido und Äneas anspielt, die in einer solchen verschwiegenen Höhle sich in Lust vereinigten. Die Protagonisten des Dichters sind in diesem Stück alle sehr gebildet und machen kein Hehl aus ihrem Wissen. Tamora, die gefangene Gotenkönigin, ist soeben zur Kaiserin von Rom aufgestiegen, klärt ihren Liebhaber Aaron beim Rendezvous in eben dieser Höhle auf. Tamora Setz’ dich und horch dem fröhlichen Gebell! Und nach verliebtem Kampf, (deß, wie man wähnt, Der flücht’ge Held und Dido einst sich freuten, Als sie ein glücklicher Orcan gescheucht Und die verschwieg’ne Höhl als Vorhang schirmte) – Laß uns, verschränkt Eins in des Andern Arm, Nach unsrer Lust des goldnen Schlafs uns freu’n, Weil Hund und Horn und süßer Waldgesang Uns einlullt wie der Amme Wiegenlied, Wenn sie ihr holdes Kind in Schlummer singt. (II,3)

Soweit der Hintergrund der Idylle. Was sich aber im Vordergrund der Idylle entwickelt, ist der pure Horror, ein abgekartetes Spiel von Mord und Vergewaltigung von dem der verfeinerte Geschmack des empfindsamen Illustrators nichts wissen will. Aarons Sinnen ist im Augenblick trotz der idyllischen Situation nicht auf Frau Venus gerichtet – eine Paarung und Zeugung eines Bastardkindes ist aber später trotzdem eingeplant –, sondern auf Saturn, und der steht in Opposition zu Frau Venus.

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Aaron Nein Fürstin, das sind Venus-Zeichen nicht: Rachsucht erfüllt mein Herz, Tod meine Faust, Blut und Verderben toben mir im Haupt. – Hör’ Tamora, du Kais’rin meiner Seele, Die nicht auf andern Himmel hofft als dich, Heut ist des Bassianus Schicksalstag. Verstummen muß heut seine Philomele, Es plündern deine Söhne ihre Keuschheit Und waschen ihre Hand im Blut Bassian’s. (II,3)

Tamora ist begeistert. Der angekündigte Alptraum – ein Mord und eine Vergewaltigung – kompensieren ihre Wünsche nach sexueller Vereinigung fürs Erste und sie lobt ihren Süßen überschwänglich. Tamora Ah, süßer Mohr, mir süßer als der Tag! (II,3)

Auch barbarisch-gotische Frauen und ein Character of Colour sind, wenn sie Mord- und Vergewaltigungsabsichten im Schilde führen, Bösewichter. Es bedarf also der kleinen spitzzüngigen und wiederum gebildeten Rempeleien gar nicht mehr, um sie zu motivieren. Bassianus und Lavinia, ebenso frischverheiratet wie Tamora mit ihrem kaiserlichen Gatten Saturninus – also miteinander verschwägert – treten auf und fragen sich, wie sie die Szene vor der Höhle deuten sollen: hier Tamora, dort Aaron und ohne ihren frischvermählten Saturninus? Ein mythologisches Bild ist schnell herbeizitiert: Diana und Aktäon, die Hunde, der Hirsch, und noch dazu ein Schwarzer! Sorry, dass wir euch überrascht haben, sagt Lavinia zu ihrem Mann. Lavinia Bitt’ euch, gehn wir fort: Gönnt ihr des rabenfarb’gen Buhlen Kuß, Dieß Thal ist höchst gelegen solchem Werk. (II,3)

Unabhängig davon, auch wenn die beiden weniger vorlaut gewesen wären, ihr Schicksal war ja schon beschlossene Sache, bevor sie den Mund auch nur aufgemacht hatten. Aus dem „lieblichen Ort“ wird schlagartig eine Alptraumszene, allerdings gut angelesen und orchestriert mit literarisch-mythologischem Beiwerk aus Ovids „Metamorphosen“ und einem anonymen Volksbuch „The Tragical History of Titus Andronicus“. Keine Untat, die nicht literarisch bestätigt wäre. Die Söhne der Tamora aus ihrem früheren gotischen

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Leben, Chiron und Demetrius, kommen wie mit Aaron abgesprochen. Tamora erzählt eine Schauermär von einer Entführung, und bis Bassianus nur ein Wort sagen kann, haben ihn beide Burschen schon durchstochen. Tamora will daraufhin den Dolch, um Lavinia zu erstechen, aber da bieten ihr die Söhne Einhalt. Die gehört uns; sie soll nicht in Zucht und Ehren sterben, sondern von uns geschändet werden und weiterleben. Für die Bitten von Lavinia sind Tamora und ihre viehischen Söhne taub. Auf ihre letzten Worte im Stück … Lavinia Kein Mitleid? Keine Scham? O viehisch Weib! Feindin und Schmach für unser ganz Geschlecht! Vernichtung fall’ … (II,3)

… antwortet Tamora ungerührt: Tamora Geht, Söhne, schafft sie mir in Sicherheit: Und wahrlich, nimmer soll mein Herz sich freu’n, Bis Titus’ ganzer Stamm hinweggetilgt. Zu dir nun, liebster Mohr, will ich mich wenden, Indes die Knaben jene Dirne schänden. Ab. (II,3)

Die Knaben schleppen den toten Bassanius und Lavinia in die Höhle, die jetzt ein Grabloch genannt wird. Der tote Körper des Ehemanns dient als Unterlage für das, was das Volksbuch sachlich beschreibt. Sie „banden ihr die Hände auf den Rücken, schlugen ihr Kleid hoch, dass sie nackt dalag, und erzwangen sich den Weg in die intime Kammer ihrer Keuschheit; sie taten es abwechselnd, der ältere begann und der jüngere unterstützte ihn, wie sie es zuvor ausgemacht hatten. Als sie dann schließlich der Befriedigung ihrer tierischen Triebe müde geworden waren, begannen sie zu überlegen, wie sie davonkommen könnten, falls die Gräueltat entdeckt würde. Sie riefen dazu auch den Mohren herbei und fragten ihn um Rat. Als dieser sah, wie weit sie gegangen waren, gab er ihnen den Ratschlag, ihr zur Sicherheit die Zunge herauszuschneiden, damit sie die Geschichte nicht ausplaudere, und ihr auch die Hände abzuhauen, damit sie nicht schriftlich enthülle.“1

Ausnahmsweise verschont uns der Autor, der von den 14 Morden neun Ermordungen auf der Bühne zeigt, mit dieser Schändung der Lavinia. Er verlegt sie zumindest hinter die Bühne. Aber Lavinia

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bleibt nach begangener Tat nicht verborgen; sie wird nicht tot von der Bühne getragen. Sie bekommt Auftritt um Auftritt, aber sie kann ab Ende dieser Szene nicht mehr sprechen und wird zu einer Theaterrolle von der besonderen Art. Wer spricht für sie? Immer die anderen. Die einen ungerührt, die anderen betroffen, aber im literarischen Gleichnis. Die zwei Söhne der Tamora bleiben Ungeheuer und dürfen nicht „schönreden“. Sie kommen mit der geschändeten Lavinia; ihr sind die Hände abgehauen und die Zunge ausgeschnitten. Sie höhnen in grausamer Rede. Demetrius So melde nun, wenns deine Zunge kann, Wer dir die Zung ausschnitt und dich entehrt! Chiron Schreib nieder, was du meinst, und hilf dir so; Vermögens deine Stumpfen, laß sie schreiben! Demetrius Wie gut sie noch mit Wink und Zeichen grollt! Chiron Geh, fordre frisches Wasser, wasch die Hände! Demetrius Fordr’ ohne Zunge, wasch dich ohne Hände; Und somit wandl’ in stiller Einsamkeit! – Chiron Wärs mir geschehn, ich ging’ und hängte mich. Demetrius Ja, hättst du Hände, dir den Strick zu knüpfen! (II,5)

Die Schurken gehen ab. Lavinia will weglaufen. Da kommt der On­kel Marcus Andronicus und fällt aus allen Wolken, als er wahrnimmt, was mit der Nichte geschehen ist. Natürlich läuft man bei Shake­ speare nicht weg, um einen Arzt zu holen, sondern man ist ja ein gebildeter Römer und hat seine literarische Referenzstelle im Kopf. Marcus

Was sprichst du nicht? Weh mir! ein Purpurstrom von warmem Blut, Gleich einem Springquell, den der Wind bewegt, Hebt sich und fällt dir zwischen ros’gen Lippen, Und kommt und geht mit deinem süßen Hauch. Gewiß, ach! hat ein Tereus dich entehrt, Und, Strafe fürchtend, raubt’ er deine Zunge. (II,5)

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Wer ist Tereus? Was erzählt der da? Brauchte der elisabethanische Besucher einen Kommentar? War ihm Ovid und dessen 6. Buch seiner „Metamorphosen“ bekannt? Der Onkel ist in dem Buch bewandert, Shakespeare natürlich auch, denn das Buch gehörte zu seiner Lieblingslektüre. Die Elisabethaner jedenfalls waren begeistert. „Titus Andronicus“ erfreute sich großer Beliebtheit. Die Grausamkeiten waren in Zitate und Anspielungen eingepackt und wurden ausgemalt. Dein Vergewaltiger war raffinierter als der mythisch-mythologische Vergewaltiger; er hat auch an deine Hände gedacht. Marcus Dein Tereus übte list’ger seinen Raub; Er hat die zarten Finger abgehaun, Die schöner wohl gestickt als Philomele. Oh, sah der Unhold diese Lilienhand Wie Espenlaub auf einer Laute zittern, Daß sie mit Lust die Silbersaiten küßten; – Nicht für sein Leben hätt’ er sie berührt! Und hört’ er je die Himmelsharmonie, Die jener süßen Zunge sonst entströmt, – Sein Dolch entfiel’ ihm, und er sänk in Schlaf, Wie Cerberus zu Orpheus’ Füßen schlief. So gehen wir! Und dein Vater werde blind, Der Anblick muß ein Vaterauge blenden. (II,5)

Der zweifelhafte Held, der edle Römer Titus Andronicus, der gleich zu Beginn nach archaischem Brauch einen Sohn der gefangenen Königin der Goten töten, zerstückeln und opfern lässt, der kurz darauf in der Wut einen seiner eigenen Söhne auf offener Bühne ersticht, wird nun als Vater mit seiner über alles geliebten und geschändeten Tochter konfrontiert. Gerade waren zwei seiner Söhne durch die Intrigen Aarons als scheinbare Mörder ihres Schwagers Bassanius abgeführt, da kommt Bruder Marcus mit der Tochter ohne Hände. Das sieht man sofort und der letzte Sohn von Titus spricht erschüttert von dem Anblick: Lucius Sprich, holde Schwester, wer dich so gemartert?

Onkel Marcus Andronicus klärt ihn auf. Marcus Ach! der Gedanken lieblich Instrument,

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Das süße Redekunst so hold geplaudert, Riß man aus seines zarten Käfigs Haft, Wo’s wie ein süß melod’scher Vogel sang, Im Wechselton entzückend jedes Ohr!

Dann bittet Lucius um weitere Auskunft: Lucius Statt ihrer sprich! Wer hat die Tat vollbracht? (III,1)

Jammer und Leid und Tränen und Wut bestimmen die Szene, aber Auskunft und detektivische Aufklärung gestalten sich schwierig. Lavinia begleitet stumm und hilflos die sich weiter entwickelnden Gräuel des Stücks. Titus erhält von Aaron zwei Häupter seiner lieben Söhne und seine eigene abgehackte Hand, die er als Preis dafür bezahlt hat, zurück; der letzte noch verbliebene Sohn Lucius geht in die Verbannung mit dem Vorsatz ein Heer bei den Goten gegen die Römer anzuwerben. Sein kleiner Sohn Lucius – also der Enkel des Titus – bleibt zurück. Da sitzen die vier in Titus Haus beim Abendessen: Titus, ein geschlagener Held, seine geschändete Tochter, sein Bruder Marcus, der so schöne Rede führt, und der kleine Neffe Lucius, der fleißig die Bücher der Alten studiert. Man streitet sich um eine erschlagene Fliege. „Mörder“, schreit Titus, aber Marcus beruhigt: „Eine Fliege erschlug ich nur.“ Titus ist dennoch empört und er beruhigt sich erst, als Marcus betont: Marcus Vergieb; ‘ne schwarze, garstge Fliege war’s, Ganz wie der Kais’rin Mohr; drum schlug ich sie. (III,2)

Einverstanden, verziehen, sagt Titus, dann war es eine Wohltat. Lavinia kann leider nichts zur Unterhaltung beitragen, aber sie kümmert sich liebevoll um den kleinen Lucius. Nach dem Essen bittet Titus: Titus Lavinia, geh mit mir, Ich folg’ dir in dein Zimmer, lese dir Leidvolle Mährchen vor aus alter Zeit. Komm, Knabe, folge mir; dein Aug ist jung, Und du sollst lesen, wenn sich meines trübt. (III,2)

In den leidvollen Märchen aus der alten Zeit stecken unverhoffte Lösungen, und aus den alten Märchen ließen sich vielleicht auch Ansätze zur szenischen Verbildlichung von unsäglicher Bosheit

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und Grausamkeit finden, die, wie böse und grausame Märchen so sind, nicht einmal unfreiwillige Komik auf der Bühne erzeugen würden. „In keiner anderen Erzählgattung wird so viel geköpft, zerhackt, gehängt, verbrannt oder ertränkt wie im Märchen“, weiß die „Enzyklopädie des Märchens“.2 Sie sind einfach so, wie sie sind: grausam mit einem happy end. Auch die Hexe bäckt Kinder zu Lebkuchenkindern. In diese Richtung zielen des Titus Gedanken, aber erst muss er die Frevler finden. Kinder lieben Märchen – auch grausame –, und der kleine Lucius liebt sie und auch die „Märchenbücher“, in denen sie aufgezeichnet sind. In der ersten Szene des vierten Akts sieht man ihn, mit Büchern unterm Arm, vor Lavinia herlaufen. Der Großvater Titus und der Onkel Marcus kommen dazu und das Quartett vom Abendessen ist wieder beisammen. Die Barbaren sind gebildet, die Römer noch mehr. Die barbarischen Söhne Tamoras werfen mit Zitaten aus Senecas Dramen um sich, und sie erkennen problemlos Verse des Horaz, mit denen Titus seine Waffen umwickelt. Der Römerknabe Lucius trägt nicht nur sein Latein-Lehrbuch aus der Grammar-School mit sich, sondern richtig harte Lateinlektüre in mehreren Bänden. Er ist etwas verängstigt, weil ihm die Tante Lavinia immer nachläuft. Er fühlt sich verfolgt und hat Angst. Großvater Titus beruhigt ihn mit Verweis auf die Mutter der beiden Gracchen, die sie durch sorgsame Lektüre zu gebildeten Männern erzog. Die will vermutlich nur mit dir die Redekunst des Tullius Cicero studieren. Lavinia wird ganz erregt und Titus spürt, dass sie nahe an einem Geheimnis sind. Titus Hier muß ein Buch seyn, das sie wünscht zu sehn. (IV,1)

Lavinia stößt mit ihren Armstümpfen an eins der vom Knaben fallen gelassenen Bücher. Titus Lucius, welch Buch ist das, woran sie stößt? Knabe Herr, des Ovid Metamorphosen sinds, Die Mutter gab sie mir. (IV,1)

Ob das die richtige Kinderlektüre ist, darf bezweifelt werden. Aber die Geschichte, die sie jetzt aufblättert, ist Vorlage des an ihr verübten Verbrechens und Medium seiner Aufklärung.

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Titus Was sucht sie doch? Lavinia, soll ich lesen? ‘S ist Philomelens tragische Erzählung, Des Tereus böse List, Gewalt und Raub; Und Raub war, fürcht’ ich, Wurzel deiner Marter. (IV,1)

Titus liegt richtig; es ist Philomelens Geschichte. Lavinia deutet auf die Stelle im Buch: „da schleppt Tereus / Philomelen davon in ein hohes Gehöft, das im Urwald versteckt ist / Sperrt das Mädchen hinein, das zitternde, bleiche, das alles / Fürchtet, das unter Tränen ihn fragt, wo die Schwester denn weile. / Jetzt gesteht er die frevelnde Gier: die verlassene Jungfrau / Wird mit Gewalt übermannt.“3

Und als sie androht, ihre Scham ob der Vergewaltigung hinauszuschreien, da ergreift den Tyrannen Wut; er reißt seinen Degen heraus, packt sie an den Haaren, bindet ihr die Arme auf den Rücken: „Mit einer Zange ergreift er die Zunge; die schreit immer wieder / ‚Vater!’, empört sich, bemüht sich zu reden – er schneidet mit grausem / Schwerte sie ab: es zuckt die hinterste Wurzel der Zunge, / Aber sie selbst liegt unten und raunt in die schwärzliche Erde, / Zitternd, und wie der Schwanz der verstümmelten Schlange noch hochspringt, / Windet sie sich und sucht nach Spuren der Herrin, verendend.“4

Das also ist die Blaupause. Titus wechselt aus dem Buch in die erbärmliche Gegenwart mit seiner Tochter. Titus Wardst du so überrascht, mein süßes Kind, Beraubt, entehrt, wie Philomele ward? Geschwächt im wüsten, mitleidslosen Wald? Seht, seht! – Ja, solch ein Thal ist dort, wo wir gejagt, (O hätten wir doch nie, nie dort gejagt!) Genau, wie uns der Dichter Kunde giebt, Von Natur geprägt zu Raub und Mord. (IV,1)

Jetzt müssen wir den Mann finden. Man tippt zunächst auf einen Römer: Saturninus. Klar, der wollte doch zuerst Lavinia heiraten, und die mythische Geschichte als Folie wäre bei Livius zu suchen. Dort gibt es doch einen Tarquinius, der Lucretia vergewaltigt hat. Da hat der Bruder Marcus einen Einfall, der auch dem Ovid ent-

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stammt, aber theatertauglicher ist. Philomela war eine Weberin und verwob ihre Leidensgeschichte in ein Gewand. Gut, das kann Lavinia nicht mehr, aber – er macht es vor – Er schreibt seinen Namen mit einem Stabe, den er mit dem Munde und den Füßen führt. Marcus Lenk’ ihre Feder, Gott! ihr Leid zu schreiben, Thu uns den Frevler und die Wahrheit kund! – Sie nimmt den Stab in den Mund, führt ihn mit den verstümmelten Armen und schreibt. Titus O Bruder! Lies, was sie geschrieben hat! Stuprum (Vergewaltigung), – Chiron, – Demetrius. (IV,1)

„Herrscher des großen Himmels“, entfährt es Titus aus Senecas „Phaedra“ zitierend. Und Marcus ergänzt: Marcus Tödtliche Rach’ an jenen tück’schen Gothen, Sie morden, oder selbst als Feige sterben. (IV,1)

Leichter gesagt, als getan, meint Titus, aber er lässt sich etwas einfallen, um die beiden Mistkerle zu fangen. Die Grundanregung holt er sich ebenfalls aus der Geschichte von Philomele. Die zerstückelte aus Rache den Sohn ihres Peinigers Tereus, kochte ihn und setzte ihm dann das Gekochte zum Mahle vor. Das ist eine gute Idee, und Titus macht es mit Tamoras Söhnen ebenso. Er bekommt sie durch eine List in seine Macht, verstopft ihnen ihre Mäuler, hält ihnen eine Standpauke, erzählt ihnen genüsslich, was er jetzt mit ihnen tun wird. Gesagt, getan! Er schneidet ihnen die Kehlen durch und Lavinia hält mit ihren Stümpfen ein Becken und fängt das Blut auf. Dann löst er ihre Knochen aus und zerreibt sie zu Knochenmehl. Das ergibt einen schönen Pastetenteig, in den er die Schurkenhäupter einbäckt. Kashoggis Mörder aus der Istanbuler Botschaft könnten noch etwas lernen, was literarische Blaupausen und Leichenbeseitigung betrifft. Dann kommt das kaiserliche Paar mit großem Gefolge. Titus begrüßt als Koch gekleidet seine Gäste; er serviert selber seine Königinpastete. Lavinia folgt ihm verschleiert, nicht wissend, dass er gewillt ist, nun ihre stumme und entsetzliche Leidensgeschichte schnell zu Ende zu bringen. Wieder im Zitat und vermeintlich in edler römische Heldenhaltung frägt er seinen kaiserlichen Gast recht unvermittelt:

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Titus – Mein gnäd’ger Kaiser, löst die Frage mir: – War’s recht gethan vom heftigen Virginius, Sein Kind zu tödten mit der eignen Hand, Weil sie entführt, entehrt, geschändet ward? (V,3)

Wieder eine Vergewaltigungsgeschichte von Livius aus Roms Vergangenheit – das Drama des Andronicus steht eher am Ende der römischen Geschichte. Natürlich kennt der Kaiser diese Geschichte und er bestätigt, dass Virginius recht getan hat und er nennt einen Grund. Saturninus Weil das Mädchen Nicht überleben durfte solche Schmach Und seinen Gram erneu’n durch ihre Nähe. (V,3)

Den Grund akzeptiert Titus und nimmt für sich das gleiche Recht zur Tat in Anspruch. Titus Stirb, stirb, mein Kind, und deine Schmach mit dir, Und mit der Schmach auch deines Vaters Gram! (V,3)

Zur völligen Verblüffung des Kaisers und aller Anwesenden ersticht Titus im Handumdrehen seine Tochter Lavinia. Der Römer nennt den Römer daraufhin „Barbar“. Titus weist den Vorwurf zurück, weil er mehr Grund gehabt habe als der edle Römer Virginius. Ja, dann, meint der Kaiser trocken, wenn sie entehrt wurde. Im Übrigen, wer hat die Tat vollbracht? Eine gute Frage. Wie kams dazu, fragt auch Tamora scheinheilig, „daß Vaterhand sie morden muß?“ Wieder eine gute Frage; sie weiß die Antwort selbst am besten, hatte sie doch die Schändung in Auftrag gegeben. Kurz und gut, mein Kaiser, sagt Titus: Lavinia wurde von Demetrius und Chiron geschändet. Jetzt ist der Kaiser über seine Stiefsöhne doch empört und befiehlt, sie zu holen. Tamora wird vielleicht blass; vielleicht stochert sie auch nur noch in ihrem Essen herum, als Titus eiskalt erklärt: Titus Nun wohl! hier sind sie schon, zerhackt zu Teig, Von dem die Mutter lüstern hat genossen, Verzehrend, was dem eignen Blut entsprossen. ‘S ist wahr! ‘S ist wahr! Bezeug’s mein scharfer Dolch! Er ersticht Tamora. (V,3)

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Damit hat die Gotenkönigin nicht gerechnet. Jetzt geht es Schlag auf Schlag in stichischen Versen. Saturninus Wahnwitz’ger, stirb! Nimm das für deinen Hohn! Er ersticht den Titus. Lucius Des Vaters blutig Ende rächt der Sohn; Hier Lohn um Lohn, Mord für des Mörders Hohn! – Er ersticht den Saturninus.

Wo kommt Lucius plötzlich her? Nochmals eine gute Frage. Der war doch in der Verbannung. Jetzt ist er urplötzlich auf der Szene mit seinen Parteigängern, den Goten. Er bilanziert für die Zuseher, die den Dialog im inneren Zirkel vielleicht nicht verstanden hatten. Lucius Dann, meine edlen Hörer, sei euch kund: Der schnöde Chiron und Demetrius, Sie waren’s, die Bassianus mordeten, Sie waren’s, die Lavinien frech entehrt; Für ihre That fiel unsrer Brüder Haupt, Ward Titus’ Gram verhöhnt, ihm frech entwandt Die gute Hand, die oft den Streit für Rom Ausfocht, und ihre Feinde sandt’ ins Grab; Zuletzt ward ich im Zorn verbannt, man schloß Die Thore mir und stieß mich weinend aus, Mitleid zu suchen bei den Feinden Roms; Mit meinen Thränen löscht ich ihren Haß, In ihren offnen Armen fand ich Trost. (V,3)

Der Showdown wird noch schnell ins Positive gewendet. Dazu gehört, dass die „edlen Römer“ ordentlich bestattet werden, dass die böse Tamora dagegen den Raubvögeln zum Fraß vorgeworfen wird, dass der mieseste aller Schurken, die Schmeißfliege Aaron, verhungern soll. Lucius Dann ordnen wir mit Weisheit unsren Staat; Gleich schlimmen Ausgang hemme Kraft und Rath. (V,3)

Über die Aussichten auf eine bessere Zukunft stolpert die Zukunft jedes Mal wieder in ein neues Drama, in eine neue Tragödie. Weder kann von Peripetie, von einem Umschlag im Inneren der Stücke im Umkreis von „Titus Andronicus“ die Rede sein – die dritten Akte markieren nie einen wirklichen Um-, Auf- oder Absturz – und der

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Showdown im letzten Akt führt nie in ein „lieto fine“, ein happy end, an einen Punkt mit Zukunft, sondern alle Stückschlüsse sind TrugSchlüsse in Bezug auf weitere Handlungen in einer faden Zukunft. Verhängnis waltet von allem Anfang über der Szene, und von einer römischen Tragödie kann eigentlich nicht gesprochen werden, denn dieses Rom ist, so Dürrenmatt in seinen Überlegungen zu seiner Bearbeitung des Stücks, „mehr fingiert als wirklich“.5 Es ist nur Kulisse und verbirgt eine andere Szene. Auf eine „unangenehm archaische“ Art und Weise wirke „Titus Andronicus“ auf ihn, sagt Harold Bloom.6 Wenn da bei ihm eine Bedeutung von „barbarisch“ mitschwingen sollte, so könnte das die Rückseite der fingierten römischen Szene sein. Diese Barbarei hinter der Fingierung ist es denn auch, die das Publikum im Theater zu Shakespeares Zeit begeistert hat, die das spätere empfindsamere Publikum bis heute auch entgeistert hat und das Stück als „unwürdiges Produkt“ empfand, das dem Autor Shakespeare nicht zuzuschreiben war. Der brave Schweizer Schriftsteller Ulrich Bräker, genannt „Der arme Mann aus dem Toggenburg“, artikuliert als großer Shake­ speare-Verehrer bezüglich des „Titus Andronicus“ sein Unverständnis für sich und für alle Zeit bis zu einem wohl situierten bürgerlichen Publikum von heute: „Ein schröckliches, ungeheures, grausames, teufliches Stück. Wer die Menschen nicht kennt, die alten und neuen Geschichten nicht weiß, wird sagen: Du lügst, du lügst, William. Ich sage das nicht, ich weiß, daß es von jeher Menschen gegeben hat, die dergleichen barbarische Taten zu verüben fähig waren. Aber das sag ich dir, großer Dichter: Wann du das Ding für die Bühne selbst so gemacht hast, ohne eine solche wahre Geschichte zu wissen – schämtest du dich nicht in die Seel hinein, da du doch auch ein Mensch warst, schämtest du dich nicht, solche Ungeheur auf die Bühne zu bringen, welche die ganze Menschheit entehren?“7

Shakespeares Theater der Grausamkeit avant la lettre ist die Grausamkeit einer ziemlich brutalen Lebenswirklichkeit, wie sie der Dichter in London täglich vor Augen hatte. Er wusste sehr genau, welche Leichen an „Tyburn’s Triple Tree“ hingen, wenn er daran vorbeiging – ziemlich oft sogar. Den einen oder anderen kannte er. Die Hinrichtungen waren beliebte öffentliche Spektakel. Vielleicht kannte er auch das Buch von Richard Verstegan (alias Richard

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Rowlands), das ab 1587 in mehreren Auflagen unter dem Titel „Theatrum Crudelitatum haereticorum nostri temporis“ erschien. Die ziemlich grausamen Bilder von den katholischen Märtyrern in England, aber auch der Verbrechen in Frankreich und Belgien und die erste Darstellung der Hinrichtung von Maria Stuart kann man da sehen. Es war eine katholische Antwort auf das „Buch der Märtyrer“ von John Foxe, das schon 1563 erschien. Foxe pries darin den Heldenmut der protestantischen Opfer zur Zeit von Maria der Blutigen. Im Unterschied zum in England verbotenen Buch der katholischen Seite, war das protestantische Opferbuch beliebt und gefördert. Grausamkeiten und Martern aller Arten wissen die Illustratoren sehr anschaulich darzustellen: Bauch aufschlitzen, Hängen, Köpfen, Strangulieren, Gliedmaßen abhacken, Pfählen, in siedendes Öl tauchen, auf dem Rost braten, die Füße mit Hufeisen beschlagen, Ausweiden, Kreuzigen, Verbrennen, Zunge herausschneiden. Dieses Theater der Grausamkeiten kennt auch ein Martyrologium, ein Märtyrerverzeichnis der Jahre 1570-1587, das den Verbindungsmann Edmund Campion zu den Katholiken in England enthält. Er endete 1581 in Tyburn auf dem Galgen. Stephan Greenblatt behauptet eine glaubwürdige Verbindung von Shakespeare und Campion vor dieser Zeit.8 Er spekuliert drüber, ob der Jesuit, der auch ein begabter Lehrer war, den jungen Shakespeare nicht mit den klassischen Autoren vertraut gemacht haben könnte, „mit der Majestät Vergils, der festlichen Anmut Ovids, dem Rhythmus Horaz’ und der tragischen Sprache Senecas“. Stellen wir uns das vor, wie die beiden zusammensitzen: der sechzehnjährige angehende Dichter und Schauspieler und der vierzigjährige Jesuit.9 Bei gleichzeitigen Anleihen im zeitgenössischen „Theatrum Crudelitatum“ und im Steinbruch literarischer Vorlagen schuf Shakespeare ein Werk, das in alexandrinisch-gekünsteltem Manierismus ein höchst preziöses wie ein barbarisch glänzendes Theaterstück wurde. An seinen Blutorgien und Vergewaltigungsphantasien ist das heutige Regietheater schuldlos. Nein, nicht die Regisseure, sondern Shakespeare ist schuld an den Grausamkeiten des Stücks. Es hatte Erfolg und nicht zuletzt deshalb, weil im Schicksal der Lavinia römische Welt und barbarisch gotische Welt ihren völligen Zusammenbruch erlebten. Die Tochter des Andronicus bildet in ihrer geschändeten jungfräulichen Reinheit und ihrer verstümmelten Schönheit den vollendeten Gegensatz zur Welt der falschen Römer-

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tugenden des Vaters wie der barbarischen Bosheit der Kaiserin und ihres dämonischen Einflüsterers und Liebhabers Aaron. deutsche Übersetzung: Wolf Graf Baudissin 1) Günter Jürgensmeier, S. 92 2) Enzyklopädie des Märchens, Berlin: de Gruyter 1977–2015, Bd. 6, S. 98 3) Ovid, Metamorphosen, VI, 520 ff. 4) Ovid, Metamorphosen, VI, 554 ff. 5) Friedrich Dürrenmatt, S. 210 6) Harold Bloom, Komödien und Historien, S. 127 7) Ulrich Bräker, S. 65 8) Stephen Greenblatt, Will in der Welt, S. 122–127 9) ebd., S. 120/121

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Julia / Silvia

Die beiden Veroneser (1591 / 1593)

designed by Joseph John Jenkins and engraved by B. Eyles

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Dass Julia und Sylvia – sie kennen sich nicht – vor keinem Wagnis und Abenteuer zurückschrecken, um den Mann zu erhalten, dessen Besitz sie sich just in die klugen, kunstvoll frisierten Köpfchen gesetzt haben, ist die gute Nachricht in Shakespeares früher Komödie „Die beiden Veroneser“. Das Stück zeigt uns zwei recht selbständige und frühemanzipierte Mädchen, die ihre Wünsche selbst in die Hand nehmen. Von der einen berichtet uns schon Shakespeares Vorlage, der Schäferroman „Diana“ von Jorge de Montemayor. Ich habe mich entschlossen, so das Mädchen im Roman, „das zu wagen, was noch nie einer Frau in den Sinn gekommen ist. Das war, mich als Mann zu kleiden und an den Hof zu gehen, um den zu sehen, auf dem meine ganze Hoffnung ruhte.“1

Bei Shakespeare wird daraus bei ansonsten sehr verknappter Szenenlogik eine kleine Lehrstunde in modischen Strategien zwischen Julia aus Verona und ihrem Kammermädchen. Kurzer Haarschnitt? – Nein! Julia Nein, Kind, ich flechte sie in seidne Schnüre, Mit seltsam, künstlich treuen Liebesknoten; Phantastisch so zu seyn, ziemt selbst dem Jüngling, Der älter ist, als ich erscheinen werde. (II,7)

Und „nach welchem Schnitt wollt ihr das Beinkleid tragen?“, will das Kammermädchen wissen. Meiner Meinung nach müsst ihr die Hose mit Latz tragen. Und was werden die Leute sagen, wenn ich einfach so verschwinde? – Macht euch nichts draus, meint Lucetta. Hauptsache es hilft, euren Geliebten Proteus zu finden. Bei Sylvia, der Tochter des Herzogs von Mailand, wird die Flucht zu ihrem vom Vater verbannten Liebhaber Valentin von weniger modischen Überlegungen begleitet. Sylvia gedenkt sich unverkleidet, aber praktischerweise in männlicher Begleitung ins Abenteuer zu stürzen, um dem vom Vater verordneten Ehebund mit Herrn Thurio zu entgehen.

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Sylvia Herr Eglamour, ich wünschte Valentin In Mantua aufzusuchen, wo er lebt; Und, da die Wege jetzt gefährlich sind, So wünsch ich deine adlige Gesellschaft (IV,3)

Von Verkleidung ist hier nicht die Rede, aber mit einem Mann lässt sich ein Gespräch über Mode nur bedingt führen. Soweit die gute Nachricht über zwei couragierte Mädchen. Die schlechte Nachricht ist, dass die beiden Männer, zwei dicke Freunde seit vielen Jahren, es eigentlich so gar nicht wert sind, von den beiden Damen gekapert zu werden, und der dritte, Herr Thurio, kommt aus vielfachem Grunde ohnehin nicht in Frage. Er ist zuvörderst der Kandidat des Vaters, und das geht gar nicht. Ihre Komödienstrafe erhalten die zweifelhaften Liebhaber, indem die Diener im Spiel sich über sie belustigen. Sie sind ihren Herrn an „Witz“ schwer überlegen. Außerdem diskreditiert Julias Liebhaber schon sein Name: Proteus ist, wie der Meergott der griechischen Mythologie, der sprichwörtlich sich Verwandelnde, der Unbeständige, der Wankelmütige. Sylvias Liebhaber scheint durch seinen Namen eher positiv charakterisiert; er trägt den Namen des Schutzheiligen der Verliebten, der heute im Zusammenhang mit dem Valentinstag am 14. Februar besonders geläufig ist. Zunächst spielt er den Liebesverächter, dann den Liebeskranken, schließlich einen Zerrissenen zwischen Liebe und Freundschaft. Da sind die Damen den Herren an Verlässlichkeit beträchtlich überlegen. Die bildliche Darstellung Julias markiert das 4. Bild des 4. Akts; die Szene ist der Platz vor des Herzogs Palast in Mailand. Darin wohnt Silvia, denn sie ist des Herzogs Tochter. Hier auf diesem Platz treffen die beiden Frauen zum ersten Mal zusammen. Julia ist bereits auf der Szene und trägt ein Pagenkostüm. Sie ist inkognito unterwegs, nennt sich in ihrer kecken Hosenrolle Sebastian und steht in Diensten eines Mannes namens Proteus, der ihr Geliebter ist. Sie ist ihm nachgereist und in seinen Dienst getreten. In dieser Verkleidung erkennt Proteus seine verlassene Geliebte nicht. Das ist kaum glaubwürdig, aber es ist der Komödie Brauch. Dass Proteus sie, Julia, mit Sylvia betrügt, ist ihr schon klargeworden; dass sie als Diener nun ausgerechnet für Proteus zum Liebesbotschafter bestellt wird, ist purer Zynismus aus dem Geiste der Komödienintrige, die Shakespeare auch später immer wieder gerne einfädelt.

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Proteus So geh denn augenblicks mit diesem Ring, Den übergib an Fräulein Silvia; Wohl liebte die mich, die ihn mir gegeben. (IV,4)

Es ist der Ring, den Julia ihrem Proteus bei seinem Abschied als Zeichen unverbrüchlicher Treue gegeben hatte. Jetzt hat sie ihn zurück, und das Bild zeigt sie, den Ring betrachtend, sehr nachdenklich. Das ist eine arge Herausforderung, und der Botengang fordert ihr einige Beherrschung ab. Der Ring soll für ein Porträt von Sylvia getauscht werden und er wird begleitet von einem Liebesbrief. Proteus geht ab, und Julia räsoniert aus tiefer innerlicher Zerrissenheit. Julia Ich gab ihm diesen Ring, da wir uns trennten, Als Angedenken meiner Gunst und Treue; Nun schickt man mich (o unglückselger Bote!) Zu fordern, was ich nicht gewinnen möchte; Zu bringen, was ich abgeschlagen wünschte; Den treu zu loben, den ich untreu schelte. Ich bin die wahr Verlobte meines Herrn; Doch kann ich nicht sein wahrer Diener seyn, Wenn ich nicht an mir selbst Verräther werde. Zwar will ich für ihn werben, doch so kalt, Wie ich, beim Himmel! die Erwiedrung wünschte. (IV,4)

Die Aufgabe ist mehr als delikat; Sylvia kommt zusammen mit einer Begleiterin aus dem Palast. Das Geschäftliche ist eigentlich schnell geregelt. Das Bild wird gebracht, aber der Ring und der Brief wird nicht angenommen. Sylvia ist empört über die Liebesschwüre des Proteus und die seiner ursprünglichen Liebe zu Julia Hohn spottenden neuen Eide für sie. Sie äußert Mitleid mit Julia und Sebastian verfällt nun in ein doppeltes Rollenspiel. Er spricht für Julia und spricht gleichzeitig als Julia, immer leicht aus der Rolle in die andere Rolle fallend. Julia Sie dankt euch. Sylvia Was sagst du? Julia Ich dank euch, Fräulein, für ‘dieß Zartgefühl. Das arme Kind! Herr Proteus kränkt sie sehr.

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Sylvia Kennst du sie? Julia Beinah so gut, als ich mich selber kenne; Gedenk ich ihres Wehs, bei meiner Seele! Schon hundert Mal hab ich um sie geweint. Sylvia So glaubt sie wohl, daß Proteus sie verlassen? Julia Ich glaub es selbst, und das ist auch ihr Gram. Sylvia Ist sie sehr schön? Julia Sie war einst schöner, Fräulein, als sie ist; Da sie noch glaubte, daß mein Herr sie liebe, War sie, wie mich bedünkt, so schön als ihr; (IV,4)

Komödie ist nicht einfach nur lustig. Da steckt plötzlich jenseits der Lustigkeit Betroffenheit, Charakter und Psychologie dahinter. Das ernste Spiel geht noch einige Klagen und Komplimente weiter und mündet in einen sehr ernsthaften Vergleich, in ein mythologisches Bild – wie so oft bei Shakespeare –, das ins Tragische deutet. Sie, nein, er, Sebastian, spielte an Pfingsten die Rolle der Ariadne in einem Kleid der Julia; von daher weiß er nicht nur, wie schön, sondern auch ziemlich genau wie groß sie ist. Julia Davon weiß ich, sie ist so hoch wie ich. Und zu der Zeit macht’ ich sie recht zu weinen, Denn traurig war die Rolle, die ich spielte; Ariadne, Fräulein, wars, wie sie beklagt Des Theseus Falschheit und geheime Flucht; Das spielten meine Thränen so lebendig, Daß meine arme Herrin, tief gerührt, Recht herzlich weint’; und sterben will ich gleich, Wenn ich im Geist nicht ihren Kummer fühlte! (IV,4)

Sylvia entlohnt den Boten und geht ab, und wir wissen nun ziemlich genau, wie es um die innere Identität von Julia bestellt ist: düster und traurig. Sylvias Mitgefühl zerreißt sie in ihrem kleinen Abgangsmonolog, in dem sie Sylvias Porträt mit sich vergleicht. Das edle Fräulein ist ihr – nein seiner Herrin – wohlgesonnen; aber

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holla, sie ist doch auch ihre/meine Nebenbuhlerin. Ich könnte ihr glatt die Augen auskratzen. Die letzte Wendung, dass Shakespeare Sylvia augenblicklich in Sebastian sich verlieben lässt, wird hier noch nicht praktiziert. Das hält sich der Dichter für später vor. Aber, by the way, um auf ein neues Thema hinzuweisen, Shakespeare eröffnet hier sein labyrinthisches Spiel mit den geschlechtlichen Identitäten seiner Schauspieler und ihrer Rollen: Sebastian ist Julia; Julia wird gespielt von einem Knabendarsteller, also einem jungen Mann, der eine Frau verkörpert, die einen Mann spielt, in den sich in späteren Stücken wiederum eine Frau verliebt, die von einem Mann gespielt wird. Eine kolossale Herausforderung für Schauspieler. Der junge Mann in der Besetzung der Rolle der Julia imaginiert sich in Potenzierung auch noch als doppelte Frau, als Ariadne. Aber die muss er dann wirklich nur in der Fiktion der Fiktion spielen bzw. denken. Die beiden Mädchen sind unwandelbar treu, und so kommt es zu einem guten Ende, obwohl für diese Männer gilt: Così fan tutte. So sind, so machen es alle Männer. Psychologie sollte man hier aber vergessen, und solches Vergessen wäre auch in anderweitiger Literatur sehr oft angebracht. Sie folgt halt gerne ihren Genregesetzen und die wurden lange vor aller Psychologie festgezurrt. Das Kriterium ist also sehr oft ein falscher Maßstab und Ratgeber beim Verstehen, beim Verstehen z.B. der rudimentären Reste eines Männerkults um die Freundschaft, dessen Sophistereien und Spitzfindigkeiten, dessen völlig weltfremdes Begründungsgebäude selbst in der Vorlagengeschichte aus dem Boccaccio kaum mehr glaubwürdig ist. „Die erstaunliche Geschichte von der vollkommenen Freundschaft zwischen Titus und Gisippus“, die Geschichte von den zwei philosophisch verkopften Freunden, die ihre Frauen auf ihrem sophistischen Schachbrett hin und herschieben, ist bei Shakespeare eingedampft worden zu einer Farce über die Dummheit und die Schufterei von zwei jungen unreifen Männern, die ihrer Mädchen nicht würdig sind. Julia hat um Proteus Liebe gekämpft, der, als er die verkleidete Frau endlich als seine edle Veroneserin erkennt, seine schäbige Treulosigkeit in einer billigen Komödienkonvention vergessen machen darf. Auf Julias berechtigten Vorwurf, als sie sich endlich zu erkennen gibt und ihr Dienerkleid ablegt, …. Julia O Proteus, dich beschäme diese Tracht!

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Erröthe du, daß solch unziemend Kleid Ich angelegt; wenn Liebe in Verkleidung Sich je entehren kann: Mag Sitt’ entscheiden, wer am schwersten fehle, Vertauscht ein Weib das Kleid, ein Mann die Seele. (V,4)

… weiß er nur eine magere Entschuldigung. Shakespeare spricht ihn mit weiteren fünf bescheiden entlastenden Versen ziemlich billig frei von seiner Untreue. Proteus Ein Mann die Seele? wahr, o Himmel! Treue Nur fehlt dem Mann, vollkommen sich zu nennen; Der Mangel macht uns jeder Sünd’ ergeben; Treulosigkeit stirbt ab, noch vor dem Leben. Was ist in Silvia nur, das frischer nicht Die Treue sieht in Juliens Angesicht? (V,4)

Das ist ein Freispruch dritter Klasse, der keinen glücklich macht, außer vielleicht den Angeklagten. Wir sehen eher schwarz für beider Zukunft nach dem happy end, das Valentin so schnell einfädelt, dass Julia nur noch Ja sagen kann. Valentin Kommt denn, und reiche jeder seine Hand: Den schönen Bund müßt ihr mich schließen lassen; Nicht länger darf solch Freundespaar sich hassen. Proteus Du, Himmel, weißt, mein Wunsch ist mir erfüllt! Julia Der meine mir. (V,4)

Amen! Strindberg würde hier mit einem Drama über deren Ehehölle beginnen. deutsche Übersetzung: Wolf Graf Baudissin 1) Günter Jürgensmeier, S. 26

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Die beiden Veroneser (1591 / 1593)

designed by Kenny Meadows and engraved by William Henry Mote

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Dass Sylvia und Julia – sie kennen sich nicht – vor keinem Wagnis und Abenteuer zurückschrecken, um den Mann zu erhalten, dessen Besitz sie sich just in die klugen, kunstvoll frisierten Köpfchen gesetzt haben, ist die gute Nachricht in Shakespeares früher Komödie „Die beiden Veroneser“. Das Stück zeigt uns zwei recht selbständige und frühemanzipierte Mädchen, die ihre Wünsche selbst in die Hand nehmen. Von der einen berichtet uns schon Shakespeares Vorlage, der Schäferroman „Diana“ von Jorge de Montemayor. Ich habe mich entschlossen, so das Mädchen im Roman, „das zu wagen, was noch nie einer Frau in den Sinn gekommen ist. Das war, mich als Mann zu kleiden und an den Hof zu gehen, um den zu sehen, auf dem meine ganze Hoffnung ruhte.“1

Bei Sylvia, der Tochter des Herzogs von Mailand, wird die Flucht zu ihrem vom Vater verbannten Liebhaber Valentin eher konventionell gestaltet. Sylvia gedenkt sich unverkleidet, aber praktischerweise in männlicher Begleitung ins Abenteuer zu stürzen, um dem vom Vater verordneten Ehebund mit Herrn Thurio zu entgehen. Sylvia Herr Eglamour, ich wünschte Valentin In Mantua aufzusuchen, wo er lebt; Und, da die Wege jetzt gefährlich sind, So wünsch ich deine adlige Gesellschaft (IV,3)

Soweit die gute Nachricht über zwei couragierte Mädchen. Die schlechte Nachricht ist, dass die beiden Männer, zwei dicke Freunde seit vielen Jahren, es eigentlich so gar nicht wert sind, von den beiden Damen gekapert zu werden, und der dritte Mann, Herr Thurio, kommt aus vielfachem Grunde ohnehin nicht in Frage. Er ist zuvörderst der Kandidat des Vaters, und das geht gar nicht. Ihre Komödienstrafe erhalten die zweifelhaften Liebhaber, indem die Diener im Spiel sich über sie belustigen. Sie sind ihren Herrn an „Witz“ schwer überlegen. Außerdem diskreditiert den Liebhaber der Julia schon sein Name: Proteus ist, wie der Meergott der griechi-

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schen Mythologie, der sprichwörtlich sich Verwandelnde, der Unbeständige, der Wankelmütige. Der Liebhaber der Sylvia scheint durch seinen Namen eher positiv charakterisiert; er trägt den Namen des Schutzheiligen der Verliebten, der heute im Zusammenhang mit dem Valentinstag am 14. Februar besonders geläufig ist. Zunächst spielt er den Liebesverächter, dann den Liebeskranken, schließlich einen Zerrissenen zwischen Liebe und Freundschaft. Da sind die Damen den Herren an Verlässlichkeit beträchtlich überlegen. Die bildliche Darstellung Sylvias markiert das 4. Bild des 4. Akts; die Szene ist der Platz vor des Herzogs Palast in Mailand. Darin wohnt Silvia, denn sie ist des Herzogs Tochter. Soeben verlässt sie das Haus und wird von dem Pagen Sebastian – niemand anders als die verkleidete Julia – angesprochen. Er/Sie bittet Julia Die Botschaft anzuhören, die ich bringe. Sylvia Von wem? Julia Von Signor Proteus, meinem Herrn. Sylvia Ach! – Wegen eines Bildes schickt er euch? Julia Ja, Fräulein. Sylvia So bring denn, Ursula, mein Bildniß her! (IV,4)

Das Bildnis wir umgehend gebracht. Es scheint ein Schattenriss der Angebeteten zu sein, und Sylvia fügt bei der Übergabe spitzzüngig eine Bemerkung dazu. Sylvia Geht, gebt das eurem Herrn; sagt ihm von mir: Die Julia, die sein falsches Herz vergaß, Ziemt besser, als der Schatten, seinem Zimmer. (IV,4)

Der Bote scheint den Tadel kommentarlos zu überhören und bittet seinerseits einen Brief übergeben zu dürfen. Das wird abgelehnt. Sylvia Ich will die Zeilen deines Herrn nicht lesen. Ich weiß, sie sind mit Schwüren angefüllt

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Und neu erfundnen Eiden, die er bricht, So leicht, als ich jetzt dieses Blatt zerreiße. (IV,4)

Der Bote macht mit schwerem Herzen einen erneuten Anlauf und bietet Sylvia einen Ring von Herrn Proteus an. Natürlich weist sie auch den Ring empört zurück. Sylvia Ihm Schmach so mehr, mir diesen Ring zu schicken; Denn tausendmal hab’ ich ihn sagen hören, Wie seine Julia ihn beim Abschied gab. Hat auch sein falscher Finger ihn entweiht, Soll meiner Julien nicht solch Unrecht thun. (IV,4)

Sebastian bedankt sich für dieses Zeichen des Mitgefühls seitens der standhaften Sylvia. Er leide mit Julia an der unwürdigen Situation. Es wird ihm/ihr klar, dass die Rivalin um die Liebe ihres Proteus anderweitig interessiert und engagiert ist. Von ihrer Seite ist nichts zu befürchten, aber das macht seinen infamen Verrat und Betrug mit eben dem Ring, den sie ihm als Pfand unverbrüchlicher Treue beim Abschied in Verona gegeben hatte, nicht ungeschehen. Sylvia verabschiedet den Boten freundlich, gibt ihm einen großzügigen Lohn und geht ab, um Herrn Eglamour, ihren Fluchthelfer, zu treffen, der sie zu ihrem Geliebten Valentin bringen soll. Warum ist dieser Valentin eigentlich verschwunden? Er wurde vom Herzog von Mailand verbannt. Er hat sich, kaum von Verona nach Mailand gekommen, Hals über Kopf in Sylvia verliebt. Dabei wollte er sich in der Fremde der Wissenschaft und der Ehre (I,1) widmen. Das gesteht er seinem Freund Proteus, der von seinem Vater nach Mailand geschickt wurde, sofort nach dessen Ankunft. Proteus wundert sich über den verwandelten Freund und seine Offenheit in den Angelegenheiten seines Herzens. Valentin Oh, Liebster, Amor ist ein mächt’ger Fürst, Und hat mich so gebeugt, daß ich bekenne, Es giebt kein Weh, das seiner Strafe glich, Doch gibts nicht größre Lust, als ihm zu dienen. Jetzt kein Gespräch, als nur von Lieb’ allein; Jetzt ist mir Frühstück, Mittag-, Abendmahl, Schlummer und Schlaf das bloße Wort schon: Liebe. (II,4)

Und, fragt Proteus begierig, wer ist sie, wie schaut sie aus? War es etwa die, die beim Empfang neben dem Herzog stand. Ja, klar, die

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ist es – und wie findest du sie? Ein Heiligenbild, oder? – Na ja, piano, piano! Ich mache es jetzt so, wie du früher. Liebt sie dich überhaupt? Valentin

Ja, und wir sind verlobt; Noch mehr, die Stunde der Vermählung selbst, Und auch die List, wie wir entfliehen mögen; Beredet schon, wie ich zum Fenster steige Auf seilgeknüpfter Leiter; jedes Mittel Erdacht und fest bestimmt zu meinem Glück. (II,4)

Valentin ist kaum abgegangen, da überrascht uns Proteus mit zwei monologischen Selbstoffenbarungen, dass er Julia nicht mehr, dafür aber des Freundes Geliebte Sylvia abgöttisch liebe. Dafür nimmt er einiges in Kauf. Proteus Verlass’ ich meine Julia, ist es Meineid; Lieb’ ich die schöne Silvia, ist es Meineid; Kränk’ ich den Freund, das ist der höchste Meineid; Dieselbe Macht, die erst mich schwören ließ, Sie reizt mich jetzt, dreifachen Schwur zu brechen; Die Liebe zwang zum Eid und zwingt zum Meineid. (II,6)

In vollem Bewusstsein seiner Schäbigkeit beschließt er, zum Herzog zu laufen und ihm alles auszuplaudern von Valentins Betrug und Flucht- und Entführungsabsicht. Der wird Valentin verbannen und dann bleibt der dumme Thurio und ich übrig. Den auszuhebeln, dürfte nicht allzu schwierig sein. Während seine Julia sich in Verona anschickt, Proteus in Männerkleidern zu folgen, geht der seinen Meineiden nach, zunächst beim Herzog Vater. Er gesteht ihm das Vorhaben des Freundes, und der Herzog, richtig schlau, entlockt durch einen Kniff dem Valentin sowohl den Plan wie auch die Hilfsmittel dazu: eine seidene Leiter und den Mantel des Entführers. So tollpatschig ist noch kein Liebhaber mit seinen eigenen Mitteln geschlagen worden. Und den Brief an Fräulein Sylvia lässt er sich auch noch vom Vater abnehmen. Da bleibt dem Herzog nichts anderes mehr übrig, als mit einem Bannspruch zu agieren. Herzog Fort denn und schweig mit nichtiger Entschuld’gung: Liebst du dein Leben, fort in schnellster Eil. (III,1)

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Ulrich Bräker spricht in seiner Schweizer Art den beiden Liebhabern das Urteil. „Proteus hat mich böse gemacht, ich hat ihm Hundsfüt gesagt, wann er’s mir so gemacht hätte; nein, ich hätt ihn gar beim Kopf genommen, wann er mir bei einer solchen Silvia ins Gehege kommen wär. Doch Valentin dünkt mich auch ein Tor, daß er sein größtes Geheimnis seinem Freund offenbarte, der in diesem Fall noch keine Probe gehalten: ich meinte doch, wenn einer von Jugend auf mit einem Freund umgeht, sollte einen besser kennen, ob er imstand wäre, in diesem Fall zum Verräter zu werden –“2

Wie kommt der Autor aus dieser vertrackten Situation an ein komödientaugliches Ende? Selbst für Shakespeare wird das schwer. Er hat – nicht seine Damen – seine Herren ziemlich ramponiert. Proteus bringt mit viel falschem Bedauern Freund Valentin aus der Stadt und vertröstet ihn auf Liebesbriefe. Dem Herzog empfiehlt er, Valentin bei Julia durch Verleumdungen verhasst zu machen. Sich selber bringt er als Troubadour in Stellung; er bestellt eine schöne Nachtmusik unter Sylvias Fenster. Sie weint und ist untröstlich, während Valentin auf dem Weg in die Verbannung von Räubern gefangen und sofort zu ihrem Hauptmann gemacht wird. Dieweil ist Julia aus Verona in Mailand angekommen und erkundigt sich als Sebastian nach ihrem/seinem geliebten Proteus. Der freundliche Wirt, bei dem sie Auskünfte erbittet, nimmt sie/ihn zu der von ihm organisierten Serenade mit. Das ist natürlich ein ziemlicher Fehlgriff, aber woher sollte der Wirt wissen, dass Sebastian eine Frau ist und ausgerechnet auch noch die Geliebte des Troubadours unter dem Fenster der Sylvia. Jetzt muss er/sie mitansehen und -anhören, was sich die beiden erzählen. Er/sie möchte laut schreien vor Empörung und tiefer Qual. Proteus Fräulein, ich biet’ euer Gnaden guten Abend. Sylvia Ich danke, meine Herrn, für die Musik; Wer ists, der sprach? […] Proteus Proteus, mein edles Fräulein, euer Diener. Sylvia Was ist euer Wille?

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Proteus Euern zu erlangen. Sylvia Euer Wunsch ist schon erfüllt; mein Will ist dieser: Daß ihr sogleich nach Haus und schlafen geht. Du schlau, meineidig, falsch, treuloser Mann! Glaubst du, ich sei so schwach, so unverständig, Daß mich verführte deine Schmeichelei, Der du mit Schwüren schon so Manche trogst? Zur Heimath kehre, deine Braut zu sühnen! Denn, hör’ es blasse Königin der Nacht, Ich bin so fern, mich deinem Flehn zu neigen, Daß ich dein schmachvoll Werben tief verachte; Und schon beginn ich selbst mit mir zu hadern, Daß ich noch Zeit verschwende, dich zu sprechen. (IV,2)

Proteus gibt sich nicht geschlagen. Er erklärt mit dreister Lüge, dass sowohl Julia als auch Valentin tot seien. Das erweckt innere Tumulte bei den Damen. Proteus setzt noch eins oben drauf. Er bittet um ein Bildnis Sylvias, das er in ihrem Zimmer gesehen hat. Damit die Angelegenheit unter dem Fenster ein Ende hat, sagt ihm Sylvia das erbetene Porträt zu. Sylvia Mich freut es nicht, zum Götzen euch zu dienen; Doch, da es gut für Eure Falschheit paßt, Nur Schatten, falsch Gebilde, anzubeten, Schickt zu mir morgen früh, ich send’ es euch; Und so schlaft wohl! (IV,2)

Julia ist zerschmettert von der belauschten Szene, aber sie lässt sich vom Wirt als Diener für Proteus vermitteln. Sie ist noch unsicher, wohin die Reise gehen soll. Proteus ist von dem Knaben ganz angetan und schickt ihn sofort zu Sylvia, um einerseits das Bild abzuholen und andrerseits ihr den Ring zu geben, den er als Zeichen ihrer Liebe von Julia beim Abschied in Verona bekam. Die Aufgabe ist mehr als delikat; Sylvia kommt zusammen mit einer Begleiterin aus dem Palast. Man trifft sich zum ersten Mal. Das Geschäftliche ist eigentlich schnell geregelt. Das Bild wird gebracht, aber der Ring und der Brief wird nicht angenommen. Sylvia ist empört über die Liebesschwüre des Proteus und die seiner ursprünglichen Liebe zu Julia Hohn spottenden neuen Eide für sie. Sie äußert Mitleid mit Julia, und Sebastian verfällt nun in ein doppeltes Rollenspiel. Er

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spricht für Julia und spricht gleichzeitig als Julia, immer leicht aus der Rolle in die andere Rolle fallend. Julia

Sie dankt euch.

Sylvia Was sagst du? Julia Ich dank euch, Fräulein, für dieß Zartgefühl. Das arme Kind! Herr Proteus kränkt sie sehr. Sylvia Kennst du sie? Julia Beinah so gut, als ich mich selber kenne; Gedenk ich ihres Wehs, bei meiner Seele! Schon hundert Mal hab ich um sie geweint. Sylvia So glaubt sie wohl, daß Proteus sie verlassen? Julia Ich glaub es selbst, und das ist auch ihr Gram. Sylvia Ist sie sehr schön? Julia Sie war einst schöner, Fräulein, als sie ist; Da sie noch glaubte, daß mein Herr sie liebe, War sie, wie mich bedünkt, so schön als ihr; (IV,4)

Komödie ist nicht einfach nur lustig. Da steckt plötzlich jenseits der Lustigkeit Betroffenheit, Charakter und Psychologie dahinter. Das ernste Spiel geht noch einige Klagen und Komplimente weiter und mündet in einen sehr ernsthaften Vergleich, in ein mythologisches Bild – wie so oft bei Shakespeare –, das ins Tragische deutet. Sie, nein, er, Sebastian, spielte an Pfingsten die Rolle der Ariadne in einem Kleid der Julia; von daher weiß er nicht nur, wie schön, sondern auch ziemlich genau wie groß sie ist. Julia Davon weiß ich, sie ist so hoch wie ich. Und zu der Zeit macht’ ich sie recht zu weinen, Denn traurig war die Rolle, die ich spielte; Ariadne, Fräulein, wars, wie sie beklagt

134 • Silvia / Julia

Des Theseus Falschheit und geheime Flucht; Das spielten meine Thränen so lebendig, Daß meine arme Herrin, tief gerührt, Recht herzlich weint’; und sterben will ich gleich, Wenn ich im Geist nicht ihren Kummer fühlte! (IV,4)

Sylvia entlohnt den Boten und geht ab, und wir wissen nun ziemlich genau, wie es um die innere Identität von Julia und Sylvia bestellt ist: düster und traurig. Sylvias Mitgefühl zerreißt sie in ihrem kleinen Abgangsmonolog, in dem sie Sylvias Porträt mit sich vergleicht. Das edle Fräulein ist ihr – nein seiner Herrin – wohlgesonnen; aber holla, sie ist doch auch ihre/meine Nebenbuhlerin. Ich könnte ihr glatt die Augen auskratzen. Die letzte Wendung, dass Shakespeare Sylvia augenblicklich in Sebastian sich verlieben lässt, wird hier noch nicht praktiziert. Das hält sich der Dichter für spätere Stücke vor. Im Augenblick strebt alles in den Wald. Alarm! Alarm! Alarm! Sylvia ist geflohen, der Palast ist in Aufruhr. Herzog So floh sie hin zu Valentin, dem Knecht; […] Deßwegen, bitt’ ich, weilt nicht lang berathend, Nein, gleich zu Pferd; und trefft mich beide dort Am Fuße des Gebirges, auf dem Hügel, Der sich nach Mantua zieht: da floh’n sie hin; Beeilt euch, theure Herrn, und folgt mir nach! (V,2)

Der Herzog voran, Proteus hinterher, Thurio ist schon abgeschlafft, bevor die Jagd beginnt. Unmittelbar darauf sieht man Sylvia – Eglamour, der Feigling hat sich weggestohlen – von den Räubern gefangen. Sie sind freundlich zu ihr und beruhigen sie. Erster Räuber Seid unbesorgt, er ist von edlem Sinn, Und keinem Weibe fügt er Unrecht zu. (V,3)

Kaum geht Sylvia mit einem Seufzer ab, tritt Valentin in den Wald. Für einen Räuberhauptmann spricht er in sehr poetischen Tönen von Einsamkeit und der Nachtigall Klageliedern. Dann entringt es sich seiner Brust. Valentin Komm, Silvia, […] Erfreu’ den Jammernden, du holde Nymphe! (V,4)

Silvia / Julia • 135

Er zieht sich zurück, aber so, dass er die Auftretenden beobachten kann. Da sieht er seine Sylvia, erkennt seinen Freund Proteus und rätselt darüber, wer der Page sein könnte. Valentin beiseit Ist dieß ein Traum, was ich hier seh’ und höre? Leih, Liebe, mir Geduld, noch jetzt zu schweigen. (V,4)

Geduld ist in der Tat angesagt. Proteus rühmt sich der Befreiung Sylvias aus der Hand der Räuber und glaubt sich deshalb berechtigt, wieder mit seiner Liebesleier anzufangen. Er erbittet einen „holden Blick zum Lohn“ seiner Tat. Sebastian, alias Julia, steht daneben und leidet still, während Sylvia alles andere als dankbar zu toben beginnt. Sylvia Wär’ ich vom Leu’n, dem hungrigen, ergriffen! Viel lieber Speise sein dem Ungethüm, Als daß der falsche Proteus mich errettet! Du, Himmel, weißt, wie Valentin ich liebe, Sein Leben mir so werth wie meine Seele; Und ganz so (dieses ist der höchste Schwur), Ist Abscheu mir der falsch’, meineid’ge Proteus. Drum fort! und quäl mich nicht mit lästgem Werben! (V,4)

Proteus merkt allmählich, dass sich seine angebliche Liebe an Sylvia, die ihn noch einmal sehr nachdrücklich an seine Braut Julia erinnert, die Zähne ausbeißt. Ihre Gardinenpredigt endet in einem Vorwurf, dessen Heftigkeit heute nicht mehr verstanden werden kann. Sylvia Du Trüger deines wahren Freunds! (V,4)

Betrug und Meineid in der Freundschaft gilt den Zeitgenossen Shakespeares (vgl. die Geschichte von Boccaccio) ein frevelhafteres Vergehen als ein Verrat an der Geliebten. Unabhängig von diesen Rangstreitigkeiten in Bosheit freut sich Valentin in seinem Versteck über die Standhaftigkeit seiner Sylvia, ergrimmt jedoch über seinen falschen Freund Proteus. Sebastian leidet weiter still vor sich hin und Sylvia glaubt alles Nötige gesagt zu haben. Da zündet Proteus eine verbale Bombe in der kleinen Runde. Proteus Nun, wenn der milde Geist bered’ter Worte Auf keine Art zu sanfter Weis’ euch stimmt,

136 • Silvia / Julia

So werb’ ich, wie Soldaten, mit Gewalt; Und Liebe wird, sich selbst entartet, Zwang. (V,4)

Die Androhung von Gewalt, gar von Vergewaltigung ist empörend, ist skandalös. Und auf Sylvias letztes Wort im Stück „O Himmel!“ setzt Proteus, seiner Androhung noch eins drauf: Proteus

Mit Gewalt bezwing’ ich dich. (V,4)

Da kommt Rettung aus dem Busch. Valentin stürzt sich auf Proteus um seiner Sylvia willen; der Kampf wird nicht mit der Waffe, sondern in Worten ausgetragen. Valentin Du Ehrenräuber, frei laß deine Beute, Du Freund von schlechter Sitte! (V,4) […] Gemeiner Freund, das heißt, treulos und lieblos; (Denn so sind Freunde jetzt) Verräther, du! […] O Proteus, Ich fürchte, nie kann ich dir wieder traun Und muß um dich die Welt als Fremdling achten. O schlimme Zeit! o schmerzliches Verwunden! Daß ich den Freund als schlimmsten Feind gefunden! (V,4)

Es geht immer alles sehr schnell in diesem Stück; manchmal scheint es sich selbst zu überstürzen. Proteus bekommt fünf Verszeilen, um seine Scham und seine Schuld einzugestehen. Der mehr als gutmüti­ge, ja törichte Valentin ist sofort wieder versöhnt und Feuer und Flamme und macht nun ein Freundschaftsangebot, das einen umhaut. Valentin So bin ich ausgesöhnt; Und wieder acht’ ich dich als ehrenvoll. – […] Und, daß vollkommen werde mein Verzeihn, Geb’ ich dir alles, was in Silvien mein. (V,4)

Das ist der nächste Stolperstein des Stücks, und tatsächlich fällt Julia/Sebastian nun in Ohnmacht. Sylvias Geliebter Valentin verschenkt sie aus Freundschaft an Proteus, der doch ihr gehört! Das kann nicht sein! Keiner, nein keine fragt danach, ob so etwas geht. Um das zu verhindern, konfrontiert die wiedererwachte Julia ihren

Silvia / Julia • 137

Proteus mit dem Ring, den sie ihm geschenkt hatte und den er an Sylvia weiterschenken wollte. Langsam dämmert ihm, dass Sebastian Julia ist. Schwamm drüber sagt Valentin Kommt denn, und reiche jeder seine Hand: Den schönen Bund müßt ihr mich schließen lassen; Nicht länger darf solch Freundespaar sich hassen. Proteus Du, Himmel, weißt, mein Wunsch ist mir erfüllt! Julia

Der meine mir. (V,4)

„Solch Freundespaar“!?, das ist irgendwie schon eine Zumutung Shakespeares. Die Damen werden vom Autor zum Schweigen verdonnert; auch Proteus schweigt – hoffentlich betreten. Valentin regelt mit den Räubern die Freigabe des gefangenen Herzogs, der ihm nun die Hand Sylvias verspricht. Herzog Ritter Valentin, Du bist ein Edelmann von altem Blut; Nimm deine Silvia, du hast sie verdient. (V,4)

Der frischernannte Ritter erreicht beim Herzog die Aufhebung der Verbannung für die Räuber, weil die alle prächtige und verdienstvolle Kerle sind. Gewährt! Soweit das Sommermärchen mit den klugen, starken und unwandelbar treuen, aber jetzt stummen Mädchen. Valentin führt das Wort und bietet sich an, dem Herzog auf dem Heimweg die Geschichte von dem Knaben zu erzählen, der so graziös erröten kann. Vermutlich errötet Julia in diesem Augenblick sofort wieder. Valentin Gefällt’s euch, so erzähl’ ich euch im Gehn, Was euch verwundern wird, wie sich’s begab. – (V,4)

Das Ende ist bekannt und bietet doch noch eine Wendung, die die Zumutung des Stücks mit philologischem Scharfsinn irgendwie erträglich machen könnte. Erste Sätze sind immer wichtige Sätze, letzte Sätze natürlich ebenfalls. Wie öfter bei Shakespeare verläuft sich bei ihm das Finale in ein scheinbar endlos verflochtenes Band, in eine Endlosschleife: z.B. im Hamlet und ebenso hier in der frühen Komödie von unschuldig-heiterem Charakter mit schwer belasteten Protagonisten. Die Ideale von Freundschaft und Liebe sind

138 • Silvia / Julia

ziemlich gestört worden und werden durch Wiederholung gereinigt. Die Wiederholung geschieht in effigie, in strafender, aber auch läuternder Reinigung. Valentin Komm, Proteus! Dieß sey deine Strafe nur, Zu hören die Geschichte deiner Liebe; Und dann sey unser Hochzeitstag der deine; Ein Fest, Ein Haus und ein gedoppelt Glück! (V,4)

Das Ende des Spiels könnte auch der Anfang der Erzählung von der Erzählung von der Erzählung sein: von der Erzählung nach einem altbekannten poetologischen Schema. Die Erzählung will sowohl unterhalten als auch belehren. Sie ist sarkastisch, boshaft und zum Verlachen der Liebhaber und, was die Mädchen betrifft, zum Verlieben. deutsche Übersetzung: Wolf Graf Baudissin 1) Günter Jürgensmeier, S. 26 2) Ulrich Bräker, S. 8

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Lady Anna

König Richard III. (1592 / 1593) eigtl. Anne Neville, Königin von England (1485)

designed by Charles Robert Leslie, R. A. and engraved by William Henry Mote

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Lady Anna • 141

In der ersten Szene des 4. Akts des Dramas „König Richard III.“ treten vor dem Eingang des Towers in London drei Damen auf, die alle in verwandtschaftlicher Beziehung zur Titelfigur stehen. Da ist zum einen Königin Elisabeth, die Witwe Eduards IV. und mithin Schwägerin von Richard von Gloster, da ist zum anderen Herzogin von York, also die Mutter des Monsters Richard, und zum dritten Anna, Herzogin von Gloster, seit kurzem die Ehefrau von Richard. Sie hat ein Kind an der Hand namens Margaretha, die Tochter ihres Schwagers Clarence. Der wurde vor kurzem tot in einem Malvasierfass des Towers gefunden. Den Auftrag gab sein Bruder Richard. Die Szene ist angespannt, denn ihre Koalition als Opfer der Tyrannei Richards ist brüchig, weil sie selber untereinander nicht erhaben sind über verübtes Unrecht. Aber was die Damen vorhaben, steht ohnehin auf einem anderen Blatt (siehe Lady Grey); wichtig ist im Augenblick, dass Lord Stanley im Auftrag von Annas Gatten Richard vermeldet: Stanley Kommt, Fürstin, ihr müßt gleich nach Westminster: Dort krönt man euch als Richards Ehgemahl. (IV,1)

Die unvermittelte Ankündigung auf der Straße kommt für Lady Anna sehr unerwartet und auch sehr unerwünscht. Alles um Lady Anna kam unerwünscht, völlig überraschend. Sie wurde zu aller Überraschung Gemahlin eines Mannes, der einfach als Gatte undenkbar war; sie wird wiederum aus heiterem Himmel auf der Straße zur Krönung als englische Königin bestellt und kommentiert die Aufforderung einigermaßen seltsam: Anna Verhaßte Nachricht! Unwillkommne Botschaft! […] Mit höchster Abgeneigtheit will ich gehn. – (IV,1)

Da stellt sich doch die Frage, wer diese eigenartige Dame ist, die uns der Künstler – wiederum in Witwentracht – als schmerzlich leidende Frau vorstellt. Sie ist im Stück gerade 15 Jahre alt – das kommt der Wirklichkeit ziemlich nahe –, und sie wird im Verlaufe

142 • Lady Anna

des Dramas auch nur wenig älter. Die elf bis dreizehn Jahre Wirklichkeit, die der Lady in der Historie verblieben, verdichtet der Dichter auf wenige Wochen in seinem Stück. Wir begegnen Lady Anna gleich nach der Eröffnung mit dem furiosen Monolog von Richard Gloster ganz zu Beginn von „Richard III.“, in dem er sich in jeder Beziehung für den Zuschauer outet: Er sei „entblößt von Liebesmajestät“ Gloster Und darum, weil ich nicht als ein Verliebter Kann kürzen diese fein beredten Tage, Bin ich gewillt, ein Bösewicht zu werden, Und feind den eitlen Freuden dieser Tage. (I,1)

Dass der Bucklige den Verliebten aber ganz gut mimen kann, ohne je wirklich verliebt zu sein, zeigt die unmittelbar anschließende Szene. Es tritt auf König Heinrich des Sechsten Leiche; sie wird im offenen Sarg hereingetragen. Die Szene ist also vergleichbar der Eingangsszene zur Trilogie „Heinrich VI.“, in der zu einem Totenmarsch die Leiche Heinrichs des Fünften auf einem Paradebett zu sehen ist. Die drei Teile sind mit Heinrichs Tod zu Ende und das Epilogstück „Richard III.“ eröffnet sich ähnlich wie das Hauptstück und zeigt eine klare zeitliche Verlaufslinie. Die historischen Daten sind der 31. August 1422 und der 21. Mai 1471. Shakespeares Dramaturgie hat 50 historische Jahre in die Knie gezwungen, im Epilogstück verdichtet er die Zeit aber gewaltsam zugunsten einer Zentralgestalt, die jetzt das Bühnengeschehen völlig beherrscht. Begleitet wird der Sarg von Prinzessin Anna als Leidtragende, so unterrichtet die Regieanweisung den Leser; der Zuschauer/Zuhörer muss aufpassen, dass er Annas Selbstvorstellung in ihrem Eingangsmonolog nicht überhört: Anna Vergönnt sei’s, aufzurufen deinen Geist, Daß er der armen Anna Jammer höre, Die Eduards Weib war, deines Sohns, erwürgt Von jener Hand, die diese Wunden schlug. (I,2)

Das sind verdichtet auf vier Verszeilen ziemlich viele Informationen, und wer nicht die lange, blutige Vorgängergeschichte von Heinrich VI. kennt, muss schnell kombinieren, in welchem verwandtschaftlichen Verhältnis der Tote und die „Leitragende“ stehen. Sie war Eduards Weib, aber nicht von König Eduard IV., son-

Lady Anna • 143

dern von jenem 18-jährigen Sohn von König Heinrich VI. mit seiner Gemahlin Margaretha. Sie ist also die 15-jährige Schwiegertochter des toten Königs, der von der gleichen Hand erstochen wurde, die ihren jungen Prinzgemahl „erwürgt“ hat. Das ist etwas poetisch ausformuliert, denn auch der wurde erstochen, und zwar von Richard von Gloster zusammen mit seinen beiden Brüdern Clarence und Eduard. Ein dreimaliges „durchsticht ihn“ markierte diese Szene, und nicht unverständlich: Das tränenreiche weibliche Wesen setzt zu einem dreifachen Fluch an: Anna Verflucht die Hand, die diese Risse machte! Verflucht das Herz, das Herz hatt’, es zu thun! Verflucht das Blut, das dieses Blut entließ! (I,2)

Shakespeare gibt Anna noch einige weitere Monologzeilen, aber in Hinblick auf die anschließende Begegnung mit Richard von Gloster, ihrem Intimfeind, sollte man diese Zeilen im Gedächtnis behalten: Anna Hat er ein Weib je, nun, so möge sie Sein Tod um vieles noch elender machen, Als mich mein junger Ehgemahl und du! – (I,2)

Was Anna dem künftigen Weib Richards an den Hals wünscht, erfüllt sich als eine sich doppelt selbsterfüllende Prophezeiung. Nicht nur, dass ihr Wunsch, Fluch oder ihre Prophezeiung ziemlich schnell in Erfüllung geht, die tragische Wendung des Fluchs trifft sie selbst, denn am Ende der Szene ist sie, sie ganz persönlich, Richard als Ehgemahl versprochen, versprochen durch sich selbst. Niemand hat daran Schuld außer Anna allein. Shakespeares Szene ist unglaublich, atemberaubend und macht Lady Anna umgehend „noch elender“, als sie ohnehin schon ist. Da lässt sich trefflich räsonieren, wie und ob das dämonisch Böse und das teuflisch Hässliche Macht und erotische Anziehungskraft besitzt; das Räsonnement wird keine Antwort geben können auf den Verlauf und den Ausgang dieser Werbungsszene. Ihr Ende ist inkommensurabel und macht Anna – der Superlativ sei dennoch vermieden – zu einer der seltsamsten weiblichen Erscheinungen im Figurenkosmos Shakespeares. Richards rhetorischer Registerreichtum macht das Unerhörte, das Verruchte dieser Werbung anschaulich, wenn auch nicht begreifbar.

144 • Lady Anna

Zunächst grätscht er in die Szene, indem er die Träger der Leiche zum Absetzen ihrer Last zwingt, denn nur im Angesicht des Ermordeten – der Sarg ist offen – kann gelingen, was für Undenkbar erachtet wird. Gegen alle Konventionen der Trauer und der Sitten an der Leiche macht er sich fast gewaltsam zum Herrn der Szene. Er zwingt Anna in ein grausames Gesprächsspiel wie Petruccio das widerspenstige Käthchen in spaßhafter Absicht. Anna hat eigentlich schon verlorenen, sobald sie sich auf sein Sprachspiel einlässt. Sie kann noch so sehr widersprechen, sie verliert den sprachlichen Machtkampf, weil sie seiner Macht der Gemeinheit letztendlich nichts entgegenzusetzen vermag. Sie hat einen beharrlichen Ton des gerechten Hasses gegen seine absurde, aber durch Argumente nicht zu entkräftende Behauptung, er habe nur aus Liebe zu ihr gemordet. Ihr Hass auf ihn über von ihm verursachtes Leid und mörderischen Tod läuft sich an seiner Infamie und Gemeinheit tot, die diese Taten nicht nur nicht leugnen, sondern die sie zum Beweis und zur Bekräftigung seiner Liebe ausdrücklich dienlich machen. Die Kaskaden von Höllenbote, schnöder Teufel, Klumpen schnöder Missgestalt, Schurke, giftger Abschaum, Höllenknecht unterläuft er, ohne seine Schandtaten zu leugnen, durch zynische Zärtlichkeiten wie süße Heilge, Engel, göttlich Urbild, hold Geschöpf. Das sind keine Antworten auf das „Warum“ dieser Taten, die er selber als tadelnswert verurteilt. Das „Warum“, das Motiv des Täters, des Verursachers grausamer Wirkung – bitte zu Protokoll zu nehmen –, das Motiv war Liebe. Gloster Eur Reiz allein war Ursach dieser Wirkung, Eur Reiz, der heim mich sucht’ in meinem Schlaf, Von aller Welt den Tod zu unternehmen Für eine Stund an eurem süßen Busen. (I,2)

Nicht nur den Tod des Schwiegervaters und den des Ehgemahls nimmt er billigend in Kauf – nein, er würde die ganze Welt für eine Stunde der Liebe hingeben. Er dreht den Spieß um und erklärt es als widernatürlich, dass sie sich an dem Mann zu rächen wünscht, der sie liebt. Mehr noch … Gloster Der dich beraubte, Herrin, deines Gatten, Tats, dir zu schaffen einen bessern Gatten. (I,2)

Lady Anna • 145

Je monströser die Begründungen seiner Liebe, um so hilfloser die Repliken. „Sie speit nach ihm“, sagt die Regieanweisung. Die Partie geht in einen Monolog Richards über, in dem Anna nur noch mit stummen hilflosen Gesten agiert. Nicht weil er ihre Schönheit preist, macht sie aus Eitelkeit weich; wenn es überhaupt eine Erklärung für ihr unerklärliches Verhalten gibt, dann sind es die Tränen dieses Teufels, die sie weich machen. Nie habe er geweint, nie sei aus seinem Auge eine Mitleidträne geflossen, aber ihr Auge erpresste seinen Augen salzige Tränen, und was kein Leid je vermochte – und er hat viel Leid gesehen und verursacht in seinem Leben –, Gloster Das that dein Reiz, und macht es blind vom Weinen! (I,2)

Sie sieht ihn hilflos und verächtlich an und zum Beweis seiner Scham und Reue fällt er auf seine Knie. Gloster Kann nicht verzeihn dein rachbegierig Herz, So biet’ ich, sieh! dieß scharfgespitzte Schwert; Birgs, wenn du willst, in dieser treuen Brust, Und laß die Seel’ heraus, die dich vergöttert: Ich lege sie dem Todesstreiche bloß, Und bitt’, in Demuth knieend, um den Tod. (er entblößt seine Brust, sie zielt mit dem Degen nach ihm) (I,2)

Da wird sie schwach, beziehungsweise so stark ist sie nicht, um ihm den „Todesstreich“ zu geben. Das kann sie nicht und er legt nach. Gloster Nein, zögre nicht: ich schlug ja König Heinrich, Doch deine Schönheit reizte mich dazu. Nur zu! Denn ich erstach den jungen Eduard: (sie zielt wieder nach seiner Brust) Jedoch dein himmlisch Antlitz trieb mich an. (sie läßt den Degen fallen) Nimm auf den Degen, oder nimm mich auf. (I,2)

Den Degen nimmt sie nicht auf. Dazu ist das Kind in der tiefbeleidigten Frau nicht fähig. Ihr Mut, ihre Entschlossenheit, sind nicht hinreichend, um eine Judith zu sein, die ein blutiges Exempel statuieren könnte; sie ist auch keine Megäre, keine rasend wütende Frau wie Margaretha, ihre Schwiegermutter, die den Herzog von York

146 • Lady Anna

nicht nur höhnisch verspottete, sondern auch brutal erstach. Sie ist aber auch keine friedlich fromme Heilige, die ihrem Peiniger christlich verzeiht. Sie knickt einfach ein, ein schwaches Weib, hilflos und wehrlos, und nimmt den Ring an, den ihr Richard reicht. Sie wünschte eben noch seinen Tod, dessen Vollstreckerin sie nicht sein kann, und glaubt seinen Tränen und seiner Reue. Sie gibt dem Teufel den kleinen Finger und sie ist mit Haut und Haar des Teufels, der bekanntlich sofort die ganze Hand nimmt. Sie stimmt ihrem schnellen Untergang zu, den der Teufel routiniert von allem Anfang eingeplant hat. Nachdem Prinzessin Anna mit einem verhuschten „Lebewohl“ – man muss sich dieses Wort in dieser Situation zweimal auf der Zunge zergehen lassen – abgegangen ist, setzt Richard zu seinem die Horrorszene abschließenden Monolog an. Sein Anfang ist sprichwörtlich geworden, Lady Annas Schicksal lässt sich kürzer, lapidarer und trockener kaum beschreiben. Gloster Ward je in dieser Laun’ ein Weib gefreit? Ward je in dieser Laun’ ein Weib gewonnen? Ich will sie haben, doch nicht lang behalten. (I,2)

Annas Entschluss, Königin von England zu werden, ist eine starke Szene; ihr Wiederauftritt, in dem sie zur Krönung gerufen wird, versucht noch eine kleine Rechtfertigung dieses Entschlusses vom Eingang des Stücks zu geben; sie bleibt matt. Anna Und sieh, eh ich den Fluch kann wiederholen, In solcher Schnelle, ward mein Weiberherz Gröblich bestrickt von seinen Honigworten, Und unterwürfig meinem eignen Fluch, Der stets seitdem mein Auge wach erhielt: Denn niemals Eine Stund’ in seinem Bett Genoß ich noch den goldnen Thau des Schlafs, Daß seine bangen Träume nicht mich schreckten. Auch haßt er mich um meinen Vater Warwick Und wird mich sicherlich in kurzem los. (IV,1)

„Gefährlich krank sei Anna“ (IV,2), lässt Richard bereits in der nächsten Szene als Gerücht streuen und in der darauffolgenden Szene erfahren wir völlig beiläufig und in zynischer Trockenheit von ihrem Tod:

Lady Anna • 147

König Richard Und Anna sagte gute Nacht der Welt. (IV,3)

König Richard spricht von ihrem Tod nicht zuletzt deshalb so ungerührt, weil absolute Kälte im Wesen des Bösen liegt, sondern weil er in der nächsten Szene bereits zu einer weiteren Brautwerbung ansetzt, indem er seine Schwägerin, die Königin-Witwe Elisabeth, verwitwete Lady Grey, in satanischer Weise um die Hand ihrer Tochter bittet. Die Szene ist vergleichbar monströs, hat er doch eben ihre beiden Söhne, respektive die beiden kleinen Prinzen-Brüder, ermorden lassen. Diesmal ist seiner Werbung kein Glück beschieden. Der Gang der Entwicklung verläuft anders. Elisabeths Tochter Elisabeth wird Stammmutter der Tudor-Dynastie. Das zeigt, dass manche Geschichten in einer entarteten Welt ausnahmsweise sogar gut ausgehen. Jedenfalls begründet sich der Tudor-Mythos gegen das berühmte Diktum: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Aber ein Mythos ist eine märchenhafte weiche Wahrheit; die Geschichte dagegen kennt eher harte Wahrheiten und bleibt auch weiterhin nicht frei von Grausamkeit und Tod. Hoffen wir, dass die augenblickliche Geschichte, die ein entarteter Mann namens Putin in einem außer Kontrolle geratenen Szenarium zu spielen versucht, ein Ende finden möge, wie der Böse in seiner Tragödie. König Richard Ein Pferd! Ein Pferd! Mein Königreich für’n Pferd! (V,4) deutsche Übersetzung: August Wilhelm von Schlegel

Ämilia, Äbtissin zu Ephesus • 149

Ämilia, Äbtissin zu Ephesus Die Komödie der Irrungen (1592 / 1594)

designed by Joseph John Jenkins and engraved by C. Cook

150 • Ämilia, Äbtissin zu Ephesus

Ämilia, Äbtissin zu Ephesus • 151

In der Klosterpforte steht eine Nonne und versperrt mit sanft zurückweisender rechter Hand einer Frau den Eintritt, indem sie entschieden erklärt: Aebtissin Sey still, und geh von hier; ich geb ihn nicht. (Aebtissin geht ab) (V,1)

Eben hatte sich ein Mann – vielleicht vor zehn Minuten – begleitet von einem Diener ins Kloster geflüchtet. Er hatte mit einem anderen Mann Händel begonnen und beide zogen blank. Das konnte einem täglich auf den Straßen Londons passieren, dass man „gefordert“ wurde; warum nicht auch auf dem Theater ob im italienischen Verona oder im kleinasiatisch-nachantik-christlichen Ephesus, das schon der Hl. Paulus mit einem Brief beehrt hatte. Der geistert unterschwellig durch das Stück in Sachen christlicher Ehemoral. In dieser Stadt, in Ephesus, befinden wir uns, und zwar schon ganze vier verwirrende Akte lang, die aber nicht länger als einen halben Tag währen. Über Shakespeares konzentrierter Komödienwelt waltet allerorten Verwirrnis in Sehen und Handeln und sie ist voller verwirrter Rede. Der Kampf, vermutlich mit Stoßdegen und Dolch, wird augenblicklich beendet, bevor er angefangen hat, weil drei Frauen in Dienerbegleitung dazwischenkommen. Die Damen kennt der Zuschauer schon vom Beginn der „Komödie der Irrungen“. Sie heißen Adriana und Luciana. Es sind Schwestern, vielleicht 25 Jahre jung, und Adriana glaubt in dem einen Kämpfer ihren Mann erkannt zu haben. Adriana Halt! Thut ihm nichts! Um Gott, er ist verrückt; Führt ihn von hier, nehmt ihm den Degen weg; Auch Dromio bindet; bringt sie in mein Haus! (V,1)

Laufen wir, Herr, schreit der Diener; bevor man uns fängt, laufen wir hier ins Kloster. Da müssen sie uns Kirchenasyl geben, selbst wenn wir aus Syrakus sind. Zwischen den beiden Stadtstaaten

152 • Ämilia, Äbtissin zu Ephesus

herrscht nämlich erbitterte Feindschaft wegen Handelsstreitigkeiten. Gesagt, getan, sie flüchten sich in die Abtei, aus der die Äbtissin ob des Geschreis auftritt und die Szene beruhigt. Mit der erregten Frau Adriana, der Gattin des allbekannten und ehrengeachteten Kaufmanns Antipholus von Ephesus, gelingt der Beruhigungsversuch weniger gut. Sie drängt darauf zu ihrem „tollen Mann“ vorgelassen zu werden, damit man ihn binde und zur Genesung nach Hause bringe. Klar sagen die Umstehenden, der war doch von Anfang an merkwürdig und nicht recht bei Sinnen. Geschäftlich routiniert frägt die Äbtissin nach, seit wann denn dieser Wahnsinn ihres Mannes zu bemerken war. Schon seit letzter Woche sei er komisch gewesen, aber heute sei es besonders schlimm geworden. Die Äbtissin frägt nach Gründen: Kaufmännische Verluste? Todesfall? Liebeskummer bzw. Seitensprung? – Letzteres könnte sein. Ob es ein guter Rat der Äbtissin ist, der Frau zu empfehlen, dass sie ihm solche Affären verweisen solle, bleibt dahingestellt. Jedenfalls ist klar – und jetzt spult die Klosterfrau ihr ganzes diagnostisches Wissen ab –, dass der Mann verrückt sein müsse. Aebtissin Und deßhalb fiel der Mann in Wahnsinn endlich. Das gift’ge Schrein der eifersücht’gen Frau Wirkt tödtlicher als tollen Hundes Zahn. Es scheint, dein Zanken hindert’ ihn am Schlaf, Und daher kams, daß ihm der Sinn verdüstert. Du sagst, sein Mahl ward ihm durch Schmähn verwürzt; Unruhig Essen giebt ein schlecht Verdaun, Daher entstand des Fiebers heiße Glut; Und was ist Fieber, als ein Wahnsinn-Schauer? Du sagst, dein Toben störte seine Lust; Wo süß Erholen mangelt, was kann folgen, Als trübe Schwermuth und Melancholie, Der grimmigen Verzweiflung nah verwandt? Und hintendrein zahllos ein siecher Schwarm Von bleichen Übeln und des Lebens Mördern? Das Mahl, den Scherz, den süßen Schlummer wehren, Verwirrt den Geist und muß den Sinn zerstören; Und hieraus folgt: durch deine Eifersucht Ward dein Gemahl von Tollheit heimgesucht. – (V,1)

Sie, die Ehefrau, findet die Diagnose einleuchtend – das bestätigt ihr der Verlauf des heutigen Tages –, aber nicht, dass die Kirchenfrau ihren Mann in Pflege nimmt.

Ämilia, Äbtissin zu Ephesus • 153

Adriana Ich pflege meinen Mann und steh ihm bei Als Krankenwärterin, das ist mein Amt; Und keinen Anwalt duld ich, als mich selbst, Und deßhalb soll er mir nach Hause folgen. (V,1)

Das Gerangel um die Pflege ist natürlich einigermaßen kurios, denn, was der Zuschauer im Unterschied zu den Damen schon weiß, die Herren im Frauenkloster sind nicht das, was sie scheinen. Die Äbtissin macht es kurz und schließt vor der vermeintlichen Ehefrau das Tor. Da gehen wir zum Herzog, sagt die Schwester, das ist eine Frechheit; wie die sich aufspielt. Und tatsächlich kommt der Herzog um die Ecke und steuert mit einem Gefangenen das Hochgericht hinter dem Kloster an. Der soll gehängt werden. Er, das ist ein würdiger Syrakuser Kaufmann namens Ägeon – aber, tut uns leid, so der eher mitfühlende Herzog, wir haben Handelskrieg. – Sehr schön, sagt Angelo, der Goldschmied: „Schaun wir seinen Tod“. Wegen seiner Kette hatte der Streit nämlich begonnen. Adriana wirft sich vor dem Herzog auf die Knie, und der ganze Pulk einschließlich des Scharfrichters und der Gerichtsdiener kommt zum Stillstand. Bevor er die Damen anhört, macht der Herzog noch einmal bekannt, dass sein Todeskandidat mit 1000 Mark ausgelöst werden könne. Aber Adriana schreit nach Gerechtigkeit gegen die Äbtissin. Er hört ihr erstaunlich geduldig zu, und sie erzählt, was heute alles an Seltsamkeiten vorgefallen ist. Ihr Mann fabulierte von Ketten und Ringen, hatte sie scheinbar geraubt; sie ließ ihn schon einmal festsetzen, aber da entkam er wieder, und eben jetzt hat er erneut Händel angefangen. Aber die Äbtissin gibt ihn nicht heraus. Der Herzog, der den im Krieg verdienten Mann gut kennt, bittet die tugendhafte Klostervorsteherin zu holen. Da kommt ein Diener aus Adrianas Haus angerannt und vermeldet, dass sein Herr mitsamt dem Diener zuhause sich befreit habe und dass beide ziemlich viel Unsinn angestellt hätten. Er sei auf dem Weg hierher, um ihr das Gesicht zu polieren. Sie widerspricht ihm, weil Diener in diesem Stück grundsätzlich der Lüge geziehen und dafür verprügelt werden. Zum Beweis des Gegenteils kommt ihr Mann Antipholus tatsächlich mit seinem Diener Dromio unter großem Lärm auf die Szene. Es ist heute sowieso alles ziemlich gespenstisch, so dass für Adriana feststeht:

154 • Ämilia, Äbtissin zu Ephesus

Adriana Er ist unsichtbar durch die Luft geführt; Noch eben hielt das Kloster ihn verwahrt, Nun ist er hier, und kein Verstand begreifts. (V,1)

Jetzt wirft sich Antipholus vor dem Herzog ins Zeug und bittet um Gerechtigkeit, weil seine Frau ihm heute über alles Maß Schmach und Spott und Schimpf und Schande gemacht habe. Der Todeskandidat im Hintergrund blinzelt ungläubig in seiner Todesfurcht, weil er in Antipholus seinen Sohn und dessen Diener Dromio erkennt, auf deren Suche er von Syrakus ins lebensgefährliche Ephesus gekommen ist. Vorerst lässt er die Sache aber stillschweigend weiterlaufen. Er hat seinen Verdacht „beiseite“ gesprochen, d.h. für die Zuschauer. Die haben in diesem Stück immer einen Informationsvorsprung gegenüber dem Personal der Komödie. Der Herzog hört sich an, dass der arme Ehemann heute aus dem Haus gesperrt wurde, während seine Frau drinnen mit unbekanntem Gesindel gefeiert hat. Das ist schon schlimm, liebe Frau, meint der Herzog. Das stimmt überhaupt nicht, schwört die Frau. Ich, er und meine Schwester hier – sie kann es bezeugen – saßen beim Mittagsmahl zusammen. Ich will sterben, wenn das nicht stimmt! Die Geschichte kommt einem irgendwie bekannt vor, und wer sie nicht von dem antiken römischen Komödiendichter Plautus kennt (von ihm hat sie Shakespeare übernommen), der kennt sie als theaterbeflissener Mensch aus dem Stück „Amphitryon“ von Heinrich von Kleist. Dort heißen die beiden Amphitryon und Sosias und die Frau Alkmene. Ich bin doch nicht besoffen, sagt Antipholus, der Ehemann, und erzählt nun die Geschichte, wie er seinen Tag erlebt hat, nachdem ihn Adriana vom Mittagsmahl ausgeschlossen hatte. Der Goldschmied Angelo – hier steht er – kann es bezeugen. Bei ihm hat er eine Kette bestellt und um deren Bezahlung gab es unerklärliches Kuddelmuddel. Er ging dann außer Haus zum Essen, und als er dann später erneut in sein Haus zurückwollte, wurde er von Frau und Schwägerin und einem ganzen Pack von mitverschworenem Volk überfallen, gefesselt und in ein Kellerloch seines Hauses geworfen. Unter großer Mühe konnte er seine Fesseln zernagen und dann ….. bin ich sofort zu euch, mein Herr, gelaufen und bitte um Vergeltung für diese Schmach. Die Kette?, denkt der Herzog, wo ist diese verdammte Kette. Alle,

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sagt der Goldschmied, haben sie doch an seinem Hals gesehen, als er hier ins Kloster lief. Um sie gings doch bei dem gerade noch verhinderten Zweikampf. Aber Antipholus schwört Stein und Bein, dass er nie eine Kette gesehen hat und dass er nie im Klosterhof war. Herzog Ei, was ist dieß für ein verwirrter Handel! Ich glaub’, ihr Alle trankt aus Circe’s Becher. Verschloßt ihr ihn im Kloster, wär er drin; Wär er verrückt, er spräche nicht so ruhig; […] Nun, das ist seltsam! Ruft mir die Aebtissin; Ihr Alle seid verwirrt, wo nicht verrückt. (V,1)

Während man die Äbtissin holt, meldet sich der Todeskandidat im Hintergrund. Hallo, ich hätte da auch noch einen kleinen Beitrag zum Verrücktwerden. Du bist doch Antipholus und du sein Diener Dromio. Ihr kennt mich doch! – Nein? – Nie gesehen?! Das gibt’s doch nicht, dass ich mich in sieben Jahren so verändert habe, dass mein Sohn weder mein Gesicht noch meine Stimme erkennt. Sohn, du bist doch von Syrakus losgezogen, um deinen Bruder zu suchen. Ich bin heimlicherweise hierhergekommen, um meinen Sohn, also dich, zu suchen. Antipholus verneint bedauernd und der Herzog bestätigt, dass sein tapferer Antipholus noch nie in Syrakus war. Sei nicht kindisch alter Mann, du bist verwirrt wegen der Hinrichtung. Gott sei Dank, dass nun endlich die Äbtissin kommt. Sie hat zwei Männer dabei, Antipholus und Dromio. Großes Erstaunen! Alle drängen sich die Männer zu sehen, und Adriana ruft erstaunt und entzückt zugleich: Adriana Zwei Gatten seh ich, täuscht mich nicht mein Auge! (V,1)

Und der Herzog kommt ins Philosophieren, als da plötzlich Antipholus und Dromio je zweimal dastehen. Herzog Der eine ist des andern Genius; Doch nun, wer ist von beiden ächter Mensch Und wer Erscheinung? Wer entziffert sie? (V,1)

Endlich hat Shakespeare alle Protagonisten des Stücks gleichzeitig auf der Bühne, so dass er nun die Knoten und Verwirrungen lösen kann. Er öffnet seinen Protagonisten die Augen: der Gattin, die den

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Gatten verkannte, weil es ihn zweimal gab; den Herren, weil die Diener gedoppelt waren; den Dienern, weil die ständig überkreuz falsch bedienten und dafür zu Unrecht Prügel bezogen. Die Schwägerin wusste nichts mit dem verliebten Schwager anzufangen, und am Ende muss der zum Tode verurteilte Vater einsehen, warum sein Sohn ihn nicht erkennen konnte. Es gibt da einen Antipholus von Syrakus und einen Antipholus von Ephesus und ebenso einen Dromio von Syrakus und einen von Ephesus. Die einen wie die anderen sind Zwillinge. Und die Äbtissin? Sie schaut den zum Tod verurteilten und gefesselten Mann hinter dem Herzog an und sagt: Aebtissin Wer ihn auch band, die Bande lös’ ich jetzt, Und seine Freiheit schafft mir einen Gatten. Sprich, Greis Aegeon, wenn du’s selber bist, War nicht Aemilie deine Gattin einst, Die dir ein schönes Zwillingspaar geschenkt? O wenn du der Aegeon bist, so sprich, Und sprich zu ihr, der nämlichen Aemilia! (V,1)

Das ist aber eine schöne Überraschung in letzter Minute. Hoffentlich ist es kein Traum, meint Ägeon. Und der Herzog kombiniert sich die Geschichte von heute Morgen, die ihm Ägeon nach seiner Aburteilung noch ganz leutselig erzählt hat, mit den Ereignissen hier auf der Straße zusammen. Herzog Das paßt ja zu der Mähr von heute Morgen! Die zwei Antipholus, so täuschend gleich, Und die zwei Dromio, Eins dem Ansehn nach; Dazu der Schiffbruch, dessen sie gedenkt! – Dieß sind die Eltern dieser beiden Söhne, Die sich durch Zufall endlich wiederfinden.

Nun beginnen sich die Gedoppelten zu sortieren. Warst du oder du heute zum Mittagessen bei mir? Bist du oder du mein Schwager? Welcher Dromio hat welchem Antipholus das Geld für die Kette des Goldschmieds gebracht? Habe ich es dir oder dir gegeben? Das ist schon ziemlich schwierig und wird noch schwieriger – und zugegeben noch lustiger –, weil die Brüderpaare an diesem Zufallstag auch noch die gleichen Kleider tragen. Aber alles ist plötzlich in Ordnung. Die Kette ist da, das Geld für die Kette ist auch da. Der

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Herzog ist großzügig und will es partout nicht für den Gefangenen haben. Natürlich bleibt euer Vater am Leben, sagt er bestimmt, und die Äbtissin lädt alle zu einer Runde ins Kloster, um allen Beteiligten zu erzählen, wie gut es das Schicksal letztendlich doch gemeint hat. Aebtissin Erhabner Fürst, geruht euch zu bemühn, Mit uns in die Abtei hineinzugehn Und unser ganzes Schicksal zu vernehmen. Und Alle, die ihr hier versammelt seid Und littet durch die vielverschlungne Irrung Des Einen Tags, Gesellschaft leistet uns, Und wir versprechen, euch genug zu thun. Ja, Fünf und zwanzig Jahr’ lag ich in Weh’n Mit euch, ihr Söhn’, und erst in dieser Stunde Genas ich froh von meiner schweren Bürde. – Der Fürst, mein Gatte, meine beiden Kinder, Ihr, die Kalender ihrem Wiegenfeste, Kommt mit hinein, wir feierns heut aufs beste; So eilt nach langem Gram zum Wiegenfeste! (V,1)

Das war eine lange und schwere Geburt mit letztendlich glücklichem Ausgang. Über die Dauer herrscht ein wenig Unklarheit. Aber 25 Jahre dauerte diese Geburt in jedem Falle, auch wenn in der Folio-Ausgabe fälschlich 33 Jahre steht. Die beteiligten Neugeborenen plus Anhang werden zur endgültigen Aufklärung über Herkunft und Querbeziehungen gebeten. Die Zuschauer der Komödie sind ohnehin im Bilde, nur der Leser der Beschreibung der Szene vor der Klosterpforte bedarf hier eines Nachtrags von heute Morgen. Er kann ja wie auch der Theaterbesucher nicht mit ins Kloster gehen, ist aber anders als der Zuschauer uninformiert über die Voraussetzungen der Geschichte. Den Nachtrag liefert/lieferte als eine Art Prolog der Kaufmann Ägeon aus Syrakus, der Ehemann der Ämilia, augenblicklich (noch) Äbtissin zu Ephesus. Sie hatte ihm Zwillingssöhne geboren – ununterscheidbar einander ähnlich. Deshalb erhielten sie auch beide den gleichen Namen: Antipholus. Wie es der Zufall so will, gebar im selben Wirtshaus – man war auf Reisen – eine arme Frau ebenfalls Zwillinge, die einander glichen wie ein Ei dem anderen. Man kaufte ihr die Knaben zum Dienst für die eigenen Zwillinge ab und nannte sie Dromio. Ämilia drängte auf die Heimreise von Epidam-

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nus (alles Wissenswerte finden Sie auf https://de.qwe.wiki/wiki/ Epidamnos), aber kaum war man auf See, geriet man in einen heftigen Sturm. Die Schiffsmannschaft türmte in den Rettungsboten und ließ die sechs Ägeons allein auf dem sinkenden Schiff. Ämilia, so der erzählende Ägeon, jammerte, die Knaben schrien ängstlich. Sie band die jüngeren Knaben an den Notmast, er die beiden anderen. Dann banden sie sich wechselseitig ans Ende des Mastbaums. Sie hatten Glück, denn der Sturm legte sich und zwei Schiffe nahten. Doch wenn es einmal hakt, dann gleich richtig, denn ehe sie die Schiffe erreichten, liefen sie auf ein Riff, das ihr lädiertes Fahrzeug endgültig zerschmetterte. Mit 25-jährigem Abstand erzählte der gut fünfzigjährige alte Mann dem Herzog in aller Vertraulichkeit am heutigen Morgen diese Geschichte, nachdem ihn der Zuhörer eben zum Tode verurteilt hatte. Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps: Mein Mitleid kannst du gerne haben, sagt der Herzog, aber Gnade geht nicht. Da muss ich mich ans Gesetz halten. Erzähl mir bitte, wie deine Geschichte weitergeht; du dauerst mich. Gleichverteilt, fährt Ägeon geschmeichelt fort, drei zu drei, wurden wir aufgefangen und gerettet, aber jeder Familienhälfte blieb verborgen, wohin die andere verfrachtet wurde. Jetzt schaltet sich wieder der Herzog mit der Bitte ein, ihm wenigstens seine halbe Familiengeschichte zu Ende zu erzählen. Bitte tu mir die Freundschaft! – Na gut, meint Ägeon, meinen Sohn überkam, als er achtzehn Jahre alt wurde, heiße Sehnsucht, seinen Bruder ausfindig zu machen. Ungern ließ ich ihn mit seinem Diener losziehen und musste über Jahre und Tage feststellen, dass ich nun auch den Rest der Familie verloren hatte. Sie waren wie verschollen. Also machte ich mich selbst auf die Suche, bin durch Zufall hier gelandet, durch Zufall in eure Hände gefallen, bin zum Tode verurteilt … Aegeon Und glücklich preis’ ich meinen frühen Tod, Gäb all’ mein Reisen mir Gewähr: sie lebten. (I,1)

„Unseliger Ägeon“, sagt der Herzog, du tust mir so leid, aber ich kann dich nicht begnadigen. Ich gebe dir aber noch bis heute Abend Zeit, ob du nicht vielleicht doch die 1000 Mark Lösegeld auftreiben kannst. Viel Glück! Bis später! Als der Zufall noch geholfen hat, brachte es ein weiterer Zufall mit sich, dass eben heute des Ägeon Sohn Antipholus von Syrakus

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mit seinem Diener Dromio aus Syrakus in Ephesus auftauchten, um ihre Zwillingsbrüder vielleicht in diesen Mauern zu finden. Sie wussten, dass es in Ephesus für Syrakuser gefährlich war, aber sie wussten nicht, dass ein weiterer schöner Zufall es mit sich brachte, dass in Ephesus ein gewisser Antipholus mit einem Sklaven Dromio und einer Ehefrau Adriana lebten. Der Herzog kannte alle drei eigentlich ganz gut, aber er brauchte ziemlich lange, bis er drei und drei zusammenzählen konnte. Bei so viel Zufällen ist es nicht verwunderlich, dass heute den ganzen Tag alle aneinander vorbeiliefen und einen ziemlichen Zirkus veranstalteten. Die Verwirrungen wurden dadurch noch größer, weil ein weiterer verrückter Zufall mitspielte. Sie hatten alle auch noch Zwillingskleider an. So quälten sich alle Protagonisten vier Akte lang zum Gaudium des Publikums auf der Suche nacheinander durch die Missverständnisse und Verknotungen, die sich vor der Haustüre der Äbtissin plötzlich in nichts – nein –, in eitel Wonne und Freude auflösten, und zwar für alle und jeden. Der Auftritt der Äbtissin kommt für alle überraschend, für die Figuren des Stücks und selbst für die stets vorbildlich über das qui pro quo der Verwirrungen erhabenen Zuschauer. Die Klosterfrau kommt als „dea ex machina“ und sorgt für ein glückliches Ende. Der schon seit der Antike bekannte dramaturgische Kniff mit Hilfe einer Gottheit die Lösung des Konflikts zu bewerkstelligen war eh und je beliebt bei den Dramatikern. Aber bei Shakespeare ist die „dea“ eine „dea“ und auch keine. Natürliche hatte keiner mehr die Mutter der Zwillinge auf der Rechnung und schon gar nicht in der Verwandlung einer Klostervorsteherin. Mit dieser Figur gelingt es Shakespeare einerseits die scheinbar allwissende Position des Zuschauers ein wenig zu erschüttern, als andererseits auch seiner dramatischen Paraphrase der antiken Vorlagen beim mechanischen Abspulen der Verwirrungen den Anschein einer höheren Ordnungsstruktur überzustülpen. Die lebenslang (25 Jahre) währende Suche (Queste), die späte Errettung und schlussendliche Wiedervereinigung der gesamten Familie verweist auf die mythischen Muster der späteren Romanzen. Das Muster hier ist eher ein poetisches Bild, das die Zeit der Trennung als eine langwierige schwere Geburt beschreibt. Endlich sind sie da, die gedoppelten Zwillinge; der Vater ist erlöst, die gekauften Sklaven werden dieser Familie zugerechnet, die Ehefrauen der Antipholusse auch, und nebenbei er-

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wähnt wie nebenbei gespielt erhält der syrakusische Antipholus die Schwester seiner Schwägerin, Luciana, zur Frau. Auch die Sklaven sind schon dabei sich zu paaren, so dass die Familiensaga sich als ein schönes und gelungenes Märchen von wiedergefundener und wiederhergestellter Identität präsentiert. Es zeigt sich locker und nicht mit schwerem Tiefgang, den erst Kleist dem Stoff gibt. Der vertieft das, was in Shakespeares „Komödie der Irrungen“ nur angedeutet ist. Sie ist ein ziemlich regelgerecht gebautes Stück und zeigt den Dichter als ausgebufften Könner in technisch-formaler Hinsicht. Aber schon diese relativ frühe Arbeit besitzt Schattierungen, die die der Komödie zugestanden Unwahrscheinlichkeiten in gespenstische Unmöglichkeiten verschwimmen lassen. Dazu gehören Einlassungen der Figuren, die sie weit über ihren Horizont hinaus in eine Art reflexives Koma stürzen. Antipholus (von Syrakus) Ist dies die Erd’? Ists Himmel oder Hölle? Schlaf ’oder wach ich? bin ich bei Verstand? Mir selbst ein Räthsel, bin ich hier bekannt? – Ich machs wie sie, und dabei will ich bleiben, Durch Nebel auf dem Meer des Schicksals treiben. (II,2)

Zuletzt bleibt neben der Merkwürdigkeit der Kleiderfrage für die Zwillinge – sie muss als zur Geschäftsgrundlage der Komödie gehörig nicht weiter verwundern – der Umstand bemerkenswert: Warum hat die Äbtissin 25 Jahre lang ihrem Sohn Antipholus, der doch in der gleichen Stadt lebte, verschwiegen, dass sie seine Mutter ist?1 deutsche Übersetzung: Wolf Graf Baudissin 1) Harold Bloom: Komödien und Historien, S. 54/55

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Der Widerspenstigen Zähmung (um 1593 / 1594)

designed by Francis Philip Stephanoff and engraved by C. Cook

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Der zweite Akt von Shakespeares Komödie „Der Widerspenstigen Zähmung“, auf den sich die Illustration bezieht, besteht nur aus einer Szene mit zwei Auftritten von Katharina, in denen die eigentliche Komödie vorbereitet wird. Der erste Auftritt versucht zu erklären, dass und warum sie sich vom Vater der jüngeren Schwester gegenüber zurückgesetzt fühlt, und der zweite Auftritt führt vor, dass sie vom Vater nicht verhökert werden möchte, wenn ein Heiratskandidat sich um sie bewirbt. Sie stellt sich zusammen mit ihrer Schwester Bianca dem Zuschauer allerdings in wenig vorteilhaftem Licht vor. Katharina hat ihr die Hände gebunden und hat sie geschlagen. Dann geht sie ab und kommt, vom Vater geschickt, um ihren schon vorab zur Heirat entschlossenen Freier Petruchio in Augenschein zu nehmen. Auch ihn schlägt sie und demonstriert, dass man sie besser in Ruhe lassen sollte. Dennoch wird über ihren Kopf hinweg schnell entschieden, dass sich Vater und Freier handelseinig sind. Petruchio bekräftigt, Katharina heiraten zu wollen, und der Vater bietet seine Hand zum Heiratskontrakt. Baptista Was soll ich dazu sagen? Gebt die Hand mir, Gott schenk’ euch Glück, mein Sohn; ihr seid ein Paar. Gremio und Tranio Amen von ganzem Herzen! Wir sind Zeugen. – (II,1)

Mit dieser Absprache ist in elisabethanischer Zeit eine Ehe rechtsverbindlich geschlossen und die Komödie, bevor sie eigentlich richtig begonnen hat, schon zu Ende. Dass sich eine Tochter dem für sie bestimmten Mann widersetzt, hat ziemlich oft den einen Grund, dass sie heimlich einen anderen Liebhaber gegen den Kandidaten des Vaters favorisiert. Zumeist ist dann eine Entführung oder eine Flucht als Fortsetzung der Handlung angesagt. Das war hier aber nicht der Fall; Katharina hatte keinen Liebhaber; sie wollte einfach keinen Mann; ihr Wunsch war, in Ruhe gelassen zu werden. Gleichwohl wurde nirgends gesagt, dass sie als alte Jungfer sterben wollte. Alles Böse, das ihr nachgesagt

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wird, kommt von dritter Seite, und das, was der draufgängerische Freier Petruchio von Freund Hortensio gehört hatte, klang gar nicht so übel. Hortensio Ich kann, Petruchio, dir ein Weib verschaffen Mit Geld genug, und jung und schön dazu, Erzogen, wie der Edelfrau geziemt: Ihr einz’ger Fehl, – und das ist Fehls genug, – Ist, daß sie unerträglich bös’ und wild, Zänkisch und trotzig über alles Maaß: (I,2)

Das ist ja viel besser, denkt Petruchio, als er sich das gedacht hat. Wenn er um der reichen Aussteuer Willen sogar eine hässliche Alte, gar eine prügelnde Xanthippe in Kauf genommen hätte, dann sollte er doch, wenn es mit rechten Dingen zugeht, ein solches Mädchen – schön, jung, gebildet – für sich einnehmen können. Er ist also vergleichsweise frei von Vorurteilen und er begegnet Katharina für den Fall des Falles mit einer Strategie, die völlig anders ist als die zeitgenössischen Bestrafungsriten und Zähmungsmethoden. Auch macht er sich nie lustig über sie und jede Gewalt ihr gegenüber ist ihm fremd. Petruchio

ich will sie hier erwarten, (Baptista, Tranio, Gremio und Hortensio ab) Und etwas dreist mich zeigen, wenn sie kommt. Schmält sie, erwidr’ ich ihr mit festem Ton, Sie singe lieblich gleich der Nachtigall. Blickt sie mit Wuth, sag’ ich, sie schau’ so klar Wie Morgenrosen, frisch vom Thau gewaschen. Und bleibt sie stumm, und spricht kein einzig Wort, So rühm’ ich ihr behendes Sprechtalent, Und sag’, die Redekunst sei herzentzückend. Sagt sie, ich soll mich packen, dank’ ich ihr, Als bäte sie mich, wochenlang zu bleiben: Schlägt sie mich aus, so frag’ ich nach dem Tag Des Aufgebots, und wann die Hochzeit sei? Da kommt sie schon! Und nun, Petruchio, sprich. (II)

Kommen, sehen, ein erster wechselseitiger Blick: Wir wissen heute, dass beim Kennenlernen zwischen Menschen, die eine Beziehung eingehen wollen, der erste ausdrucksstarke Blickkontakt von erheblicher Bedeutung ist. Die Entscheidung in „mag ich“

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oder „mag ich nicht“ findet in den ersten Sekunden eines Aufeinandertreffens statt – nach gerade einmal 30 Sekunden ist der erste Eindruck fertig, und der sagt im Falle von Käthchen und Petruchio: Wir mögen uns. Aber eine Einschränkung ihrerseits ist tief verinnerlicht: Ich lasse mich dennoch nicht verkaufen. Ich bin selbstbestimmt. Ich werde keine „schweigsame Frau“. Sie hat das deutlich nachgefragt. Catherina Ich bitt’ euch, Vater, ist’s eu’r Wille so, Mich auszuhökern allen diesen Kunden? (I,1)

Da ist eine deutlich erkennbare emanzipatorische Grundhaltung erkennbar, der der Vater, die Schwester und ihr soziales Umfeld mit großer Ablehnung begegnet. In witzigen Gesprächswendungen macht Katharina klar, dass sie nicht einfach zänkisch ist, sondern geistreich kontern kann; vergleichbar wortspielerisches Ping-Pong gibt es bei Shakespeare zu Hauf. Das, was allerdings heftig ist: Sie schlägt Petruchio; aber er war vorwitzig mit einer ziemlich obszönen Replik. Allerdings stellt er klar, dass er sich keine schlagende Xanthippe bieten lässt. Da ist er Manns genug. Petruchio Mein Seel, du kriegst eins, wenn du noch mal schlägst! (II,1)

Von machohaft übergriffigem Verhalten kann nicht wirklich die Rede sein. Eher im Gegenteil, er hält eine kleine Laudatio auf ihren Liebreiz. Petruchio Nicht dran zu denken: du bist allerliebst! – Ich hörte, du seist rauh und spröd’ und wild, Und sehe nun, daß dich der Ruf verläumdet: Denn scherzhaft bist du, schelmisch, äußerst höflich, Nicht schnelles Wort, doch süß wie Frühlingsblumen: Du kannst nicht zürnen, kannst nicht finster blicken, Wie böse Weiber thun, die Lippe beißen: Du magst Niemand im Reden überhau’n, Mit Sanftmuth unterhältst du deine Freier, Mit freundlichem Gespräch und süßen Phrasen. – Was fabelt denn die Welt, daß Käthchen hinkt? O böse Welt! Sieh, gleich der Haselgerte Ist Käthchen schlank und grad und braun von Farbe Wie Haselnüss’ und süßer als ihr Kern. (II,1)

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Und wie das bei Lobreden so geht, er trägt mit einiger Ironie ein wenig auf, und sie quittiert fast verlegen vor so viel Komplimentiererei. Catherina Geh’, Narr, befiehl den Leuten, die du lohnst! – (II)

Es folgen noch ein paar harmlose Sticheleien, dann kommt er geschäftsmäßig zur Sache. Petruchio Bei Seite setzend alles dieß Geschwätz, Sag’ ich euch rund heraus: eu’r Vater giebt Euch mir zur Frau: die Mitgift ward bestimmt, Und wollt ihrs oder nicht, ihr werdet mein. Nun, Käthchen, ich bin grad’ ein Mann für dich; Denn bei dem Sonnenlicht, das schön dich zeigt, Und zwar so schön, daß ich dir gut seyn muß, Kein Andrer darf dein Ehmann seyn als ich. Ich ward geboren, dich zu zähmen, Käthchen, Dich aus ‘nem wilden Kätzchen zu ‘nem Käthchen Zu wandeln, zahm wie andre fromme Käthchen. Dein Vater kommt zurück, nun sprich nicht nein, Ich will und muß zur Frau Cathrinen haben. (II,1)

Katharina verschlägt es für einen Augenblick die Sprache. Der will mich; das gibt es doch gar nicht! Alle raten von ihr als einer Furie ab; alle haben nur Bianca im Blick. Dass sie per Handschlag zwischen Vater und Bräutigam als Ware verhandelt wird, ist eins und üblich und nicht wirklich überraschend. Dass ihre Strategie der Abwehr, die bisher alle Freier zurückschrecken ließ, sich bei Petruchio als Fehlkalkulation erweist, das verwirrt sie nachhaltig. Der Vater bemerkt ihr blankes Entsetzen. Baptista Nun, Tochter Catharina? So verstört?

Dass der Vater ihr den „halbtollen“ Burschen zumutet, war nicht anders zu erwarten. Der Vater hat sie, wie auch die Schwester Bianca nie gemocht. Nennt mich nicht Tochter, wehrt sie seine Fürsorge ab. Aber dass sich einer fand, der sie durchschaut hat, dass da einer steht, der es wagt, sich mit ihr einzulassen, ist wie ein coup de foudre, den sie erst zunehmend verarbeiten muss. Natürlich, sie wehrt sich zunächst und sie wehrt sich heftig, aber das ist der Sinn,

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um eine Komödie fürs Publikum in Gang zu setzen, die diese Verarbeitung sowohl zum Gaudium des grobschlächtigen Publikums als auch für das empfindsame Publikum leistet. Das ist ein Balanceakt Shakespeares, der in seinen Subtilitäten nicht leicht zu durchschauen ist. Es bedarf eines gewissen Maßes an psychologischer und ästhetischer Sensibilität, um zu spüren, dass die Antwort auf die Frage, wer in der eben geschlossenen Verbindung im weiteren Verlauf des Stückes wen therapiert oder in seinen manischen Irrsinnsanfällen zähmt, nicht immer leicht fällt. Um den An-Schein vom Sein zu trennen, bedarf es guter Ohren für den Ton, der am Ende die Musik macht. Für People of Cancel Culture ist das Stück natürlich nicht satisfaktionsfähig. Wer im Kosmos Shakespeares ein wenig bewandert ist, wird bei dieser Aufstellung zunächst einmal wieder den Meister der Gattung „Werbungsszene“ erkennen und den Meister, der sie auch noch selbstbespiegelnd kommentieren kann. Das neue Brautpaar geht (noch!) nach verschiedenen Seiten ab, und der schon ältliche Freier Gremio der jüngeren Schwester Bianca kommentiert erstaunt: Gremio Ward je ein Paar so schnell zusamm’ gekuppelt? – (II,1)

Das erinnert doch sehr an Richard III. und Lady Anna: „Ward je in dieser Laun ein Weib gefreit.“ Shakespeare war einfach ein Meister in lauter verrückten Situationen. Der Bogen der eigentlichen Komödie reicht von diesem Abgang von Petruchio und Katharina zu verschiedenen Seiten bis zum happy end mit Abgang Hand in Hand durch die Mitte des Schauplatzes. Die Geschichte in dieser Komödie verläuft aber auf Umwegen in einer Art doppelt verkehrter Welt. Man(n) kann die Story sehen wie der Kesselflicker Christoph Schlau aus dem Rahmenspiel, das leider fast immer dem Rotstift der Dramaturgen zum Opfer fällt. Für ihn wird das Stück aber offensichtlich gespielt, und seine Zwischenbemerkungen in der Illusion der Illusion sind nicht ganz unwichtig. Frau/man kann die Geschichte aber auch sehen bzw. lesen aus Sicht empörter Frauen, die Shakespeare dieses Dressurstück nicht verzeihen. Zum dritten kann man es verstehen wie eine empfindsam sentimentalisch gestimmte Schnittmenge von Frauen und Männern – das scheint die Zielgruppe Shakespeares zu sein –, für die das Stück, so Elisabeth Bronfen in „radikaler Intimität“ endet.1

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Dann ist die Geste „unverlangter, freiwillig geschenkter Ergebenheit“ „ein symbolisches Bekenntnis einer tiefen und großherzigen Liebe“.2 Manchmal bedarf große Literatur philologischer „Hochseilakte“. Der Philosoph Odo Marquard bestätigt: „Die Hermeneutik ist die Kunst, aus einem Text herauszukriegen, was nicht drinsteht: wozu – wenn man doch den Text hat – brauchte man sie sonst?“3 Große Theaterliteratur bedarf auch inszenatorischer Hochseilakte, um aus dem Drama das herauszukriegen, was nicht drinsteht. Wozu bräuchte man sonst das Theater. Schon der nächste Auftritt Katharinas im dritten Akt konfrontiert uns mit einer Szene, aus dessen Text etwas zu lesen ist, was nicht direkt drinsteht. Es ist der Hochzeitstag und man wartet auf den Bräutigam. Katharina hatte als erste Reaktion auf den Heiratstermin am nächsten Sonntag angekündigt Catherina. Eh will ich nächsten Sonntag dich gehängt sehn. (II,1)

Weit entfernt ihren Petruchio gehängt sehen zu wollen, steht sie mit Vater und Schwester und deren Freiern vor dem Haus und wartet auf den Bräutigam. Scheinbar hat sie sich in ihr Schicksal ergeben. Petruchio hat sich aus feinem Kalkül verspätet und schon jammern alle über die Schmach seitens der verlachenden Öffentlichkeit. Diese Schmach behauptet Katharina aber allein als „ihre Schmach“, zu der sie doch gezwungen wurde. Tranios Vertröstung, Petruchio sei ein Mann von Ehre, der sein Wort ganz sicher halten werde, entringt ihr den Stoßseufzer Catherina. Hätt’ ich ihn nur mit Augen nie gesehn! – (III,2)

Sie erinnert sich sehr genau an diesen ersten Augen-Blick, den Anblick (visus), dem nach dem klassischen Modell der erotischen Stufenleiter zum Parnass, den „quinque lineae amoris“, vier weitere Stufen der Liebeshandlung folgen: allocutio/colloquium, contactus, basium, coitus4 Aber Shakespeare wäre nicht Shakespeare, wenn er das Modell nicht sehr variantenreich durchspielen würde. Immerhin, von „Aufhängen“ ist nicht mehr die Rede, sondern davon, dass die Braut weinend mit Bianca abgeht. Das steht nun wirklich nicht im Haupttext, sondern nur im Nebentext, und es wird mehr oder weniger dezent gespielt oder auch nicht. Der Zuschauer sieht es

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oder auch nicht. Selbst der Familienpatriarch wird einmal gerührt: Baptista Geh’ Mädchen, wenn du weinst, kann ich nicht schelten; Denn solche Schmach müßt’ eine Heil’ge kränken, Vielmehr so heft’gen Sinn und rasches Blut. (III,2)

Die Tränen fließen sicherlich nicht allein ob der Schmach sitzengelassen zu werden, sondern auch aus heimlich eingestandener Liebe. Katharina ist zutiefst verstört wie sonst an keiner Stelle. Ab hier beginnt eine Komödie, die auf den großen Schlussmonolog von Katharina hinführt, auf das doppelt skandalöse „Hohe Lied der absoluten Liebe“, und mündet in die fünfte Stufe. Der Bräutigam kommt schließlich doch noch. Die Hochzeit wird vollzogen. In dem komisch-verzerrten „Wie“ dieser Hochzeit und der weiteren absurden Abwicklung des Festes und der Heimreise durch Schmutz, Dreck und Kot – die Schlammschlacht wird zum kathartischen Moment der Handlung (IV,1) – zur inskünftigen Wohnung des Bräutigams werden dann therapeutische Möglichkeiten durchgespielt, die der Baukasten der Komödie bereitstellt, um Verhaltensänderungen der Persönlichkeit sowie Strukturänderungen zu erreichen. Das klingt von Autors Gnaden aus dem Munde seines Protagonisten so: Petruchio Ist sie unbändig, bin ich toll und wild: Und wo zwei wüth’ge Feuer sich begegnen, Vertilgen sie, was ihren Grimm genährt: Wenn kleiner Wind die kleine Flamme facht, So bläs’t der Sturm schnell Feu’r und Alles aus. Das bin ich ihr, und so fügt sie sich mir, Denn ich bin rauh, und werbe nicht als Kind. (II,1)

In den Augen ihrer Umwelt stellt sich der Umstand, dass Petruchio alles auf den Kopf stellt, sehr schnell als eine Verkehrung bisheriger Einschätzungen dar. Die Umstehenden erkennen sehr schnell, dass da eine Wandlung vorging. Er schafft ihr Jammer, er spielt nun den Teufel. Tranio Schlimmer als sie? Ei was! Das wär’ nicht möglich. Gremio Was! Er ist ein Teufel, ein Teufel, ein rechter Satan!

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Tranio Was! Sie ist ein Teufel, ein Teufel, des Teufels Großmutter! – Gremio Pah! gegen ihn ein Lamm, ein Kind, ein Täubchen! (III,2)

Seine Taktik verändert plötzlich die Sicht auf Katharina von dritter Seite. Aber sein raffinierter Plan geht weiter. Indem er alles auf den Kopf stellt, was Brauch und gesellschaftliche Regel erwartet, verändert er auch Katharinas Sicht auf sich selbst. Ihre bisherige Widerspenstigkeit zu ihrer Selbstbehauptung in wahrlich für Frauen nicht freundlichen Verhältnissen schwindet zunehmend unter den Vorzeichen seiner übertrieben liebenden Fürsorglichkeit bei gleichzeitiger Krawalligkeit gegen Dritte. Ihre Feindseligkeit schmilzt wie der Schnee vom vergangenen Jahr? Nach dem Ritt durch Schlamm, Matsch und Kot zeigt sich Katharina wie verändert und befreit in ihrem inneren emotionalen Haushalt. Catherina. Ich bitt’ dich, lieber Mann, sei nicht so unwirsch, Gut war das Essen, hättst du’s nur gemocht! (IV,1)

Und der Diener namens Peter, der die Szene beobachtet, bekommt einen Kommentarsatz, der zu den schönsten Sätzen der Weltliteratur für Nebendarsteller gehört. Peter. Die macht er todt in ihrer eignen Manier. (IV,1)

Der Satz ist ja entschieden klüger als die Sätze von Gremio und Tranio, die nur den Mannsteufel am Werk sehen, während der Petermann Petruchios Taktik durchschaut. Der spielt schlichtweg Theater und persifliert Katharinas Theater der Selbstbehauptung. Seine geistreiche Art durch übertreibende Nachahmung ihr verrutschtes Selbstbild zurechtzurücken, öffnet ihre Augen und erinnert sie an ihren ersten Blick, der ihr sagte, wir mögen uns. Wir sind ein Herz und eine Seele, aber wir müssen da noch ein paar Dinge, die dazwischenstehen, aus dem Weg räumen. Die Komödie ist kein Psychodrama und bedarf Futter für das Publikum, besonders für Christoph Schlau. Aus dessen kleinen Zwischenszenen tönt es laut an sein und unser Ohr: Lord Mylord, das ist doch bloß Theater, doch bloß Spaß.5

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Also gibt es immer noch einen Zuschlag komischer Didaktik vom Rektor in der Zähmungsschule (IV,2). Unterm „Schein der zartsten Liebe“, so Katharina, werden Szenen gestellt (Essens- und Schlafentzug / die Kleiderprobe / Uhrentest), die die Schauspieler brillieren lassen und dem „Affen“ im Parkett – stellvertretend der Kesselflicker als falscher Lord – Zucker geben. Aber es sind immer Varianten, denn Katharina hat längstens verstanden und spielt spätestens auf der Rückreise von Petruchios Landhaus nach Padua zu Vater und Schwester das Spiel in Variationen virtuos mit. Sie weiß sich frei von Bevormundung, weil sie sich angenommen fühlt, und erachtet Petruchios Tollheiten wie praktische Übungen, sich selbst besser zu verstehen und innere Distanz zu gewinnen. Natürlich weiß sie, dass es Unsinn ist, was er (spielerisch) behauptet, … Catherina Sei’s Mond und Sonn’ und was dir nur gefällt, Und wenn du willst, magst du’s ein Nachtlicht nennen; Ich schwör’, es soll für mich dasselbe seyn. (IV,5)

…aber sie spielt jetzt auf seiner Klaviatur vierhändig mit ihm. Ihre witzig-boshaften Repliken vom Beginn, sind nun spielerisch-devot, wohl wissend, dass sie unter Vorbehalt, mit Augenzwinkern gemacht werden. Sie setzt die neckischen Gesprächsverzierungen elegant fort. Petruchio Ich sag’, es ist der Mond. Catherina

Natürlich ists der Mond.

Petruchio Ei wie du lügst! ‘s ist ja die liebe Sonne! – Catherina Ja, lieber Gott! es ist die liebe Sonne! – Doch nicht die Sonne, wenn du’s anders willst: Der Mond auch wechselt, wie es dir gelüstet, Und wie du’s nennen willst, das ist es auch, Und solls gewiß für Catherinen seyn. (IV,5)

Und noch einmal wird ein solches Gesprächsspiel durchexerziert, als man auf den alten Vater von Lucentio, dem künftigen Schwager von Katharina, trifft. Genug der therapeutischen Proben! Nun kann man eine Therapie auch eine Zähmung, eine Zäh-

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mung auch Erziehung nennen. Das Erziehungsziel ist ein freiwilliger und kein erzwungener Kuss. In ihm besiegelt sich die Umwandlung von militärischer Haltung in zivilen Umgang, Und er darf, nein er muss sogar öffentlich stattfinden. Hatte Petruchio nach seinem Heiratsantrag erklärt, dass sie abgesprochen hätten, dass sich Katharina in Gesellschaft nach wie vor böse stellt (II), muss nun zur Beglaubigung Öffentlichkeit hergestellt werden. Sie treten aus dem Hausschatten und Petruchio bittet, bevor sie ins Haus gehen, um das Zeichen wechselseitiger Beteuerung. Petruchio Erst küsse mich, Käthchen, dann wollen wir gehn. Catherina Was! hier auf offner Straße? Petruchio Was? schämst du dich meiner? Catherina Nein, Gott bewahre; aber ich schäme mich, dich hier zu küssen. Petruchio Nun, dann nur fort nach Hause: he! Bursch! gleich reiten wir. Catherina Da hast du deinen Kuß: nicht wahr, nun bleibst du hier? Petruchio Ist das nun so nicht besser? Mein liebstes Käthchen, sieh: Einmal besser als keinmal, und besser spät als nie. (V,1)

Das war die Probe eines Kusses, die Premiere des Kusses kommt zum Finale, in dem Katharina die an sich dümmliche Männerwette um den Gehorsam ihrer Frauen in einer „Schlussarie“ gipfeln lässt, die unendlich weit entfernt von sadistischer Zähmung den Triumph ehelicher Liebe besingt. Katharina spricht, und Hand in Hand spricht Petruchio leise mit ihr; sie sprechen zueinander und gegen die Verlierer in dieser Komödie von der Vereinigung des Unvereinbaren. Die Zumutung des Monologs gedoppelt gesprochen beweist, dass Mann und Frau doch zueinander passen. Die Männer dürfen gerne mitsprechen, dass sie statt Krieg zu künden um Frieden knien sollten, dass sie unter ihrer Frauen Fuß die Hand zu legen bereit sind. Natürlich steht es so „nicht“ im Text, aber Hermeneutik lässt doch zu, gedanklich das Pronomen zu wechseln und szenisch einen Text auszudeuten. Nur so kann er gemeint sein.

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Hand in Hand aufsagen bzw. Lesen und Hand in Hand als gemeinsame Sieger abgehen, und zwar durch die Mitte. Catherina Pfui, pfui! entrunzle diese drohnde Stirn, Und schieß nicht zorn’ge Pfeil’ aus diesen Augen, Verwundend deinen König, Herrn, Regierer. Das tödtet Schönheit wie der Frost die Flur, Zerstört den Ruf wie Wirbelwind die Blüthen, Und niemals ist es recht noch liebenswerth. Ein zornig Weib ist gleich getrübter Quelle Unrein und sumpfig, widrig, ohne Schönheit: Und ist sie so, wird keiner, noch so durstig, Sie würd’gen, einen Tropfen draus zu schlürfen. Dein Ehmann ist dein Herr, ist dein Erhalter, Dein Licht, dein Haupt, dein Fürst; er sorgt für dich Und deinen Unterhalt, gibt seinen Leib Mühsel’ger Arbeit preis zu Land und Meer, Wacht Nächte durch in Sturm, und Tag’ in Kälte, Wenn du im Hause warm und sicher ruhst; Und fordert zum Ersatz nicht andern Lohn Als Liebe, freundlich Blicken und Gehorsam: Zu kleine Zahlung für so große Schuld. Die Pflicht, die der Vasall dem Fürsten zollt, Die ist die Frau auch schuldig ihrem Gatten. Und ist sie trotzend, launisch, trüb und bitter, Und nicht gehorsam billigem Gebot, Was ist sie als ein tückischer Rebell, Sünd’ger Verräther an dem lieben Herrn? Wie schäm’ ich mich, daß Frau’n so albern sind! Sie künden Krieg und sollten knieen um Frieden! O daß sie herrschen, lenken, trotzen wollen, Wo sie nur schweigen, lieben, dienen sollen! Weshalb ist unser Leib zart, sanft und weich, Kraftlos für Müh’ und Ungemach der Welt, Als daß ein weiches Herz, ein sanft Gemüthe Als zarter Gast die zarte Wohnung hüte? O kommt, ihr eigensinn’gen, schwachen Würmer! Mein Sinn war hart wie einer nur der euern, Mein Herz so groß, mein Grund vielleicht noch besser, Um Wort mit Wort, um Zorn mit Zorn zu schlagen: – Jetzt seh’ ich’s, unsre Lanzen sind nur Stroh, Gleich schwach wir selbst, schwach wie ein hülflos Kind, Scheinen wir nur, was wir am mind’sten sind. Drum dämpft den Trotz, beugt euch dem Mann entgegen,

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Ihm unter seinen Fuß die Hand zu legen: – Wenn ers befiehlt, zum Zeichen meiner Pflicht, Verweigert meine Hand den Dienst ihm nicht. (V,2)

Und wieder, wie auch bei „Heinrich V.“ (auch dort heißt die Frau Katharina), beschließt Shakespeare ein Stück mit einem vorbildhaften Kuss für den Balkon von Buckingham Palace von heute. Petruchio Das nenn’ ich eine Frau! Küß’ mich, mein Mädchen! – (V,2)

Das Ende ist nicht ein-, sondern zweideutig. Die Zweideutigkeit ist jenen Frauen, die den Monolog als den Gipfel eines „Problemstücks“ verstehen, verborgen geblieben. Harold Bloom behauptet an dieser Stelle, dass sie zeige, warum Shakespeare seine weiblichen Figuren den männlichen vorzog (Falstaff und Hamlet immer ausgenommen). Er erweitere, so sein Argument, „den Begriff des Menschlichen schon in diesem frühen Stück, indem er subtil suggeriert, dass die Frauen einen schärferen Sinn für die Wirklichkeit haben.“6 Und wir fügen hinzu, dass die Frauen die besseren Männer sind. Wer für die Zweideutigkeit natürlich überhaupt keinen Sinn hat, ist der grobschlächtige Zuschauer Christoph Schlau. Ihm hat es Shakespeare überlassen, den „Vollpfosten“ in der Rahmenkomödie zu spielen. So wie Petruchio zu sein scheint, so sieht er sich auch und möchte zu Hause einmal die Hosen anhaben. Er wird nämlich geschlagen; der Rahmen ist „Verkehrte Welt“, in der immer Xanthippe schlägt. Schlau Ich weiß jetzt, wie man Weibsteufel zahm macht, ich hab die ganze Nacht bis eben davon geträumt, und du hast mich geweckt aus dem besten Traum, was ich je im Leben gehabt hab. Aber ich geh jetzt schnurstracks heim zur Frau und zähm die auch, wenn die mich piesackt.7

Shakespeare müsste ein elend schlechter Autor gewesen sein, wenn er den sexistischen Wunsch dieses Mannes bedient hätte. Christoph Schlau verkennt völlig, dass da etwas gespielt wurde und zu einem Ende kommt, das in den ersten 30 Sekunden begann. Eine große, gleichberechtigte Liebe, in der es am Ende überhaupt nicht mehr um Herrschen und Beherrschen geht, sondern um eheliche Liebe. Sie ist vor lauter Sex ein wenig aus der Mode gekommen.

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*** Ich habe in meinem Leben einige Aufführungen von „Der Widerspenstigen Zähmung“ gesehen. Meine erste habe ich als sommerliche Produktion des Stadttheaters Landshut 1965 im Hof der Landshuter Residenz gesehen. In der Spielzeit 1967/68 hat mich das nämliche Stadttheater mit „Kiss Me Kate“ bezaubert, und dem angehenden Studenten der Theaterwissenschaft die Palette der Möglichkeiten theatralischen Zugriffs auf ein Thema höchst vergnüglich gezeigt. Ich sehe Kate und Fred und die beiden Ganoven noch immer vor Augen. 1971 konnte die Inszenierung von Otto Schenk am Bayerischen Staatsschauspiel mit Christine Ostermayer als Katharina und Klaus Maria Brandauer als Petruchio mich definitiv überzeugen, dass Shakespeare der erste Autor des Welttheaters ist. Er blieb es für mich auch in der Verfilmung der Komödie aus dem Jahre 1967 durch Franco Zeffirelli mit Elizabeth Taylor und Richard Burton in den Rollen des Traumpaars. John Crankos Ballettversion vom März 1969 in Stuttgart fügte sich mit Besuch in der Bayerischen Staatsoper 1976 in den Aufführungsreigen. Eine unglaubliche Begeisterung verschaffte mir dann Barrie Koskys Inszenierung aus dem Jahre 2008 von „Kiss me, Kate“ an der Komischen Oper in Berlin mit der furiosen Dagmar Manzel. Ich habe mir das Vergnügen drei Mal gestattet. Das Residenztheater in München bildet bisher den Abschluss der Besuche mit einer Inszenierung von Tina Lanik aus der Spielzeit 2012/13. Sie hat die Reise durch Schlamm und tiefem Matsch zu Petruchios Landhaus zum zentralen Einheitsschauplatz gemacht und darin eine „Schlammschlacht“ sondergleichen über den gesamten Abend veranstaltet. Es war atemberaubend, und Andrea Wenzl und Shenja Lacher boten eine Darstellung, die in einem absolut gelungenem Regietheaterkonzept überzeugend aufging. Leider hielt keine Inszenierung die Illusionierung der Illusion, das Rahmenspiel mit dem Kesselflicker, für nötig. Tania Lanik bemühte es als einen Traum einer betrunkenen Frau, was aber eher für Verunklärung sorgte. In allen Inszenierungen bestätigte tosender Schlussapplaus die Schlusszeilen von Käthchen. Nie wurden sie als Demütigung und Frauendressur missverstanden, sondern als tiefe innere Wahrheit wechselseitigen Verstehens und innigster Liebe. Sie haben sich zu-

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sammengerauft. Das ist Psychologie avant la lettre mit den Mitteln der Komödie. Strindberg hätte vermutlich Schwierigkeiten, ein Stück über Ehekrieg und -hölle der beiden Widerspenstigen zu schreiben. Die Ehe ihrer Schwester Bianca und die Ehe der Witwe böten sich aber an. Shakespeare legt es Petruchio für Strindberg in den Mund. Petruchio Nun, Käthchen, komm zu Bette: – Drei sind vermählt, doch zwei nur schlecht, ich wette. (V,2)

deutsche Übersetzung: Wolf Graf Baudissin 1) Elisabeth Bronfen: Liebe auf das erste Wort. Originalbeitrag für das Programmheft des Residenztheaters München zur Inszenierung von „Der Widerspenstigen Zähmung“ in der Spielzeit 2012/2013, S. 12 2) Frank Günther, Bd. 13, S. 246) 3) Odo Marquard: Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart: Reclam 1981, S. 117 4) Heinz Schlaffer: Musa iocosa. Gattungspoetik und Gattungsgeschichte der erotischen Dichtung in Deutschland, Stuttgart: Metzler 197, S. 77 5) Frank Günther, Bd. 13, S. 223 6) Harold Bloom, Komödien und Historien, S. 70 7) Frank Günther, Bd. 13, S. 225

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Prinzessin von Frankreich Liebes Leid und Lust (Verlorene Liebesmüh) (1593 / 1595)

designed by Joseph John Jenkins and engraved by C. Cook

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Die platonische Akademie ist schon gescheitert, bevor sie wirklich begonnen hatte. Sie besteht aus dem König von Navarra und drei Gefolgsmännern, von denen Biron dem asketischen Verzicht von Beginn an skeptisch gegenübersteht. Biron O trocknes Mühn! o allzu schwere Lasten! Studieren, keine Frau sehn, wachen, fasten! (I,1)

Man steht ganz zu Beginn im Park vor dem Königlichen Schloss und man steht zu Beginn des zweiten Akts von „Verlorene Liebesmüh“ noch immer im Park, als auch schon eine Prinzessin aus Frankreich mit drei Gefolgsdamen anrückt, die das Unternehmen einer platonischen Akademie vergessen machen. Während der König noch über ausstehende Rückzahlungen gegebener Darlehen verhandelt, beginnen König Ferdinands Mitstudenten den Begleiterinnen der Prinzessin schöne Augen zu machen. Kaum ist er abgegangen, sind die Damen schon verteilt und wir sind im dritten Akt, wenn wir die persiflierende Parallelhandlung beiseite lassen. Der dritte Akt informiert uns über einen Brief, den der verliebte Biron an die Dame namens Rosaline bestellen lässt, und schwupps sind wir – wiederum alle Satire des schwärmerisch-petrarkistischen Gehabes der abtrünnigen Akademiker ignorierend – im vierten Akt. Da springen wir in die dritte Szene, in der sich die Liebhaber in einer dreifach gesteigerten Belauschungsszene als Eidbrüchige ertappen. Biron belauscht den König, beide je aus ihrem Versteck den Longaville, und alle drei, ohne voneinander zu wissen, den Dumain. Jeder hat sich durch einen schwärmerisch-poetischen Erguss verraten; jeder tritt hervor, und sich wechselseitig beschuldigend hängen sie wie „vier Schnepfen an einem Spieß“ (IV3). Ohne große Skrupel formuliert Biron für die vier ein neues Credo: Biron Fasten, studiren, keine Frauen sehn; – Klarer Verrath am Königthum der Jugend!

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[…]

Aus Frauenaugen zieh ich diese Lehre; Sie sind der Grund, das Buch, die hohe Schule, Aus der Prometheus ächtes Feu’r entglüht. (IV,1 / (IV,3))

Was kümmert mich mein törichtes Geschwätz von gestern?, meint der König Sanct Amor denn! Und, Ritter, auf! In’s Feld! – (IV,1 / (IV,3))

Das bekräftigt auch

Longaville Nun, schlicht und ehrlich, ohne viel Figuren: Soll’n wir um die französ’schen Mädchen frein? (IV,1 / (IV,3))

Der vierte im Bunde, Dumain, ist froh über die gefundene „Tinktur für Meineid“ und verschreibt sich stillschweigend der neuen erotischen Akademie. Wir sind im fünften Akt, und wiederum die kontrastive Nebenhandlung des Commedia dell’arte-Personals beiseite gelassen sehen wir die Prinzessin von Frankreich von unserem Porträtisten in eine arkadisch-idyllische Landschaft gesetzt. Umgeben ist sie – aber das müssen wir uns denken – von ihren drei Hofdamen. Sie zeigt ihnen, was sie eben erhalten und was der Illustrator in ihren Händen zierlich arrangiert hat. Prinzessin Kinder, man macht uns reich, bevor wir reisen, Wenn Angebind’ in solcher Fülle kommen: Ein Fräulein, eingefaßt in Diamanten!

Seht, was mir sandte der verliebte Fürst. Rosaline Kam sonst, Prinzessin, nichts mit dem Geschenk? Prinzessin Nichts And’res? Ja, so viele Liebesreime, Als nur ein ganzer Bogen in sich faßt: Zwei Seiten, eng geschrieben, Rand und Alles, Und Amors Bild ins Siegelwachs gedrückt. (V,1 / (V,2))

Das Geschriebene wird vergleichsweise so klingen wie die in der vermeintlichen Einsamkeit des Waldes vorgetragenen lyrischen Liebesseufzer des Königs. Wer das Fräulein auf dem Medaillon ist, scheint weiter nicht wichtig. Die Mädchen machen ein paar kalauernde Repliken. Aber die Prinzessin ist neugierig und fragt zurück.

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Und wie könnte es anders sein, auch Fräulein Rosaline hat etwas von Herrn Biron bekommen. Der Cheferotiker beherrscht sein Handwerk und macht einen guten Versfuß, aber er übertreibt. Rosaline Ja, Verse hab’ ich auch, Dank Herrn Biron; Die Füße richtig, ging er nicht darauf Zu weit, ich wär’ der Erde schönste Göttin, Denn er vergleicht mich zwanzigtausend Schönen. Oh, mein Gemäld’ entwarf er in dem Brief! (V,1 / (V,2))

Die Frauen witzeln sich weiter und natürlich haben auch Katharine und Maria etwas bekommen. Katharine bekam Handschuhe und zehntausend schäferhafte Zeilen voller Übertreibung, aber total stümperhaft. Maria erhielt eine Perlenkette und einen langen Brief, in dem in jedem Dutzend Worte zwölf zu viel sind. Fazit der Prinzessin: Besser der Brief wäre kürzer und die Kette länger. So, und was tun wir jetzt mit ihrer Werbung? Sie fanden die akademisch etwas verstiegenen Jungmänner schon bei ihrer Ankunft komisch und jetzt als verliebte Dichterlinge schlicht lächerlich. In der Not schickt der Herr einen reitenden Boten. Herr Boyer, eine Art männliche Gouvernante der Prinzessin, tritt sich fast totlachend auf und vermeldet den Anmarsch des Königs und seiner verliebten Ritter. Boyet Vertheidigt euch! Geschütz ist aufgepflanzt, Eu’r Friede wird bedroht, man will euch haschen, Durch Liebesargument’ euch überraschen; Nun mustert euern Witz in Reih’ und Glied, Wo nicht, verhüllt euch feig das Haupt und flieht! (V,1 / (V,2))

In langer sich überstürzender Rede erzählt er von den Vorbereitungen und Verkleidungen des Quartetts, das er heimlich beobachten konnte. Die Mädchen sind entschlossen, dem Angriff standzuhalten, schauen sich aber dennoch verdutzt an. Prinzessin Im Ernst? Im Ernst? So kommen sie heran? Boyet Jawohl! Jawohl! Und stattlich angethan Als Moskowiten oder Russen; dann Wird man betheuern, schmeicheln, tanzen, schwören, Und jeder seine Liebesglut erklären

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Der eignen Dame, die er leicht erkannt Am eignen Schmuck, den er an sie gesandt. (V,1 / (V,2))

Spontan entwickelt die Prinzessin einen Gegenplan zum Überraschungscoup der Männer. Prinzessin So leicht, ihr Herrn? Das möchte noch sich fragen: Denn, Kinder, Masken laßt uns Alle tragen, Und Keinem der verliebten Schaar vergönnen, Das Antlitz seiner Schönen zu erkennen. Wart, Rosaline, nimm mein Kleinod hier, Dann schwört der Fürst als seiner Liebsten dir. Dich, Freundin, schmücke meins, und mich das deine, Daß ich Biron als Rosalin’ erscheine. Und ihr auch tauscht die Zeichen; falsch belehrt Irrt jeder Paladin und wirbt verkehrt. (V,1 / (V,2))

Mit großer komödiantischer Laune und früher Könnerschaft wickelt Shakespeare nun die Werbungsklamotte mit Verkleidung und Maskentausch ab. Die Prinzessin erklärt, befragt nach dem Zweck des Masken- und Pfändertausches, dass sie dem Jux mit einer besseren Tollerei eine gepfefferte Antwort geben möchte. Prinzessin Der Zweck des Plans ist, ihren Plan zu stören. Sie spotten unser nur, die Freier keck, Und Spott für Spott, das ist allein mein Zweck. Hat jeder heut sein Herz der falschen Göttin Recht insgeheim enthüllt, so trifft Gespött ihn, Wenn wir das nächste Mal uns wiedersehn, Und unverlarvt uns gegenüberstehn. (V,1 / (V,2))

Zunächst klappt die Taktik ganz gut, den Spaß mit Spaß zu vertreiben. Die holdseligen Damen geben sich spröde und verweigern sogar das Tanzen. Dann plaudern wir halt um so mehr, erwidert der König. Die Damen machen jeweils ein kleines Defilee vor den Herren, und natürlich fischt sich jeder Freier die Falsche und bringt ihr sein Kompliment und seine Schwüre dar. Die Damen reagieren mit spitzen Zungen, und die Moskowiter fühlen sich zu recht verspottet und ziehen frustriert ab. Die graue Eminenz der Prinzessin im Hintergrunde meldet sich zu Wort. Boyet Fürstin und holde Dämchen, glaubt es mir, Nicht lange währt’s, so sind sie wieder hier,

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In eigner Form: ihr mögt mir fest vertraun, Sie werden nicht so herben Spott verdaun (V,1 / (V,2))

In eigener Form, also unmaskiert, werden die Damen nun erneut zum Empfang der Herren defilieren. Es gilt die Devise von Rosaline Folgt meinem Rath, o Fürstin und ihr Schönen, Laßt uns erkannt, wie unerkannt, sie höhnen: (V,1 / (V,2))

Sie eilen in ihr Zelt und dekorieren sich auf unmaskiert um. Die Herren sind unmaskiert im Anmarsch. Man erklärt ihnen, dass sie eben Besuch von Moskowitern hatten, aber dass den russischen Herren nicht ein kluges Wort aus dem Munde kam. Schnell wird den Herren klargemacht, dass ihre Maskerade durchschaut ist. Der König spricht für alle vier: König Wir sind durchschaut, sie spotten uns zu Tode. (V,1 / (V,2))

Und Biron, der oberschlaue Skeptiker der Truppe, erkennt, wie blöde ihr geziertes und überkandidelt-unnatürliches Sprachverhalten ist. Er leistet Abbitte. Biron Ich werde nie als Russe um dich werben, Nie wieder sei ein Tanz von dir begehrt; Nie auf geschriebne Reden mehr vertrau ich, Noch auf Geplapper knabenhafter Zungen; Nie mehr verlarvt auf schöne Frauen schau’ ich, Noch fleh’ in Reimen, wie sie Blinde sungen. Fort, tafftne Phrasen, Klingklang schwacher Dichter, Hyperbeln, superfein, geziert und schwirrend, Fort, seidner Bombast, Schmetterlings Gelichter, Das Grillen mir gebrütet, sinnverwirrend; Euch meid’ ich; bei dem Handschuh hier, dem weißen, (Wie weiß die Hand seyn mag, weiß Gott allein), Künftig sei schlicht mein Werben und Verheißen; Nimm, Grete, dann den Hans, der brav und jung, Mit hausgebacknem Ja, und derbem Nein; Sein Herz ist fest und senza Riß und Sprung. (V,1 / (V,2))

Nie, nie, nie mehr sei ihre Rede extravagant; sie sei schlicht und einfach ohne Übertreibungen und in untertriebiger Weise wie die von Hans und Grete. Damit wird der preziösen Komödie insgesamt der

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Prozess gemacht. – Nebenbei bemerkt, meint Rosaline, das „senza“ können Sie sich sparen und einfach „ohne“ sagen. Und der König erkundigt sich, wie eine Entschuldigung ausschauen könnte. König Lehrt, holde Jungfrau, wie solch schwer Vergehn Entschuldigt sei? (V,1 / (V,2))

Am schönsten, so die Prinzessin, durch ein Geständnis. Nichts leichter als das. Ja, wir waren da in fremder Tracht und haben Treueschwüre verschenkt. Aber an wen? Langsam dämmert es den Herren, dass da der Falsche der Falschen Eide geschworen hat. Die Prinzessin stellt die vertauschten Liebespfänder richtig, und wiederum ist es Biron, der den Durchblick hat. Biron Nun wird mir’s klar, ihr hattet ausgeheckt, Nachdem man euch verriet, was wir versteckt, […] Die Damen tauschten die Geschenk’, und wir, Getäuscht vom Zeichen, huldigten der Zier. Nun schreckt uns neuen Meineids grause Irrung, Vorsätzlich erst, und dießmal durch Verwirrung (V,1 / (V,2))

Wie man dem Dilemma der falsch platzierten Eide entkommen könnte, wird vorerst zurückgestellt, denn nun kommen die Protagonisten des Rüpelspiels, in dem sich das höfische Publikum mit ihren Kommentaren und Zwischenbemerkungen verläuft. Den Spaß, die Komödianten des Spiels im Spiel durch Zwischenbemerkungen aus ihrer Rolle zu locken, gestattet Shakespeare seinem gebeutelten Standespersonal; er ist ein wenig herablassend bei den wechselseitigen Wortklaubereien und Klügeleien. Aber der Dichter gefällt sich darin, und er wiederholt diesen Einfall im Rüpelspiel der Handwerker des „Sommernachtstraums“. Unvermutet bricht Shakespeare die innere wie die äußere Komödie aus heiterem Himmel ab. Ein gewisser Monsieur Mercade tritt auf und grüßt die Prinzessin „Fürstin“. Das verheißt nichts Gutes. Mercade Ich nah’ euch traurig, Fürstin, meine Botschaft Weilt auf der Zunge schwer; der König, euer Vater – Prinzessin Todt, fürcht’ ich?

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Mercade

Ja, mein Auftrag ist gesagt. (V,1 / (V,2))

Dass der Jux zum einen durch eine solche Nachricht umschlagen kann, stand nicht auf der Rechnung der Prinzessin. Aus Spaß wird Ernst, zunächst durch die Nachricht selbst. Die Prinzessin beschließt ob des Trauerfalls sofort alle Anstalten für eine Abreise noch am heutigen Abend zu treffen. Sie bedankt sich für der Herren „hold Bemühn“ und entschuldigt sich für ihre und der Damen Neckereien und für die schalkhaften kleinen Frechheiten. Prinzessin Wir nahmen eure Briefe, reich an Liebe, Die Gaben auch, Botschafter eurer Liebe, Und schätzten sie in unserm Jungfraun-Rath Für Courtoisie und höflich feinen Witz, Als müß’ge Zier und Stickerei der Zeit. Nicht ernstlicher verpflichtet sahn wir uns In unsrer Würdigung; deßhalb ward eu’r Lieben Nach eignem Maaß als leichter Scherz erwiedert. (V,1 / (V,2))

Tut uns leid, meine Herren, das war „Verlorene Liebesmüh“, wie auch immer man den Titel der Komödie sonst noch deuten mag. Man spielt nicht mit der Liebe, meinen nun die Herren. Ihre Briefe, ihre Blicke waren durchaus ernster gemeint. Wir wollen keine tragische Komödie daraus machen, aber wir bitten: König Jetzt, mit der Stunde letztem Schlag verheißt Uns eure Liebe! (V,1 / (V,2))

Dass Jux und Tollerei zum anderen auch durch eine solche Wendung umschlagen kann, stand ebenfalls nicht auf der Rechnung der Prinzessin. Aus Spaß wird abermals Ernst, den die Prinzessin abwehrt. Prinzessin Viel zu kurze Frist, Zu schließen solchen endlos ewgen Kauf. (V,1 / (V,2))

Solch heiligen Ernst hat man von dem schalkhaften Mädchen in dieser Stunde nicht erwartet. Man ist allerseits überrascht und noch überraschter, als die Frau nun bezüglich ernster Heiratsabsichten eine Probezeit vorschlägt: Prinzessin Wenn mir zu Lieb (obgleich kein Grund vorhanden),

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Ihr etwas thun wollt, rath’ ich dieß zu thun: Schwört keinen Eid mir, aber eilt sofort In eine Siedlung, still und abgelegen, Entfernt von allen Freuden dieser Welt; Dort weilt, bis durch der zwölf Gestirne Kreis Die Sonnenbahn den Jahreslauf vollendet. Wenn solche Streng’ und abgeschiednes Leben Nicht ändern, was dein heißes Blut gelobt, Wenn Frost und Fasten, Klaus’ und leicht Gewand Nicht welkt die heitern Blüten deiner Liebe; Wenn sie sich prüfungsstark bewährt als Liebe, Dann, nach Verlauf des Jahrs, erscheine wieder, Sprich dreist mich an, errungen durch Verdienst, Und bei der Jungfraunhand, die jetzt die deine Berührt, ich bin dein Eigen. – Bis dahin Verschließ ich in ein Trauerhaus mein Leid, In Thränenregen meinen Schmerz ergießend, Wehmüthig eingedenk des Vaters Tod. Versagst du dieß, laß unsre Hände scheiden, Und aller Herzensanspruch sterb’ in Beiden! (V,1 / (V,2))

Eine Frau, ein Wort! Ernst und feierlich, angemessen und würdig der Sache, um die es geht, hat sie gesprochen. Der König gelobt ein solches Einsiedlerjahr, und nun sagt es jeder auf seine Art und es bleibt zu hoffen, dass es mit ihrem Büßerjahr und ihrem Ehevorbereitungsseminar besser gehen mag als mit der platonischen Akademie. Versteht sich, dass Shakespeares Stück mit dieser Wendung eine Komödie und auch keine Komödie ist. Übers Jahr wird sich ihr Ausgang zeigen. Der schlaue Biron bringt die Dramaturgie dieser seltsamen, sich selbst bespiegelnden Komödie auf den Punkt. Biron Nicht, wie im alten Lustspiel endigt’s heut; Hans hat kein Gretchen; schade, daß die Damen, Den Ausgang nicht comödienhafter nahmen! (V,1 / (V,2))

Das Ende, meint der König, kommt schon noch über Jahr und Tag. Mag sein, meint Biron, aber dramaturgisch gesehen ist das Stück dann viel zu lang. Eine Schule für künftige Ehemänner ist ein anderes sujet de conversation. Das wird erst Molière behandeln. Damit dieses dramatische Gesprächsspiel in irrlichternder Sprachakrobatik zu Ende kommt, treten die Knattermimen des Rüpelspiels noch einmal an die Rampe. Angeblich ist es vom Schulmeister und vom

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Pfarrer verfasst und man muss schlimmste Qualen für den poetischen Geschmack befürchten. Aber wider alles Erwarten hatte doch Shakespeare selbst bei der Abfassung seine Hand im Spiel, und deshalb erklingt ein wunderschönes schlichtes Lied, das der irrealen Wirklichkeit der Sprachkomödie einen elegischen Schlusspunkt setzt. Im Dialog des Frühlings mit dem Winter vergeht ein Jahr wie im Fluge, und im nächsten Frühling kommt dann hoffentlich eine vierfache Hochzeit zustande. Die sprachliche Extravaganz dieses Lustspiels von Shakespeare stand seiner Bühnentauglichkeit immer ein wenig im Wege. Genau dieser manieristischen Überspanntheit wegen verdankt es an anderem apartem Ort Wirkung zu erzeugen. Thomas Mann benützt es als eine Libretto-Vorlage für seinen Komponisten Adrian Leverkühn in seinem Roman „Doktor Faustus“. Dessen Hang zu aparten Sujets lässt ihn auf dieses Lustspiel Shakespeares zurückgreifen. Der Freund und Erzähler, der etwas oberlehrerhafte Dr. phil. Serenus Zeitblom, sieht die Verliebtheit des Freundes zu solchen Künstlichkeiten mit gemischten Gefühlen. Das ist ihm zu abgehoben, zu viel Kunst um der Kunst willen. Auch wenn Thomas Mann innerhalb seiner Romanfiktion sprechen lässt, dürfen wir seine vorzügliche Beschreibung und Einschätzung der shakespeareschen Komödie auch als auktoriales Statement lesen. „Wie schön!“ sagte sich das Herz – das meinige wenigstens sagte sich so – „– Und wie traurig!“ Denn die Bewunderung galt einem witzig-melancholischen Kunststück, einer heroisch zu nennenden intellektuellen Leistung, einer knappen Not, die sich als übermütige Travestie gebärdete, und die ich nicht anders zu kennzeichnen weiß, als indem ich sie ein nie entspanntes und spannend halsbrecherisches Spielen der Kunst am Rande der Unmöglichkeit nenne. (24. Kapitel)

deutsche Übersetzung: Wolf Graf Baudissin

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Constanze

König Johann (1594 / 1596) Constanze 1161 bis 5. September 1201 Prinz Arthur 13. April 1187 bis 3. April 1203

designed by Edward Henry Corbould and engraved by W. Huwett

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Bildnerische Darstellungen von Mutter und Kind haben per se etwas Rührendes. „Ich halte nichts von Rührszenen“, sagt Friedrich Dürrenmatt in den Materialien zu seiner Bearbeitung von Shakespeares Stück „König Johann“.1 Seine Lesart, sprich seine Bearbeitung, setzt andere Akzente. Er meint, es zeige „die Maschinerie der Politik, das Zustandekommen ihrer Abkommen und ihrer Unglücksfälle, doch ist es ein Spiel unter Mördern, nicht unter Opfern“. Er sieht sich mit Shakespeare einig, wenn er mit ihm auf die Feudalgroteske setzt.2 Dennoch hat Shakespeare viel Aufwand für ein, respektive zwei Opfer in dieser Maschinerie betrieben und für diese Opfer einige Rührszenen erfunden, die zum Erschütterndsten gehören, was er gedichtet hat. So jedenfalls wurde es über die Zeiten hinweg immer gelesen und verstanden. Goethe machte da keine Ausnahme. Er brachte „König Johann“ 1791 auf dem Weimarer Hoftheater zur Aufführung und hatte gerade für die Rührszenen eine Besetzung, die sensationell war. In den „Tag- und Jahresheften“ 1791 berichtet er stolz: »König Johann« aber, von Shakespeare, war unser größter Gewinn. Christiane Neumann als Arthur, von mir unterrichtet, tat wundervolle Wirkung; alle die übrigen mit ihr in Harmonie zu bringen mußte meine Sorge sein.3

Und zu Christiane Neumann lässt er uns wissen: Kurz vor der Veränderung starb ein sehr schätzbarer Schauspieler, Neumann; er hinterließ uns eine vierzehnjährige Tochter, das liebenswürdigste, natürlichste Talent, das mich um Ausbildung anflehte.4

Goethe war zu Recht entzückt von der Munterkeit des Wesens zwischen Mädchen und Knabe, zwischen Kind und Frau, und er widmete ihr, als sie 1797 mit 19 Jahren starb, ein wunderbares Gedicht: „Euphrosyne“. Die Elegie auf ihren Tod erinnert an eine Probe des Dichters als Regisseur auf dem Hoftheater mit ihr als Arthur und mit Goethe in der Rolle ihres von König Johann beauftragten Mörders Hubert. Im Gedicht lässt er sie selbst sprechen.

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Denkst du der Stunde noch wohl, wie auf dem Brettergerüste, Du mich der höheren Kunst ernstere Stufen geführt? Knabe schien ich, ein rührendes Kind, du nanntest mich Arthur, Und belebtest in mir britisches Dichtergebild, Drohtest mit grimmiger Glut den armen Augen und wandtest Selbst den tränenden Blick, innig getäuschet, hinweg.5

Wer also ist Arthur, das Kind, das die kniende Königin im Arm hält? Es sagt in dieser Szene zu Beginn des dritten Akts nicht viel; es bittet die Mutter um Ruhe und Schonung wohl wissend und verstehend, dass es um sein Schicksal und sein Leben geht. Arthur Beruhigt euch, ich bitte, liebe Mutter! (III,1)

Die Mutter, die Herzogin Konstanze von der Bretagne, beruhigt sich nicht; im Gegenteil, sie empört sich mehr als lautstark und dramatisch, weil das Recht ihres Sohnes auf die legitime Thronfolge in England durch schnöden Meineid der französischen Unterstützer schmählich verraten und verkauft wurde. An diesem Recht wurden und werden von keiner Seite ernsthafte Zweifel geäußert. Prinz Arthur ist der posthume, aber rechtmäßige Sohn des Gottfried von Bretagne und seiner Frau Konstanze – jetzt im Witwenstand! – und de jure der Erbe des englischen Throns als Nachfolger von Richard Löwenherz. Sein Onkel König Johann, der jüngere Bruder seines Vaters Gottfried, hat den Thron usurpiert; er ist de facto zwar König, aber Arthur bleibt ein dauerndes Ärgernis für ihn, weil er seine Herrschaft gefährdet. Der Legat des Papstes, Kardinal Pandulfo, bringt es auf den Punkt. Pandulfo Auf daß Johann mag stehn, muss Arthur fallen. (III,4)

Das weiß das Kind und das weiß auch seine Mutter, die es wie ein Opferlamm umfangen hält und die es wie eine Schutzmantelmadonna behütet. Fortuna habe sich von Arthur und ihr abgewandt, klagt sie, und sich zur Hure von König Johann gemacht. Der französische König Philipp, in dessen Zelt vor den Mauern von Angers wir uns befinden, ist im Handumdrehen sein Handlanger und Spießgeselle geworden. Eben noch hatte er versprochen, sich für die rechtmäßigen Ansprüche von Prinz Arthur einzusetzen und König Johann zu fordern – der steht ebenfalls mit seinen Truppen

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vor der englisch besetzten Stadt –, da wird er meineidig und lässt sich aus purem Vorteil auf einen perfiden Deal mit Johann ein. Die Maschinerie der Politik schlägt gnadenlos zu; ein Gemälde des furchtbarsten Eigennutzes entwickelt sich vor den Augen der Zuschauer. Wir schreiben das Jahr 1203. Shakespeare hat verschiedene Ereignisse auf das Todesjahr von Prinz Arthur konzentriert, und es ging historisch und es geht dramaturgisch immer klipp-klapp, in einem rastlosen Auf und Ab von Kriegsglück und -unglück. Der französische Gesandte brachte zu Beginn die Forderung von König Philipp auf Abdankung von König Johann zugunsten von Prinz Arthur. Das lehnt Johann natürlich ab und Frankreich erklärt den Krieg. Die Gegenerklärung Englands erfolgt sofort. König Johann Wir haben Krieg für Krieg und Blut für Blut, Zwang wider Zwang: antworte Frankreich das! (I,1)

Der Gesandte Frankreichs ist nicht schneller zurück, wie Johanns Heer in Frankreich anlandet. Schwupps ist er vor der Stadt Angers, wo er auf König Philipp trifft. In dessen Gefolge befindet sich auch Mutter Konstanze und Sohn Arthur. Philipp macht sich stark für Arthurs Rechte. Man bedankt sich herzlich für so viel Unterstützung, und die Mutter verspricht, dass Arthur, wenn er einmal groß ist, sich sicherlich revanchieren werde. Constanze O nehmt der Mutter, nehmt der Witwe Dank, Bis eure starke Hand ihm Stärke leiht, Zu besserer Vergeltung eurer Liebe! (II,1)

Man hört die englischen Trommeln, und der Bericht des Gesandten und Philipps Erstaunen sind eins: König Philipp Wie unversehn kommt dieser Heereszug! (II,1)

Zwei Heere, zwei Könige stehen sich gegenüber und zwei Mütter, die beide Witwen sind. Die Könige formulieren ihre Positionen, und in deren beginnende stichische Streittiraden mischen sich unversehens die Damen ein, Eleonore, Johanns Mutter, und Konstanze, Arthurs Mutter. König Johann Ach, maße dir kein fremdes Ansehn an.

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König Philipp Verzeih’, es ist, um Anmaßung zu dämpfen. Eleonore Wen, Frankreich, zeihest du der Anmaßung? Constanze Laßt mich die Antwort geben! – Deinen Sohn! Eleonore Ha, Freche! König soll dein Bastard seyn, Damit du herrschen mögst als Königin. (II,1)

Jetzt geht ihr Zankduett in die Vollen, bis der Erzherzog von Österreich auf der französischen Seite „Still!“ schreit und Ludwig, der Dauphin, zusammenfasst. Louis Ihr Narr’n und Weiber, laßt vom Hadern ab! – König Johann, die kurze Summ’ ist dieß: England und Irland, Anjou, Touraine, Maine Sprech’ ich von dir in Arthurs Namen an; Trittst du sie ab und legst die Waffen nieder? (II,1)

Auf keinen Fall, sagt Johann, und die Damen frönen weiter ihrer Streitsucht. Man muss sich dabei immer vor Augen halten, dass hier auf großem Fuß gestritten wird, aber die Herrschaften sind Großmutter, Mütter, Onkel, Schwiegertochter und Schwägerin; man ist en famille, und doch bedeutet der Familienzwist „Krieg“, wenn auch der weitere schnelle Verlauf einer gewissen Absurdität nicht entbehrt. Beide Lager fordern die Bürger der Stadt Angers (die im Besitz der Engländer ist) auf, sich jeweils auf ihre Seite zu stellen und die Tore der Stadt zu öffnen. Die Bürger aber verweigern sich der einen wie der anderen Partei. Sie verlangen eine Legitimation des jeweiligen Anspruchs. 1. Bürger Bis ausgemacht, weß Recht das würdigste, Verweigern für den Würdigsten wirs beiden. (II,1)

Im Minutentakt wird darauf ein Waffengang zwischen Johann und Philipp veranstaltet – Getümmel und Schlacht. Dann ein Rückzug –, der aber unentschieden bleibt. Nun taucht die Idee auf, in Sachen ‚Angers’ zunächst gemeinsame Sache zu machen und danach die Thronansprüche in einer Schlacht zu klären. Bevor man selber merkt, dass das keine gute Idee ist, machen die Bürger von Angers einen Vorschlag, den ihr erster Sprecher zu be-

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denken gibt. Hochzeit statt Krieg wäre doch auch eine gute Idee. Johann hat eine Nichte und Philipp einen Sohn; die könnte man doch verheiraten, die wären doch eine gute Partie. Die beiden sind begeistert und sofort füreinander heiß entflammt. Johann und Philipp geben ihren Segen dazu. König Johann Philipp von Frankreich, wenn es dir gefällt, Laß Sohn und Tochter nun die Hand sich geben! König Philipp Es sei! Vereint die Hände, junges Paar! (II,2)

Sie küssen sich und sind begeistert; die Bürger von Angers auch, und die Könige haben für sich große Vorteile gesichert: Johann behält gegen Arthurs Anspruch den Thron und Frankreich kassiert eine schöne Mitgift, nämlich die englischen Ländereien in Frankreich. Das sind alles enorme Vorteile. Die ursprünglichen Ziele wegen Arthur sind augenblicklich vergessen. Den Knaben kann man ja abspeisen. Wo ist der überhaupt und seine Mutter abgeblieben? Die könnte vielleicht doch noch Schwierigkeiten machen. Man lässt sie rufen, und bis sie im Zelt des französischen Königs ankommt, darf der Bastardsohn von Richard Löwenherz noch über Eigennutz und Treue philosophieren. Sein persönliches Fazit lautet: Bastard Bricht Eigennutz in Königen die Treu, So sei mein Gott, Gewinn, und steh mir bei! (II,2)

Das ist ein gesunder Zynismus, und die Erzählung der Geschichte und Umstände von Arthur und seiner Mutter ist wieder da angekommen, wo der Knabe Arthur seine Mutter im Zelt des Königs von Frankreich zu beruhigen versucht hatte. Aber sie ist außer sich. Ein Schrei der Empörung entringt sich ihr nach gehörter Geschichte von Philipps Treulosigkeit und Meineidigkeit. Constanze Kind, wo bleibst du? Frankreich mit England Freund? Was wird aus mir? (III,1)

Es folgt eine große Arie über die untreue Fortuna, Klage und Fassungslosigkeit angesichts solch eigennütziger Schäbigkeit. Pathetisch wirft sie sich auf den Boden, als sie die beiden glücklichen Könige und das Brautpaar kommen hört. In das beschönigende Geschwafel von König Philipp über den heutigen Festtag fährt Konstanze, nun aufgerichtet wie eine Furie, dazwischen.

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Constanze Straf, Himmel, straf die eidvergeßnen Kön’ge! Hör’ eine Witwe, sei mir Gatte, Himmel! Laß nicht die Stunden dieses sünd’gen Tags In Frieden hingehn; eh die Sonne sinkt, Entzweie diese eidvergeßnen Kön’ge! Hör mich, o hör mich! (III,1)

Und als der Erzherzog von Österreich sie bittet, etwas friedlicher den Festtag der Familie mitzufeiern, entringt sich ihrer Brust ein Schmerzens- und Wutschrei sondergleichen. Constanze Krieg! Krieg! Kein Friede! Fried’ ist mir ein Krieg. (III,1)

Das geht noch eine Weile so fort, aber ihr Fluch auf den sündigen Tag geht fast augenblicklich in Erfüllung. Wieder kommt der päpstliche Legat Pandulfo als ein Deus ex machina (der Politgroteske entsprechend eher „wie der Kasperl aus der Kiste“) und verflucht König Johann, weil der sich weigert, den von Rom vorgesehen Erzbischof von Canterbury zu ernennen. Der Bann ist sofort ausgesprochen, ein früher Hauch von Heinrich VIII. und Abfall von Rom umweht die Szene. König Philipp steht düpiert da, denn mit einem von Rom zum Ketzer erklärten König will er nichts mehr zu tun haben. Das ist nicht seine Sache. Und der Legat bekräftigt mit Blick auf den französischen König: Pandulfo Gesegnet soll der seyn, der los sich sagt Von seiner Treue gegen einen Ketzer; (III,1)

Dem Kirchenbann schickt er die Ächtung hinterher, und so schnell wie das Bündnis zwischen Frankreich und England geschlossen war, so schnell ist es auch wieder aufgelöst. Alle reden auf Philipp ein, und nach einigem Bedenken kündigt er den gerade geschlossenen Bund mit England auf. Es gibt wieder Krieg statt Frieden und Konstanze jubelt. Constanze O schöne Rückkehr ächter Fürstlichkeit! (III,1)

Jetzt ist es an ihrer Schwiegermutter Eleonore zu fluchen. Eleonore O schnöder Abfall fränk’scher Flüchtigkeit! (III,1)

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Wie die Redensart geht „Pack schlägt sich, Pack verträgt sich“, so geht es nun in eine weitere Runde: Man schlägt sich erneut, und Blanka und der Dauphin stehen ziemlich zerzaust an ihrem Hochzeitstag in der Gegend vor Angers herum. Dass das Schicksal der Mutter Arthurs so schnell zugearbeitet hat, fordert wiederum seinen Preis. Ruck-Zuck hat der Bastard dem Erzherzog von Österreich, dem Mörder seines Vaters Löwenherz, den Kopf abgeschlagen; da kommt auch schon der Kämmerer des Königs, Hubert de Burgh, mit dem gefangenen Arthur. Pass gut auf ihn auf, sagt König Johann, und er nimmt Hubert vertrauensvoll zur Seite. König Johann Mein guter Hubert! Hubert! Wirf den Blick Auf jenen jungen Knaben: hör, mein Freund, Er ist ‘ne rechte Schlang’ in meinem Weg, Und wo mein Fuß nur irgend niedertritt, Da liegt er vor mir: du verstehst mich doch? Du bist sein Hüter! Hubert Und will so ihn hüten, Daß Eure Majestät nichts fürchten darf. König Johann Tod. Hubert Mein Fürst? König Johann Ein Grab. Hubert

Er soll nicht leben.

König Johann Genug. (III,3)

Das ist mehr als ein böser Onkel, den wir da vorgeführt bekommen; das ist der Ursündenfall in Englands Geschichte und reicht von hier bis zum Mord an den Kindern im Tower durch Richard III. Wir durchlaufen einen historischen Zeitraum von etwa 1203 bis ins Jahr 1485. Wir erleben dreihundert Jahre Fluch und Krieg, Unfrieden und Thronstreit und Schlächterei auf den Schlachtfeldern Englands und Frankreichs, Usurpation und heimtückischen Mord in Serie: Die Geschichte zeigte sich eher ungnädig, und Shakespeare hat

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diese unselige Geschichte nicht beschönigt – nicht einmal in „Heinrich V.“, dem Küsser, der auch ein Mörder war. Hier zeigt der Dichter die Aussaat all des zukünftigen Unheils und macht es nach und nach lebendig. Schon August Wilhelm Schlegel, der Übersetzer aller Historienstücke Shakespeares, äußerte in seinen „Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur“, dass er den „König Johann“ als das Prologstück zu Shakespeares der englischen Geschichte gewidmeten zwei großen Tetralogien erachte. Das kann so gelten, unerachtet der Tatsache, dass die Entstehung des Prologstücks eher zwischen die beiden Zyklen fällt. Und so verwundert es auch gar nicht, dass die First Folio Ausgabe von 1623 den „König Johann“ an den Beginn der Reihe stellt und diese mit „Heinrich VIII.“ abschließt, den man gerne das Epilogstück nennen könnte. Dessen Übersetzung besorgte Wolf Graf Baudissin. Der Mord durch den König, soweit ist die Geschichte erzählt, ist in Auftrag gegeben. Konstanze betritt wieder das Zelt des Königs von Frankreich. Eben hat sie noch gejubelt, dass König Philipp wieder für Arthur sich ins Zeug zu legen gedenkt, jetzt, da Arthur gefangen ist, kommt neuer Vorwurf. Alle wissen Bescheid, dass das Kind in Johanns Händen verloren ist. Aber noch hofft jeder, außer Konstanze. Für sie ist das Ende des Kindes klar. Sie sieht seinen Tod voraus. Sie präsentiert sich mit aufgelöstem Haaren. Sie ist schön, rasend schön, und sie redet irre in ihrem Schmerz. Sie schreit. Später, in der Oper bei Bellini und Donizetti, ergäbe ihr Auftritt eine große Wahnsinnsarie. Die Arie beschleunigt nicht den Fortgang der Handlung, sondern befördert ein wohliges Grausen und der Zuschauer, der von dem Mordauftrag weiß, fürchtet mit ihr um das Kind. Aber die Rührszene mit dem Ausgang für das Kind kommt erst nach der Arie, die sich in lustvollen Bildern von Tod und Vergänglichkeit ergeht. König Philipp ist ein französischer Feingeist, der gute Worte für den Zustand von Konstanze findet. König Philipp Seht, wer da kommt? Ein Grab für eine Seele, Das wider Willen hält den ew’gen Geist Im schnöden Kerker des bedrängten Odems. Ich bitte, Fürstin, kommt hinweg mit mir! (III,4)

Kurz gesagt, Konstanze ist zumindest im Moment nicht zurech-

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nungsfähig und hebt zur Wahnsinnsarie an, in der sie den Tod willkommen heißt. Constanze Tod! Tod! – O liebenswürd’ger, holder Tod! Balsamischer Gestank! Gesunde Fäulniß! Steig’ auf aus deinem Lager ew’ger Nacht, Du Haß und Schrecken der Zufriedenheit, So will ich küssen dein verhaßt Gebein. In deiner Augen Höhlung meine stecken, Um meine Finger deine Würmer ringeln, Mit eklem Staub ‘dieß Thor des Odems stopfen, Und will ein grauser Leichnam seyn, wie du. Komm, grins’ mich an! ich denke dann, du lächelst, Und herze dich als Weib. Des Elends Buhle, O komm zu mir! (III,4)

König Philipp ist wie ein Theaterzuschauer hingerissen. „O holde Trübsal“, entfährt es seinen Lippen, und als Konstanze wieder zur Besinnung zu kommen scheint – sie weiß, wer sie ist, wie sie heißt, dass Arthur ihr Sohn ist etc. … Constanze Mein Sohn ist Arthur, und er ist dahin. Ich bin nicht toll, – o wollte Gott, ich wärs! (III,4)

… – in diesem Augenblick würde er am liebsten applaudieren. König Philipp O welche Liebe Seh’ ich in ihres Haares schöner Fülle! Wo nur etwa ein Silbertropfe fällt, Da hängen tausend freundschaftliche Fäden Sich an den Tropfen in gesell’gem Gram, Wie treue, unzertrennliche Gemüther, Die fest im Mißgeschick zusammenhalten. (III,4)

Das Spiel mit den Haaren ist eine delikate Angelegenheit, um ihren Wahnsinn Bild werden zu lassen, aber bevor Konstanze abgeht, ist sie mit ihrem Text wieder klar bei Sinnen und der greift ans Herz jedes Lesers und Zuschauers. So will sie in Erinnerung bleiben. In so edler Art könnte Shakespeare beim Tode seines Sohnes Hamnet gedacht haben. Constanze Gram füllt die Stelle des entfernten Kindes,

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zu König Johann, Akt 3, Szene 1

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zu König Johann, Akt 4, Szene 1

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Legt in sein Bett sich, geht mit mir umher, Nimmt seine allerliebsten Blicke an, Spricht seine Worte nach, erinnert mich An alle seine holden Gaben, füllt Die leeren Kleider aus mit seiner Bildung; Drum hab’ ich Ursach meinen Gram zu lieben. Gehabt euch wohl! Wär’ euch geschehn, was mir, Ich wollt’ euch besser trösten als ihr mich. Ich will die Zier nicht auf dem Haupt behalten, Da mein Gemüth so wild zerrüttet ist. O Gott, mein Kind! Mein holder Sohn! Mein Arthur! Mein Leben! Meine Lust! Mein Alles du! Mein Witwentrost und meines Kummers Heil! (III,4)

Auf den Kopfputz – die Zier auf ihrem Haupt – wird sie inskünftig verzichten. Sie kann ihn auf offener Bühne nicht abreißen, denn gemeint sind ihre Haare, die man bekanntlich Verrückten abschneidet. Aber glatzköpfig wie Gretchen im Kerker wird sie uns nicht mehr begegnen. Wir werden – elegant wie Shakespeare das immer im nebenbei macht – durch einen Boten lapidar unterrichtet. Bote

Mein Fürst, …… ……………. am Ersten des April Starb eure edle Mutter, und ich höre, Daß Frau Constanz’ in Raserei gestorben Drei Tage früher; doch dieß hört’ ich flüchtig Vom Mund des Rufs und weiß nicht, ob es wahr ist. (IV,2)

Konstanze hat nichts mehr vom Schicksal ihres Sohnes erfahren; sie wusste, dass er tot sein würde, aber wie er zu Tode kam, ist ein Stück von großer Rührung, und ansatzweise hat uns Goethes „Euphrosyne“ auf den Tod seiner mignonhaften Darstellerin Christiane Neumann schon von Arthurs Geschichte gesprochen. Als Epilog zum Schicksal von Herzogin Konstanze, der Mutter des Kronprinzen, sei sie noch erzählt. Hubert hatte von König Johann den kleinen Prinzen nicht nur zur Aufsicht bekommen, sondern mit dem mehr als dezenten Auftrag, ihn für immer zu beseitigen. Hubert ist dazu ausersehen, weil schon sein Äußeres ihn zum Auftragskiller stempelt. König Johann Wenn du nicht da gewesen wärst, ein Mensch,

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Gezeichnet von den Händen der Natur Und ausersehn zu einer That der Schmach, So kam mir dieser Mord nicht in den Sinn. (IV,3)

Johann weiß noch nicht, dass Hubert, der zwar aussieht wie ein Schurke und folglich ein Schurke sein muss, Arthur gar nicht ermordet hat. Aus unerfindlichen Gründen kam eine Anweisung, das Kind sei nur zu blenden. Das war neben bestialischem Mord auch ein probates Mittel, um jemand außer Kraft zu setzen. Und so sehen wir Hubert mit zwei Helfern wie er das Ausstechen der Augen beziehungsweise die Blendung des Kindes vorbereitet. Die Aufwärter verstecken sich hinter der Tapete und wir sehen und verfolgen, was sie hören. Arthur tritt auf, wünscht Hubert einen guten Morgen und sieht dem Schurken sofort an, dass er traurig ausschaut. Vertrauensvoll redet er zu seinem bestellten Peiniger, dass er, wäre er nicht für seinen Onkel Johann ein immerwährender Stein des Anstoßes, lustig sein würde. Es wäre einfach schön und es gäbe keine Probleme, wenn er „nur“ der Sohn von Hubert sein könnte. Hubert wird sofort weich und will die Sache um so schneller zu Ende bringen. Aber Arthur ist kindlich schlau, und mit geradezu geistreicher Sanftheit und entwaffnender Liebenswürdigkeit wickelt er den schurkischen Mann mit seinem unschuldigen Gerede um den kleinen Finger. Arthur Seid ihr krank, Hubert? Ihr seht heute blaß: Im Ernst, ich wollt’. ihr wärt ein wenig krank, Daß ich die Nacht aufbliebe, bei euch wachte. Gewiß, ich lieb’ euch mehr, als ihr mich liebt. – (IV,1)

Psychologen mögen rätseln, warum Hubert tief im Herzen von Arthurs scheinbar naiver Rede tief getroffen wird. Er gibt ihm auch noch den Zettel zu lesen, auf dem sein Auftrag notiert ist. Arthur meint, er sei doch viel zu gut für einen solchen Auftrag, und Hubert stimmt innerlich zu. Dann dreht er den Spieß um, indem er ihn geradezu zu seiner Aufgabe ermuntert. Seine Angst macht ihn wunderbar beredt. Arthur Thut’s, wenn ihr wollt; gefällt es Dem Himmel, daß ihr mich mißhandeln müßt, So müßt ihr. – Wollt ihr mir die Augen blenden?

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Die Augen, die kein einzig Mal euch scheel Ansahn, noch ansehn werden? (IV,1)

Hubert wird wie Wachs in Arthurs Händen, und wir stellen uns kurz vor, wie Goethe in dieser Rolle vor dem mignonhaften Mädchen Christiane dahinschmilzt. Hubert erhofft sich in seiner Hilflosigkeit gegenüber dem Kind von den Aufwärtern den nötigen Beistand. Er ruft sie herbei. Da bittet Arthur, die beiden wegzuschicken und darum, ihn nicht zu fesseln. Er werde stockstill halten. Das ist rührend und erschütternd zugleich. Arthur Ums Himmels willen, Hubert! Nur nicht binden! Nein, hört mich, Hubert, jagt die Männer weg, Und ich will ruhig sitzen, wie ein Lamm; Will mich nicht rühren, nicht ein Wörtchen sagen, Noch will ich zornig auf das Eisen sehn. Treibt nur die Männer weg, und ich vergeb’ euch, Was ihr mir auch für Qualen anthun mögt. (IV,1)

Hubert schickt die beiden weg, die mehr als froh sind, ihrer Aufgabe entbunden zu sein. Arthur nimmt eine neue Wendung. Wenn ich die Augen behalten könnte, schneid mir ersatzweise lieber die Zunge aus. Das Eisen ist ohnehin schon erkaltet. Und jetzt wird es feinsinnig. Hubert meint, er könne es ja neu erglühen lassen. Aber, hält Arthur dagegen, das würde das Eisen erröten lassen vor Scham. Es würde wie ein Hund, den man zum Kampfe zwingt, nach seinem Meister schnappen. Hubert bedenke, du hast gar keine Chance, denn Arthur Was ihr gebrauchen wollt, mir weh zu thun, Versagt den Dienst; nur euch gebricht das Mitleid, Das wildes Feu’r und Eisen hegt, Geschöpfe Zu unbarmherz’gen Zwecken ausersehn. (IV,1)

Das will er sich nicht nachsagen lassen, dass er weniger Mitleid hätte als Feuer und glühendes Eisen. Er entscheidet blitzschnell und bricht seinen Auftrag ab. Das hatte er sich einfacher vorgestellt. „Gut, leb’!“ Und Arthur sagt ein treffliches Wort zu Hubert, mit dem er ihn aus dem Makel seines schurkischen Aussehens erlöst. Arthur Nun seht ihr aus wie Hubert! All die Zeit Wart ihr verkleidet.

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Der Prinz hat seinen gedungenen Mörder von seiner Tat befreit. Er erledigt den Auftrag des bösen Onkels in eigener Verantwortung, indem er sich von der Burgmauer stürzt. Er ist sofort tot und Hubert trägt ihn sanft auf seinen Armen weg. Der Bastard hatte schon anlässlich seines großen Monologs über den Eigennutz am Ende des zweiten Akts das definitive Urteil gesprochen. Bastard O Welt! O tolle Fürsten, tolles Bündnis! (II,1) (Mad world! mad kings! mad composition!)

Sein Urteil setzt Dürrenmatt ins Recht, und Hubert setzt die rührende Lesart von poetischem Glanz königlicher Mutterschaft und vom Elend hilflosen Witwentums und unschuldigen Königtums ins Recht. Das Kind bittet um Frieden. Arthur Still! gute Mutter! Ich wollt’, ich läge tief in meinem Grab, Ich bins nicht werth, daß solch ein Lärm entsteht. (II,1)

Kindermund tut Wahrheit kund für sich und alle Könige der Erde, die da herrschen immerdar. Sein Wort in ihrer aller Ohren! deutsche Übersetzung: August Wilhelm von Schlegel 1) Friedrich Dürrenmatt, S. 213 2) Friedrich Dürrenmatt, S. 203 3) Goethe, WA I, 45, S. 19 4) Goethe, WA I, 45, S. 18 5) Goethe, WA I, 1, S. 282

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Romeo und Julia (1595 / 1596)

designed by Edmund Thomas Parris and engraved by W. J. Edward

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Man stelle sich vor, zwei Männer von heute sprächen miteinander wie der Herr des Hauses Capulet zu Verona mit Graf Paris, der um die Hand seiner Tochter anhält. Paris Doch, edler Graf, wie dünkt euch mein Gesuch? Capulet Es dünkt mich so, wie ich vorhin gesagt. Mein Kind ist noch ein Fremdling in der Welt, Sie hat kaum vierzehn Jahre wechseln sehn. Laßt noch zwei Sommer prangen und verschwinden, Eh’ wir sie reif, um Braut zu werden, finden! Paris Noch jüngre wurden oft beglückte Mütter. Capulet Wer vor der Zeit beginnt, der endigt früh. (I,2)

Aus mehrfachen Gründen wäre den beiden ein Shitstorm sicher. Die Zeiten haben sich gewandelt; die Zeiten waren zu Shakespeares Zeiten schneller, denn das Leben war entschieden kürzer. Aber, verkehrte Welt: Jugendliche werden seit über 100 Jahren immer früher geschlechtsreif, ihre Ehemündigkeit erreichen Jugendliche heute erst mit der Volljährigkeit. Selbst nach Vollendung des 16. Lebensjahres kann eine Ehe heute nur unter erschwerten Bedingungen eingegangen werden: „Laßt noch zwei Sommer prangen und verschwinden“. Graf Paris wäre in zwei Jahren vermutlich volljährig, aber ob Romeo, den (noch) keiner bei dem Handel auf der Rechnung hat, in zwei Jahren schon 18 Jahre alt wäre, bleibt unklar. Über sein exaktes Alter schweigt sich Shakespeare aus, aber es tut eigentlich nichts zur Sache. Julia ist skandalöse 14 Jahre alt – wie Goethes Gretchen –, was in Italien, so Heinrich Heine beschwichtigend, „so viel gilt, wie siebzehn Jahre nordischer Währung.“1 So viel zur Geschäftsgrundlage: damals wie heute. Apropos „Bruder Lorenzo“: Die Kirche hatte und hat andere Regelungen als der Staat: Nach can. 1083 Codex Iuris Canonici (CIC) liegt das Mindestalter für Frauen

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bei 14 und für Männer bei 16 Jahren. Ein jüngeres Alter ist ein Ehehindernis kirchlichen Rechts, welches nicht dispensfähig ist. Nach can. 1072 haben „die Seelsorger darum besorgt zu sein, dass Jugendliche von der Eheschließung abgehalten werden, solange sie nicht jenes Alter erreicht haben, in welchem die Ehe nach Landessitte geschlossen zu werden pflegt.“ Aber da hinter dem Mythos von „Romeo und Julia“ ohnehin kein historisches Ereignis steht, sind diese Überlegungen nicht zielführend und überflüssig wie ein Shitstorm. Jedenfalls gibt heute Abend Graf Capulet ein Fest, zu dem er Graf Paris einlädt und bei dem alles beginnt und alles noch viel schlimmer kommt als denkbar und möglich. Gar nicht so sehr, weil – hoppla jetzt komm ich! – Romeo seine Julia auf diesem Fest nach 14 + 4 Sonettzeilen zum ersten Mal küsst und nach weiteren vier Verszeilen noch einmal küsst, dann in der nämlichen Nacht ein Stelldichein unter ihrem Fenster mit ihr hat, bei dem sich beide ihre heimliche Vermählung für den kommenden Tag bei Pater Lorenzo verabreden, ….. sondern weil die beiden einfach aus zwei verfeindeten Familienclans stammen. Wäre das nicht der Fall, wäre beider Liebe auf den ersten Blick und der Versuch, durch unvermittelte Legalisierung zum sofortigen sexuellen Ziel zu kommen, eher eine Petitesse, selbst dann, wenn das Mädel dabei schwanger würde. Der sinnlose Hass ist die notwendige Begleitmusik, um diese Liebe unsterblich zu machen. Nicht das titelgebende Menschpaar, so nochmals Heinrich Heine, „sondern die Liebe selbst ist der Held in diesem Drama.“2 Wohl wahr, aber der andere Held ist auch der Hass in diesem Drama und der Preis ist der Tod (der Liebe). Der Prolog in Sonettform kündigt das Ende unmissverständlich an. Prolog Wie diese Liebe nun dem Tod verfiel, Der Eltern Eifern, immerfort erneut, Erst in der Kinder Ende fand sein Ziel, Das lehrt zwei Stunden euch die Bühne heut’

Dennoch beginnt alles wie in einer wohlproportionierten Komödie. Der Vater Capulet hat eigentlich gar nichts gegen den jungen Romeo vom Hause Montague, der sich auf seinen Hausball eingeschlichen hat, weil er dort seine geliebte Rosalinde zu treffen hofft. „Der Schurke Romeo“, meint Tybalt, der Schläger und selbster-

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nannte Türsteher des Hauses Capulet, dieser Schurke hat hier nichts zu suchen. Capulet fällt ihm in die Rede; der Schurke Romeo … Capulet … hält sich wie ein wackrer Edelmann: Und in der That, Verona preiset ihn Als einen sitt’gen, tugendsamen Jüngling. Ich möchte nicht für alles Gut der Stadt In meinem Haus’ ihm einen Unglimpf thun. (I,5)

Wo eigentlich liegt dann der Hund begraben? Shakespeare vermeidet es, Gründe für die Fehde zwischen den beiden Veroneser ClanFamilien auch nur anzudeuten. Der Hass existiert einfach und ihre ultima ratio ist die Blutrache. Der Prinz Escalus von Verona hat jeden Verstoß schon in der Eingangsszene der Tragödie unter Todesstrafe gestellt. In gutem Glauben an des Prinzen Spruch führt uns das Stück zu Beginn des zweiten Akts in die Szene, die sprichwörtlich geworden ist, ob da ein Balkon oder nur ein Fenster existiert. Julia zeigt sich auf dem Bild des beliebten englischen Künstlers leicht aufgestützt auf einer Fensterbank / Balkonbrüstung. Sie ist bereit für die schönste Liebesszene, die das Welttheater kennt. Die Sonne geht auf, denkt Romeo laut in die Nacht; ihre Augen sind wie „ein Paar der schönsten Stern am ganzen Himmel“. Romeo O wie sie auf die Hand die Wange lehnt! Wär ich der Handschuh doch auf dieser Hand, Und küßte diese Wange! (II,2)

Da fällt ein leiser Seufzer aus der Höhe in den Garten. Julia Weh mir! (II,2)

Romeo fängt das gehauchte Nichts leise flüsternd auf. Romeo Horch! Sie spricht! Oh, sprich noch einmal, holder Engel! (II,2)

Und weiterhin laut denkend fährt er eine Weile fort, bis er seinen Namen aus ihrem Munde hört. Julia O Romeo! warum denn Romeo?

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Verläugne deinen Vater, deinen Namen! Willst du das nicht, schwör’ dich zu meinem Liebsten, Und ich bin länger keine Capulet? (II,2)

Da gerät in wenigen Augenblicken etwas in Bewegung, das die alten Nomenklaturen der Familien ins Wanken bringt. Die traditionellen Festschreibungen fallen augenblicklich ins Nichts zusammen. Hier hat Hass und Feindschaft verloren. Julia Dein Nam’ ist nur mein Feind. Du bliebst du selbst, Und wärst du auch kein Montague. Was ist Denn Montague? Es ist nicht Hand, nicht Fuß, Nicht Arm noch Antlitz, noch ein andrer Theil. Was ist ein Name? Was uns Rose heißt, Wie es auch hieße, würde lieblich duften; So Romeo, wenn er auch anders hieße, Er würde doch den köstlichen Gehalt Bewahren, welcher sein ist ohne Titel. O Romeo, leg’ deinen Namen ab, Und für den Namen, der dein Selbst nicht ist, Nimm meines ganz! (II,2)

Das ist ein Wort, das, obwohl nur leise in die Nacht gedacht, so groß ist, dass Romeo sich nun zu erkennen gibt. Romeo Ich nehme dich beim Wort. Nenn Liebster mich, so bin ich neu getauft, Ich will hinfort nicht Romeo mehr seyn. (II,2)

Das Versprechen fällt nicht wirklich schwer – kein Montague mehr, nur noch Geliebter. Aber jetzt, als er so dasteht unter ihrem Fenster oder Balkon, kommt Ur-Angst bei Julia auf. Julia Die Stätt’ ist Tod! Bedenk’ nur, wer du bist, Wenn einer meiner Vettern dich hier findet. (II,2)

Der Schrecken ihrer Liebe vor Hass und Tod wird verdrängt durch ein Geständnis von sensationeller Art und dramatischer Brisanz. Vergiss alle Förmlichkeit, vergiss alle Liebesschwüre, alle Manieren, sagt das vierzehnjährige Mädchen, sag mir einfach „liebst du mich?“ Es ist gut, dass es Nacht ist, … Julia Sonst färbte Mädchenröthe meine Wangen Um das, was du vorhin mich sagen hörtest.

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Gern hielt ich streng auf Sitte, möchte gern Verläugnen, was ich sprach: doch weg mit Förmlichkeit Sag’, liebst du mich? Ich weiß, du wirsts bejahn, Und will dem Worte traun; doch wenn du schwörst, So kannst du treulos werden; wie sie sagen, Lacht Jupiter des Meineids der Verliebten. O holder Romeo! wenn du mich liebst: Sag’s ohne Falsch! (II,2)

Romeo fällt kurz in alte Förmlichkeiten zurück. Bitte keine Liebesschwüre, vor allem nicht auf den falschen und wandelbaren Mond. Noch besser: Julia Laß es ganz. Doch willst du, schwör’ bei deinem edlen Selbst, Dem Götterbilde meiner Anbetung! So will ich glauben. (II,2)

Dann kommen dem Mädchen doch einige Bedenken in den Sinn. Das geht zu schnell, das ist zu unbedacht, viel zu plötzlich. Romeo bittet, wenigstens seinen treuen Liebesschwur zu erwidern. Er hat wohl ihre Liebeserklärung jenseits aller Artigkeiten und aufgesetzter Komplimente nicht verstanden. Julia Ich gab ihn dir, eh du darum gefleht; Und doch, ich wollt’, er stünde noch zu geben. (II,2)

Das irritiert ihn ein wenig. Willst du deinen Schwur zurücknehmen? Wozu das, frägt er überrascht. Die Antwort ist beglückend. Julia Um unverstellt ihn dir zurückzugeben. Allein ich wünsche, was ich habe, nur. So grenzenlos ist meine Huld, die Liebe So tief ja wie das Meer. Je mehr ich gebe, Je mehr auch hab’ ich: beides ist unendlich. (II,2)

Die kleine Unterbrechung im Hintergrund durch Julias Amme kann die Seligkeit Romeos nicht irritieren. Romeo O sel’ge, sel’ge Nacht! Nur fürcht’ ich, weil Mich Nacht umgiebt, ‘dieß Alles sei nur Traum, Zu schmeichelnd süß, um wirklich zu bestehn. (II,2)

Es ist kein Traum, es kommt noch besser. Julia verspricht ihm zum

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zu Romeo und Julia, Akt 2, Szene 2

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Ende dieser Nacht des ersten Sehens und Kennenlernens die heimliche Trauung für den nächsten Tag. Julia Drei Worte, Romeo; dann gute Nacht! Wenn deine Liebe, tugendsam gesinnt, Vermählung wünscht, so laß mich morgen wissen Durch jemand, den ich zu dir senden will, Wo du und wann die Trauung willst vollziehn. Dann leg’ ich dir mein ganzes Glück zu Füßen, Und folge durch die Welt dir als Gebieter. – (II,2)

Auch das ist ein Wort, und der Rest zu dem Vorsatz ist schnell abgesprochen. Den nächsten Morgen um neun Uhr trifft man sich bei Pater Lorenzo und der willigt tatsächlich der heimlichen Vermählung zu. Er sieht darin eine einmalige Chance auf eine gute Zukunft der beiden Familien. Lorenzo Ich bin aus Einem Grund geneigt, dir beizustehn: Vielleicht, daß dieser Bund zu großem Glück sich wendet, Und eurer Häuser Groll durch ihn in Freundschaft endet. (II,3)

Unter dem Vorwand zur Beichte bei Pater Lorenzo zu gehen, trifft man sich in seiner Zelle. Romeo hat die Amme schon beauftragt eine Strickleiter für die kommende Nacht, die Hochzeitsnacht, zu besorgen. Im Nebenbei signalisiert sie Julia das Vorhaben. Wärterin Eilt ihr ins Kloster: ich muß sonst wohin, Die Leiter holen, die der Liebste bald Zum Nest hinan, wenns Nacht wird, klimmen soll. (II,5)

Jetzt steht nach schnellem Wechsel der Szenen das Paar vor dem Geistlichen. Der schließt den zweiten Akt mit einem Wort, das durchaus mit leichter Ironie gesprochen sein darf. Lorenzo Kommt, kommt mit mir! wir schreiten gleich zur Sache. Ich leide nicht, daß ihr allein mir bleibt, Bis euch die Kirch’ einander einverleibt. (II,6)

Noch ist alles gut. Noch kann „Die unselige Geschichte von Romeus und Juliet“, die Shakespeare von Arthur Brooke als Quelle übernommen hat, auch in ein Komödienende gelenkt werden. Die Weichenstellung geschieht in der Regel im dritten Akt mit der sogenannten Peripetie, dem unerwarteten Glückswechsel. Jetzt ent-

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scheidet sich (der Autor), ob die in der Exposition angelegte Handlung die Wendung zum Guten (Komödie) oder zum Schlimmen (Tragödie) nimmt. Knapp vor die Hochzeitsnacht, auch wenn die Hochzeit selbst von schlichtem Zeremoniell ist, wird der Knoten geschürzt in einer Art Wiederholung der Szene vom Beginn des Stücks, wo die Anhänger der beiden verfeindeten Häuser schon einmal aufeinanderstießen. Damals verlief der Zusammenstoß glimpflich; diesmal verrutschen die Rempeleien und verbalen Hahnenkämpfe unversehens zu blutiger Tat und Schicksal und Schuld. Romeos demonstrative Friedfertigkeit verursacht den Tod seines Freundes Mercutio, und ein unseliger Ehrenkodex macht ihn zum Mörder und Rächer von Tybalt, dem Vetter von Julia. Nun ist er dem Rundlauf des Hasses erlegen. Der erneut die Kämpfenden durch sein Machtwort zur Räson rufende Fürst ist seiner eigenen Ankündigung vom Vortag verpflichtet. Sein Schiedsspruch für Romeo lautet durch Benvoglios Bericht gemildert auf Verbannung und nicht auf Tod. Es kommt am Ende der Tragödie auf eins hinaus. Dass die Hochzeitsnacht, von der ja nur die Beteiligten und der Pater und die Amme wissen, von Abschiedsschmerz überschattet ist, ist eins, dass sie natürlich auch belastet ist von Romeos Schuld am Tode Tybalts kommt erschwerend dazu. Von den Interpreten wird sie zumeist durch einen reichlich verharmlosenden Satz abgetan: „Er hatte keine andere Wahl“ oder „Er erschlug Tybalt, ohne es zu wollen“. Das ist bei allen Sympathien mit dem jungen Mann ein Freispruch zweiter oder gar dritter Klasse. Der unerbittliche Mechanismus aus Schuld und Schicksal wird ein endgültiges Urteil sprechen, vor dem ihn auch sein Autor nicht retten kann, weil seine und Julias Liebe durch der Väter Hass und Streit dem Tod verfiel. So sagt es schon der Prolog. Und Shakespeare macht es seinen Liebenden nicht leicht. Noch weiß Julia – anders als der Zuschauer – nichts von den blutigen Ereignissen auf der Straße, und in der Stille des Hauses stimmt sie sich in einem monologischen Hochzeitsgesang auf die mit Sehnsucht erwartete Hochzeitsnacht ein. Julia Verbreite deinen dichten Vorhang, Nacht! Du Liebespflegerin! damit das Auge Der Neubegier sich schließ’, und Romeo

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Mir unbelauscht in diese Arme schlüpfe. – Verliebten gnügt zu der geheimen Weihe Das Licht der eignen Schönheit; oder wenn Die Liebe blind ist, stimmt sie wohl zur Nacht. – Komm, ernste Nacht, du züchtig stille Frau, Ganz angethan mit Schwarz, und lehre mir Ein Spiel, wo Jedes reiner Jugend Blüte Zum Pfande setzt, gewinnend zu verlieren! Verhülle mit dem schwarzen Mantel mir Das wilde Blut, das in den Wangen flattert, Bis scheue Liebe kühner wird und nichts Als Unschuld sieht in inn’ger Liebe Thun. Komm, Nacht! – Komm, Romeo, du Tag in Nacht! Denn du wirst ruhn auf Fittigen der Nacht, Wie frischer Schnee auf eines Raben Rücken. – Komm, milde, liebevolle Nacht! Komm, gib Mir meinen Romeo! Und stirbt er einst, Nimm ihn, zertheil’ in kleine Sterne ihn: Er wird des Himmels Antlitz so verschönen, Daß alle Welt sich in die Nacht verliebt, Und niemand mehr der eiteln Sonne huldigt. – (III,2)

Da kommt die Amme, wirft die Strickleiter wütend auf die Erde, und als sich für Julia aus ihrem verwirrten Gestammel langsam die Gewissheit herausschält, dass Romeos Hand Tybalts Blut auf der Straße vergoss, ringt sie mit sich zwischen Entsetzen und Liebe, zwischen Verzweiflung und Treue. Der langen Klage kurzer Sinn endet in der Aufforderung Julia Komm, Amme, komm! Ich will ins Brautbett! fort! Nicht Romeo, den Tod umarm’ ich dort. (III,2)

Die Amme, die bei aller Empörung über Romeo eine nüchtern und praktisch denkende Frau ist – auch wenn sie einen Aquavit nicht verschmäht –, schickt Julia ins Schlafgemacht und verspricht ihr, Romeo bei Lorenzo zu holen. Wärterin Geht nur ins Schlafgemach! Zum Troste find’ ich Euch Romeo’n: ich weiß wohl, wo er steckt. Hört! Romeo soll euch zu Nacht erfreuen; Ich geh’ zu ihm: beim Pater wartet er. (III,2)

Kleinlaut stimmt Julia zu.

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Julia O such’ ihn auf! Gieb diesen Ring dem Treuen; Bescheid’ aufs letzte Lebewohl ihn her! (III,2)

Vergleichsweise steht Pater Lorenzo mit Romeo vor der gleichen Situation. Auch er ist ein vernünftig abwägender Charakter. Über ein dutzend Mal fliegt das Schreckenswort „Verbannung“ in ihrem Gespräch hin und her. Romeo ist schwer zu beruhigen, und lieber als Verbannung wünscht er sich den Tod für seinen Frevel. Als die Amme kommt und er von Julias Verzweiflung hört, will er sich selbst töten. Das verhindert der geistliche Mann, und er versucht Romeos unvernünftiger Wut ein paar ordnende Leitplanken zu geben. Er zeigt ihm – was im Augenblick sicherlich schwer zu glauben ist –, dass seine Verbannung auch als Glück im Unglück verstehbar wäre. Lorenzo glaubt noch immer, dass die Vermählung zur Befriedung der verfeindeten Häuser gut sein könnte. Also empfiehlt ausgerechnet der Kirchenmann: Lorenzo Geh hin zur Liebsten, wie’s beschlossen war; Ersteig’ ihr Schlafgemach: fort! tröste sie! (III,3)

Wie das letzte Lebewohl verläuft – die Hochzeitsnacht –, auf das/die sich die beiden Vermählten nun einstellen, davon schweigt des Sängers Mund. Es ist aber zu vermuten, dass die Bitternis nicht überwog. Immerhin stürmt Romeo voller Freude los, und nach kurzer Zwischenszene unterrichtet uns Shakespeare über den morgendlichen Abschied am Fenster bzw. auf dem Balkon. Der kleine scherzhafte Streit, ob eben die Nachtigall, ob die Lerche gesungen hat, ist sprichwörtlich geworden. Zunächst ist nichts zu verspüren, dass die Brautnacht allzu sehr von Trauer überschattet war. Traurig gestaltet sich „nur“ der Abschied, eine Stimmung, die dem „Tagelied“ als einer literarischen Gattung sui generis eingeschrieben war. Dann aber mischt sich Traurigkeit in Traurigkeit. Julia das Fenster öffnend. Tag, schein’ herein! und Leben, flieh hinaus! Romeo Ich steig’ hinab: laß dich noch einmal küssen! (er steigt aus dem Fenster) (III,5)

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Ihrer beider Nacht der Liebe kannte kurze und längere Augenblicke erfüllter Liebe und kannte Traurigkeit der ermatteten Körper und Traurigkeit ob Tod, Schuld und Gram. Shakespeares beseligende Sprachkunst und seine dramatische Gestaltungskraft macht die Szenen bis heute in ihrer Wirkung ungebrochen und weltweit beliebt. Was nun noch kommt, ist eine Kette fataler Zufälle vor dem tödlichen Ende des liebenden Paares. Aristoteles nennt diesen Verlauf in seiner Poetik Katabasis = absteigende oder fallende Handlung. Immer mehr tritt die vom Vater betriebene Ehe mit Graf Paris in den Vordergrund und wird zur Bedrohung für Julia und ihre heimliche Ehe. Deren romantisch-komödiantisches Potential ist längst erschöpft und spitzt die tragischen Konstellationen weiter zu. Ohne Ruhepunkte treibt die Handlung unaufhörlich in die Katastrophe. Als auch die Amme zu dieser verhassten (zweiten) Ehe drängt, zieht sich Julia innerlich völlig zurück. Pater Lorenzos Spekulation geht ebenfalls nicht auf. Sein Plan mit einem Betäubungstrank, den Julia am Vorabend der hastig anberaumten Hochzeit trinken soll, misslingt aus doppeltem Grund. Graf Capulet zieht die Hochzeit vor, und der Brief an Romeo mit den Instruktionen des Paters geht fehl. Die Pest vereitelt die Zustellung. Julia hat tapfer den Kräutergeist Lorenzos getrunken und wird am Hochzeitsmorgen (wie) tot in ihrem Bett aufgefunden. Ein Jammergeschrei hallt durchs Haus der Capulets, das nur ein vielfach eintöniges Echo kennt: Tod! tot, tot, tot! Die Hochzeitsvorbereitungen überstürzen sich mit dem unerwarteten Todesfall fast in eine Farce. Immerhin weiß der Zuschauer ja Bescheid, dass Julia nicht tot ist, sondern nur schläft. Pater Lorenzo treibt nach Landes Sitte zur Aufbahrung in der Familiengruft. Was die Pest nicht vereitelt hat, ist die Ankunft von Romeos Diener Balthasar in Mantua. Der war im Plan nicht vorgesehen und der vermeldet Romeo den Tod von Julia. Der reagiert kurz und entschlossen. Romeo Ist es denn so? Ich biet’ euch Trotz, ihr Sterne! – (V,1)

Er besorgt sich Gift von einem Apotheker. Die Pferde stehen bereit, und noch in der Nacht ist er an der Gruft von Julia. Er will zu ihr in das Familienbegräbnis und ist mit Fackel und Werkzeug versehen. Da trifft Romeo auf Graf Paris, der seine Hochzeitsnacht als nächt-

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liche Totenfeier hält. Die Begegnung endet nach kurzem Streit mit dem Tod des vom Vater bestimmten Bräutigams. Er ist anders als bei Tybalt sozusagen ein „Kollateralschaden“, der passierte, ohne gewollt zu sein. Parallel erfährt Pater Lorenzo, dass sein Brief Romeo nicht erreicht hat. Er weiß, dass Julia in drei Stunden erwachen wird, und da will wenigstens er bei dem armen Geschöpf sein und sie in seine Mönchszelle retten. Aber Romeo ist fatalerweise schneller. Sein Weg zu Julia ist frei und sein Erstaunen bei ihrem Anblick übermächtig. Romeo

O mein Herz! mein Weib! Der Tod, der deines Odems Balsam sog, Hat über deine Schönheit nichts vermocht. Noch bist du nicht besiegt: der Schönheit Fahne Weht purpurn noch auf Lipp’ und Wange dir; Hier pflanzte nicht der Tod sein bleiches Banner. – (V,3)

Romeo täuscht sich nicht in dem, was er sieht, aber natürlich deutet er falsch. Julia ist wie Schneewittchen nicht tot. Hier ist keine Leiche, so sieht der Tod nicht aus, dieser Körper ist noch nicht für die schwarze Erde, für die Würmer und den Wucherer Tod. Romeo

Liebe Julia, Warum bist du so schön noch? Soll ich glauben – Der körperlose Tod entbrenn’ in Lieb’, Und der verhaßte, hagre Unhold halte Als seine Buhle hier im Dunkel dich. Aus Furcht davor will ich dich nie verlassen, Und will aus diesem Pallast dichter Nacht Nie wieder weichen. Hier, hier will ich bleiben Mit Würmern, so dir Dienerinnen sind. O, hier bau’ ich die ew’ge Ruhstatt mir, Und schüttle von dem lebensmüden Leibe Das Joch feindseliger Gestirne. – Augen, Blickt euer Letztes! Arme, nehmt die letzte Umarmung! und, o Lippen, ihr, die Thore Des Odems, siegelt mit rechtmäß’gem Kusse Den ewigen Vertrag dem Wuch’rer Tod! (V,3)

Den Trank des Apothekers loben, aufs Wohl der Geliebten trinken und küssend sterben, sind eins. Es geht sehr schnell. Der alte Lorenzo stolpert in die Gruft, sieht den toten Romeo, sieht Julia erwa-

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chen, hört Geräusche im Hintergrund, beschwört Julia ihm zu folgen und stürzt wieder davon. Julia bleibt zurück, sieht den Becher, und es durchzuckt sie ein Gedanke: Gift war ihres Romeo Ende. Heiter und schnell bringt sie ihr Ende zu Ende. Julia O Böser! Alles Zu trinken, keinen güt’gen Tropfen mir Zu gönnen, der mich zu dir brächt’? – Ich will Dir deine Lippen küssen. Ach, vielleicht Hängt noch ein wenig Gift daran, und läßt mich An einer Labung sterben. (sie küßt ihn) Deine Lippen Sind warm. – Wächter (hinter der Szene) Wo ist es, Knabe? Führ’ uns! Julia Wie? Lärm? – Dann schnell nur! – (sie ergreift Romeos Dolch) O willkommner Dolch! Dieß werde deine Scheide! (ersticht sich) Roste da, Und laß mich sterben! (sie fällt auf Romeo’s Leiche und stirbt) (V,3)

Was jetzt noch kommt, ist eher pflichtschuldige Routine. Der Fürst wird zum dritten Mal auf die Szene gerufen. Jetzt gibt es niemand mehr, der verbannt oder verurteilt werden könnte. Nur einer kann Aufklärung bieten: Es ist Pater Lorenzo, dessen Bemühung, den Kreislauf des Hasses zu unterbrechen, zwar gelungen ist, aber um einen schmerzhaft hohen Preis. Er klärt seine Rolle in diesem Drama, das in die für alle sichtbar gewordene Tragödie stürzte in großer Ausführlichkeit auf. Das ist für die Zuschauer eher eine Rekapitulation des Gesehenen und schon Gewussten, für die Protagonisten aber doch eine große Überraschung. Ein Brief Romeos an seinen Vater adressiert, der dem Zuschauer auf der Straße in Mantua vielleicht entgangen ist, taucht plötzlich auf und bestätigt die Aussagen des Mönchs. Prinz Hier dieser Brief bewährt das Wort des Mönchs, Den Liebesbund, die Zeitung ihres Todes; Auch schreibt er, daß ein armer Apotheker Ihm Gift verkauft, womit er gehen wolle Zu Juliens Gruft, um neben ihr zu sterben. – Wo sind sie, diese Feinde? – Capulet! Montague!

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Seht, welch ein Fluch auf eurem Hasse ruht, Daß eure Freuden Liebe tödten muß! Auch ich, weil ich dem Zwiespalt nachgesehn. Verlor ein Paar Verwandte: – Alle büßen. (V,3)

Und die Moral von der Geschichte!? Man gibt sich die Hand, man sieht ein, wie töricht dieser Hass war. Man kommt schnell überein, die noch warmen Toten in einem goldenen Denkmal zu verewigen. Die bittere Ironie dieser Verwandlung von atmendem Fleisch und Blut in kaltes Metall mag man erahnen oder auch nicht. Dem Frieden, der scheinbar nun ausbricht, darf man misstrauen, wie jedem Frieden am Ende aller Stücke Shakespeares. Er mutet schal an und hält sicherlich nicht lange. Prinz Nur düstern Frieden bringt uns dieser Morgen; Die Sonne scheint, verhüllt vor Weh, zu weilen. Kommt, offenbart mir ferner, was verborgen; Ich will dann strafen, oder Gnad’ ertheilen; Denn niemals gab es ein so hartes Loos Als Juliens und ihres Romeo’s. (V,3)

Das war die offizielle Rede. Aber, so hallt seine Ankündigung ins Leere nach: Wen will der Fürst eigentlich strafen oder wen begnadigen? Mit den Oberhäuptern der nun befriedeten Häuser Capulet und Montague geht er vertraulich sprechend ab. Was sollen die ihm offenbaren? Dass es ihr Hass war, der die Liebe getötet hat. Wenn es Schuldige geben sollte, so sind sie tot. Mercutio ist tot, Tybalt ist tot, Paris ist tot, Romeo ist tot und Julia ebenso. Bleiben die Nebenfiguren: der Mönch, die Amme, der Page des Paris, Balthasar, der Diener Romeos, ein armer Apotheker in Mantua. Nicht doch! Wo sollte deren Schuld sein? Das Schlussstatement widersetzt sich auf leicht absurde Weise der Bewältigung einer unseligen, ja einer absurden, weil tragischen Geschichte zweier Familien. deutsche Übersetzung: August Wilhelm von Schlegel 1) Heinrich Heine (2014), S. 137 2) Heinrich Heine (2014), S. 135

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Ein Sommernachtstraum (1595 / 1596)

designed by Joseph John Jenkins and engraved by C. Cook

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Nach dem lustvollen Wüten der Protagonisten in manierierter poetischer Künstlichkeit kommt das lyrische Crescendo des „Sommernachtstraums“ einigermaßen überraschend. Aber wenn man den Schlussgesang von Frühling und Winter in der Komödie von der „Verlorenen Liebesmüh“ als Ausdruck einer neuen Regel von Einfachheit und Natürlichkeit ernst nimmt, dann überrascht der Ton beim Auftritt der Elfenkönigin kein bisschen. Titania Kommt! einen Ringel-, einen Feensang! Dann auf das Drittel ‘ner Minute fort! Ihr, tödtet Raupen in den Rosenknospen! Ihr andern führt mit Fledermäusen Krieg, Bringt ihrer Flügel Balg als Beute heim, Den kleinsten Elfen Röcke draus zu machen! Ihr endlich sollt den Kauz, der nächtlich kreischt, Und über unsre schmucken Geister staunt, Von uns verscheuchen! Singt mich nun in Schlaf; An eure Dienste dann, und laßt mich ruhn! (II,2)

Die Darstellung des Illustrators der Elfenkönigin Titania formuliert eine bildliche Lesart, die der deutschen Erstaufführung von 1843 durch Ludwig Tieck als einem romantisch-poetischen Märchenspiel korrespondiert. Die Bühnenmusik steuerte Felix Mendelssohn-Bartholdys „Sommernachtstraum“ bei und vervollständigte Tiecks Sichtweise als vorbildlich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Selbst die Verfilmung von Max Reinhardt von 1935 hält noch immer an dieser romantischen Auffassung und Deutung des Stücks fest. In Deutschland wurde der Film ohnehin erstmals am 1. Oktober 1962 als Fernsehpremiere in der ARD gezeigt; der Film war in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland verboten, weil sowohl Max Reinhardt als auch Felix Mendelssohn-Bartholdy jüdischer Abstammung waren. In die Zeit der deutschen Erstausstrahlung fällt auch meine erste Begegnung mit dem „Sommernachtstraum“ im Theater, und sie war

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geprägt aus dem Geist der Musik von Mendelssohn und dem Film von Max Reinhardt. Es kamen bis heute etwa 15 weitere Begegnungen mit Shakespeares beliebtem Klassiker hinzu, darunter Inszenierungen von Jürgen Rose (Kammerspiele München), Jürgen Gosch (Deutsches Theater Berlin) und natürlich der Gastauftritt von Peter Brooks Inszenierung während der Olympischen Spiele in München. Auch ein früher Besuch der Inszenierung der Oper von Benjamin Britten durch Walter Felsenstein an der Komischen Oper war darunter. In all diesen Inszenierungen hatte sich ein gegenläufiger Ton Gehör verschafft und ein antiromantisches Bild manches Zuschauerauge verärgert. Das Buch des Theater- und Literaturkritikers Jan Kott „Shakespeare heute“ (1965) hatte seine Pflicht und Schuldigkeit getan und zahlreiche Aufführungen von Shakespeares Stücken, insbesondere den „Sommernachtstraum“ stark beeinflusst und geprägt. Dennoch scheint die Verhandlungsgrundlage des Stücks bis heute überlesen worden zu sein. Titania formuliert sie in ihrem großen/großartigen Monolog, der gegen ihren Gatten Oberon gesprochen wird. Die Welt ist aus den Fugen und Schuld daran bist „Du“: Oberon, ein eifersüchtiger Ehemann. Natürlich ist die zerrüttete Ehe der beiden Herrscher des Natur- und Geisterreichs keine christliche Ehe, aber die Harmonie der Welt ist ohne Begegnung auf Augenhöhe in gegenseitiger Liebe auch im Geisterreich nicht zu haben. Man wirft sich wechselseitige Seitensprünge vor und streitet sich um das Sorgerecht für ein Kind. Augenblicklich beargwöhnt man sich wegen Theseus und Hippolyta, die eben ihre Hochzeit in Athen angekündigt haben. Er liebäugelte mit ihr, sie flirtete mit ihm. Aber eigentlich geht das schon länger; Oberon wildert schon seit einiger Zeit in fremden Revieren, drum hängt der Haussegen total schief. Droll, der Diener Oberons, hat davon schon eine Andeutung gemacht, die Titania den Elfen gegenüber bestätigt. Meidet meinen Mann. Titania

Elfen, schlüpft von hinnen, Denn ich verschwor’ sein Bett und sein Gespräch. (II,1)

Bett hin, Gespräch her! Immerhin redet man im Augenblick seit langem wieder miteinander. Aber deine Eifersucht, sagt sie, verdirbt jeden Spaß und das sind die Folgen: Titania … nie, seit jenem Sommer, trafen wir

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Auf Hügeln noch im Thal, im Wald noch Wiese, Am Kieselbrunnen, am beschilften Bach, Noch an des Meeres Klippenstrand uns an, Und tanzten Ringel nach des Windes Pfeifen, Daß dein Gezänk uns nicht die Lust verdarb. (II,1)

Diese Folgen wären verschmerzbar, aber – und jetzt kommt eine unglaubliche Analyse der sich daraus ergebenden Klimakatastrophe in gängigen und äußerst beliebten Bildern der Zeit. Titania Drum sog der Wind, der uns vergeblich pfiff, Als wie zur Rache, böse Nebel auf Vom Grund des Meers; die fielen auf das Land, Und machten jeden winz’gen Bach so stolz, Daß er des Bettes Dämme niederriß. Drum schleppt der Stier sein Joch umsonst, der Pflüger Vergeudet seinen Schweiß, das grüne Korn Verfault, eh seine Jugend Bart gewinnt. Leer steht die Hürd’ auf der ersäuften Flur, Und Krähen prassen in der siechen Heerde. Verschlämmt vom Leime liegt die Kegelbahn; Unkennbar sind die art’gen Labyrinthe Im muntern Grün, weil niemand sie betritt. Den Menschenkindern fehlt die Winterlust; Kein Sang noch Jubel macht die Nächte froh. Drum hat der Mond, der Fluten Oberherr, Vor Zorne bleich, die ganze Luft gewaschen, Und fieberhafter Flüsse viel erzeugt. (II,1)

Das ist weit mehr als eine Anmerkung wert, die hier immer gerne angebracht wird. Die lautet, dass es in den Jahren 1594 bis 1596 ziemlich kalte und nasse Sommer gab mit Missernten und Überschwemmungen. „Aber“, so Frank Günthers Kommentar zu seiner Übersetzung, „über die mögliche, banale Aktualität hinaus ist Titanias großer Monolog thematisch eine grundsätzliche Beschreibung der gestörten Weltordnung, die ins Kosmische greift.“1 Diese Deutung – man wundert sich – lag nie als verborgener Subtext dem „Sommernachtstraum“ zugrunde. Titanias Monolog war sicherlich nie ein Text, der dem Rotstift der Dramaturgie zum Opfer fiel. Aber er blieb immer unbeachtet, bei der Lektüre sowohl als auch auf dem Theater. Man hat diesen „zentralen Topos des durch den Menschen in Unordnung geratenen Universums“ wohl immer als schöne po-

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etische Sprachgirlande verstanden und nie als Grundsatzerklärung, dass der „Sommernachtstraum“ eher ein „Wintermärchen“ ist, eine Schlammschlacht à la „Der Widerspenstigen Zähmung“ (vgl. dort), von der Grumio in der ersten Szene des Vierten Akts erzählt: „War je einer so dreckig?“, „Ist je ein Mensch so müde gewesen?“ Frost, Winter, Eis, Kälte, frieren, Kot, Schmutz, durchnässt etc. sind die Leitvokabeln für die Szene dort, und sie dürfen es mit weit mehr Berechtigung in diesem Panorama sein, das Titania in ihrem Text ausbreitet und das für den gesamten „Sommernachtstraum“ den szenischen Hintergrund bildet. Titania Durch eben die Zerrüttung wandeln sich Die Jahreszeiten: silberhaar’ger Frost Fällt in den zarten Schooß der Purpurrose; Indes ein würz’ger Kranz von Sommerknospen Auf Hyems Kinn und der beeisten Scheitel Als wie zum Spotte prangt. Der Lenz, der Sommer, Der zeitigende Herbst, der zorn’ge Winter, Sie alle tauschen die gewohnte Tracht, Und die erstaunte Welt erkennt nicht mehr An ihrer Frucht und Art, wer jeder ist. (II,1)

„Das Thema der ‚Störung’ ist auf allen Ebenen des Stücks aufzufinden – von den Störungen des Liebesempfindens bis zur Störung des Weltgefüges; diese Passage ist fundamental für das Verständnis des Stückes.“ Und wieder ist Frank Günther zuzustimmen und zu bedauern, dass die Passage ungehört verhallt. Auch in Peter Brooks Inszenierung, die mit ihren antiromantischen Strategien die Tradition auf den Kopf stellte, war die fundamentale Passage vor lauter Artistik und virtuosen Kunststückchen kein ernstgenommener Text, und Jan Kott hat vor überbordender tierhafter Erotik den Rahmen unterschlagen. Dieser Rahmen, der zentrale Topos für die in Schräglage befindliche Welt, hat auch einen zeitgenössischen Namen; der klassische Topos heißt „Verkehrte Welt“. Schon die Antike entwickelte unter diesem zentralen Topos Bilder für die Widersprüche des Lebens, und gerade die frühe Neuzeit in Europa arbeitet die Unmöglichkeiten und Zumutungen der Welt in einer Vielzahl von Bildern und Diskursen unter diesem Titel ab. Beliebter als die verstörenden Unstimmigkeiten im Detail – der Schüler schlägt den Lehrer, der Ochse spannt den Bauern vor den Pflug, die Hasen

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jagen die Jäger – ist natürlich das Bild in toto von der auf den Kopf gestellten Welt. Die Jahreszeiten haben ihre Tracht getauscht; Giuseppe Arcimboldo muss nach Titanias Ansage seine berühmte Bildfolge der „Vier Jahreszeiten“ ummalen. Und wer ist schuld an dieser Misere: Wir! Wir, die Hüter und Repräsentanten der kosmischen Ordnung. Shakespeare vermeidet es, gegen die Menschen zu argumentieren. Nicht sie zerstören die Ordnung, sondern sie leiden unter der zerstörten Ordnung. Titania betont: Und diese ganze Brut von Plagen kommt Von unserm Streit, von unserm Zwiespalt her; Wir sind davon die Stifter und Erzeuger. (II,1)

Das mag man heute vielleicht anders, wiederum umgekehrt sehen in einer entgötterten Welt – Botho Strauss’ Paraphrase des „Sommernachtstraums“ unter dem Titel „Der Park“ wird das versuchen –, aber was man immer noch gleich sieht, ist, dass Eifersucht der Beziehungskiller Nr.1 ist und dass Streitereien ums Sorgerecht sich sehr lange hinziehen können. Oberon So hilf dem ab! Es liegt an dir. Warum Kränkt ihren Oberon Titania? Ich bitte nur ein kleines Wechselkind Zum Edelknaben. (II,1)

Die Antwort ist ein einfaches „Nein“ in vielen Monologworten und ein vergiftetes Angebot. Titania Wollt ihr in unsern Ringen ruhig tanzen, Und unsre lust’gen Mondscheinspiele sehn, So kommt mit uns! Wo nicht: vermeidet mich, Und ich will nie mich nahen, wo ihr haust. Oberon Gieb mir das Kind, so will ich mit dir gehn. Titania Nicht um dein Königreich – Ihr Elfen, fort mit mir; Denn Zank erhebt sich, weil’ ich länger hier. (II,1)

Das Unterfutter dieser Hochzeitskomödie ist düster und die Ehetherapie ein Unterfangen, das bei den Zerstrittenen in eigener göttlicher Hand liegt. Sie ist einigermaßen hart und gleicht der „Widerspenstigen Zähmung“ und stürzt die liebende Welt drumherum in tiefe Verwirrungen wie schon die Natur und der Jahreszeiten Lauf.

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Nicht erst im Athener Wald beginnen die Kämpfe unter unguten Vorzeichen, sondern kaum hat Theseus in zwanzig Verszeilen die Hochzeit mit der ihrem Vater entführten Amazonenkönigin Hippolyta angekündigt, bricht der erste paternalistisch bedingte Konflikt auf. Die alte athenische Ordnung wird durch Auflehnung gestört. Hermia weigert sich, dem Gebot des Vaters Folge zu leisten. Mit ihrem Geliebten Lysander beschließt sie, an einen Ort zu fliehen, wo das Gesetz Athens keine Kraft hat, wo aber die Ordnung der Welt in die Umkehrung gestürzt ist. Das wissen die beiden aber nicht. Das zweite Liebespaar, Demetrius und Helena, das dem ersten Paar folgt, ist ohnehin ein Paar und (noch) kein Paar in seltsamer Verfolgungsjagd des ersten Paars. Demetrius folgt Hermia und Helena verfolgt Demetrius. Helena beschreibt ihre Lage in treffenden Bildern. Helena

Die Fabel kehrt sich um: Apollo flieht, und Daphne setzt ihm nach. Die Taube jagt den Greif; die sanfte Hindin Stürzt auf den Tiger sich. Vergebne Eil! Verfolgt die Zagheit, flieht die Tapferkeit. (II,1)

Shakespeare legt Helena Vergleiche bzw. Bilder in den Mund, die ihr als exoterische Rede in ihrer esoterischen Weisheit natürlich verborgen bleiben. Die Vorstellung von einer in ihrer Daseinsordnung auf den Kopf gestellten Welt ihrer Liebe ist ihrem dichterischen Übervater aber ein sehr bewusstes Gestaltungsmittel. Ihm sind die rhetorischen Tricks für die Beschreibung von offenkundig Unmöglichem in der Ordnung der Natur wie der Liebe geläufig. Das Adynaton betont etwas Unmögliches und wird zu einem Bild der verkehrten Welt. Vielleicht nicht ganz Unmögliches, aber doch eine äußerste Unwahrscheinlichkeit ist die Liebe Titanias zu einer tierischen Kreatur. Was Oberon in seiner Eifersucht als Strafe für Titania mit Hilfe der Zauberblume wünscht … Oberon Was du wirst erwachend sehn, Wähl’ es dir zum Liebsten schön, Seinetwegen schmacht’ und stöhn’; Sei es Brummbär, Kater, Luchs, Borst’ger Eber oder Fuchs, Was sich zeigt an diesem Platz,

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Wenn du aufwachst, wird dein Schatz; Sähst du gleich die ärgste Fratz’! (II,2)

… wird durch des Dieners Spaß an der Freude ein Esel. Der antike Mythos kennt größere Geschmacklosigkeiten. Pasiphae lässt sich von einem Stier besteigen und gebiert den Minotaurus. Mit dieser Variante spielt Botho Strauss in seinem „Park“. Wie auch immer sich das Verhältnis Titania mit dem verwandelten Weber Zettel erotisch gestaltet, Vernunft und Narrheit liegen hier nahe beieinander – bei allen Beteiligten.

zu Ein Sommernachtstraum, Akt 2, Szene 2

Chaos, wenn nicht ohnehin schon alles beherrschend, breitet sich über den Wirklichkeitsbereich der Natur, des Athener Waldes. Die Paare fallen im Unterholz ob der Verzauberung bar jeglicher Vernunft einerseits übereinander her und verfolgen sich andrerseits bis aufs Messer. Puck hat seinen Spaß an der Verwirrung und feuert sich selbst an. Droll Nun jag’ ich euch, und führ’ euch kreuz und quer, Durch Dorn, durch Busch, durch Sumpf, durch Wald.

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Bald bin ich Pferd, bald Eber, Hund und Bär, Erschein’ als Werwolf und als Feuer bald, Will grunzen, wiehern, bellen, brummen, flammen, Wie Eber, Pferd, Hund, Bär und Feu’r zusammen. (III,1)

Am meisten Spaß macht natürlich zu sehen, wie die Schöne und das Biest aufeinander reagieren. Engel nennt sie ihn und von lieblicher Gestalt. Titania Gewaltig treibt mich deine schöne Tugend, Beim ersten Blick dir zu gestehn, zu schwören: Daß ich dich liebe. (III,1)

Wo auch immer Titania in dem winterlichen Sommerwald ein Blumenbett findet – Oberon hat es sich leichter gemacht: Er hatte sein Lager ja in Indien aufgeschlagen –, Puck wiehert vor Begeisterung über seine grotesken Zurichtungen aller menschlichen und göttlichen Gefühle. „Herr, meine Fürstin liebt ein Ungeheuer“, ein „Monster“, berichtet er stolz seinem Herrn, und dafür will er gelobt werden. Aber die höheren Scherze des Geisterfürsten haben schon eine Welt kopfüber bewirkt, die er nun zu korrigieren befiehlt. Während Titania und der Esel sich auf ihr Liebeslager zurückziehen – ihrer beider Geschichte gebiert kein Ungeheuer –, versucht der Kobold wieder Ordnung ins Chaos der Verliebten zu bringen. Der Sturm der Leidenschaften im Sturm der Natur wird aber erst dann endgültig rückabgewickelt, wenn die zerrüttete Geisterehe wieder geheilt ist. Vorerst bleiben die völlig zerzausten Paare in Schlaf versenkt, während Oberon seiner eigenen Hahnreikomödie zuschaut. Was er aus dem Hintergrunde beobachtet, ist eigentlich nicht schmeichelhaft für ihn. Titania Komm, laß uns hier auf Blumenbetten kosen! Beut, Holder, mir die zarte Wange dar: Den glatten Kopf besteck’ ich dir mit Rosen, Und küsse dir dein schönes Ohrenpaar. (IV,1)

Der zum Esel verzauberte Zettel weiß nicht, wie und was ihm geschieht. Er führt einen artigen Dialog mit den kleinen Bedienern/ Bedienerinnen (heute gerne erweitert aus der LGBTQ-Gemeinde). Schließlich zieht ihn Titania in ihr Bett in poetischen Bildern, die gerne hocherotische Phantasien erwecken. Die emblematischen Bilder von Baum und umrankenden Efeu sind recht eindeutig

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konnotiert und finden immer wieder gerne literarische Verwendung. Titania Schlaf ’ du! Dich soll indeß mein Arm umwinden. Ihr Elfen, weg! Nach allen Seiten fort! – So lind umflicht mit süßen Blüthenranken Das Geißblatt; so umringelt, weiblich zart, Das Efeu seines Ulmbaums rauhe Finger. – Wie ich dich liebe! wie ich dich vergöttre! (IV,1)

Sie schlafen ein, sagt die Regieanweisung. Dann kommt Droll, der kleine Zauberlehrling, dem die Augen übergehen vor der Szene, die Oberon zwar als rührend empfindet, die er aber jetzt auch als beendet sehen will, weil da etwas vorgefallen ist, was dem Zuschauer bisher vorenthalten wurde. Oberon Willkommen, Droll! Siehst du ‘dieß süße Schauspiel? Jetzt fängt mich doch ihr Wahnsinn an zu dauern. Denn da ich eben im Gebüsch sie traf, Wie sie für diesen Tropf nach Düften suchte, Da schalt ich sie und ließ sie zornig an. Sie hatt’ ihm die behaarte Schläf ’ umwunden Mit einem frischen, würz’gen Blumenkranz. Derselbe Thau, der sonst wie runde Perlen Des Morgenlandes an den Knospen schwoll, Stand in der zarten Blümchen Augen jetzt, Wie Thränen, trauernd über eigne Schmach, Als ich sie nach Gefallen ausgeschmält, Und sie voll Demuth um Geduld mich bat, Da fordert’ ich von ihr das Wechselkind; Sie gabs mir gleich und sandte ihren Elfen Zu meiner Laub’ im Feenland mit ihm. Nun, da der Knabe mein ist, sei ihr Auge Von dieser häßlichen Verblendung frei. (IV,1)

Geisterehen werden, das muss man Shakespeare lassen, auf seltsame Art und Weise therapiert. Da verstehe einer die Welt, aber wir sind ja in einer Zauberwelt, und also tut das nichts weiter zur Sache! Er berührt ihre Augen mit einem Kraut. Sie erwacht und fühlt sich einem Alptraum entronnen. Titania Mein Oberon, was für Gesicht’ ich sah! Mir schien, ein Esel hielt mein Herz gefangen. (IV,1)

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Irrtum, holde Königin, sagt Oberon. Das war kein Traum. Hier liegt er ja, dein Freund. Schrecklich, igitt, ruft sie voller Ekel und Abscheu. Sei ganz ruhig, ich erzähl dir später, was es mit diesem Esel auf sich hat. Jetzt brauchen wir erst einmal „Schlafbeschwörende Musik!“. Die anderen schlafenden Paare im Blick und den schnarchenden Esel zu Füßen, wird ein neuer Ehebund bestätigt. Oberon Ertön’ Musik! (sanfte Musik) Nun komm, Gemahlin! Hand in Hand gefügt, Und dieser Schläfer Ruheplatz gewiegt! Die Freundschaft zwischen uns ist nun erneut: Wir tanzen morgen Mitternacht erfreut In Theseus Hause bei der Festlichkeit, Und segnen es mit aller Herrlichkeit. Auch werden da vermählt zu gleicher Zeit Die Paare hier in Wonn’ und Fröhlichkeit. (IV,1)

Jetzt und keinen Augenblick früher können und dürfen die Liebenden erwachen. Die Reihenfolge ist wichtig. Harold Bloom meint zwar: „Am Ende der Komödie bekommt Bottom seine alte Gestalt zurück, die Liebenden verheiraten sich in der rechten, vernünftigen Ordnung, und auch Oberon und Titania finden wieder zueinander.“2 Mit Verlaub, umgekehrt wird ein Schuh draus. Titanias und Oberons Heilung ihrer Ehe ist die conditio sine qua non für alles weitere, ist unabdingbare Voraussetzung für eine gelingende Komödie. Wer diese Reihenfolge verletzt, ignoriert die Verhandlungsgrundlage des Stücks, die uns sein Autor als world upside down vorgezaubert hat. Wie Oberon seiner Titania allerdings den Return zur neu-alten Harmonie ihrer Ehe und der Natur erklären wird, bleibt offen. Titania bittet ihn um Auskunft, aber das Stück löst sie nicht ein. Titania Komm, Gemahl, und sage du Mir im Fliehn: wie ging es zu, Daß man diese Nacht im Schlaf Bei den Sterblichen mich traf? (IV,1)

Vielleicht ist es gut, wenn Titania nichts erfährt von dem bestialischen Experiment, das Oberons ausdrücklicher Wunsch war. Kaum haben sich Königin und König bei anhebendem Morgen zu den Schatten zurückgezogen, bricht eitel Harmonie in die Welt.

Titania • 235

Selbst das Hundegebell wird melodischer Widerhall und harmonischer Zwist der Töne. In milder Eintracht sieht Theseus die „Feind’ und Nebenbuhler“. Sie können sich nicht erklären, durch welche Macht – doch eine höhre Macht ist’s – ihre Liebeszerwürfnisse geklärt wurden. Die Erklärungen fallen in solchen Fällen immer ziemlich simpel aus. Alles war ein Traum, ein Sommernachtstraum, vielleicht ein Alptraum. Man muss ihn nur deuten wollen. Traumdeuterei und Astrologie sind seit Joseph in Ägypten beliebt, aber die Deutung dieses Sommernachtstraums, dieses Sommermärchens, geht ganz einfach. Es war ein reales Wintermärchen einer großen Ehekrise. Eine neue Ehe, nein drei neue Ehen werden zum Schluss geschlossen und eine uralte Ehe wird wieder neu belebt. In der uraltmythischen Aufhebung der Dissonanzen, die man Ehe nennt, kommt auch diese Komödie wie jede Komödie ins happy end. Ob der Stückanlass nun eine reale historisch belegbare Hochzeit war oder nicht – das tut wenig zur Sache, denn am Ende jeder Komödie steht eine Hochzeit in Aussicht –, implizit kennt das Genre immer so etwas wie die „Segnung des Hauses“. Hier wird sie explizit zu einer theatralischen Zeremonie gestaltet. Nach der Bemühung der Handwerker in ihrer Laienspielaufführung der Tragödie von „Pyramus und Thisbe“, die Hochzeitsgäste bettreif zu machen, kommentiert Theseus deren einfältige Darbietung in tief verständnisvoller Weise. Theseus Das Beste in dieser Art ist nur Schattenspiel, und das schlechteste ist nichts schlechteres, wenn die Einbildungskraft nachhilft. (V)

Das scheint uns ein tief demütiges Bekenntnis des weltgrößten Autors Shakespeare und seines Werks zu sein. Großartig! Theseus ruft alle verliebten zu Bett mit deutlichem Verweis, dass um Mitternacht Geisterzeit anbricht. Das ruft Droll, Oberon und Titania mit ihrem jeweiligen Gefolge auf den Plan. Sie beherrschen nun die Bühne und den Erdkreis. Im harmonischen Wechselgesang und nicht im Zwist der Töne segnen sie das Haus, das Bett, die Liebenden und ihr Liebeswerk. Titania Wirbelt mir mit zarter Kunst Eine Not’ auf jedes Wort;

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Hand in Hand, mit Feengunst, Singt und segnet diesen Ort! Oberon Nun, bis Tages Wiederkehr, Elfen, schwärmt im Haus umher! Kommt zum besten Brautbett hin, Daß es Heil durch uns gewinn’! Das Geschlecht, entsprossen dort, Sei gesegnet immerfort; Jedes dieser Paare sei Ewiglich im Lieben treu; Ihr Geschlecht soll nimmer schänden Die Natur mit Feindeshänden; Und mit Zeichen schlimmer Art, Muttermaal und Hasenschart’, Werde durch des Himmels Zorn Ihnen nie ein Kind gebor’n. – Elfen, sprengt durchs ganze Haus Tropfen heil’gen Wiesenthaus! Jedes Zimmer, jeden Saal Weiht und segnet allzumal! Friede sei in diesem Schloß, Und sein Herr ein Glücksgenoß! (V)

Da kann auch der Pfarrer nur noch bekräftigend und zustimmend „Amen“ sagen. Da aber auch Geisterehen wie menschliche Ehen immer wieder in ihrem Frieden gefährdet sind, ist die schlussendliche Segnung der Ehebetten und des Hauses und der Kinder zwar ein wunderschöner Traum, aber es bleibt ein Hauch von Instabilität und Gefährdung solcher Gemeinschaft auf Leben, Tod und Ewigkeit. deutsche Übersetzung: August Wilhelm von Schlegel 1) Frank Günther, Bd. 2, S. 175 2) Harold Bloom, Komödien und Historien, S. 226/27

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Lady Percy

König Heinrich IV. (1. und 2. Teil) (1596 / 1597) eigtl. geb. Elizabeth Mortimer, verwitwete Lady Percy, Baroness Camoys (1371–1417)

designed by Joseph John Jenkins and engraved by G. Stodart

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Die Dame auf dem obigen Bild sieht nicht so keck und aufgeklärt aus, dass man bei ihrem ersten Auftritt in dem sehr männerzentrierten Stück „König Heinrich IV.“ mit derart lockeren Fragestellungen rechnen müsste. Sie geht – im Übrigen die erste weibliche Stimme im Stück – ohne weitere Vorwarnung gleich in medias res. Lady Percy O mein Gemahl, was seid ihr so allein? Für welchen Fehl war ich seit vierzehn Tagen, Ein Weib, verbannt aus meines Heinrichs Bett? (1,II,3)

Die Universalität und die immerwährende Aktualität dieser Fragen sind kaum zu leugnen. Die Anlässe sind über die Zeiten hinweg mutatis mutandis – nach Änderung des zu Ändernden – die gleichen wie zu den Zeiten von Heinrich Percy, der den Aufstand gegen König Heinrich IV. anführt. Zugestanden, die Szene ist nicht öffentlich, sondern wird in schöner englischer Häuslichkeit versteckt, aber doch auch öffentlich auf dem Theater verhandelt. Warum weist du, so die Lady neckisch weitermonologisierend, meine erotischen Schätze und meine Rechte als Frau in deinem Bett aus mir verhasster Schwermut zurück? – Schweig still, ich weiß es selber. Der Sex-Entzug hat testosterongesteuerte Gründe. Die Symptome zählt die Lady ungeniert auf. Lady Percy Ich habe dich bewacht in leichtem Schlummer Und dich von ehrnen Kriege murmeln hören, Dein bäumend Roß mit Reiterworten lenken Und rufen: Frisch ins Feld! Dann sprachest du Von Ausfall und von Rückzug, von Gezelten, Laufgräben, Pallisaden, Parapetten, Feldschlangen, Basiliken und Kanonen, Gefangner Lösung und erschlagnen Kriegern Und jedem Vorfall einer heißen Schlacht. Dein Geist in dir ist so im Krieg gewesen, Und hat im Schlafe so dich aufgeregt, Daß Perlen Schweißes auf der Stirn dir standen,

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Wie Blasen in dem erst getrübten Strom: Und im Gesicht erschien gewaltge Regung, Wie wenn ein Mensch den Oden an sich hält In großer Eil. O, was sind dieß für Zeichen? (1,II,3)

Der im Schlaf schwitzende Mann trägt den Beinamen „Hotspur“ oder „Heißsporn“ und ist in seinem aufbrausenden Temperament vergleichbar dem Mercutio im kurz vorher entstandenen Stück „Romeo und Julia“. Wie dieser ist er draufgängerisch, frech und lebhaft und irgendwie noch nicht ganz seiner pubertären Kraftmeierei und Unreife entronnen. Einer, der ihm sehr ähnelt, ist der Sohn des Königs, Prinz Heinrich von Wales, von seinen nicht standesgemäßen Kumpels in den Kneipen von Eastcheap gerne Hal genannt. Indem er sich von Percy, seinem späteren Gegner und Rivalen abzusetzen versucht, zeichnet er auch ein indirektes Selbstbild seiner Zukunft als König Heinrich V. Um vom Stöckchen aufs Hölzchen zu kommen: Man ersetze die Schotten dann einfach durch Franzosen. Prinz Heinrich Ich bin noch nicht so gesinnt wie Percy, der Heißsporn des Nordens, der euch sechs bis sieben Dutzend Schotten zum Frühstück umbringt, sich die Hände wäscht und zu seiner Frau sagt: „Pfui, über dieß stille Leben! Ich muss zu thun haben.“ – „O mein Herzens-Heinrich“, sagt sie, „wie viele hast du heute umgebracht?“ – „Gebt meinem Rappen zu saufen“, sagt er, und eine Stunde drauf antwortet er: „Ein Stücker vierzehn; Bagatell! Bagatell!“ (1,II,4)

Der König nennt Heinrich Percy einen „Mars in Windeln“ (1,III,2), und mit einem Blick von heute erlaubt sich Urs Widmer zu sagen, er habe ein „Gemüt aus Schießpulver“.1 Man sieht ihn als hochgerüsteten Schemen im rechten Bildhintergrund. Die Szene mag stellvertretend sein für viele ähnliche Situationen in vielen Kemenaten englischer Burgen und Herrenhäuser dieser und der kommenden Zeiten. Lady Percy, die Tochter des Grafen von Northumberland – eine traurige Gestalt im Aufstand gegen Heinrich IV. –, liebt ihren unreifen, halbstarken Heißsporn und weiß mit ihm vor häuslichem Hintergrund ein erotisch-schalkhaftes Gespräch zu führen, aus dem zwar auch tiefe Sorge um die Zukunft zu erahnen ist, aber sie kann diese Zukunft nur auf dem Hintergrund kraftvollen Ritter-

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tums denken. In dieser Welt sind Ehre und Heldentum, ist die heroische Deutung adeligen Lebens scheinbar noch intakt. Ein Ritter muss hinaus in die Welt und soll sich nicht „verligen“, so das standesgerechte Minne-Konzept. Percy Komm, willst du mich reiten sehn? Wenn ich zu Pferde bin, so will ich schwören, Ich liebe dich unendlich. Doch höre, Käthchen: Du mußt mich ferner nicht mit Fragen quälen, Wohin ich geh, noch rathen, was es soll. Wohin ich muß, muß ich; und kurz zu seyn: Heut’ abend muß ich von dir, liebes Käthchen. (1,II,3)

Wo auch immer der Mann hin will, Lady Percy muss es wohl zufrieden sein. Eine unerfüllte Sehnsucht nach Vertrautheit zwischen den Ehegatten war diesem ritterlichen Liebesideal eigen. Das wusste Lady Percy aus der Geschichte vom Schwanenritter Lohengrin und Elsa von Brabant. Ritter waren geheimnisvoll. Aber die Âventiure, in die der Heißsporn zieht, ist eine bitterböse Rebellenschlacht, in der ein ritterlicher Zweikampf nichts mehr gilt. Prinz Heinrich, sein alter ego auf der königlichen Seite, bringt ihn zwar ins Spiel. Sein Angebot, auf beiden Seiten Blut zu sparen, wird aber abgelehnt (1,V,1). Es geht nicht mehr um ritterliche Bewährungsproben, sondern um Macht und Krieg und Sieg. Die Zeiten der hohen, der höfischen Minne sind längst vorbei. Schon König Heinrichs Vorgänger Richard II. hatte den anberaumten Zweikampf aus purer Willkür abgebrochen. List und Finten bestimmen seither das Geschehen, und heroische Feldschlachten – wenn es sie je gab – sind ein idealistischer Schemen vor eiskaltem Handeln aus purem Machterhalt. Ehre wird Ehrlosigkeit, verkam zu feudalem Waffenrasseln. Ausgerechnet der dicke Ritter Falstaff, Prototyp des verkommenen Adels, weiß die Zeichen der neuen Zeit richtig zu deuten. Falstaff Ich mag nicht solche grinsende Ehre, als Sir Walter hat. (1,V,3)

Falstaff ist die komisch-entlarvende Hintergrundfolie für den unschönen politischen Vordergrund. Es kommt, wie es kommen muss. Percy erleidet einen schmählichen Tod. Zuvor wird bei einem englisch-walisischen Familientreffen noch ganz schnell England unter den Rebellen aufgeteilt, wobei das Gezänke und Feil-

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schen mit Musik ein wenig behaglicher erscheinen soll. Aber das ist eher beiläufig. Weniger beiläufig treffen Heinrich Percy und Prinz Heinrich auf dem Schlachtfeld bei Shrewsbury aufeinander. Wir schreiben den 21. Juli 1403. Während sie miteinander fechten, kommt Falstaff, der, als er angegriffen wird, sich einfach fallen lässt und so tut, als ob er tot wäre. Die Strategie ist erfolgreich, und – Ironie der Geschichte – der dicke Ritter schleppt zum schnellen Ende die Leiche des toten Helden Percy ab, den Prinz Heinrich zu Würmer-Speise gemacht hatte. Wenig Glanz, wenig Ehre, aber großer Jammer bei Frau Käte Percy auf Burg Warkworth, von wo der Heißsporn aufbrach. Gab es zu Beginn des zweiten Teils von „Heinrich IV.“ noch Verunsicherung über den Ausgang der Revolte, weil die vielzüngig-allegorische Dame „Gerücht“ als Prologsprecherin verschieden instruierte Boten abgeschickt hatte, ist bald klar, dass König Heinrich gesiegt hat. Northumberland hat die Niederlage der Rebellen und den Tod seines Sohnes, des „herzlieben Percy“, durch sein Zögern zu verantworten. Der Schwiegervater muss sich den Vorwürfen von Lady Percy stellen und die aus der Zeit gefallenen Elogen einer Witwe anhören, die die Verkommenheit der unritterlichen Schlächterei schönreden. Lady Percy Zwei Ehren fielen da, des Sohns und eure. Die eure möge Himmelsglanz erleuchten! Die seine stand ihm schön, so wie die Sonne Am blauen Firmament, und durch ihr Licht Bewog sie alle Ritterschaft von England Zu wackern Thaten; ja, er war der Spiegel, Wovor die edle Jugend sich geschmückt. Wer seinen Gang nicht annahm, war gelähmt, Und Stottern, was ein Fehler der Natur Bei ihm, ward der Accent der Tapfern nun. Denn die, so leis’ und ruhig sprechen konnten, Verkehrten ihren Vorzug in Gebrechen, Ihm gleich zu sein, so daß in Sprach, in Gang, In Lebensart, in Neigungen der Lust, In Kriegskunst und in Launen des Geblüts Er Ziel und Spiegel, Buch und Vorschrift war, Der Andre formte. Und ihn! – den Herrlichen! Dieß Wunderwerk von Mann! – verließet ihr (2,II,3)

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zu König Heinrich IV., Teil 1, Akt 2, Szene 3

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Shakespeare erlaubt sich in hoher Ironie die Verklärung des Schottenfressers aus dem Munde seiner Witwe und lässt die Frau ohne weitere Verwendung in edlem Abgang aus dem Stück verschwinden. Mit „Nebenschlichen und auf krummen Wegen“ (2,IV,4), wie der König seinem Sohn gegenüber seine Regentschaft charakterisiert, geht die „Geschichte“ weiter. Prinz Heinrich, die Kehrseite von Heinrich Percy, wird am Ende zu König Heinrich V. erhoben und wird zum Frühstück weit mehr als sechs bis sieben Dutzend Franzosen umbringen. (siehe Fortsetzung unter „Prinzessin Catharina / Heinrich V.“) deutsche Übersetzung: August Wilhelm von Schlegel 1) Urs Widmer, Bd. II, S. 137

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Der Kaufmann von Venedig (1596 / 1597)

designed by Kenny Meadows and engraved by William Henry Mote

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Die Quellen der Geschichte zu Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ sind klar nachgewiesen und in allen Handbüchern verzeichnet. Es ist eine hässliche Geschichte um das dem Juden Shylock vertraglich zugesicherte Recht auf ein Pfund Fleisch nächst dem Herzen des Schuldners Antonio. Die Geschichte ist ein klassischer Beispielfall für das Sprichwort „den Teufel mit Beelzebub austreiben“. Der Jude, der Zinsen nimmt, wird zum Wucherer gestempelt und, um diesem Vorwurf auszuweichen, wird ein Übel durch ein noch größeres Übel ins Absurde getrieben. So kann man einen Kreditvertrag nicht absichern. Das ist schlicht ein sittenwidriger Vertrag. Niemand darf sein Leben für 3000 Dukaten verpfänden, kein anderer das Pfand fordern. Die Einwilligung zu einer Körperverletzung macht den Vertrag per se unwirksam. Ob das im fiktiven Venedig des Stücks auch so gesehen wurde, bleibe dahingestellt. Der Streit um Zins oder nicht Zins wurde jedenfalls kontrovers diskutiert und mit harten Bandagen ausgekämpft. Auch der Einstieg in die Geschichte, die uns der Stahlstich anbietet, ist eine hässliche Szene. Shylock übergibt seiner Tochter Jessica die Schlüssel des Hauses. Er bittet sie darum, während seiner Abwesenheit gut auf das Haus zu achten; er selber sei zum Abendessen geladen. Aber eigentlich habe er keine Lust hinzugehen. Shylock Gut Jessica, geh nun ins Haus hinein, Vielleicht komm’ ich im Augenblicke wieder. Thu’, was ich dir gesagt, schließ hinter dir Die Thüren: fest gebunden, fest gefunden, Das denkt ein guter Wirt zu allen Stunden. (ab) Jessica Lebt wohl, und denkt das Glück nach meinem Sinn, Ist mir ein Vater, euch ein Kind dahin. (ab) (II,5)

Das ist eine klare Ansage und klingt nicht gerade skrupulös. Auf diese Situation trifft die Redewendung „Den Bock zum Gärtner machen“ ganz gut zu. Nicht dass die beauftragte Tochter für die

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Aufgabe ungeeignet wäre, aber, was der Vater nicht wissen kann, er überträgt ihr eine Aufgabe, die sie aus Berechnung und nicht aus Dummheit einseitig zu ihren Gunsten erledigt. Wenn er wiederkommt, ist nicht nur die ganze Wiese kahlgefressen, sondern der Bock auch auf Nimmer-Wiedersehen davongelaufen.

zu Der Kaufmann von Venedig, Akt 2, Szene 5

Eigentlich wurde uns Jessica als Sympathie-Trägerin zwei kurze Szenen vorher im Gespräch mit dem Diener Lanzelot vorgestellt. Er hat gekündigt, weil er mit seinem Dienstherrn nicht mehr zurechtkommt. Jessica Es thut mir leid, daß du uns so verläß’st: Dieß Haus ist Hölle, und du, ein lust’ger Teufel, Nahmst ihm ein Theil von seiner Widrigkeit. Doch lebe wohl! (II,3)

Das Mädchen ist tief unglücklich in seinen familiären Verhältnissen und sie hat, auch das erfahren wir nebenbei, einen Liebhaber na-

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mens Lorenzo. In eigener Sache spricht sie zu sich selbst, um uns zu informieren. Jessica Ach, wie gehässig ist es nicht von mir, Daß ich des Vaters Kind zu seyn mich schäme; Doch, bin ich seines Blutes Tochter schon, Bin ichs nicht seines Herzens. O Lorenzo, Hilf mir dieß lösen! treu dem Worte bleib! So werd’ ich Christin und dein liebend Weib. (II,3)

Wer damals im Theater saß, wusste natürlich sofort, dass da eine Entführung anstand – freiwillig und erwünscht –, um einem trotteligen alten Pantalone die Tochter wegzuschnappen und durch heimliche Heirat zu beerben. Das war ein Topos im Genre der Komödie und weiter nicht als verwerflich erachtet, sondern mit Schadenfreude über alte weiße Männer betrachtet. Die Kabale aus Liebe ist gut organisiert. Ein Pagenanzug liegt für das Mädchen bereit; auch ist sie angewiesen, das Gold des Hauses und die Juwelen mitzunehmen. Die Entführer selbst sind als festliche Masken vermummt, und kaum ist der Vater verschwunden, ziehen die Masken vor Shylocks Haus auf, aus dem ihnen schon Jessica in Knabentracht erwartungsvoll aus dem Fenster entgegen lacht. Ohne schlafenden Vater im Haus geht die Entführung problemlos vor sich. Jessica wirft ein Kästchen Juwelen aus dem Fenster. Nicht einmal eine der beliebten Strickleitern ist vonnöten. Man bejubelt die Schönheit des Mädchens – ’ne Göttin, keine Jüdin! – und der Liebhaber ist glücklich mit seiner Eroberung. Lorenzo Verwünscht mich, wenn ich sie nicht herzlich liebe, Denn sie ist klug, wenn ich mich drauf verstehe, Und schön ist sie, wenn nicht mein Auge trügt, Und treu ist sie, so hat sie sich bewährt. Drum sei sie, wie sie ist, klug, schön und treu, Mir in beständigem Gemüth verwahrt. (II,6)

Und dann kommt Jessica auch noch mit den Dukaten aus der Haustüre. Der Fischzug ist reich gesegnet. Das wagemutige Abenteuer hielt sich in Grenzen. Ab geht es zum idyllischen Belmont, dem Landsitz von Porzia, einer reichen und wohlsituierten schönen Frau. Nach kurzem Zwischenschnitt auf das Landgut von Porzia zu einer seltsamen Lotterieveranstaltung, die sehr an alte Märchen er-

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innert, sieht bzw. hört man in den Gassen Venedigs Spott und Hohngeschrei, das den gefoppten Vater Shylock nachäfft. Solanio, ein Freund des reichen Kaufmanns Antonio, erzählt es sichtbarlich mit Lust, wie Shylock rumbrüllte und tobte, als er zu Hause bemerkte, was fehlte. Solanio „Mein’ Tochter – mein’ Dukaten – o mein’ Tochter! Fort mit ‘nem Christen – o mein’ christliche Dukaten! Recht und Gericht! mein’ Tochter! mein’ Dukaten! Ein Sack, zwei Säcke, beide zugesiegelt, Voll von Dukaten, doppelten Dukaten! Gestohl’n von meiner Tochter; und Juwelen, Zwei Stein’ – zwei reich’ und köstliche Gestein, Gestohl’n von meiner Tochter! O Gerichte, Find’t mir das Mädchen! – Sie hat die Steine bei sich Und die Dukaten.“ (II,8)

Rasend vor Wut läuft er durch Venedig, die Gassenbuben, so Solanio mit sichtlichem Gefallen erzählend, laufen hinterher. Alle finden das sehr komisch, Solanio, die Buben und sicherlich auch das elisabethanische Publikum. Spätestens hier ist bei uns heute Ende mit Lachen, denn Shylock ist eben nicht der komische alte Pantalone, ein finsterer Puritaner, sondern eine zutiefst tragische Figur, die aus „eingewohntem Hass und Widerwillen“ der Welt gegen ihn, selber aus „eingewohntem Hass und Widerwillen“ gegen die Welt und die Mitmenschen handelt. Aber das ist eine Geschichte, die die komische Entführung seiner Tochter nur bedingt erzählt. Wir hören Shylock zu Beginn des dritten Akts nun in Person vor uns jammern und rasen vor Wut, und trotz seiner Schmerzen ob der Tochter Verrat und Flucht gerät sein Wutausbruch zu einem alttestamentarischen Ruf nach Rache ob der mehr als tausendjährigen christlichen Knechtschaft seines Geschlechts aus beidseitigem Hass und Widerwillen. Die Empörung über den Verrat seiner Tochter, so sehr er schmerzt und so grausam er zu ihrer Verfluchung gerät, ist eher die rahmende Kartusche eines Gemäldes, das ihn in abgrundtiefer Verzweiflung zu dem Entschluss treibt, es mit dem zunächst eher spaßhaft zur Kreditabsicherung gefordertem Pfund Fleisch ernst zu nehmen. Für seinen Gegner Antonio, dem Kaufmann von Venedig in stellvertretender Funktion der Handels- und Kaufmannschaft, bedeutet das den Tod, die Ermordung auf offener Bühne vor dem Dogen. Shylocks Kriegslärm auf der Tochter Tod ist die eröff-

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nende Schauspielmusik zur erwünschten „extrem grausamen Abschlachtung des Kaufmanns“, die das Titelblatt der ersten Ausgabe von 1600 ankündigt. Dem Kaufmann will er persönlich ins Fleisch schneiden, die Tochter, die nicht aufzufinden ist, verflucht er, ohne Hand anlegen zu wollen auf den Tod. Shylock Ich wollte, meine Tochter läge todt zu meinen Füßen, und hätte die Juwelen in den Ohren! Wollte, sie läge eingesargt zu meinen Füßen, und die Dukaten im Sarge! Keine Nachricht […]; und keine Genugthuung, keine Rache! (III,1)

Der weitere Verlauf der „Komödie“ oder der „Tragikomödie“ oder der „Tragödie“ ist vorgezeichnet. Die Geschichte mit dem Vertrag zwischen Shylock und Antonio ist im Detail dem Kapitel über Porzia vorbehalten, die Geschichte von Shylocks Tochter Jessica nimmt einen eher unspektakulären Verlauf. Ihr entführender Bräutigam Lorenzo gehört zur Entourage, zum begleitenden Umfeld Antonios und seines Freundes Bassanio. Letzterer zieht alle seine Freunde nach Belmont, weil er der Herrin von Belmont auf den Fersen ist. Dort wird das Kästchenspiel, sprich Bachelorette, gespielt. Welcher Mann erobert Porzias Herz? Eben ist die Entscheidung gefallen: Es ist nicht der Prinz von Marokko, nicht der Prinz von Aragon, es ist Bassanio, der Freund Antonios, für den dieser sich beim Juden Shylock verschuldet hat. Und weil wir plötzlich wieder in einer Komödie sind, wird auch das Fräulein der Hausherrin, Nerissa, an den spaßhaften Graziano vergeben. Aller guten Dinge sind drei: Mitten in die Heiratsshow platzen der allseits beliebte Lorenzo und sein entführtes „Heidenkind“, die Jüdin Jessica. Willkommen allerseits, sagt Bassanio. Er bekommt einen Brief übermittelt, der ihn erbleichen lässt. Die Schiffe Antonios sind gescheitert, und selbst wenn er den Kredit zurückzahlen könnte – der Jude besteht jetzt auf seinem absurden Schuldschein; er will Antonios Fleisch und nicht das Geld. Das ist arg und hat die gute Stimmung völlig zerstört. Jessica meldet sich zu Wort, und was sie vorbringt, bestätigt den Verdacht und belastet ihren Vater auf hoch problematische Weise. Jessica Als ich noch bei ihm war, hört’ ich ihn schwören Vor seinen Landesleuten Chus und Tubal, Er wollte lieber des Antonio Fleisch, Als den Betrag der Summe zwanzigmal,

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Die er ihm schuldig sei. Und, Herr, ich weiß, Wenn ihm nicht Recht, Gewalt und Ansehn wehrt, Wird es dem armen Manne schlimm ergehn. (III,2)

Alle sind sich einig: Die Rettung des Antonio hat erste Priorität. Porzia bietet Geld; aber das soll ja nichts helfen. Bassanio will sofort zurück nach Venedig, um dem Freund beizustehen. Porzia bietet das Doppelte, das dreifache – aber bevor ihr schon wieder abreist – Porzia Erst geht mit mir zur Kirch’ und nennt mich Weib, Dann nach Venedig fort zu eurem Freund: (III,2)

Das schließt auch die Einsegnung von Nerissa und Graziano mit ein; bei Jessica und Lorenzo muss wohl erst eine Taufe des „Heidenkinds“ erfolgen. Kurz und gut, alle sind auf dem Sprung abzureisen, die einen nach Venedig, die beiden Damen angeblich in ein Kloster, um dort auf ihre Ehemänner zu warten, damit nach deren Rückkehr mit Verzögerung das Brautbett bestiegen werden kann. Lorenzo und Jessica sollen das Haus hüten. Porzia hat schon das gesamte Gesinde angewiesen, ihre beiden Stellvertreter zu akzeptieren. Dann beordert sie noch ihren Diener Balthasar nach Padua zu ihrem Vetter, Doktor Bellario; der soll auch bestimmte Kleider bereitstellen, die an die Fähre nach Venedig geliefert werden sollen. Den Sinn all der geheimnisvollen Anordnungen will sie Nerissa auf dem Weg – wohin bleibt ausgespart – erzählen. Unbedingt aber gilt es, die Fahrt in Männerkleidern anzutreten, um das Inkognito zu wahren. Porzia – Ich hab’ im Sinn Wohl tausend Streiche solcher dreisten Gecken, Die ich verüben will. Nerissa So sollen wir in Männer uns verwandeln? Porzia Ja, komm’, ich sag’ dir meinen ganzen Anschlag, Wenn wir im Wagen sind, der uns am Thor Des Parks erwartet: darum laß uns eilen, Denn wir durchmessen heut noch zwanzig Meilen. (III,4)

Das soll vermutlich lustig werden, was in einer Komödie nur recht und billig ist. Was eher selten bei Shakespeare vorkommt: Der Zuschauer hat wie die Protagonisten im Augenblick keinen Wissens-

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vorteil über das, was auf ihn zukommt. Die auf dem Landgut verbleibenden Figuren wie Jessica und Lorenzo erfahren bis zur Rückkehr natürlich noch weniger von den geplanten Streichen Porzias. Mit Jessica und Lorenzo ist der ehemalige Diener Lanzelot im Hause Shylocks – nun Diener bei Bassanio – in Belmont zurückgeblieben. Er ist mit Jessicas Umständen ja gut vertraut und erklärt ihr auf seine komisch-verdrehte Art, dass sie als getaufte Jüdin im christlichen Himmel keine Gnade finden könne und dass auch der Christenmacher Lorenzo kein gutes Blatt bei seinen Glaubensgenossen habe. Die Witzeleien sind etwas bemüht und treffen das eigentlich sehr ernste Thema nur am Rande. Das elisabethanische Publikum wird wenig über die Folgen der Konversion vom Judentum zum Christentum nachgedacht haben. Es kannte keine Juden, denn die waren im 13. Jahrhundert alle aus England vertrieben worden. Lanzelot kümmert sich um das Essen, und Lorenzo, den diese Heiden-Christen-Sophistereien ebenfalls wenig interessieren, frägt Jessica nach ihrem Eindruck, den Porzia auf sie gemacht hat. Sie lobt sie über alle Maßen, und Lorenzo nicht faul setzt sich in einen anmaßenden Vergleich mit ihr. Lorenzo Und solchen Mann Hast du an mir, als er an ihr ein Weib. (III,5)

Das ist einigermaßen vorlaut von Lorenzo, denn Jessica will ihn selber loben. Man einigt sich, das Preislied auf ihn als Tischgespräch aufzusparen. Die Zeit vergeht. Was im vierten Akt in Venedig passiert, bleibt den verliebten Verwaltern von Belmont verborgen. Ob Posse, ob Drama, ob Tragödie, Jessica und Lorenzo sind glückselig in ihrer Zweisamkeit auf einer Insel der Glückseligkeit. In einer traumhaft schönen Mondnacht feiern sie ihre Liebe in den Bildern klassischer tragischer Liebespaare. Immer mit dem Auftakt „In solcher Nacht“ werfen sie sich die Bälle ihrer Vorbildpaare zu, die besonders die Romantik bezaubert hat. Sie sehen sich in den Fußstapfen von Troilus und Cressida, von Thisbe und Pyramus, von Dido und Aeneas, von Medea und Jason. Am Ende der Reihe stellen sie sich selber an. Lorenzo In solcher Nacht Stahl Jessica sich von dem reichen Juden,

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Und lief mit einem ausgelaßnen Liebsten Bis Belmont von Venedig. Jessica In solcher Nacht Schwor ihr Lorenzo, jung und zärtlich, Liebe Und stahl ihr Herz mit manchem Treugelübd’, Wovon nicht eines ächt war. Lorenzo In solcher Nacht Verleumdete die art’ge Jessica, Wie eine kleine Schelmin, ihren Liebsten, Und er vergab es ihr. (V,1)

Wir befinden uns in einer schier unglaublichen Situation. Wir sehen Jessica und Lorenzo, die in ihrer Idylle meilenweit entfernt von einem schlechten Gewissen sind. Aber wir wissen, was in Venedig im Gerichtssaal vorgefallen ist. Dort haben wir, die Zuschauer, die Leser, ein krasses Stück gesehen, über das die Welt bis heute rätselt und irritiert ist, weil sie nicht oder nicht mehr weiß, wie sie es verstehen und deuten will. Es ist die Gerichtsverhandlung und der Schuldspruch über Shylock, den Juden von Venedig. Die Diener melden die Rückkehr von Porzia und Nerissa und von Bassanio plus Anhang für den frühen Morgen. Lanzelot erlaubt sich bei Meldung sogar den Scherz, die beiden Verwalter als Herr und Frau Lorenzo anzureden. Vielleicht wurden sie doch schon mit den anderen Paaren eingesegnet. Den Verliebten macht die Meldung der Rückkehr keinerlei Panik; im Gegenteil, sie und Lorenzo bestellen sich die Musikanten aus dem Haus in die Mondnacht, die von Eichendorff nicht schöner erfunden sein könnte. In Lorenzos Worten klingt die Mondnacht bis in die trivialeren Regionen des Films der Jetztzeit herüber. Lorenzo Wie süß das Mondlicht auf dem Hügel schläft! Hier sitzen wir und lassen die Musik Zum Ohre schlüpfen; sanfte Still’ und Nacht, Sie werden Tasten süßer Harmonie. Komm, Jessica! Sieh, wie die Himmelsflur Ist eingelegt mit Scheiben lichten Goldes! Auch nicht der kleinste Kreis, den du da siehst, Der nicht im Schwunge wie ein Engel singt, Zum Chor der hellgeaugten Cherubim.

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So voller Harmonie sind ew’ge Geister, Nur wir, weil dieß hinfäll’ge Kleid von Staub Ihn grob umhüllt, wir können sie nicht hören. (V,1)

Die Musikanten kommen, sagt die Regieanweisung. Lorenzo bittet sie zu spielen, um ihre Herrin Porzia sehnsüchtig nach Hause zu ziehen. Musik ertönt, und Jessica setzt ihr letztes Statement in dieser Komödie, die die Tragödie ihres Vaters umschließt, nach der sie nicht fragen wird und über die die Rückkehrer kein Wort verlieren werden. Jessica Nie macht die liebliche Musik mich lustig. (V,1)

Der Schlusssatz Jessicas ist so bedeutungsschwer und nicht entschlüsselbar, weil er in unverzeihlich unschuldige blaue Zukunft gesagt ist. Lorenzo versucht eine immanente Erklärung von wegen der „Macht der Töne“ und der Gewalt des mythischen Sängers Orpheus. Lorenzo Der Mann, der nicht Musik hat in ihm selbst, Den nicht die Eintracht süßer Töne rührt, Taugt zu Verrath, zu Räuberei und Tücken; Die Regung seines Sinns ist dumpf wie Nacht, Sein Trachten düster wie der Erebus. Trau keinem solchen! – Horch auf die Musik! (V,1)

Gibt Lorenzo diese Erklärung zu seiner Selbstrechtfertigung gegenüber Jessica; will er betonen, dass er ein Mann der Musik ist und sie keinen Verrat und Tücke von ihm zu befürchten habe, oder spricht hier die höhere Weisheit des Dichters aus ihm, der die grausame Welt der Kaufmannschaft von Venedig charakterisiert. Das sind alles Männer, die jenseits der Musik mit Geld, mit Handel und Kapitalvermehrung zu tun haben und sich darüber bis aufs Blut befehden. Mittlerweile sind sowohl die Damen von ihrem Ausflug in Männertracht nach „Irgendwo“ zurück als auch die Herren aus Venedig einschließlich dem aus Todesgefahr gelösten Antonio. Porzia begrüßt ihn herzlich. Da erhebt sich zwischen Nerissa und Graziano im Hintergrund Streit wegen des Rings, den sie ihm als Unterpfand ihrer Liebe vor der Abfahrt gab. Wo ist der Ring? Er war das Siegel unserer Liebe bis in den Tod.

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Nerissa Er sollte selbst im Sarge mit euch ruhn. (V,1)

Jetzt, so unterstellt sie, waren wir noch nicht einmal im gemeinsamen Ehebett und schon ist er verschenkt an eine venezianische Kurtisane. Von wegen, beteuert Graziano, er habe ihn dem Schreiber geschenkt als Lohn für die guten Dienste bei der Verhandlung. Und siehe da, auch Bassanio hat seinen Ring weggegeben als Lohn an den Richter. Die Damen sind empört, die Herren nach ihrer Schlacht vor dem Gerichtstribunal zutiefst betroffen und Lorenzo und Jessica stumm und völlig aus dem Spiel. Der merkwürdige Fall bedarf einer Aufklärung über einen Sachverhalt, den das Publikum – wieder im Wissensvorteil durch den Autor – natürlich schon kennt, der den staunenden Herren von Porzia ohne lange Rede brieflich unter die Nase gerieben wird und über den das Judenmädchen und ihr musikempfindsamer Christenmann vollumfänglich erst jenseits des Komödienendes unterrichtet werden. Also nie! Die Geschichte mit den Ringen wird zur Entlastung der düpierten Herren von Porzia mit einem Brief des Vetters Doktor Bellario aus Padua binnen Sekunden geklärt. Porzia Da könnt ihr finden: Porzia war der Doktor, Nerissa dort ihr Schreiber; hier Lorenzo Kann zeugen, daß ich gleich nach euch gereist, Und eben erst zurück bin: ich betrat Mein Haus noch nicht. (V,1)

Bassanio und Graziano fallen die Scheuklappen von den Augen. Sie haben ihre Frauen bei der venezianischen Gerichtsverhandlung nicht erkannt. Ihnen, Porzia und Nerissa, ist zu danken, dass Antonio gerettet ist. Unglaublich!? Antonio, nicht minder verblüfft über seine Retterinnen, erfährt noch schnell, dass seine drei Schiffe trotz Verlustmeldung heil im Hafen angekommen sind, Jessica und Lorenzo bekommen die Schenkungsakte des Vaters/Schwiegervaters Shylock in die Hand gedrückt. In ihr ist ihnen sein ganzer Nachlass vermacht. Sie wissen eigentlich nicht, wie ihnen geschieht. Da das alles sehr schnell ging, bietet Porzia an, ins Haus zu kommen, wo sie weitere Auskünfte geben will. Halten wir fest: Die Zuschauer sind im Bilde, die beteiligten Herren knapp aufgeklärt. Sie haben die Verhandlung Shylock gegen Antonio im Gerichtssaal erlebt und sind jetzt zumindest kurz infor-

Jessica • 257

miert, dass die Gerichtsverhandlung eher eine Realityshow, ein dreister Streich war, denn harte juristische Realität. Das stört aber keinen und Jessica und Lorenzo am allerwenigsten, denn die haben, so wie die Leser*innen dieser Nachzeichnung von Jessicas Porträt, keine Ahnung von der großen Nummer im Justizpalast von Venedig. Darüber erhalten die Leser*innen Aufklärung im nächsten Kapitel über Porzia, aber Jessica wird schon jetzt abgeurteilt. In einer „normalen“ Komödie wären ihr die Sympathien der Zuschauer sicher. Entführung ist immer auch ein Akt der Selbstbehauptung und -bestimmung gewesen gegen Fremdbestimmung durch den Vater. Aber ihr Vater ist Jude und sie selbst des Juden Tochter. Heinrich Heine, ebenfalls jüdischer Herkunft, hat der schönen Jessica in seiner Schrift „Shakespeares Mädchen und Frauen“ ein ziemlich grausames „Verdammungsurteil“ ausgesprochen. „Es war kein liebloser Vater, den sie verließ, den sie beraubte, den sie verriet … Schändlicher Verrat! Sie macht sogar gemeinschaftliche Sache mit den Feinden Shylocks, und wenn diese zu Belmont allerlei Mißreden über ihn führen, schlägt Jessika nicht die Augen nieder, erbleichen nicht die Lippen Jessikas, sondern Jessika spricht von ihrem Vater das Schlimmste … Entsetzlicher Frevel! Sie hat kein Gemüt, sondern abenteuerlichen Sinn. Sie langweilte sich in dem streng verschlossenen, ‚ehrbaren’ Hause des bittermütigen Juden, das ihr endlich eine Hölle dünkte. Das leichtfertige Herz ward allzusehr angezogen von den heiteren Tönen der Trommel und der quergehalsten Pfeife. Hat Shakespeare hier eine Jüdin schildern wollen? Wahrlich nein; er schildert nur eine Tochter Evas, einen jener schönen Vögel, die, wenn sie flügge geworden, aus dem väterlichen Neste fortflattern zu den geliebten Männchen.“1

Der Literaturwissenschaftler Harold Bloom, seinerseits orthodox jüdischer Abstammung, urteilt nicht weniger scharf als Heine über Jessica. Er schimpft sie „unausstehlich“, eine „jüdische Prinzessin von Venedig, die in dem Playboy Lorenzo genau den Mann findet, den sie verdient. Shakespeare stellt das Verhältnis Shylock zu seiner diebischen Tochter nicht ausführlich dar, aber klar ist doch, dass der Vater froh sein kann, sie loszuwerden, und im Übrigen hat er ganz Recht, wenn er seinen Dukaten ebenso sehr nachweint wie der, die sie an sich genommen hat.“2

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Soll das 250 respektive gut 400 Jahre nach Erscheinen von Shake­ speares Stück der Weisheit letzter Schluss über des Juden schöne Tochter sein? deutsche Übersetzung: August Wilhelm von Schlegel 1) Heinrich Heine, (2014) S. 154 2) Harold Bloom: Komödien und Historien, S. 272

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Portia

Der Kaufmann von Venedig (1596/1597)

designed by Joseph John Jenkins and engraved by C. Cook

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Es geht noch einmal um die Ehe-Ringe. Der Stahlstich stößt uns nachgerade mit der Nase darauf hin. Wie schon bei Nerissa und Graziano (siehe unter „Jessica“) hat es ja mit dem Ring von Porzia dieselbe Bewandtnis. Sie frägt ihren frischangetrauten Mann Bassanio, als sie alle am frühen Morgen in Belmont auftauchen, wohin er seinen Ring gegeben habe. Nein, keinem Weibsbild habe er den Ring gegeben, sondern dem Richter im Prozess gegen Shylocks Forderung an seinen Freund, den Kaufmann Antonio. Keinerlei Entlohnung wollte der haben, nur den Ring. Es ging um Leben und Tod für Antonio, und dieser junge Richter habe für seinen Freund gekämpft wie ein Löwe und ihm das Leben gerettet. Porzia, so das Bild, zieht einen Ring vom Finger, während Antonio zu erklären versucht. Antonio Ohn’ ihn, der Eures Gatten Ring bekam, War er [mein Leib!] dahin; ich darf mich noch verpflichten – Zum Pfande meine Seele – eu’r Gemahl Wird nie mit Vorsatz mehr die Treue brechen. Porzia So seid denn ihr sein Bürge: gebt ihm den, Und heißt ihn besser hüten als den andern! Antonio Hier, Don Bassanio: schwört, den Ring zu hüten. Bassanio Beim Himmel! eben den gab ich dem Doktor. Porzia Ich hab’ ihn auch von ihm: verzeiht, Bassanio (V,1)

Die verdammte Geschichte mit dem Ring wird zur Entlastung des verwunderten Bassanio von Porzia mit einem Brief ihres Vetters Doktor Bellario aus Padua binnen Sekunden geklärt. Porzia Da könnt ihr finden, Porzia war der Doktor, Nerissa dort ihr Schreiber; hier Lorenzo

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Kann zeugen, daß ich gleich nach euch gereist, Und eben erst zurück bin; ich betrat Mein Haus noch nicht. (V,1)

Bassanio und Graziano fallen die Scheuklappen von den Augen. Sie haben ihre Frauen bei der venezianischen Gerichtsverhandlung nicht erkannt. Unglaublich!? Antonio erfährt noch schnell, dass seine drei Schiffe trotz Verlustmeldung heil im Hafen angekommen sind, Jessica und Lorenzo bekommen die Schenkungsakte des Vaters/Schwiegervaters Shylock in die Hand gedrückt. In ihr ist ihnen sein ganzer Nachlass vermacht. Da das alles sehr schnell ging, bietet Porzia an, ins Haus zu kommen, wo sie weitere Auskünfte geben will. Ende der Komödie. Auskünfte sind durchaus nötig bzw. es tut not, eine vertrackte Geschichte von vorne zu erzählen. Es ist, um mit Peter Squenz im „Sommernachtstraum“ zu sprechen, die „höchst klägliche Komödie und die höchst grausame Tragödie“ um den Kaufmann Antonio und den Juden Shylock, die mit der Geschichte der Märchenfee und Verwandlungskünstlerin Portia einen eigenartigen Überbau erhält. Shakespeare hat ein Stück hochgewuchtet, das bis heute zunehmend schwieriger und schwieriger bewältigbar geworden ist. Der venezianische Kaufmann Antonio möchte seinem Freund Bassanio aus einem finanziellen Engpass helfen. Der hübsche junge Mann, der beim tief melancholischen Freund schon in der Kreide steht, wandelt auf Freiersfüßen. Bassanio In Belmont ist ein Fräulein, reich an Erbe, Und sie ist schön, und, schöner als dieß Wort, Von hohen Tugenden; von ihren Augen Empfing ich holde stumme Botschaft einst. Ihr Nam’ ist Porzia; minder nicht an Werth, Als Cato’s Tochter, Brutus’ Porzia. (I,1)

Sie ist von aller Welt umworben und, um da mitkonkurrieren zu können, muss Bassanio einigen Aufwand betreiben. Für das Glück des Freundes tut Antonio alles. Er hat zwar im Augenblick keine flüssigen Mittel – alles ist hochriskant in seine Schiffe investiert –, aber man kann sich ja Geld leihen. Also macht er bei dem jüdischen Geldverleiher Shylock selber Schulden für den Freund. Der ist zwar ein „Wucherer“ – so wurde jeder Geldverleiher genannt –, aber wer hat, der hat.

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Die Szene wechselt nach Belmont zu Frau Portia und ihrer Kammerfrau, Fräulein Nerissa. In früheren Zeiten bezeichnete man unverheiratete Frauen noch als „Fräulein“. Der Herrin von Belmont geht es sehr gut – sie schwimmt im Glück, sprich im Geld –, aber ihr verstorbener Vater hat ihr neben Reichtum und Gütern eine testamentarische Hürde verfügt. Sie darf nur den Mann heiraten, der die Kästchenprobe besteht. Er muss von drei Kästchen (einem goldenen, einem silbernen, einem bleiernen) das auswählen, welches Portias Bild enthält; wem das nicht gelingt, der muss zeitlebens ehelos bleiben. In früheren Zeiten verfügten ältere weiße Väter – jeder auf seine komische Art – gerne über ihre Töchter, und das sogar über ihren Tod hinaus. Deshalb klagt das Waisenkind Portia über sein hartes Los bei der Gattenwahl. Porzia O über das Wort wählen! Ich kann weder wählen, wen ich will; noch ausschlagen, wen ich nicht mag: so wird der Wille einer lebenden Tochter durch den letzten Willen eines todten Vaters gefesselt. Ist es nicht hart, Nerissa, daß ich nicht Einen wählen und doch Keinen ausschlagen darf? (I,2)

Was der Vater mit dem Kästchenspiel erreichen will, ist nicht wirklich ersichtlich, auch wenn Fräulein Nerissa eine Erklärung versucht. Wer das Heiratsverbot für die gescheiterten Kandidaten überwachen soll, ist ohnehin reine Illusion. Sie stehen Schlange und kommen aus Marokko, aus Aragonien, aus Neapel, aus Schottland, aus England, aus Sachsen in Deutschland. Aber Märchen sollen nicht unter die Vormundschaft der Logik gestellt werden. Von den bisherigen Bewerbern ist Porzia überhaupt nicht überzeugt – sie wünscht ihnen eine glückliche Rückreise –, aber, so Nerissa, da gibt’s doch einen, über den man reden könnte. Erinnert ihr euch nicht. Porzia Ja ja, es war Bassanio: so, denke ich, nannte er sich. Nerissa Ganz recht, Fräulein. Von allen Männern, die meine thörichten Augen jemals erblickt haben, war er einer schönen Frau am meisten werth. (I,2)

Kurz und gut: Zu jener Zeit, „als das Wünschen noch geholfen hat“, bekam Bassanio ganz schnell sein Geld und Portia einen erwünschten Bewerber. Der Geldhandel mit dem Juden war ein wenig kurios,

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und man war ziemlich hässig von Christ zu Jud und von Jud zu Christ. Shylock verlangt entgegen seiner Gewohnheit keinerlei Zinsen für den Kredit, aber als Sicherheit für die dreitausend Dukaten will der Jude eine eher spaßhafte Vereinbarung abschließen. Shylock Geht mit mir zum Notarius, da zeichnet Mir Eure Schuldverschreibung; und zum Spaß, Wenn ihr mir nicht auf den bestimmten Tag, An dem bestimmten Ort, die und die Summe, Wie der Vertrag nun lautet, wieder zahlt: Laßt uns ein volles Pfund von eurem Fleisch Zur Buße setzen, daß ich schneiden dürfe Aus welchem Theil von eurem Leib’ ich will. (I,3)

Antonio akzeptiert, vertrauend auf seine Schiffe, den absurden „Spaß“ mit dem Pfund Fleisch. Antonio Es sei, aufs Wort! Ich will den Schein so zeichnen Und sagen, daß ein Jude liebreich ist. (I,3)

Nicht nur Porzia hat mit ihrem Vater ein Problem, die Tochter Shylocks hat, wir schon sahen, ebenfalls Probleme mit dem Vater. Aber während die eine noch einen Bewerber sucht, hat Jessica bereits einen Liebhaber. Hinwiederum lebt ihr Vater noch, während Porzias Vater am Spielfeldrand steht. Die Lösung von Jessicas Problem schlingt sich auf eher konventionelle Entführungsart zwischen die Kästchenprobleme Porzias. Ihre Entführung plus Mitnahme von Gold und Edelsteinen gelingt zur abgrundtiefen Erschütterung des armen Shylock, und auch Porzias Wunsch geht in Erfüllung; Bassanio taucht in Belmont auf und räumt ab. Sie hilft mit einer kleinen Zaubermusik bei ihrem Wunschkandidaten nach, und tatsächlich entscheidet der sich für das bleiern-unscheinbare Kästchen. Darin ist ihr Bild und ein Blatt, das ihm erlaubt, sie zu küssen. Sie ist überglücklich und ergibt sich wie Käthchen dem Petruchio. Porzia Ich selbst und was nur mein, ist euch und Eurem Nun zugewandt; noch eben war ich Eigner Des schönen Guts hier, Herrin meiner Leute, Monarchin meiner selbst; und eben jetzt Sind Haus und Leut’, und eben dieß Ich selbst Eu’r eigen, Herr. Nehmt sie mit diesem Ring; Doch trennt ihr euch von ihm, verliert, verschenkt ihn,

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So prophezei’ es eurer Liebe Fall, Und sei mein Anspruch gegen euch zu klagen. (III,2)

In den Zauber mischen sich, wie wir schon wissen, auch Graziano und des Fräuleins Kammerfrau Nerissa ein; auch sie tauschen einen Ring, und Jessica und ihr Entführer Lorenzo stoßen von Venedig kommend zu dieser Hochzeitsrunde dazu. Freude und Wonne allerseits, aber ein Brief an Bassanio lässt den Mann erbleichen. Zunächst gesteht er seiner frischeroberten Frau, dass er finanziell mehr als pleite ist. Schlimmer noch, er ist schuldig an seinem

zu Der Kaufmann von Venedig, Akt 3, Szene 2

Freund Antonio, den er seinem ärgsten Feind durch den saublöden Kreditvertrag ausgeliefert habe. Da, wie hier im Brief steht, alle Unternehmen des Antonio fehlgeschlagen sind, kann er den Kredit nicht zurückzahlen. Genau darauf habe der Jude gelauert, und

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plötzlich will er das bare Geld nicht mehr zurück, sondern nur das Pfund Fleisch nächst dem Herzen. Salerio Er liegt dem Doge[n] früh und spät im Ohr, Und klagt des Staats verletzte Freiheit an, Wenn man sein Recht ihm weigert: zwanzig Handelsleute, Der Doge selber, und die Senatoren Vom größten Ansehn reden all’ ihm zu; Doch niemand kann aus der Chikan’ ihn treiben Von Recht, verfallner Buß’ und seinem Schein. (III,2)

Dass Shylock schon immer auf das Fleisch – sprich den Tod Antonios – spekuliert hat, bestätigt auch die Tochter Jessica. Wir selbst, die Zuschauer, haben es schon aus seinem eigenen Munde vernommen, dass da nicht von Spaß die Rede sein konnte. Shylock Ich will sein Herz haben, wenn er verfällt; denn wenn er aus Venedig weg ist, so kann ich Handel treiben, wie ich will. Geh, geh, Tubal, und triff mich bei unsrer Synagoge! (III,1)

Porzia ist natürlich sofort bereit für Bassanios besten Freund die doppelte oder gar dreifache Kreditsumme zu stellen – mein Haus ist dein Haus, mein Geld ist dein Geld –, aber, und jetzt liest man den Brief erst richtig fertig, es ist schon alles zu spät, denn der Vertrag ist schon verfallen. Bassanio liest. „Liebster Bassanio! Meine Schiffe sind alle verunglückt, meine Gläubiger werden grausam, mein Glücksstand ist ganz zerrüttet, meine Verschreibung an den Juden ist verfallen, und da es unmöglich ist, daß ich lebe, wenn ich sie zahle, so sind alle Schulden zwischen mir und euch berichtigt. Wenn ich euch nur bei meinem Tode sehen könnte! Jedoch handelt nach Belieben; wenn eure Liebe euch nicht überredet zu kommen, so muß es mein Brief nicht.“ (III,2)

Jetzt ist höchste Not am Mann, und Porzia schickt Bassanio noch in der Hochzeitsnacht nach Venedig zum Freund Antonio. Sie selbst will sich mit Nerissa zurückziehen, aber nur eine Einstellung weiter befiehlt sie seltsame Anstalten zu einer Abreise, schickt zu ihrem juristischen Vetter nach Padua und bittet um Kleider und macht geheimnisvolle Andeutungen über einen gewagten Überraschungscoup.

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Porzia Nerissa, komm. Ich hab’ ein Werk zur Hand, Wovon du noch nicht weißt; wir wollen unsre Männer, Eh sie es denken, sehn. (III,4)

Die Männer wissen von gar nichts, Nerissa wird es im Wagen erfahren, wir bzw. die Zuschauer werden bei laufender Szene im Gerichtssaal zu stillschweigenden Kompliz*innen in einer Reality Show avant la lettre werden, die die Grenzen der Legalität in empörender Weise überschreitet. Ob Shylock, als man ihn in den Verhandlungssaal bittet, schon mit einer Waage kommt und sein Messer wetzt, ist Sache der Inszenierung. Jedenfalls besteht er trotz inständiger Bitte des Dogen um Milde auf seinem Recht, auf seinem Vertrag. Von Geld will er nichts wissen. Shylock Wär’ jedes Stück von den dreitausend Dukaten Sechsfach getheilt und jeder Teil ‘n Dukat, Ich nähm sie nicht, ich wollte meinen Schein. (IV,1)

Es fallen allerseits heftige Worte und die Emotionen gehen hoch. Die Vergleiche und Parallelen – venezianische Sklaven gegen ein Pfund Fleisch – werden rabulistisch verrechnet. Da bietet der Doge Einhalt. Er habe um Rechtsbeistand bei einem gelehrten Doktor Bellario aus Padua gebeten. Wenn der nicht komme, hebe er die Sitzung auf. In der Tat kommt ein Bote und übergibt ein Schreiben. Weder die Protagonisten noch die Zuschauer können die Regieanweisung lesen: Nerissa tritt auf, als Schreiber eines Advokaten gekleidet. (IV,1)

Während der Doge den Brief liest, streiten die Parteien lautstark, und vor allem Graziano pöbelt schwer gegen den Juden. Den Streit unterbrechend frägt der Doge bei dem Schreiber nach. Doge Der Brief da von Bellario’s Hand empfiehlt Uns einen jungen und gelehrten Doktor. – Wo ist er denn? (IV,1)

Er wartet hier nebenan und steht sofort zur Verfügung. Während man den jungen Doktor – er heißt Balthasar – holt, verliest man den Brief von Doktor Bellario, der dem Coup eine amtliche Beglaubigung geben soll. Bellario sei krank, habe aber einen vorzüglichen

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Ersatz, den er in den Fall eingearbeitet habe. Der Doge akzeptiert und Balthasar tritt auf. Wiederum können die Protagonisten noch wir Zuschauer die Regieanweisung lesen: Porzia tritt auf, wie ein Rechtsgelehrter gekleidet. (IV,1)

Sie bzw. Balthasar übernimmt die Verhandlung. Der Rechtsgelehrte versichert sich der Kontrahenten, hie Shylock, da Antonio. Beide erkennen den Schein an, und der junge Mann liefert ein eindrucksvolles Plädoyer über Recht und Gnade. Das überzeugt Shylock nicht im mindesten. Es gehe ihm um sein Recht und von Gnade wolle er nichts wissen. Ist je jemand ihm gegenüber gnädig gewesen? Shylock Meine Thaten Auf meinen Kopf! Ich fodre das Gesetz, Die Buße und Verpfändung meines Scheins. (IV,1)

Dass auch mit Geld der Schein nicht mehr zu begleichen ist, obwohl man es erneut versucht, ist bei Shylock abgemachte Sache, und der junge Doktor scheint ebenfalls am Ende seines Lateins. Das Recht Venedigs lässt keine Ausnahme zu und insofern ist dem Kläger Shylock zuzustimmen. Porzia Gut, er ist verfallen, Und nach den Rechten kann der Jud’ hierauf Verlangen ein Pfund Fleisch, zunächst am Herzen Des Kaufmanns auszuschneiden. – (IV,1)

Eigentlich ist man keinen Schritt weitergekommen, und der vom Tode bedrohte Antonio bittet um den Spruch zugunsten des Juden, damit seine Qual ein Ende habe. Porzia Nun wohl, so steht es denn! Bereitet euren Busen für sein Messer! (IV,1)

Tatsächlich, hier im Gerichtsaal soll die Abschlachtung erfolgen. Shylock lobt den Richter über alle Maßen und macht sich bereit. Messer und Waage sind zur Hand, einen Arzt lehnt er ab. Davon stehe nichts in der Abmachung. Antonio setzt zu einer Art Abschiedsmonolog an. Ein paar beiseite gesprochene Andeutungen auf die abwesenden Frauen von Bassanio und Graziano – spätestens da müssten die letzten Zuschauer Kompliz*innen werden – fal-

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len im Sturm des Abschiedsschmerzes. Dann fordert Shylock, noch einmal den Richter lobend, Antonio unbarmherzig auf: Shylock Kommt, macht euch fertig! (IV,1)

Die Situation ist zugespitzt bis aufs Äußerste, da ruft der Richter: Porzia Wart’ noch ein wenig: Eins ist noch zu merken! Der Schein hier giebt dir nicht ein Tröpfchen Blut, Die Worte sind ausdrücklich ein Pfund Fleisch. Nimm denn den Schein, und nimm du dein Pfund Fleisch; Allein vergießest du, indem du’s abschneid’st, Nur einen Tropfen Christenblut, so fällt Dein Hab’ und Gut, nach dem Gesetz Venedigs, Dem Staat Venedigs heim. (IV,1)

Wow! Super! Spitze! Jetzt ist es an Antonios Partei zu jubeln und den Richter weise und gerecht zu preisen. Jetzt wird das Unterste zu oberst gekehrt, und der weise Richter spricht nach dieser spitzfindigen Wortklauberei Recht bar aller Gnade. Mit advokatischen Winkelzügen verweigert er nun seinerseits dem Shylock die Geldannahme und droht ihm die Todesstrafe an, wenn er auch nur einen Tropfen Blut vergösse. Dann stellt er das Verfahren auf den Kopf. Porzia Wart, Jude, Das Recht hat andern Anspruch noch an dich. Es wird verfügt in dem Gesetz Venedigs, Wenn man es einem Fremdling dargethan, Daß er durch Umweg oder grade zu Dem Leben eines Bürgers nachgestellt, Soll die Partei, auf die sein Anschlag geht, Die Hälfte seiner Güter an sich ziehn; Die andre Hälfte fällt dem Schatz anheim, Und an des Dogen Gnade hängt das Leben Des Schuld’gen einzig, gegen alle Stimmen. In der Benennung, sag’ ich, stehst du nun, Denn es erhellt aus offenbarem Hergang, Daß du durch Umweg und auch grade zu Recht eigentlich gestanden dem Beklagten Nach Leib und Leben: und so trifft dich denn Die Androhung, die ich zuvor erwähnt. Drum nieder, bitt’ um Gnade bei dem Dogen! (IV,1)

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Die weiteren Details über die Aufteilung des erlegten Bären muss uns nicht mehr interessieren, nur Antonios infame Zusatzforderung, dass der Jude sich taufen lassen müsse. Das soll er tun, bestätigt der Doge. Shylock beugt sich schließlich Porzias zynischer Frage Porzia Bist du’s zufrieden, Jude? Nun, was sagst du? Shylock Ich bins zufrieden. (IV,1)

Da ist von Gnade keine Spur. Porzia straft sich selber Lügen am Ende der Reality Show vom Format „Verstehen Sie Spaß?“ Da keiner mit dem erlösenden Wort kommt, bleiben sehr ernsthafte Fragen im Raum, die für Shylock nicht unerheblich wären. Aber er hat resigniert und versucht nicht mehr die leeren Finten Portias zu parieren. Vielleicht zerreißt er seinen Vertrag zornig in kleine Stücke. Shylock Ich bitt’, erlaubt mir, weg von hier zu gehn: Ich bin nicht wohl (IV,1)

Unter sehr unchristlichem Gekrächz von Graziano geht die Hauptfigur – nicht die Titelfigur – aus dem Stück ab und wird sofort so gnadenlos vergessen, als wäre sie nie gewesen. Auch in Shakespeares Vorlage, in Giovanni Fiorentinos Novellensammlung „Il Pecorone“ wird der Jude unter dem Spott der Anwesenden in die Wüste geschickt. Hier krächzt man ihm die schadenfrohe Weisheit hinterher: „Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.“1 Aus der biblischen Wüste bzw. aus der sprichwörtlichen Grube kommt er nicht mehr heraus. Auch Shakespeare flüstert ihm nichts mehr zu. Was der Anwalt und sein Schreiber jetzt noch inszenieren, ist die Entlohnung ihrer Mühen durch die Ringe. Just darauf haben die beiden Hasardeurinnen es abgesehen. Erleichtert über den Ausgang des Verfahrens geben die beiden Herren ihre Eheringe zwar schweren Herzens aber in völliger Blindheit als Entlohnung ausgerechnet in die Hand ihrer Frauen. Die werden bei der Rückeroberung zum Finale der Komödie in Belmont und bei der Lüftung der rätselhaften Begleitumstände dieses zweifelhaften Gerichtsbeschlusses erneut triumphieren. Sie geben die Ringe mit stiller Genugtuung ihrer Überlegenheit an ihre Männer zurück. Graziano

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schließt wie immer in ziemlich derber Weise das Stück mit einer ordinären Bemerkung. Graziano Gut! lebenslang hüt’ ich kein ander Ding Mit solchen Ängsten, als Nerissa’s Ring. (V,1)

Die Ringgeschichte ist mit dieser Anspielung auf Nerissas Vagina endgültig rund und wieder komödienkompatibel geworden und unterliegt nicht mehr dem Strafgesetz wie der gesamte vierte Akt. Heinrich Heine bezichtigt in seinem Jessica-Kapitel den Entführer Lorenzo der Mitschuld „eines der infamsten Hausdiebstahle“. Dafür müsste er „nach dem preußischen Landrecht [] zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt und gebrandmarkt und an den Pranger gestellt werden“.2 Wo eigentlich müsste er da Porzia sehen? Die neben dem Juden seiner Meinung nach respektabelste Person im ganzen Stück3 ist doch ein unglaubliches „Miststück“ mitsamt ihrem Fräulein, dem Schreiber. Sie haben sich unbefugt und absichtlich einer Amts­ anmaßung, sowie Titelbetrugs etc. schuldig gemacht und dabei ein zugegebenermaßen virtuoses Spiel gespielt, das für den verurteilten Juden zur Katastrophe seines Lebens wurde. Zugegeben, er war nicht ganz schuldlos mit seinem „spaßhaften“ Schuldschein, aber diese Vernichtung hat er wahrlich nicht verdient. Der vierte Akt kann nicht komödienkompatibel gemacht werden. Der Betrug wird nicht in die Komödie erlöst und aufgelöst, die Rechtswidrigkeit wird nicht geheilt. Nicht einmal die Frage „Verstehen Sie Spaß?“ wird gestellt. Kein Moderator der Show oder ein Lockvogel klärt das „Opfer“ in dem Augenblick, in dem die Unmutsblase über die „Zumutung des falschen Spiels“ am Platzen ist, darüber auf, dass alles „nur“ ein (schlechter) Scherz ist. Erstaunlicherweise sagt Heinrich Heine kein Wort gegen die prächtige, Schönheit-atmende Tizian-Dame Porzia.4 Ihre Persönlichkeit ist nicht oberflächlich glitzernd, sondern zeigt beunruhigende Aspekte. Ihr dunkler Fleck überschattet sogar mit zunehmender historischer Distanz von ihrem Schöpfer sein Werk heute total. Es hat, wenn es je unschuldig war, seine Unschuld verloren. Die im Irrgarten einer unversöhnlich gespaltenen Gesellschaft herumtaumelnden Protagonisten sind nach dem Hamburger Dramaturgen Lessing alle gemischte Charaktere, weder nur gut noch völlig böse angelegt. Sie bedürften aber in ihrem satten Wohlstand und in ihrem „eingewohntem Hass und Widerwillen“ wenigstens einer

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vermittelnden oder sympathischen Figur. Die fehlte auch zu Shakespeares Zeiten; heute ist ihr Fehlen eine Provokation. Dem Manne Shylock kann nicht mehr geholfen werden. Warum sollte er das ganze antisemitische Theater als Spaß verstehen? deutsche Übersetzung: August Wilhelm von Schlegel 1) Günter Jürgensmeier, S. 297 2) Heinrich Heine, (2014) S. 150 3) Heinrich Heine, (2014) S. 152 4) Heinrich Heine, (2014) S. 161

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Frau Margaret Page

Die lustigen Weiber von Windsor (1597)

designed by Kenny Meadows and engraved by W. J. Edwards

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Da steht Frau Margaret Page und hinter ihr schaut Falstaff aus der Nebenkammer. Der dicke Ritter ist zum zweiten Mal auf ein Stelldichein bei Frau Fluth erschienen. Die hat ihn, kaum dass er das Wohnzimmer betreten hat, in die Besenkammer abgeschoben, weil Frau Page vermelden musste, dass der eifersüchtige Gatte, Herr Fluth, im Anmarsch sei. Vor dessen Eifersucht hat Falstaff tiefen Respekt, denn schon sein erstes Liebesabenteuer ging schief. Er wurde im Wäschekorb unentdeckt vom Ehemann außer Haus verbracht und in der Themse entsorgt. Wieder stecken die beiden Frauen unter einer Decke und spielen dem Ritter einen üblen zweiten Streich. Zwar wissen sie auch nicht, woher Herr Fluth immer so genau weiß, wann Falstaff im Hause ist, aber prinzipiell kommt ihnen die Situation nicht ungelegen, dem Ritter eine Lektion zu erteilen. Frau Fluth Wie nah ist er, Frau Page? – Frau Page Ganz dicht, am Ende der Straße; er muß gleich da seyn. Frau Fluth Ich bin verloren! Der Ritter ist hier. Frau Page Nun, so wirst du aufs Äußerste beschimpft, und er ist ein Kind des Todes. Was das für eine Frau ist! Fort mit ihm! Fort mit ihm! Lieber Schimpf als Mord! – Frau Fluth Wo soll er hin? Wie soll ich ihn fortschaffen? Soll ich ihn wieder in den Korb stecken? (Falstaff kommt herein) Falstaff Nein, ich will nicht wieder in den Korb. Kann ich nicht hinaus, eh’ er kommt? – Frau Page Ach drei von Herrn Fluths Brüdern halten mit Pistolen Wache an der Hausthür, daß Keiner entwischen möge; sonst könntet ihr wegschleichen, eh’ er käme. – Aber was macht ihr denn hier? –

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Falstaff Was soll ich anfangen? Ich will in den Schornstein hinaufkriechen. (IV,2)

Man sieht, wie Frau Page überlegt; nachdenklich legt sie den Finger ihrer linken Hand an die Lippen: Wo soll er hin? Was soll er anfangen? Auf keinen Fall in die Besenkammer, nicht in den Kleiderschrank, auch nicht in den Schornstein oder in den Brunnen. „Ihr müßt verkleidet hinausgehn.“ Ein Gedankenblitz fällt vom Himmel: Die Tante meiner Magd, die dicke Frau aus Brentford, hat in der Kammer der Magd einen Rock, ihren Schlapphut, ein Backentuch etc. hängen. Schnell, liebster Sir John, hinauf und umgezogen. Falstaff geht hinauf und Frau Fluth freut sich diebisch auf die Begegnung der alten Hexe mit ihrem Mann. Er hat ihr das Haus verboten und geschworen, sie ordentlich zu verprügeln, wenn sie noch einmal auftauchen sollte. Das sind üble Aussichten für den Ritter und schadenfrohe Momente für die schalkhaften Damen. Bevor Frau Page mit Falstaff nach oben zum Umkleiden geht, setzt sie gegen die fast durchgehende Prosa der Komödie noch einen Merkspruch in gereimtem Blankvers ab. Frau Page Durch unser Beispiel leucht’ es allen ein, Ein Weib kann lustig und doch ehrlich seyn. Spaß ist nicht Ernst; wohl sprach ein weiser Mund: Das stillste Wasser hat den tiefsten Grund. (IV,2)

Frau Fluth kommt mit den Knechten und bereitet den Wäschekorb als Ablenkungsmanöver vor. Fluth kommt wutschnaubend mit allen Herrschaften der verabredeten Vogeljagd und stürzt sich auf das vermeintliche Versteck des Ritters. Absetzen! Fluth reißt die Wäsche aus dem Korb. Herrn Page ist die Angelegenheit sichtlich peinlich. Auch den anderen Jagdfreunden geht das zu weit. Da niemand in der Wäsche zu finden ist, bittet Herr Fluth mit ihm das Haus zu durchsuchen. Da kommt Frau Page mit der alten Frau aus Brentford die Treppe herunter. Siedend heiß vor Zorn schreit der Hausherr: Was! die Hexe! die alte Vettel! kommt herunter, du Zigeunerin! – Frau Fluth bittet händeringend, die alte Frau nicht zu schlagen, aber Fluth drischt unbarmherzig zu. Wie oft und wie lange, das bleibt der Regie überlassen. Falstaff nimmt Reißaus und dann stellt Frau Page etwas scheinheilig fest:

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Frau Page Schämt ihr euch nicht? Ich glaube, ihr habt die arme Frau todt geschlagen! – (IV,2)

Und der Pastor Evans meint in seinem walisischen Dialekt etwas gesehen zu haben, was einigermaßen merkwürdig ist. Evans Pei meiner Treu, ich klaupe, tas Weib ischt wahrhaftige Hexe; ich hap’s nicht kern, wann Weipspilt kroßen Part hat, ich sah kroßen Part unter ihrem Packentuch. (IV,2)

Wut macht blind; niemand hat den dicken Bart der alten Frau beachtet, aber jetzt ist Falstaff außer Haus und die Suche bleibt in Kisten und Kästen, in Kamin und Keller erfolglos. Zunächst sind die Herren beschäftigt und die Scheinheiligkeit der Frau Page macht sich Luft. Frau Page Der Prügel soll geweiht und in der Kirche aufgehängt werden; er hat ein verdienstliches Werk gethan. (IV,2)

Das hat er, aber damit soll es noch nicht genug sein. Die spitzbübischen Ehefrauen beschließen, ihre verblendeten Männer aufzuklären und ihnen den Entscheid zu überlassen, ob man Falstaff noch eine dritte Falle – diesmal öffentlich – stellen solle. Sie ziehen los, um ihr Eisen zu schmieden, bevor es wieder kalt ist. Nach einem kurzen Filmschnitt sitzt man im Wohnzimmer der Fluths beisammen und begeistert sich an den Streichen der Nachbarinnen. Als die Rede auf die galanten Briefe von John Falstaff kommt, frägt Herr Page neugierig nach. Page Und schickte er euch die beiden Briefe zur selben Zeit? – Frau Page In der nämlichen Viertelstunde. (IV,4)

Jetzt ist eine „Rückblende“ auf Ereignisse angebracht, die zeitlich vor dem bisher Erzählten stattgefunden haben. Unter dem Begriff „Analepse“ oder Wiederaufnahme war das Verfahren schon lange, bevor es bei Film- und Fernsehproduktionen üblich wurde, in der Literatur als ein erzähltechnischer Kniff beliebt. deutsche Übersetzung: Wolf Graf Baudissin

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Frau Alice Ford (Fluth)

Die lustigen Weiber von Windsor (1597)

designed by Kenny Meadows and engraved by W. J. Edwards

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Frau Page ist die ältere der beiden Damen, auf die Falstaffs lüsterner Blick gefallen ist. Sie hat einen Sohn namens William in der Lateinschule und eine 17-jährige Tochter Anne Page, die man als heiratsfähig erachtet. Die zweifache Mutter sieht sich selber nicht mehr in den „Feiertagen ihrer Schönheit“ (II,1). Das stellt sie mit einem gewissen Bedauern fest, als sie mit einem Brief in der Hand lesend die Straße entlangläuft. Sie ist auf dem Wege zu ihrer Freundin Alice. Ihr Erstaunen über den Umstand, dass sie damals keine und heute feurige Liebesbriefe erhält, ist das eine, das andere ist, dass eine gewisse Verärgerung in ihr aufsteigt. Die hat keine moralische Schlagseite, sondern sie wird gespeist aus einer gewissen Enttäuschung. Falstaff gebärdet sich wie ein junger Liebhaber. Dazu hat sie keinen Anlass gegeben, und spontan setzt sich ein Entschluss zur Rache bei ihr fest. Da kommt Frau Fluth die Straße entlanggelaufen. Auch sie hat einen Brief in der Hand. „Da, hier, lies, lies!“ Während Frau Margaret begierig liest, schimpft Alice weiter fort über den Briefschreiber. Ihre Tirade mündet in die Frage: Frau Fluth … Hast du je so etwas gehört? Frau Page Ein Brief wie der andre, nur daß die Namen Fluth und Page verschieden sind. Zu deinem größten Trost in diesem Labyrinth von Leichtfertigkeiten ist hier der Zwillingsbruder deines Briefs: aber laß nur deinen zuerst erben, denn auf meine Ehre, der meinige soll es nie. Ich wette, er hat ein ganzes Tausend solcher Briefe mit leeren Plätzen für die verschiednen Namen; und gewiß noch mehr; und diese sind von der zweiten Auflage. Er wird sie ohne Zweifel noch drucken lassen, denn es ist ihm einerlei, was er unter die Presse bringt, da er uns beide darunter bringen wollte. Lieber möchte ich eine Riesin sein und unter dem Berg Pelion liegen! Wahrhaftig, ich will eh’r zwanzig treulose Turteltauben finden, als einen züchtigen Mann.

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Frau Fluth Seht doch, ganz derselbige; dieselbe Handschrift dieselben Worte: was denkt er nur von uns? (II,1)

Frau Page nimmt noch einmal ihren Faden auf. Ich habe doch keinen Anlass zu des Ritters erotischer Parforcejagd auf mich gegeben. Warum tut er das dennoch? Sie kommt ins Grübeln. Frau Page Wahrhaftig, ich weiß nicht; es bringt mich fast so weit, mit meiner eignen Ehrbarkeit zu zanken. – Ich muß mich ansehn wie eine Person, die ich noch gar nicht kenne; denn wahrhaftig, hätte er nicht eine Seite an mir entdeckt, von der ich selber gar nichts weiß, er hätte es nicht gewagt, mit solcher Wuth zu entern. (II,1)

Diese durchaus bedenkenswerte Seite des erotischen Problems ist hiermit zwar angesprochen, wird aber nicht weiter verfolgt. Die Lokalposse hat ihre eigenen Stärken und kennt keinen Hang zur Reflexion. Die erste große Intrige schreit nach Ausführung. Frau Page Laßt uns einen Kriegsrath gegen diesen feinen Ritter halten: Kommt hieher! (II,1)

Wie gerufen, kommt Frau Hurtig, die Haushälterin des Doktor Cajus. Die Frau ist einschlägig bekannt, nicht nur wie Falstaff aus früheren Stücken Shakespeares, sondern auch als eine Frau, die etwas vom Handwerk des Pandarus beherrscht. Sie verkuppelt liebend gerne alle möglichen Leute zu Paaren. Die drei Frauen ziehen sich auf ein Stündchen ins Haus zurück, und wir gehen derweil in den Gasthof zum Hosenbande, wo Falstaff mit seinen Kumpanen residiert. Kaum hat man uns eingeschenkt, ist Frau Hurtig zur Stelle und bittet Falstaff um seine Aufmerksamkeit. Zunächst beginnt sie im Flüsterton, beginnt dann aber ein großes Worttheater um die Frau Fluth. Endlich kommt sie zum Punkt. Frau Hurtig Ei nun, sie hat euern Brief erhalten, für welchen sie euch tausend Dank sagen läßt; und sie läßt euch zu wissen thun, daß ihr Mann nicht zu Hause seyn wird zwischen zehn und elf. (II,2)

Bingo, denkt Falstaff. Aber es kommt noch besser. Frau Hurtig Frau Page läßt sich euch gleichfalls von Herzen empfehlen; und,

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das muß ich euch ins Ohr sagen, die ist eine solche annette und repetirliche hübsche Frau, und Eine, das sage ich euch, die da weder ihren Morgen- noch ihren Abendsegen versäumt, wie’s nur Eine in Windsor giebt, wer sie auch seyn mag; und die trug mir auf, euer Gnaden zu sagen, daß ihr Mann selten außer Hause sei; aber sie hofft, es wird schon eine Zeit kommen. Ich habe nie eine Frau so versessen auf einen Mann gesehn; weiß Gott, ich glaube, ihr müßt hexen können, gelt? Ja wahrhaftig! – (II,2)

In Sachen von Hexerei bleibt der dicke Ritter bescheiden, aber er freut sich natürlich über sein Doppelglück. Frau Hurtig warnt ihn, im Falle der Frau Fluth den eifersüchtigen Ehemann nicht zu unterschätzen. Das ist bei Frau Page das geringere Problem, weil sie sehr emanzipiert und von großer Selbständigkeit ist. Frau Hurtig Da ist weit und breit in Windsor keine Frau, die ein beßres Leben führt; sie thut, was sie will, nimmt alles ein, bezahlt Alles, geht zu Bett, wenns ihr gefällt, steht auf, wenns ihr gefällt, Alles ganz wie sie will; und wahrhaftig, sie verdient es; denn wenn es eine liebe Frau in Windsor gibt, so ist sie eine. (II,2)

Falstaff lässt sich bei den Frauen empfehlen und gerät über die Neuigkeiten ein wenig außer sich. Das Ding läuft so gut, wie er das selber nicht gedacht hat. Da meldet sich ein gewisser Herr Bach; es ist der eifersüchtige Herr Fluth – aber nur so leicht verkleidet, dass der Zuschauer die Übersicht behält. Er erzählt Falstaff die jämmerliche Geschichte seiner Liebe zu Frau Fluth und bittet ihn, den vortrefflichen Kavalier, die Mauern ihrer Tugend zu schleifen. Ob das ein guter Einfall ist, wird sofort zweitrangig, als Herr Bach einen prall gefüllten Beutel Geld auf den Tisch legt. Falstaff … – ja, Herr Bach, du sollst’s erleben, ich triumphire über den Flegel, und du schläfst bei seiner Frau. (II,2)

Im Übrigen, ganz nebenbei, lieber Herr Bach:

Falstaff Sie hat mich selbst, daß ich’s euch nur sage, schon zu sich bestellt: eben als ihr zu mir kamt, ging ihre Gehülfin, ihre Zwischenträgerin, von mir weg; ich sage euch, ich werde mich bei ihr einfinden zwischen Zehn und Elf, denn um diese Zeit wird ihr Mann, der eifersüchtige verdammte Kerl, nicht zu Hause sein. (II,2)

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Kurz gelacht! Das war es, was der Mann hören wollte, um sich in seiner Eifersucht bestätigt zu fühlen. Natürlich wird auch er zum Stelldichein erscheinen. Falstaff fiebert seinem tête-à-tête entgegen, Herr Bach eifert sich in Rage, Frau Fluth präpariert die Knechte mit dem Wäschekorb für ihre Falle und Frau Page memoriert ihr Stichwort, bei dem sie eingreifen soll, wenn das vertrauliche Zwiegespräch ernsthaft verfänglich wird. Frau Page Sorge nur nicht; wenn ich meine Rolle nicht gut spiele, so zische mich aus! (III,3)

Sie begibt sich hinter die Kulissen, Frau Fluth atmet tief durch und Falstaff tritt ein. Er ist ganz Würde, ist sich seiner Rolle in Jupiters Fußstapfen bewusst. Er hebt an und Frau Fluth seufzt: Falstaff Hab’ ich dich errungen, mein himmlisches Juwel? Ha! Jetzt, Götter, laßt mich sterben, denn ich habe lange genug gelebt. Dies ist das Ziel meines Ehrgeizes! Oh, die süße Stunde! – Frau Fluth Oh, liebster Sir John! – (III,3)

Dann aber kommt der dicke Ritter schnell zur Sache und zwar mit einem unerwarteten Wunsch. Falstaff Frau Fluth, ich kann nicht süß thun, ich kann nicht declamiren, Frau Fluth. Nun laß mich einen sündlichen Wunsch aussprechen: ich wollte, dein Mann wäre todt. Ich wills dem ersten Lord ins Angesicht sagen: ich würde dich zu meiner Lady machen. (III,3)

Das war ein Heiratsantrag unter einer sehr sündlichen Voraussetzung. Die taktlose Bemerkung über den Tod ihres Mannes scheint sie überhört zu haben. Frau Fluth kokettiert lieber und wehrt bescheiden ab. Frau Fluth Ich eure Lady, Sir John? Ach, ich würde eine klägliche Lady abgeben! – (III,3)

Nein, nein, nein, ihr seid eine vollkommene Hofdame von der „feingeschwungenen Schönheit der Augenbrauen“ bis zu eurem herrlichen Gang im Reifrock. Aber lassen wir das.

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Falstaff Komm, ich kann nicht süß thun und sagen, du seist dieß und das …: ich kanns nicht; aber ich liebe dich, keine als dich, und du verdienst es. (III,3)

Da setzt Frau Fluth einen kleinen Stachel der Eifersucht ins dicke Fell des Schwerenöters, der ihn aber nicht weiter aus der Ruhe bringt. Frau Fluth Hintergeht mich nicht, Sir; ich fürchte, ihr liebt Frau Page. (III,3)

Was ihn allerdings schneller reagieren lässt, ist sein kleiner Page Robin, der von draußen ganz aufgeregt ruft. Robin Frau Fluth, Frau Fluth, hier ist Frau Page vor der Tür, und schwitzt und keucht, und sieht ganz verstört aus: sie will gleich mit euch sprechen. Falstaff Sie soll mich nicht sehn, ich will mich hinter der Tapete verschanzen. (III,3)

Das bestätigt auch Frau Fluth, die zufrieden ist, dass Frau Page ihr Stichwort nicht überhört hat. Frau Fluth Ach ja, thut das, sie ist eine gar zu schwatzhafte Frau. (III,3)

Noch glaubt sich Falstaff von der ganz großen Katastrophe weit entfernt, und er versteckt sich hinter der Tapete. Er kann gut mithören, was Frau Page ankündigt. Die tut so, als wüßte sie nicht, was gespielt wird, und überhäuft Frau Fluth mit Vorwürfen. Was habt ihr gemacht, dass euer guter Mann so in Eifersucht wütet. Frau Page Euer Mann kommt her, Frau, mit allen Gerichtsdienern aus Windsor, um einen Herrn zu suchen, der, wie man sagt, jetzt mit eurer Einwilligung hier im Hause ist, um sich seine Abwesenheit auf unerlaubte Art zunutze zu machen. Ihr seid verloren! – (III,3)

Das hört Falstaff überhaupt nicht gerne; er bekommt wie immer in solchen Situationen schnell die Krise, weil er ein Feigling ist. Aber auch die Damen werden nervös. Sie haben ihren Spaß ohne den Wirt gemacht. Der Korb steht zwar parat, so weit stimmt die Rech-

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nung, aber woher weiß Herr Fluth vom Besuch des Ritters. Der beginnt zu betteln. Falstaff Laßt einmal sehn! laßt einmal sehn! O laßt mich einmal sehn! Ich will hinein, ich will hinein; folgt dem Rath eurer Freundin; ich will hinein. (Er kriecht in den Korb, sie decken ihn mit schmutziger Wäsche zu) (III,3)

So weit so gut; jetzt kommt der unverhoffte Teil zur Abarbeitung. Der Wäschekorb erregt Neugier beim Ehemann, wird aber schlussendlich ignoriert und weggetragen. Irgendwo im Hause muss er sein, der freche Galan. Herr Fluth verteilt die Schlüssel zu allen Räumlichkeiten und die Männer machen sich skeptisch auf die Suche. Sie wollen Herrn Fluth nicht so recht trauen. Kaum sind die Männer auf falscher Fährte unterwegs, haben die Damen wieder lustig Oberwasser.

zu Die lustigen Weiber von Windsor, Akt 3, Szene 3

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Frau Page Ist das nicht ein doppelt königlicher Spaß? Frau Fluth Ich weiß nicht, was mir besser gefällt, daß mein Mann angeführt ist, oder Sir John. (III,3)

Die Schadenfreude ist riesig; es ist sehr befriedigend, Falstaff auf der Bleiche im Wasser zu wissen, und schon blitzt der Gedanke auf, es ein weiteres Mal mit einem solchen Streich zu versuchen. Der geknickte Eheherr versammelt seine Helfer, und seine Entschuldigung ist für Frau Fluth ein stiller Triumph. Falstaff ist noch nicht richtig getrocknet, da kommt auch schon Frau Hurtig mit einer bescheidenen Entschuldigung und einer neuen Einladung auf den morgigen Tag zwischen acht und neun. Man gibt sich die Türklinke in die Hand, denn kaum ist sie draußen, kommt Herr Bach, dem Falstaff brühwarm sein vermasseltes Abenteuer mit dem Waschkorb erzählt. Herr Bach bemitleidet ihn, Sir John entschuldigt seine Niederlage und erzählt von einer neuen Einladung zu einem zweiten Stelldichein und schwört: Falstaff … ihr werdet von meinen Siegen hören, und die Krone von Allem soll seyn, daß sie euer wird. Lebt wohl. Ihr sollt sie besitzen, Herr Bach; Herr Bach, ihr sollt dem Fluth Hörner aufsetzen. (III,5)

Das zweite Treffen verläuft wie das erste heimlich-vertrauliche Zwiegespräch. Bevor es allzu intim wird, zieht wiederum Frau Page die Notbremse und kündigt den eifersüchtigen Ehemann an. Frau Fluth Kommt denn mein Mann wirklich? Frau Page Ja, in allem Ernst; und spricht noch dazu vom Korbe, wie ers nun auch erfahren haben mag. Frau Fluth Das müssen wir herausbringen (IV,2)

Diesmal wird Falstaff aber nicht mehr mit der schmutzigen Wäsche entsorgt, sondern in den Kleidern der dicken Frau aus Brentford mit einer Tracht Prügel. Wieder ist Herr Fluth knapp gescheitert, und die Frauen genießen ihren stillen Triumph. Und wieder ist

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Herr Fluth zerknirscht über seine Eifersucht und bittet um Verzeihung, und ratz fatz fassen die auf den Geschmack gekommenen Frauen den Entschluss, es mit dem erotischen Briefschreiber ein drittes Mal – diesmal öffentlich im Park von Windsor – zu versuchen. Dazu ist aber ein wenig Aufklärung ihrer verblendeten Männer nötig. Frau Fluth Sollen wir’s unsern Männern sagen, wie wir ihm mitgespielt haben? Frau Page Ja, auf alle Weise; wär’s auch nur, um deinem Mann die Fratzen aus dem Kopf zu schaffen. Wenn sie es übers Herz bringen können, den armen untugendlichen dicken Ritter noch ferner zu plagen, so wollen wir ihnen wieder die Hand dazu bieten. (IV,2)

Sie ziehen los, um ihr Eisen zu schmieden, bevor es wieder kalt ist. Nach einem kurzen Filmschnitt sitzt man im Wohnzimmer der Fluths beisammen und begeistert sich an den Streichen der Damen. Ob Herr Fluth über seine Besuche unter dem Decknamen „Bach“ erzählt hat, bleibt offen. Als die Rede auf die galanten Briefe von John Falstaff kommt, frägt Herr Page neugierig nach. Page Und schickte er euch die beiden Briefe zur selben Zeit? – Frau Page In der nämlichen Viertelstunde. (IV,4)

Damit ist auch diese Sache geklärt, und der Rest ist eine Sommernachtstraum-Inszenierung im Park von Windsor. Man will Falstaff als Jäger Herne verkleidet für die Mitternacht zum Stelldichein an der großen Eiche bestellen. Er soll beide Frauen zugleich empfangen dürfen. Die Kinder von Windsor werden als Elfen und Geister verkleidet mit Wachskerzen als Feuerkronen auf dem Kopf. Die sollen dann kommen und den Schwerenöter ordentlich zwacken. Gleichzeitig soll das Töchterchen von Herrn und Frau Ford, die stille Jungfer Anne Page, unter die Haube gebracht werden. Versteht sich, dass die drei Beteiligten eine je andere Möglichkeit favorisieren.

deutsche Übersetzung: Wolf Graf Baudissin

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Die lustigen Weiber von Windsor (1597)

designed by Kenny Meadows and engraved by Edward Radclyffe

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Schlachtfelder über Schlachtfelder, der Tower in London, Orleans und Paris, Fürstensitze, Athen und Rom, Messina, Verona, Padua, Venedig und Wien ….. – die Schauplätze von Shakespeares Stücken sind kaum zu überblicken. Das Stück über „Die lustigen Weiber von Windsor“ spielt ausnahmsweise nicht in den Staatsräumen von Windsor Castle, sondern als einziges Stück im bürgerlichen Milieu der elisabethanischen Zeit in England. Es dominiert fast durchgehend Prosa. In dieser vergleichsweise friedlichen Welt des englischen Provinzstädtchens fallen ein paar Außenseiter ins Auge: ein ziemlich abgebrannter Ritter mit seinen halbseidenen Gefolgsleuten, ein walisischer Pfarrer und ein französischer Doktor, der eine kupplerisch veranlagte Haushälterin hat. Der Ritter pflegt einen recht bombastischen Sprachton, der Pfarrer und der Doktor sprechen ein schier unverständliches Kauderwelsch und das quirlige Mädchen für alles ist Spezialistin für gelungene Sprachschnitzer. Die eingeborenen Männer haben ebenso ihre komisch bedingten trotteligen Seiten: Da ist ein eifersüchtiger Ehemann, ein käsig-lächerlicher Freier, ein tatteriger alter Friedensrichter. Sie alle treffen in der ersten Szene des ersten Akts auf der Hauptstraße vor dem Haus der Familie Page aufeinander. Es geht um verschiedenste Sachverhalte, aber es geht vorrangig auch um eine mögliche eheliche Verbindung des käsigen Abraham Schmächtig mit dem 17-jährigen Mädchen Anne Page … Evans … was ischt Tochter des Herrn Keorg Page, was ischt artiges Fräuleinschaft. (I,1)

Das Mädel bringt ein ordentliches Pfund in die Ehe mit, und Herr Schmächtig hat auch einiges dazuzulegen. Als Herr Page aus dem Haus kommt, verliert man das Thema schnell aus den Augen. Und als auch noch Herr Falstaff mit seinen Gefolgsleuten daher spaziert kommt, beißt man sich an Vorfällen fest, die die Kleinstadtidylle

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leicht kriminell aufmischen. Da ist eine Wilddieberei, ein Beleidigungsfall, eine Schlägerei und ein Diebstahl einer Geldbörse zu verhandeln. Der Ritter und seine Gefolgsleute bagatellisieren die Vorwürfe, und als die Jungfer begleitet von Frau Page und Frau Fluth mit Wein aus dem Haus kommt, sind die Streitereien schnell Nebensache. Falstaff gibt sich als Mann von Welt sehr galant. Falstaff Frau Fluth, bei meiner Treu, ihr kommt recht zur guten Stunde: mit eurer Erlaubniß, liebe Frau! (er küßt sie) (I,1)

Soviel Weltmanieren imponieren Herrn Page, und er befiehlt den Wein ins Haus zurück und lädt alle Anwesenden spontan zu einer warmen Wildpastete zu Mittag ins Haus. Page Frau, heiß’ diese Herrn willkommen: – kommt, wir haben eine warme Wildpastete zu Mittag; kommt, ihr Herrn, ich hoffe, wir lassen allen Mißmuth im Glase. (I,1)

Das lässt man sich nicht dreimal sagen, und Falstaff geht tapfer voran. Der alte Friedensrichter Schaal und der Pfarrer Evans haben den Junker Schmächtig beobachtet. Der hat, kaum dass er das Mädchen erblickt hat, vor lauter Verzückung Maulaffen feilgehalten. Das sehen die beiden Mentoren gerne, und sie reden auf den jämmerlichen Liebhaber mit Engelszungen ein, um die Hand des Mädchens anzuhalten. Brav nickt er zu deren Wünschen. Schmächtig Ich will sie heirathen, Sir, wenn ihrs verlangt, und wenn sich dann auch anfänglich keine große Liebe einfindet, so wird der Himmel sie schon bei näherer Bekanntschaft diminuiren lassen, wenn wir erst Mann und Frau sind und mehr Gelegenheit haben, uns einander kennen zu lernen. Ich hoffe, mit der Vertraulichkeit wird sich auch die Geringschätzung einstellen. (I,1)

Ann Page kommt wieder und bittet im Namen ihres Vaters noch einmal zu Tisch. Der Friedensrichter und der Pfarrer fühlen sich geehrt und gehen ins Haus. Nur dem armen Heiratskandidaten hat es den Appetit verschlagen. Anne Wollen euer Gestrengen nicht hineinkommen?

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Schmächtig Nein, ich bedanke mich recht schönstens, mein Seel, ich bin sehr wohl so. Anne Das Essen wartet auf euch, Junker. Schmächtig Ich bin nicht hungrig, ich bedanke mich meiner Seel. Geh, Kerl, obgleich du eigentlich mein Bedienter bist, geh und warte meinem Vetter Schaal auf. (Simpel geht ab) Ein Friedensrichter kann schon einmal seinem Freunde Dank wissen für einen Bedienten. – Ich halte jetzt nur drei Kerls und einen Jungen, bis meine Mutter tot seyn wird; aber was thuts? ich lebe doch wie ein armer geborner Edelmann. Anne Ich darf nicht ohne euer Gestrengen hineinkommen, sie werden sich nicht setzen, bis ihr kommt. Schmächtig Meiner Treu, ich esse doch nichts; ich dank euch ebenso, als hätt’ ichs genossen. Anne Bitt euch, Junker, spaziert doch hinein! Schmächtig Ich spaziere lieber hier draußen, ich danke euch; ich ward neulich am Schienbein getroffen, als ich mit dem Oberfechtmeister auf Degen und Dolch rappirte, drei Gänge um eine Schüssel geschmorte Pflaumen, und auf Ehre, ich kann seitdem den Geruch von warmem Essen nicht ausstehen. Warum bellen eure Hunde so? Sind Bären in der Stadt? – Anne Ich glaube ja, Sir; ich hörte davon reden. (I,1)

Dass das nichts wird mit den beiden, ist offensichtlich. Der Eindruck auf Anne Page ist katastrophal. Erst als der Vater kommt und noch einmal mit Nachdruck bittet, bequemt sich Schmächtig zum Essen zu gehen. Zurück in seinem Quartier im Gasthof zum Hosenbande beschließt der dicke Ritter gutgelaunt von Wildpastete und Wein ein Liebesabenteuer, bei dem er zwei Fliegen mit einer Klatsche schlagen will. Falstaff Mit einem Wort, ich habe im Sinn, einen Liebeshandel mit

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der Frau Fluth anzufangen; ich wittre Unterhaltung bei ihr; sie discurirt, sie kommt entgegen, sie schielt mit dem Seitenblick der Auffordrung: ich construire mir die Wendungen ihres vertraulichen Styls, und die schwierigste Passage ihres Betragens in reines Englisch übersetzt, lautet: ich bin Sir John Falstaffs. […] Ich habe hier einen Brief an sie geschrieben, und hier einen zweiten an Page’s Frau, die mir jetzt eben gleichfalls verliebte Augen zuwarf und meine Statur mit höchst kritischen Blicken musterte. Zuweilen vergoldete der Strahl ihres Anschauens meinen Fuß, und zuweilen meinen stattlichen Bauch. (I,3)

Die sich daraus ergebende Geschichte mit den beiden adretten Bürgersfrauen ergibt einen Handlungsstrang, der mehr als ausreichend wäre, die Lokalposse in absurde Höhen zu treiben. Aber Shakespeare bedient noch einen dritten Handlungsstrang, die Geschichte von Anne Page und ihrem heimlichen Liebhaber Fenton, die in einer romantisch angelegten Komödie Shakespeares gut und gerne die Haupthandlung ausmachen könnte. Aber sie bleibt in dieser sehr intrigenreichen Komödie eher eine Nebenhandlung (die hat später Otto Nicolai in seiner Oper nach Shakespeares Komödie mit diversen Arien und Duetten entschieden nachgebessert). Shakespeare kam es diesmal aber nicht auf die romantische Komödie an, sondern auf drastische Situationskomik, auf farcenhafte Verwicklungen. Da war wenig Platz für Herz und Schmerz, und schon Ulrich Bräker moniert: „Freilich geht man nicht in die Komödie, um zu beten und den Kopf hängen zu lassen, aber doch, dünkt mir, kommt auch gar keine Person vor, die einem die Seele bewegt.“1

Da hat er recht und auch nicht recht, weil Shakespeare dafür so viel schenkelklopfende Unterhaltung liefert wie in kaum einem anderen seiner Stücke. Paraderollen im Dutzend, auch wenn manche Interpreten von der ganz hohen Schule gerne weismachen wollen, der Dichter habe seinen geistreichsten Helden hier verraten und verkauft. Man darf auch anderer Meinung sein. Seine „unverwüstliche Grazie in seinem heitern Cynismus zeigt er nie glänzender als hier im Unglück“, meint die alte Deutungsschule2 Das Kulturbild der „Lustigen Weiber von Windsor“ ist ein kräftig gezeichnetes Gegenbild zur heroischen geschichtlichen Welt der Historienstücke, ist die gelungene „Ergänzung zum Pathos der großen Ereignisse“.3

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Folgerichtig verzichtet das Gegenbild darauf, der romantischen Liebesgeschichte allzu viel Raum einzuräumen. Einen potentiellen Liebhaber haben wir schon kennengelernt. Es ist der vom Vater favorisierte Junker Schmächtig. Er ist ob seines Vermögens sein Favorit. Die Mutter hat einen anderen Favoriten, den französischen Doktor Cajus. Der besticht sie weniger wegen seines Geldes, sondern er verspricht auch ein wenig höfischen Glanz. Einen derart blamablen Auftritt wie dem Junker Schmächtig erspart ihm der Dichter. Er wird erst im Zieleinlauf disqualifiziert. Die in dieser Komödie gleich gedoppelte Auseinandersetzung sowohl mit den Wünschen des Vaters wie der Mutter sucht die Tochter mit einem dritten Weg zu konterkarieren. Sie hat sich für den verarmten, aber dafür ziemlich attraktiven Fenton entschieden. Auch wenn ihn der Wirt zum Hosenbande an den Himmel lobt, Herr Page ist strikt gegen eine solche Verbindung. Wirt Und was sagt ihr zu dem jungen Herrn Fenton? Er springt, er tanzt, er hat junge, feurige Augen, er schreibt Verse, er spricht Festtagsworte, er duftet wie April und Mai; der führt sie heim, der führt sie heim, der hat das Glück in der Tasche, der führt sie heim. Page Nicht mit meinem Willen, das versichr’ ich euch. Der junge Mensch hat kein Vermögen. (III,2)

Natürlich wird der Wirt recht behalten; Fenton wird das Mädchen heimführen, auch wenn es zunächst nicht so aussieht. Fenton versucht sich zwischen den beiden üblen Niederlagen Falstaffs im Hause der Frau Fluth seinerseits im Hause des Herrn Page als Bewerber für Anne ins Benehmen zu setzen. Auch er scheitert auf andere Art wie Falstaff. Anne drängt Fenton beim Vater um ihre Hand zu werben, muss aber schließlich selbst erkennen, dass das keinen Sinn hat. Sie treten beiseite, denn ausgerechnet jetzt kommt Herr Schmächtig, um seine Bewerbung vorzutragen. Der Auftritt ist so kläglich wie der zu Beginn des Stückes mit dem Unterschied, dass der Herr Page mit seiner Frau kommt und kurzangebunden und barsch die Angelegenheit beendet. Page Nun, mein Herr Schmächtig? Lieb’ ihn, Tochter Anne! – (III,4)

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Da entdeckt er verwundert Herrn Fenton im Abseits stehen. Natürlich ist er alles andere als freundlich zu dem jungen Mann und er verweigert, ihn anzuhören. Da wendet Fenton sich an die Mutter, und auch die weist ihn trotz der Bitten der Tochter zurück. Sie wüsste einen besseren Mann, den Herrn Doktor Cajus. Annes Kommentar ist deutlich. Anne Ach, lieber grabt mich doch lebendig ein Und werft mich todt mit Rüben! (III,4)

Frau Page und Anne gehen ab. Fenton schickt die völlig verwirrte Frau Hurtig mit einem Ring für Anne hinterher. Die Sache steht nicht gut, aber bei Shakespeare ist immer eine Intrige gut, um die Sache zu wenden. Nachdem das zweite Abenteuer mit Falstaff glücklich bestanden ist und die Männer von den Damen darüber aufgeklärt sind, geht es an die Sommernachtstraum-Inszenierung im Park von Windsor. Man will Falstaff als Jäger Herne verkleidet für die Mitternacht zum Stelldichein an der großen Eiche bestellen. Er soll beide Frauen zugleich empfangen dürfen. Die Kinder von Windsor werden als Elfen und Geister verkleidet mit Wachskerzen als Feuerkronen auf dem Kopf. Die sollen dann kommen und den Schwerenöter ordentlich zwacken. Gleichzeitig soll das Töchterchen von Herrn und Frau Ford, die stille Jungfer Anne Page, unter die Haube gebracht werden. Versteht sich, dass die drei Beteiligten eine je andere Möglichkeit favorisieren. So ist die Rollenverteilung vorgesehen. Frau Page Mein Annchen spielt der Feyen Königin; Wir kleiden schmuck sie in ein weiß Gewand. (IV,4)

Einverstanden, sagt Herr Page großzügig.

Page Den Atlas kauf ’ ich ihr; und mittlerweil Entführt Herr Schmächtig Annchen sich, und läßt Sich traun zu Eton. Schickt sogleich zu Falstaff! – (IV,4)

Das will Frau Page nicht gelten lassen, und nachdem alle abgegangen sind, versichert sie sich selbst: Frau Page Ich will zum Doctor; er empfing mein Wort, Und Keiner wird mir Annchen’s Mann, als er. Schmächtig hat Güter zwar, doch ists ein Tropf;

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Den wünscht vor allen sich mein Mann zumeist. Cajus ist reich, und seine Freunde gelten Bei Hofe viel; drum unser Eidam sei er, Und kämen auch noch tausend beßre Freier! (IV,4)

Von Fenton ist nicht die Rede. Aber der Wirt zum Hosenbande ist scheinbar ein poetisch-romantisches Gemüt, mit dem der junge Mann auf gutem Fuße steht. Der ist, wie schon vernommen, von ihm überzeugt und ihm vertraut sich Fenton an. Er hat von Annchen ein Briefchen bekommen, der ihm die Details der Inszenierung schildert. Die große Szene um Falstaff ist das eine. Davon sind alle Mitwirkenden unterrichtet. Aber Annchens und mein Plan ist, sowohl die Entführung durch den Junker Schmächtig nach dem Willen des Vaters als auch den Plan der Mutter mit Doktor Cajus zu durchkreuzen. Der eine sucht sie in einem weißen Feenkleid, der andere in einem grünen. Dem Wirt wird es etwas wirrbelich im Kopf. Wirt Und wen betrügt sie? Vater oder Mutter? Fenton Nun, beide, Freund, und geht davon mit mir. Und jetzt das Hauptstück: Schaffe du den Pfarrer Uns in die Kirche, zwischen zwölf und eins, Der mit der Ehe heil’gem Siegel uns Die Herzen unauflöslich soll vereinen. Wirt Gut, fördert euern Plan: ich geh’ zum Pfarrer; Bringt nur die Braut, am Priester soll’s nicht fehlen. (IV,6)

Da ist einiges los in der Mitternachtsstunde. Bevor man auf Falstaff losgeht, werden die Ehekandidaten noch schnell über weiß und grün unterrichtet; es ist doch ganz einfach, und auch das Losungswort „Schnipp“ / „Schnapp“ kann sich Schmächtig gut merken. Die Statisterie ist schon in einer Grube bei der Eiche platziert, und dann ziehen Frau Fluth und Frau Page ritterlich in den finsteren Forst zum Kampf mit dem feistesten Windsorhirsch. Der ist in hoher Brunst und orgelt vor sich hin. Falstaff Meine schlanke Ricke! Nun mag der Himmel Kartoffeln regnen: er mag donnern nach der Melodie vom grünen Ermel; er mag Gewürznelken hageln und Muscatkuchen schneien;

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es erhebe sich ein Sturm von Versuchungen: – Hier ist mein Obdach! – (V,4)

Frau Fluth macht ihn bescheiden darauf aufmerksam, dass diesmal auch Frau Page mit von der Partie ist, und Falstaff – nicht faul – bietet sich großzügig an. Falstaff Theilt mich, wie einen Präsenthirsch (V,4)

Der Ritter ist, wo es nichts kostet, immer freigiebig, aber schon erhebt sich Lärm hinter der Szene und stört das Terzett gewaltig. Die Frauen laufen davon und nun überströmen Fackeln und Lichter die Bühne. Alles stürzt sich auf den Sünder, der sich schon wie in der Hölle vorkommt. Die Feenkönigin stimmt als Höhepunkt eine richtige Opernarie an. Feenkönigin Lied Pfui der sünd’gen Fantasei! Pfui der Lust und Buhlerei! Lust ist Feu’r im wilden Blut, Angefacht durch üpp’gen Muth; Tief im Herzen wohnt die Glut, Und geschürt wird ihre Wuth Von sündiger Gedankenbrut. Kneipt ihn, Elfen, nach der Reih’, Kneipt ihn für die Büberei; Kneipt ihn und brennt ihn und laßt ihn sich dreh’n, Bis Kerzen und Sternlicht und Mondschein vergeh’n. (V,4)

Damit hat es sich mit den Exzessen und der Buhlerei. Es waren nur ein paar sündige Phantasien, und die da in Grün und Weiß mit allen Feen davonschleichen, haben eigentlich fromme Gedanken und Absichten. Auch Anne und Fenton machen sich davon in die Nacht. Falstaff erhält von den an die große Eiche zurückkehrenden Frauen nebst ihren Ehemännern eine Standpauke, die ihn mit dem zum Esel verwandelten Zettel im Sommernachtstraum leiden lässt. Fast wortgleich spricht er einsichtig wie dieser. Falstaff Ich fange an zu merken, daß man einen Esel aus mir gemacht hat. (V,4)

Man einigt sich, die Unterwerfung nicht so weit zu treiben, dass sie die Grenzen der Komödie sprengt – die Frauen wollen ja selbstbe-

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wusste „lustige Weiber“ sein –, und deshalb meint der biedere Herr Page jovial Page Demungeachtet, Ritter, sei guter Dinge! Du sollst heut Abend in meinem Hause einen Nachttrunk bekommen, und da magst du meine Frau auslachen, die jetzt über dich lacht. Sag ihr, Herr Schmächtig habe ihre Tochter geheirathet. (V,4)

Der letzte Satz war verdammt vorlaut und man könnte ihn mit verschiedenen Sprichwörtern kommentieren, denn im Augenblick erscheint der Junker Schmächtig und klagt jämmerlich, dass die Dame in Weiß der Junge vom Postmeister war. Der hat sogar Schnapp gesagt als ich Schnipp sagte. Jetzt wirft sich Frau Page in die Brust und erklärt ihrem Mann stolz: Frau Page Liebster Georg, sei nicht böse: Ich wußte von deinen Plänen, that meine Tochter in Grün an, und jetzt ist sie mit dem Doktor in der Dechanei und schon getraut. (V,4)

Herr Page kommt gar nicht dazu, seinem Ärger Luft zu machen, denn Doktor Cajus kommt und schreit: Cajus Pardieu, ik seyn geführt an; ik ‘aben geheirath un garçon heine Jong; un paysan, pardieu, heine Jong; es seyn nik Anne Page, pardieu, ik seyn geführt an! – (V,4)

Herr und Frau Page schwant Schlimmes, als Annchen und Fenton auftauchen. Das Mädchen ist verängstigt und macht ihren Liebhaber zum Überbringer der Nachricht, dass sie eben geheiratet haben. Das überrascht zwar die Eltern, aber uns Zuschauer nicht sonderlich. Man fragt sich nur, wie viele Pfarrer es in und um Windsor gibt, die in einer Mitternacht drei völlig irreguläre Trauungen vorgenommen haben: keine Papiere, keine Trauzeugen und gleich 2 × 2 Männer verheiratet. Aber der Charme dieser kleinbürgerlichen Welt besteht darin, dass sie das Chaos dieser Tage am Ende doch mit einer gewissen Gelassenheit hinnimmt. Page Was ist zu thun? Fenton, nimm meinen Segen; Was schon geschehn, da hilft nicht Nein zu sagen. (V,4) Frau Page Nun wohl, ich will nicht schmollen. Lieber Fenton, Der Himmel schenk euch viel, viel frohe Tage!

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Komm, bester Mann, laß uns nach Hause gehn Und am Kamin den Spaß nochmals belachen; Sir John und Alle! (V,4)

Frau Fluth hatte einen kitzlichten Spaß, und Herr Fluth darf seine Eifersucht lautstark mit einem noch kitzlichteren Wunsch als geheilt erklären. Fluth Wohl gesagt. – Sir John, Eu’r Wort an Bach macht ihr nun dennoch gut; Er geht zu Bett noch heute mit Frau Fluth. (V,4)

Das ist ein happy end ohne irgendeinen Schatten wie so oft in anderen Komödien Shakespeares. Alle freuen sich, je gemeinsam in die Kiste zu gehen. Das Stück hatte von Beginn an eine erfolgreiche Bühnengeschichte, die aber im 20. Jahrhundert zu Ende ging. Woran das liegt, hat vermutlich vielfältige Gründe. Ein gerne genanntes Argument ist der Hinweis der Puristen, dass der anarchistische und schillernde Charme der zentralen Figur des dicken Aufreißers und Weiberhelden Falstaff, wie er aus „Heinrich IV.“ bekannt ist, verlorenen gegangen sei. Das Publikum misst allerdings nicht mit der Elle der hohen Literaturkritik. Der Niedergang in der Publikumsgunst muss andere Gründe haben. Wir vermuten, er liegt weniger am Publikum, sondern an den Theatermachern selbst, die um die Möglichkeiten eines hemmungslosen Klamaukstücks, einer farcenhaften Lokalposse einen großen Bogen machen. Daneben bietet das Stück einen hohen Reiz als „eine Farce der Sprache und des Sprechens“4. Der hochreflektierte Übersetzer Frank Günther weist ausdrücklich auf diesen Zusatzwert des Stückes hin. Mit Ideologiekritik ist da kein Blumentopf zu gewinnen, wohl aber könnte ein Regisseur wie Herbert Fritsch, der aus dem Wort „Null“ einen virtuosen Abend mit wenig Tief-, aber hohem Kunstsinn generieren kann, der aus Feydeaus Vaudevillekomödie „Champignol wider Willen“ jeden Kalauer, jede Zote, jeden Wortverdreher mit Leidenschaft zum Irrwitz und Überboulvard zu steigert vermag, diesem genialen Stück Shakespeares zu einer neuer Bühnenaktualität verhelfen. Die von Shakespeare weit gestreuten sogenannten Malapropismen, die die gelehrte Welt gerne für die unabsichtliche Verwendung eines ähnlich klingenden, aber von der Absicht her falschen Wortes untersucht, müssten dem inszenierenden Wortverdreher ein gefundenes Fressen sein. Sie würden

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aus ihrer Fußnotenexistenz in lebendige Theaterwirklichkeit mit den Paraderollen der Vorlage befreit. Wie Hektor Berlioz Veroperung von „Viel Lärm um nichts“ („Bénédikt und Beatrice“) die sprachliche Verfassung Shakespeares verfehlt, so verfehlt auch die Oper von Otto Nicolai nach Shakespeares „Lustigen Weibern von Windsor“ dessen sprachliche Finessen. Aber im Gegensatz zu Berlioz erfreut sich Otto Nicolais Oper heute großer Wertschätzung. Sie hat die lahmende Bühnengeschichte der Komödie kompensiert und ist heute in den deutschen Opernhäusern geläufiger als das Original auf den Sprechbühnen. Dass das Charakterbild Falstaffs auch in der Oper gegenüber seinem Vorgänger in den Historien Heinrich IV. und Heinrich V. blasser ausfällt, hat keine Auswirkung auf deren Beliebtheit. Dafür bejubeln die Operngourmets Verdis „Falstaff “, der aber beim breiten Publikum eher reserviert aufgenommen wird. Harold Bloom versteigt sich wie so oft in seinen Urteilen über Shakespeare am Beispiel der „Lustigen Weiber von Windsor“ in Baumkronen, aus denen man nur noch herunterfallen kann. „Obwohl dieses Stück, behaupte ich, den „Beiden Veronesern“ den Titel der schwächsten Komödie Shakespeares streitig macht, kann man es doch nicht ganz verdammen, da es zur Vorlage von Verdis „Falstaff “ wurde.“5 Da er mit seinem konservativen Theatergeschmack bei Herbert Fritsch die Aufführung verlassen würde, muss man sich mit der kleinen Schmährede nicht wirklich befassen. Es ist einfach keine Frage, ob sich das Charakterbild Falstaffs mit seinem Vorgänger in den Historiendramen vergleichen oder nicht vergleichen lässt. Es steht Shakespeare frei, mit seinen Schöpfungen zu verfahren, wie es ihm beliebt. Er konnte sich um ein Wappen bemühen, und sich über diesen Dünkel (wie hier im Stück) lustig machen. Er konnte sich über vieles lustig machen, was den Bürger Shakespeare leicht karikierte, denn „Shakespeare war ein Meister des gespaltenen Bewußtseins.“6 Er ist nicht frei von Widersprüchen; vielleicht ist er ein einziger Widerspruch in sich selbst, vielleicht erklärt das das Geheimnis seiner Person und seines Lebens. Dieses Geheimnis ist weit größer als das Rätsel, ob er nun Christopher Marlowe oder Edward de Vere gewesen sein könnte. deutsche Übersetzung: Wolf Graf Baudissin

302 • Jungfer Anna Page 1) Ulrich Bräker, S. 25 2) Friedrich Pecht, (1876); ohne Seitenzahl, s. Kap. Die lustigen Weiber von Windsor, S. 5 3) Alexander von Gleichen-Russwurm, S. 162 4) Frank Günther, Bd. 24, S. 218 5) Harold Bloom, Komödien und Historien, S. 461 6) Stephen Greenblatt, Will in der Welt, S. 175

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Viel Lärm um nichts (1598 / 1599)

designed by Joseph John Jenkins and engraved by W. J. Edwards

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Wir befinden uns in der Halle von Leonatos Residenz in Messina auf Sizilien. Leonato ist der Gouverneur der Stadt. Er erhält willkommene Nachrichten von einem Krieg, der glücklich beendet werden konnte. Durch einen Boten wird der Heerführer des Feldzugs, Don Pedro von Aragon, angekündigt und der florentinische Graf Claudio, der sich trotz seiner Jugend sehr tapfer geschlagen hat. Ein weiterer Rückkehrer aus dem Krieg ist ein Edelmann aus Padua namens Benedict, den man im Hause des Gouverneurs schon zu kennen scheint. So ein Besuch ist schön und nett, denkt Leonato, und er bittet seine Gäste gleich auf vier Wochen zu bleiben. Die sind sehr angetan, vor allem weil zum Mittelpunkt des schönen Hauses auch zwei Damen gehören, die die Einladung sehr verführerisch machen. Die eine Dame, Beatrice, ist die Nichte des Hausherrn; sie redet und plaudert sehr viel, vor allem lästert sie gerne über den ihr bekannten Benedict. Die andere Dame, Hero, ist die Tochter Leonatos und ein eher stilles, blondes Mädchen. Aber als Kind des Hausherrn ist sie, ohne Aufsehen von sich zu machen, der schöne Schein des glücklichen Hauses. Im Hintergrund steht noch einer, der bisher, wie auch Hero, kein Wort gesagt hat. Es ist der uneheliche Bruder von Don Pedro, zu deutsch „Don Juan“, in englisch „Don Jack“ betitelt. Don Pedro hat sich erst kürzlich mit ihm ausgesöhnt, und also gilt auch er dem Hausherrn willkommen. Er sieht ein wenig melancholisch aus und betont seine Schweigsamkeit. Leonato bittet alle, ihm zu folgen. Claudio hält Benedict zurück und fällt sofort mit der Tür ins Haus. Er bittet um ein Urteil über Hero, das sittsame, junge Fräulein. Sag mir ehrlich, wie sie dir gefällt. Benedict kalauert sich um eine klare Aussage herum. Der kriegerisch bewährte junge Mann scheint bei Frauen noch sehr unerfahren zu sein und platzt heraus: Claudio In meinem Aug’ ist sie das holdeste Fräulein, das ich jemals erblickte. (I,1)

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Kaum gesagt, kommt sein Chef Don Pedro zurück. Nach ein wenig Wortgeplänkel über den ehescheuen Benedict bietet sich Don Pedro an, für den schüchternen Claudio bei der schweigsamen Hero zu werben. Heute Abend ist Maskenball und da werbe ich in leichter Verkleidung um ihre Hand. Die Angelegenheit ist sofort Gegenstand der Gerüchteküche des Hauses – aber genau andersherum –, und schon ist es Abend und die Masken kommen. Hero hat sich herausgeputzt; fast will es scheinen, dass sie für die spanischen Gäste eine feine Mantilla gewählt hat. Die Maske in ihrer Hand ist bereit, um ihr Inkognito zu gewährleisten. Was der spanische Prinz darstellt, ist schwieriger zu verstehen. Scheinbar ist seine Maske aus bescheidenem Stroh, hinter der sich eine Person von göttlichem Glanz verbirgt. In seiner Geziertheit neigt der Dialog des Maskenpaars leicht ins Preziöse, aber der Prinz beschließt seinen Auftritt mit einer sprichwörtlich gewordenen Sentenz die Liebe betreffend. Don Pedro Gefällt es euch, mein Fräulein, mit eurem Freunde umher zu gehn? Hero Wenn ihr langsam geht und freundlich ausseht und nichts sagt, so will ich euch das Gehn zusagen; auf jeden Fall, wenn ich davon gehe. Don Pedro Mit mir, in meiner Gesellschaft? Hero Das kann ich sagen, wenn mir’s gefällt. Don Pedro Und wenn gefällts euch, das zu sagen? Hero Wenn ich euer Gesicht werde leiden mögen; denn es wäre ein Leiden, wenn die Laute dem Futteral gliche. Don Pedro Meine Maske ist wie Philemons Dach, drinnen in der Hütte ist Jupiter. Hero Auf die Weise müßte eure Maske mit Stroh gedeckt sein. Don Pedro Redet leise, wenn ihr von Liebe redet. (Gehn vorbei) (II,1)

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Der kleine Dialog zeigt, dass Hero ebenso witzig und geziert sprechen kann wie anderes Personal auch. Die Kolportage, die das kleine Gespräch zwischen Hero und Don Pedro auf dem Maskenball nach sich zieht, richtet einige Verwirrung an; sie wird bald geklärt, ist aber Vorbote weiterer Verwirrungen, Belauschungen und ziemlich bösartiger Intrigen. Der Prinz stellt zur Erleichterung des eifersüchtigen Claudio klar, dass er sein Versprechen gehalten und nicht in eigener Sache, sondern erfolgreich für Claudio um die schöne Hero geworben habe. Don Pedro Sieh, Claudio, ich warb in deinem Namen, und die schöne Hero ist gewonnen; ich hielt bei ihrem Vater an und habe seine Einwilligung erhalten. Bestimme jetzt deinen Hochzeitstag, und Gott schenke dir seinen Segen. (II,1)

Hero hat dem Prinzen wohl ihr Wort für Claudio gegeben und ist scheinbar so glücklich, dass sie gar nichts sagt. Ausnahmsweise gibt es einmal keine Konflikte zwischen den Erwartungen des Vaters und den Wünschen der Tochter. Es klingt fast wie Erleichterung, wenn Leonato seinen Segen zu der schnellen Brautwerbung gibt. Leonato Graf, empfangt von mir meine Tochter und mit ihr mein Vermögen. Seine Gnaden haben die Heirath gemacht, und die ewige Gnade sage Amen dazu. (II,1)

Der eifersüchtige Claudio ist sofort geheilt und glücklich und muss von der schwatzhaften Beatrice ordentlich in die Seite geboxt werden. Beatrice Redet doch, Graf, das war eben euer Stichwort. (II,1)

Claudio sagt aber nur, dass er nichts sagen will, weil er findet, dass für den Glücklichen Schweigen bekanntlich Gold sei. Und auch Beatrices Cousine bekommt einen kleinen Stoß mit dem Ellbogen. Beatrice Redet doch, Muhme, oder wenn ihr nichts wißt, so schließt ihm den Mund mit einem Kuß und laßt ihn auch nicht zu Wort kommen. (II,1)

Ob Shakespeare einen Kuss gestattet, bleibt offen. Er verzichtet auf eine diesbezügliche Regieanweisung. Der Hochzeitstermin wird auch noch schnell festgelegt. Claudio möchte am liebsten gleich morgen heiraten. Ganz so schnell wird es nicht gehen, meint Leonato, aber – heute ist Montag – sagen wir binnen Wochenfrist.

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Don Pedro scheint gerne den Heiratsvermittler zu spielen und schlägt vor, die träge Zeit bis nächsten Montag damit zu verbringen, auch aus Beatrice und Benedict ein verliebtes Paar zu machen. Der feine Menschenkenner hat instinktsicher erkannt, dass der ehescheue Mann und die heiratsunwillige Frau voreinander eine Fassade aus Witz und Zynismen und spitzzüngigen Vorurteilen aufgebaut haben, die ihren tiefsten Wünschen zum unüberwindlichen Hindernis geworden ist. Er bittet Leonato, Claudio und Hero um Mithilfe bei der lustig-listigen „Herkulesarbeit“, und sogar Hero vergisst ihr ausgedehntes Schweigen und lässt sich voller Freude auf den geplanten Streich ein. Hero Ich will Alles thun, was nicht unziemlich ist, um meiner Muhme zu einem guten Mann zu verhelfen. (II,1)

Melancholie oder „Schwarzgalligkeit“ ist eine Gemütsstimmung, die einen Menschen nicht per se zum Bösewicht stempelt, aber der melancholische Bastardbruder Don Juan ist auf unerklärliche Weise boshaft und skrupellos. Kaum hat er von der geplanten Heirat von Hero und Claudio gehört, spinnt er Intrigen gegen das Mädchen – einfach so. Sein Begleiter Borachio ist ein geschickter Handlanger für hinterhältige Machenschaften aller Art. Er schlägt ihm vor, Hero bei Claudio und Don Pedro anzuschwärzen. Sagt ihnen, „Ihr wüßtet, Hero liebe mich“. Damit sie euch glauben, sollen sie Zeugen werden, wie ich nachts ans Kammerfenster der Hero schleiche. Dorthin wird mich Margaretha – ich stehe seit Jahr und Tag in ihrer Gunst – in den Kleidern der Hero in der Nacht vor ihrem Hochzeitstag rufen. Natürlich wird es auch ein paar Zärtlichkeiten geben, so dass die Belauscher ihren Argwohn für Gewissheit nehmen. Zwischen Garten und Haus gibt es immer gute Gelegenheit, sich über den Weg zu laufen, und so trifft Don Juan schnell auf Claudio und Don Pedro. Die Rede kommt wie von ungefähr auf die Hochzeit, zu der Don Juan ein knappes Wort im Vertrauen sagen möchte. Don Juan … um die Sache kurz zu fassen – denn es ist schon zu lange die Rede davon gewesen –, das Fräulein ist treulos. Claudio Wer? Hero?

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Don Juan Eben sie; Leonato’s Hero, eure Hero, – jedermanns Hero. Claudio Treulos? Don Juan Das Wort ist zu gut, ihre Verderbtheit zu malen: ich könnte sie leicht schlimmer nennen. Denkt nur auf die schlimmste Benennung, ich werde sie rechtfertigen. (III,2)

Und natürlich willigen die beiden Herren sofort ein, heute Nacht die Inszenierung von Don Juans Faktotum für das Kammerfenster heimlich zu beobachten. Wie gut das Kammerstück von statten ging, erfährt der Zuschauer nur durch die Erzählung von Borachio. Mit stolzgefüllter Brust rühmt er sich seines Bubenstücks gegenüber seinem Kollegen Konrad. Hochmut kommt vor dem Fall, denn die weltdümmste Wache belauscht ihn dabei und nimmt ihn fest. Ihre Meldung beim Hausherrn scheitert aber an ihrer Ungeschicklichkeit. Der erkennt nicht die Brisanz des Falls und bittet um ein Protokoll der Vernehmung. Alles eilt zur Kirche bzw. ist schon in der Kirche versammelt, wo der ebenso schnellverliebte wie leichtgläubige Claudio eine niederträchtige Schau abzieht. Die üblichen Fragen des Mönchs nach eventuellen Ehehindernissen werden verneint; da wirft sich Claudio in die Brust. Und jetzt schwenkt das Stück, das größtenteils in Prosa spricht, in dramatische Verssprache über. Claudio Pater, mach’ Platz! Erlaubt ein Wort, mein Vater: Gabt ihr aus freier Wahl mir, ohne Zwang, Dieß Mädchen, eure Tochter? (IV,1)

Leonato weiß mit der Frage nichts Rechtes anzufangen. Aber alle spüren, dass sich da etwas zusammenbraut, was man dramentechnisch Peripetie nennt. Alle heitere Stimmung bricht in sich zusammen. Claudio Hier, Leonato, nehmt zurück sie wieder, Gebt eurem Freunde nicht die faule Frucht, Sie ist nur Schein und Zeichen ihrer Ehre. – Seht nur, wie mädchengleich sie jetzt erröthet! Oh, wie vermag in Würd’ und Glanz der Tugend Verworfne Sünde listig sich zu kleiden! Zeugt nicht dieß Blut als ein verschämter Anwalt

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Von ihrer schlichten Tugend? Schwürt ihr nicht, Ihr Alle, die sie seht, sie sei noch schuldlos, Nach diesem äußern Schein? Doch ist sie’s nicht: Sie kennt die Gluten heimlicher Umarmung, Nur Schuld, nicht Sittsamkeit, ist dieß Erröten. (IV,1)

Es geht hin und her. Claudio heizt die Stimmung noch mit ein paar demagogisch gesetzten Fragen in die Runde weiter auf, bevor er seinen konkreten Vorwurf äußert. Claudio Wer ist der Mann, den gestern nacht ihr spracht Aus eurem Fenster zwischen Zwölf und Eins? Wenn ihr unschuldig seid, antwortet mir! Hero Ich sprach mit keinem Mann zu dieser Stunde. (IV,1)

Mehr kann das arme Kind nicht sagen, mehr weiß es nicht. Ohnehin ziemlich schweigsam ist dieser Vorwurf aus heiterem Himmel zu viel für das schuldlose Mädchen. Hero fällt in Ohnmacht. Die machiavellistische Dreierbande deutet sich die Ohnmacht als den Tod der Braut und geht ungerührt ab. Der Vater ringt mit sich zwischen Anklage und Verzweiflung. Aber plötzlich finden zwei, die sich in immerwährendem Streit untereinander befinden, in einer Meinung zusammen. Sie wenden sich der Ohnmächtigen zu. Benedict

Wie gehts dem Fräulein?

Beatrice Todt, fürcht’ ich, – Oheim, helft! Hero! ach Hero! Oheim! Pater! Benedict! – (IV,1)

Die Mitleidsfrage Benedicts hat Beatrices Herz getroffen und bestätigt ihre Vermutung, dass hier schamlose Verleumdung am Werk ist. Auch den Mönch bestimmt sie zu der festen Überzeugung von Heros Unschuld. Als Hero wieder zu sich kommt, stellt der Priester die Frage nach dem frechen Schuft an ihrem Kammerfenster. Mönch Fräulein, wer ist’s, mit dem man euch verklagt? Hero Die mich verklagten, wissens, ich weiß keinen. Weiß ich von irgendeinem Mann, der lebt, Mehr, als der Jungfrau Sittsamkeit erlaubt,

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Sei keine Sünde mir vergeben! – Vater, Beweis’t, daß irgendwer mit mir gesprochen Um Mitternacht, und daß ich gestern Abend Mit irgendeinem Wesen Wort gewechselt, Verstoßt mich, haßt mich, martert mich zu Tode! (IV,1)

Die Unschuldsbeteuerung der Beschuldigten ist überzeugend; Benedict weist in Richtung Bastard. Er kennt ihn vermutlich besser als die anderen, und er traut ihm eine solche Bosheit zu. Man kommt überein, die Dreierbande in dem Glauben zu lassen, Hero sei tot. Ein Scheinbegräbnis solle die Verleumdung in Mitleid wandeln; Claudio, so der Mönch, werde nach und nach bedauern, dass seine Worte sie getötet haben und der langen Rede kurzer Sinn: Die Zeit wird Heilung bringen. Mönch So sei denn, wenn euch Fassung nicht verläßt, Seltsame Heilung seltnem Schmerz beschieden. – Ihr, Fräulein, sterbt zum Schein; Eu’r Hochzeitfest Ward, hoff ’ ich, nur verlegt: drum harrt in Frieden! (IV,1)

Es scheint so Eigenart der Mönche zu sein, Pläne auf die Zukunft mit Scheintoten in der Gegenwart zu machen, aber im Unterschied zu Bruder Lorenzo in „Romeo und Julia“ ist die Spekulation diesmal erfolgreich. Der Umweg ist den Preis, den er verursacht, wert. Diesmal kommt eine Komödie ins Ziel. Im Gefängnis bringt man in einem unsäglich komischen Verhör die Wahrheit ans Licht, die das Publikum ohnehin weiß, die man im Schloss leider nur vage vermutet und die den Herrschaften peu à peu vermittelt werden muss. Borachio ist ein Schuft, der von Don Juan tausend Dukaten erhalten hat, um Fräulein Hero fälschlich anzuklagen. Stand der Dinge: Graf Claudio hat Fräulein Hero in der Kirche beschimpft und bloßgestellt. Darüber ist sie aus Gram plötzlich verstorben. Prinz Juan ist heute Morgen geflohen. Es ergeht protokollarische Anweisung an den Konstabel, die beiden Ganoven Borachio und Konrad gefesselt zu Leonato zu bringen. Wie schon einmal gib es zwischen Garten und Haus erneut gute Gelegenheit, sich über den Weg zu laufen, und so trifft diesmal Leonato und sein Bruder Antonio auf Don Pedro und Claudio. Die beiden wollen der unangenehmen Begegnung gerne ausweichen, aber Vater und Onkel der Hero wollen doch ein paar Auskünfte. Beinahe gerät man mit dem Schwert aneinander. Schnell sind die

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Vorwürfe und ihre Zurückweisungen in harten Worten ausgetauscht. Die Situation wird zunehmend ungemütlich. Der Hausherr verabschiedet sich mit seinem Bruder und der Androhung, dass man wieder von sich hören lasse. Da kommt Benedict, und Claudio und Don Pedro sind fassungslos, als sie den Gefolgsmann plötzlich auf der Gegenseite erkennen müssen. Man pflaumt sich wechselseitig an; dann kommt Benedicts Vorwurf und Forderung zum Duell. Benedict (beiseite zu Claudio) Ihr seid ein Nichtswürdiger; ich scherze nicht. Ich wills euch beweisen, wie ihr wollt, womit ihr wollt, und wann ihr wollt. Tut mir Bescheid, oder ich mache eure Feigherzigkeit öffentlich bekannt. Ihr habt ein liebenswürdiges Mädchen getötet, und ihr Tod soll schwer auf euch fallen. Laßt mich eure Antwort hören! (V,1)

Dass sie ihn wegen Beatrices Spötteleien noch ein wenig aufziehen, ist eins, das andere ist, dass Benedict froh ist, seine Forderung tapfer überbracht zu haben, denn sie war der Wunsch von Beatrice und somit keine Frage der Tapferkeit, sondern der Liebe. Die beiden Verleumder sind nicht dumm. Don Pedro Es ist sein Ernst? Claudio Sein ehrsamster Ernst, und ich wollte wetten, alles aus Liebe zu Beatrice. (V,1)

Aber so schnell die Forderung zum Duell ausgesprochen war, so schnell wird sie auch wieder einkassiert. Denn nachdem Benedict abgegangen ist, kommt die ganze Komikermannschaft mit den festgesetzten Delinquenten der falschen Balkonszene. So lustvoll Borachio seine Intrige gesponnen hatte, so erleichtert gesteht er nun vor den leichtgläubig Geprellten. Borachio Ich habe euch mit sehenden Augen blind gemacht; was euer Beider Weisheit nicht entdecken konnte, haben diese schalen Thoren ans Licht gebracht, die mich in der Nacht behorchten, als ich diesem Manne hier erzählte, wie Don Juan, euer Bruder, mich angestiftet, Fräulein Hero zu verleumden; wie ihr in den Garten gelockt wurdet und mich um Margarethen, die Hero’s Kleider trug, werben saht; wie ihr sie verstoßen habt, als ihr

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sie heirathen solltet. Diesen meinen Bubenstreich haben sie zu Protocoll genommen, und lieber will ich ihn mit meinem Blut versiegeln, als ihn noch einmal zu meiner Schande wiederholen. Das Fräulein ist durch meine und meines Herrn falsche Beschuldigung getödtet worden; und kurz, ich begehre jetzt nichts, als den Lohn eines Bösewichts. (V,1)

Der eine ist wütend auf seinen Stiefbruder, der andere auf sich selbst, weil er seine Liebe so leichtfertig verstoßen hat. Und der Vater und der Onkel, die jetzt wieder zurückkommen, wollen den schwarzen Schurken sehen, der das alles ausgeheckt und in Szene gesetzt hat. Leonato spürt natürlich Oberwasser, weil er, anders als die „ehrenwerten“ Intriganten und Verleumder, seine lebende Tochter in der Hinterhand hat. Der Heiratsvermittler und der Bräutigam sind total geknickt und versprechen jede Buße. Leonato nimmt sie an und offeriert eine großzügige Versöhnung. Leonato Befehlen kann ich nicht, „erweckt mein Kind“, Das wär’ unmöglich. Doch ich bitt’ euch beide, Verkündet’s unsrer Stadt Messina hier, Wie schuldlos sie gestorben. Wenn Eu’r Lieben In ernster Arbeit was ersinnen mag, So hängt ein Epitaph an ihre Gruft, Und singt es ihrer Asche, singts heut Nacht. Auf morgen früh lad’ ich euch in mein Haus, Und könnt ihr jetzt mein Eidam nicht mehr werden, So seid mein Neffe. Mein Bruder hat ‘ne Tochter, Beinah ein Abbild meines todten Kindes, Und sie ist einz’ge Erbin von uns beiden; Der schenkt, was ihre Muhm’ erhalten sollte, Und so stirbt meine Rache. (V,1)

Wir sehen dem weiteren Verlauf des Stücks mit einiger Entspannung entgegen. Die arme Margarethe, die man in bösem Verdacht haben musste, wird auch noch entlastet, und die Justizabteilung der Provinz Messina wird belobigt und bekommt eine kleine Gratifikation. Was Benedict und Beatrice noch untereinander zu regeln haben, ist hier eher unwichtig. Jedenfalls erfahren auch sie mit großer Erleichterung die Auflösung der bösen Geschichte, die man der Hero gespielt hat. Die Nacht ist dem Morgen nahe, und man trifft sich wieder in der Kirche. Treffpunkt ist vor der Grablege der Familie Leonato. Don Pedro und Claudio nebst einem kleinen Gefolge

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geben zusammen mit ein paar Musikern Hero die letzte Ehre. Claudio verliest den Text einer kleinen Gedenktafel, die er dann an der Wand anbringt. Claudio Schmähsucht brach der Hero Herz, Hier schläft sie im Jungfraunkranz, Für der Erde kurzen Schmerz Schmückt sie Tod mit Himmelsglanz; Leben mußt’ in Schmach ersterben, Tod ihr ew’gen Ruhm erwerben. (V,3)

Während des Gesangs verdrückt er vielleicht eine Träne, und am Ende der Musik verspricht er eine jährliche kleine Gedenkfeier für Hero. Damit ist der Pflicht Rechnung getan, und man geht zum angenehmeren Teil über. Gott Hymen wird ab jetzt den Tag regieren. Hoffentlich läuft es diesmal besser. Leonato hat im Haus wieder alle Hochzeitsgäste und den Mönch und Hero um sich versammelt. Man ist froh, dass sich ein glückliches Ende der Affäre ankündigt. Jeder weiß um seine Rolle, Antonio als neuer Brautvater ganz besonders. Leonato schickt die Frauen weg; sie sollen auf seinen Wink maskiert wiederkommen. Nur Benedict bleibt und bittet sowohl den Mönch als auch Leonato ebenfalls um Erlaubnis zur Eheschließung mit Beatrice. Das wird gerne gewährt. Der Bräutigam und sein Brautzeuge kommen – natürlich immer mit einem kleinen Gefolge. Nach der freundlichen Begrüßung will Leonato die Versicherung von Claudio, ob er die Tochter seines Bruders zur Frau nehmen wolle. Er beteuert es mit einem Zusatz, der heute dem Rotstift zum Opfer fällt. Claudio Ich halte Wort und wär’ sie eine Mohrin. (V,4)1

Antonio wird weggeschickt, um die maskierten Damen zu holen. Bis sie kommen, machen die Herren Konversation, die ebenfalls dem Rotstift geopfert werden kann. Claudio kommt aufs Geschäftsmäßige zurück und stellt eine Frage, die allen Sinn für romantische Verspieltheit vermissen lässt. Claudio An welche Dame darf ich hier mich wenden? (V,4)

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Antonio führt sie ihm zu, und Claudio will es kurz und bündig machen. Claudio So ist sie mein! Zeigt mir eu’r Antlitz, Holde! (V,4)

Stopp! Da mischt sich Leonato ein. So prosaisch, so sachlich, trocken, so bar aller Fantasie will er sich seine geplante Inszenierung nicht kaputt machen lassen. Bevor du nicht vor diesem Priester dieser Maske ewige Treue geschworen hast, bleibt sie deinem Blick verborgen. Das Paar ist für Shakespeare eher unüblich nicht sehr gesprächig. Claudio macht es sehr kurz. Claudio Gebt mir die Hand vor diesem würd’gen Mönch: Wenn ihr mich wollt, so bin ich euer Gatte. (V,4)

Hero setzt glückselig ein doppeltes Sprüchlein drauf. Hero Als ich gelebt, war ich eu’r erstes Weib; Als ihr geliebt, wart ihr mein erster Gatte. (Nimmt die Maske ab) Claudio Die zweite Hero? Hero Nichts ist so gewiß. Geschmäht starb eine Hero; doch ich lebe, Und ich bin rein von Schuld, so wahr ich lebe. (V,4)

Was den Tod und die wunderbare Wiederauferstehung anlangt, hat es für die Beteiligten im Wesentlichen sein Bewenden. Der Mönch kündigt, falls überhaupt gewünscht, Aufklärung nach dem Vollzug der Trauung an. Mönch All dieß Erstaunen bring’ ich zum Verständniß. Sobald die heil’gen Bräuche sind vollbracht, Bericht’ ich jeden Umstand ihres Todes. (V,4)

Bevor man zur Kapelle abgeht, muss noch der Fall Benedict und Beatrice ins happy end gebracht werden. Bei denen, bei den buffoni, kommt schon vor der Trauung Stimmung auf, die die innamorati vermutlich sogar nach der Zeremonie vermissen lassen. Benedict Laßt uns vor der Hochzeit einen Tanz machen, das schafft uns

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leichtere Herzen, und unsern Frauen leichtere Füße. […] Spielt auf, Musikanten! (Tanz. Alle ab) (V,4)

Nun mag man rätseln, warum Shakespeare aus Hero und Claudio ein so wortkarges Paar gemacht hat. Ihr sprachliches Vermögen wirkt gegen das witzig-glitzernde Wortgeplänkel von Beatrice und Benedict schlicht und einfältig. Alle Psychologie und auch Küchenpsychologie kann da nicht weiterhelfen. Der Regisseur bekommt wenig an die Hand um daraus Theaterfunken zu schlagen. Das Idealbild einer fügsamen Tochter und inskünftig braven Ehefrau vorzustellen mit einem in Liebesdingen ziemlich beschränkten Mann, das wird wohl kaum Shakespeares Absicht gewesen sein. Auch Claudios unglaubliche Leichtgläubigkeit an den Pranger zu stellen, wird Shakespeares Ziel nicht gewesen sein. Den Wahlspruch des Horaz „prodesse et delectare“ kennt seine „Ars poetica“ nur in weitaus komplexeren Verschränkungen. Und den Dichter in solchen Fällen zu entschuldigen, indem man ihm Misslingen unterstellt, erscheint unfair. Shakespeare ist Shakespeare, und wenn schon Schwächen, dann sind diese zugleich Stärken. Es ist ein Teufelskreis, in dem uns der Autor laufen lässt. Auffällig ist der gleichzeitige Start der Handlungslinien von Hero und Claudio und von Beatrice und Benedict. In Parallelität und Kontrast ziehen sich diese Kompositionslinien durchs Stück. Dahinter steckt Kalkül. Hero zeigt in der Intrige gegen Beatrice durchaus Lust, die Freundin unter die Haube zu bringen. Sie sähe sie gerne verheiratet. Die Fortschritte auf dieser Handlungslinie treffen im vierten Akt auf den tragischen Tiefpunkt in der Geschichte der Liebe von Hero und Claudio und helfen dem Buffopaar definitiv, den Ausgang aus dem Irrgarten ihrer Liebe zu finden. Zwei Sätze markieren die kontrapunktisch angelegte Dramaturgie. Benedict Wie gehts dem Fräulein? (IV,1) Beatrice Ermorde Claudio! (IV,1)

Die falsche Nachricht von Heros Tod, an der auch sie mitstricken, unterbindet ein Ende des Stückes in naiver Gläubigkeit an ein glattes glückliches Ende einer bzw. beider Liebesgeschichten. Der Zweifel ist der Begleiter des der Komödie generell eingeschriebenen Gedankens der Theodizee. In diesem Sinne wird das märchenhafte

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Element des Scheintodes und die romantische Wiederauferstehung kontrastiert durch Beatrices halsbrecherisches Motto: Beatrice Denn siehst du, Hero, freien, heirathen und bereuen sind wie eine Courante, eine Menuett und eine Pavana: der erste Antrag ist heiß und rasch wie eine Courante, und eben so fantastisch: die Hochzeit manierlich, sittsam wie eine Menuett, voll altfränkischer Feierlichkeit; und dann kommt die Reue und fällt mit ihren lahmen Beinen in die Pavana immer schwerer und schwerer, bis sie in ihr Grab sinkt. (II,1)

Das definitive happy end beim Freien und Heiraten steckt in diesem unsentimentalen Motto jenseits der Theodizee, für das Heros Schneewittchentod nur ein sentimentaler Vorschein auf ein bitteres Ende des Scheins im wahren Sein ist. deutsche Übersetzung: Wolf Graf Baudissin 1) Bei Shakespeare steht „Ethiope“ / „Äthiopierin“. Wenn das Frank Günther (Bd. 21, S. 185) heute durch „kohlpechschwarz“ ersetzt, wird es sicherlich auch nicht besser. Auch im „Sommernachtstraum“ steht: „Away, you Ethiope!“ (III,2) Schlegels „Mohrenmädchen“ wird wiederum durch Frank Günthers Übersetzung „Weg, schwarze Schlampe!“ nicht gerettet (Bd. 2, S. 97). Die Hinweise auf die Schönheitsideale (weiße Haut / dunkler Teint) von damals, die sich heute ins Gegenteil verkehrt haben, beseitigen das Problem mitnichten. Also: Cancel Culture!? Shylock, Othello, Caliban …

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Beatrice

Viel Lärm um nichts (1598 / 1599)

designed by John Hayter and engraved by G. Stodart

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Hero ist nicht sehr gesprächig; ihr Gegenpart Beatrice dafür umso mehr. Sie und Benedict dominieren das Stück „Viel Lärmen um nichts“ sprachlich total, und beide sind zu einem der berühmtesten Liebespaare der Weltliteratur geworden, obwohl sie prinzipiell in der Pose der Liebesskepsis und der Ehefeindlichkeit auftreten. Diese Eigenwilligkeit hat den Komponisten Hector Berlioz gereizt, „Béatrice und Bénédict“ titelgebend für seine Oper nach Shakespeares Komödie zu verwenden. Wobei man sich frägt, wie einen Opernkomponisten ausgerechnet der funkelnde Wortwitz und die brillanten Dialoggefechte zur Komposition verführen konnten. Im traditionellen Opernschema von Rezitativ (eher unwichtig) und lyrischer Arie (sehr wichtig) war das Stück Shakespeares eigentlich nicht in den Griff zu bekommen. Das Problem, dass Oper und Wortverständlichkeit selber eine Paarbeziehung eingegangen sind, die sich wie der scherzhafte Ehekrieg des unkonventionellen Paares gestaltet, hat Berlioz dadurch zu lösen versucht, dass er nach dem Muster der opéra comique die einzelnen Musiknummern durch gesprochene Dialoge miteinander verbunden hat. Das scheint dem Anspruch nach den Vorsatz zur Komposition von „Witzen“ zu unterlaufen und schafft das neue Problem, dass jetzt Sänger Texte sprechen müssen, die schon gewieften Schauspielern Probleme bereiten. Selbst für sie sind die verfänglichen Sprachwitze Shakespeare schon intrikat genug. Benedict Bei meinem Degen, Beatrice, du liebst mich. Beatrice Schwört nicht bei eurem Degen, eßt ihn! Benedict Ich will bei ihm schwören, daß du mich liebst; und ich will den zwingen, meinen Degen zu essen, der da sagt, ich liebe euch nicht. Beatrice Ihr wollt euer Wort nicht wieder essen?

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Benedict Mit keiner Brühe, die nur je ersonnen werden kann. Ich betheure, daß ich dich liebe. Beatrice Nun denn, Gott verzeihe mir! Benedict Was für eine Sünde, liebste Beatrice? Beatrice Ihr unterbracht mich eben zur guten Stunde: ich war im Begriff, zu betheuern, ich liebte euch. Benedict Thue das von ganzem Herzen! Beatrice Ich liebe euch mit so viel von meinem Herzen, daß nichts mehr übrig bleibt, es euch dabei zu betheuern. Benedict Heiß’ mich, was du willst, für dich ausführen! Beatrice Ermorde Claudio! Benedict O, nicht für die ganze Welt! Beatrice Ihr ermordet mich, indem ihr’s weigert; lebt wohl! Benedict Warte noch, süße Beatrice! Beatrice Ich bin fort, obgleich ich noch hier bin. – Nein, ihr seid keiner Liebe fähig; – nein, ich bitt’ euch, laßt mich! Benedict Beatrice …. Beatrice Im Ernst, ich will gehn. Benedict Laß uns erst Freunde seyn. Beatrice O ja, ihr wagt ehe Freund mit mir zu seyn, als mit meinem Feinde zu fechten. (IV,1)

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Berlioz hat diese Szene, auf die sich unser Porträt von Beatrice bezieht, weder komponiert (das geht nicht als Rezitativ und nicht als Duett) noch begegnet sie als gesprochene Dialogszene. Seine vergleichsweise kleine „Komische Oper“ hat aus dem verwirrungsstiftenden Wortgeplänkel von Liebesleuten, die viel „Lärm um nichts“ machen, unter Ausklammerung der dramatisch-tragischen Momente (keine Verleumdung und kein Scheintod Heros) eine Spieloper deutschen Zuschnitts gemacht, in der das Nichts, das den Lärm erzeugt, nicht mehr begegnet. Um Nichts kreisen diese unbekümmerten, wenngleich schlagfertigen dialogischen Gefechte von Beatrice und Benedict. Ihre verbalen Auseinandersetzungen sind unkonventionelle Ersatzspiele und treten an die Stelle üblicher erotischer Gesprächs- und Handlungsmuster, als da sind Zärtlichkeiten im Reden und Tun. Beatrices und Benedicts Dialoge umgehen den simplen wechselseitig zu sprechenden Satz „Ich liebe dich“. Mit vielen Worten decken sie die drei großen Worte mit viel Wortgeklingel zu, die das hohe Paar in so wenigen Worten akzeptiert. Mit noch mehr Worten vermeiden sie, diese Aussage umzusetzen, sprich sich zu küssen. Bei Shakespeare hat dieser Moment in seinen Komödien ja immer einen besonderen Stellenwert, aber diesmal dehnt er das Spiel um nichts auf eine ganze Komödienlänge. Schon ganz zu Beginn könnte man die Hochzeitsglocken läuten, wenn Beatrice so leicht über ihren Schatten springen könnte wie Hero. Da kommt ein im Krieg verdienter Mann unversehrt heim. Der Bote kann ihn nicht genug rühmen. Bote Er ist mit allen ehrenwerthen guten Eigenschaften ausstaffirt.(I,1)

Der Bote versteht Beatrices boshaften Einwand nicht und Leonato, der Hausherr, bemüht sich um Verständnis. Beatrice Ausstaffirt! O ja! Aber die Staffage ist auch danach. – Ei nun, wir sind Alle sterblich. Leonato Ihr müßt meine Nichte nicht mißverstehn, lieber Herr. Es ist eine Art von scherzhaftem Krieg zwischen ihr und Signor Benedict. Sie kommen nie zusammen ohne ein Scharmützel von sinnreichen Einfällen. (I,1)

324 • Beatrice

Der spaßhafte Wortkrieg beginnt augenblicklich, wenn Benedict mit dem Kriegsherrn Don Pedro auftritt. Kaum öffnet er den Mund – zugegeben mit einer scherzhaft bemühten Bemerkung –, fällt ihm Beatrice ungefragt ins Wort. Beatrice Mich wundert, daß ihr immer etwas sagen wollt, Signor Benedict; kein Mensch achtet auf euch. (I,1)

Dass sie selber immer gerne etwas sagen will, fällt ihr gar nicht auf. Sie reißt einfach die Unterhaltung der Empfangsrunde für eine gefühlte Viertelstunde an sich, um sich mit Benedict zu kabbeln. Die Schauspieler von Don Pedro, Leonato, Claudio, Don Juan, Hero und Balthasar fragen auf der Probe beim Regisseur nach, was sie beim Herumstehen tun sollen. „Zuhören“ ist eine eher schlechte Anweisung; zum Einmischen hat ihnen Shakespeare aber keinen Text gegeben. Also hören sie aus Verlegenheit schmunzelnd zu und erfahren auch gleich eine Verdrehung, die Programm ist. Gegen Beatrices Verächtlichmachung wirft der verleugnete Geliebte sich in die Brust. Benedict … aber so viel ist gewiß, alle Damen sind in mich verliebt, ihr allein ausgenommen; und ich wollte, mein Herz sagte mir, ich hätte kein so hartes Herz; denn wahrhaftig, ich liebe keine. (I,1)

„Ich liebe keine“ ist haarscharf an den drei unaussprechlich schwer auszusprechenden Worten „Ich liebe dich“ vorbeigeschossen. Nun werden auf beiden Seiten alle Register gezogen, dass man nie heiraten werde, dass man ehelos bleiben wolle. Erst bietet sich Benedict mit einem Konterfei zum Verlachen an. Sollte ich je heiraten, so Benedict … setzt unter mein Bildniß: „Hier ist zu sehn Benedict, der Ehemann.“ (I,1)

Wenig später weist Beatrice das Ansinnen ihres Onkels, sie wie Hero unter der Haube zu sehen, entschieden zurück. Leonato Nun, Nichte, ich hoffe noch den Tag zu erleben, wo du mit einem Manne versehn bist. Beatrice Nicht ehe, bis der liebe Gott die Männer aus einem andern Stoff macht, als aus Erde. Soll es ein armes Mädchen nicht verdrießen, sich von einem Stück gewaltigen Staubes meistern

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zu lassen? Einem nichtsnutzigen Lehmkloß Rechenschaft von ihrem Thun und Lassen abzulegen? Nein, Onkel, ich nehme keinen. Adam’s Söhne sind meine Brüder, und im Ernst, ich halte es für eine Sünde, so nah’ in meine Verwandtschaft zu heirathen. (II,1)

Leonato hofft für seine schweigsam in Claudio verliebte Tochter gewandt, dass solche boshaften Reden ihr hoffentlich erspart bleiben. Beatrice setzt dagegen fröhlich ihr der Musik abgelauschtes sprichwörtlich gewordenes Programm. Beatrice Denn siehst du, Hero, freien, heirathen und bereuen sind wie eine Courante, eine Menuett und eine Pavana (II,1)

Was ist da zu machen, dass diese Hindernisse überwunden werden können. Die Parallelen zu Käthchen und Petruchio sind auffällig und würden einen Titel rechtfertigen wie „Der Widerspenstigen Zähmungen“. Erst im Kuss werden sie sich wechselseitig ergeben. Das dauert aber. Shakespeare hat sich hier Zähmungen einfallen lassen, die keine Schlachten wie zwischen Käthchen und Petruchio sind. Ihr Erfinder ist der Stratege Don Pedro. Ausgerechnet der Kriegsmann setzt auf Umarmungen statt auf Schlammschlachten. Er schlägt im Gegensatz zu seinem finsteren Stiefbruder Don Juan fingierte Belauschungsgespräche, also Intrigen positiver Wirkung vor. Als ein Freund scherzhafter Dinge schafft er mit dieser Paartherapie den negativ Verliebten eine Wirklichkeit, in der ihre Liebe und der Ehewunsch Erfüllung finden. Zusammen mit Hero, Claudio und Leonato will er bis zur Hochzeit am kommenden Montag auch Beatrice und Benedict zu einem Paar machen. Don Pedro Ich will während dieser Zwischenzeit eine von Herkules Arbeiten vollbringen, und zwar die, den Signor Benedict und das Fräulein Beatrice sterblich ineinander verliebt zu machen. Ich sähe die Beiden gar zu gern als ein Paar, und zweifle nicht, damit zustande zu kommen, wenn ihr drei mir solchen Beistand versprechen wollt, wie ich’s jedem von euch anweisen werde. (II,1)

Zunächst läuft das Spiel wie am uralten Komödien-Schnürchen; es besteht im Lauschen und Belauschen. Und es spielt im Garten, und der bietet schöne Hecken und grüne Verstecke. Da geht Benedict über die Themen Frauen und Liebe und Verlieben und Heiraten tief

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räsonierend auf und ab. Das tut er natürlich halblaut und schon ziemlich lange. Sein Monolog ist mindestens so lang wie der berühmte, den er aus Shakespeares „Hamlet“ kennt, und mindestens so tiefsinnig, weil von höchster Lebenswichtigkeit. Er ist allerdings in Prosa, denn er geht über eher profanere Dinge als über Sein oder Nichtsein. Er hat sich ein Buch kommen lassen, damit die Pose stimmt. Benedict … Reich muß sie seyn, das ist ausgemacht; verständig, oder ich mag sie nicht; tugendhaft, oder ich biete gar nicht auf sie; schön, oder ich sehe sie nicht an; sanft, oder sie soll mir nicht nahe kommen; edel, oder ich nähme sie nicht, und gäbe man mir noch einen Engel zu; angenehm in ihrer Unterhaltung, vollkommen in der Musik: und wenn sie das Alles ist, so mag ihr Haar eine Farbe haben, wie es Gott gefällt. Ach! da kommen der Prinz und unser Amoroso. Ich will mich in die Laube verstecken. (II,3)

Wie zu hören bzw. zu lesen, will er in seinem Räsonnement nicht gestört werden, aber unfreiwillig wird er in seiner Laube zum willigen Belauscher der Herren, die auch noch Musik mitgebracht haben. Langsam nähert man sich über das Thema Musik den Frauen und Benedict ist ganz Ohr. Die Musiker gehen, und Don Pedro frägt listig nach Beatrice. Don Pedro Kommt, Leonato, was erzähltet ihr mir doch vorhin? Daß eure Nichte Beatrice in Benedict verliebt sei? (II,3)

Claudio, der seinerseits den Beobachter beobachtet, zeigt sich verwundert und Leonato setzt hinterher: Leonato Aber das ist eben das Wunderbarste, daß sie grade für den Benedict schwärmt, den sie dem äußern Schein nach bisher verabscheute. (II,3)

Auch Benedict meldet sich zu Wort, aber nur in Gedanken. Benedict Ist’s möglich? Bläst der Wind aus der Ecke? (II,3)

Das entwickelt sich nun wie eine Fuge, in der die Herren ein Bild von Beatrices unterdrückter Liebesraserei entwerfen, das dem Benedict die Röte ins Gesicht und in die Ohren treibt. Beim Abgang

Beatrice • 327

nach der langen Improvisationsnummer flüstern sich die Herren noch leise zu, dass nun Hero und ihre Kammerfrau Ursula sich in ähnlicher Weise mit Beatrice beschäftigen müssen. Dann gehen sie mit dem «Daumen-hoch»-Smiley ab. Benedict tritt hervor und jetzt monologisiert er eher wie Malvolio in „Was ihr wollt“, nachdem dieser den fingierten Brief gefunden hat. Benedict … – In mich verliebt? O, das muß erwiedert werden. Ich höre, wie man mich tadelt: sie sagen, ich werde mich stolz gebehrden, wenn ich merke, wie sie mich liebt. Sie sagen ferner, sie werde ehe sterben, als irgendein Zeichen ihrer Neigung geben. Ich dachte nie zu heirathen; aber man soll mich nicht für stolz halten. Glücklich sind, die erfahren, was man an ihnen aussetzt, und sich darnach bessern können. Sie sagen, das Fräulein sei schön … (II,3)

Da wurde eine Blockade gelöst, und mitten ins Herzausschütten kommt Beatrice gelaufen, um ihn zum Essen zu bitten. Benedict sieht sie plötzlich mit anderen Augen. Im unmittelbaren Anschluss kommt die Improvisationsnummer von Hero und Ursula. Die Szene spielt ebenfalls im Garten, aber die Damen konversieren in gediegenem Blankvers. Sie spielen mit ihrem eigenen Laster, mit der Neugierde. Margaretha soll Beatrice in die Geißblattlaube locken, weil sie dort belauschen könne, wie und was über sie getuschelt würde. Das läuft, wie gewünscht. Beatrice hört sich satt an der Nachricht, dass Benedict Beatrice über alles liebt. Die Fuge ist hier eher ein Duett, dessen Text aber für ein Libretto zu komplex ist. Ursula Ist’s denn wahr? Liebt Benedict so einzig Beatricen? Hero So sagt der Prinz und auch mein Bräutigam. (III,1)

Und plötzlich wird Hero so gesprächig wie nie in eigener Sache und lobt Benedict in den höchsten Tönen. Hero Beim Liebesgott! Ich weiß es, er verdient So viel, als man dem Manne nur vergönnt.

328 • Beatrice

Doch schuf Natur noch nie ein weiblich Herz Von spröderm Stoff, als das der Beatrice; Hohn und Verachtung sprüht ihr funkelnd Auge Und schmäht, worauf sie blickt: so hoch im Preise Stellt sie den eignen Witz, daß alles Andre Ihr nur gering erscheint: sie kann nicht lieben, Noch Bild und Form der Neigung in sich prägen, So ist sie in sich selbst vergafft. (III,1)

Das geht in solchem Ton noch eine gute Viertelstunde zwischen den Damen hin und her. Dann gehen sie ab, und Beatrice kommt aus der Geißblattlaube. Auch ihr treibt es die Röte ins Gesicht, und in den Ohren rauscht es mächtig, und ein bis dato undenkbarer Vorsatz ist schnell gefasst. Beatrice Welch Feu’r durchströmt mein Ohr! Ist’s wirklich wahr? Wollt ihr mir Spott und Hohn so scharf verweisen? Leb wohl denn, Mädchenstolz, auf immerdar, Mich lüstet nimmermehr nach solchem Preisen. Und, Benedict, lieb’ immer: so gewöhn’ ich Mein wildes Herz an deine theure Hand: Sei treu, und, Liebster, deine Treue krön’ ich, Und unsre Herzen bind’ ein heil’ges Band! Man sagt, du bist es wert, und ich kann schwören, Ich wußt’ es schon, und besser, als vom Hören. (III,1)

Es wäre zu einfach anzunehmen, dass man jetzt ganz schnell die drei großen Worte aussprechen kann. Die neue Wirklichkeit schaffende Intrige muss erst die Feuerprobe bestehen. Sie muss sich erst in der Tragödie der Hero bewähren. Bei den Männern hat der schwarze Verleumder Don Juan seine Bombe schon gezündet, die Damen schmücken die Braut und werden dann in der Kirche auf perfide Weise mit der grundlosen Anschuldigung der Untreue überrascht, die Hero wie tot zu Boden sinken lässt. Benedict

Wie gehts dem Fräulein?

Beatrice Todt, fürcht’ ich, – Oheim, helft! Hero! ach Hero! Oheim! Pater! Benedict! – (IV,1)

Auf tolle Weise bringt der Dramatiker den Tiefpunkt der Liebeshandlung des hohen Paars zur Deckung mit dem Höhepunkt der

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Liebeshandlung des Buffo-Paars, das spätestens jetzt kein lustig parlierendes Paar mehr ist, das nach dem Motto „Was sich liebt, das neckt sich“ gestaltet ist. Es weht plötzlich Schicksal um und in ihrer neuen Wirklichkeit. Jetzt hat sich diese Liebe zu bewähren. Die opéra comique von Berlioz verzichtet auf diesen dramaturgisch-dramatischen Höhepunkt im Tiefpunkt, indem sie Hero und Claudio ohne Stolperstufen einfach zum Traualtar bringt und das BuffoPaar hinterher laufen lässt. Von diesem Knoten, den Shakespeare im vierten Akt geschürzt hat, erzählt die zu unserem Bild der Beatrice gewählte Szene, in der sie Benedict um seiner Liebe willen mit einer unmöglichen Bitte konfrontiert. Fast hätte sie in diesem dramatischen Moment die drei Worte ohne zu stolpern über die Lippen gebracht. Ein „t“ (ich liebte euch) ist leider noch zu viel (im Original ein „d“: I loved you); in der Wiederholung ist es dann getilgt (I love you / Ich liebe euch), aber der Nebensatz macht es eigentlich ungesagt gesagt. Beatrice Ihr unterbracht mich eben zur guten Stunde: ich war im Begriff, zu betheuern, ich liebte euch. Benedict Thue das von ganzem Herzen! Beatrice Ich liebe euch mit so viel von meinem Herzen, daß nichts mehr übrig bleibt, es euch dabei zu betheuern. (IV,1)

Benedict nimmt Beatrices Bekenntnis in witziger Distanziertheit an und antwortet mit großer Geste: Benedict Heiß’ mich, was du willst, für dich ausführen! Beatrice Ermorde Claudio! Benedict O, nicht für die ganze Welt! Beatrice Ihr ermordet mich, indem ihr’s weigert; lebt wohl! Benedict Warte noch, süße Beatrice! (IV,1)

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Gut, dass sie doch noch zögert in dieser Stunde der Offenbarung ihrer Liebe, in der in Tränen und Mitleid und Zorn die Gefühle und Emotionen ohne sprachliche Verschleierung auskommen dürfen. Das tastende Zueinanderfinden kann noch in keinem Kuss enden. Vor dem Kuss, der die Liebe besiegelt, und vor der Einsegnung des endgültigen Eheversprechens wird eine Verpflichtung auf Ehr und Gewissen gefordert, die höchste Gefahr für Leib und Leben und Liebe bedeutet. Benedict Seid ihr in eurem Gewissen überzeugt, daß Graf Claudio Hero Unrecht belogen hat? Beatrice Ja, so gewiß ich einen Gedanken oder eine Seele habe. Benedict Genug, zählt auf mich! Ich fordre ihn heraus. (IV,1)

Der Macht des Schicksals beliebt es, noch ein wenig unentschieden abzuwarten. Benedict hat seine Forderung zum Duell an den Mann gebracht. An Beatrice berichtet er stolz: Benedict Claudio hat meine Forderung angenommen, und ich werde jetzt bald mehr von ihm hören, oder ich nenne ihn öffentlich eine Memme. (V,2)

Kaum beginnen sie, wieder in ihre alte Tonart zu verfallen, hat sich die Macht des Schicksals für eine Komödie entschieden. Es kommt in Gestalt der Kammerfrau Ursula und lässt ausrichten: Ursula Mein Fräulein, ihr sollt zu euerm Oheim kommen, es ist ein schöner Lärm da drinnen! Man hat erwiesen, unser Fräulein Hero sei böslich belogen, die Prinzen und Claudio mächtig betrogen, und Don Juan, der Anstifter von dem Allen, hat sich auf und davon gemacht. Wollt Ihr jetzt gleich mit kommen? (V,2)

Sie wollen, und zwar befreit von der Verpflichtung auf die Ermordung Claudios, mit einem Liebesschwur, der alles beinhaltet, was dem Satz „Ich liebe dich“ folgen muss. Benedict Ich will in deinem Herzen leben, in deinem Schooß sterben, in deinen Augen begraben werden, und über das Alles will ich mit dir zu deinem Oheim gehn. Ab. (V,2)

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zu Viel Lärm um nichts, Akt 5, Szene 2

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Vom Garten in das Zimmer des Onkels Leonato ist es ein Katzensprung. Alle stehen schon bereit, die wiederauferstandene Hero dem Grafen Claudio zuzuführen. Da bittet auch Benedict einerseits Leonato um die Einwilligung zur Heirat mit Beatrice und andererseits den Priester um die Einsegnung. Das Jawort des Onkels und der Beistand des Mönchs kommt ohne Zögern, und wie nebenbei erfährt Benedict wie auch Beatrice, dass ihrer beiderseitige Verliebtheit eine Intrige war. In zwei klitzekleinen Bemerkungen offenbart Leonato, dass da nicht alles mit rechten Dingen zuging. Bei Beatrices Liebe habe Hero nachgeholfen, und um dich verliebt zu machen, haben wir drei uns verschworen. Leonato Die Augen lieh ihr, wahrlich, meine Tochter. Leonato Den Liebesblick habt ihr von mir erhalten, Von Claudio und dem Prinzen. Doch, was wollt ihr? (V,4)

Benedict schluckt und auch Beatrice schluckt, als sie feststellen müssen, dass sie genarrt wurden. Als sich das Paar zum Gang in die Kapelle anschickt, wird es noch einmal kritisch. Benedict Liebt ihr mich nicht? Beatrice

Nein, weiter nicht, als billig.

Benedict So sind eu’r Oheim und der Prinz und Claudio Gar sehr getäuscht; sie schwuren doch: Ihr liebtet. Beatrice Liebt ihr mich nicht? Benedict

Nein, weiter nicht, als billig.

Beatrice So sind mein Mühmchen, Ursula und Gretchen, Gar sehr getäuscht; sie schwuren doch: ihr liebtet. Benedict Sie schwuren ja: ihr seid fast krank um mich? Beatrice Sie schwuren ja: ihr seid halbtodt aus Liebe?

Beatrice • 333

Benedict Ei, nichts davon. ihr liebt mich also nicht? Beatrice Nein, wahrlich, nichts als freundliches Erwiedern. (V,4)

Jetzt bedarf es eines energischen Worts. Der Onkel und Claudio fahren dazwischen und insistieren auf einer Enormität sondergleichen. Sie sprechen namens ihrer „Mandanten“, was eigentlich nur diese aussprechen können. Leonato Kommt, Nichte, glaubt mir’s nur, ihr liebt den Herrn. Claudio Und ich versichr’ es euch, er liebt auch sie: (V,4)

Was das doch für ein störrisches Liebespaar ist! Und um sie endlich doch von ihrer eigenen wechselseitigen und nicht vorgespiegelten Liebe zu überzeugen, zieht man nun zwei Trümpfe aus der Tasche, in denen sie endlich für sich aussprechen, was Sache ist. Sie liebten sich schon vor dem ganzen ‚Theater um nichts’ hinter den Gartenhecken. Claudio Seht nur dieß Blatt, von seiner Hand geschrieben, Ein lahm Sonett aus eignem leeren Hirn Zu Beatricens Preis. Hero Und hier ein zweites, Von ihrer Schrift, aus ihrer Tasch’ entwandt, Verräth, wie sie für Benedict erglüht. (V,4)

Das sind Beweise von eigner Hand, poetische Liebesbriefe womöglich mit Kuss-Smiley. Benedict O Wunder! Hier zeugen unsre Hände gegen unsre Herzen. Komm, ich will dich nehmen, aber bei diesem Sonnenlicht, ich nehme dich nur aus Mitleid. (V,4)

Er kann das Kleinreden nicht lassen. Und auch sie kann sich nicht friedlich erklären. Beatrice Ich will euch nicht geradezu abweisen; aber bei diesem Tagesglanz, ich folge nur dem dringenden Zureden meiner Freunde; und zum Theil, um euer Leben zu retten; denn man sagt mir, ihr hättet die Auszehrung. (V,4)

334 • Beatrice

Nach den Botschaften mit Kuss-Smiley kommt aber nun doch der alle Verwirrungen, alle Verleugnungen und alles Lärmen beendende Kuss, der dem Stück Shakespeares Siegel aufdrückt. Benedict Still! ich stopfe dir den Mund. (küßt sie) (V,4)

Und wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Der Liebesengel, Gott Amor, war bewaffnet, und es verwundert nicht, dass Shakespeare den heimlichen Kuppeldienst Don Pedro überlassen hat. Der freut sich, dass er nun spotten darf. Don Pedro Wie gehts nun, Benedict, du Ehemann? – (V,4)

Benedict, nicht faul, setzt zu seinem dritten Monolog an, der eine Retourkutsche auf den Spötter ist und der im Ratschlag an den kupplerischen Amor endet: Benedict Prinz, du bist so nachdenklich, nimm dir eine Frau! nimm dir eine Frau! (V,4)

deutsche Übersetzung: Wolf Graf Baudissin

Portia • 335

Portia

Julius Cäsar (1598 / 1599)

designed by Kenny Meadows and engraved by J. Putrim

336 • Portia

Portia • 337

Die große Staatsaktion „Julius Cäsar“ ist ein Männerstück. An diesem geschichtlich vorgegebenen Plot konnte oder wollte auch Shakespeares Genie nichts ändern. Thomas Platter, ein Schweizer Reisender, hat es am 21. September 1599 im Globe-Theater gesehen. Das Personenverzeichnis weist gut 35 Männerrollen nebst Bürgern, Soldaten, Senatoren, Gefolgsleuten und Cäsars Geist aus. Bevor die Titelfigur als gespenstische Erscheinung in der Nacht vor der Schlacht von Philippi auftritt, ist der Mann aber ziemlich lebendig. Cäsar bekommt von Shakespeare gleich im Beginn des Stückes einen sprichwörtlich gewordenen Satz in den Mund gelegt, der neben seiner direkten Bedeutung auf der Ebene der Handlung vielleicht auch ein indirekter ironischer Hinweis auf den Besetzungszettel sein könnte. Vielleicht möchte er uns an das Missverhältnis der Geschlechter in diesem Stück erinnern. Cäsar Laßt wohlbeleibte Männer um mich seyn, Mit glatten Köpfen und die Nachts gut schlafen (I,2)

Schlegels Übersetzung ist etwas vornehmer und dezenter als die heutige von Frank Günther. Cäsar Laßt Männer um mich sein, die dick und fett sind, Männer mit Glatzen, und die nachts gut schlafen. (I,2)

Wir sehen viele solche Männer im Stück, und wir begegnen ihnen heute mehr denn je auch jenseits der Bühne. Es wimmelt nur so von solchen Kerlen auf allen Großereignissen der politischen Welt. Dagegen gibt es diesmal überhaupt kein(e) Liebespaar(e), wohl aber zwei Gemahlinnen, die des Julius Cäsar, Calpurnia, und die des Marcus Brutus, namens Portia. Obwohl in oberster Rangordnung sind beide Rollen ganz kleine Nebenrollen, und insbesondere Portias Rolle bekommt erst nach ihrem Tode Bedeutung, wenn die physische Anwesenheit ihrer Darstellerin nicht mehr gefordert ist. Physisch anwesend sind die beiden Frauen aber im Beginn des Stückes. Cäsar kehrt als strahlender Sieger aus dem Bürgerkrieg zurück, und

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man feiert das luperkalische Fruchtbarkeitsfest. Die Luperkalien wurden am 15. Februar gefeiert. Ermordet wird Cäsar an den Iden des März, dem 15. März 44 vor Christus, und die Doppelschlacht bei Philippi, bei der seine Mörder Brutus und Cassius den Tod finden, ist im Oktober/November 42 vor Christus zu datieren. Das hat Shakespeare zeitlich alles auf wenige Tage zusammengezogen. Am Beginn dieser unheilvollen Tage kommen in feierlichem Aufzuge Cäsar, Antonius, Calpurnia, Portia, Brutus und Cassius auf die Szene, die einen öffentlichen Platz darstellen soll. Der junge Antonius, ein Freund Cäsars, nimmt an dem traditionellen Wettlauf teil, bei dem die Teilnehmer nackt durch die Straßen der Stadt laufen und unter Spaß und Gelächter die Passanten und vor allem die Passantinnen symbolisch schlagen. „Viele verheiratete Frauen gehen ihnen absichtlich entgegen und halten die Hände für die Schläge hin, wie in einer Schule, indem sie glauben, dass das den Schwangeren zu einer guten Geburt und den Unfruchtbaren zur Empfängnis verhelfe.“1

So berichtet es der griechische Schriftsteller Plutarch, der auch ansonsten für das Material zu Shakespeares Tragödie zuständig war. Aus Plutarchs Bemerkung wird beim Dichter ein kurzer Wortwechsel, ein kleines Streiflicht zur knappen Vorstellung der handelnden Personen. Cäsar Calpurnia! Calpurnia Hier, mein Gemahl! Cäsar Stellt dem Antonius grad’ euch in den Weg, Wenn er zur Wette läuft. – Antonius! Antonius Erlauchter Cäsar? Cäsar Vergeßt, Antonius, nicht in Eurer Eil Calpurnia zu berühren; denn es ist Ein alter Glaube, unfruchtbare Weiber, Berührt bei diesem heil’gen Wettlauf, Entladen sich des Fluchs. (I,2)

Was darf man daraus schließen? Der 56-jährige Cäsar hofft noch auf Nachwuchs. Calpurnia ist 33 Jahre alt. Er/sie ist seit 15 Jahren

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mit ihr/ihm verheiratet. Bei der Heirat war er 41 und sie 18 Jahre alt. Ihre Ehe ist noch kinderlos. Allerdings gebar ihm vor drei Jahren Cleopatra einen Sohn, mit dem sie zur Zeit der Iden des Jahres 44 vor Christus in Rom in Caesars Villa wohnt. Sie scheint dort eine glänzende und kultivierte Hofhaltung zu führen. Den Römern gefiel das eher nicht, Calpurnia vermutlich auch nicht sonderlich. Aus Cäsars Jugendtagen ist eine Ehe und eine Tochter zu vermelden. Die Frau hieß Cornelia und die Tochter Julia. Aber die Ehefrau starb im Jahre 69/68 v. Chr. mit 25 Jahren und die Tochter Julia im Jahre 54 v. Chr. ebenfalls im Alter von etwa 25 Jahren. Summa summarum ist der Wunsch nach einem Stammhalter durchaus verständlich. Cäsar ruft in dem Gedränge nach Calpurnia. Sie tritt wie ein Ordonanzoffizier vor; es fehlt nur das Zusammenschlagen der Hacken. „Hier, mein Gemahl!“ Mehr gibt es für sie nicht zu sagen. Die Ehefrau des Brutus, Portia, steht ohnehin in der zweiten Reihe wie eine Statistin. Sie hat überhaupt nichts zu sagen. Sie ist um gute zehn Jahre jünger als Calpurnia, auch Brutus ist etwas jünger als Cäsar. Die beiden haben jeweils schon eine Ehe hinter sich, aus der sie Kinder haben. Portias erster Mann fiel im Bürgerkrieg, Brutus wurde geschieden und beide heirateten 45 v. Chr. Gemeinsam hatten sie zwei Kinder, deren Tod eigentlich in die Zeit des Stückes fällt. Aber im Zeitraffer ist das bedeutungslos. Wir können nur vermuten, dass Portia gerade einen Sohn geboren hat. Damit ist sie für die luperkalischen Jünglinge im Augenblick ein eher uninteressantes Opfer. Was passiert sonst noch in diesem Auftritt? Ein Wahrsager tritt Cäsar in den Weg und warnt ihn vor den Iden des März. Seine Warnung bleibt ungehört. Sie bedarf auch keiner weiteren textlich-szenischen Erläuterung, weil alle Welt eh und je darüber Bescheid wusste und weiß, was es damit auf sich hat. Also kann Cäsar mit Begleitung wieder abgehen. Nur Brutus und Cassius bleiben zurück, und vor dem Jubelgeschrei aus dem Hintergrund – Cäsar schiebt dreimal die ihm angebotene Königskrone zurück – wird der Plan für die Iden des März entworfen, will sagen die Rettung der Republik vor Cäsars Ehrsucht nach der Königskrone. Cassius Wir stürzen bald ihn, oder dulden Alles. (I,2)

340 • Portia

In diesem Umsturzdrama spielen Männer Monarchie oder Republik, suchen nach Berechtigungen des Tyrannenmords in pseudo klassischer romanitas nach Plutarchs Biographien. Seine kriegserprobten Helden und großen Männer werden mobilisiert, um ihren Widergängern in den machiavellistisch inspirierten Herrschaftsformen der Renaissance Glanz zu spenden. Zu Spiegelungen und Aneignungen bot das Stück gute Gelegenheit, und eine Überdosis Stoizismus gab dem Staatsspektakel einen scheinbar tieferen bzw. überhöhenden philosophischen Anstrich. Die Bemühung Shakespeares um die Gleichgewichtigkeit zweier tragischer Helden in einem Stück wird bis heute durch die Bemühung der Interpreten begleitet, die den Zerfall der Tragödie in zwei eigenständige Teile strikt leugnen. Shakespeare hat sich mit seiner Dramaturgie keinen Gefallen getan, das Gesamtereignis des Werks zeitlich auf wenig Tage zusammenzuziehen. Mit Beginn des vierten Akts – Cäsars Ermordung im dritten Akt und die Rechtfertigungsrede des Brutus und die Leichenrede des Antonius bilden einen selbst für Shakespeare nicht mehr überbietbaren Gipfel – beginnt die Dramaturgie zu ruckeln und ins Muster der Historiendramen zurückzufallen, in denen sich die Bilder von Zeltlagern und Schlachtfeldern so lange reihen, bis sich die Mörder in die eigenen Schwerter stürzen. Aber da spielen unsere beiden Ehefrauen ohnehin keine Rolle mehr. Nach ihrer beider kurzem Auftritt beim Luperkalienfest bekommen sie je eine parallele Szene, in der sie im geschützten und intimen Bereich des Hauses auf je eigene Art und Weise auf Gehör bei ihren Männern drängen. Eine stürmische Nacht mit schweren Ungewittern geht dem Morgen entgegen. Es ist die Nacht vom 14. auf den 15. März. Brutus kann nicht schlafen und geht ruhelos in der Nachtkühle in seinem Garten umher. Da bringt ihm der Diener Lucius einen geheimnisvollen Brief, der ihn zur Teilnahme an der Verschwörung gegen Cäsar mahnt. Kaum gelesen, klopft es am Tor und Cassius bittet mit weiteren Verschwörern um Einlass. Ihre Aufmachung und ihr Verhalten ist so unauffällig auffällig, dass kein Zweifel aufkommt: in die Stirn gezogene Hüte, hochgeschlagene Mantelkrägen. Man beredet sich leise miteinander, drückt sich die Hände und bestätigt sich in eindrucksvoller Rede und Gegenrede im mörderischen Vorhaben. Dann verschwinden die Bundesbrüder so unauffällig auffällig, wie sie gekommen sind. Wirklich unauffällig steht plötzlich Brutus Frau neben ihm im Garten. Ihr siebter

Portia • 341

Sinn oder auch ihr Bauchgefühl trieb sie aus dem Bett. Schon seit gestern Abend stimmt etwas nicht mit dir, sagt sie leise. Portia möchte an Brutus Sorgen teilnehmen und dringt in langer Rede auf ihren Mann ein, sich ihr mitzuteilen. Portia Mein theurer Gatte, Theilt mir die Ursach eures Kummers mit. (II,1)

Brutus versucht es immer noch mit Ausreden: Ich fühle mich nicht ganz gesund. Dann zieh dir etwas Ordentliches an oder geh wieder ins warme Bett. Aber deine Krankheit ist nur eine Ausrede, ich weiß es. Portia Nein, mein Brutus, Ihr tragt ein krankes Übel im Gemüth, Wovon nach meiner Stelle Recht und Würde Ich wissen sollte; und auf meinen Knie’n Fleh’ ich bei meiner einst gepriesnen Schönheit, Bei allen euren Liebesschwüren, ja, Bei jenem großen Schwur, durch welchen wir Einander einverleibt und Eins nur sind: Enthüllt mir, eurer Hälfte, eurem Selbst, Was euch bekümmert, was zu Nacht für Männer Euch zugesprochen; denn es waren hier Sechs oder sieben, die ihr Antlitz selbst Der Finsterniß verbargen. (II,1)

Hingesunken auf ihre Knie bittet die Tochter des jüngeren Cato, der seinen Kampf für die Republik schon vor Jahren mit dem Freitod bezahlte, um Teilnahme an seinen Sorgen. Wenn du mich als angetraute Ehefrau nicht an deinen Geheimnissen teilnehmen lässt, dann erniedrigst du mich zur bloßen Buhlschaft für dein Bett. Unser Ehevertrag sagt anderes. Das bestätigt Brutus nachdrücklich. Brutus Ihr seid mein echtes, ehrenwerthes Weib, So theuer mir als wie die Purpurtropfen, Die um mein trauernd Herz sich drängen. (II,1)

Wenn das, was du sagst, wahr wäre, dann wüsste ich um die Dinge, die dein Gemüt krank machen. Zwar …. Portia … Ich bin ein Weib, gesteh’ ich, aber doch Ein Weib, das Brutus zur Gemahlin nahm.

342 • Portia

Ich bin ein Weib, gesteh’ ich, aber doch Ein Weib von gutem Rufe, Cato’s Tochter. Denkt ihr, ich sei so schwach wie mein Geschlecht, Aus solchem Stamm erzeugt und so vermählt? Sagt mir, was ihr beschloßt: ich wills bewahren. Ich habe meine Stärke hart erprüft, Freiwillig eine Wunde mir versetzend Am Schenkel hier; ertrüg ich das geduldig, Und das Geheimniß meines Gatten nicht? (II,1)

Die eindringlichen Worte seiner/ einer sehr selbstbewussten Frau aus der Schule der Stoa macht tiefen Eindruck auf den Mann und öffnet seine Augen. Die Erwähnung einer Verletzung, die sie sich selbst beigebracht hatte, um emotionale Selbstbeherrschung, Gelassenheit und Seelenruhe zu demonstrieren, ist eher ein Detail am Rande. Brutus weiß, was er in dieser Frau hat. Brutus Ihr Götter, macht mich werth des edlen Weibes! (II,1)

Kaum will er zu einem aufklärenden Gespräch ansetzen, klopft es wieder am Tor. Brutus Horch! horch! man klopft; geh eine Weil’ hinein, Und unverzüglich soll dein Busen theilen, Was noch mein Herz verschließt. Mein ganzes Bündniß will ich dir enthüllen Und meiner finstern Stirne Zeichenschrift. Verlaß mich schnell! (II,1)

Wir werden nicht Zeugen des vertraulichen Gesprächs, das Portia in Brutus Geheimnis einweiht. Aber es ist auch nicht notwendig, weil wir als Zuschauer ja bestens über das Vorhaben unterrichtet sind. Dass Portia in sein Vertrauen gezogen ist, offenbart sich in ihrer nächsten Szene, vor die Shakespeare noch die Parallelszene zwischen Calpurnia und Cäsar eingeschoben hat. Wieder ist es eine Szene im geschützten und intimen Bereich des Hauses. Wir sehen Cäsar sogar in sehr intimem Habit, in seinem Nachtkleide. Wie das aussieht, darüber mag sich die Regie Gedanken machen. Das kann schiefgehen und den Helden auch durch Lächerlichkeit beschädigen. Das haben männliche Nachtkleider so an sich. Damen gewinnen dabei eher und wirken im Negligé fast immer attraktiv. Es gibt auf dem Theater viele Beispiele dafür. Auch

Portia • 343

bei Cäsars geht die stürmische Nacht mit schweren Ungewittern dem Morgen entgegen. Hier wie dort bescherten Donner und Blitz den Gattinnen unruhige Träume. Cäsar Zu Nacht hat Erd’ und Himmel Krieg geführt. Calpurnia rief im Schlafe dreimal laut: „O helft! Sie morden Cäsarn!“ (II,2)

Er schickt einen Diener zu den Priestern, um nach dem Orakelspruch für den heutigen Tag nachzufragen. Einerseits also scheint er für höhere Weisheit empfänglich, andererseits aber wischt er Calpurnias Ängste vom Tisch. Die kommt nämlich jetzt auch aus dem Bett – über ihren Morgenmantel wird nichts gesagt – und bittet ihren Gemahl ob ihrer wilden Schreckensträume heute – bitte! bitte! – nicht auszugehen. Cäsar ist ein Mann von Grundsätzen. Er glaubt, dass ohnehin nichts vermieden werden kann, was die Götter als Schicksal verfügt haben. Dann kommt, wie nicht anders zu erwarten, ein markiger Spruch für Sammlungen geflügelter Worte. Cäsar Der Feige stirbt schon vielmal, eh er stirbt, Die Tapfern kosten Einmal nur den Tod. Von allen Wundern, die ich je gehört, Scheint mir das größte, daß sich Menschen fürchten, Da sie doch sehn, der Tod, das Schicksal Aller, Kommt, wann er kommen soll. (II,2)

Schön zu wissen, dass Furcht vor unserer Vernunft zu Schanden wird; aber als der Diener von den Priestern zurückkommt und deren Ratschlag verkündet … Diener Sie rathen euch, für heut nicht auszugehn; (II,2)

… wird aus Cäsars Mut Übermut, Hochmut. Er deutet sich den Ratschlag der Priester sophistisch ins Gegenteil und beharrt stolz auf seinem Entschluss. Cäsar Und Cäsar wird doch ausgehn. (II,2)

Nun ist Calpurnias ganze Überredungskunst gefordert, und sie bietet ihm eine gesichtswahrende Ausrede an.

344 • Portia

Calpurnia Ach, mein Gatte! In Zuversicht geht eure Weisheit unter. Geht heute doch nicht aus; nennts meine Furcht, Die euch zu Hause hält, nicht eure eigne. Wir senden Mark Anton in den Senat, Zu sagen, daß ihr unpaß heute seid. Laßt mich auf meinen Knien dieß erbitten! Cäsar Ja, Mark Anton soll sagen, ich sei unpaß, Und dir zu Lieb’ will ich zu Hause bleiben. (II,2)

Cäsar verwandelt sich die gesichtswahrende Ausrede, die Calpurnia anbietet, sofort in eine männlich imperatorische Geste. Als Decius Brutus, einer der Verschworenen kommt, um Cäsar abzuholen, bescheidet er ihn mit einer unhinterfragbaren Entscheidung. Cäsar Sagt ihnen, daß ich heut nicht kommen will; Nicht kann, ist falsch; daß ichs nicht wage, falscher; Ich will nicht kommen heut: sagt ihnen das. (II,2)

Ob Calpurnia noch auf den Knien vor Cäsar liegt, wird nicht gesagt. Aber ihre letzte Replik in diesem Stück lässt Decius Brutus Argwohn zur Gewissheit werden. Calpurnia Sagt, er sei krank! (II,2)

Cäsar lügt, wenn er sich nur auf seinen Willen beruft. Decius Brutus riecht den Braten; er war ja auch ausgeschickt worden, Cäsar vor einem Fernbleiben abzubringen. Darum dringt er auf einen Grund, damit er sich nicht zum Gespött macht. Cäsar bleibt bei seinem „Ich will nicht kommen!“. Dem Senat sei damit Befriedigung gegeben, … Cäsar Doch um euch insbesondere gnug zu tun, Weil ich euch liebe, will ichs euch eröffnen. Calpurnia hier, mein Weib, hält mich zu Haus. Sie träumte diese Nacht, sie säh’ mein Bildniß, Das wie ein Springbrunn klares Blut vergoß […] Dieß legt sie aus als Warnungen und Zeichen, Und Unglück, das uns droht, und hat mich knieend Gebeten, heute doch nicht auszugehn. (II,2)

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Dagegen hat nun der vermeintliche Freund mit dem Dolch im Gewande sofort eine ganz entgegengesetzte Deutung des Traums der Ehegattin parat und, um kurz aus dem Nähkästchen zu plaudern, heute will der Senat Cäsar die Königskrone geben. Soll ich da sagen Decius „Verschiebt die Sitzung bis auf andre Zeit, Wenn Cäsars Gattin beßre Träume hat!“ (II,2)

Wenn Frauen aus Furcht gerne als wankelmütig verschrien werden, dann bestätigt Cäsar hier stellvertretend für die Männer, dass sie aus Verblendung übermütig sind. Umgehend verweist er seiner Gattin Sorge als albern und kindisch. Cäsar Wie thöricht scheint nun eure Angst, Calpurnia! Ich schäme mich, daß ich ihr nachgegeben. Reicht mein Gewand mir her, denn ich will gehn! (II,2)

Calpurnia bekommt keine Gelegenheit mehr zur Antwort auf Cäsars Verweis, der sie aber hart trifft. Über ihre weiteren Schicksale schweigt sich das Stück aus und auch anderweitig ist über ihr weiteres Leben nichts überliefert. Statt eines letzten Worts fluten sieben Männer in das Zimmer im Palast des Cäsar; jetzt sind alle acht Verschwörer um ihn versammelt, und nach einem freundschaftlichen Glas Wein geht man zusammen zum Kapitol, um die Sache ein für allemal hinter sich zu bringen. Wir dürfen als gesichert annehmen, dass Brutus, bevor er zum Apéro bei Cäsar auftaucht, Portia, wie ihr versprochen, noch über seine finsteren Pläne Bescheid gegeben hat. Plutarch bestätigt es ganz knapp: „Danach weihte er die Gattin in das Geheimnis ein.“2

Was Calpurnia nur ahnt, das weiß Portia. Wir sehen sie angstvoll auf der Straße vor ihrem Haus auf- und abgehen. Sie schickt einen Diener in den Senat. Der will wissen, was er dort soll. Aber sie hat keinen Auftrag. Sie kann ihm ja nicht sagen, worauf er achten soll. Trotzdem sagt sie ihm unwirsch: Portia Bist du noch hier? Lucius Was sollt’ ich, gnäd’ge Frau?

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Nur hin zum Kapitol und weiter nichts, Und so zu euch und weiter nichts? (II,4)

Da hat er natürlich recht, der junge Mann. Schau einfach, wie es meinem Mann geht; der war heute Morgen eigentlich ziemlich elend beieinander. Oder schau einfach, was Cäsar macht, wer etwas von ihm will. Da!, ihr Zeigefinger geht hoch, da war doch ein Tumult zu hören. Portia Still, Knabe! Welch Geräusch? Lucius Ich höre keins. Portia Ich bitt’ dich, horch genau: Ich hörte wilden Lärm, als föchte man, Und der Wind bringt vom Capitol ihn her. Lucius Gewißlich, gnäd’ge Frau, ich höre nichts. (Ein Wahrsager kommt) Portia Komm näher, Mann! Wo führt dein Weg dich her? Wahrsager Von meinem Hause, liebe, gnäd’ge Frau. (II,4)

Sie müsste den Mann eigentlich kennen. Sie hat ihn schon ganz kurz beim luperkalischen Fest gesehen. Da hat er Cäsar schon einmal vor den Iden des März gewarnt. Der hat ihn aber als Träumer weggeschickt. Jetzt will es der Mann noch einmal versuchen, und er ist nicht der einzige Wahrsager in Rom. Auch ein gewisser Artemidorus lief eben mit einem Zettel die Straße zum Kapitol entlang. Auch darauf stand eine Warnung. Es wimmelt sozusagen von Wahrsagern. Als Portia den wahrsagenden Mann aber nun recht direkt angeht, ist die Antwort eher ausweichend. Portia Wie? weißt du, daß man ihm ein Leid will anthun? Wahrsager Keins seh’ ich klar vorher, viel, fürcht’ ich, kann geschehn. Doch guten Tag! (II,4)

Und schnell ist der Großsprecher weg. Er will einen besseren Platz

Portia • 347

als hier auf dieser Straße, um ihm seine neuerliche Warnung zu überbringen. Portia, ganz Frau des rechtschaffenen Brutus, fürchtet nicht für Cäsars Leben, sondern für des Brutus Plan und Vorhaben. Und ja, der Knabe, der Diener, der soll ihm doch ganz unschuldig vermelden, dass es ihr gut gehe. Portia Ich muß ins Haus. Ach, welch ein schwaches Ding Das Herz des Weibes ist! O Brutus! Der Himmel helfe deinem Unternehmen. – Gewiß, der Knabe hört’ es. – Brutus wirbt um etwas, Das Cäsar weigert. – O es wird mir schlimm! Lauf, Lucius, empfiehl mich meinem Gatten, Sag’, ich sei fröhlich, komm’ zu mir zurück, Und melde mir, was er dir aufgetragen! (II,4)

Damit geht Portia ins Haus, und auch sie ward wie Calpurnia nicht mehr gesehen. Im Unterschied zu dieser bekommt die Frau des Brutus aber noch einen Nekrolog von harten, stoisch wortkargen Männern, die ihre Schmerzen in der Brust verschließen. Die Geschichte nimmt ihren Lauf, wie bekannt. Cäsar wird in der nächsten Szene, die auf dem Kapitol spielt, von den Verschwörern erstochen. Zwar lässt man Antonius ungeschoren davonkommen – Cassius wollte, Brutus wollte nicht –, aber der Mord an Cäsar wirkt dennoch weniger als ein Opfer, sondern wie eine Schlächterei. Er bekam 23 Dolchstiche von ca. 60 Personen. Shakespeare reduziert die Mörder auf acht Männer. Dann hält Brutus seine Rechtfertigungsrede, und Antonius punktet mit seiner Leichenrede. Portia hat sicherlich von ihrem Diener Nachricht erhalten, was Cäsar macht. Wie für Brutus ist auch für sie jetzt Mannessinn bei Weibeskraft gefordert. Es geht ja alles so schnell bei geraffter Zeit auf dem Theater. Schon zeigt sich die Empörung der Bürger Roms, die Antonius Rede klug zu steuern weiß. 1. Bürger Und mit den Bränden zündet den Verräthern Die Häuser an! Nehmt denn die Leiche auf! 2. Bürger Geht! holt Feuer! 3. Bürger

Reißt Bänke ein!

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zu Julius Cäsar, Akt 3, Szene 2

Portia • 349

4. Bürger Reißt Sitze, Läden, Alles ein! (die Bürger mit Cäsars Leiche ab) Antonius Nun wirk es fort! Unheil, du bist im Zuge; Nimm, welchen Lauf du willst! – (III,2)

Das Unheil nimmt den Lauf, den ihm Antonius zu geben wünscht. Brutus und Cassius fliehen aus Rom. Die Ankunft von Octavius in Rom wird gemeldet. Cäsar hatte ihn mangels eines gesetzlich anerkannten Sohns adoptiert und zum Haupterben seines Testaments, sprich seines Vermögens, gemacht. Ein dritter Mann, Marcus Ämilius Lepidus stößt dazu. Man bildet das sogenannte zweite Triumvirat, um die Sicherung des politischen Erbes nach Caesars Ermordung zu gewährleisten. Eine kurze Lagebesprechung der sogenannten Triumvirn, und schon sind zwei Jahre wie im Flug vergangen und Shakespeare beginnt eine weitere Tragödie in der Tragödie. Man könnte sie „Markus Brutus“ nennen oder „Cäsars Rache“ oder „Cäsars Geist“. Bereits die nächste Szene zeigt die Anführer der Ermordung im Kriegslager vor Sardes. Man hat die Lage vermutlich falsch eingeschätzt. Mit der Ermordung Cäsars war die Republik mitnichten wiederhergestellt. Mit dem verschonten Antonius hatte man nicht gerechnet, und auch ansonsten werden Differenzen zwischen Cassius und Brutus im Kriegslager deutlich. Der Streit wird ziemlich heftig zwischen den beiden Feldherren, so dass man einen Poeten ins Zelt des Brutus schickt, damit dieser die Gemüter besänftigt. Das gelingt insofern, als man sich nun wenigstens auf eine Schale Wein zusammensetzen will. Brutus entschuldigt seine Heftigkeit mit Hinweis auf sein krankes Gemüt. Das, so Cassius, müsse doch mit Hilfe seiner stoischen Philosophie in den Griff zu kriegen sein. Du darfst zufällige Ärgernisse nicht so wichtig nehmen. Da kommt es dem Mann sehr gepresst über die Lippen. Nein, nein, das ist kein Zufallsfall. Brutus Kein Mensch trägt Leiden besser. – Portia starb. Cassius Ha! Portia! Brutus

Sie ist todt.

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Cassius entschuldigt sich bei dieser Sachlage kurz für den vorigen Streit und frägt weiter nach. Cassius O bittrer, unerträglicher Verlust! An welcher Krankheit? Brutus

Die Trennung nicht erduldend; Und Gram, daß mit Octavius Mark Anton So mächtig worden – denn mit ihrem Tod Kam der Bericht – das brachte sie von Sinnen, Und wie sie sich allein sah, schlang sie Feuer. Cassius Und starb so? Brutus Cassius

Starb so. O ihr ew’gen Götter! (IV,3)

Das Gespräch der Männer stockt. Lucius kommt mit Wein und Kerzen und Brutus setzt dem Gespräch über einen seltsamen und für uns erklärungsbedürftigen Selbstmord ein Ende. Brutus Sprecht nicht mehr von ihr. – Gebt eine Schale Weins! Hierin begrab’ ich allen Unglimpf, Cassius. (IV,3)

Shakespeare überlässt uns beim selbstmörderischen „Fire Eating“ unserer Phantasie. Es ist eine eher ausgefallene Art, sich das Leben zu nehmen, und die Kunst der Feuerschlucker hat überhaupt nichts mit einem Schlucken zu tun. Plutarch erklärt die Art ihres Selbstmords als eine Wahl aus Verlegenheit. „Brutus’ Gemahlin Porzia wollte sich […] das Leben nehmen; da aber ihre Freunde sie beständig im Auge behielten und bewachten, um es zu verhindern, steckte sie sich glühende Kohlen in den Mund, hielt ihn dann geschlossen und erstickte sich auf diese Weise selbst.“3

Sich die Wunde am Oberschenkel zuzufügen, bedurfte einigen Mut, diese Selbsttötung grenzt schon an ein Kunststück. Vielleicht versucht Cassius deshalb noch einmal auf Portias Tod zurückzukommen, weil ihn wie Brutus schon Gedanken umtreiben, die in ihre Zukunft weisen.

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Cassius O Portia, bist du hin! Brutus

Nicht mehr, ich bitt’ euch! (IV,3)

Und noch einmal wird Portias Tod erinnert; aber es ist allenfalls ein bestätigendes Nachspiel zwischen Brutus und seinem Freund Messala, der sich den Trinkenden zugesellt hat. Messala verneint zunächst, um Brutus zu schonen, dass in einem Brief aus Rom über die dortige politische Lage auch eine persönliche Nachricht über Portia mit enthalten gewesen sei. Brutus besteht auf einer ehrlichen Antwort. Brutus Wenn ihr ein Römer seid, sagt mir die Wahrheit. Messala Tragt denn die Wahrheit, die ich sag’, als Römer Sie starb, und zwar auf wunderbare Weise. Brutus Leb wohl denn, Portia! – Wir müssen sterben, Messala; dadurch, daß ich oft bedacht, Sie müss’ einst sterben, hab’ ich die Geduld Es jetzt zu tragen. Messala So trägt ein großer Mann ein großes Unglück. (IV,3)

Große Männer bestätigen sich, dass sie große Männer sind und dass sie Römertugend verkörpern. Kaum sind die Freunde abgegangen, erscheint Brutus der Geist Cäsars und kündigt sich für die Schlacht zu Philippi als sein böser Engel an. Brutus und Cassius werden jede Menge Römertugend aufbringen müssen, um sich stoisch gelassen zu Tode zu bringen. Cassius lässt sich von seinem Diener Pindarus durchbohren, Brutus kündigt sein Ende in pathetischer Gewissheit an. Brutus O Julius Cäsar! Du bist mächtig noch; Dein Geist geht um, er ists, der unsre Schwerter In unser eignes Eingeweide kehrt. (V,3)

Des Unheils Lauf vollendet sich schnell. Der tote Cassius bekommt nach Römerbrauch noch einen Kranz um die Stirne, Brutus stürzt sich nach einigem Getümmel und Geschrei in sein von einem Diener gehaltenes Schwert, und stolz stellt der Diener fest:

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Strato Denn Brutus unterlag allein sich selbst, Und niemand sonst hat Ruhm von seinem Tode. (V,5)

Weil er sich selbst unterlag und weil er Cäsar ohne alle Mißgunst ermordete, bekommt er von Antonius, den er großzügiger Weise verschont hat, noch eine Leichenrede gratis dazu, um die Doppeltragödie zu schließen. Antonius Dieß war der beste Römer unter allen: (usw., usw. …) Dieß war ein Mann! (V,5)

Octavius schließt das Stück, wie sonst nur Komödien schließen: Octavius Nun ruft das Heer zur Ruh; laßt fort uns eilen Und dieses frohen Tags Trophäen theilen! (V,5)

Beim Hl. Latinus, kein Regisseur ist zu beneiden, der sich heute anschickt, den feuerverschlingenden Heroismus einer Ehefrau und die vielgepriesene Römertugend, die sich sowohl mit Meuchelmord und Selbstmord verträgt, zu inszenieren. Das alles hat doch, so der versierte Shakespearekenner und Meininger Hoftheaterintendant Friedrich von Bodenstedt „einen starken Beigeschmack von Unnatur“. Schon 1874 war ihm die würdige Gattin und ihr selbstloser edler Römer nicht geheuer. Und Bodenstedt war weiß Gott von klassischer Bildung und kein Denkmalstürzer. Auch der Blick auf Cäsar zeigt, dass uns der Stoff reichlich fremd geworden ist. Andeutungen von Silvio Berlusconis Grinse-Gesicht im Bühnenprospekt in einer Aufführung vor Jahren in Kiel oder wie jüngst in New York durch Ähnlichkeiten der Bühnenfigur mit Donald Trump machen das Stück, das seinerseits schon einen zwiespältigen und entheroisierten Cäsar anbietet, vollends zur Farce. Von Cäsar im Nachtkleide bis zu diesen Verkörperungen und Analogien ist der Weg nicht weit und bleibt in der Sackgasse der Lächerlichkeit stecken. Angesichts der Erstürmung des Kapitols in Washington im Januar 2021 machte Christian Zaschke in der „Süddeutschen Zeitung“ eine sehr bedenkenswerte Anmerkung bezüglich falscher Analogien und Vergleiche: „Manche Kommentatoren haben diese letzten Tage Trumps mit Theaterstücken Shakespeares verglichen, aber das ist eine Beleidigung für den wohl größten Dramatiker. Shakespeares

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Figuren sind dreidimensional. Sie sind, selbst wenn ihre Seelen voller Boshaftigkeit sind, stets zur Selbstreflexion fähig. Auch den lächerlichsten Einfaltspinsel in seinen Stücken wohnt mehr Tiefe inne, mehr Leben als dem 45. Präsidenten der USA. An Donald Trump ist nichts Gutes. Das ist der Unterschied zu ausnahmslos jeder Figur, die Shakespeare erschaffen hat. Trump ist ein unsicherer, gefallsüchtiger Geck, ein schwarzes Loch der Liebesbedürftigkeit. Nichts weist über ihn hinaus. Er ist die fleischgewordene Essenz kleingeistiger Impulse, er ist die totale Reduktion auf simpelste Affekte und Begierden.“4

Wohlgemerkt, das ist ein politischer und kein theaterkritischer Kommentar. Die Analogie ist fehl am Platze, weil sie Trump eine

zu Julius Cäsar, Akt 1, Szene 2

falsche Größe gibt und umgekehrt, weil sie Shakespeares Theater banal macht. Der Vergleich ist eine Falle; wie sie zu umgehen ist, das ist die Frage und die Kunst, dieses Stück wieder in sein Recht zu setzen.

354 • Portia

Die beiden Ehefrauen des Stücks bleiben im Schatten ihrer Männer zwischen Farce und Dreidimensionalität. Calpurnia wird in ihren Sorgen wie ein blindes Motiv liegen gelassen, aus Portia wird zwar eine Mitwisserin, aber das durch ihr Wissen ausgelöste existenzielle Problem ihrer Verzweiflung wird in einer schnellen Krankheit zum Tode in einer absurden Selbstmordaktion abgehandelt. Der übellaunige Ulrich Bräker, der die Ehefrauen zärtlich findet, der findet, dass das Trauerspiel nicht „Julius Cäsar“, sondern „Markus Brutus“ heißen sollte, und er, der fast immer für eine dezidierte Meinung gut ist, diktiert – deshalb die Übellaunigkeit – der Haupt- und Titelfigur, dem Freiheitshelden des Stücks, das Urteil. „O Brutus, wie konntest du doch so mißtrauisch und argwöhnisch auf Cäsar sein und von diesem gefährlichen Antonio so lichtgläubig und gutdenkend. – Du bist der wunderbarste Mensch von der Welt, der zärtlichste Gatte, der beste Herr, der herzlichste Freund, der redlichste Bürger – und doch ein verräterischer Meuchelmörder.“5

Kurz und gut, hier sehen wir lauter „Gutmenschen“ in ihre Falle tappen. Sie alle meinen es so lange gut – selbst der Tyrann, der Usurpator und der Kriegsverbrecher Cäsar, den wir aus dem Gallischen Krieg kennen, ist leutselig und meint es gut –, bis sich die Abgründe von Verrat und Meuchelmord und Unnatur und sinnlosem Selbstmord wie von selbst auftun. Der nächste Gutmensch, der skrupellose Antonius, der ehrende Leichenreden für Freund Cäsar und Feind Brutus halten kann, wird alle beerben. Das ist die Botschaft „dieses frohen Tags“. deutsche Übersetzung: August Wilhelm von Schlegel 1) Günter Jürgensmeier, S. 385 2) Günter Jürgensmeier, S. 387 3) Günter Jürgensmeier, S. 394 4) Christian Zaschke, in: Süddeutsche Zeitung, Sa./So. 9./10. Januar 2021, S. 4 5) Ulrich Bräker, S. 58

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Prinzessin Catharina König Heinrich V. (1599)

eigtl. Catherine de Valois (1401-1437)

designed by Joseph John Jenkins and engraved by G. Stodart

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Der englische König Heinrich der V. steht vor der französischen Hafenstadt Harfleur und droht, dass er ein Massaker anrichten werde, wenn sich die Stadt nicht ergeben sollte. Es sei sein letzter Appell an die Hauptleute der Stadt, die Tore zu öffnen. König Heinrich: Darum, ihr von Harfleur, Habt Mitleid mit der Stadt und eurem Volk, Weil noch mein Heer mir zu Gebote steht, Weil noch der kühle, sanfte Wind der Gnade Das ekle, giftige Gewölk verweht Von starrem Morde, Raub und Büberei. Wo nicht, erwartet augenblicks besudelt Zu sehn vom blinden, blutigen Soldaten Die Locken eurer gellend schreinden Töchter; Am Silberbart ergriffen eure Väter, Ihr würdig Haupt geschmettert an die Wand; Gespießt auf Piken eure nackten Kinder, Indes der Mütter rasendes Geheul Die Wolken theilt, wie das der Jüd’schen Weiber Bei der Herodes-Knechte blut’ger Jagd. Was sagt ihr? gebt ihr nach und wollt dieß meiden? Wo nicht, durch Widerstand das Ärgste leiden? (III,3)

Der Befehlshaber von Harfleur gibt sich angesichts dieser sadistischen Lust an Gewalt und mangels französischer Unterstützung geschlagen und öffnet den Engländern die Tore. Wir schreiben den 22. September 1415. In der unmittelbar anschließenden Szene entführt uns Shakespeare in das etwa 80 Kilometer landeinwärts liegende Rouen, wo er mit der sogenannten „Learning English Scene“ völlig unvermittelt eine Komödie in die wüste Welt der Soldaten und Heerführer einfädelt. Eine „Madame“ titulierte junge Dame erhält von einer älteren Hofdame namens Alice eine kleine Unterrichtung in englischer Sprache. Soweit sind die Dinge für den Theaterbesucher erkennbar. Alice müssen wir uns als Gegenüber in unserem Papier-

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theater vorstellen; sie wird in der Szene benannt; wer die junge Dame ist, verrät uns der Autor auf der Szene dagegen nicht. Auch verrät er uns nicht, warum das Mädchen in aller Unschuld Englisch lernen will. Catharina Alice, tu as été en Angleterre, et tu parles bien la langue du païs. (Alice, du bist in England gewesen und sprichst gut Englisch.) Alice: Un peu, madame. (Ein wenig, Madame.) Catharina: Je te prie, enseigne la moi; il faut que j’apprenne à parler. Comment appelez-vous la main en Anglois? (Ich bitte dich, gib mir bitte Unterricht; ich muss die Sprache lernen. Was heißt „die Hand“ auf Englisch?) (III,4)

Die Unterrichtsstunde zieht sich in drolligen Anstrengungen dahin und mündet in sexuelle Doppeldeutigkeiten bei der Benennung eigentlich harmloser Körperteile. Das junge Mädchen will solch schamlose Worte um nichts in der Welt bei künftiger Gelegenheit zur Konversation mit französischen Herrschaften verwenden. Trotzdem wiederholt sie ihre Lektion mit einiger Begeisterung. Bleibt die Frage offen, warum das Mädchen mit „französischen Herren“ englisch parlieren will. Ferner bleibt offen, wer sie ist und wie sie heißt. Dazu braucht der Theaterbesucher einen Programmzettel, in dem steht: Prinzessin Katherina, Tochter der französischen Königin Isabelle. Als zusätzliche Information sei verraten: Katherina ist noch nicht ganz 14 Jahre alt und ihr Großvater ist der Herzog Stephan III. von Bayern-Ingolstadt. Warum die reizende Prinzessin Englisch lernen will, erfährt der Zuschauer, wenn er gut aufpasst, in der nächsten Szene, in der ihr Bruder, der Dauphin Louis, empört wettert: Dauphin Bei Treu und Glauben! Unsre Damen haben Zum besten uns, und sagen grad’ heraus, Dahin sei unser Feuer, und sie wollen Der Jugend Englands ihre Leiber bieten, Mit Bastard-Kriegern Frankreich zu bevölkern. (III,5)

Das ist ein unschöner Verdacht, den die Prinzessin energisch zurückweisen würde. Sie bleibt aber außer diesem kurzen Auftritt bis zum Schluss hinter der Bühne verborgen.

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Mit ungeheurem Einsatz und auf französischer Seite mit ungeheuren Menschenopfern setzt Heinrich V. seinen Eroberungsfeldzug fort. Mit einem „gerechten Krieg“, wenn es so etwas überhaupt geben sollte, hat dieser Eroberungskrieg mit seinen Kriegsverbrechen nichts zu tun. Die Rechtfertigungen Heinrichs für diesen Krieg sind mehr als zweifelhaft, und selbst Shakespeares Redekunst wirkt matt bei ihrer Begründung. Der Ehrbegriff, den er Heinrich vor der großen Schlacht von Azincourt an die Hand gibt, ist von hohler Rhetorik. Seine Rede und seine Versprechen am KrispinsTag, dem Tag der Schlacht am 25. Oktober 1415, sind billige Versprechen. König Heinrich: Denn welcher heut sein Blut mit mir vergießt, Der wird mein Bruder; sei er noch so niedrig, Der heut’ge Tag wird adeln seinen Stand (IV,3)

Wurde Heinrich Percy im Vorgängerdrama „Heinrich IV.“ von Kronprinz Heinrich in seinem ersten noch pubertär organisierten Leben als „Schottenfresser“ charakterisiert, erklärt sich Heinrich – nun ein „verantwortlicher“ König geworden – als „Franzosenfresser“ schlechthin. Die Aufzählung der Toten auf beiden Seiten ergibt eine stolze Bilanz: „zehntausend erschlagene Franken auf dem Platz“; dagegen nur „vier adelig-edle Engländer“ und von den gewöhnlichen anderen Soldaten „nur fünfundzwanzig“. Aber – der Greuel nicht genug – König Heinrich gab einen fatalen Befehl zur Tötung der Kriegsgefangenen, der jeder Vorstellung von einem „heroischen Krieg“ Hohn spottet. König Heinrich: So tödte jeder seinen Kriegsgefangenen; Gebt weiter den Befehl! (IV,6)

Zwar, die Genfer Konvention (besonders Artikel 14) zum Schutz der Kriegsgefangenen war noch lange nicht verabschiedet, aber Kriegsgefangene zu töten, war auch in spätmittelalterlichen Kriegen mehr als verpönt. Der König ist nach diesem Befehl kaum abgegangen, als sein treuer Offizier Fluellen auftritt und dagegen meutert: Fluellen: ‘S ist ausdrücklich gegen das Kriegsrecht, ‘s ist ein so aus­ gemachtes Stück Schelmerei, versteht ihr mich, als in der Welt nur vorkommen kann. Ist es nicht so, auf euer Gewissen? (IV,7)

Noch in der nämlichen Szene bekräftigt der König aber die „ausge-

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machte Schelmerei“, um klarzustellen, dass sein Befehl kein Missverständnis sei. König Heinrich: Auch wollen wir erwürgen, die wir haben, Und nicht Ein Mann, der in die Händ’ uns fällt, Soll Gnad’ erfahren. – Geht, sagt ihnen das! (IV,7)

Shakespeare hat sich dieses Gefangenen-Dilemma nicht ausgedacht. Er hat es getreulich aus der Chronik übernommen, die berichtet, dass Heinrich gegen seine gewohnte Milde bei Trompetenschall ausrufen ließ, dass jeder bei Todesstrafe sofort seinen Gefangenen erschlagen sollte. Als dieser grausame Befehl verkündet war, war es kläglich anzusehn, wie einige Franzosen plötzlich mit Dolchen niedergestochen, anderen mit Streitäxten oder Keulen der Schädel eingeschlagen, noch andern die Kehle abgeschnitten oder der Bauch aufgeschlitzt wurde, sodass in der Tat, im Verhältnis zu ihrer großen Zahl, wenig Gefangene am Leben blieben.1

Dass Shakespeare mit „König Heinrich V.“ den Engländern ein hochproblematisches patriotisches Jubelstück geliefert hat, müssen seine Landsleute mit sich selber ausmachen. Sie sind bis heute in ihrer Meinung gespalten und über neue, heutige Lesarten nicht unbedingt begeistert. Welche Nöte dem Dichter die fatale Faktenlage bei seiner die Kriegsereignisse überhöhenden Hochzeitskomödie als Dramatiker gemacht hat, ist der großen Werbungs- und Hochzeitsszene im fünften Akt vorbehalten. Aber darin hatte er schon einige Übung, wenn auch von der besonderen Art in „Richard III.“. Hier, im Heinrich-Drama, vergehen von der Schlacht von Azincourt bis zum Friedensschluss von Troyes fünf Jahre. Wir schreiben im Augenblick das Jahr 1420, und da treffen wir Catharina von Valois wieder. Sie ist jetzt 19 Jahre alt, aber, wie die Szene dann unter Beweis stellt, ihre Englisch-Kenntnisse sind nicht unbedingt perfektioniert worden. Der Prolog des Chors zum fünften Akt bringt uns auf den Stand der Dinge. Heinrich ist nach der Schlacht von Azincourt im Triumph nach England zurückgekehrt. Er sieht den Rat seines Vaters, den er ihm auf dessen Sterbebett gegeben hatte, im Herzen bestätigt, dass der innere Aufruhr am besten durch auswärtigen Zwist gebannt werden kann (Heinrich IV. 2,IV,4). Der Kriegszug nach

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Frankreich hat in diesem Sinne also seinen Zweck erfüllt. Jetzt muss er nur noch die Früchte seines Sieges in einem soliden Friedensvertrag festschreiben. Historisch musste dafür noch einiges bewegt werden, aber in Shakespeares zeitlicher Verdichtung führen die Verhandlungen zügig zum Vertrag von Troyes, zu dessen Unterzeichnung Heinrich V. wieder nach Frankreich zieht. Übergeht all die Ereignisse, die in der Zwischenzeit vorgefallen sind, erzählt der Chorus als Prologsprecher zum fünften Akt, denn in Frankreich „müssen wir ihn haben“. Die Zwischenzeit ist vorbei; wendet euren Blick gedankenschnell nach Frankreich. Dort kommt der englische König am 20. Mai 1420 zur Unterzeichnung des Vertrags in Troyes an. Schon am nächsten Tag wird er in der Kathedrale feierlich bestätigt. Sofort danach fand die Verlobung der 18-jährigen Catherine von Valois mit dem 33-jährigen Heinrich von England statt. Am 2. Juni 1420 wurde in der nahegelegenen Johanneskirche von Troyes die kirchliche Hochzeitszeremonie vollzogen. Bei Shakespeare geht das so. Von der einen Seite kommen die Englischen, von der anderen Seite der Bühne die Französischen, unter denen wir endlich Catharina zusammen mit ihrem Fräulein Alice wiederbegegnen. König Heinrich: Sei Fried’ in diesem Kreis, den Friede schließt! Euch, unserm Bruder Frankreich, unsrer Schwester Erwünschtes Wohlergehn! und Freud’ und Lust Mit unsrer schönsten Muhme Catharina! (V,2)

„Bruder“, „Schwester“ und „Muhme“ sind Höflichkeitsfloskeln, denn natürlich ist man noch nicht direkt verwandt, sondern allenfalls aristokratisch weitläufig verwandt. Heinrich zielt aber auf nähere Verwandtschaft. Catharina ist nämlich Vertragsgegenstand und zunächst reine Verhandlungsmasse. Eine Konvenienzehe ist angesagt, über die die Wiederherstellung des Friedens zugunsten der englischen Interessen erreicht werden soll. König Heinrich schickt alle in die Detailverhandlungen, erbittet sich aber die Anwesenheit von Catharina. König Heinrich: Doch laßt hier unsre Muhme Catharina, Denn sie ist unsre erste Forderung, In der Artikel Vorderrang begriffen. (V,2)

Der Wunsch wird ihm gewährt. Alle verlassen die Szene, die bisher

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ein formeller Staatsakt war. Der König setzt nun zu einer Eroberung Frankreichs an, bei der sein Autor Shakespeare mitten in der Fahrt die Pferde wechselt; er macht unvermittelt aus dem Drama eine Komödie vom allerfeinsten, mit der er alle Probleme der Historie, alle Belastungen in sein virtuoses Spiel befreit. König Heinrich wird zu einer Marionette in seiner Spielerhand und als solche wird er freigesprochen von Schuld und Verfehlung durch ein schlussendliches „Ja“ der Umworbenen. König Heinrich: Nun, schöne Catharina! Allerschönste! Geruht ihr, einen Krieger zu belehren, Was Eingang findet in der Frauen Ohr, Und seiner Lieb’ ihr sanftes Herz gewinnt? (V,2)

Catharina hat bisher noch kein Wort zugeteilt bekommen und ihre Antwort auf Heinrichs Frage ist rührend und entwaffnend. Catharina: Euer Majestät wird über mich spotten; ich kann euer Englisch nicht sprechen. (V,2)

Shakespeare nimmt nach gefühlten zwei Stunden bzw. nach fünf Jahren Realzeit genau bei jener „Learning English Scene“ den Faden wieder auf und entwickelt das dort wie absichtslos inszenierte Sprachspiel – denn Komödie auf der Ebene der Innamorati ist zuvörderst ein solches Spiel und weniger ein burleskes Körperspiel – auf einer virtuos gesteigerten Ebene absichtsvoll weiter. Es ist außerdem eine Steilvorlage für Schauspieler, und Emma Thompson und Kenneth Branagh spielen das Spiel in Branaghs Verfilmung des Dramas von 1989 in bewundernswerter Weise.2 Ein kleines Detail im Bild erfordert Aufmerksamkeit. Alice befreit ihre Herrin von einem leichten Trauerflor vor dem Gesicht bevor sie zu sprechen beginnt. Sie ist zwar nicht Witwe, aber die Schlacht hat doch einen hohen französischen Blutzoll gefordert. Der „body-count“ (IV,8) zählt eine hocherlauchte Bruderschaft gemetzelter Franzosen aus dem Hochadel auf. Das erinnert doch blitzartig an Werbungsszenen von der unmöglichsten Art in „Richard III.“. Eine dieser Frauen war die Witwe Lady Anna, eine Frau hieß Königin Elisabeth und immer war der Werber der Mörder. Man mag und kann sich streiten, ob auch hier der Werber ein Mörder ist und ob er am Ende Shakespeare zitierend heimlich sagt: „Ward je in dieser Laun ein Weib gefreit?“

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Fest steht, dass Heinrich die Sache einigermaßen tollpatschig und direkt angeht. Es reiche, wenn sie ihn mit ihrem französischen Herzen liebe, ihm ansonsten aber in gebrochenem Englisch eine positive Antwort auf eine simple Frage geben könnte: „Do you like me, Kate?“ („Bist du mir gut, Käthchen?“) Das ist schwieriger, als er sich das denkt, denn ob sie ihm gut ist, kann sie nicht sagen, weil sie nicht versteht, was er von ihr will. Catharina Pardonnez moi, ich nicht verstehen, was ist „mir gut“. (V,2)

Da wir zur Uraufführung 1599 in einem Londoner Theater sind, darf Heinrich ohne Dolmetscher lange auf sie in Englisch einreden. Der Ton macht hier die Musik, denn obwohl Catharina von dem „Was“ seiner Rede nichts versteht, versteht sie dennoch, „wie“ das Gesagte gemeint sein könnte, Missverständnisse eingeschlossen. Macht er ein Kompliment, unterläuft sie es, indem sie kokettierend erwidert: Catharina O bon Dieu! les langues des hommes sont pleines de tromperies. König Heinrich Was sagt Sie, mein Kind? Daß die Zungen der Männer voller Betrug sind? Alice Oui, daß die Zungen von die Mann voll der Betrug seyn; das is die Prinzeß. (V,2)

Das passt schon, sagt er ihr. Sie sei eine geborene Engländerin, und er sei froh, dass sie nicht besser Englisch sprechen könne, denn sonst würde sie sein schlichtes Gemüt durchschauen. Sie würde sofort erkennen, dass er eigentlich ein Bauer sei und dass er nicht schöne Worte drechseln könne. Gradheraus: „I love you“. König Heinrich: Gebt mir eure Antwort; im Ernste, thuts: und somit eingeschlagen und ein gemachter Handel. Was sagt ihr, Fräulein? Catharina: Sauf votre honneur, ich verstehen gut. (V,2)

Mit Verlaub, meint sie höflich, sie würde ihn gut verstehen. Da legt er entgegen seiner bäurisch-schlichten Selbststilisierung mit großer Begeisterung und Beredsamkeit los. Er stellt mit beeindruckend

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rhetorischem Können klar, dass er weder zum Versemachen, noch zum Tanze geeignet sei. Körperlich sei er aber gut beieinander, Luftsprünge und Aufschwünge aufs Pferd bringe er sogar in voller Rüstung hin, und als Faustkämpfer könne er jederzeit dienen. König Heinrich: Ich spreche mit dir auf gut soldatisch: kannst du mich darum lieben, so nimm mich; wo nicht, und ich sage dir, daß ich sterben werde, so ist es wahr; aber aus Liebe zu dir – beim Himmel, nein! und doch liebe ich dich wirklich. All dein Leben lang (V,2).

Das geht in dieser Weise noch eine ganze Weile so fort; er sucht ihr Argumente an die Hand zu geben, warum es gut sei für sie, mit seiner Schlichtheit vorlieb zu nehmen. Da habe er andernorts keine Chancen, könne sie nie betrügen. Und was männliche Schönheit betreffe, da kann er sein gutes Herz dagegensetzen. Die Schönheit vergeht – Bart und Haare werden weiß, ein schönes Gesicht verrunzelt etc. etc. – aber „ein gutes Herz, Käthchen, ist die Sonne …, denn es scheint hell und wechselt nie, sondern bleibt treulich in seiner Bahn.“ König Heinrich: Willst du so eins, so nimm mich, nimm mich, nimm einen Soldaten; nimm einen Soldaten, nimm einen König. Und was sagst du denn zu meiner Liebe? Sprich, meine Holde, und hold, ich bitte dich. (V,2)

Und jetzt kommt ein Einwurf Catharinas, eine Herausforderung, die seinem sprachlich-stürmischen Eroberungsversuch den Boden unter den Füßen wegziehen könnte. Sie stellt eine einleuchtend schlichte Frage. Catharina: Ist es möglich, daß ich sollte lieben die Feind von Frankreich? (V,2)

Die Antwort lautet entschieden „Nein“. Und jetzt sieht man den Eroberer nach einem rettenden Strohhalm Umschau halten. Das, was er findet, ist ein Sophismus allererster Güte. König Heinrich: Nein, es ist nicht möglich, Käthchen, daß ihr den Feind Frankreichs lieben solltet; aber indem ihr mich liebt, würdet ihr den Freund Frankreichs lieben; denn ich habe Frankreich so lieb, daß ich kein Dorf davon will fahren lassen, es soll ganz

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mein seyn. Und Käthchen, wenn Frankreich mein ist, und ich euer bin, so ist Frankreich euer und ihr seid mein. (V,2)

So denken Eroberer, aber diese gedankliche Trickserei ist für ihr Englisch entschieden zu hoch. Catharina: Ich weiß nicht, was das will sagen. (V,2)

Heinrich nimmt die Herausforderung an. Er nimmt all seinen Mut, sprich all sein Französisch zusammen und versucht seinen Sophismus in fremder Sprache zu wiederholen. König Heinrich: Quand j’ai la possession de France, et quand vous avez la possession de moi, (laß sehen, wie nun weiter? Sankt Dionys, stehe mir bei!) donc votre est France, et vous êtes mienne. Es wird mir ebenso leicht, Käthchen, das Königreich zu erobern, als noch einmal soviel Französisch zu sprechen; auf Französisch werde ich dich nie zu etwas bewegen, außer über mich zu lachen. (V,2)

Das wird so nichts, das ist babylonische Sprachverwirrung im Kleinen. Und dafür bekommt er jetzt sogar das Lob, dass sein Französisch viel besser sei als ihr Englisch. Aber was bringt das? Das ganze falsche Reden in der Sprache des anderen führt zu nichts. Jetzt tritt er auf der Stelle mit seinen Argumenten. Es sei doch ausreichend, wenn sie nur soviel verstehe: „Canst thou love me? (Kannst du mich lieben?) Sagte sie vor einer Viertelstunde, dass sie „Do you like me“ nicht verstehe, sagt sie jetzt das Nämliche in leicht anderen Worten. Catharina: Ich weiß nicht zu sagen. (V,2)

Ja – das „zum Teufel“ unterdrückt er –, wer soll es denn dann wissen? Die Nachbarn? Sprich heute Nacht in deinem Schlafzimmer mit deinem Fräulein darüber, aber spotte wenigsten barmherzig über den grausam in dich Verliebten. Und, sein falsches Französisch hinter sich lassend, macht er auf echt englisch einen erneuten, sehr langen Anlauf, um ans Ziel zu kommen. Die Argumente werden in Variationen wiederholt – Schönheit und Alter! Dann, wenn sie das erlösende „Ich bin dein“ gesprochen habe, werde er ihr England, Irland, und Frankreich zu Füßen legen. Wir vermuten, dass

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Alice gelegentlich mit einer kleinen Übersetzung nachhilft und der Prinzessin ins Ohr flüstert, was er nun noch einmal beteuert. König Heinrich: Wohlan, gebt mir eure Antwort in gebrochner Musik: denn eure Stimme ist Musik, und euer Englisch gebrochen. Also, Königin der Welt, Catharina, brich dein Stillschweigen in gebrochnem Englisch: willst du mich haben? (V,2)

Catharina gibt eine Antwort auf Umwegen, aber doch eine erlösende, wenngleich diplomatische Antwort, mit der sie die politischen Erfordernisse und die privaten Wünsche elegant in Einklang bringt. Catharina: Das ist zu sagen, wie es gefallen wird die roi mon père. (V,2)

Dass der französische König zustimmen wird, ist fast ausgemachte Sache. Er will Frieden durch eine Ehe. Damit ist die Staatsaktion und die Komödie mit der Liebesgeschichte ins happy end gebracht. Heinrich will Catharina, seiner Königin, die Hand küssen, denn uneigentlich hat sie „ja“ gesagt. Sie wehrt seinen Handkuss ab, weil sie eine unwürdige Dienerin von Königs Gnaden sei. Wenn nicht die Hand, dann will ich deine Lippen küssen, sagt Heinrich nun draufgängerisch. Und er bezieht erneut eine kleine Abfuhr. Catharina: Ce n’est pas la coûtume de France, de baiser les dames et demoiselles avant leurs nôces. (V,2)

Das lässt er sich von Alice übersetzen und die Damen lernen eine neue Vokabel: baiser = küssen = to kiss. Den Brauch aber, dass die Damen erst in der Hochzeitsnacht geküsst werden dürfen, will er nicht akzeptieren. Als Urheber von Gottes Gnaden ändert er den Brauch des Landes und hebt die strenge Sitte auf. König Heinrich: (küßt sie) Ihr habt Zauberkraft in euren Lippen, Käthchen; es ist mehr Beredsamkeit in einer süßen Berührung von ihnen als in den Zungen des ganzen französischen Rathes, und sie würden Heinrich von England eher bereden als eine allgemeine Bittschrift der Monarchen. Da kommt euer Vater. (V,2)

Die royale Werbungsszene wurde seit jeher von allen Interpreten und von den Zuschauern als reizend und zauberhaft empfunden.

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Nach all dem Waffengeklirr berührt die Prinzessin mit ihrer unwiderstehlichen Anmut und mädchenhaften Widerständigkeit gegen das Küssen. Die Szene bringt das heikle, beim englischen Publikum aber äußerst beliebte Stück mit seiner patriotischen Wirkung auf eine akzeptable Weise wie eine royale Seifenoper von heute zu Ende. Vielleicht wurde mit dieser Szene auch eine Tradition begründet, die bis zum heutigen Tag bei jeder royalen englischen Hochzeit den Kuss auf dem Balkon des Buckingham Palastes zum sensationellen Ereignis für die Boulevard-Presse der gesamten Welt macht. Vermutlich lächelt Catharina nach dem Kuss ihren Heinrich an, vermutlich lächeln auch der eintretende Vater und die Mutter. Wieder war Shakespeare eine Werbungsszene gelungen wie schon in den „Beiden Veronesern“ und in „Der Widerspenstigen Zähmung“. Diesmal gelang es Shakespeare sogar, in den blutrünstigen Szenerien der Historien dem Charme der Komödie Raum zu schaffen. Andere Szenen werden folgen: im „Wintermärchen“ und im „Sturm“; aber die sind jenseits der Historien. Kurz und gut: „Er war der überragende Dichter des Liebeswerbens“, meint Stephen Greenblatt.3 Die feingeistige Komödie, deren Vehikel die Sprache ist, mündet nach diesem Kuss wieder in die Staatsaktion, die nun sehr schnell in der Vision einer doppelten Vereinigung zu Ende kommt. Die französische Königin und Mutter Catharinas überhöht die Szene mit ihrem Segensspruch. Isabelle: Gott, aller Ehen bester Stifter, mache Eins eure Herzen, eure Länder eins! Wie Mann und Weib, die zwei, doch eins in Liebe, So sei Vermählung zwischen euren Reichen, Daß niemals üble Dienste, arge Eifersucht, Die oft das Bett der heil’gen Ehe stört, Sich dränge zwischen dieser Reiche Bund, Um, was einander einverleibt, zu scheiden; Daß Englische und Franken nur die Namen Von Brüdern sei’n: Gott sage hiezu Amen! (V,2)

*** Jedes der Historiendramen Shakespeares, sowohl die der LancasterTetralogie (Richard II., Heinrich IV., Teil I und Teil II, sowie Hein-

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rich V.) wie der York-Tetralogie (Heinrich VI., 3 Teile und Richard III.) endet mit einem Wort der Hoffnung auf die Zukunft, das das nächste Stück in der chronologischen Folge jeweils hart dementiert und durchgehend konterkariert. Der auf Richard II. folgende Heinrich IV. will sein Vergehen am Vorgängerkönig durch eine Fahrt ins heilige Land sühnen. Er kommt nicht dazu, kann aber am Ende des ersten Teils seiner Theaterbiographie resümieren: König Heinrich: Und weil so glücklich das Geschäft begonnen, Laßt uns nicht ruhn, bis alles ist gewonnen. (1,V,5)

Der Sieg macht nicht glücklich, sondern beschert ihm einen unglücklichen Tod. Zu Ende des zweiten Teils übernimmt Sohn Heinrich als König Heinrich V. das Szepter und verkündet frohe Zukunft. König: Doch weint, daß Heinrich todt ist, ich wills auch Doch Heinrich lebt [er meint sich], der alle diese Thränen In so viel Stunden Glücks verwandeln wird. (2,V,2)

Es scheint ihm bei großen Opfern am Ende von „Heinrich V.“ mit seiner grandiosen Brautfahrt gelungen zu sein, dauerhaftes Glück zu inthronisieren. König Heinrich: Bereiten wir die Hochzeit; auf den Tag Empfang’ ich, Herzog von Burgund, von euch Und allen Pairs den Eid zu des Vertrags Gewähr. Darin schwör’ ich, Käthchen, dir, du mir dagegen; Und, treu bewahrt, gedeih es uns zum Segen! (Alle ab) (V,2)

Aber Heinrich hat kaum den letzten Satz vollendet, unkt der Chor als Epilog schon wieder neues Unheil. Chor: Heinrich der Sechst’, in Windeln schon ernennt Zu Frankreichs Herrn und Englands, folgt’ ihm nach, Durch dessen vielberathnes Regiment Frankreich verloren ward und England schwach;

Was war geschehen? Warum bleibt auch diesmal der Segen aus? Zwar gebar Catharina ein gutes Jahr nach der Hochzeit am 6. Dezember 1421 einen hochwillkommnen Thronfolger namens Heinrich, aber schon neun Monate nach dieser Geburt starb der Vater am 31. August 1422 im Schloss Vincennes in der Nähe von Paris

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mit 35 Jahren an der Ruhr. Soldatenlos! Eine Witwe mehr im Kosmos von Shakespeares Historien. Was dann mit dem Kind Heinrich VI. anhebt, führt immer mehr ins Unheil. Er endet erstochen im Tower. Sein Nachfolger Eduard IV. ruft trotzdem frohe Zukunft aus. König Eduard: Tönt Pauken und Trompeten! Leid, fahr hin! Wir hoffen dauerhaften Glücks Beginn.

Der künftige Richard III. steht daneben und sagt beiseite: Gloster: Die Ernt verderb ich noch, wenn ihr erst tot (3,V,7)

Er macht sein Versprechen in brutalster Manier wahr. Er häuft Mord auf Mord und sein Überwinder Richmond, der spätere König Heinrich VII. verkündet die nämliche Losung, die wir in Variation schon so oft gehört haben. Richmond: Getilgt ist Zwist, gestreut des Friedens Samen: Daß er hier lange blühe, Gott, sprich Amen!

In chronologischer Reihe stehen wir nach diesem „Amen“ im Jahre 1485. In entstehungsgeschichtlicher Reihe der Stücke schreiben wir 1599; mit Heinrich V. waren die beiden Tetralogien zu Ende gebracht. Dann kommt lange kein Historienstück mehr. Erst ganz zum Ende seiner schriftstellerischen Laufbahn kam Heinrich VIII. im Jahre 1613 dazu. Ob dieser König ein Segen für Land und Leute war, bleibe vorerst aufgespart. Für seine sechs Frauen brachte er jedenfalls kein Glück. *** Viel Glück, wie schon skizziert, war Catharina von Valois mit Heinrich V. nicht beschieden. Der jungen Witwe wurde für ihren unmündigen Sohn die Beteiligung an der Regierung verweigert. Stattdessen wurde ihr Schwager, der Herzog von Gloster, als Regent des Königreiches und Protektor seines jungen Neffen Heinrich VI. bestimmt. In Shakespeares „Heinrich VI.“ wird er das erste Opfer von Lord Suffolks und Margaretha von Anjous Intrigen. Dieser Schwager war es auch, auf dessen Betreiben ein Gesetz veranlasst wurde, das eine Verheiratung von Königinwitwen ohne Zustimmung des Königs und seines Rats strengstens untersagte. Bei Zuwiderhandeln

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sollte der Gatte der Königinwitwe völlig enteignet werden. Das zielte zuvörderst auf Catharina, die eine durchaus erotisch aktive und leidenschaftliche Witwe war. Über ihre als skandalös empfundene Liebesbeziehung zu Owen Tudor wurde sie die Stammmutter der englischen Tudor-Dynastie. Sie blieb deshalb über ihren Tod hinaus immer beliebt. Shake­speare setzte gut 160 Jahre später mit dem zauberhaften Theaterkuss ein Sahnehäubchen auf ihr kurzes Leben. Über mögliche Spätfolgen dieses Kusses wurde schon spekuliert. Wir werden aber auch über einen Kuss unterrichtet, der ein wenig makaber und grausig anmutet. Katherinas Leichnam wurde im Februar 1437 in der Lady Chapel der Westminster Abbey bestattet. Beim Abriss der Lady Chapel wurde ihr einbalsamierter und nur lose eingehüllter Leichnam um 1503 offen neben dem Grab ihres ersten Gatten Heinrich V. beigesetzt und vom 16. bis 18. Jahrhundert häufig als Touristenattraktion gezeigt. Da bekam sie erneut einen literarisch erinnerungswürdigen Kuss. Am 23. Februar 1669 – es war sein 36. Geburtstag und Faschingsdienstag – besuchte Samuel Pepys die Westminster Abtei und küsste laut Eintrag die schon lange verstorbene Königin auf den Mund. … and therefore I now took them [Frau und Tochter] to Westminster Abbey, and there did show them all the tombs very finely, having one with us alone, there being other company this day to see the tombs, it being Shrove Tuesday; and here we did see, by particular favour, the body of Queen Katherine of Valois; and I had the upper part of her body in my hands, and I did kiss her mouth, reflecting upon it that I did kiss a Queen, and that this was my birth-day, thirty-six years old, that I did first kiss a Queen.4

Seit 1878 kann man die tote Königin nicht mehr küssen. Da wurde ihr Leichnam in der Kapelle des Eisenfressers Heinrichs V. unter einer Marmorplatte den Küssern entzogen. Man denke sich heute den Fall, man denke an Prinzessin Diana, die „Königin der Herzen“. Shakespeare würde etwas daraus machen. deutsche Übersetzung: August Wilhelm von Schlegel 1) Günter Jürgensmeier, S. 382 2) https://www.youtube.com/watch?v=W7cCW6GqJko 3) Stephen Greenblatt, S. 141 4) https://en.wikisource.org/wiki/Diary_of_Samuel_Pepys/1669/February#23rd

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Wie es euch gefällt (1599 / 1600)

designed by John Bostock and engraved by William Henry Mote

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Es war einmal ein Herzog. Der regierte in Frieden sein Ländchen, aber er hatte einen bösen Bruder, der ihn vom Thron stieß und in die Fremde trieb. In dem Herzogtum bei Bordeaux nahe dem Ardenner Wald bei Stratford, in dem der Herzog sein Exil fand, lebten auch drei Brüder. Der Ältere unterdrückte den Jüngeren und wollte ihn am liebsten tot sehen. Ein Zweikampf mit dem berühmt-berüchtigten Wrestler Charles kam ihm dabei gerade recht. Er hatte nichts dagegen, wenn der ihm alle Knochen brechen würde. Was musste sich Orlando auch unbedingt wichtigmachen. Der glaubte in der Tat, sich aus seinem Elendsdasein durch eine Herausforderung und einen Sieg befreien zu können. Einerseits gewinnt man beim Knochenbrechen aber keine Erziehung und Bildung – „Man hat mich nicht gelehrt, irgend etwas zu machen“ (I,1) –, aber andrerseits ging der Schuss ohnehin nach hinten los. Als der böse Usurpator auf dem Herzogthron erfährt, wer Orlandos Vater war, empfiehlt er ihm, sich eher bedeckt zu halten, denn er war sein Feind. Sein Bruder Oliver will ihn gar ermorden. Er weiß nicht warum, aber es ist einfach so. Deshalb flieht Orlando mit dem alten Diener seines Vaters ebenfalls ins Ausland, sprich in den nahegelegenen Wald von Arden. Es war wie eine Vertreibung ins Paradies, denn die Tochter des amtierenden Herzogs und ihre Nichte haben den Zweikampf auch gesehen und dem Sieger anschließend gratuliert und ihm eine Kette geschenkt. Blicke hin, Blicke her, die berühmte Liebe auf den ersten Blick. Aber aufs Verlieben hatten sich die beiden Mädchen ohnehin verschworen. Als ziemlich beste Freundin von Celia, der Tochter des Herzogs, durfte die liebentbrannte Rosalinde, so der Name der Tochter des verbannten Bruders, bei Celia verbleiben. Aber damit sollte jetzt Schluss sein. „Genug, du bist die Tochter deines Vaters“ (I,3) Mit diesem Spruch verbannt der Herzog auch seine eigene Tochter, denn die will nicht von ihrer zärtlicher, als schwesterlich geliebten Freundin weichen. Auch sie fliehen aus grauer Städte Mauern ins Grüne Paradies. Rosalinde verkleidet sich

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zum Schutz als Mann, als Page Ganymed, Celia will sich in niedre Kleidung stecken und ihr Gesicht ockerfarbig schminken und sich nun Aliena nennen. Der Hofnarr Probstein wird ebenfalls mit den Damen fliehen. Soweit die Exposition des Stücks, sprich, der erste Akt ist zu Ende. Mit Ausnahme von drei relativ kurzen Zwischenblenden an den Hof spielt die Szene nun ausschließlich im Ardenner Wald. Einmal hier, einmal da, einmal wieder ein anderer Teil des Waldes, kurz, das Stück spielt in einer bukolisch-schäferlich-arkadischen Welt, wo selbst die Stürme und der Winter erträglich sind, das Leben in Hütten und Höhlen paradiesisch ist und Schafskäse und Wildbret eine gute Versorgung gewährleisten. Der Kontrast zweier sehr unterschiedlicher Schauplätze ist bewusst gesetzt: die korrupte Welt des Hofes einerseits und andererseits eine heile Schäferwelt. Wenn es in letzterer Konflikte gibt, dann sind es ein für allemal Konflikte über das schönste Thema der Welt, die Liebe. Und mit der wollten die Mädchen ohnehin zum Spaß spielen. Dennoch war die Flucht ins arkadische Leben einigermaßen anstrengend. Entgegen ihrem Vorsatz, sich in schlichte Tracht zu kleiden, ist Celia für diese eher raue und unerwartete Wirklichkeit auf unserem Bild ein wenig „overdressed“. Ihre Kostümierung als Schäferin mit Blumen geschmücktem Wanderstab gaukelt einen Spaziergang ins Grüne vor, aber die Flucht ist denn doch ein wenig härter. Dennoch, ein Wortspiel muss bzw. darf bei Shakespeare selbst in übler Lage sein, denn wir befinden uns in einer Komödie: „tragen“ versus „ertragen“. Rosalinde O Jupiter! wie matt sind meine Lebensgeister! Probstein Ich frage nicht nach meinen Lebensgeistern, wenn nur meine Beine nicht matt wären. Rosalinde Ich wäre imstande, meinen Mannskleidern eine Schande anzuthun, und wie ein Weib zu weinen. Aber ich muß das schwächere Gefäß unterstützen, denn Wams und Hosen müssen sich gegen den Unterrock herzhaft beweisen. Also Herz gefaßt, liebe Aliena! Celia Ich bitte dich, ertrage mich, ich kann nicht weiter.

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Probstein Ich für mein Theil wollte euch lieber ertragen als tragen. Und doch trüge ich kein Kreuz, wenn ich euch trüge: denn ich bilde mir ein, ihr habt keinen Kreuzer in eurem Beutel. Rosalinde Gut, dieß ist der Ardenner Wald. Probstein Ja, nun bin ich in den Ardennen, ich Narr; da ich zu Hause war, war ich an einem bessern Ort, aber Reisende müssen sich schon begnügen. Rosalinde Ja, thut das, guter Probstein. – Seht, wer kommt da? Ein junger Mann und ein alter in tiefem Gespräch. (II,4)

Was Wald bei Shakespeare heißen kann, war schon im „Sommernachtstraum“ zu lernen. Arkadien dort war eine ziemlich „Verkehrte Welt“ mit viel Winter mitten im Sommer. Hier ist dagegen im Handumdrehen eine Meierei gefunden, und Geld haben die Mädchen ebenfalls verfügbar, um sie zu kaufen. Also alles halb so schlimm. Dass die Flucht ins Glück mühselig ist, können auch Orlando und sein alter Begleiter Adam bestätigen. Der alte Freund kann nicht mehr und will vor Hunger fast sterben. Kaum gesagt, sieht man den verbannten Herzog an reichgedeckter Tafel mitten im Wald sitzen, umgeben von malerisch kostümiertem Gefolge. Ein gewisser Jacques, ein schwer melancholischer Hofmann, führt das große Wort an der Tafel. Seine philosophische Tischpredigt über die Narrheit der Welt wird auf unziemliche Weise durch Orlando unterbrochen. Der kommt mit gezogenem Degen und fordert ziemlich unhöflich, sich vor allen anderen bedienen zu dürfen. Orlando Ich sterbe fast vor Hunger, gebt mir Speise! (II,7)

Mit allem hat er gerechnet, aber nicht damit, dass er freundlich zu Tisch gebeten wird. Er entschuldigt sich mit einer Beredtheit, als hätte er doch eine ziemlich gute Erziehung genossen, und bittet, seinen gebrechlichen alten Begleiter ebenfalls zu Tisch mitbringen zu dürfen. Während er ihn holt, fordert der Herzog seinen Hofphilosophen zu einem weiteren Sermon über die betrübliche Lage der Welt auf. Die Predigt, die jetzt kommt, hat es in sich und ist zu

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einem der berühmtesten Redebeiträge aus Shakespeares Feder geworden. „Die ganze Welt ist Bühne / Und alle Fraun und Männer bloße Spieler.“ Über Verliebte weiß der Mann aber nichts Vorteilhaftes zu sagen, allenfalls ist sein Hinweis beachtenswert, dass manche gerne manche Rollen spielen: z.B. Ganymed, die verkleidete Rosalinde, der/die ab jetzt für Orlando die zickige Rosalinde spielt, um ihn von seiner törichten Liebe zu heilen. Töricht ist es doch allemal, den Wald mit verliebten Reimen vollzuhängen, seine Liebe in die Rinde der Bäume einzuschneiden, vor allem wenn man ein ungebildeter Kerl ist und keine Ahnung vom Dichten hat. Das aber tut Orlando; er schreibt für seine ihm abhanden gekommene Rosalinde Liebesgedichte, die er in die Bäume hängt, er ritzt es in ihre Rinden ein: „Dein ist mein ganzes Herz und soll es ewig bleiben!“ Orlando Da häng’, mein Vers, der Liebe zum Beweis! Und du, o Königin der Nacht dort oben! Sieh keuschen Blicks, aus deinem blassen Kreis, Den Namen deiner Jäg’rinn hier erhoben! O Rosalinde! sei der Wald mir Schrift, Ich grabe mein Gemüth in alle Rinden, Daß jedes Aug’, das diese Bäume trifft, Ringsum bezeugt mag deine Tugend finden. Auf, auf, Orlando! rühme spät und früh Die schöne, keusche, unnennbare Sie! (III,2)

Aufgehängt, eingeschnitten, geseufzt, und schon ist Orlando zur nächsten Baumgruppe verschwunden, um weitere mondsüchtige poetische Hinterlassenschaften zu deponieren. Die zünftigen Literaturkritiker nennen seine Erzeugnisse „altbacken“, weil er „lauter abgenutzte Versatzstücke aus dem Schatzkästlein petrarkistischer Liebeslyrik statt einen eigenen, individuellen Ausdruck seiner Gefühle“1 liefert, aber für einen, der bei seines Vaters Schweinen aufwachsen musste, sind solche Verse Meisterleistungen. Da ist er seinem literarischen Vater Shakespeare nicht ganz unähnlich, dem die Zweifler an seiner Verfasserschaft gerne die nötige Bildung absprechen, solche Werke zu produzieren wie etwa dieses Stück, in dem wir uns befinden. Nach kurzem Intermezzo findet Rosalinde die Gedichte und liest sie vor, sich, dem Publikum und dem Narren Probstein, der sie in seiner schnöselig-überheblichen Hofmanier abqualifiziert. Bei Ro-

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salinde finden sie Gnade, und als Celia/Aliena auftaucht, um auch eine Liebespredigt vom Baum vorzutragen, drängt sich unerachtet der poetischen Qualität die eigentlich naheliegende Frage auf: Celia Aber hast du gehört, ohne dich zu wundern, daß dein Name an den Bäumen hängt und eingeschnitten ist? (III,2)

Doch, doch! Natürlich wundere ich mich schon eine Woche lang – so lange sind die Damen aber noch gar nicht im Ardenner Wald –, wer diese Verse hier aufhängt. Immerhin, lesen und sogar schreiben kann er ja, was in Shakespeares Zeiten immer schon ein Kompliment war. Ab jetzt spielt Rosalinde endgültig, einmal die Einfältige, dann die Kratzbürstige und so manche Rolle, weil es ihr ungeheuer Spaß macht. Celia Räthst du, wer es gethan hat? Rosalinde Ist es ein Mann? Celia Mit einer Kette um den Hals, die du sonst getragen hast. Veränderst du die Farbe? Rosalinde Ich bitte dich, wer? Celia O Himmel! Himmel! Es ist ein schweres Ding für Freunde, sich wieder anzutreffen, aber Berg und Thal kommen im Erdbeben zusammen. Rosalinde Nein, sag’, wer ists? Celia Ist es möglich? (III,2)

Rosalinde spielt die Einfältige noch ein Stück weiter. Sie will es aus Celias Munde hören, denn sich selber will sie es nicht glauben. Celia Es ist der junge Orlando, der den Ringer und dein Herz in einem Augenblick zum Falle brachte. Rosalinde Nein, der Teufel hole das Spaßen! Sag auf dein ehrlich Gesicht und Mädchentreue!

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Celia Auf mein Wort, Muhme, er ist es. Rosalinde Orlando? Celia Orlando. Rosalinde Ach liebe Zeit! Was fange ich nun mit meinem Wams und Hosen an? – Was that er, wie du ihn sahst? Was sagte er? Wie sah er aus? Wie trug er sich? Was macht er hier? Frug er nach mir? Wo bleibt er? Wie schied er von dir, und wann wirst du ihn wiedersehn? Antworte mir mit einem Wort! (III,2)

Praktische Einsichten verschlingen sich mit einer Kaskade von neun Fragen, wobei die erste Frage tatsächlich rein praktischer Natur ist. Die Flucht ist gelungen, Rosalinde ist bei ihrem Vater angekommen, und Orlando, den sie liebt, ist ebenfalls hier im Wald. Wozu das Versteckspiel und die Kostümierung mag ein rational praktisch eingestellter Mensch sich da fragen. Und die Antworten, die Celia auf Rosalindes sonstige Fragen zu geben versucht, unterbricht das Mädchen mit einer selbstironischen Bemerkung, die heute unter Umständen dem feministischen Rotstift zum Opfer fällt. Rosalinde Wißt ihr nicht, daß ich ein Weib bin? Wenn ich denke, muß ich sprechen. Liebe, sag’ weiter! (III,2)

Die „Liebe“, der gelegentlich erotische Absichten auf Rosalinde unterstellt werden, kommt zu keinen weiteren Ausführungen, weil jetzt Orlando mit dem Melancholiker Jacques kommt. Als der sich verabschiedet, ist Orlando nicht traurig, denn er hat seine Verse für schlecht befunden und seine Verliebtheit als Dummheit sondergleichen bezeichnet. Bei solcher Lage entstehen keine Freundschaften. Vielleicht kann man mit dem jungen Herrn, der da in Damenbegleitung eben aus dem Busche tritt, besser reden. Rosalinde packt im Angesicht ihres begehrten jungen Ringkämpfers der Spaß- oder Spielteufel. Verkleidet als Page ist sie ohnehin, und ihr Vorsatz geht dahin, den verliebten Burschen aufzuziehen. Rosalinde Ich will wie ein naseweiser Lakei mit ihm sprechen, und ihn unter der Gestalt zum Besten haben. (III,2)

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Wie beginnt man ein Gespräch mit einem Mann? Man kann, um sich bekannt zu machen, nach der Uhrzeit fragen. Das war und ist noch heute eine Möglichkeit auf der Straße eine Konversation zu eröffnen. Dass die harmlose Frage sich aber gleich in derart absurdes Dialogspiel über das Thema Zeit verwandelt, war nicht unbedingt abzusehen und setzt Absicht voraus. Der Absicht Meisterin ist Rosalind, die übers Hölzchen aufs Stöckchen kommt, bis sie in aller Unschuld das Gespräch auf die „Weiber“ bringt. Das ist immer ein gutes sujet de conversation zwischen Männern, und Rosalinde/Ganymed ist nicht zimperlich mit ihren/seinen chauvinistischen Meinungen über die Weiber. Sie stammen von einem geistlichen Onkel, und der habe sie/ihn auch gelehrt, wie man Liebeskranke heilt. Zum Beispiel diesen Irren hier im Wald, der die Bäume verdirbt. Jetzt spricht er/sie wie ein Forstmann. Rosalinde Es spukt hier ein junger Mensch im Walde herum, der unsre junge Baumzucht mißbraucht, den Namen Rosalinde in die Rinden zu graben, der Oden an Weißdornen hängt, und Elegien an Brombeersträuche, alle – denkt doch! – um Rosalindens Namen zu vergöttern. Könnte ich diesen Herzenskrämer antreffen, so gäbe ich ihm einen guten Rath, denn er scheint mit dem täglichen Liebesfieber behaftet. (III,2)

Dem übersteigertem Männlichkeitsgefühl seines Gesprächspartners fühlt sich Orlando nicht gewachsen; er knickt sofort ein und bekennt, dieser Liebeskranke zu sein. Orlando Ich bins, den die Liebe so schüttelt: ich bitte euch, sagt mir euer Mittel! (III,2)

Nimmerdar! Ihr zeigt keinerlei Merkmale jener Narren im Liebeskäfig. Und sie überschüttet ihn mit Merkmalen, die einen Trottel, aber keinen Liebhaber beschreiben. Nein und nochmals nein. Rosalinde Ihr seid vielmehr geschniegelt in eurem Anzuge, mehr wie einer, der in sich selbst verliebt, als sonst jemands Liebhaber ist. (III,2)

Dagegen erhebt nun Orlando heftig Einspruch. Orlando Schöner Junge, ich wollte, ich könnte dich glauben machen, daß ich liebe. (III,2)

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Jetzt hat sie ihn da, wo sie ihn haben wollte. Sie will ein nachhaltiges Bekenntnis seiner Liebe an scheinbar völlig unverfänglicher dritter Stelle: bei einem Mann, der über die Liebe erhaben scheint. Orlando lässt sich bereitwillig auf dieses Spiel ein. Er wird ab jetzt alles tun, um sich von seiner Tollheit heilen zu lassen, und er wird die Heilerin, den Arzt, die verliebte Zuchtmeisterin als Ersatzobjekt für die geliebte Person akzeptieren, bis der Schein des Seins im happy end zusammenbricht, die Verkleidung sich in Frauenkleider rückverkleidet und der Tollheit der Liebe Heilung durch einen Gott geboten wird – Hymen –, dessen irdische Vollstreckerin Rosalinde heißt, will sagen, Ganymed wird Orlando von seinem Liebeskummer kurieren, wenn Orlando ihn so umwerbe, als sei er Rosalind. Die Frage des jungen Mannes ist auf Zukunft gestellt und die Antwort der jungen Frau ebenfalls. Orlando Habt ihr irgend wen so geheilt? Rosalinde Ja, einen, und zwar auf folgende Weise. (III,2) (Fortsetzung folgt unter Kapitel „Rosalinde“)

deutsche Übersetzung: August Wilhelm von Schlegel 1) Frank Günther, Bd. 12, S. 241/242

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designed by John Hayter and engraved by H. Robinson

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(Fortsetzung von Kapitel „Celia“)

Über Celia war zuletzt wenig zu berichten. Sie stand eine lange Szene völlig stumm dabei, und wie sich Rosalinde anschickt, ihren Masterplan auf die Zukunft zwischen Orlando und Ganymed/Rosalinde zu entwerfen, bleibt sie weiterhin stumm, wenngleich aufmerksame Zuhörerin zwischen Hilfestellung, Neid und leichter Eifersucht. Orlando Habt ihr irgend wen so geheilt? Rosalinde Ja, einen, und zwar auf folgende Weise. Er mußte sich einbilden, daß ich seine Liebste, seine Gebieterin wäre, und alle Tage hielt ich ihn an, um mich zu werben. Ich, der ich nur ein launenhafter Junge bin, grämte mich dann, war weibisch, veränderlich, wußte nicht, was ich wollte, stolz, fantastisch, grillenhaft, läppisch, unbeständig, bald in Thränen, bald voll Lächeln, von jeder Leidenschaft etwas, und von keiner etwas Rechtes, wie Kinder und Weiber meistentheils in diese Farben schlagen. Bald mochte ich ihn leiden, bald konnte ich ihn nicht ausstehn, dann machte ich mir mit ihm zu schaffen, dann sagte ich mich von ihm los; jetzt weinte ich um ihn, jetzt spie ich vor ihm aus: so daß ich meinen Bewerber aus einem tollen Anfall von Liebe in einen leibhaften Anfall von Tollheit versetzte, welche darin bestand, das Getümmel der Welt zu verschwören und in einem mönchischen Winkel zu leben. Und so heilte ich ihn, und auf diese Art nehme ich es über mich, euer Herz so rein zu waschen, wie ein gesundes Schafherz, daß nicht ein Fleckchen Liebe mehr daran sein soll. Orlando Ihr würdet mich nicht heilen, junger Mensch. Rosalinde Ich würde euch heilen, wolltet ihr mich nur Rosalinde nennen, und alle Tage in meine Hütte kommen und um mich werben. Orlando Nun, bei meiner Treue im Lieben, ich will es; sagt mir, wo sie ist.

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Rosalinde Geht mit mir, so will ich sie euch zeigen, und unterwegs sollt ihr mir sagen, wo ihr hier im Walde wohnt. Wollt ihr kommen? Orlando Von ganzem Herzen, guter Junge. Rosalinde Nein, ihr müßt mich Rosalinde nennen. – Komm, Schwester, laß uns gehn! (Alle ab) (III,2)

Mit leichter Hand hat Rosalinde ein Szenar skizziert, wie es Shakespeare nicht besser hätte erfinden können. Der junge Mann wird in Pflicht und Unterricht genommen, aber er scheint die Simulation nicht ernst zu nehmen. Rosalinde ist dem Weinen nahe, und Celia macht burschikos darauf aufmerksam, dass Tränen einem Kerl wie Ganymed nicht anstehn. Dennoch ist die Sache zum Heulen. Rosalinde Aber warum versprach er mir, diesen Morgen zu kommen, und kommt nicht? Celia Nein gewißlich, es ist keine Treu und Glauben in ihm. Rosalinde Denkst du das? (III,4)

Ja, meint Celia. Aber du hast doch auch gehört, dass er hoch und heilig seine Liebe beschwor. Aber das war gestern, sagt Celia trocken und weiter erklärt sie voller Sarkasmus: Celia Oh, das ist ein tapfrer Mann! Er macht tapfre Verse, spricht tapfre Worte, schwört tapfre Eide, und bricht sie tapferlich der Quere, grade vor seiner Liebsten Herz (III,4)

Celias Rede ist ernüchternd, aber der alte Schäfer Corinnus bringt Trost. Er lädt die beiden Geschwister von der Meierei – so hat er sie kennengelernt – ein, ein kleines Schauspiel von grausamer Liebe anzusehen. Rosalinde ist sofort Feuer und Flamme. Rosalinde Verliebte sehen, nährt Verliebter Sinn. Bringt uns zur Stell’, und giebt es so das Glück, So spiel’ ich eine Roll’ in ihrem Stück. (III,4)

Das Glück will es so, und schon ist sie wieder in einer Rolle. Der

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junge Schäfer Silvius liebt die Schäferin Phöbe heiß und innig, aber die will nichts von ihm wissen. Rosalinde mischt sich als Vermittlerin ein und muss schnell erkennen, dass sie/er das Objekt der Leidenschaft der Schäferin ist. Ganymed sieht sich umworben und heiß geliebt von einer Frau. Das stand nicht unbedingt auf seiner Rechnung. Phöbe O holder Jüngling, schilt ein Jahr lang so! Dich hör’ ich lieber schelten, als ihn werben. (III,5)

Seine angemaßte Rolle in dem Schäferdrama bringt Ganymed in Verlegenheit, und so wie Phöbe Silvius zurückweist so Ganymed die in ihn vergaffte Phöbe. Rosalinde Ich bitt’ euch sehr, verliebt euch nicht in mich, Denn ich bin falscher als Gelübd’ im Trunk. Zudem, ich mag euch nicht. (III,5)

Man spielt nicht mit der Liebe, titelt ein späterer Dichter, aber dessen Warnung kennt Rosalinde noch nicht. Dagegen lernt sie Monsieur Jacques kurz kennen. Aber der Melancholiker ist nicht nach ihrem Gusto, so dass sie froh ist, durch den Auftritt von Orlando von ihm befreit zu werden. Ihr Unmut über den einen ergießt sich nun umso heftiger über den anderen. Rosalinde Nun, Orlando, wo seid ihr die ganze Zeit her gewesen? Ihr ein Liebhaber? – Spielt ihr mir noch einmal so einen Streich, so kommt mir nicht wieder vors Gesicht! (IV,1)

Sie weiß, dass das natürlich eine leere Drohung ist, aber das Spiel fordert sein eigenes Recht. Eine ganze Stunde Verspätung, das ist unmöglich. Rosalinde Nein, wenn ihr so saumselig seid, so kommt mir nicht mehr vors Gesicht: ich hätte es ebenso gern, daß eine Schnecke um mich freite. (IV,1)

Verzeihung, verzeiht mir! Meine Rosalinde würde mir verzeihen. Eure Rosalinde vielleicht, aber hier in diesem Wald gilt: Rosalinde … ich bin eure Rosalinde. (IV,1)

Celia boxt Ganymed in die Seite, weil er fast dabei ist, sich die Brust

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aufzureißen und sich zu verraten. Da Orlando unschlüssig ist, kommt ein Befehl. Rosalinde Kommt, freit um mich, freit um mich; denn ich bin jetzt in einer Festtagslaune und könnte wohl einwilligen. – Was würdet ihr zu mir sagen, wenn ich eure rechte, rechte Rosalinde wäre? (IV,1) Orlando Ich würde küssen, ehe ich spräche. (IV,1)

Die Antwort ist nicht übel, aber das könnte doch etwas überfallartig wirken. Der Mann braucht noch Belehrung aus dem rhetorischen Handbuch. Rosalinde Nein, ihr thätet besser, erst zu sprechen, und wenn ihr dann stocktet, weil ihr nichts mehr wüßtet, nähmt ihr Gelegenheit zu küssen. Gute Redner räuspern sich, wenn sie aus dem Text kommen, und wenn Liebhabern (was Gott verhüte!) der Stoff ausgeht, so ist der schicklichste Behelf zu küssen. (IV,1)

Celia boxt Ganymed erneut in die Seite. Es könnte ja sein, Orlando gaukelt Stoffmangel vor und küsst Ganymed einfach. Das tut er nicht, sondern er frägt brav: Orlando Wenn nun der Kuß verweigert wird? (IV,1)

Dann gibt es neuen Redestoff. Schließlich muss sie dann sagen, warum sie spröde tut. Und weil ich Eure Rosalinde bin – das bestätigt der an der Nase herumgeführte Liebhaber erneut –, sage ich: Rosalinde

… ich will euch nicht.

Orlando So sterbe ich in meiner eignen Person. Rosalinde Mit nichten … (IV,1)

Papperlapapp! Jetzt ist sie wieder in ihrem Text. Kein Mann ist in sechstausend Jahren in Liebessachen gestorben. Aus dem Shakespearekosmos hat sie Beispiele genug zur Hand: Troilus oder Leander sind aus ganz trivialen Gründen gestorben.

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Rosalinde Aber kommt! nun will ich eure Rosalinde in einer gutwilligeren Stimmung seyn, und bittet von mir, was ihr wollt, ich will es zugestehn. Orlando So liebe mich, Rosalinde! (IV,1)

Ihr/sein Spiel wird immer waghalsiger. Noch ein paar Wortkapriolen, und dann kommt Celias Stichwort. Rosalinde Kommt, Schwester, ihr sollt der Priester seyn, um uns zu trauen. – Gebt mir eure Hand, Orlando! – Was sagt ihr, Schwester? Orlando Bitte, trau’ uns! Celia Ich weiß die Worte nicht. (IV,1)

Das nennt man wohl einen ziemlich verpatzten Auftritt. Wahrscheinlich ist Celia so verdattert, weil sie zwei Männer trauen soll. Rosalinde souffliert: Rosalinde Ihr müßt anfangen: „Wollt ihr, Orlando –“ Celia Schon gut. – Wollt ihr, Orlando, gegenwärtige Rosalinde zum Weibe haben? Orlando Ja! [….] so schnell sie uns trauen kann. Rosalinde So müßt ihr sagen: „Ich nehme dich, Rosalinde, zum Weibe.“ Orlando Ich nehme dich, Rosalinde, zum Weibe. Darauf antwortet Ganymed/Rosalinde doch tatsächlich, ohne nach Papieren zu fragen: Rosalinde … – Ich nehme dich, Orlando, zu meinem Manne. Da kommt ein Mädchen dem Priester zuvor, und wirklich, Weibergedanken eilen immer ihren Handlungen voraus. (IV,1)

Das priesterliche Mädchen Aliena ist mit dem Ja-Wort wieder zum Schweigen verpflichtet, und Ganymed gaukelt Orlando eine/seine Rosalinde als ein überaus launisches und kapriziöses Wesen vor,

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ohne ihm wirklich Angst einjagen zu können, weil sie doch so schöne Sentenzen unter ihre Schilderung mischt, als da sind: Rosalinde Männer sind May, wenn sie freien, und December in der Ehe. Mädchen sind Frühling, solange sie Mädchen sind, aber der Himmel verändert sich, wenn sie Frauen werden. (IV,1)

Die kurios geschlossene Ehe zwischen Schein und Sein befindet sich noch im Mai, und trotzdem muss sich Orlando jetzt zum Dienst an der Mittagstafel beim Herzog verabschieden. Wenn er gewusst hätte, was hier eben passiert ist, hätte er vorab vielleicht um Urlaub nachgesucht. Aber diese Heirat war eine komische Überraschung und ihm ist vielleicht gar nicht wirklich klar, dass er jetzt einem Mann angetraut ist. Gut, sagt er/sie, zwei Stunden sind genehmigt; aber kommt bloß nicht wieder zu spät wie heute Morgen. Während Rosalinde schon im Sein einer vollzogenen Heirat lebt, befindet sich Orlando im „als ob“ eines witzigen Spiels, im Schein einer Fiktion. Kaum ist er zur Arbeit abgegangen, bricht Rosalindes Pseudotheater, ihr Rollenspiel zusammen. Celia tut das Ihrige, um ihr ihr Spiel mit der Liebe als Geschwafel zu entlarven. Celia Du hast unserm Geschlecht in deinem Liebesgeschwätz geradezu übel mitgespielt. Wir müssen dir Hosen und Wams über den Kopf ziehn, damit die Welt sieht, was der Vogel gegen sein eignes Nest gethan hat. (IV,1)

Jetzt zeigt sich bei Rosalinde wie sehr ihre Scherze „blutigen“ Ernst überspielen. Ach, liebe, liebe, liebe Cousine… Rosalinde … Mühmchen! mein artiges kleines Mühmchen! Wüßtest du, wie viel Klafter tief ich in Liebe versenkt bin! Aber es kann nicht ergründet werden; meine Zuneigung ist grundlos wie die Bucht von Portugall. (IV,1)

Celia korrigiert das Bild, indem sie es mit einer negativen Anmerkung versieht. Celia Sag lieber, bodenlos; so viel Liebe du hineinthust, sie läuft alle wieder heraus. (IV,1)

Das will Rosalinde so nicht stehen lassen. Sie ruft den kleinen blinden Gott der Liebe, Amor, zum Zeugen auf. Er soll Richter sein,

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dass ihre Liebe kein bodenloses Fass ist, keine qualvolle, sinnlose Mühe wie die der Danaiden. Rosalinde Nein, der boshafte Bastard der Venus, der vom Gedanken erzeugt, von der Grille empfangen und von der Tollheit geboren wurde, der blinde schelmische Bube, der jedermanns Augen bethört, weil er selbst keine mehr hat, der mag richten, wie tief ich in der Liebe stecke. – Ich sage dir, Aliena, ich kann nicht ohne Orlando’s Anblick seyn; ich will Schatten suchen und seufzen, bis er kommt. (IV,1)

Das quittiert die Cousine pikiert und ein wenig gereizt, weil sie sich von der ziemlich besten Freundin ein wenig ins Abseits gestellt sieht. Celia Und ich will schlafen. (IV,1)

Lange können die beiden nicht geseufzt bzw. geschlafen haben, denn es ist zwei Uhr vorbei, und kein Orlando weit und breit. Dagegen kommt ein anderer Mann, der eine überraschende Variante ins erotische Quidproquo bringt. Er erkundigt sich nach dem Geschwisterpaar der Meierei; seine Beschreibung und die Bestätigung durch die Besitzer ergeben eine glaubwürdige Identifizierung, um seine Nachricht an die rechtmäßigen Empfänger zu überbringen. Bevor er aber zur Sache betreffs Orlando und einem blutigen Tuch kommt, stellt er sich seinerseits vor. Allerdings sei das für ihn nicht ganz einfach, ja er müsse sich sogar ein wenig für seine Geschichte schämen. Und wie geht die, bittet Celia den Fremden? Als Orlando von euch wegging, fand er einen zerlumpten Mann vor Erschöpfung schlafend, um dessen Hals sich eine Schlange züngelnd wand. Die verschwand im Zickzack in den Busch, als sie Orlando sah; im Busch aber lag eine lauernde Löwin. Orlando sah die Gefahr im Busch und erkannte im Augenblick den Schlafenden als seinen ältesten Bruder. Das ruft Celia auf den Plan. Der Mann scheint sie zu interessieren. Celia O, von dem Bruder hört’ ich wohl ihn sprechen, Und als den Unnatürlichsten, der lebte, Stellt’ er ihn vor. (IV,3)

Umgekehrt wird Rosalinde aufgeregt und aufgeregter. Was hat er

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gemacht? Das blutige Tuch ist kein gutes Zeichen. Es fiel ihm nicht leicht, sagt der Mann, aber dann hat er doch für den Bruder sein Leben gewagt und ihn tatsächlich gerettet. Und jetzt hagelt es beschämende Fragen. Celia Seid ihr sein Bruder? Rosalinde Hat er euch gerettet? Celia Ihr wart es, der so oft ihn tödten wollte? (IV,3)

Ja, ich war es, aber der ich war, der bin ich nicht mehr. Das beschämende Eingeständnis hat zweierlei zur Folge. Die Damen sind gar nicht böse auf den bösen Bruder; Celia verfällt im Augenblick in Liebe – Oliver kam, sah und siegte –, und Rosalinde fällt in Ohnmacht, als sie das blutige Tuch mit besten Grüßen und einer Entschuldigung für sein Ausbleiben von Orlando bekommt. Als sie wieder erwacht, nehmen Celia und Oliver ihn/sie untern Arm. Sie will nach Hause, und Oliver geht irgendwie ein Licht auf. Oliver Faßt nur Muth, junger Mensch! – Ihr ein Mann? Euch fehlt ein männlich Herz. Rosalinde Das thut es, ich gestehs. Ach, Herr, jemand könnte denken, das hieße sich recht verstellen. Ich bitte euch, sagt eurem Bruder, wie gut ich mich verstellt habe. – Ah! ha! Oliver Das war keine Verstellung; eure Farbe legt ein zu starkes Zeugniß ab, daß es eine ernstliche Gemüthsbewegung war. (IV,3)

Rosalinde besteht auf Verstellung, besteht darauf, ihre Rolle gut gespielt zu haben, Oliver nennt sie trotzdem „Rosalinde“, und Celia lädt ihren „Cäsar“ nach Hause ein. Der Besuch bei Celia hat die Blitzeroberung bestätigt, denn als Oliver kurz darauf seinen Bruder Orlando im Wald trifft, kann er ihm bestätigen: Oliver … ich liebe Aliena (V,2)

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Und wie durch Zaubermacht von allen bösen Anwandlungen geheilt, erklärt er dem Bruder: Oliver Es soll zu eurem Besten seyn, denn meines Vaters Haus und alle Einkünfte des alten Herrn Roland will ich euch abtreten, und hier als Schäfer leben und sterben. (V,2)

Orlando nimmt das Angebot gerne an und schlägt gleich für morgen die Hochzeit mit Celia vor. Auch den Herzog will er einladen. Da kommt, als Oliver eben gehen will, Ganymed/Rosalinde; er/sie grüßt Oliver. Rosalinde Gott behüte euch, Bruder! Oliver Und euch, schöne Schwester! (V,2)

Das ist ironisch gesagt, aber doch auch höhere Ironie, und wie schon einmal zwinkert Oliver dazu mit wissenden Augen. Ganymed fühlt sich durchschaut und beharrt sofort wieder darauf, wie gut er seine Rolle als Rosalinde gespielt habe, als er in Ohnmacht fiel. Oliver geht murmelnd ab, indem er nochmals das sagt, was er schon einmal gesagt hat. Oliver Das war keine Verstellung; eure Farbe legt(e) ein zu starkes Zeugniß ab, daß es eine ernstliche Gemüthsbewegung war. (IV,3)

Ob Oliver das Spiel durchschaut hat, mag die Regie klären. Ganymed jedenfalls ist sehr bemüht, bei Orlando einen starken Eindruck von seiner darstellerischen Leistung zu hinterlassen. Rosalinde Hat euch euer Bruder erzählt, wie ich mich stellte, als fiel ich in Ohnmacht, da er mir euer Tuch zeigte? (V,2)

Orlando bestätigt es, aber er findet die plötzliche Liebe zwischen Celia und seinem Bruder ein noch größeres Wunder. Das findet auch Ganymed, und schon sprudelt es nur so aus ihm heraus. Rosalinde Ja, es ist wahr, niemals ging noch etwas so schnell zu, außer etwa ein Gefecht zwischen zwei Widdern, und Cäsars thrasonisches Geprahle: „Ich kam, sah und siegte.“ Denn euer Bruder und meine Schwester trafen sich nicht so bald,

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so sahen sie; sahen nicht so bald, so liebten sie; liebten nicht so bald, so seufzten sie; seufzten nicht so bald, so fragten sie einander nach der Ursache; wußten nicht so bald die Ursache, so suchten sie das Hülfsmittel; und vermittelst dieser Stufen haben sie eine Treppe zum Ehestande gebaut, die sie unaufhaltsam hinaufsteigen, oder unenthaltsam vor dem Ehestande seyn werden. Sie sind in der rechten Liebeswuth, sie wollen zusammen, man brächte sie nicht mit Keulen aus einander. (V,2)

Nicht dass Orlando das anders sähe, nicht dass Orlando dem Bruder sein Glück nicht gönnen würde, aber dessen Glück ist ihm auch eine sehr schmerzliche Angelegenheit. Orlando Aber ach! welch bittres Ding ist es, Glückseligkeit nur durch Andrer Augen zu erblicken! Um desto mehr werde ich morgen auf dem Gipfel der Schwermuth sein, je glücklicher ich meinen Bruder schätzen werde, indem er hat, was er wünscht. (V,2)

Jetzt wird aus Spiel Ernst und tiefere Bedeutung. Die Liebesprobe ist zu Ende, als Orlando erklärt: Orlando Ich kann nicht länger von Gedanken leben. (V,2)

Ganymed/Rosalinde hat verstanden. Kein eitles Theatergeplänkel mehr, kein Geschwätz mehr, sondern klare Worte. Rosalinde Wenn euch Rosalinde so sehr am Herzen liegt, als euer Benehmen laut bezeugt, so sollt ihr sie heirathen, wann euer Bruder Aliena heirathet. Ich weiß, in welche bedrängte Lage sie gebracht ist, und es ist mir nicht unmöglich, wenn ihr nichts dagegen habt, sie euch morgen vor die Augen zu stellen, leibhaftig und ohne Gefährde. (V,2)

„Du spinnst“, entfährt es Orlando in modernisierter Fassung, vielleicht auch „du bist betrunken“; bei Schlegel sagt Orlando vom Zauber der Versprechung berührt: Orlando Sprichst du in nüchternem Ernst? (V,2) Er/sie beschwört es auf Tod und Leben. Es ist ernst und wahr, wenn auch wie Zauberei. Rosalinde Also werft euch in euren besten Staat, ladet eure Freunde; denn

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wollt ihr morgen verheiratet werden, so sollt ihrs, und mit Rosalinden, wenn ihr wollt. (V,2)

Und da im Walde immer alle Türen und Fenster geöffnet sind, spazieren Silvius und Phöbe daher, deren Liebe jeweils falsch gepolt ist: Silvius in Phöbe, Phöbe in Ganymed und Ganymed in Orlando. Auch sie werden zur Eröffnung der Wundertüte auf morgen zur Hochzeit geladen. Jetzt führen sie noch ein seltsames Wortballett auf, einen Wechselgesang über „wer“ mit „wem“, an dem alles stimmt und auch nicht stimmt. Die Litanei endet durch ein Machtwort der Zauberin. Rosalinde Ich bitte euch, nichts mehr davon; es ist, als wenn die Wölfe gegen den Mond heulen. – (zu Silvius) Ich will euch helfen, wenn ich kann. – (zu Phöbe) Ich wollte euch lieben, wenn ich könnte. – Morgen kommen wir alle zusammen. – (zu Phöbe) Ich will euch heirathen, wenn ich je ein Weib heirathe, und ich heirathe morgen. – (zu Orlando) Ich will euch Genüge leisten, wenn ich je irgend wem Genüge leistete, und ihr sollt morgen verheirathet werden. – (zu Silvius) Ich will euch zufrieden stellen, wenn das, was euch gefällt, euch zufrieden stellt, und ihr sollt morgen heirathen. – (zu Orlando) So wahr ihr Rosalinde liebt, stellt euch ein, – (zu Silvius) so wahr ihr Phöbe liebt, stellt euch ein, – und so wahr ich kein Weib liebe, werde ich mich einstellen. Damit gehabt euch wohl, ich habe euch meine Befehle zurückgelassen. (V,2)

Man sollte vielleicht nicht vergessen, dass bei dem ganzen Handel auf Leistung und Gegenleistung die Anlassgeber der allgemeinen Hochzeitswut Celia und Oliver nicht übersehen werden sollten und dass noch ein wunderliches Liebespaar mit im Spiel ist: Probstein, der Narr, und sein Käthchen. Sie bekommen, um auf die Schlussszene einzustimmen, ein Lied um eines Liedes willen gesungen: „Ein Liebster und sein Mädel schön“. Der Narr streitet über Weise und Tempo des Liedes, aber er ist halt ein Narr, der von Musik nichts versteht. Die Melodie stammt von einem der berühmtesten Komponisten der Zeit, von Thomas Morley. Der hatte es vermutlich direkt zu Shakespeares Text für eine Aufführung um 1600 komponiert. Zur Schlussszene sind wir wieder in einem anderen Teil des Waldes. Orlando ist schon mit seinem Bruder und der inskünftigen Schwägerin, mit Oliver und Celia, im Gespräch mit dem Herzog. Die Vermutungen und Spekulationen über alle Ankündigungen

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dieses seltsamen Burschen Ganymed sind gehörig ins Kraut geschossen. Ob der das alles kann, was er versprochen hat, ist schon sehr zweifelhaft. Da ist er selbst. Er ist sehr notariell. Rosalinde Habt noch Geduld, indeß wir den Vertrag In Ordnung bringen. Herzog, ihr erklärt, Daß, wenn ich eure Rosalinde stelle, Ihr dem Orlando hier sie geben wollt? (V,4)

Die Möglichkeiten, die der pater familias im elisabethanischen England gegenüber den Heiratswünschen seiner Tochter hat, sind beträchtlich. Er hatte das Recht, seine Kinder zu verheiraten nach seinem Willen. Insofern ist der Vertrag schon in Ordnung. Rosalinde will sicher gehen und vergisst über ihrer Verliebtheit nicht die Notwendigkeit. Der Herzog sagt der Hochzeit zu. Dann frägt Ganymed noch einmal, wie schon gestern im Wald, gebetsmühlenhaft die Zusagen ihrer Heiratskandidaten ab. Ja sagt der Herzog, ja Orlando, ja sagt Phöbe und ja sagt Silvius. Also noch einmal: Rosalinde O Herzog, haltet Wort, gebt eure Tochter; Orlando, haltet eures, sie zu nehmen; Ihr, Phöbe, haltet Wort, heirahtet mich; Wenn ihr mich ausschlagt, ehlicht diesen Schäfer. Ihr, Silvius, haltet Wort, heirathet sie, Wann sie mich ausschlägt – (V,4)

Dann geht Ganymed mit seiner vorgeblichen Schwester Celia/ Aliena ab. Sie und Oliver wurden als pure Selbstverständlichkeit überhaupt nicht erwähnt. Bei denen liegen die Dinge klar vor aller Augen, wiewohl es da auch einen Vater gibt, der noch nicht vertraglich eingebunden ist in den allgemeinen und speziellen Deal. Und dieser Vater ist ein komplizierter Fall, der noch einer Lösung harrt. In die Stille des Wartens auf die Dinge, die da kommen werden, sagt der Herzog plötzlich unvermittelt etwas, das wir uns natürlich schon immer gefragt haben. Herzog An diesem Schäferknaben fallen mir Lebend’ge Züge meiner Tochter auf. (V,4)

Und Orlando pflichtet der Vermutung bei, obgleich er sie schnell wieder verwirft, weil er ziemlich leichtgläubig ist.

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Orlando Mein Fürst, das erste Mal, daß ich ihn sah, Schien mirs, er sei ein Bruder eurer Tochter. Doch, lieber Herr, der Knab’ ist waldgeboren, Und wurde unterwiesen in den Gründen Verrufner Wissenschaft von seinem Oheim, Den er als einen großen Zaubrer schildert, Vergraben im Bezirke dieses Walds. (V,4)

Wir und die Zuschauer sind nicht so leichtgläubig und wissen auch, dass das einfach stillschweigende Komödienkonvention ist, wenn keiner den anderen erkennt und bloßstellt, der Vater nicht seine Tochter, der Liebhaber hinter der männlichen Maske nicht seine Geliebte. Ein Realismus des 19. Jahrhunderts ist nicht Ziel des Verwirrspiels. Ohne einen solchen Realismus einzufordern, hat schon die alte Interpretenschule des realistischen Zeitalters ein Augenzwinkern Shakespeares unterstellt und ein potenziertes Versteckspiel aus der ansonsten schon trickreichen Komödie herausgelesen. „Ob er [Orlando] sie gleich beim ersten Zusammentreffen mit ihr erkennt, trotz ihrer Verkleidung, ist eine Frage, die wir unbedenklich mit „ja“ beantworten. Ihr tägliches Beisammensein und holdes Versteckspiel mit ihm wirkt dadurch nur poetischer und erbaulicher. Er seinerseits konnte ihr wohl durch seine glühende Huldigung, aber nicht durch Worte zu erkennen geben, daß er ihr Spiel durchschaute, bis sie selbst, nach hinlänglicher Prüfung seines Werthes, es für passend fand wieder in Mädchenkleidern zu erscheinen, um ihm, mit Einwilligung ihres Vaters, vor aller Welt anzugehören.“1 Der Interpret Friedrich von Bodenstedt war halt ein versierter Theatermann und großer Shakespearekenner. Aber selbst das potenzierte Versteckspiel ist jetzt zu Ende. Nachdem auch der Narr mit seinem Käthchen zur Heirat eingetroffen ist – Probstein liefert sich mit Jacques noch ein burleskes Wortduell –, gibt es jetzt den ultimativ großen Auftritt, in dem Gott Hymen die verrückten Liebespaare in Ehepaare verwandelt, die dann – aber das liegt weit jenseits des Spiels – langsam dezemberblass und winterkalt werden. Die letzte Stufe der Treppe zum Ehestande ist erreicht. Frank Günther, der ja nicht nur Übersetzter, sondern auch Theaterregisseur war, schlägt für den Auftritt des Ehegottes zwei Möglichkeiten der Inszenierung vor. Rosalinde inszeniert den Schluss „wie einen Zauber beim Kindergeburtstag“ oder als das „magisch-

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mystische Symbol in einem Spiel, das nunmehr die Ebene der Realität verlässt und einen abstrakteren Gedanken zu vermitteln sucht“2. Wir bevorzugen Letzteres und erinnern uns an einen großen Theaterabend der Berliner Schaubühne mit einer Inszenierung der Komödie von Peter Stein im CCC-Film-Studio in Spandau. Hätte Peter Zadek vielleicht den Kindergeburtstag inszeniert, so fuhr in Peter Steins Inszenierung zum Finale ein Hochzeitswagen mit Gott Hymen in klassischer Tracht in die grandiose Waldkulisse. Wie in Shakespeares Angabe traten Rosalinde und Celia Hand in Hand in prächtigen Frauenkleidern auf. Alle anderen Mitspieler traten paarweise hinzu und vertauschten ihre Wald- und Schäferkostümierung in höfische Kleidung. Gott Hymens Hymnus fällt, so vorbereitet, entsprechend glanzvoll und feierlich aus. Unter sanfter Musik spricht der Hochzeitsgott: Hymen Der ganze Himmel freut sich, Wenn ird’scher Dinge Streit sich In Frieden endet. Nimm deine Tochter, Vater, Die Hymen, ihr Berather, Vom Himmel sendet; Daß du sie gebst in dessen Hand, Dem Herz in Herz sie schon verband. (V,4)

Mit diesem Segen ist die Not der Figuren beendet. Rosalinde und der Vater erkennen sich, Orlando sieht seinen Ganymed in eine wunderschöne junge Frau verwandelt. Die Schäferin Phöbe muss mit Silvius vorliebnehmen, wie sie zugesagt hat. Der geflügelte schöne Jüngling, der eine Hochzeitsfackel und einen safrangelben Schleier trägt und mit einem Kranz aus Blumen auf seinem Haupt geschmückt ist, fügt nun die Paare definitiv zueinander. Hymen Acht müssen Hand in Hand Hier knüpfen Hymens Band, Wenn nicht die Wahrheit lügt. (Zu Orlando und Rosalinde) Euch und euch trennt nie ein Leiden; (Zu Oliver und Celia) Euch und euch kann Tod nur scheiden;

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(Zu Phöbe) Ihr müßt seine Lieb’ erkennen, Od’r ein Weib Gemahl benennen. (Zu Probstein und Käthchen) Ihr und ihr seid euch gewiß Wie der Nacht die Finsterniß. (V,4)

Gegen alle heutige Skepsis behauptet Shakespeare das Sehnsuchtsziel des Stücks: Liebe wandelt sich in sakramentale Ehe, und der Wald verblasst zu utopischem Vorschein auf eine runderneuerte Hofgesellschaft. Die Komödie feiert keine gesellschaftliche Umwälzung, sondern sie ist restaurativ und poliert die alten Muster als neue Standesideale auf. Allgemeine Vermählung und Rückkehr an den Hof werden zu einem Vorgang, denn Shakespeare hat auch das Problem mit Celias bösem Vater gelöst. Auch der wird schnell und mit Barmherzigkeit von Autors Gnaden auf dem Weg in den Ardennerwald von einem heiligen Eremiten zu frommem Leben bekehrt. Er tut Buße und zieht sich zugunsten seines Bruders in die grüne Einsamkeit zurück. Nicht Bertolt Brecht hat den reitenden Boten als Zaubermittel für schnelle Lösungen im Theater erfunden, der Trick ist schon altbekannt. Shakespeare schickt den mittleren der drei Brüder, den wir bisher vermisst haben, ins Rennen. Jakob de Boys tritt auf und verkündet die Bekehrung und die Wiedereinsetzung der alten Herzogsmacht. Jaques de Boys Die Herrschaft läßt er dem vertriebnen Bruder, Und die mit ihm Verbannten stellt er her In alle ihre Güter. Daß dieß Wahrheit, Verbürg’ ich mit dem Leben. (V,4)

Bei diesem wunderbaren Hochzeitsgeschenk, der Rückgabe des Landes an den Brautvater und der gestohlenen Ländereien an den Bräutigam, darf der „reitende Bote“ natürlich mitfeiern. Einer tanzt wie fast immer bei Shakespeare aus der Reihe: Jacques, der philosophische Tischprediger. Er will mit dem neubekehrten Herzog in seiner Höhle im Wald verbleiben. Wie das zu deuten ist, bleibt immer ein Geheimnis, ein Zweifel im Glaubensbekenntnis von der Vollkommenheit der irdischen Dinge im utopischen happy end. Dass die Rückkehr aus der Hosenrolle in Frauenkleider von Shakespeare garantiert nicht als trauriger Verlust ansatzweise

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emanzipativer Frauenpower gedacht ist, zeigt Rosalindes Epilog. Er mag zu Shakespeares Zeit von einem Knabenschauspieler gespielt worden sein – zu denen ist reichlich geschrieben worden, aber queer oder nicht queer, ist hier nicht die Frage –, für uns ist Rosalinde seit Jahrhunderten eine Frau, eine Traumfrau sogar, und folglich muss nicht jeder Mythos als Travestie erklärt und als ein Käfig voller Tunten inszeniert werden. Rosalindes Text ist eine so schöne Liebeserklärung an das Wunder der Liebe und Ehe, dass ihr Epilog eigentlich die chronologische Reihe sprengt. Man darf ihn durchaus als Epilog für dieses Buch im Speziellen über „Shakespeares Mädchen und Frauen“ lesen. Rosalinde Es ist nicht hergebracht, die Frau als Epilog zu sehen; aber es ist nicht unziemlicher, als den Herrn als Prolog zu erblicken. Ist es wahr, daß der „gute Wein keines Kranzes bedarf “, so ist es auch wahr, daß ein gutes Stück keinen Epilog nötig hat; doch braucht man beim guten Wein gute Kränze, und gute Stücke werden durch gute Epiloge nur um so besser. In welcher Lage bin ich denn nun, da ich weder ein guter Epilog bin, noch auch wegen eines guten Stückes angenehm sein kann? Ich bin nicht wie ein Bettler gekleidet, darum würde mir Betteln nicht geziemen; was mir übrig bleibt, ist, zu beschwören, und ich will mit den Frauen den Anfang machen. Ich beschwöre euch, o ihr Frauen, bei der Liebe, die ihr zu den Männern tragt, laßt euch von dem Stück so viel gefallen, als diese billigen; und ich beschwöre euch, o ihr Männer, bei der Liebe, die ihr zu den Frauen tragt (und euer freundlich Gesicht sagt mir, keiner von euch haßt sie), daß, zwischen euch und den Frauen getheilt, das Stück gefallen möge. Wäre ich eine Frau, so wollte ich so viele von euch küssen, als Bärte hätten, die mir gefielen, Gesichter, die mir anständen, und einen Athem, der mir nicht zuwider wäre; und ich bin gewiß, alle, die gute Bärte, Antlitze und angenehmen Athem haben, werden für mein freundliches Anerbieten, indem ich meine Verbeugung mache, mir Lebewohl sagen. (sie geht ab)

Wir sagen indirekt Lebewohl und Amen und enden den Epilog, indem wir der mitspielenden Regisseurin freudig antworten: „Wie es Rosalinde gefällt“. deutsche Übersetzung: August Wilhelm von Schlegel

Rosalinde • 399 1) Friedrich Bodenstedt, S. 277/78 2) Frank Günther, Bd. 12. S. 261

zu Wie es euch gefällt, Akt 1, Szene 2

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Ophelia

Hamlet, Prinz von Dänemark (1600 / 1601)

designed by John Bostock and engraved by W.J. Edwards

402 • Ophelia

Ophelia • 403

Der Stahlstich der mit Kräutern und Blumen geschmückten Ophelia aus Charles Heaths „Shakespeare Gallery“1 von 1836/1837 wirkt gegenüber späteren künstlerischen Gestaltungen eher ein wenig blass und brav. Unter dem Stichwort „phantastisch mit Kräutern und Blumen geschmückt“ präsentierten jüngere Maler üppigere Arrangements, und besonders der Wasserleiche des unglücklichen Mädchens galt präraffaelitische und symbolistische Aufmerksamkeit. Das Bild der unschuldigen Geliebten des dänischen Prinzen Hamlet ist dem kollektiven Gedächtnis im Laufe der Geschichte eher eine blumen- und wasserfarbene Ikone geworden, während der Prinz von allem Anfang bis heute als ein Kultbild in melancholischem Schwarz vors Auge des Betrachters, des Lesers und des Zuschauers trat und tritt. Selbst am Ende dieser gut 400-jährigen Kette dominiert in der mittlerweile Kultstatus habenden Inszenierung der Berliner Schaubühne von Thomas Ostermeier mit Lars Eidinger in der Titelrolle ein sattes Schwarz in Kostüm und Szene. Es hat sich viel in Auffassung und Deutung und in den szenischen Mitteln des berühmtesten Stücks von Shakespeare geändert, die Grundfarbe ist gleich geblieben. In das symbolische Dunkel – in eins der vielen unspezifischen Zimmer des Schlosses im 4. Akt – treten zunächst die Königin und Horatio, Hamlets Freund. Er drängt darauf, Ophelia zu empfangen. Die Königin hat aber keine Lust auf ein Gespräch mit ihr. Sie weiß recht genau warum, aber das kann Horatio (noch) nicht wissen. Er macht Andeutungen über ihren Geisteszustand. Was ihm unverständlich ist, verwundert die Königin nicht im Geringsten. Sie hat Ophelia zuletzt bei der abendlichen Theateraufführung gesehen. Da war sie noch höchst zurechnungsfähig. Aber in kurzer Zeit ist viel geschehen. Ihr Vater Polonius wurde in selbiger Nacht in ihrem Zimmer von Hamlet erstochen. Den hat der König als gemeingefährlich sofort nach England verbannt, wo er heimlicherweise ermordet werden soll. Die Zeit ist ein sonderbar Ding, und rasend

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schnell erfährt Laertes, der Bruder Ophelias, der in Paris studiert, vom Tod seines Vaters. Er ist in Windeseile von Frankreich in Helsingör zurück, und auch Hamlet kehrt nach knappen zwei Tagen auf See England schon wieder den Rücken Richtung dänische Heimat. Davon weiß auch die Königin (noch) nichts. Aber ihr ist klar, dass gleichsam über Nacht bei Ophelia aus einer schleichenden Vorphase mit besonderer emotionaler Empfindlichkeit, erhöhter Anspannung und bei großen Stimmungsschwankungen ein akuter Ausbruch einer Psychose geworden ist. Das würde sie natürlich anders formulieren, aber das Problem ist ihr klar, und deshalb fühlt sie sich dem Mädchen gegenüber dann doch irgendwie verantwortlich. Horatio darf sie vorlassen. Aus dem symbolischen Dunkel tritt ein vielleicht weiß kostümiertes Mädchen und singt; es singt Lieder, die die Königin kennt, die sie aber bestürzt machen. Ophelia (singt) Wie erkenn’ ich dein Treu-lieb Vor den Andern nun? (IV,5)

Sie singt von Liebe und Untreue, auch von Verzweiflung und Tod. Ophelia (singt) Er ist lange todt und hin, Todt und hin, Fräulein! Ihm zu Häupten ein Rasen grün, Ihm zu Fuß ein Stein. (IV,5)

Schnell wird klar, dass die Halluzinationen, Wahnvorstellungen und Denkstörungen des Mädchens keiner erkennbaren Logik entspringen. Zwar bewegen sich die Liedfetzen, die ihr Shakespeare in den Mund legt, assoziativ entlang ihrer erlittenen Unbill – die Ermordung des Vaters durch den Geliebten ist ja auch ein ungeheurer Liebesverrat –, aber sie liefern nichts Greifbares: nur Klage, keine Anklage. Der König, der dazukommt, sieht das ziemlich nüchtern und unberührt. Trotzdem schickt er Horatio zu ihrer Bewachung hinterher, nachdem sie wahnwandlerisch abgegangen ist. Was ihm Sorgen macht, ist die heimliche Rückkehr des Bruders aus Frankreich. Er hat soeben davon erfahren. Laertes hat mit dem Tod des Vaters und der Wahnsinnigen nun doppelte Gründe für Anklage, Rechenschaftsforderung und gegebenenfalls für Aufruhr. Kaum hat der König der mitfühlenden Königin diese Konsequenzen klar gemacht, steht Laertes auch schon im Dunkel des Zimmers,

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das seine Leute besetzt halten. Aber anders als mit einer Wahnsinnigen kann man mit ihm vernünftig reden. Anders als das Mädchen ist er des geschwätzigen Vaters echter Sohn, und schnell hat er Laertes auf seiner Seite. Sein Feind ist auch Laertes Feind und heißt Hamlet. Er ist der Mörder seines Vaters. Da kommt ihm die fast schon vergessene Ophelia in die Quere. Von deren Wahnsinn weiß Laertes noch nichts, und ihr neuerlicher Auftritt kommt für den König gelegen und auch ungelegen in diesem Augenblick. „Laßt sie hinein!“, schreien die Besetzer hinter der Szene. Und jetzt tritt Ophelia blumenbunt geschmückt und mit Kräutern geziert ins Zimmer. Es bedarf keiner Worte, der bloße Anblick der Schwester verursacht ihm Jammer und Entsetzen, und Rache ist sein erster Gedanke. (Ophelia kommt, phantastisch mit Kräutern und Blumen geschmückt.) Laertes

O Hitze, trockne Mein Hirn auf! Thränen, siebenfach gesalzen, Brennt meiner Augen Kraft und Tugend aus! – Bei Gott! dein Wahnsinn soll bezahlt uns werden Nach dem Gewicht, bis unsre Wagschal’ sinkt. O Maienrose! süßes Kind! Ophelia! Geliebte Schwester! – Himmel, kann es seyn, Daß eines jungen Mädchens Witz so sterblich Als eines alten Mannes Leben ist? Natur ist fein im Lieben; wo sie fein ist, Da sendet sie ein kostbar Pfand von sich Dem, was sie liebet, nach. Ophelia (singt) Sie trugen ihn auf der Bahre bloß, Leider! ach leider! Und manche Thrän’ fiel in Grabes Schooß – Fahr’ wohl, meine Taube! Laertes Hätt’st du Vernunft, und mahntest uns zur Rache, Es könnte so nicht rühren. Ophelia Ihr müßt singen: „’Nunter, hinunter! und ruft ihr ihn ’nunter.“ O wie das Rad dazu klingt! Es ist der falsche Verwalter, der seines Herrn Tochter stahl.

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Laertes Dieß Nichts ist mehr als Etwas. Ophelia Da ist Vergißmeinnicht, das ist zum Andenken; ich bitte euch, liebes Herz, gedenkt meiner! und da ist Rosmarin, das ist für die Treue. Laertes Ein Sinnspruch im Wahnsinn: Treue und Andenken bezeichnet. Ophelia Da ist Fenchel für euch und Agley – da ist Raute für euch, und hier ist welche für mich – ihr könnt eure Raute mit einem Abzeichen tragen. – Da ist Maaßlieb – ich wollte euch ein paar Veilchen geben, aber sie welkten alle, da mein Vater starb. – Sie sagen, er nahm ein gutes Ende. – (IV,5)

Ophelia hat nicht viele Auftritte, aber die beiden Auftritte in der fünften Szene des vierten Akts haben bei allem Elend einen Zauber, der ihrem Wahnsinn innewohnt. Er ist echt, weil sie im Gegensatz zu Hamlet tatsächlich verrückt ist. Sie schauspielert nicht wie dieser, obwohl es einer guten Schauspielerin bedarf, um mit unverkünsteltem Wahnsinn zu überwältigen. Auch Laertes, den sie nicht mehr erkennt, ist überwältigt: eine Frage, ein Ausruf. Laertes Seht ihr das? o Gott! (IV,5)

Genau das hatte der König befürchtet, aber den gedoppelten Geist der Rebellion kann er erstaunlich leicht in eine Intrige zu seinen Gunsten umleiten. Rache sieht nicht nur rot, sondern sie ist auch eitel. Eben bringt ein Bote die Nachricht, dass Hamlet, vor dem der König mittlerweile wirklich Angst hat, wieder zurück ist. Sofort ist eine Idee geboren. König Zu deinem Frieden. Ist er heimgekehrt, […] so beweg’ ich ihn Zu einem Probstück, reif in meinem Sinn, Wobei sein Fall gewiß ist; und es soll Um seinen Tod kein Lüftchen Tadel wehn. Selbst seine Mutter spreche los die List, Und nenne Zufall sie. (IV,7)

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Das „Probstück“ soll eine sportliche Wette auf ein Duell sein. Hamlet sei doch träge und fett geworden und er, Laertes, sei ihm haushoch überlegen. Für den Fall aller Fälle solle er dabei heimlich eine scharfe und vergiftete Waffe benutzen und ein vergifteter Kelch solle auch noch bereit stehen. Man könne ihn Hamlet in der Hitze des Gefechts zum Trinken reichen. Laertes ist einverstanden, da kommt die Königin mit einer Hiobsbotschaft. Sie vermeldet kurz und trocken: Königin Laertes, eure Schwester ist ertrunken. (IV,7)

Schon wieder die Schwester! Nicht die Nachricht, sondern die Wirkung dieser Nachricht auf Laertes beschäftigt den König. Er behält ihn fest im Auge, währenddessen die Königin einen Augenzeugenbericht gibt, der keiner ist, sondern eine poetische Überhöhung von Ophelias tragischem Schicksal. Auch hier ist die Blumenrede der Königin wie Ophelias eigene rätselhafte Blumenrede beim Empfang des Bruders eine symbolische Rede, ein sprachliches Zierstück, das aber keinesfalls von einem Freitod, sondern klar von einem Unfall spricht. Königin Es neigt ein Weidenbaum sich übern Bach, Und zeigt im klaren Strom sein graues Laub, Mit welchem sie phantastisch Kränze wand Von Hahnfuß, Nesseln, Maaßlieb, Kuckucksblumen, Dort, als sie aufklomm, um ihr Laubgewinde An den gesenkten Ästen aufzuhängen, Zerbrach ein falscher Zweig, und nieder fielen Die rankenden Trophäen und sie selbst Ins weinende Gewässer. Ihre Kleider Verbreiteten sich weit und trugen sie Sirenen gleich ein Weilchen noch empor, Indeß sie Stellen alter Weisen sang, Als ob sie nicht die eigne Noth begriffe, Wie ein Geschöpf, geboren und begabt Für dieses Element. Doch lange währt’ es nicht, Bis ihre Kleider, die sich schwer getrunken, Das arme Kind von ihren Melodien Hinunterzogen in den schlamm’gen Tod. (IV,7)

Selbst im Tode sang sie „alte Weisen“, und die sind das Charakteristikum ihres Wahnsinns. Auffällig ist ihre fragmentierte Sprache, die

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Abb. 15: John Everett Millais (1829–1896): Ophelia

Abb. 16: Henri Gervex (1852–1929): Nellie Melba als Ophelia

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Abb. 17: Nellie Melba als Ophelia in „Hamlet» von Ambroise Thomas, ca. 1889–1890 - photographer Benque, Paris

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keine eigenen Worte mehr findet, sondern sich nur noch in poetischen und musikalischen Bezügen ausdrückt. In Klängen macht sie sich zum seligen Bild voller Verklärung, zum rührenden Bild der Unschuld, die Hamlets Obszönitäten unberührt lassen. Diese musikalische Komponente mag den Komponisten Ambroise Thomas nicht zuletzt zur Veroperung von Shakespeares „Hamlet“ gereizt haben. Er machte aus ihrem Tod eine eindrucksvolle Szene: „Die Frühlingsfeier“ mit einer großen Bravourarie, in der er den Bericht der Königin als Handlung auf die Bühne holte. Christine Nilsson, später die Blaupause für Christine Daaé im Roman und Musical „Phantom der Oper“, sang 1868 bei der Uraufführung die Ophélie. Ihre jüngere Kollegin, die nicht minder berühmte Nellie Melba, ließ dann in dieser Rolle gerne Bildpostkarten von sich verteilen und sich von dem Pariser Salonmaler Henri Gervex auch in symbolistischer Manier auf die Leinwand zaubern. Mit dem Bericht der Königin vom Tod Ophelias verschwindet das engelhafte Wesen keineswegs von der Bühne. Noch ein weiteres Mal tritt sie gegen die schwarze Szenerie des Stücks mit Blumen gegen eine blumenlose Männerwelt an. Die Szene ist ein Friedhof und die Protagonisten zwei Totengräber mit Hacken und Schaufeln. Selbst wenn man aus ihnen zwei Narren bzw. Clowns macht, die sich über die Frage Selbstmord hin, Unfalltod her streiten, schafft ihre Arbeit keine wirklich „lustige“ Stimmung. Die Späße bleiben im Halse stecken, und was aus der Tiefe kommt, sind Knochen, Schädel und schwarze Erde. Das macht die beiden Zuschauer der Totengräber, Horatio und Hamlet, doch einigermaßen melancholisch. Sie kommen ins Philosophieren über den Schädel des Spaßmachers Yorick, den der pietätlose singende Flegel eben aus der Erde schaufelt. Die Reflexionen werden zu Sarkasmen über Cäsar und Alexander den Großen. Es riecht hier ziemlich bestialisch, und dieser Gestank kommt nicht daher, dass im Staate Dänemark etwas faul ist. Dort stinkt es nur im übertragenen Sinne. Der Hofstaat, der jetzt mit einem Priester vorne dran in einer Prozession kommt, führt ein Skandalstück mit sich: die Leiche der Ophelia. Ob im offenen oder geschlossenen Sarg, der versteckt beobachtende Prinz Hamlet erkennt sehr schnell, dass der Leiche die vollgültigen Zeremonien verweigert werden und vor allem wer das war, was da im Sarg liegt: Ophelia, seine Geliebte. Der Priester verkündet gut vernehmbar, dass ihr Tod zweifelhaft war und dass die

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Trauernden froh sein sollten, dass nicht wie es der Brauch war Kieselsteine und Tonscherben auf sie geworfen werden, sondern dass man ihr einen Mädchenkranz und „jungfräuliche Blumen“ erlaubt habe. Laertes gibt das Kommando und die Königin folgt ihm. Laertes Legt sie in den Grund, Und ihrer schönen, unbefleckten Hülle Entsprießen Veilchen! – (V,1) Königin (Blumen streuend) Der Süßen Süßes: Lebe wohl! – Ich hoffte, Du solltest meines Hamlets Gattin seyn. Dein Brautbett, dacht’ ich, süßes Kind, zu schmücken, Nicht zu bestreun dein Grab. (V,1)

Was im Anschluss an diese Brautrede der Königin erfolgt, ist ungeheuerlich. Über Ophelias stumme Anmut in ihrer tragischen Brautschaft geraten die Männer in einen wilden Streit. Hassenswert ihr Grübeln und Philosophieren, noch hassenswerter ihr Wutgebrüll und Rachegeschrei, ihre Aufschneidereien und ihr Säbelrasseln. Einfach widerlich! Laertes Oh, dreifach Wehe Treff ’ zehnmal dreifach das verfluchte Haupt, Deß Unthat deiner sinnigen Vernunft Dich hat beraubt! – Laßt noch die Erde weg, Bis ich sie nochmals in die Arme fasse. (springt in das Grab) […] Hamlet (hervortretend) Wer ist der, des Gram So voll Emphase tönt? Deß Spruch des Wehes Der Sterne Lauf beschwört und macht sie stillstehn Wie schreckbefangne Hörer? – Dieß bin ich, Hamlet der Däne! (springt in das Grab) (V,1)

Der König schreit zwar, sie auseinander zu reißen, so dass es im Grab eine ziemliche Keilerei gibt, aber als Hamlet endlich aus der Grube kommt, schreit er: Hamlet Ja, diese Sache fecht’ ich aus mit ihm, So lang’ bis meine Augenlieder sinken. (V,1)

Damit ist der geplante Wettkampf schon ausgemachte Sache, bevor

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der König auch nur ein Wort bemühen muss. In Sachen seiner Liebe – um den toten Polonius geht es schon lange nicht mehr – lässt er sich nicht lumpen und haut derart auf den Putz, dass der König leichtes Spiel hat, ihn für verrückt zu erklären. Hamlet Ich liebt’ Ophelien: vierzigtausend Brüder Mit ihrem ganzen Maaß von Liebe hätten Nicht meine Summ’ erreicht. – Was willst du für sie thun? König Er ist verrückt, Laertes. (V,1)

Hamlet macht noch eine Weile so weiter, indem er den Verrückten und Prahlhans spielt; er gibt damit auch der Königin Gelegenheit, ihren Sohn ob der völlig ins Absurde entglittenen Beerdigung für verrückt zu erklären. Königin Dieß ist bloß Wahnsinn; So tobt der Anfall eine Weil’ in ihm, Doch gleich, geduldig wie das Taubenweibchen, Wann sie ihr goldnes Paar hat ausgebrütet, Senkt seine Ruh die Flügel. (V,1)

„Schierer“, „bloßer“ oder „nackter“ Wahnsinn, wie auch immer man diese aus den Fugen geratene Welt ins Bild bringen will, der Zerfall des Staates Dänemark ist unaufhaltsam. Ihre Protagonisten – alle, bis auf einen: Horatio – haben ihr gewaltig Teil am Untergang. Der Plan ist schon skizziert, und der König und Laertes glauben sich auf der sicheren Seite. Fragen, ob Hamlet Ophelia bei seiner Protzerei je geliebt hat, können in dieser Situation gar nicht mehr mit klarem Kopf gestellt werden; sie erscheinen nebensächlich, wiewohl sie vermutlich den schmerzlich verlorenen Mittelpunkt des Katastrophenfalls betreffen. König Laertes, unser gestriges Gespräch Muß die Geduld euch stärken. – Gute Gertrud Setzt eine Wache über euren Sohn. Dies Grab soll ein lebendig Denkmal haben. (V,1)

Wie und womit auch immer der König Ophelias Grabmal gestaltet sieht – seine Vorstellung ist geheimnisvoll –, es wird ein Massengrab. Wir wissen das deshalb, weil wir das Stück schon immer gesehen haben. Es läuft in einer Endlosschleife. Und die geht so.

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Die Bedingungen des Duells sind klar. Alle finden sich nach und nach zu einem Fest in einem Saal des Schlosses ein. Hamlet erzählt Horatio noch schnell und ungerührt die Geschichte, wie er den Tod von Rosenkranz und Güldenstern inszeniert hat. Dann kommt ein dümmlicher, hochgedienter Edelmann, dem er mit ebensolcher als Wahnsinn verkleideter Dümmlichkeit begegnet. Die Bedingungen für den sportlichen Waffengang sind umständlich abgeklärt; der König, die Königin, Laertes und jede Menge Höflinge treten in feierlichem Zeremoniell auf. Der König legt die Hände der Duellanten als Geste der Versöhnung ineinander. Wir wissen aber, wie heimtückisch der Ablaufplan ist. Sie wählen die Rapiere, man bringt den Wein, der König trinkt auf Hamlet und schon ist der erste Gang vorbei. Osrick Getroffen, offenbar getroffen! (V,2)

Der König wirft seine versprochene Perle in den Kelch – wahrscheinlich giftgrün –, aber Hamlet will erst nach dem nächsten Gang trinken. Wieder ist das Glück auf seiner Seite, und die Königin gibt ihrem Sohn ein Taschentuch und macht etwas, was nicht vorgesehen war. Sie trinkt auf Hamlets Glück. Der König kann es nicht mehr hindern und hält sich bedeckt. Beim dritten Gang gibt es ein Unentschieden. Jetzt packt den Favoriten Laertes die Wut; er verwundet Hamlet und wechselt in der Hitze die Rapiere. Der König ganz Auge und Ohr befiehlt die beiden, die jetzt plötzlich ernst machen wollen, zu trennen. Und schon ist es passiert; Hamlet verwundet Laertes mit dem vergifteten Rapier, die Königin sinkt von ihrem Stuhl. Kurzer Tumult: wer, wo, was? Königin O lieber Hamlet! Der Trank, der Trank! – Ich bin vergiftet. (sie stirbt) (V,2)

Hamlet schreit, die Türen zu schließen. Keiner soll entkommen. Da fällt ihm Laertes zu Füssen; schnelles Geständnis seiner Heimtücke und Anklage gegen den König als dem Erfinder des Komplotts. Laertes Ich kann nicht mehr – des Königs Schuld, des Königs! (V,2)

Hamlet ist noch klar im Kopf und tut augenblicklich das, was er fünf Akte lang nicht geschafft hat: Er ersticht den König. (V,2) Und als dieser noch einmal aufzuckt, zwingt er ihn, den Kelch auszutrinken.

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Hamlet Hier, mördrischer, blutschändrischer, verruchte Däne! Trink diesen Trank aus! – Ist die Perle hier? Folg’ meiner Mutter! (er stirbt) (V,2)

Ist das, so der erregte Betrachter, nun endlich die vollbrachte Heldentat des edlen Prinzen, die alle Welt, um ihn lieben zu können, von ihm erwartet (hat)? Wir kommen noch darauf zu sprechen. – Hamlet seinerseits, wohl wissend, dass auch sein Leben zu Neige geht, gibt seinem Freund Horatio einen überraschenden Auftrag. Hamlet

Horatio, ich bin hin; Du lebst: erkläre mich und meine Sache Den Unbefriedigten! (V,2)

Wer sollen die Wissenwollenden sein? Lass die Römerflausen, lieber Horatio, gib mir den Kelch, und versuche meinen beschmutzten Namen, so gut es eben geht, der Zukunft zu erklären. Hamlet Wenn du mich je in deinem Herzen trugst, Verbanne noch dich von der Seligkeit, Und athm’ in dieser herben Welt mit Müh, Um mein Geschick zu melden! – (V,2)

Die Zukunft steht schon vor der Tür. Hamlet übergibt sein dänisches Haus an den jungen Fortinbras aus Norwegen und stirbt mit den sprichwörtlich gewordenen Worten: Hamlet Der Rest ist Schweigen. (er stirbt) (V,2)

Sein Haus ist leergeräumt. Seine Schuld schreit über Ophelias frischem Grab zum Himmel. Nach dem Tod der Königin, nach dem Tod von Laertes, dem des Königs und Hamlets Tod und dem Kollateralschaden Rosenkranz und Güldenstern zieht Fortinbras in die schaurigen Gemächer ein. Sein Blick fällt auf ein Gemetzel, das Mord schreit. Die Leichenstrecke ist entsetzlich, und endlich tritt der bisher relativ stille Beobachter der alten hässlichen Geschichte als Regisseur und Erzähler in den Vordergrund. Er bittet, die Leichen „hoch auf einer Bühne“ auszustellen, Horatio Und laßt der Welt, die noch nicht weiß, mich sagen, Wie alles dieß geschah; so sollt ihr hören

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Von Thaten, fleischlich, blutig, unnatürlich, Zufälligen Gerichten, blindem Mord; Von Toden, durch Gewalt und List bewirkt, Und Planen, die verfehlt zurückgefallen Auf der Erfinder Haupt: dieß alles kann ich Mit Wahrheit melden. Fortinbras Eilen wir zu hören, Und ruft die Edelsten zu der Versammlung. (V,2)

Das Stichwort Liebe kommt in der Aufzählung für die Nacherzählung der Geschichte von Hamlet nicht vor. Liebe hat keine Funktion, wohl aber Unzucht. Ophelia ist Dekoration. Bevor Horatio mit seiner Geschichte zu den wesentlichen Punkten beginnen kann, muss noch eine Art Zapfenstreich her, ein Totenmarsch als Epilog und eine Artilleriesalve, die den Prolog zu Horatios Geschichte bildet, die genau so geht, wie sie Shakespeare geschrieben hat: „Hamlet, Prinz von Dänemark“. Diese Geschichte hat kein lineares Zeitmuster, sondern kreist befangen in einem zyklischen Zeitverständnis. Manche erklären es als Rad der Fortuna. Ausgerechnet der Rationalist, auch der Skeptiker des Stücks, wird mit der Erzählung vom mythischen Kreislauf von Schuld und Rache beauftragt. Jede Aufführung des „Hamlet“ könnte mit diesem Ende in den Abend einsteigen. Horatio spielt den Erzähler; er war von Anfang an auf der Burgterrasse mit dabei. *** Dort beginnt die Haupterzählung von Prinz Hamlets Rache. Die seltsame Erscheinung, „das Ding / this thing“ ist wieder erschienen, und die Kollegen von der Wache bitten Horatio zu ihm zu sprechen. Du bist doch „gelehrt“, ein „Studierter“! Aber das stumme Wesen will nicht mit ihm sprechen. Horatio ist skeptisch und man beschließt, den jungen Hamlet ins Benehmen zu setzten. Vielleicht wird das „Ding“ mit ihm reden. Hamlet ist von Wittenberg zurückgekehrt, wo er studiert. Aber zur Beerdigung seines Vaters kam er reichlich zu spät, etwa zwei Monate, und die schnelle Hochzeit seiner Mutter mit seinem Onkel, dem Bruder seines Vaters, irritiert ihn doch sehr. Er geht trotz Hochzeitsjubel noch in Trauerkleidern, aber die sind nicht nur dem Tod des Vaters geschuldet, sondern auch seiner Gemütsverfassung.

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Die ist nach der Mode der Zeit auf Melancholie verpflichtet. Schwarzer Ernst des Lebens, Existentialismus avant la lettre, scheint sein Charakter zu sein und altersmäßig müsste er (schon) zwischen 25 und 30 Jahre alt sein. Räsonierend steht er nach der Audienz beim Königspaar im leeren Staatszimmer des Schlosses, und seine Gedanken kreisen um Selbstmord und Depression ob der Mutter in blutschänderischem Bett. Wie so oft in den in Familiengeschichten wütenden Stücken Shakespeares fädeln sich Gedanken und Vermutungen zu Gewissheiten, die Horatios Meldung von der Erscheinung auf der Schlossterrasse zu bestätigen scheint. Der Sohn des Oberkämmerers bzw. Staatsrats Polonius, Laertes, und seine Schwester verabschieden sich. Laertes geht nach Paris zum Studium und gibt – apropos: da wir gerade davon sprechen – seiner jüngeren Schwester noch ein paar kostenlose Ratschläge was Hamlets „Liebsgetändel“ betrifft. Aber hallo, die sind von so altbackener Art, dass man ihm seine Sohnschaft vom trockenen Polonius sofort glaubt. Wieviel und wie ernst die Geschichte ist, erfahren wir nicht, nur gouvernantenhafte Fingerzeige. Laertes Bedenk’, was deine Ehre leiden kann, Wenn du zu gläubig seinem Liede lauschest, Dein Herz verlierst, und deinen keuschen Schatz Vor seinem ungestümen Dringen öffnest. (I,3)

Seine Rede ist ziemlich lang und die Regie darf gerne ein wenig kürzen. Der Hinweis auf Hamlets Lieder ist aber schön, denn Hamlet ist kein großer Sänger vor dem Herrn. Das erfahren wir ziemlich bald. Nun kommt Polonius und gibt seinerseits seinem Sohn zum Abschied altbackene Lebensregeln an die Hand. (Auch diese lange Rede kann ein wenig gekürzt werden.) Kaum ist Laertes Richtung Paris abgegangen, möchte der neugierige Vater wissen, wovon zwischen Bruder und Schwester die Rede war. Des Vaters brave Tochter bekennt offen, dass Hamlet der Gegenstand des Gesprächs war. Und schon gibt es wieder Beherzigungen über angemessenes Verhalten im Falle von Vertraulichkeiten. Keine Angst, lieber Vater, sagt die züchtige Tochter. Ophelia Er hat mit seiner Lieb’ in mich gedrungen, In aller Ehr’ und Sitte. (I,3)

Wir glauben ihr das aufs Wort, der misstrauische Vater nicht. Wir

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glauben aber auch, dass die wechselseitige Neigung nicht übermäßig tief gewesen ist. Nochmals folgen lange Belehrungen, und dann kommt ein klares Verbot. Polonius Eins für Alles: Ihr sollt mir, grad’ heraus, von heute an Die Muße keines Augenblicks so schmähn, Daß ihr Gespräche mit Prinz Hamlet pflöget. Seht zu, ich sags euch; geht nun eures Weges! Ophelia Ich will gehorchen, Herr. (ab) (I,3)

Wenn andere Mädchen Shakespeares angesichts solcher Väter auf andere Gedanken kommen – Entführung, Flucht etc. –, Ophelia bleibt gehorsam, sittsam und brav. Sie denkt nicht auf Abwegen. Hamlet entwickelt ohnehin eine ganz andere Obsession. Die gespenstische Begegnung und das Gespräch mit seinem toten Vater auf der Terrasse sind diesbezüglich von durchschlagendem Erfolg. Liebe hat der Mann nicht mehr im Sinn, nur auf Rache ist sein Denken fixiert. Die Liebe seiner Mutter beziehungsweise ihre sexuellen Begehrlichkeiten beschäftigen ihn weit mehr als die Liebe zu Ophelia. Ab jetzt, so sein Vorsatz, spielt er für alle Welt den Verrückten. Die Freunde auf der Terrasse werden darauf eingeschworen. Hamlet Doch kommt! […] schwört mir, so Gott euch helfe, Wie fremd und seltsam ich mich nehmen mag, Da mirs vielleicht in Zukunft dienlich scheint, Ein wunderliches Wesen anzulegen: (I,5)

Shakespeare mutet uns im Übergang zum zweiten Akt einen nicht unerheblichen Zeitsprung zu. Hamlet scheint an seiner Obsession bzw. an seiner Verrücktheit zu arbeiten und scheinbar macht er bei Ophelia eine Generalprobe. Die hat brav alle Briefe und Besuche abgewiesen, aber plötzlich steht Hamlet in ihrem Zimmer. Aufgeregt berichtet sie dem Vater von seinem Besuch. Ophelia Als ich in meinem Zimmer näht’, auf einmal Prinz Hamlet – mit ganz aufgerißnem Wams, Kein Hut auf seinem Kopf, die Strümpfe schmutzig Und losgebunden auf den Knöcheln hängend; Bleich wie sein Hemde, schlotternd mit den Knie’n; Mit einem Blick, von Jammer so erfüllt,

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Als wär’ er aus der Hölle losgelassen, Um Greuel kund zu thun – so tritt er vor mich. Polonius Verrückt aus Liebe? (II,1)

Ein gelungener Auftritt als Liebhaber war das nicht. Aber für Polonius ist der Fall klar. Polonius

Gehn wir zum König, komm. Er muß dieß wissen: denn es zu verstecken, Brächt’ uns mehr Gram, als Haß, die Lieb’ entdecken. (II,1)

Es war nicht schön von Prinz Hamlet, das Mädchen so zu erschrecken, vor allem weil der Sinn der grausamen Übung nicht so recht verständlich ist. Aber vermutlich muss der Ruf einer gewissen Verrücktheit glaubwürdig erarbeitet werden. Der König hat auch schon von der „Verwandlung“ gehört, und die Königin vermutet nicht ganz zu Unrecht einen Grund in ihrer beider hastigen Heirat. Polonius ist aber felsenfest von seiner Annahme überzeugt, dass es sich um Liebestollheit handelt. Zum Beweis legt er ein Briefchen an Ophelia vor. Polonius (liest) „An die himmlische und den Abgott meiner Seele, die liebreizende Ophelia“ – Das ist eine schlechte Redensart, eine gemeine Redensart; liebreizend ist eine gemeine Redensart. Aber hört nur weiter: „An ihren trefflichen zarten Busen diese Zeilen“ usw. […] „Zweifle an der Sonne Klarheit, Zweifle an der Sterne Licht, Zweifl’, ob lügen kann die Wahrheit, Nur an meiner Liebe nicht.“ „O liebe Ophelia, es gelingt mir schlecht mit dem Silbenmaaße; ich besitze die Kunst nicht, meine Seufzer zu messen, aber daß ich dich bestens liebe, o Allerbeste, das glaube mir! Leb wohl! Der Deinige auf ewig, theuerstes Fräulein, so lange diese Maschine ihm zugehört, Hamlet.“ (II,2)

Das ist das einzige Zeugnis der Liebe Hamlets zu Ophelia. Gnädigerweise mag es gut gemeint sein, aber im Ausdruck ist es wirklich kein Meisterwerk. Das ist für Liebesschwüre auch nicht unbedingt

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notwendig, obwohl eine gewisse höfische conduite damals schon auf guten Ausdruck wert gelegt hat. Vielleicht lässt Hamlet aber in seinem Verhalten den guten Ton mit Absicht vermissen. Vielleicht spielt der Schauspieler mit Absicht etwas falsch auf seiner Flöte. Polonius besteht auf seiner These und verabredet mit der Königin und dem König eine Belauschungsaktion. Polonius Ihr wißt, er geht wohl Stunden auf und ab Hier in der Gallerie. […] Da will ich meine Tochter zu ihm lassen. Steht ihr mit mir dann hinter einem Teppich, Bemerkt den Hergang: wenn er sie nicht liebt, Und dadurch nicht um die Vernunft gekommen, So laßt mich nicht mehr Staatsbeamten seyn, Laßt mich den Acker baun und Pferde halten! König Wir wollen sehn. (II,2)

Wie bestellt kommt Hamlet lesend, und alle verschwinden schnell; nur Polonius macht sich an ihn und wird von Hamlet so verrückt angegangen, dass es ihm unfreiwillige Bewunderung abnötigt. Polonius (beiseit) Ist dieß schon Tollheit, hat es doch Methode. – (II,2)

Allerdings findet sich in dieser methodischen Tollheit nur gelegentlich eine Bestätigung seiner These von der Liebestollheit. In ziemlich trickreichem Dialog geht Hamlet auch auf Rosenkranz und Güldenstern los und entlockt ihnen spielend das Geständnis, dass sie ihn im Auftrag des Königs überwachen sollen. Die Schauspieler kommen und Idee und Ausführung sind eins. Der König soll durch ein Schauspiel als Mörder seines Vaters entlarvt werden. Hamlet hat eine große Passion für die Schauspielerei. Er outet sich als Kenner der Theaterszene und glaubt auch ein profundes Wissen von den Möglichkeiten der Kunst der Schauspieler zu besitzen. Auch dramaturgisch weiß er sich durch einen Einschub in den Text zu profilieren. Aber bevor die Mausefalle den König schnappt, schnappt man sich den Prinzen in einer arrangierten Begegnung mit seiner „liebreizenden“ Ophelia. Die Königin wünscht sich, es möge so sein, wie der Vater vermutet.

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Königin Was euch betrifft, Ophelia, wünsch’ ich nur Daß eure Schönheit der beglückte Grund Von Hamlets Wildheit sey: dann darf ich hoffen, Daß eure Tugenden zurück ihn bringen Auf den gewohnten Weg, zu beider Ehre. (III,1)

Ab jetzt versucht Ophelia sich lesend harmlos zu stellen. Die beiden Herren sind auf ihrem Lauschposten und Hamlet kommt monologisierend. Wenn er den berühmtesten seiner vielen Monologe fertig hat – „Sein oder nicht Nichtsein“ –, sieht er Ophelia. Er schaltet sofort um auf doppeldeutige Schauspielerei, auf gemimte Unzurechnungsfähigkeit. Hamlet […] Still! Die reizende Ophelia. – Nymphe, schließ’ In dein Gebet all meine Sünden ein! (III,1)

Von Liebe kann in der folgenden Unterhaltung nicht die Rede sein. Die kleinen Devotionalien ihrer Liebe weist er zurück; er verleugnet sie und verleugnet wohl auch, sie je geliebt zu haben. Dann quält er das arme Mädchen und erschreckt und beleidigt es mit seiner Wortverdreherei und seinen Spitzfindigkeiten über Sittsamkeit und Schönheit. Er traktiert das Mädchen mit sich selbst widersprechenden Aussagen. Auf „Ich liebte euch einst“ setzt er im nächsten Satz unverschämt dagegen: „Ich liebte euch nicht.“ Dann kommt das berühmte Kloster, in das Ophelia gehen soll. Ob Hamlets Zynismus so weit geht, die Doppeldeutigkeit von „Kloster“ = „nunnery“ = (auch) „Bordell“ in seiner Rede auszukosten, ist gar nicht mehr wichtig. Viermal brüskiert er sie mit solch versteckter Unflätigkeit, zeiht sie der Koketterie und Lüsternheit. Hamlet Geht mir! nichts weiter davon! es hat mich toll gemacht. Ich sage, wir wollen nichts mehr von Heirathen wissen: wer schon verheirathet ist, Alle außer einem, soll das Leben behalten; die übrigen sollen bleiben, wie sie sind. In ein Kloster! geh! (Hamlet ab) (III,1)

Ophelia ist am Boden zerstört. So kündigt man garantiert keine Liebe auf. Seine Doppelzüngigkeit beim Stichwort „Heiraten“ kann sie nicht verstehen. Sie kann nicht wissen, dass Hamlet vielleicht

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weiß, dass ihr Gespräch belauscht wird. Für sie ist klar, dass Hamlet wahnsinnig ist und dass ihr der Part der Verzweifelten gilt. Ophelia O welch ein edler Geist ist hier zerstört! Des Hofmanns Auge, des Gelehrten Zunge, Des Kriegers Arm, des Staates Blum’ und Hoffnung, Der Sitte Spiegel und der Bildung Muster, Das Merkziel der Betrachter: ganz, ganz hin! Und ich, der Frau’n elendeste und ärmste, Die seiner Schwüre Honig sog, ich sehe Die edle, hochgebietende Vernunft Mißtönend wie verstimmte Glocken jetzt; Dies hohe Bild, die Züge blühnder Jugend, Durch Schwärmerei zerrüttet: weh mir, wehe! Daß ich sah, was ich sah, und sehe, was ich sehe! (III,1)

Irgendwie liegen die Zeiten des von Ophelia beschriebenen Mannes weit vor dem Beginn des Stückes. Wenn er so noch existieren sollte, dann allenfalls in seinen Monologen, aber die hört außer ihm niemand von den Protagonisten. Gibt es diese Welt also objektiv bei diesem Mann noch? Der Mann hat eine Obsession, einen vagen Plan für seine Rache. Auf seinem Weg zum Ziel hinterlässt er aber eine Spur der Verwüstungen. Das Mädchen ist in tiefster Seele vernichtet durch sein zweifelhaftes Spiel. Der Vater wird bald sein physisches Opfer. Zu guter Letzt – auch wenn es sich noch hinzieht – wird der König erledigt. Der Preis für ihn ist hoch. Aber dessen Ahnung geht in die richtige Richtung. König Aus Liebe? Nein, sein Hang geht dahin nicht, Und was er sprach, obwohl ein wenig wüst, War nicht wie Wahnsinn. Ihm ist was im Gemüth, Worüber seine Schwermuth brütend sitzt; Und wie ich sorge, wird die Ausgeburt Gefährlich seyn. (III,1)

Liebe oder keine Liebe (mehr), das scheint hier keine Frage. Das Mädchen hat mit Hamlets Vaterkonflikt nichts zu tun. Dass er sein Problem mit seiner Mutter an ihr abstraft, ist für einen Mann von Ehre und Geist schändlich. Von einem Kuss, dem untrüglichen Zeichen der Liebe bei Shakespeare, war nie und ist nie die Rede. Sein Grabgeschrei – vierzigtausend Brüder – ist unerträgliches Gebrüll wie von Klaus Kinski, der ein Wiedergänger Hamlets ist. Nicht dass

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Kinski ein guter Hamlet gewesen wäre; Kinski war immer nur dort ein guter Schauspieler, wo er sich selber spielen durfte. Das konnte er außerhalb des Theaters viel besser zeigen als in seinen Rollen. In allen Auftritten spielte er, provozierte er, war er unberechenbar, spielte er den Verrückten. Sein natürlicher Hang zu Bizarrerie und beißendem Sarkasmus ist Hamlets fingierter Narrheit sehr ähnlich gewesen. Das gezeigt zu haben, ist das Verdienst von Werner Herzog. Nur in dessen Filmen war er bei sich. Der Schauspieler am Rande pathologischer Befindlichkeit und exzentrischen Verhaltens scheint daher ein besseres Profilbild für den Dänenprinzen abzugeben als die klassische Vorstellung vom edlen, von Reflexion umgetrieben Königssohn in einem Familienstück aus vornehmem Hause. Das trifft sich gut mit Frank Günther, der Hamlet ebenfalls „als Inszenator der Wirklichkeit“ in seiner besten Rolle sieht.2 Sein Hang zur Schauspielerei und als Mittel zur Tarnung seines Wahnsinns ist eine perfide Tarnung eines tatsächlich wahnsinnig gewordenen Menschen. Soviel Raffinesse dürfen wir Shakespeare zutrauen. Hamlet ist wahnsinnig, und doch ist das Konstrukt aus Vermutung, Verdacht und Geisterbestätigung gleichwohl auch auf widersinnige Art Wirklichkeit, ein Widerspruch in sich. Die ist wie ein Escherlabyrinth, ein endlos geflochtenes Band. Aus ihm kann man sich nicht lösen, wie die Zirkelstruktur des Stückes zeigt. Noch einmal, nur noch einmal sehen wir das Liebespaar lebend und gemeinsam auf der Szene. Auch bei diesem Auftritt ist es ein Paar ohne Liebesgeschichte. Das Stück heißt nicht „Hamlet und Ophelia“ wie „Romeo und Julia“, sondern nur „Hamlet, Prinz von Dänemark“ bzw. „The Tragicall Historie of Hamlet, Prince of Denmarke“. Und wieder inszeniert Hamlet die Wirklichkeit und spielt den Verrückten gegen die Welt und vor allem gegen Ophelia. Hamlet Man kommt zum Schauspiel, ich muß müßig seyn. (III,2)

Und schon bekommt der König auf die schlichte Frage nach seiner Befindlichkeit eine wortverdreherische Antwort, die nichts mit seiner Frage zu tun hat. Polonius wird ungeniert als „kapitales Kalb“ beleidigt und Ophelia wird mit sexuell übergriffigen Bemerkungen in Verlegenheit gebracht. Ophelia hilft sich aus der Verlegenheit, indem sie seine Obszönitäten als „witzig“ nimmt, aber selbst als das Spiel beginnt, zieht Hamlet mit teils unflätig kalauernden Zwi-

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schenbemerkungen die Aufmerksamkeit auf sich. Natürlich ist Ophelia aufgeklärt genug, um alle die üblen und frivolen Zoten zu verstehen, aber als einen angemessenen Konversationston empfindet sie Hamlets Reden nicht; ein Dialog unter Verliebten sieht ohnehin anders aus. Erschreckt und vielleicht sogar erleichtert stellt Ophelia das Ende des Spiels, den Abbruch der Vorstellung fest. Ophelia Der König steht auf. […] (Alle ab, außer Hamlet und Horatio) (III,2)

Mit diesem kurzen und knappen Satz ohne Gruß und Abschied ist eine Beziehung zu Ende, die reine Behauptung war und ist. Die beiden werden sich nicht mehr lebend sehen. Die Tränen Ophelias werden vorrangig ihrem Vater gelten, den Hamlet wenig später ersticht; von Hamlet sind keine Tränen berichtet, sondern nur vom Bruder Laertes, als er sie phantastisch mit Kräutern und Blumen geschmückt bei der Königin in ihrem ungeheuchelten Wahnsinn erblickt. Unsere Teilnahme für Ophelia wächst ob dieses Endes im Verlaufe des Dramas und vollendet sich in dem Bild, das die Königin von ihrem Tod in zauberischen Worten malt. Neben vielen offenen Fragen, die Shakespeares Rätselstück „Hamlet“ hinterlässt, sollte im Zusammenhang mit Ophelias Geschichte, die uns aufrichtig rührt, eine Frage nicht offen bleiben. Wir könnten Ophelia lieben, aber warum sollten wir Hamlet lieben? Mehr noch, behauptet Harold Bloom, wir „und fast die ganze Welt liebt Hamlet, trotz seiner Verbrechen und Verwirrungen und sogar ungeachtet seiner in letzter Konsequenz mörderischen Brutalität gegenüber Ophelia.“3

Nein und Nein und abermals Nein! Dass Hamlet unser intellektuelles Interesse besitzt und dass „Hamlet“ mit seiner andauernden Modernität auch unser zeitgenössisches Bewusstsein herausfordert, ist gut und richtig; aber den, der uns in den Abgrund blicken lässt, in den er zum bitteren Ende unaufhaltsam stürzt, lieben zu sollen, das ist eine Zumutung. Harold Bloom wäre der erste, der eine Inszenierung auf der Basis dieser unmöglichen These seinerseits als eine Zumutung empfinden würde. Sie würde die Aktion, die Tat, als unfreiwilliges Beiwerk zur philosophischen Betrachtung von aller Schuld freisprechen und Hamlet zum Träumer und das Stück wieder zum Inbegriff romantischen Menschentums und unendlichen

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Bewusstseins verklären. In alter Terminologie deutet er sich die Rachetragödie als eine Schicksalstragödie wie Goethe. Man löst aber Hamlet nicht ungestraft von der Handlung ab. Der schwarze Prinz ist kein frühneuzeitlicher Werther, und Ophelia mit ihrer Sprache von höchster lyrischer Intensität ist keine Lotte und kein Gretchen. Auch wenn Goethe von seinen Anfängen bis über die Hamlet-Interpretation im „Wilhelm Meister“ es vielleicht so sehen wollte, um Hamlet zu ent-schulden und um ihn „lieben“ zu können, seine Sicht auf Shakespeares Stück verdrängt den harten, zynischen, grausamen, unberechenbaren Hamlet Shakespeares, der Polonius wie eine Ratte ersticht, der Ophelia mit sinnloser und willkürlicher Grausamkeit und kalter Brutalität quält. Goethe gab den Anlass für das Werther-Fieber und löste zusammen mit Herder jenes Shakespeare-Fieber aus, das auch Harold Bloom noch befällt, wenn er schreibt: „Hamlet ist ein höheres Wesen als wir und alle Geschöpfe Shakespeares und alle übrigen literarischen Gestalten, ausgenommen – wenn Sie mit mir der Meinung sind, dass die beiden unter die literarischen Gestalten zu rechnen sind – der Jahwe des Jahwisten und der Jesus des Markusevangeliums.4

So verstiegen hoch greift bei allem Werther- und Hamlet-Fieber, das er verursacht hatte, selbst Goethe in der Rückschau seines Lebens, in „Dichtung und Wahrheit“, nicht mehr. „Hamlet und seine Monologe[n] blieben Gespenster, die durch alle jungen Gemüter ihren Spuk trieben. Die Hauptstellen wußte ein Jeder auswendig und rezitierte sie gern, und Jedermann glaubte, er dürfe ebenso melancholisch sein als der Prinz von Dänemark, ob er gleich keinen Geist gesehen und keinen königlichen Vater zu rächen hatte.“ (13. Buch)

Auffällig ist, wie sehr bei dieser Sichtweise alle anderen Figuren des Stücks in den Hintergrund treten, wie sehr die Handlung zur Nebensächlichkeit gerinnt. Der Held „des abendländischen Bewusstseins“5 agiert als Solodarsteller und Monologsprecher, die Mitspieler sind bloße Stichwortgeber. Nachdem viel über den Prinzen gesagt wurde, erlaubt sich Aurelie, die Darstellerin der Ophelia in Goethes „Wilhelm Meister“, nachzufragen, was zu ihrer Rolle zu sagen sei. „Von ihr läßt sich nicht viel sagen“, versetzte Wilhelm, „denn nur mit wenig Meisterzügen ist ihr Charakter vollendet. Ihr

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ganzes Wesen schwebt in reifer, süßer Sinnlichkeit. Ihre Neigung zu dem Prinzen, auf dessen Hand sie Anspruch machen darf, fließt so aus der Quelle, das gute Herz überläßt sich so ganz seinem Verlangen, daß Vater und Bruder beide fürchten, beide geradezu und unbescheiden warnen. Der Wohlstand, wie der leichte Flor auf ihrem Busen, kann die Bewegung ihres Herzens nicht verbergen, er wird vielmehr ein Verräter dieser leisen Bewegung. Ihre Einbildungskraft ist angesteckt, ihre stille Bescheidenheit atmet eine liebevolle Begierde, und sollte die bequeme Göttin Gelegenheit das Bäumchen schütteln, so würde die Frucht sogleich herabfallen.“ „Und nun“, sagte Aurelie, „wenn sie sich verlassen sieht, verstoßen und verschmäht, wenn in der Seele ihres wahnsinnigen Geliebten sich das Höchste zum Tiefsten umwendet und er ihr statt des süßen Bechers der Liebe den bittern Kelch der Leiden hinreicht.“ „Ihr Herz bricht“, rief Wilhelm aus, „das ganze Gerüst ihres Daseins rückt aus seinen Fugen, der Tod ihres Vaters stürmt herein, und das schöne Gebäude stürzt völlig zusammen.“ (14. Kapitel)

Das ist unerachtet der Romanfiktion, in der da gesprochen wird, ein recht magerer Versuch, eine Rolle zu erklären, an der sich der Bewusstseinsdarsteller Hamlet ziemlich versündigt. Nicht sonderlich erstaunlich, dass auch der Weltenerklärer Harold Bloom das Geheimnis „des letztgültigen Hamlet“ uns als „das seiner Liebenswürdigkeit“ verkauft und ebenfalls nur ein Achselzucken für Ophelia hat.6 Sie kommt in seiner langen Abhandlung zu dessen Universalität praktisch nicht vor. Kein Wort davon, dass alle Welt Ophelia liebt. Sie bleibt ihm bloße Dekoration. Der einzige, der den fatalen Hang, Hamlet „heilig zu sprechen“, ihn auf Kosten seiner Opfer zu rechtfertigen und das Chaos vergessen zu machen, das die sportive Erledigung seines Racheauftrags bewirkt, ist zunächst die immanente Stimme des Laertes am Grab seiner Schwester. Er sieht sie erhoben über die Lächerlichkeiten und Spitzfindigkeiten des Kronleichenbeschauers und des Priesters am Grab, die die Schuld auf das Opfer schieben. Laertes Ich sag’ dir, harter Priester, Ein Engel am Thron wird meine Schwester seyn, Derweil du heulend liegst. (V,1)

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Laertes rechtfertigt Ophelia, indem er sie heiligspricht. Wer seinen Glauben teilt, wird wohl oder übel feststellen müssen, dass da neben dem Priester noch einige Protagonisten mehr heulend am Thron liegen müssen. Und Hamlet wird nicht der letzte in der Reihe sein, und noch nie war Rache eine Lösung. Schon die Historien haben das drastisch gezeigt, und Shakespeare arbeitet im Falle Hamlets weitaus subtiler mit dem Fluch der Rache. Aber die in sich kreisende Logik dieses dort wie hier auf der Stelle tretenden Musters führt seine Vollstrecker nicht an jenen himmlischen Thron, sondern allenfalls auf sehr harte weltliche Stühle oder auf das große militärische Ehrengeleit mit Kanonendonner. Ironischerweise werden keine militärischen Ehren erwiesen, wenn der Tod im Zusammenhang mit einem vom Verstorbenen begangenen Verbrechen eingetreten ist oder ein hinreichender Verdacht auf Beteiligung an einem Verbrechen besteht. Das gilt heute, aber scheinbar war das für Fortinbras noch keine Vorschrift. Freuen wir uns, dass wenigsten eine Schuldlose als Engel am Thron wacht. Insofern ist Ophelia dann doch Goethes Gretchen zum Vorbild geworden. Aber Goethe toppt das Mädchen und verleiht ihr Funktion. Gretchen kann anders als Ophelia nach Liebe, Wahnsinn und Tod am höchsten Thron für „ihn“ um Gnade bitten. Er, Faust, hat sie tatsächlich geliebt, obgleich er wie Hamlet auch ein großer Monologisierer eines unendlichen abendländischen Bewusstseins war. Ihr Ewigweibliches zieht ihn hinan. Una poenitentium sich anschmiegend. Sonst Gretchen genannt. Neige, neige, Du Ohnegleiche, Du Strahlenreiche, Dein Antlitz gnädig meinem Glück! Der früh Geliebte, Nicht mehr Getrübte, Er kommt zurück. (Goethe: Faust II, Bergschluchten) deutsche Übersetzung: August Wilhelm von Schlegel 1) [Charles Heath] The Shakspeare Gallery. Containing the principal female characters … 1836/1837 2) Frank Günther, Bd. 33, S. 311 3) Harold Bloom, Tragödien, S. 73 4) ebd., S. 75

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zu Hamlet, Akt 5, Szene 1

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In Illyrien ist nichts so, wie es ist (IV,1). Aber da ist Illyrien nicht anders als Ephesus, in dem „Die Komödie der Irrungen“ spielt. Zwillinge hier wie dort und gleich gewandet, damit die Verwirrung groß wird (V,1: Gesicht, Ton, Kleidung eins, doch zwei Personen). Darüber hinaus lieben Männer gerne Frauen, die etwas Ephebisches ausstrahlen und Frauen scheinen Männer zu bevorzugen, die nicht allzu testosterongesteuert sind, die etwas zarter und einfühlsamer sind, eher längere Locken und keine Glatzen tragen. Das Spiel im erotischen Zwischenbereich, in dem das Weibliche im Männlichen und das Männliche im Weiblichen betont wird, gebiert ein Theater der Liebe aus Verkennung und zarter Täuschung. Hosenrollen sind schon erprobtes Mittel Shakespeares, Zwillinge und opferbereite Freundschaften ebenfalls. Im Stuhl sitzt eine junge, schöne und, wie uns das Personenverzeichnis verrät, eine reiche Gräfin. Die Szene spielt in ihrem Haus. Die Dame heißt Olivia und wir befinden uns noch in der Expositionsphase des Stücks. Da wurden wir schon davon unterrichtet, dass das Fräulein um ihren verstorbenen Bruder trauert. Der Trauer hat sie sich auf sieben Jahre verschworen, und vermutlich ist der Todesfall noch recht frisch. Wie eine Nonne will sie einen Schleier tragen und hat aller Liebe abgeschworen, insbesondere die Anträge des nachbarlichen Herzogs von Illyrien, des melancholisch-schwärmerischen Herrn Orsino, weist sie entschieden ab. Der hat vor einiger Zeit einen neuen Diener eingestellt, den er zu seinem Liebesboten erkoren hat und der sich Cesario nennt. Er hat den zarten Burschen auf Anhieb liebgewonnen, und er glaubt durch ihn bei Olivia nachhaltig für seine Sache werben zu können. Der Gräfin wird er von ihrem Haushofmeister Malvolio als ein Kerlchen gemeldet auf der Grenze zwischen Mann und Knaben, kurz als ein rechtes Muttersöhnchen. Eigentlich will sie ihn gar nicht hören, aber dann legt sie doch ihren Trauerschleier an und bittet ihn zur Audienz. Der junge Mann fängt recht artig und theatralisch an, sich vor-

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zustellen, besteht darauf, dass das Kammermädchen Maria verschwinden möge, und hebt dann mit einer unvermuteten Bitte an, die man auch als eine gewisse Unverschämtheit verstehen könnte. Viola Liebes Fräulein, laßt mich euer Gesicht sehn. Olivia Habt ihr irgendeinen Auftrag von eurem Herrn, mit meinem Gesicht zu verhandeln? Jetzt seid ihr aus dem Text gekommen. Doch will ich den Vorhang wegziehn, und euch das Gemälde weisen. (sie entschleiert sich) Seht, Herr, so sah ich in diesem Augenblick aus. Ist die Arbeit nicht gut? Viola Vortrefflich, wenn sie Gott allein gemacht hat. Olivia Es ist ächte Farbe, Herr; es hält Wind und Wetter aus. Viola ‘S ist reine Schönheit, deren Roth und Weiß Natur mit zarter, schlauer Hand verschmelzte. Fräulein, ihr seid die grausamste, die lebt, Wenn ihr zum Grabe diese Reize tragt, Und laßt der Welt kein Abbild. Olivia O Herr, ich will nicht so hartherzig seyn: ich will Verzeichnisse von meiner Schönheit ausgehn lassen; es wird ein Inventarium davon gemacht, und jedes Theilchen und Stückchen meinem Testamente angehängt: als item, zwei leidlich rothe Lippen; item, zwei blaue Augen nebst Augenliedern dazu; item, ein Hals, ein Kinn und so weiter. Seid ihr hieher geschickt, um mich zu taxieren? (I,5)

Wie immer weiß das Publikum bei Shakespeare mehr als seine Protagonisten, weiß im Gegensatz zu Olivia, dass der gemeldete Liebesbote des Herzogs nicht Cesario heißt, sondern, wie ihn die Sprecherangabe nennt, Viola. Diese Viola versteckt sich hinter Cesario, und nicht einmal der Herzog weiß von dem Inkognito und der wirklichen Identität seines Dieners. Der Wissensvorsprung des Publikums und die Unwissenheit der Protagonisten erzeugt ein andauerndes komisches Gefälle. Der Herr im Hosenanzug ist ein Mädchen, der/das auf den Herzog einen eigenartigen Reiz ausübt, und besonders die Gräfin ist sofort Feuer und Flamme für den jungen Mann, der für den mit heißen Worten um Liebe wirbt, den sie

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doch selber spontan in ihr Mädchenherz geschlossen hat. Das ergibt subtile Verleugnungen und heikle Missverständnisse in dieser Dreieckskonstellation. Je entschiedener Olivia die Werbung Orsinos zurückweist, um so eindrücklicher malt Cesario an den Kulissen (s)eines Herzensdramas. Wenn ich er wäre, sagt Cesario, und Olivia versteht es lieber als Indikativ. Viola Ich baut’ an eurer Thür ein Weidenhüttchen, Und riefe meiner Seel’ im Hause zu; Schrieb fromme Lieder der verschmähten Liebe, Und sänge laut sie durch die stille Nacht; Ließ euern Namen an die Hügel hallen, Daß die vertraute Schwätzerin der Luft Olivia schriee! O, ihr solltet mir Nicht Ruh genießen zwischen Erd’ und Himmel, Bevor ihr euch erbarmt! (I,5)

Olivia ist beeindruckt, nicht vom Herzog, sondern von Cesario. Und so fragt sie auch gleich nach seiner Herkunft, und die Frage ist nicht ohne Hinterhalt, aber die Antwort ist zufriedenstellend. Viola Ich bin ein Edelmann. (I,5)

In dieser Hinsicht ist die Welt in Ordnung, in anderer Hinsicht ist die Situation eher heikel. Aber da ist Olivia blind, weil Liebe blind macht. Und erste Liebe keimt urplötzlich in ihr auf. Olivia – Wie? Weht Ansteckung so gar geschwind uns an? Mich deucht, ich fühle dieses Jünglings Gaben Mit unsichtbarer, leiser Überraschung Sich in mein Auge schleichen. – Wohl, es sei! (I,5)

Olivia weiß nicht, dass Shakespeares Liebhaber sehr oft gegenüber seinen Traumfrauen suboptimale Qualitäten haben, aber hier wäre endlich ein Kerlchen, das vielversprechend ist. Und schnell entschlossen schickt sie Malvolio hinter dem Boten her, um ihm einen Ring zu übergeben. Cesario ist überrascht, weil bisher „kein“ Ring eine Rolle gespielt hat. Das öffnet ihm/ihr augenblicklich die Augen für das große Durcheinander, das ein Hosenanzug verursachen kann.

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Viola Sie sprach verwirrt in abgebrochnen Reden. Sie liebt mich – ja! Die Schlauheit ihrer Neigung Läd’t mich durch diesen mürr’schen Boten ein. Der Ring von meinem Herrn? – Er schickt’ ihr keinen; Ich bin der Mann. – Wenn dem so ist, so thäte Die Arme besser, einen Traum zu lieben. Verkleidung, du bist eine Schalkheit, seh’ ich, Worin der list’ge Feind gar mächtig ist. Wie leicht wirds hübschen Gleisnern nicht, ihr Bild Der Weiber weichen Herzen einzuprägen! Nicht wir sind schuld, ach! unsre Schwäch’ allein: Wie wir gemacht sind, müssen wir ja seyn. Wie soll das gehn? Orsino liebt sie zärtlich; Ich armes Ding bin gleich verliebt in ihn; Und sie, Betrogne, scheint in mich vergafft. Was soll draus werden? Wenn ich Mann bin, muß Ich an der Liebe meines Herrn verzweifeln; Und wenn ich Weib bin: lieber Himmel, ach! Wie fruchtlos wird Olivia seufzen müssen! O Zeit! du selbst entwirre dieß, nicht ich; Ein zu verschlungner Knoten ists für mich. (II,2)

Kleine Dinge, große Wirkung! Wer zu spät ins Theater gekommen ist und die zweite Szene versäumt hat, erfährt es in der Zwischenszene zwischen dem Besuch bei Olivia und der Ringrückgabe noch einmal: Illyriens Küste ist ein tückisches Gewässer. Ein Schiff ist in der Brandung gestrandet und ein Zwillingspaar knapp vor dem Ertrinken gerettet worden. Ein Mann und seine Schwester, eine Schwester und ihr Bruder, aber jede/jeder glaubt, der andere sei ertrunken. Illyrien ist nicht groß und die Hofhaltung des Herzogs überschaubar. Man wird sich wiedersehen: erhofft und dennoch unverhofft. Der Mann heißt Sebastian und die Schwester Viola. Aber das wissen nur diejenigen, die ein Programmheft besitzen oder ins Buch geschaut haben. Für alle anderen ist Viola Cesario. deutsche Übersetzung: August Wilhelm von Schlegel

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Von den acht- bzw. neunzehn Szenen der Komödie „Was ihr wollt“, die eigentlich „Die zwölfte Nacht“ (nach der Weihnacht) betitelt war, spielen gut zwei Drittel auf dem Landgut der Gräfin Olivia und nur drei im Palast des Herzogs. Die restlichen Szenen verteilen sich über irgendwelche Straßen Illyriens oder spielen an der sturmumtosten Küste. Bei dieser Konzentration auf den Wohnsitz von Olivia ist es weiter nicht verwunderlich, dass sich dort parallel zur Haupthandlung noch eine zweite, recht gleichwertige komische Nebenhandlung entwickelt, bei der Maria, die Gesellschafterin und Kammerfrau der Gräfin, die Regie übernimmt. Da ist zum einen der Oheim, Onkel oder auch nur weitschichtig verwandte der Gräfin, Junker Tobias von Rülp, der ein Renommist und ordentlicher Trinker ist. Der Prahlhans hat einen kläglichen Junker im Schlepptau, den er als Freier seiner Nichte zurichtet und finanziell ausnimmt: Junker Christoph von Bleichenwang. Natürlich hat der lächerliche Kerl keinerlei Chancen, aber das Trio hat einen gemeinsamen Feind, den miesepetrigen, überkorrekten und puritanisch gesinnten und gesitteten Haushofmeister Malvolio. Auch der hat ein heimliches Auge auf Olivia geworfen, und Maria entwirft gegen dessen parvenühaften Dünkel eine Intrige, die den Mann ziemlich hart trifft. Mit im Spiel ist noch Feste, der Hofnarr, der jedoch in seiner närrischen Weisheit ein humoristischer Überflieger ist. Maria stellt eben ein Gläschen Wein – ein Stübchen Wein sagt Schlegel – auf das Beistelltischchen. Junker Tobias hat Durst bei Tag und Nacht und heute Nacht nach dem Besuch des Muttersöhnchens bei der Gräfin am Vormittag ganz besonders. Da droht, soweit denkt Junker Tobias ganz richtig, eine Gefahr für seinen Ehekandidaten. Es geht hoch her. Der Narr singt, aber die beiden Weinjunker grölen derart, dass es eine Schande ist, und es ist auch schon weit nach Mitternacht. Und wie nicht anders zu erwarten, kommt der Haushofmeister wie in der Jugendherberge, um Ruhe herzustellen. Das gelingt ihm bei den großen Bengeln aber nicht so recht und auch Maria lässt ihn abblitzen. Er droht die Kollegin bei der

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Chefin anzuschwärzen, aber das wird nicht ernstgenommen. Also tritt Malvolio den Rückzug an, und die beiden Junker überlegen, ihn in ein absurdes Duell zu verwickeln. Jetzt beginnt Maria ihre Netze nach Malvolio auszuwerfen. Sie ist einfach die Witzigere und Klügere im Terzett und sie hat den Junker Tobias völlig in der Hand. Sie wird ihn am Ende kapern und heiraten. Maria Lieber Junker Tobias, haltet euch nur diese Nacht still; seit der junge Mann vom Grafen heute bei dem Fräulein war, ist sie sehr unruhig. Mit Musje Malvolio laßt mich nur machen: Wenn ich ihn nicht so foppe, daß er zum Sprichwort und zum allgemeinen Gelächter wird, so glaubt nur, daß ich nicht gescheidt genug bin, um grade im Bett zu liegen. Ich bin meiner Sache gewiß. Junker Tobias Laß hören! laß hören! Erzähle uns was von ihm. Maria Nun, Herr, er ist manchmal eine Art von Pietisten. Junker Christoph O, wenn ich das wüßte, so wollte ich ihn hundemäßig prügeln. Junker Tobias Was? Weil er ein Pietist ist? Deine wohlerwognen Gründe, Herzensjunker? (II,3)

Der Junker hat keine Argumente, sondern hat nur recht. Maria aber schüttet nun ihr Herz aus, nennt Malvolio einen gezierten Esel und einen überaus eingebildeten Mann, der glaubt, alle, die ihn nur anschauen, würden ihn auch schon lieben. Da packen wir ihn. Maria Ich will ihm unverständliche Liebesbriefe in den Weg werfen, worin er sich nach der Farbe seines Bartes, dem Schnitt seiner Waden, der Weise seines Ganges, nach Augen, Stirn und Gesichtsfarbe handgreiflich abgeschildert finden soll. Ich kann genauso wie das Fräulein, eure Nichte, schreiben: wenn uns ein Zettel über eine vergeßne Sache vorkommt, so können wir unsre Hände kaum unterscheiden. (II,3)

Wenn es um Intrigen geht, sind die beiden Männer überhaupt nicht begriffsstutzig, selbst wenn sie hackevoll sind. Sie riechen sofort den Braten. Maria schiebt nur noch eine kleine Erläuterung hinterher.

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Maria […] Ich will euch beide – der Narr kann den dritten Mann abgeben – auf die Lauer stellen, wo er den Brief finden soll. Gebt Acht, wie er ihn auslegt! Für heute Nacht zu Bett, und laßt euch von der Kurzweil träumen! Adieu! /ab) (II,3)

Junker Tobias kann sich gar nicht mehr einhaben. Amazone, Penthesilea lobt er sich sein inskünftiges Betthäschen, und Junker Christoph fürchtet um seine Werbung bei Olivia. Wenn ich sie nicht kriege, so überlegt er laut, stehe ich ganz schön blöd da. Ach was, du musst einfach noch mehr Geld investieren, meint Tobias. Dann gehen sie in aller Frühe zu Bett. deutsche Übersetzung: August Wilhelm von Schlegel

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Viola • Olivia • Maria Was ihr wollt (1601 / 1602)

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Während man im Hause der Olivia um Mitternacht kräftig gebechert und Kanon gesungen hat, ging es im Palast des Herzogs Orsino gedämpfter zu. Auch dort gab es – aber schon am frühen Abend – Musik, jedoch von elegischerer Qualität. Der Narr hatte ein unendlich trauriges Lied gesungen, war dann aber wohl zu den Suffköpfen davongeschlichen. Jetzt muss man ihn wieder holen, denn der Herzog hat schlecht geschlafen ob der Abweisung seiner Werbung durch Olivia. Er weiß ohnehin nicht, ob er Olivia überhaupt liebt oder doch eher nur seine Liebe liebt. Er bittet in seiner Morgenmelancholie vorerst das Lied ohne Text zu spielen. Zusammen mit dem ihm unentbehrlich gewordenen Cesario lauscht er den Tönen nach und erhält ein Geständnis der Liebe seiner Schwester Viola, die in dem feschen Pagen steckt. Herzog Musik. Komm näher, Junge. – Wenn du jemals liebst, Gedenke meiner in den süßen Qualen; Denn so wie ich sind alle Liebenden, Unstät und launenhaft in jeder Regung, Das stete Bild des Wesens ausgenommen, Das ganz geliebt wird. – Magst du diese Weise? Viola Sie giebt ein rechtes Echo jenem Sitz, Wo Liebe thront. Herzog Du redest meisterhaft. Mein Leben wett’ ich drauf, jung wie du bist, Hat schon dein Aug’ um werte Gunst gebuhlt. Nicht, Kleiner? Viola

Ja, mit eurer Gunst, ein wenig.

Herzog Was für ein Mädchen ists? Viola

Von eurer Farbe.

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Herzog So ist sie dein nicht werth. Von welchem Alter? Viola Von eurem etwa, gnäd’ger Herr. Herzog Zu alt, beim Himmel! Wähle doch das Weib Sich einen Ältern stets! So fügt sie sich ihm an, So herrscht sie dauernd in des Gatten Brust. Denn, Knabe, wie wir uns auch preisen mögen, Sind unsre Neigungen doch wankelmüth’ger, Unsichrer, schwanker, leichter her und hin, Als die der Frau’n. Viola

Ich glaub’ es, gnäd’ger Herr.

Herzog So wähl’ dir eine jüngere Geliebte, Sonst hält unmöglich deine Liebe Stand. Denn Mädchen sind wie Rosen: kaum entfaltet, Ist ihre holde Blüte schon veraltet. Viola So sind sie auch. Ach! muß ihr Loos so seyn, Zu sterben, grad’ im herrlichsten Gedeihn? (II,4)

Das mit dem Alter ist falsch und richtig zugleich, denn die Wahrheit kann der Herzog in der Verstellung und Verkleidung nicht erkennen. Dennoch spürt er, dass es mit der sexuellen Identität des Knaben eine eigentümliche Bewandtnis haben muss. Es ist diffus und wird noch diffuser, je mehr man sich auf die nichtdurchschaute Situation einlässt. Der Narr kommt und trägt zur allgemeinen Schwermut sein Teil bei, indem er das angeblich einfältige Lied von verschmähter Liebe und erwünschtem Tod singt. Noch einmal fordert der Herzog zum falschen Tanz auf und schickt Cesario ins Feuer falsch adressierter Leidenschaft. Herzog

Ein Mal noch, Cesario, Begieb dich zu der schönen Grausamkeit: Sag, meine Liebe, höher als die Welt, Fragt nicht nach weiten Strecken staub’gen Landes; Die Gaben, die das Glück ihr zugetheilt, Sag ihr, sie wiegen leicht mir wie das Glück: Das Kleinod ists, der Wunderschmuck, worein Natur sie faßte, was mich an sie zieht. (II,4)

Viola • Olivia • Maria • 445

Cesario baut schon vor, damit das erwartbare „Nein“ weniger hart ausfällt, und konstruiert den Fall eines Mädchens, das natürlich wieder ein Geständnis der Liebe seiner Schwester Viola ist, die in ihm steckt. Viola Denkt euch, ein Mädchen, wie’s vielleicht eins giebt, Fühl’ eben solche Herzenspein um euch, Als um Olivien ihr; ihr liebt sie nicht, Ihr sagts ihr; muß sie nicht die Antwort nehmen? (II,4)

Männer sind immer Männer. Auch dann, wenn sie wie Frauen sein wollen, sind sie besser als diese. Herzog Nein, keines Weibes Brust Erträgt der Liebe Andrang, wie sie klopft In meinem Herzen; keines Weibes Herz Umfaßt so viel; sie können nicht beharren. (II,4)

Schüchtern wie Viola unterbricht Cesario des Herzogs Beweisführung. Viola Ja, doch ich weiß – Herzog

Was weißt du? Sag mir an!

Viola Zu gut nur, was ein Weib für Liebe hegen kann; Fürwahr, sie sind so treuen Sinns wie wir. Mein Vater hatt’ eine Tochter, welche liebte, Wie ich vielleicht, wär’ ich ein Weib, mein Fürst, Euch lieben würde. Herzog Was war ihr Lebenslauf? Viola Ein leeres Blatt, Mein Fürst. Sie sagte ihre Liebe nie, Und ließ Verheimlichung, wie in der Knospe Den Wurm, an ihrer Purpurwange nagen (II,4)

Sie starb so hin, bramarbasiert Cesario jetzt echt männlich vor sich hin und hofft, der Autor möge sein/ihr Schicksal aus dem tragischen Status in eine Komödie retten. Dazu bedarf es aber noch einiger Blätter. Vorerst aber geht sie, weil das proteische Spiel für die

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Zuschauer so reizvoll ist, noch einmal zum Fräulein Olivia. „Soll ich zum Fräulein?“ Der Herzog hat sie, nachsinnend über das leere Blatt, fast aus dem Herzen verloren. Herzog Ja, das ist der Punkt. Auf! eile! Gieb ihr dieses Kleinod; sage, Daß ich noch Weigern, noch Verzug ertrage. (II,4)

Das ist eine elende Taktik in der Liebe, und elend ist auch, wie dem Malvolio mitgespielt wird. Maria hat alles wunderbar vorbereitet. Im Garten von Olivias Haus treffen sich die beiden Junker und Fabio, ein weiterer Diener des Hauses, der ebenfalls eine Rechnung mit Malvolio offen hat. Sie werden wie auch in anderen Stücken Shakespeares hinter einer Hecke zum Belauschen der Szene postiert. Das Kammermädchen kann die Handschrift des gnädigen Fräuleins vorzüglich nachmachen, und sie hat einen verklausulierten Liebesbrief geschrieben, den sie Malvolio auf seinem Weg durch den Garten vor die Füße wirft. Schon ist der eitle Gockel geködert. Er war sich immer sicher, dass Olivia ihm mit einem gewissen Wohlwollen begegnet – das faselt er halblaut, aber für die Lauscher hörbar, vor sich hin. Doch im Augenblick, da er den Brief findet, ihn liest und von Olivia auf sich schlussfolgert, sind alle Hemmungen und alle Selbstkontrolle dahin. Den Belauschern bietet sich eine prächtige Szene grotesker Eitelkeit, die sie selber durch ihre Kommentare zu einer der vorzüglichsten komischen Szenen in Shakespeares Werk machen. Jede Aufführung des vermutlich mit oder nach dem „Sommernachtstraum“ beliebtesten und meistgespielten Stücks wird diese Trumpfkarte pompös ausspielen. Die Komiker vom Fach schlagen sich die Schenkel, und als Maria kommt, huldigen ihr die Männer wie einer Königin aller Witzteufel. Die Szene erhält ihre Fortsetzung in Malvolios grotesk kostümiertem Auftritt vor seiner Herrin: gelbe Strümpfe, kreuzweis gebundene Kniegürtel und ein Dauerlächeln, das dem der Grinsekatze von „Alice im Wunderland“ ähnelt. Das alles bringt Olivia an den Rand der Verzweiflung, noch mehr aber der erneute Besuch von Cesario in Liebesangelegenheiten des Herzogs. Junker Tobias und Junker Bleichenwang spüren Konkurrenz und begegnen dem Boten eher feindselig. Aber sie haben sich zu distanzieren. Olivia ist sehr gnädig, und wir werden Zeuge einer Parallelszene zum insgeheimen Geständnis der Liebe Violas an den Herzog. Wie

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dieser erliegt Olivia dem Schein, wie dieser wird sie ein Opfer der Redensart, dass „Kleider Leute machen“. Cesario ist ein so feiner Mann, so ganz nach ihren zärtlichen Wünschen, dass sie den Herzog als leeres Blatt in ihrer Biographie erklärt. Die hohe Ironie in der Parallelität der Szenen ist der Umstand, dass sich zu guter Letzt zwei leere Blätter zueinander gesellen, dass aber Olivias Wunschblatt ein falsches Blatt ist. Cesario ist Viola, aber für die kommt ein Joker ins Spiel. Kein Wort also mehr zu und über Orsino, sondern über die Bezauberung durch ihn, Cesario, die sie zu der Ringgeschichte verführt habe. Sie müsse da doch noch einmal nachfragen. Olivia Was mochtet ihr wohl denken? (III,1)

Cesario hat durchaus das Richtige gedacht, aber er kann der Gräfin nur verdeckt antworten, so wie er für den Herzog die Geschichte einer Schwester erfinden musste. Vorerst lässt er sie im Unklaren, obwohl sie sicher ist, dass er die Geschichte richtig verstanden hat. Olivia Für einen, der behende faßt wie ihr, Zeigt’ ich genug; ein Flor, und nicht ein Busen, Versteckt mein armes Herz: so sprecht nun auch. (III,1)

Das tut er aber nicht. Er kann nicht sprechen und der Joker ist nicht in Sicht. Olivia verabschiedet ihn. Und was soll ich zuhause sagen? Da hält sie ihn noch einmal zurück. Sie will etwas viel Dringlicheres wissen. Olivia Bleib’! Ich bitt’ dich, sage, was du von mir denkst. (III,1)

Wiederum antwortet er ausweichend, sibyllinisch, in Rätseln. Viola Nun, daß ihr denkt, ihr seid nicht, was ihr seid. Olivia Und denk’ ich so, denk’ ich von euch dasselbe. Viola Da denkt ihr recht: ich bin nicht, was ich bin. Olivia Ich wollt’, ihr wärt, wie ich euch haben wollte! (III,1)

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Der Schlagabtausch funktioniert perfekt und führt doch zu keinem Ergebnis. Sie schaut ihn an, wie sie ihn haben möchte, und lässt, weil er die berühmten drei Worte nicht über die Lippen bringt, alle weibliche Zurückhaltung fahren. Olivia Cesario, bei des Frühlings Rosenjugend! Bei jungfräulicher Sitt’ und Treu und Tugend! So lieb’ ich dich, trotz meinem stolzen Sinn, Daß ich des Herzens nicht mehr mächtig bin; Verhärte nicht dich klügelnd durch den Schluß, Du könntest schweigen, weil ich werben muß. Nein, feßle lieber Gründe so mit Gründen: Süß sei es, Lieb’ erflehn, doch süßer, Liebe finden. (III,1)

Sie sagt, was er sagen müsste; sie sagt es und wechselt dabei vom „Sie“ bzw. „Euch“ zum „Du“. Damit ist die Wechselrede erschöpft. Es muss hart sein für Olivia eine klare Absage zu erhalten. Viola Bei meiner Jugend! bei der Unschuld! nein! Ein Herz, Ein Busen, Eine Treu’ ist mein, Und die besitzt kein Weib; auch wird je keine Darüber herrschen, außer ich alleine, Und Fräulein, so lebt wohl! nie klag’ ich euerm Ohr Die Seufzer meines Herren wieder vor. (III,1)

Junker Christoph von Bleichenwang will von seiner Bewerbung Abstand nehmen. Olivia tut ihm zu freundlich mit dem Boten des Herzogs. Ausgerechnet der dumme Junge riecht den Braten; dass der Braten ein „falscher Hase“ ist, kann auch er nicht wissen. Für Tobias wäre das das Ende seiner Patenschaft, und deshalb deutet er die „Schöntuerei“ für den tölpischen Junker um. Olivia will dich nur scharf machen; sie bietet dir Gelegenheit, dich als richtigen Mann zu beweisen. Du musst ihn herausfordern und im Duell beweisen, was du für ein Kerl bist. Das wird ihr imponieren. Frauen sind halt so. Da kommt Maria mit der frohen Botschaft, dass Malvolio sich ausstaffiert hat, wie ausgedacht, und auf dem Weg zum Fräulein ist. Wir nähern uns dem berühmten Scheitelpunkt, den auch dieses Stück hat. Jetzt kommt der Joker ins Spiel. Es ist Sebastian, der Bruder von Viola, der wunderbarerweise auch aus der Brandung gerettet wurde. Wie um Viola hat sich auch um ihn ein Schiffshaupt-

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mann gekümmert. Aber der Mann namens Antonio hat ein Problem in Illyrien. Er hat im Seekrieg gegen den Herzog gekämpft und muss deshalb jeden Augenblick Angst haben, verhaftet zu werden. Er steckt Sebastian seinen Geldbeutel zu, ermuntert ihn zu einer kleinen Besichtigungstour und verspricht im Elefanten in der Südervorstadt eine Unterkunft zu besorgen. Er ist ganz offensichtlich in den schönen jungen Mann verliebt. Sehr dezent, versteht sich, sehr unaufdringlich. Während Sebastian durch die Gassen Illyriens schlendert, erfahren wir, dass Olivia nach Cesario geschickt hat. Das war Mut und Übermut zugleich. Olivia Ich hab’ ihm nachgeschickt; gesetzt, er kommt: Wie kann ich wohl ihn feiern? was ihm schenken? Denn Jugend wird erkauft, mehr als erbeten. – (III,4)

Sie ermahnt sich selbst, nicht so laut zu sprechen. Selbst Maria muss nicht alles wissen. Die meldet Malvolio und führt ihn herein. Oh Schreck, seine tolle Aufmachung und sein Lächeln verfehlen ihre Wirkung nicht; es läuft ganz so, wie es Maria kalkuliert hat. Ihre Liebestollheit und Malvolios Hundstagstollheit und die Meldung, dass Cesario tatsächlich zurückgekommen ist, versetzen sie in nie gekannte Aufregung. Den Malvolio überantwortet sie ausgerechnet seinen Peinigern zur Aufsicht, ihr selber ist natürlich an Cesario gelegen. Während Maria die Junker holt und Olivia zu Cesario eilt, inszeniert sich Malvolio in seiner Verblendung als inskünftigen Grafen und Herrn des Hauses. Er fühlt sich geadelt und unangreifbar. Als das Quartett zurück ist, weist er ihren Hohn stolz zurück. Malvolio Geht Alle zum Henker! Ihr seid Alle dumme alberne Geschöpfe. Ich gehöre nicht in eure Sphäre: ihr sollt weiter von mir hören. (ab) (III,4)

Man beschließt ihn wie einen Verrückten in eine dunkle Abstellkammer zu sperren, aber zuvor muss noch die Herausforderung des bleichen Junkers an seinen blassen Rivalen auf den Weg gebracht werden. Tobias schickt Bleichenwang an die Gartenecke, wo er Cesario auflauern und wütend zusammenbrüllen soll. Den blassen jungen Herrn hat aber vorerst Olivia ins Gebet genommen. Mit Menschen- und mit Engelszungen redet sie auf ihn

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ein, aber seine Liebe ist nicht zu haben. Immer nur sein Herr ist sein erstes und letztes Wort. Sie hasst ihn mittlerweile wie die Pest – den Herzog nicht Cesario, versteht sich. Olivia Zu viel schon sagt’ ich für ein Herz von Stein, Gab unbesonnen meine Ehre bloß. In mir ist was, das mir den Fehl verweist; Doch solch ein starrer, mächt’ger Fehler ists, Er trotzt Verweisen nur. Viola Ganz nach der Weise eurer Leidenschaft Gehts mit den Schmerzen meines Herrn. Olivia Tragt mir zu lieb dieß Kleinod, ‘s ist mein Bildniß; Schlagt es nicht aus, mit Schwatzen quält’s euch nicht; Und kommt, ich bitt’ euch, morgen wieder her. Was könnt ihr bitten, das ich weigern würde, Wenn unverletzt es Ehre geben darf? Viola Nur dieses: euer Herz für meinen Herrn. Olivia Wie litte meine Ehr’, ihm das zu geben, Was ihr von mir schon habt? Viola

Ich sag’ euch los.

Olivia Gut, lebe wohl, und sprich mir morgen zu! Zur Hölle lockte mich ein böser Feind wie du. (III,4)

Es wird kein Morgen geben, denn ihre Selbstpreisgabe ist nicht steigerungsfähig. Aber auch Cesarios Selbstverleugnung hat eine Grenze erreicht, die auch einen anderen Lösungsweg suchen könnte. An der Gartenhecke lauern die Junker, und Tobias heizt ordentlich ein. Er macht die Blassgesichtigen noch blasser, aber – Gott im Himmel! – da wirft sich ein Mann für Cesario in die Bresche, den er nicht kennt, der aber glaubt, ihn zu kennen. Ich bin nicht, was ich bin, fährt es Cesario durch den Kopf. Aber schon sind zwei Gerichtsdiener aus der Kulisse vor Ort, die den Mann als den gesuchten Piraten Antonio festnehmen. Antonio versucht zu leugnen, aber ausnahmsweise sind die Gerichtsdiener wie sonst oft

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bei Shakespeare keine Trottel. Der selbstlose Mann sieht ein, dass er geliefert ist und erbittet sich seinen Geldbeutel von seinem geliebten Freund zurück. Antonio Nun dringt die Noth mich, meinen Beutel wieder Von euch zu fodern; und es schmerzt mich mehr Um das, was ich nun nicht für euch vermag, Als was mich selbst betrifft. Ihr steht erstaunt; Doch seid getrost! (III,5)

In der Tat ist Cesario erstaunt, einerseits über einen Beutel, von dem er so gar nichts weiß und den er verleugnet, andererseits über einen Namen, den der scheinbar edle Pirat in seinem Ärger über ihn fallen lässt. Antonio Doch o! wie wird der Gott zum schnöden Götzen! Sebastian, du entehrest edle Züge. Gesinnung schändet einzig die Natur, Und häßlich heißt mit Recht der Böse nur. (III,5)

Beim Stichwort „Sebastian“ hätte Cesario unbedingt nachfragen müssen. Stattdessen lässt er Antonio von den Gerichtsdienern wegbringen. Das nennt man den perfekten Augenblick verpassen. Immerhin rätselt er der ungenutzten Gelegenheit hinterher. Viola Er nannte den Sebastian: lebt ja doch Des Bruders Bild in meinem Spiegel noch. Er glich genau nach allen Zügen mir, Und trug sich so in Farbe, Schnitt und Zier, Denn ihn nur ahm’ ich nach. O wenn es ist, so sind Die Stürme sanft, die Wellen treu gesinnt! (III,5)

Die Zeit wird in diesem Stück noch so einiges zu entwirren haben: den Fall mit Olivias Liebe, den Fall mit Violas Liebe, den Fall mit des Bruders Rettung. Eigentlich ist das relativ einfach – einfach das Versteckspielen hinter falscher Identität aufgeben –, aber daraus wird für den Dramatiker kein Stück. Den vertanen Augenblick holt der Zufall wieder ein. Die Komiker lauern ja an der Gartenhecke, um die beiden Angsthasen Cesario und Bleichenwang zum Spaß aufeinanderzuhetzen. Aber auf der Straße bei Olivias Garten kommt nicht Cesario daher spaziert, sondern dummerweise sein Zwilling Sebastian, der auf Sightseeing ist. Der

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Narr ist ihm auf den Fersen und muss verblüfft feststellen, in Illyrien ‚ist nichts so, wie es ist’. Dieser Monsieur Cesario kennt ihn plötzlich nicht mehr, dabei war er doch dabei, als er dem Herzog so schön von verschmähter Liebe und erwünschtem Tod vorgesungen hat. Seine Verblüffung und die Frechheit von Junker Bleichenwang sind eins. Der haut dem vermeintlichen Feigling Cesario eins in die Fresse. Sebastian, nicht faul, schlägt ordentlich zurück. Raufereien, Fechten und Protzen waren im 16. Jahrhundert auf Londons Straßen durchaus üblich. Man lese das einschlägige Kapitel „Fechten und Protzen“ bei Neil MacGregor1. Was in London Alltag war, ist auch in Illyrien an der Tagesordnung. Mit einer derart entschiedenen Reaktion haben die Komiker nicht gerechnet. Jetzt muss sich Junker Tobias für seinen Freund Bleichenwang ins Zeug legen. Er zieht blank, Sebastian zieht blank, und was zunächst so einfach schien, wird leicht blutig. Cesario ist nicht Sebastian. Aber wer soll das wissen. Glücklicherweise kommt Fräulein Olivia vors Gartentor und macht der Auseinandersetzung vorerst ein Ende. Fort mit dir, du Raufbold, schimpft sie ihren Onkel. Ausgerechnet mit ihrem Liebling! Das Glück steht am Wege; der eine nimmt es, und der andere geht daran vorbei. Olivia nimmt es. Olivia Sey nicht beleidigt, mein Cesario! – Fort, Grobian! (Junker Tobias, Junker Christoph und Fabio ab) Ich bitt’ dich, lieber Freund, Gib deiner Weisheit, nicht dem Zorn Gehör, Bei diesem wilden, ungerechten Ausfall Auf deine Ruh. Geh mit mir in mein Haus, Und höre da, wie viele lose Streiche Der Lärmer angezettelt, daß du diesen Alsdann belächeln magst; mitkommen mußt du, Verweigr’ es nicht! Verwünscht sei er von mir, Eins meiner Herzen kränkt’ er ja in dir. (IV,1)

Auch Sebastian lässt das Glück nicht auf der Straße stehen. Er folgt ihm bzw. ihr. Aber wundern tut er sich schon. Sebastian Wo weht dieß her? Wie dünkt es meinem Gaum? Bin ich im Wahnsinn, oder ists ein Traum? Tauch’ meinen Sinn in Lethe, Fantasie!

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Soll ich so träumen, gern erwach’ ich nie. Olivia Komm, bitte! Folg’ in allem meinem Rath! Sebastian Ja, Fräulein, gern. Olivia

Oh, mach’ dein Wort zur That! (IV,1)

Das Glück bleibt den beiden treu, so viel sei vorne weg gesagt. Aber wir müssen uns noch ein wenig gedulden, weil Maria mit Tobias und dem Narren noch dem Malvolio zeigen muss, wer im Haus das Sagen hat. Er sitzt ja seit geraumer Zeit eingesperrt in einem dunklen Verlies und ist schon weichgekocht für ihr böses Spiel, in dem sie ihn glauben machen wollen, er sei verrückt. Der Puritaner erhält eine ordentliche Abfuhr, indem ihm die Grenzen seines Glücks aufgezeigt werden. Hinten im Garten der Gräfin ist einer wie der berühmte Hans in seinem Glück. Wie soll er glauben, was ihm geschieht. Wahnsinn, einfach Wahnsinn! Sebastian Dieß ist die Luft, dieß ist die lichte Sonne; Dieß Kleinod gab sie mir, ich fühl’, ich seh’ es; Und ob mich schon Bezauberung umstrickt, Ists doch kein Wahnsinn. Wo ist wohl Antonio? […] Jetzt eben wär’ sein Rath mir Goldes werth: Denn überlegt mein Geist schon mit den Sinnen, Daß dieß ein Irrthum seyn kann, doch kein Wahnsinn, So übersteigt doch diese Flut von Glück In solchem Grade Beispiel und Begriff – Ich hätte Lust, den Augen mißzutrauen Und die Vernunft zu schelten, die ein Andres Mich glauben machen will, als ich sey toll, Wo nicht, das Fräulein toll; doch wäre dieß, Sie könnte Haus und Diener nicht regieren, Bestellungen besorgen und empfangen, Mit solchem stillen, weisen, festen Gang, Wie ich doch merke, daß sie thut. Hier steckt Ein Trug verborgen. Doch da kommt das Fräulein. (IV,3)

Es führt das Glück pur mit sich, einen Priester. Der Statist wird wenig später zum Kleindarsteller. Aber jetzt wird erst einmal gehei-

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ratet. Schnell gefreit, hat nicht gereut oder so ähnlich oder doch ganz anders. Sie hat ihn jetzt und nützt die Gunst der Stunde. Von Orsino ist Gott sei Dank nicht mehr die Rede. Olivia Verzeiht mir diese Eile; meint ihrs gut, So geht mit mir und diesem heil’gen Mann In die Kapelle neben an, und dort, Vor ihm und unter dem geweihten Dach, Verbürget feierlich mir eure Treu, Daß mein ungläub’ges, allzu banges Herz Zur Ruh’ gelangen mag. Er solls verbergen, Bis ihr gesonnen seid, es kund zu machen, Und um die Zeit soll meinem Stand gemäß Die Feier unsrer Hochzeit seyn. – Was sagt ihr? (IV,3)

Ja, was sagt man da? Ja! Welch ein Glück! Beiseite gesprochen: Solche Komödien könnte man heute nicht mehr schreiben. Welches kleinere oder mittlere Landhaus hat in unserer Zeit eine Hauskapelle. Jetzt geht es Schlag auf Schlag, will sagen der fünfte Akt hat nur eine Szene. Wir sind wieder auf der Straße vor Olivias Haus. Der Herzog kommt mit Cesario, und das verspricht Dramatik. Wir erinnern uns: „Daß ich nicht Weigern noch Verzug ertrage.“ Und eben jetzt hat Olivia geheiratet. Erst blödelt er noch ein wenig mit dem Narren herum, der vor dem Haus steht. Der Spaßmacher luchst ihm in seiner Schläue schnell zwei Goldstücke ab. Dann entwickelt sich die Szene so, wie das Frank Günther allgemein vortrefflich zusammenfasst: „Chaos verwechselter Identitäten; lautstarker Streit, richtigfalsche Beschuldigungen, menschliche Enttäuschungen, die in die tiefste Seele treffen; Todesdrohungen und Todesbereitschaft; nur wenig trennt die Komödie von einer Tragödie. Die Auflösung durch Sebastians Auftritt: geisterhaft gespiegelte Identitäten – ein Kunststück der Natur. Rätsel und Wunder der individuellen Identität im Bild der Zwillinge gefasst; das Ich und der Andere treten wieder auseinander; Täuschung, Selbsttäuschung, Phantasmagorie und Irrsinn kehren in einem Zeitlupentanz zurück zur Alltagsvernunft.“2

Konkret heißt das, dass die Gerichtsdiener mit dem festgesetzten Antonio dem Herzog hinterherlaufen und ihn bezichtigen, auf offener Straße eine Schlägerei angefangen zu haben. Das sieht Cesario

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anders; der hat mir geholfen, aber dann hat er unverständliches Zeug geredet. Den Herzog interessiert zunächst mehr der Pirat als der Raufbold. Den Vorwurf der Piraterie weist Antonio entschieden zurück. Er sei immer ein ehrlicher Feind gewesen. Aber seine menschliche Enttäuschung über den undankbaren Knaben an der Seite des Herzogs könne er nur schwer ertragen. Er habe ihn aus dem Schiffbruch gerettet – zugegeben sei da seinerseits auch Verliebtheit im Spiel gewesen –, habe ihn unter Gefahr hierher begleitet und versorgt, habe ihn, als er von ein paar lumpigen Raufern angefallen wurde, verteidigt und als er sein ihm geliehenes Geld zurück haben wollte, die tiefe menschliche Enttäuschung erleben müssen, dass der falsche Junge ihn verleugnet habe. Das sei sehr bitter für ihn. Als der Herzog danach frägt, seit wann sie in der Stadt seien, ergibt sich ein offensichtlicher Widerspruch. Erst seit heute, sagt Antonio, und vorher waren wir schon drei Monate beisammen – wohlgemerkt nicht nur bei Tage, sondern auch bei Nacht. Die Intimgeständnisse interessieren den Herzog nicht, aber der Widerspruch ist offensichtlich: Herzog […] Mensch, Mensch, deine Red’ ist Wahnsinn: Drei Monden dient mir dieser junge Mann. Doch mehr hievon nachher. – Führt ihn beiseit. (V)

Olivia kommt aus dem Haus. Das Pseudotribunal war ja laut genug, aber jetzt ist der Herzog natürlich auf sie fokussiert, sie aber auf Cesario. Es kommt zu einer lautstarken Auseinandersetzung. „Marmorbusige Tyrannin“, schimpft er sie. Er kennt auch den Grund für ihre Abweisung: Cesario versperrt mir den Platz in eurer Gunst. Ihr werdet sehen, ich kann nicht nur auf Liebe, sondern kann auch grausam sein. Herzog Ihn will ich aus dem stolzen Auge reißen, Wo hoch er thronet, seinem Herrn zum Trotz. – Komm, Junge! Mein Entschluß ist reif zum Unheil: Ich will mein zartgeliebtes Lamm entseelen, Um einer Taube Rabenherz zu quälen. (V)

So poetisch die Todesdrohung auch formuliert ist, so erpresserisch ist sie, und Cesario befeuert mit Todesbereitschaft auch noch die Gewaltfantasien des Herzogs.

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Viola Und ich, bereit, mit frohem, will’gem Sinn, Gäb’, euch zum Trost, mich tausend Toden hin. (V)

Komisch ist diese aufgewühlte Situation absolut nicht mehr. Olivia hat Angst um ihren eben angetrauten Mann, der plötzlich ein für sie völlig unverständliches Bekenntnis ablegt. Viola Ihm folg’ ich nach, dem ich mich ganz ergeben, Der mehr mir ist als Augenlicht, als Leben; Ja mehr, um Alles, was man mehr nur nennt, Als dieses Herz je für ein Weib entbrennt. Und red’ ich falsch, ihr hohen Himmelsmächte, An meinem Leben rächt der Liebe Rechte! (V)

Die Rede ist mehr als bittrer Hohn, ist blankes Entsetzen, purer Wahnsinn. Jetzt kommt die große Stunde des Pfarrers. Olivia Ruft doch den Priester her. (V)

Der Herzog will sein Opferlamm zur Schlachtbank führen, zumindest will er abgehen, da offenbart Olivia ihr Geheimnis mit Cesario. Olivia Wohin? – Gemahl! Cesario, bleib hier! (V)

Jetzt zieht es wie eben Olivia dem Herzog den Boden unter den Füßen weg. Natürlich leugnet Cesario. Einerseits ist es gut, dass der Priester schnell kommt, bevor Schlimmeres passiert, aber andererseits ist das, was er zu sagen hat, auch nichts, was den Herzog beruhigen könnte. Bitte, bitte, sag ganz schnell, was du weißt und bezeugen kannst. Priester Ein Bündniß ewigen Vereins der Liebe, Bestätigt durch in eins gefügte Hände, Bezeugt durch eurer Lippen heil’gen Druck, Bekräftigt durch den Wechsel eurer Ringe; Und alle Fei’rlichkeiten des Vertrags Versiegelt durch mein Amt, mit meinem Zeugniß. Seitdem, sagt mir die Uhr, hab’ ich zum Grabe Zwei Stunden nur gewallet. (V)

Der Herzog schreit seine Empörung so laut heraus, wie Cesario leise zu einem Schwur ansetzt. Aber die Situation wird fürs erste

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ausgebremst, weil der Auftritt von Junker Christoph und Junker Tobias neue Verwirrung schafft. Sie sind beide verletzt und beschuldigen den Kavalier des Herzogs, also Cesario, ihnen blutige Schädel geschlagen zu haben. Das verblüfft nun den Herzog sowohl wie auch Olivia, da doch Cesario hier bei ihnen den Zankapfel gespielt hat. Er braucht eigentlich gar nicht leugnen. Man schickt die durchgebleuten Komiker ins Bett. Bevor man den alten Streit wieder aufgreifen kann, geschieht ein Wunder gänzlich natürlicher Art. Sebastian kommt. Verblüffung allerseits, denn jetzt sind zum ersten Mal die Zwillinge gleichzeitig auf der Bühne. Das ist im Theater natürlich immer ein spannender Moment, denn die Besucher sind nun darauf fixiert, wie verblüffend die Ähnlichkeit der beiden ausfällt. Die Kleidung ist das geringste Problem, Gesicht, Statur und Stimme sind entschieden problematischer. Natürlich ist das Theater keine Zauberbude, die Zauberkunststückchen liefern muss, aber eine gewisse Ähnlichkeit ist schon erstrebenswert. Vielleicht hatte das elisabethanische Theater mit seinen Knabenschauspielern einen Vorteil – boy zu boy –, aber Frauen und Männer sind einigermaßen different. Schauspielernde zweigeschlechtliche Zwillingspaare müssen glaubwürdige Ähnlichkeit nicht unbedingt erfüllen, und Kessler-Zwillinge sind schwer zu haben. Von den etwa zehn Inszenierungen von „Was ihr wollt“, die ich gesehen habe, hat ein Abend eine verblüffende Lösung für das Zwillingsproblem angeboten. Es war die großartige Inszenierung von Johannes Schaaf 1970 am Residenztheater in München. Kessler-Zwillinge hin und her, aus zwei mach eins ist auch eine Lösung. Johannes Schaaf hat beide Rollen, Viola und Sebastian, mit Christine Ostermayer besetzt und mit einem stummen Double ein verblüffendes Crossover inszeniert, bei dem die Geschwister wie in der Zauberbude in einer Schauspielerin identisch blieben. Die Rochade gelang wie beim Schach oder beim Fußball durch blitzschnelle Wechsel der Positionen vor allem von den Außenseiten, aus der Kulisse her. Das Durcheinander und die Illusion des Schaubudentricks hatten aber eine wunderbare und tiefsinnige Wirkung bezüglich der in jede Richtung gleichbleibenden doppelten geschlechtlichen Identität. Der Herzog bekam seine Olivia tatsächlich als Cesario, der Viola ist, und Olivia eroberte sich ihren Cesario, der als Sebastian weibliche Identität hat. Auf der Bühne gibt es das Wunder, dass eins im Bild der Zwillinge doppelt ist, hinter der Bühne gäbe es ein

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böses Erwachen. Wer ist Christine Ostermayer – und wenn ja, wie viele? Sebastian kommt. Cesario/Viola hat sich klammheimlich, während die Komiker ihre Wunden lecken, mit dem Double ausgetauscht und kommt forsch aus der vorderen Kulisse eine Entschuldigung auf den Lippen, weil er Olivias Onkel verprügelt hat. Leider! Aber die Entschuldigung kann er sich sparen, weil ihn Olivia aus anderen Gründen völlig entgeistert anschaut. Sebastian Ihr blicket fremd mich an, mein Fräulein, und Daran bemerk’ ich, daß es euch beleidigt. Verzeiht mir, Holde, jener Schwüre wegen, Die wir einander eben nur gethan. (V)

Olivia stammelt nur „Höchst wunderbar!“, während der Herzog wenigstens zwei Zeilen Verwunderung herausbringt. Herzog Gesicht, Ton, Kleidung eins, doch zwei Personen: Ein wahrer Gaukelschein, der ist und nicht ist. (V)

Dann ist Antonio dran mit seiner Verwunderung, was wiederum Sebastian überrascht. Er kann nicht verstehen, was an ihm plötzlich so sonderbar sein sollte. Antonio versucht sich zu erklären. Antonio Wie habt ihr denn euch von euch selbst getrennt? Ein Ei ist ja dem andern nicht so gleich Als diese zwei Geschöpfe. Wer von beiden Ist nun Sebastian? (V)

Jetzt sieht sich auch Sebastian doppelt. Er läuft auf Viola zu. Sebastian Steh’ ich auch dort? Nie hatt’ ich einen Bruder, Noch trag’ ich solche Göttlichkeit in mir, Daß von mir gölte: hier und überall. Ich hatte eine Schwester, doch sie ist Von blinden Wellen auf der See verschlungen. (zu Viola) Um Gottes willen, seid ihr mir verwandt? Aus welchem Land? Wes Namens? Wes Geschlechts? (V)

Er umarmt sie, sie umarmt ihn. Alle stürzen auf sie/ihn zu. Er schält sich aus den Umstehenden heraus und ist jetzt Cesario. Da kennt sich doch keiner mehr aus. Sebastian vernimmt von Cesario eine ihm bekannte Geschichte.

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Viola Von Metelin; Sebastian war mein Vater. Solch ein Sebastian war mein Bruder auch. (V)

Und gerade so, wie du angezogen bist, ist er auch ertrunken. Ich, sagt Sebastian, bin aber noch recht lebendig, und wenn ihr eine Frau wärt – Frau Ostermayer dreht sich mit dem umarmten Double immer schnell um sich –, dann ließe ich auf eure Wange eine Träne fallen. Sebastian Und spräch’: Viola, sei Ertrunkne mir willkommen! (V)

Schnelle Rochade. Dann sagt Viola das erlösende Wort, das alle Täuschung wie eine Erlösung aus dem Wahnsinn aufhebt. Zwar schaut sie immer noch aus wie Cesario und dieser wie Sebastian, und alle drei wie Frau Ostermayer, aber ein Wort ist ein Wort. Viola Steht nichts im Weg, uns beide zu beglücken, Als diese angenommne Männertracht, […] Daß ich Viola bin, dieß zu bestärken, Führ’ ich euch hin zu einem Schiffspatron Am Ort hier, wo mein Mädchen-Anzug liegt. Durch seine güt’ge Hülf ’ errettet, kam Ich in die Dienste dieses edlen Grafen; Und was seitdem sich mit mir zugetragen, War zwischen dieser Dam’ und diesem Herrn. (V)

Langsam kommt Ordnung ins Chaos der verwechselten Identitäten, zunehmend kann man wieder mit Alltagsvernunft die Wirklichkeit ordnen. Sebastian versichert seiner angetrauten Gattin: Sebastian Ihr wolltet einer Jungfrau euch verbinden, Und seid darin, beim Himmel, nicht betrogen: Jungfräulich ist der euch vermählte Mann. (V)

Der Herzog tröstet Olivia, dass ihr jungfräulicher Mann in jedem Falle aus adeligem Hause stamme. Im Übrigen habe sie in Sebastian den Prototyp für Cesario und er in Viola das in Cesario immer schon heimlich geliebte Urbild. Olivia ist darüber nicht traurig, und der Herzog schließt sich dem Brautpaar mit einem Heiratsantrag an.

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Herzog Du hast mir, Junge, tausendmal gesagt, Du würd’st ein Weib nie lieben so wie mich. Viola Und all’ die Worte will ich gern beschwören, Und all’ die Schwüre treu im Herzen halten, Wie die gewölbte Veste dort das Licht, Das Tag’ und Nächte scheidet. Herzog

Gieb mir deine Hand, Und laß mich dich in Mädchenkleidern sehn! (V)

Damit ist die Komödie in dem Hafen gelandet, in dem jedes Muster dieser Gattung landen muss: im Hafen der Ehe. Deshalb werden auch noch schnell die Bedingungen einer gemeinsamen Hochzeit abgeklärt. Olivia Mein Fürst, beliebts euch, nach erwogner Sache, So krön’ ein Tag den Bund, wenns euch beliebt, In meinem Hause und auf meine Kosten. Herzog Eu’r Antrag, Fräulein, ist mir höchst willkommen. (zu Viola) […] Und weil ihr mich so lange Herr genannt, Nehmt meine Hand hier, und von jetzo an Seid euers Herrn Herr. (V)

*** In seiner Novelle „Der junge Tischlermeister“, die 1836 erschien und die eigentlich ein Bildungsroman ist, erzählt Ludwig Tieck, der Spiritus Rector der sogenannten Schlegel-Tieckschen Ausgabe der Werke Shakespeares, von einem Versuch einer Aufführung von Shakespeares Komödie „Was ihr wollt“. Er fasst das Stück durch den inszenierenden Professor Emmrich für seine Laiendarsteller auf einem Schloss an der fränkischen Grenze so zusammen: „Alle Töne klingen in diesem einzigen Werke an, Posse und Spaß werden nicht verschmäht, das Niedrige selbst berührt und angedeutet, aber ebenso das Poetische, die Sehnsucht, die Töne der Liebe, und dabei so viel dichterischer Eigensinn,

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Tollheit, Weisheit, feiner Scherz und tiefsinnige Gedanken in der Gaukelei, daß das Poem wie ein großer vielfarbiger Schmetterling durch reine blaue Luft flattert, der Sonne und den buntfarbigen Blumen seinen goldenen Glanz entgegenspiegelt, und wer ihn haschen will, um ihn näher zu betrachten, hüte sich nur, vom leichten Duft des zartesten Blütenstaubes etwas abzustreifen, weil der kleinste Verlust die wie in Luft hingehauchte Schönheit schon verdirbt.“3

zu Was ihr wollt, Akt 3, Szene 5

Das ist aus tiefer Kenntnis von Shakespeares Werk gesprochen, denn aus der fiktiven Figur spricht natürlich Tieck selbst. Seine redaktionelle Leitung und Betreuung des großen Übersetzungswerks von August Wilhelm von Schlegel, von Wolf Graf Baudissin und seiner Tochter Dorothea Tieck findet in dieser Novelle in der Tradition von Goethes Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (1795/96) einen poetischen Niederschlag. Lustvoll wird da die von Goethe angeregte Theatromanie ausgelebt. Gleichzeitig bekommt die übersetzende Gallionsfigur der Ausgabe, die 1828-1833 fertig wurde, ein Lob Tiecks in indirekter poetischer Münze. „Wie glücklich sind wir Deutsche“, begann Emmrich wieder,

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„daß unser Schlegel uns diese und andere Werke des Briten so durchaus meisterhaft übersetzt hat. Man sagt nicht zuviel, wenn man behauptet, der Umwandler habe sich hierin als wahrer Dichter gezeigt.“4

Dann geht es an die Rollenverteilung. Natürlich fängt der Regisseur mit den Damen an: Fräulein Charlotte wird die reizende kapriziöse Olivia übernehmen, Fräulein Albertine den naseweisen jungen und übermütigen Menschen Cesario. Da bedarf es einiger Überredung. Nicht so bei der Rolle des Kammermädchens. „Nicht wahr?“ rief Dorothea, „mir fällt gewiß das kleine schnippische Kammermädchen zu?“ „So ist es, sind Sie damit einverstanden?“ „Herrlich will ich sie spielen“, rief die Übermütige, „vorzüglich, wenn sie den überklugen Malvolio zum besten hat.“5

*** Ach!, sagt das Fräulein Olivia, den armen Malvolio haben wir ganz vergessen in unserem allseitigen Glück. Man rekapituliert den Fall, liest der Gräfin seinen Rechtfertigungsbrief vor, holt ihn herbei, klärt, dass er auf den Brief von Marias Hand reingefallen ist, erwähnt, dass Tobias zum Dank für das Schelmenstück Maria zur Frau genommen hat und erwähnt auch die Rolle des Narren als Pfarrer in diesem ganzen Possenspiel. Trotz allgemeinen Bedauerns scheitert das Vorhaben einer Versöhnung. Kein allgemeines Glück ohne Trauerrand. Von einem Abgang, wie ihn Malvolio hinlegt, holt man keinen zurück. Malvolio Ich räche mich an eurer ganzen Rotte. (ab) (V)

Aber man muss dennoch kein Mitleid mit ihm haben. Er muss mit seiner Arroganz selbst fertig werden, auch wenn der Herzog noch einen Versuch zum Ausgleich verordnet. Herzog Geht, holt ihn ein, bewegt ihn zur Versöhnung. – (V)

Dann ist ein allgemeines Fest angesagt, auf dem ein „feierlicher Bund der Seelen“ geschlossen werden soll. Der Narr schließt das Stück mit einem Lied, das zu den schönsten lyrischen Schöpfungen

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Shakespeares gehört. Das Chaos ob des Vorscheins einer androgynen platonischen Geschlechterwelt lichtet sich in den grauen Alltag einer von diesem mythischen Geheimnis freien Welt. Die Ordnung der Oberfläche ist wiederhergestellt. Narr singt. Und als ich ein winzig Bübchen war, Hop heisa, bei Regen und Wind! Da machten zwei nur eben ein Paar; Denn der Regen, der regnet jeglichen Tag. (V)

*** Seit der Posse, die die Komiker dem Malvolio im vierten Akt gespielt haben, ist das Kammermädchen der Gräfin von der Bildfläche verschwunden; je nach Inszenierung ist sie allenfalls als Statistin in die allgemeine Geschäftigkeit des Schlusses eingebunden. Das tut uns leid, und wir wollen diese Ungerechtigkeit des Autors an seiner liebenswerten und klugen, auch lustigen und frechen Figur ein wenig ausgleichen. Wir sind mit Harold Bloom zwar der Meinung, dass Maria „wirklich Verstand besitzt“, aber dass sie mitnichten „eine ehrgeizige Aufsteigerin“ ist, die „ein gefährliches Innenleben“ hat – und noch verwegener –, dass sie „der einzige wahrhaft bösartige Charakter in Was ihr wollt“ ist,6 das ist schlichtweg Unsinn. Um mit dem Dichter zu sprechen: Von wannen kommt uns diese Wissenschaft? „Was ihr wollt“ ist das erste Stück, das ich in meinem Leben in einem kleinen, aber professionellen Theater, im Stadttheater Landshut, in der Spielzeit 1962-63 gesehen habe. Da war ich noch nicht ganze 16 Jahre alt und bin aus eigenem Antrieb hingegangen. Ich war verunsichert und aufgeregt, weil man damals zum einen als 16-Jähriger sich seinen Eltern erklären musste, die dafür keinerlei Verständnis hatten, zum anderen, weil man da mit dem Nachtzug von München nach Hof erst nach Mitternacht heimfahren konnte. Unsicher war ich mir auch, ob ich in meinem bescheidenen Anzug – mit Krawatte versteht sich – den Erwartungen an einen Theatergast genügen würde. Alles lief fantastisch, und die Aufführung wurde zu einem Initialerlebnis meines Lebens. An diesem Abend habe ich Shakespeare für immer entdeckt. Der mit Musik in Liebe schmachtende Herzog kam bei mir

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gut an, aber schuld an der Erschütterung durch Shakespeare war nicht zuletzt Marias Lachen. Ihre Intrige mit dem Brief war wunderbar eingefädelt, die Szene hinter der Gartenhecke, in der sich Malvolio in seiner ganzen Eitelkeit aufblähte, lief prächtig. Nachdem sich Olivia erneut eine Abfuhr von Cesario geholt hat, steht Malvolio für seinen Auftritt bei seiner Herrin bereit. Maria hat ihn schon gesehen und läuft zu ihren spaßgeilen Mitverschworenen, die auf der Bühne den Junker Christoph für seine alberne Ausforderung präpariert haben. Man hört sie schon aus der Kulisse lachen. Es schüttelt sie ein ungeheurer Lachanfall, als sie auf die Bühne kommt. Das Publikum wird von ihrem Lachen angesteckt, ohne eigentlich zu wissen, warum das Kammermädchen lacht. Das Lachen schaukelt sich wechselseitig hoch und entfacht sich an sich selbst. Gefühlte fünf Minuten geht das so, in denen Maria – sie heißt an diesem Abend Ruth Himmelmann – ihr Publikum mit ihrem Lachkoller in lachende Erschöpfung treibt. Immer noch prustend bietet sie nach und nach einen Text, der solches Lachen schließlich mit ihrem Text in Einklang bringt. Maria Wollt ihr Milzweh haben, und euch Seitenstechen lachen, so kommt mit mir. Der Pinsel Malvolio ist ein Heide geworden, ein rechter Renegat. Denn kein Christ, der durch den wahren Glauben selig zu werden hofft, glaubt jemals einen solchen Haufen abgeschmacktes Zeug. Er geht in gelben Strümpfen. Junker Tobias Und die Kniegürtel kreuzweise? (III,2)

Noch einmal dröhnen Lachsalven durchs Haus. Man hält sich die Bäuche und ist außer Atem, obwohl man noch keine gelben Strümpfe und kreuzweis gebundene Kniegürtel gesehen hat. Maria Ganz abscheulich, wie ein Schulmeister. – Ich bin ihm nachgeschlichen wie ein Dieb; er richtet sich nach jedem Punkte des Briefs, den ich fallen ließ, um ihn zu betrügen. Er lächelt mehr Linien in sein Gesicht hinein, als auf der neuen Weltkarte mit beiden Indien stehn. Ihr könnt euch so was nicht vorstellen; ich kann mich kaum halten, daß ich ihm nicht etwas

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an den Kopf werfe. Ich weiß, das Fräulein wird ihm Ohrfeigen geben; und wenn sie es thut, so wird er lächeln und es für eine große Gunst halten. Junker Tobias Komm, führ’ uns hin, führ’ uns hin, wo er ist. (III,2)

Abb. 18: Ruth Himmelmann

Erschöpft vom Lachen ging man in die Pause. Ich danke Ruth Himmelmann bis heute für ihr ansteckendes und befreiendes Lachen. Wenige Jahre später habe ich sie nach einem Gastspiel des Stadt-

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theaters, das ich in meinem Heimatort Ergoldsbach organisiert habe, kennengelernt und mich für ihr Lachen bedankt. Ich habe sie noch in vielen Rollen gesehen, aber leider ist sie mit 49 Jahren 1975 verstorben. Noch heute höre ich ihr Lachen und es erheitert mich. Wie in der Novelle „Der junge Tischlermeister“ habe ich 1964 eine Theatergruppe gegründet und mich in Theatromanie à la Ludwig Tieck an dem Stück „Was ihr wollt“ versucht. Die „kleine Maria“, wie sie Tieck nannte, spielte ein kleines, zierliches 17-jähriges Mädchen. Sie wurde Jahre später meine Freundin und ist noch heute meine Frau. deutsche Übersetzung: August Wilhelm von Schlegel 1) Neil MacGregor: Shakespeares ruhelose Welt. München: C.H. Beck 2013, S. 75–87 2) Frank Günther, Bd. 8, S. 266 3) Ludwig Tieck: Der junge Tischlermeister, in: Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden. Romane, hrsg. von Marianne Thalmann, Darmstadt (Wiss. Buchgesellschaft) 1978, S. 389 4) Ebd., S. 390 5) Ebd., S. 391 6) Harold Bloom, Komödien und Historien, S. 351

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Ende gut, Alles gut (1600 / 1604)

designed by John Hayter and engraved by B. Eyles

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Der Beginn für eine Komödie könnte nicht besser sein. Alle, die im Schloss der Gräfin von Roussillon in der ersten Szene auftreten, sind in schwarzen Trauerkleidern. So sagt es jedenfalls die Regieanweisung. Man trauert um den eben verstorbenen Grafen und auch ein wenig um den jüngst verstorbenen Vater von Helena, die als Pflegetochter im Hause der Gräfin lebt. Warum Helena in sich selbst versunken entgegen der Regieanweisung ganz in Weiß auf obigem Bild präsentiert wird, ist ein Rätsel, das schwer erklärbar ist. Bertram, der Sohn der Gräfin, ist dabei, sich von der Mutter nach Paris zum Dienst beim König zu verabschieden. Nach beider Abgang verbleibt Helena alleine auf der Szene und wir hören, was sie denkt. Helena Ach, wär’s nur das! Des Vaters denk’ ich kaum; Und jener Großen Thräne ehrt ihn mehr, Als seiner Tochter Gram. – Wie sah er aus? Vergessen hab’ ich ihn; kein andres Bild Wohnt mehr in meiner Fantasie als Bertram. Ich bin verloren! Alles Leben schwindet Dahin, wenn Bertram geht. Gleichviel ja wärs, Liebt’ ich am Himmel einen hellen Stern, Und wünscht’ ihn zum Gemahl; er steht so hoch! An seinem hellen Glanz und lichten Strahl Darf ich mich freun; in seiner Sphäre nie. So straft sich selbst der Ehrgeiz meiner Liebe: Die Hindin, die den Löwen wünscht zum Gatten, Muß liebend sterben. O der süßen Qual, Ihn stündlich anzusehn! Ich saß und malte Die hohen Brau’n, sein Falkenaug’, die Locken In meines Herzens Tafel, allzu offen Für jeden Zug des süßen Angesichts! Nun ist er fort, und mein abgöttisch Lieben Bewahrt und heiligt seine Spur. – Wer kommt? – (I,1)

Was da zu hören war, ist leicht überraschend. Zwischen der, die da sprach, und dem, über den da gesprochen wurde, besteht ein sehr

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einseitiges Verhältnis. Zwei Halbwaisen zwar, aber der soziale Unterschied könnte nicht größer sein. Nicht einmal auf ein geschwisterliches Miteinander lässt der kleine Monolog rückschließen. Für die bürgerliche Helena, Tochter eines berühmten Arztes, übernahm zwar die Gräfin von Roussillon eine Vormundschaft, für den aristokratischen Sohn der Gräfin tritt nun der König in die Rolle der Ersatzvaterschaft. Aber auf die Idee, dass die Gedanken des Mädchens auf heimlichen Nebenwegen gehen, ist bisher niemand gekommen, und dass ihre Trauer durch den Weggang des jungen Grafen bedingt ist, bleibt vorerst ihr Geheimnis. Paris ist nicht um die Ecke gelegen und für damalige „Märchenzeit“ in unendlich blauer Ferne. Helenas Rede spricht für sich; sie ist eine Verklärung eines jungen Mannes, der zu den unerfreulichsten jungen Männern gehört, von denen Shakespeare bekanntlich einige geschaffen hat. Er erinnert sehr an Proteus – ein schlau, meineidig, falsch, treuloser Mann! – aus der Komödie „Die beiden Veroneser“. Aber er soll gerecht behandelt werden und nicht vorverurteilt sein. Die Gräfin ist traurig, weil sie in seinem Weggang nach Paris den Verlust ihres Gatten verdoppelt spürt. Sie gibt ihm gute Ratschläge mit auf den Weg und einen ehrsamen Begleiter: Lafeu, einen erprobten Vasallen des kranken Königs. Der begleitet Bertram nach Paris. Nachdem die Gräfin ihren Sohn gesegnet hat, zieht sie sich dezent zurück, und Bertram verabschiedet sich artig von dem Mädchen, mit dem er aufgewachsen ist. Bertram zu Helena. Die besten Wünsche, die in der Werkstatt eurer Gedanken reifen können, mögen euch dienstbar sein! Seid der Trost meiner Mutter, eurer Gebieterin, und haltet sie wert! – (I,1)

Helena scheint dem Kompliment Bertrams nach ein ziemlich kluges Mädchen zu sein. Ihren Scharfsinn hat sie von ihrem Erfinder Giovanni Boccaccio erhalten, aus dessen „Dekameron“ sich Shakespeare bediente. Ihr „abgöttisch Lieben“, wie sie sagt, ist ebenfalls in dieser Quelle vorgegeben. Giletta, so heißt sie dort, war dort wie hier die Tochter eines Arztes und sie „empfand für den jungen Beltramo eine unendliche Liebe, die viel glühender war, als es sich für ihr zartes Alter ziemte.“1

Dass er, Bertram, der beste Wunsch in ihrer Gedankenwerkstatt ist,

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davon kann er nichts wissen. Sie hatte nie wie ihre spätere Schwester, das Käthchen aus Heinrich von Kleists „Käthchen von Heilbronn“, von ihren Wünschen eine Andeutung gemacht. Sie wird ihr Heißersehntes als ein sehr kluges, rational kalkulierendes Mädchen gewinnen, Käthchen dagegen wird aus der Werkstatt ihrer unbewussten Gefühle ihr Ziel auf romantische Art erreichen. Mit „Wer kommt?“ unterbricht Helena ihr schmerzliches Räsonnement auf ihre heimliche Liebe. Auch der Gesellschafter und Reisebegleiter Bertrams kommt, um sich zu verabschieden. Sie mag ihn nur um Bertrams willen – also eigentlich nicht, wie alle außer Bertram –, und sofort geht es in medias res über ein ziemlich delikates Thema. Sie meditieren über „das Wesen des Jungfrauentums“. Darüber eröffnet Parolles ein sexistisch-höfisches Gesprächsspiel, und Helena bleibt ihm in Antworten und Gegenfragen nichts schuldig. Das Duell der Argumente für den Erhalt oder Verlust dieses zunächst toten Kapitals bei Frauen ist unterhaltsam und witzig, aber der Sinn und die Funktion dieses Disputs erschließt sich für den Zuschauer zunächst überhaupt nicht, denn woher, außer aus dem „Schauspielführer“, sollte der wissen, dass das Stück sich in eine frivole Komödienhandlung stürzen wird, die in der Literatur als bed-trick beschrieben wird. Dort wird es um tapfer bewahrtes und großzügig verschenktes Jungfrauentum gehen, um Verlust und / oder Gewinn, der bezahlt oder einkassiert werden kann. Helenas Frage lässt für ihre Zukunft aufhorchen, obwohl sie im Augenblick selber noch nicht weiß, wohin die neckische Spekulation auf ihr Jungfrauentum führen wird. Wie kann ich das Ding nach eigenem Gusto losbringen. Helena Was aber thun, um es anzubringen nach eignem Wohlgefallen? (I,1)

In ihrer Gedankenwerkstatt arbeitet es, ihren besten Wunsch zu befördern. Bravissimo! Coraggio! Nur Mut, sagt sie sich, wie die jungen Edelleute, die in den Krieg ziehen. Nur ist es bei ihr geistreicher formuliert. Helena Oft ists der eigne Geist, der Rettung schafft, Die wir beim Himmel suchen. Unsrer Kraft Verleiht er freien Raum, und nur dem Trägen, Dem Willenlosen, stellt er sich entgegen. (I,1)

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„Des Königs Krankheit“, blitzt es durch ihren Kopf, das ist mein Stichwort, das ist eine Möglichkeit, dem Geliebten auf den Fersen zu bleiben. Der König ist das Mittel zum Zweck. Helena Des Königs Krankheit, – täuscht mich nicht, Gedanken; Ich halte fest und folg’ euch ohne Wanken. (I,1)

Sie hat ihren Plan und die Gräfin eine Geschichte, die ihr der Haushofmeister anvertraut. Er kam auf das Geheimnis – was Wunder! –, indem er Helena zufällig laut denken hörte, also heimlich belauschte. Haushofmeister Der Inhalt war: sie liebe euern Sohn. Fortuna, sagte sie, sei keine Göttin, weil sie eine so weite Kluft zwischen ihren Verhältnissen errichtet habe; Amor kein Gott, weil er seine Macht nicht weiter ausdehne, als auf gleichen Stand; Diana keine Königin der Jungfrauen, weil sie zugebe, daß ihre armen Nymphen überrascht werden, ohne Schutzwehr für den ersten Angriff, noch Entsatz im ferneren Kampf. Dieß klagte sie mit dem Ausdruck des bittersten Schmerzes, in dem ich je ein Mädchen habe weinen hören. (I,3)

Schon kommt Helena, herbeigeholt vom Narren, zum erbetenen Gespräch. Die Gräfin kommt auf leichten Umwegen ans Ziel ihrer Unterredung. Ich bin dir wie eine Mutter, aber du willst mich lieber als deine Schwiegermutter sehen. Gräfin Mein Argwohn hat dein Herz durchschaut; nun ahnd’ ich Das Räthsel deiner Einsamkeit, die Quelle Der bittern Thränen: offenbar nun seh ich, Du liebst ihn, meinen Sohn: Verstellung schämt sich, Dem lautern Ruf der Leidenschaft entgegen, Mir nein zu sagen; darum sprich die Wahrheit: Sag mir, so ists; denn deine Wangen, Kind, Bekennen’s gegenseitig; deine Augen Sehn es so klar in deinem Thun geschrieben, Daß sie vernehmlich reden; nur die Zunge Fesseln dir Sünd’ und höll’scher Eigensinn, Die Wahrheit noch zu hehlen. Ists nicht so? Wenns ist, so schürztest du ’nen wackern Knoten! – Ists nicht, so schwöre: Nein; doch wie’s auch sei, Wie Gott mir helfen mag dir beizustehn, Ich fordre, daß du Wahrheit sagst. (I,3)

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Helena versucht nicht zu leugnen, sondern ihr Geständnis folgt der Rede auf den Fuß. Helena So bekenn’ ich Hier auf den Knieen vor euch und Gott dem Herrn, Daß ich vor euch, und nächst dem Herrn des Himmels Ihn einzig liebe. Arm, doch tugendhaft War mein Geschlecht: so ist mein Lieben auch. Seid nicht erzürnt, es bringt ihm keine Kränkung, Von mir geliebt zu seyn: nie offenbart’ ich Ein Zeichen ihm zudringlicher Bewerbung; Ich wünsch’ ihn nicht, eh’ ich ihn mir verdient, Und ahnde nicht, wie ich ihn je verdiente! (I,3)

Das Mädchen ist aufgelöst in Selbstvorwürfen ob ihrer anmaßenden Liebe über die Schranken ihres Standes hinweg, aber gleichzeitig auch erstaunt, dass die „Herrin“ wie eine Mutter und mögliche Schwiegermutter reagiert. Sie habe gehört, sagt sie, Helena wolle nach Paris gehen, und sie würde gerne wissen in welcher Absicht. Damit gibt ihr die Gräfin Gelegenheit für ihre entlastende Geschichte. Nein, nicht wie sie denke, wegen Bertram wolle sie nach Paris, sondern um des kranken Königs willen. Helena Ihr wißt, mein Vater ließ Vorschriften mir Von seltner Wunderkraft, wie seiner Forschung Vielfache Prüfung als untrüglich sie Bewährt erfand: die hat er mir vererbt, Sie in geheimster Obhut zu bewahren, Als Schätze, deren Kern und innrer Werth Weit über alle Schätzung. Unter diesen Ist ein Arcan verzeichnet, viel erprobt, Als Gegenmittel jener Todeskrankheit, An der der König hinwelkt. (I,1)

In diesem Stück halten alle Frauen wie Pech und Schwefel zusammen, und Helena dirigiert sie schlussendlich nach ihren Wünschen. Wider alles Erwarten findet die Gräfin Gefallen an der Idee mit der Heilung des Königs. Sie schickt das Mädchen bereits auf den nächsten Tag mit Geld und Gefolge und schönen Grüßen an die Freunde nach Paris. Wie lange die Reise dauert, bleibt im Unklaren. Schon die

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nächste Szene zeigt Helena am Hof des Königs in Paris. Mehrere junge Edelleute und auch Bertram und Parolles scharwenzeln um die Gunst des Königs, aber schnell ändert sich die Situation, als Lafeu, ein Vasall des Königs und Freund des Hauses Roussillon, Helena als ein Wunder von Ärztin vermeldet. Die Unterhaltung geht vom prosaischen Geplänkel in ernsthaften Vers über. Natürlich kennt der König Helenas medizinisch wohlerprobten Vater, natürlich wolle er sich aber auch nicht einfach an Quacksalber verkaufen – kurz und gut, sei herzlich bedankt mein Kind für deine Dienste. Jetzt läuft Helena zu ganz großer Form auf. Helena O theurer Fürst, gebt meinen Wünschen nach, Denkt nicht, daß ich, nein, daß der Himmel sprach! (II,1)

Binnen zwei Tagen verspreche sie Heilung, und wenn sie das nicht schaffe, sei sie dem Tod verfallen. Sie habe ihn dann verdient. Wenn sie jedoch Erfolg habe, dann würde sie natürlich auch gerne entlohnt werden. Versteht sich, meint der König großzügig. Helena

Und wollt ihrs wirklich geben?

König Bei meinem Scepter, ja, beim ewgen Leben! Helena Gieb zum Gemahl mit königlicher Hand, Wen ich mir fordern darf in deinem Land! (II,1)

Top, die Wette gilt, und zwei Tage später ist der König gesund. Es ist wie im Märchen, als das Wünschen noch geholfen hat. Der König ruft die Ritter seines Hofs zur Kandidatenschau zusammen; Helena stellt sich bescheiden vor, und die Herren müssen/dürfen auf den Laufsteg. Parolles stößt Bertram in die Seite. Parolles Mort du vinaigre! Ist das nicht Helena? (II,3)

Noch ahnt er nichts Böses. Helena bedenkt die einzelnen Kandidaten mit mehr oder weniger liebreichen Ablehnungen. Dann ist Bertram an der Reihe, und jetzt dreht sie ihr Argument um. Helena Ich sage nicht, ich nehm’ euch; doch ich gebe Mich selbst und meine Pflicht, so lang ich lebe,

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zu Ende gut, alles gut, Akt 2, Szene 3

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In eure edle Hand. Dieß ist der Mann. – (II,3)

Der König bestätigt ihre Wahl, und Bertram fällt aus allen Wolken. Nur das nicht! Bertram Gemahlin, gnädger Herr? Mein Fürst, vergönnt, In solcherlei Geschäft laßt mich gebrauchen Die eignen Augen! (II,3)

Das ist ein Eklat und ein großer Jux zugleich. Was sich Shakespeare hier erlaubt, stellt einfach die patriarchalische Welt auf den Kopf und bestimmt dem Sohn die Braut anstatt der Tochter den Bräutigam. Scheinbar fand die zeitgenössische Männerwelt diese Zähmung eines Widerspenstigen gar nicht lustig. Das Stück konnte lange nicht reüssieren. Wie alle Mädchen, die gegen ihren Willen vergeben werden, wird Bertram, bei dem der König in doppelter Weise Vaterstelle einnimmt, nun gegen seinen Willen als Bräutigam vergeben. Nicht genug mit dieser Unmöglichkeit, er wird auch noch unter Rang und Stand und Würde vergeben. Bertram Des armen Arztes Kind mein Weib! – Weit lieber Verzehre mich die Schmach! (II,3)

Jetzt hält ihm der König auch noch eine „Standpauke“. Der renitente Sohn hat kein Einsehen, obwohl der König seine Bestätigung der Wahl des Mädchens begründet. König

Folg’ meinem Ruf! Liebst du dieß Mädchen, wie Natur sie schuf, Das andre schaff ’ ich: Weisheit, Reiz und Zier Hat sie von Gott; Reichthum und Rang von mir. (II,3)

Es hilft nichts; der Mann bleibt stur und bockig. Bertram Sie lieb’ ich nicht, und streb’ auch nie danach. (II,3)

Die Standpauke über Rang und Ehre wird zum Befehl des königlichen Vaters, dem sich der Kandidat nolens volens fügt. Was der König da eingefädelt hat, ist eine kleine Katastrophe nach dem Motto „gut gemeint“. Bertram reicht zwar auf Befehl die Hand zur Trauung vor dem Priester, aber die Ehe will er nicht vollziehen. „Nie mit ihr zu Bett!“ Fort in den Krieg nach Italien!

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Bertram Krieg wird Zeitvertreib Bei solchem Hauskreuz und verhaßtem Weib. (II,3)

Der frischgebackene Ehemann schickt seine Ehefrau zurück nach Roussillon zur Ziehmutter. Einen demütig erbetenen Abschiedskuss verweigert er brüsk. Er selbst verschwindet mit Parolles nach Florenz. „Bravo! Coraggio!“ Helena ist wieder zuhause, jetzt tatsächlich als Schwiegertochter der Gräfin. Die ist erbost über das Verhalten ihres Sohnes. Er hat das Mädchen mit einem infamen Brief an die Mutter zurückgeschickt, und an Helena selbst lässt er einen noch infameren Brief durch zwei Edelleute zustellen. Helena „Wenn du den Ring an meinem Finger erhalten kannst, der niemals davon kommen soll; und mir ein Kind zeigen, von deinem Schooß geboren, zu dem ich Vater bin; dann nenne mich Gemahl; aber dieses Dann ist soviel als Nie.“ Das ist ein harter Spruch! (III,2)

Die neue Schwiegermutter verstößt kurzerhand ihren Sohn, erkundigt sich nach seinem Umgang mit dem schlecht beleumundeten Parolles und schickt zwei Edelleute mit einem Brief an Bertram zurück. In Helenas Gedankenwerkstatt arbeitet es monologisch auf einen schnellen Entschluss zu. Helena Komm, o Nacht! Mit Tags Entweichen Will ich, ein armer Dieb, von hier mich schleichen. (ab) (III,2)

Wie bekommt man eine solch verfahrende Märchensituation wieder ins Lot, wie lässt der Autor seine kluge Heldin bei einer schier unlösbaren Aufgabe dennoch als Siegerin vom Platz gehen? Im Unterschied zu Männern, die Drachen besiegen müssen, schaffen es Frauen mit Witz und Klugheit. Helena kündigt der Gräfin an, nach Santiago zum heiligen Jakob zu pilgern. In Wirklichkeit nimmt sie einen „Umweg“ über Florenz. Das ist nicht der kürzeste Weg nach Galicien, aber unter Umständen führt auch ein großer Umweg zum Ziel, in diesem Fall ins Brautbett. Vor den Toren der Stadt Florenz treten eine alte Witwe, Diana, ihre Tochter, und Violenta und Mariana, ihre Freundinnen, auf. Der französische Graf – man will ihn bei der Parade bestaunen – habe sich sehr rühmlich bewährt, aber andererseits, liebe Freundinnen, er geht auch den

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Mädchen recht verwegen an ihren Ruf. Und erst sein Helfershelfer, ein gewisser Parolles, ist ein übler Verführer. Sei auf der Hut, liebe Diana! Da kommt Helena als Pilgerin verkleidet um die Ecke, und siehe da, die Witwe, die sie nach dem Weg zur Pilgerwohnung fragt, ist selbst die Wirtin. Das Gespräch ist eröffnet. Halt doch noch mit uns Ausschau nach einem tapferen französischen Soldaten, den Graf von Roussillon. Kennt ihr ihn vielleicht? – Vom Hörensagen! – Er soll vom König gegen seinen Willen vermählt worden sein. Ist das wahr? – Ja, ich kenne sogar seine Frau. – Diana bedauert die arme Dame, und die Witwe erklärt, dass er hinter Diana her sei. Diana Ich wollt’, er liebte seine Frau; weit hübscher Fänd’ ich ihn, wär er treu. – Ist er nicht artig? – (III,5)

Man äußert sich noch über Parolles – solch ein Gelegenheitsmacher! –, und Helena lädt alle auf ein Abendessen ein. Auf Seiten der Männer spinnt man ein kleines Komplott gegen Parolles. Bertram soll erfahren, mit welchem schäbigen Kerl er Umgang pflegt. Er ist der Einzige, der ihn ehrenwert hält. Ein zweites Unternehmen gilt dem Mädchen Diana. Das ist aber keine „von denen“, sondern die ist „keusch“, sagt Bertram. Ich zeig sie euch gerne bei Gelegenheit. Während des Abendessens hat sich Helena in Gedanken einen Plan zurechtgelegt, den sie der Witwe mit der Bitte um Unterstützung unterbreitet. Sie offenbart sich ihr als Bertrams ungeliebte Frau. Sie bittet, dass Diana des Grafen Werbung zum Schein annehmen solle um den Preis seines Rings an seinem Finger. In seiner Leidenschaft wird er das nicht weigern. Die Witwe weiß schnell Bescheid, worauf das Spiel hinauslaufen soll, und versteht, dass es kein zweideutiges Geschäft ist. Eine Ehefrau kommt zu ihrer Hochzeitsnacht, eine Jungfrau wird vor einem Fehltritt bewahrt und ein Ehemann vor einem Seitensprung. Helena Ihr seht, es ist erlaubt. Nicht mehr verlang’ich, Als daß eu’r Kind, eh’ sie gewonnen scheint, Den Ring verlangt, ihm eine Zeit bestimmt, Und endlich mir das Weitre überläßt, Sie selbst in zücht’ger Ferne. Dann versprech’ ich Zum Brautschatz außer dem, was ich gelobt, Dreitausend Kronen noch. (III,7)

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Die Witwe ist resolut und noch jung genug, um zu dem erlaubten Trug behilflich zu sein. Er, sagt sie, komme ohnehin jeden Abend mit Musik. Sie können ihn nicht vom Haus schelten. Er ist da ziemlich aufdringlich, und Helenas Gedankenwerkstatt gibt die moralische Genehmigung: „Es mag geschehen“. Helena Wohl, heut Nacht Beginnen wir das Spiel, das, wenns gelungen, Durch bösen Vorsatz frommen Zweck errungen, Erlaubte Absicht in erlaubter That, Schuldlosen Wandel auf des Lasters Pfad. Kommt denn, es auszuführen! – (III,7)

Das ist ein Plot, wie ihn Shakespeare nicht besser erfinden konnte. Diana ist schnell unterrichtet und vielleicht auch geschmeichelt und vielleicht gefällt ihr auch das frivole Spiel, wie Helena ihre Jungfräulichkeit nach eigenem Gefallen verlieren möchte. „Die lustigen Weiber von Florenz“ kurieren einen jungen, aber ziemlich eingebildeten Ritter von seinen Standesflausen. Und Diana geht in ihrer Rolle als käufliche Geliebte voll auf. Sie luchst Bertram in großer Beredtheit seinen Ring ab. Herrlich die Repliken, witzig in These und Gegenthese, eine Steilvorlage für ein Bühnenpaar, das in alter Schule jugendliche Liebhaberin mit Hang zur Salondame und jugendlicher Liebhaber mit Hang zum Bonvivant genannt wurde. Bertram Es ist ein Ehrenkleinod unsres Hauses, Von vielen alten Ahnen mir vererbt, Und mir der größte Makel auf der Welt, Verlör’ ich’s. Diana Meine Ehr’ ist solch’ ein Ring! Die Keuschheit ist das Kleinod unsres Hauses, Von langer Ahnenreihe mir vererbt: Und mir der größte Makel auf der Welt, Verlör’ ich sie. (IV,2)

Sein Ring wechselt in ihre Hand; sie gibt ihm einen Ring, den der König Helena geschenkt hatte. Der Preis für eine Nacht ist bezahlt. Jetzt gibt es nur noch eine kleine Bedingung für diese Liebesnacht. Diana Um Mitternacht klopft an mein Kammerfenster,

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Ich sorge, daß die Mutter euch nicht hört. Jedoch versprecht mir, wie ihr wahrhaft seid: Wenn ihr mein noch jungfräulich Bett erobert, Bleibt eine Stunde nur, und sprecht kein Wort; Ich habe triftgen Grund, und sag’ ihn euch, Wenn ihr den Ring dereinst zurückerhaltet. Und einen andern Ring steck’ ich heut Nacht An euern Finger, der zukünft’gen Tagen Ein Pfand sei, was mit uns sich zugetragen. (IV,2)

Da geht er hin voller begieriger Hoffnung, und sie schiebt eine Selbstrechtfertigung hinterher, denn es geht züchtig-unzüchtig zu in dieser Komödie mit dem Betttrick. Die Nebenhandlung, in der Parolles vor dem nicht minder bramarbasierendem Bertram als elender Feigling und soldatischer Versager bloßgestellt wird, beansprucht einige Zeit und steht unter dem schönen Motto: 1. Edelmann Das Gewebe unsres Lebens besteht aus gemischtem Garn, gut und schlecht durch einander. Unsre Tugenden würden stolz seyn, wenn unsre Fehler sie nicht geißelten, und unsre Laster würden verzweifeln, wenn sie nicht von unsern Tugenden ermuntert würden. (IV,3)

Das Gewebe unseres jugendlichen Liebhabers ist ebenfalls aus gemischtem Garn. Ohne Skrupel betrügt er seine Gattin, ohne es zu wissen, mit seiner Gattin, weil die verschworenen Damen Bertrams Lust auf „die Verführung der Jungfrau hinterrücks in den Vollzug der Ehe“2 umleiten konnten. In der finstern, sprachlosen Nacht dürfen die Zuschauer dezenterweise nicht mit dabei sein, aber sie bekommen einen Abglanz der bitteren Seligkeit Helenas von jener Hochzeitsnacht, als sich die Damen aufmachen, um den König in Marseille zu treffen. Helena

O seltsame Männer! – So süß könnt ihr behandeln, was ihr haßt, Wenn der betrognen Sinne lüstern Wähnen Die schwarze Nacht beschämt. So spielt die Lust Mit dem, was sie verabscheut, unbewußt. Doch mehr hievon ein ander Mal. […] Der Wagen steht bereit, die Zukunft winkt: Ende gut, Alles gut: das Ziel beut Kronen; Wie auch der Lauf, das Ende wird ihn lohnen. ((IV,4)

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Das, was ordinärer Volksmund so sagt, „In der Nacht ist eine wie die andere“, hat Shakespeare in einem weiblichen Mund vollendet auf den Punkt gebracht. Hinreißend diese unwiderstehlich liebreizende Helena! Noch ist nicht alles gut, und noch ist kein Ende nah. In ihrer Gedankenwerkstatt entwickelt Helena einen weiteren Plan. Sie gibt vor, auf ihrer Pilgerreise zu Sankt Jakob ob der Strapazen und aus Kummer verstorben zu sein. Als Bertram über seine Mutter von ihrem Tod erfährt, steht seiner Meinung nach einer Rückkehr nach Hause nichts mehr im Weg. Jetzt ist er frei und kann, durch soldatische Leistung doppelt geadelt, eine Verheiratung mit einer ebenbürtigen Frau anstreben. Diese Rechnung geht natürlich nicht auf. Auch andere Protagonisten streben nach Roussillon, der König von Marseille aus, Helena mit der Witwe und Diana von Florenz aus über Marseille nach Roussillon. Mit Dienerschaft sind das eine Menge Leute auf den Straßen des Südens. Auch der von den Kriegskameraden wegen Großmäuligkeit gestäupte und am Pranger vorgeführte Parolles ist im Schlosshof angekommen. Der Show-down beginnt mit einem Trompetenstoß. Bertram erlebt ganz gegen seine Erwartungen eine böse Überraschung nach der anderen. Die Szene wird zum Tribunal. Nachdem man der von allen hochgelobten verstorbenen Helena gedacht hat, erklärt der König, dass sein Zorn über Bertram durch den Tod erloschen sei und dass er versöhnt sei. Bertram tritt auf, beteuert kurz tiefe Reue über seine Schuld. Der König nimmt an. König Alles gut! Kein Wort nun mehr von der vergangnen Zeit! (V,3)

Eine Braut ist auch schon gefunden, die Tochter von Lafeu, dem Vasallen des Königs. Die sei schon immer seine Wahl gewesen. Nochmals folgen Entschuldigungen und Rechtfertigungen bezüglich seiner verstorbenen Frau, bis der König milde abbricht. König Und nun vergeßt sie; sendet einen Ring Als Brautgeschenk der schönen Magdalis; Denn sie ist eu’r. Wir wollen hier verweilen Und unsers Witwers zweites Brautfest theilen. (V,3)

Und unerwartet finster wird plötzlich der Himmel über dem Schlosshof, als der künftige Schwiegervater Lafeu um den Ring an

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der Hand von Bertram als Liebespfand für seine Tochter bittet. Bertram wehrt ab: „Diesen nicht!“ Jetzt mischt auch der König wieder mit und behauptet den Ring zu kennen. König Der Ring war mein; ich gab ihn Helena, Und schwur, wenn sie des Beistands je bedürfe, Dieß sei ein Pfand, daß ich ihr helfen wolle. Wie nur vermochtst du, deß sie zu berauben, Was ihr am theuersten? (V,3)

Die Gräfin bestätigt ebenfalls, den Ring zu kennen; auch Lafeu kennt ihn von Helenas Hand. Nein, und nochmals nein, der Ring gehörte ihr nie, ihr täuscht euch; ich erhielt ihn in Florenz von einer Verehrerin aus dem Fenster zugeworfen. Ich erklärte ihr, dass ich nicht frei sei, aber sie drängte mich ihren Ring dennoch zu behalten. Dagegen setzt der König, dass es sein Ring an Helena sei. König Sie schwur bei allen Heil’gen, Sie woll’ ihn nie von ihrem Finger lassen, Wenn sie ihn euch nicht gäb’ in ihrem Brautbett, (Wohin ihr nie gekommen), oder schickt’ ihn Mir selbst in harter Noth. (V,3)

Nein! ja!, und ein Verdacht steht im Raum. Bertram, du hast sie umgebracht. Die Verwirrung allerseits ist groß. „Führt ihn hinweg“, befiehlt der König. Niemand weiß, dass es im Hintergrund eine Regisseurin gibt, die jetzt einen Boten vorschickt, einen Edelmann mit einem Brief von Diana. Der Brief schlägt wie eine Bombe ein. König (liest) „Auf seine vielen Betheurungen, mich zu heirathen, wenn seine Gattin todt wäre – ich erröthe, es zu sagen – gewann er mich. Jetzt ist der Graf Roussillon ein Wittwer, seine Gelübde sind mir verfallen, und ich habe ihn mit meiner Ehre bezahlt. Er verließ Florenz heimlich, ohne Abschied zu nehmen, und ich folge ihm in sein Vaterland, um Recht zu finden. Gewährt es mir, o König: es steht völlig bei euch; sonst triumphirt ein Verführer, und ein armes Mädchen ist verloren.  Diana Capulet.“ (V,3)

Der Mordverdacht verdichtet sich. Lafeu verzichtet auf Bertram als Schwiegersohn. Der König befiehlt, den jungen Grafen wieder vor-

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zuführen. Helena schiebt die Witwe und Diana aus den Kulissen auf die Bühne. Sie, Diana, habe dem Brief nichts weiter hinzuzufügen und zusammen mit der Mutter bitte sie um Hilfe. Bertram sei nach dem Tode Helenas ihr Gatte, den sie mit Nachdruck einfordere. Bertram hangelt sich von Ausrede zu Ausrede, besser von Lüge zu Lüge. Diese Frau ist nur ein dreistes dummes Ding, von wegen Jungfrau; sie war für jeden im Lager als Hure zu haben. Diana Glaubt seinen Worten nicht! O, seht den Ring, Deß hoher Werth und reiche Kostbarkeit Nicht seines Gleichen findet: und trotz dem Gab er ihn an die leichte Lagerdirne, Wenn ich es bin. (V,3)

Schon wieder ein Ring. Das Ringe(l)spiel, das Shakespeare auch im „Kaufmann von Venedig“ virtuos zu spielen weiß, jetzt wird es Ereignis. Die Gräfin erkennt den Ring an Dianas Hand, das Ehrenkleinod des Hauses Roussillon. So etwas gibt man nur an seine Frau weiter. Gibt es dafür einen Zeugen, fragt der König Diana. König Mir scheint, ihr sagtet, Ihr kenntet einen Zeugen hier am Hof? (V,3)

Das kann der König nicht gehört haben und auch nicht der Zuschauer, weil Diana dergleichen nicht gesagt hat. Trotzdem antwortet sie: Diana Das that ich, Herr; doch ein Gewährsmann ists, Den ich mit Scham euch nenn’; er heißt Parolles. (V,3)

Da hat Shakespeare geflunkert, um die Gerichtsszene abzukürzen. Der Zeuge wird geholt. Bertram wird es wohler und unwohler. Er gibt zu, dass Dianas Ring der Familienring der Rousillons ist und dass er sich von Diana den Ring für jene eine Nacht hat abluchsen lassen. Gut meint das Mädchen, ich gebe euch euren Ring zurück, dafür gebt ihr mir meinen Ring zurück, den ich euch im Bett gab. – Das geht nicht, denn den hat der König, der behauptet, es sei sein Ring, den er Helena für seine Heilung gab. Also, folgert der König richtig, die Geschichte mit dem aus dem Fenster geworfenen Ring war gelogen. Ja, ich geb es zu, gesteht Bertram. Da kommt Parolles. Der schuftige Kerl ist ganz unterwürfig und bestätigt so ziemlich alles. Es sprudelt nur so aus ihm.

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Parolles …. aber ich war damals so gut bei ihm angeschrieben, daß ich wußte, wie sie mit einander zu Bett gingen, und von andern Dingen, als zum Beispiel, daß er ihr die Ehe versprach, und sonst noch manches, ….. (V,3)

Allerdings, dass sie schon verheiratet wären, davon weiß er nichts. Der König lässt ihn links liegen. Der Ring, der Ring? Mein Ring für Helena war eurer? Wer schenkt ihn dir? Wer lieh ihn dir? Wo fandst du ihn? Wie gabst du ihm den Ring? – Jede Frage verneint das Mädchen, so dass der König unwillig wird und sie verhaften lässt. Jetzt ist sie verdächtig, Helena umgebracht zu haben. Die Szene kippt ins Tragische. König Gestehst du nicht, wie du den Ring erhieltst, So stirbst du heut noch. (V,3)

Diana reizt ihre Rolle ordentlich aus. Sie habe einen Bürgen – Dirne, sagt der König –, ich habe nie mit einem Mann sexuell etwas zu tun gehabt – ja verdammt noch mal …. König Weßhalb hast du bis jetzt denn ihn verklagt? (V,3)

Jetzt tischt sie ein Rätsel für alle auf. Gut, dass die Zuschauer Herr der Lage sind. Sie besitzen den Schlüssel, während sich der König verhöhnt vorkommt und Bertram völlig zur Nebensache degradiert. Diana Herr, weil er schuldig ist, und doch nicht schuldig. Er glaubt, ich sei nicht Jungfrau, wirds beschwören; Ich weiß, ich bin noch Jungfrau, und in Ehren. (V,3)

Helena, die man natürlich völlig vergessen hat, würde das genau umgekehrt formulieren, denn es war ihre Aufgabe, ihr Jungfrauentum in Ehren und nach eigenem Wohlgefallen loszubringen: Er glaubt, ich sei noch Jungfrau, wird’s beschwören; / Ich weiß, ich bin nicht Jungfrau, doch in Ehren. Diana schickt ihre Mutter nach hinten, den Bürgen für ihre Rätsel zu holen. Dann wendet sie sich an Bertram. Diana

Doch diesen Herrn, Der mich entehrt hat, wie er selber weiß (Obschon er nie mich kränkte), sprech’ ich frei.

Helena • 485

Er war in meinem Bett, so muß er denken; Doch wird sein Weib ihm einen Erben schenken. Zwar todt, fühlt sie der Liebe Frucht sich heben: Das ist mein Räthsel: die Gestorbnen leben. Hier seht die Lösung! (V,3)

Helena wird von der Witwe hereingeführt als eine dea ex machina. Ihr Auftritt bewirkt die Lösung der Konflikte. Bertrams tiefer Fall wird sanft ausgebremst, aber seine Schuld nicht gelöscht. Er stammelt zwar Verzeihung, aber ob er schon begriffen hat, was mit ihm geschah, bleibt zweifelhaft. Für Helena scheint das keine Rolle zu spielen. Sie hat eine unmögliche Aufgabe klug und erfolgreich gemeistert, sie hat ihr Jungfrauentum nach eigenem Wohlgefallen preisgegeben, sie hat ein Kind und einen Mann dazu. Sie hat ihn vor einem Ehebruch bewahrt und sie erhält vom König eine üppige Aussteuer dazu. Dieser positive Ausgang ihrer Sache lässt die negativen Dinge, die sich davor ereignet haben, unwichtig werden. Helena O lieber Herr, Als ich noch diesem Mädchen ähnlich war, Fand ich euch wunderzärtlich! Dieß der Ring: Und seht, hier ist eu’r Brief. So schriebt ihr damals: „Wenn ihr den Ring gewinnt von meinem Finger, Und tragt ein Kind von mir“, – dieß ist gelungen; Seid ihr nun mein, so zwiefach mir errungen? (V,3)

Sie deutet noch einmal wie schon früher der Witwe gegenüber jene Sonderbarkeit ihrer Brautnacht an, als er physisch überaus zärtlich gegen sie war, obwohl er im Kopf an eine andere dachte. Sie weiß von diesem Betrug und akzeptiert ihn. Er weiß, dass auch er betrogen wurde und verzeiht es. Die Anwesenden können sich dabei denken, was ihre Phantasie zulässt, Bertram wird ein Leben lang beschämt bleiben, und der König wünscht von Helena noch Punkt für Punkt eine Erklärung und vielleicht ein paar Pikanterien von Diana obendrein. König (zu Diana) Ich merke, dein Bemühn und züchtig Walten Hat sie als Frau, als Jungfrau dich erhalten. (V,3)

Ende gut, alles gut – aber nur in dem Sinne: Sie bekommt, was sie begehrt, aber das, was sie erhält, hält nicht das, was ihr glänzend schien. She loves Bertram – because she loves him! Für das zukünf-

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tige Glück muss sie noch arbeiten. Selbst für ein Glückskind ist das noch eine hochkomplexe Aufgabe. Noch ist nicht alles gut. So zwiespältig der geckenhafte Maulheld Parolles in seinem Charakter auch sein mag, er ist schlussendlich ein Narr und hatte schon am Ende jener Diskussion um das Jungfrauentum das Fazit des Stücks vorweggenommen. Parolles Schaff dir einen guten Mann, und halte ihn, wie er dich hält, und so leb wohl! (I,1)

Narren und Kinder sagen die Wahrheit. Bertram ist wohl dieser Mann auf alltagstaugliche Wechselseitigkeit. Manchmal ist es gut, dass das Märchen auch eine realistische Perspektive anbietet. Für den Toggenburger Shakespeare-Erklärer Ulrich Bräker ist das keine Option. „Nein, wann ich Helena wär, ich möchte Bertram um alle Welt nicht haben, lieber den Rüpel, und doch ist er in diesem Spiel nur ein gemeiner Rüpel, ein Alltagskerl.“

Ein Alltagskerl scheint ihm die bessere Entscheidung zu sein als ein parfümierter Hohlkopf. Und im Nachsatz spricht seine Alltagsweisheit von der Gasse natürlich auch eine Wahrheit über die kühl berechnende Frau aus, die bis heute gilt und wieder und wieder bestätigt wird: „Es gibt doch in aller Welt so kuriose Weibsbilder von so wunderlichem Geschmack und dazu so standhaft in ihrer Liebe, daß sie einen vom Galgen herabschneiden würden.“3

Hier liegt zumindest eine milde Form von Hybristophilie, d.i. Liebe bzw. Freundschaft von Frauen zu Bad Boys, gar zu brutalen Gewaltverbrechern vor. deutsche Übersetzung: Wolf Graf Baudissin 1) Günter Jürgensmeier, S. 555 2) Nachwort von Elfi Bettinger, in: Frank Günther, Bd. 21, S. 292 3) Ulrich Bräker, S. 31

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Cressida

Troilus und Cressida (1601 / 1603)

designed by Kenny Meadows and engraved by William Henry Mote

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In „Troilus und Cressida“, einem der eigenwilligsten Stücke Shake­ speares, geht es um das Doppelthema Liebe und Krieg. Erwartbar gestaltet sich das Thema der zerstörerischen Auseinandersetzung über die Helden des Trojanischen Kriegs. Wir kennen sie recht und schlecht noch aus pseudohistorischen Kolossalfilmen frei nach Homers „Ilias“, auch wenn Shakespeare andere Quellen benutzte und Homers Heroen in seinem Spott erstickte. Über die Protagonisten der Liebesgeschichte zwischen Troilus und Cressida erfahren wir bei Homer nichts, sondern erst bei Giovanni Boccaccio bzw. Geoffrey Chaucer. Bei Vermittlung dieser Vorlagen hilft uns auch das Kino nicht sonderlich weiter. Da sind wir am besten bei Shakespeare selbst bedient. Der räumt den trojanischen Schauplatz für diese weitaus weniger bekannte Episode frei und verknüpft in seiner theatralischen Abhandlung damit beide Themen, den Krieg und die Liebe, auf spannende Weise. Die kriegsauslösende ehebrecherische Beziehung zwischen Helena, der griechischen Ehefrau des Spartanerkönigs Menelaus, mit dem trojanisches Prinzen Paris erhält in einer Art paralleler Beziehung zwischen der trojanischen Cressida und dem griechischen Heerführer Diomedes eine Gegenhandlung, die mit Verzögerung in das Ende des Krieges, in den Untergang Tojas führt. Für den Ausblick auf dieses Ende ist die dritte Frauenfigur des Stücks, die trojanische Königstochter und Seherin Cassandra, zuständig. Die trojanische Cressida ist ihrem griechischen Gegenbild Helena nicht ganz unähnlich. In leichter Abwandlung vollzieht sich ihrer beider Entführung bzw. Frauentausch aufeinander. War Helena dem trojanischen Prinzen Paris versprochen, von dem sie sich einverständlich nach Troja entführen ließ, so wird Cressida den Griechen zum Austausch für den gefangenen Heerführer Antenor beordert. Man ist erstaunt, mit wie wenig Widerstand diese Vereinbarungen abgewickelt werden. Die Frauen sind Objekte der sexuellen Begierden und ebenso profane Objekte des politischen Warenverkehrs. Die eigentliche Geschichte der Helena liegt außerhalb des

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Stücks, die Geschichte der Cressida macht aber aus Shakespeares trojanischem Kriegspanorama keine Neuauflage von „Romeo und Julia“. Der jähe und schicksalhafte Umschwung nach beider heimlicher (einziger) Liebesnacht könnte unterschiedlicher kaum sein. Die Verbannung Romeos und die erzwungene Überführung von Cressida ins griechische Lager enden in völlig verschieden dramatischen Formaten, einerseits traditionell „tragisch“, andererseits „ergebnisoffen“. Vermutlich wird das Schicksal von Troilus und Cressida erst mit dem Fall von Troja entschieden. Hier im Stück bleibt Cressidas Liederlichkeit unbestraft und Troilus bleibt die Rache verwehrt. Die Gestalter unseres Porträts von Cressida konfrontieren uns mit der Szene bei der Auslieferung des Mädchens nach der Liebesnacht mit Troilus. Der Empfang bei den Feinden gestaltet sich mehr als kurios. Mit einem koketten Augenaufschlag tritt sie auf die Szene. Sie wird begleitet von General Diomedes, und ihr steht schon erwartungsvoll die gesamte griechische Heldenriege des Stücks gegenüber. Sie wirkt durch die Herrschaften aber nicht verschreckt und verletzlich, sondern sie weiß kokett zu antworten. Für das griechische Soldatenlager ist sie nämlich sogleich das öffentliche Objekt der Begierde, und sie spielt durchaus mit. Die Haudegen haben beim Küssen eigentlich nur Sex im Kopf. Agamemnon Ist dieß das Fräulein Cressida? Diomedes Sie ists. Agamemnon Seid hold gegrüßt den Griechen, schönes Fräulein! [Küsst sie.] Nestor Mit einem Kuß begrüßt euch der Feldhauptmann. Ulysses Wer möchte nicht solch reizend Feld behaupten? Wir folgen Haupt für Haupt dem Mann ins Feld. (IV,5)

Ulysses macht sich sofort zum Regisseur des weiteren Ablaufs, bei dem er sich ganz hinten anstellt, bei dem der krächzende alte Nestor sich aber sofort vordrängt. Nestor Ein trefflich artger Vorschlag! Ich beginne: – [Küsst sie.]

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Soviel für Nestor. Achilles Ich will das Eis von euern Lippen küssen: [Küsst sie.] Achill heißt euch willkommen, schönes Kind. (IV,5)

Jetzt kommt derjenige, den das ganze griechische Lager ungeniert Hahnrei nennt. Es ist Menelaus, der Ehemann der vom trojanischen Prinzen Paris geraubten Helena. Patroclus, der schwule Bettfreund des Achill, macht aus König Menelaus Zögern sofort einen anzüglichen Witz und drängt sich vor. Menelaus Zum Küssen hatt’ ich hübschen Anlaß sonst – Patroclus Doch ist das Anlaß nicht zum Küssen jetzt: – Denn so wie ich drang Paris euch ins Haus, [Tritt dazwischen.] Und mit dem hübschen Anlaß war es aus. [Küsst sie.] (IV,5)

Obwohl alle gerne laute Witze über den betrogenen Ehemann reißen, spricht Ulysses ein allgemeines stilles Unbehagen aus. Es ist eigentlich beschämend, dass wirkliche Männer für einen gehörnten Ehemann oder, wie der Narr Thersites höhnisch sagt, für einen Unterrock Krieg führen und so viel Blut vergießen müssen. Und jetzt feilschen sie schon wieder um Küsse bei einer Frau, die damit ganz geschickt umzugehen weiß. Ulysses [beiseit.] O bittre Schmach! All unsrer Leiden Born! Mit unserm Lebensblut färbt er sein Horn! Patroclus Der Kuß für Menelaus, der für mich; Patroclus küßt euch. [Küsst sie wieder.] Menelaus

Ei, so abzuziehn!

Patroclus Paris und ich, wir küssen stets für ihn. Menelaus Erlaubt mir, meinen Kuß will ich nicht missen. (IV,5)

Der schwule Patroclus ist wie so oft vorne dran. Aber Menelaus lässt sich nicht so einfach abwimmeln und besteht auf seinen Kuss. Cressida spielt mit seinem Wunsch zweideutig weiter und erlaubt

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sich ihrerseits einen weiblichen Fußtritt in seine Männlichkeit. Aus dieser Patsche hilft ihm Ulysses, indem auch er seinen Kuss anmeldet. Cressida So sagt, empfangt ihr oder nehmt im Küssen? Menelaus Ich nehm’ und geb’ im Kusse. Cressida

Dann vergönnt: Ihr nehmt euch bessern, als ihr geben könnt; Drum keinen Kuß.

Menelaus Ich zahl’ euch Aufgeld, geb’ euch drei für Einen; Cressida Von einem halben Manne nehm’ ich keinen. Menelaus Ein halber? Und wo wär’ die andre Hälfte? Cressida Die hat Prinz Paris längst sich eingefangen, Als er mit eurer Frau davon gegangen. Menelaus Ihr schnippt mir an die Stirn! Cressida

O nein, fürwahr!

Ulysses Wie brächt’ eu’r Händchen seinem Horn Gefahr? Darf ich um einen Kuß euch bitten, Schöne? Cressida Ihr dürft! Ulysses Cressida

Gern hätt’ ich einen! Nun, so bittet!

Ulysses Um Venus werde mir ein Kuß von dir, Wenn Helena als Jungfrau lebt, und hier! Cressida Sobald die Schuld verfallen, zahl’ ich sie.

Cressida • 493

Ulysses Dann hat es gute Zeit, ihr küßt mich nie. (IV,5)

Da geht Diomedes, dem sie zur Bewachung übergeben wurde, dazwischen und bringt Cressida zu ihrem Vater Kalchas, der den Deal mit dem Austausch arrangiert hat. Nestor und Ulysses kommentieren die vorgefallene Szene und bringen den ersten zweideutigen Eindruck in der Konversation mit der griechischen Männerriege auf einen eindeutigen Nenner. Diomedes Fräulein, ein Wort: ich bring’ euch euerm Vater. (geht mit Cressida ab) Nestor Sie hat behenden Witz. Ulysses Pfui über sie! An ihr spricht Alles, Auge, Wang’ und Lippe, Ja selbst ihr Fuß: der Geist der Lüsternheit Blickt vor aus jedem Glied und Schritt und Tritt. O der Kampflustigen, so zungenglatt Die Willkomm’ schielen, eh man sie noch grüßt, Und weit aufthun die Blätter ihres Denkbuchs Für jeden üpp’gen Leser! Merkt sie euch Als niedre Beute der Gelegenheit, Und Töchter schnöder Lust. (Trompetenstoß) (IV,5)

Da spricht uns der listige und unbestechliche Ulysses aus seiner Seele. Das war doch nicht die Cressida, die wir kennengelernt haben. Das war doch zu Beginn wirklich eine Julia, die züchtig und verliebt sich dem Troilus versprochen hat. Sie war ein Zauberbild der Liebe, diese Geliebte, und kein kokettes Mädchen. Zwar war ihr Onkel Pandarus ein Kuppler, aber seine vermittelnden Dienste waren doch eigentlich entbehrlich, weil die Liebe sich selber findet. Er ist ein dauernder Störfaktor und am Ende doch unentbehrlich. Troilus erklärt sich seine Rolle zu Beginn seiner Liebe so: Troilus Und Pandarus, – wie quält ihr mich, ihr Götter! Zugänglich nur wird Cressida durch ihn; Den Kind’schen werb’ ich nie zum Werben an, Und sie bleibt spröd’ verschlossen jeder Bitte. Sag mir, Apoll, um deiner Daphne Liebe, Was Cressida, was Pandar ist, was ich?

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Ihr Bett ist Indien! Dort als Perle ruht sie; Was zwischen ihrem Thron und unserm Ilium, Nenn’ ich empörtes, flutbewegtes Meer, Mich selbst den Kaufherrn, und den Schiffer Pandar Mein Boot, mein Schiffgeleit: mein zweifelnd Hoffen. (I,1)

Beginnt so die Liebe? Dafür, dass Troilus sie spröde und stur keusch nennt, führt das Mädchen in der nächsten Szene mit dem Onkel eigenartig doppeldeutige Gespräche. Der sieht – mit Ausnahme der Haarfarbe – ohnehin kaum einen Unterschied zwischen Helena und Cressida, und wenn dieser Vergleich stimmt, dann kann eine Vergleichung mit der Julia aus Verona nur ein Holzweg sein. Dieses Mädchen führt keine Doppeldeutigkeiten im Mund. Dagegen weiß Cressida durch Doppeldeutigkeiten Punkte zu machen, und sie weiß sich selbst zu positionieren. Als Troilus mit den trojanischen Helden für Cressida zum Schaulaufen antritt, fällt ihr Kommentar ziemlich negativ aus. Cressida Was für ein Tuckmäuser kommt denn da heran? (I,2)

Das ist nicht schmeichelhaft, aber es ist Taktik. Sie will sich rar machen, um ihren Preis zu steigern. Sie versucht kühl kalkulierend den Wert ihrer Liebe durch Zurückhaltung aufzuwerten. Sie spielt mit ihrer Verführbarkeit. Cressida Nichts weiß ein liebend Mädchen, bis sie weiß, Allein das Unerreichte steh im Preis; Daß nie, erhört, das Glück so groß im Minnen, Als wenn Begier noch fleht, um zu gewinnen; Drum folg’ ich diesem Spruch der Liebessitte, Gewähren wird Befehl, Versagen Bitte – Und mag mein Herz auch treue Lieb’ empfinden, Nie soll ein Blick, ein Wort sie je verkünden. (I,2)

Für Troilus ist Cressida dagegen ohne wenn und aber die große, romantische Liebe. Das ist schon in den ersten Zeilen des Stücks dokumentiert und dafür legt er auch die Waffen nieder. Sein Kriegsziel ist Cressida. Er schmachtet recht unreif und will doch möglichst schnell ins Bett zu ihr; das ist ihm aber gar nicht wirklich bewusst. Dagegen zeigt sich Cressida beherrschter und weit weniger tief berührt. Sie ist nicht so sehr verliebt, wenn auch verführbar.

Cressida • 495

Sie ist nicht so sehr ein niedlicher Mädchenschelm als eine jung-altkluge Helena. Im dritten Akt ist es dann endlich so weit, dass in Pandars Garten ein erstes Treffen zustande kommt. Der Gesichtsschleier, mit dem Cressida auftritt, ist Camouflage. Die Verschleierung verdeckt nicht jungfräuliche Scham, sondern gehört zum erotischen Spiel, denn bei den Kommentaren von Onkel Pandarus geht es immer schon zur Sache. Troilus Ihr habt mich aller Worte beraubt, Liebste! – Pandarus Worte zahlen keine Schulden; gebt ihr Thaten (III,2)

Ganz so schnell geht es auf dem Theater nicht. Nachdem Pandarus abgegangen ist, nachdem die Blicke getauscht sind, braucht es ein verliebtes Gespräch. Es ist zunächst noch prosaisch (Prosa) und wird erst dann poetisch (Verse), wenn der Onkel erneut auftaucht und ein Ende des Gesprächs annahmt. Pandarus Wie? Noch immer erröthend? Seid ihr noch nicht mit Schwätzen fertig? Cressida Nun, Oheim, was ich Thörichtes beginne, sei euch zugeeignet. (III,2)

Das ist ein Wort, und Cressida beginnt nun ins Versmaß fallend ein eher unerwartetes Geständnis. Cressida Kühnheit kommt nun zu mir und macht mir Muth: Prinz Troilus! Euch liebt’ ich Tag und Nacht, Seit manchem langen Mond. (III,2)

Das verblüfft Troilus. Troilus Wie warst du mir so schwer denn zu gewinnen? (III,2)

Von der Dauer seiner sehnsüchtigen Werbung sind wir unbelastet – wir wissen davon nichts –, aber von ihrer hinhaltenden Taktik haben wir schon gehört. Cressida gesteht: Cressida Schwer nur zum Schein; doch war ich schon gewonnen Vom ersten Blick, der jemals, – o verzeiht! … (III,2)

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Und sie gesteht weiter und plappert warum und wieso und weil sie doch auch gerne und und und … Cressida

O sieh, dein Schweigen So schlau verstummend, lockt aus meiner Schwachheit Die innersten Gedanken: schließ den Mund mir! (III,2)

Wie tut man das? Das erotische Programm ist ein Naturprogramm, und bei Shakespeare ist dieser Punkt immer von ganz großer Wichtigkeit. Klar doch, das war eine Aufforderung zum Küssen. Troilus Gern! Tönt er auch die süßeste Musik. (er küßt sie) (III,2)

Da bittet Cressida überraschend gehen zu dürfen. Kommt nicht in Frage, meint Pandarus; vor morgen früh geht das nicht. Sein jede romantische Stimmung störender Kommentar bleibt im Weitern Gott sei Dank gemäßigt, so dass das junge Paar endlich die Szene bekommt, wofür das Stück berühmt ist. Troilus setzt mit einer Vorrede auf die wechselseitigen Schwüre an. Wenn ich, so der jugendlich ungestüme Liebhaber, glauben könnte, dass eine Frau in der Lage wäre auf meine Lauterkeit und Treue mit ebensolcher Treue und Reinheit ihrer Liebe auf ewig zu bestehen – und wenn es eine kann, dann du –, dann wäre ich himmelhoch erhoben. Cressida Den Wettkampf nehm’ ich an. (III,2)

Und auf eins, zwei, drei schwören sich die beiden ewige Liebe und Treue. Troilus beginnt mit seinem Statement, das ein Manifest an alle Liebenden der Welt ist. Sie alle sollen inskünftig auf ihn schwören. Was der auf eine Liebesnacht mit Cressida erpichte Liebhaber in seinen Versen da entwirft, ist eine überpersönliche Geschichte, die außerhalb seines Rollenbewusstseins liegt. Troilus

O hold Gefecht, Wenn Recht um Sieg und Vorrang ficht mit Recht! Treuliebende in Zukunft werden schwören, Und ihre Treu mit Troilus versiegeln: Und wenn dem Vers voll Schwür’ und schwülstgen Bildern Ein Gleichniß fehlt, der oft gebrauchten müde, Als, – treu wie Stahl, wie Sonnenschein dem Tag, Pflanzen dem Mond, das Täubchen seinem Täuber,

Cressida • 497

Dem Centrum Erde, Eisen dem Magnet, Dann, nach so viel Vergleichungen der Treu, Wird als der Treue höchstes Musterbild „So treu wie Troilus“ den Vers noch krönen Und weihn das Lied. (III,2)

Und die heiß begehrte und begehrende Cressida schreibt die eherne Tafel ihrer bis heute berühmten Liebesgeschichte weiter mit den güldenen Worten jenseits ihrer intellektuellen Ausstattung: Cressida Prophetisch sei dieß Wort! Werd’ ich dir falsch, untreu nur um ein Haar, – Wenn Zeit gealtert und sich selbst vergaß, Wenn Regen Trojas Mauern aufgelöst, Blindes Vergessen Städte eingeschlungen, Und mächtge Reiche spurlos sind zermalmt Ins staubge Nichts – auch dann noch mög’ Erinnrung, Spricht man von falschen, ungetreuen Mädchen, Schmähn meine Falschheit: sagten sie, so falsch Wie Luft, wie Wasser, Wind und lockrer Sand, Wie Fuchs dem Lamm, wie Wolf dem jungen Kalbe, Panther dem Reh, Stiefmutter ihrem Sohn, Ja, schließ es dann und treff ’ ins Herz der Falschheit: „So falsch wie Cressida!“ (III,2)

Das Brautgelöbnis ist gesprochen, und es wird beglaubigt von einer Person, der qua Namen der sprichwörtliche Kuppler selbst ist. Pandarus Wohlan, der Handel ist geschlossen; das Siegel drauf, das Siegel drauf, ich will Zeuge seyn. Hier faß ich eure Hand, hier die meiner Nichte; wenn ihr je einander untreu werdet, die ich mit so viel Mühe zusammengebracht habe, so mögen alle armen Liebesvermittler bis an der Welt Ende nach meinem Namen Pandarus heißen; alle unbeständigen Liebhaber soll man Troilus nennen, alle falschen Mädchen Cressida, und alle Zwischenträger Pandarus. Sagt Amen! Troilus Amen! Cressida Amen! (III,2)

Die Einsegnung ist vollzogen. Es war keine christkatholische wie bei Romeo und Julia durch Pater Lorenzo, aber eine heidnische got-

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tesdienstliche Handlung von feiner Ironie, bei der der Kuppler den Pfarrer spielt. Damit sind zwei Dinge klargestellt. Zum einen dürfen die beiden jetzt miteinander ins Bett, zum anderen wird das, was hier verbunden wurde, schiefgehen. Für das Bett hat Pandarus hinter seinem Garten gesorgt; für das zweite sorgt die Zeit. Die Treue hält oder hält auch nicht. Pandarus Amen! Und somit will ich euch eine Kammer und ein Bett nachweisen: und damit das Bett euer artiges Liebeständeln nicht ausschwatze, drückt es todt! Nun fort! – Und Amor gönn’ auch hier allen schweigsamen Kindern ‘Nen Pandar, Bett und Kammer, um ihre Not zu lindern. (sie gehn ab) (III,2)

Wie gleich und ungleich sind die Szenen. Auch bei Cressidas und Troilus’ Erwachen singt die Lerche. Troilus O Cressida! Nur daß der rege Tag, Geweckt vom Lerchenton, aufscheucht die Krähe, Und Nacht nicht länger unsre Freuden birgt, Sonst schied ich nicht. (IV,2)

Und immer ist es der neidische Tag, der das Liebesglück stört, und der unerträglich neugierige Pandarus schwelgt in Anzüglichkeiten. Pandarus Ha, ha, ha! Ach du armes Ding! Das liebe Närrchen! Hast du diese Nacht nicht geschlafen? Wollte er dich nicht schlafen lassen, der garstige Mann? Hol’ ihn der Popanz! – (IV,2)

Da klopft das Schicksal mehrmals an das Gartentor und begehrt Einlass. Es kommt in Gestalt des Heerführers Aeneas. Man zieht sich in die Bettkammer zurück, und Pandarus stellt sich zunächst dumm. Aber Aeneas weiß, was Sache ist, und Troilus ist soldatisch korrekt zur Stelle, um in knapper Zusammenfassung zu vernehmen: Aeneas Kaum bleibt mir Zeit, euch zu begrüßen, Prinz, So drängt mich mein Geschäft. Ganz nah schon sind Eu’r Bruder Paris und Deiphobus, Der Grieche Diomed und, neu befreit, Unser Antenor; und für diesen solln wir Noch diese Stunde, vor dem Morgenopfer, In Diomedes Hand als Preis erstatten Das Fräulein Cressida. (IV,2)

Cressida • 499

Troilus schlägt die Haken zusammen, bittet nur um Diskretion, weil ihn Aenas in der pikanten Situation angetroffen habe, und geht mit Aeneas ab. Pandarus flucht vor sich hin und Cressida jammert und schreit ihre Verzweiflung und Weigerung in den kalten Morgen. Cressida Ich will nicht, Ohm. Was frag’ ich nach dem Vater! Was ist Verwandtschaft mir? Nein, keine Seele, Nicht Freundschaft, Lieb’ und Blut sind mir so nah, Als du, herzliebster Troilus. O Götter, Laßt Cressida der Falschheit Gipfel heißen, Wenn sie dich je verläßt! Zeit, Noth und Tod, Thut diesem Leben euer Äußerstes; Doch meiner Liebe starker Bau und Grund Ist wie der Erde ewger Mittelpunkt, Der Alles an sich zieht. Ich will hinein Und weinen. (IV,2)

Soweit, so löblich. Noch scheint sie ihres Treuschwurs eingedenk. Der Autor schenkt seinem Paar noch eine herzzerreißende Abschiedsszene. So sehr sie auch klagen und es als Hohn des Schicksals empfinden, so widerstandslos ergeben sie sich der Missgunst der Umstände. Cressida So muß ich zu den Griechen? Troilus

’S ist kein Mittel!

Cressida Ein trauernd Mädchen bei den lust’gen Griechen? Wann werden wir uns wiedersehn? Troilus Hör’ mich, Geliebte, bleibe du nur treu – (IV,4)

Diese nachdrückliche Einforderung ihres sprichwörtlich gewordenen Treueschwurs vom vorhergehenden Abend empört Cressida ein wenig. Sie empfindet Troilus Äußerung wie einen schmählichen Verdacht, den er entschieden zurückweist. Das sei nicht Argwohn oder Misstrauen. Troilus Dieß „sei mir treu“ war nur, um einzuleiten Die folgende Betheurung: sei mir treu, Und bald seh’ ich dich wieder. (IV,4)

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Müssen wir uns Cressida ungefähr als siebzehnjährig vorstellen, so Troilus vielleicht als 19-Jährigen; beide verabschieden sich, als ginge es auf eine Trennung für ein Auslandssemester. Man tauscht einen Handschuh gegen eine Ärmelkrause als Liebespfänder. Es steckt wenig dramatischer Furor und wenig emotionaler Tiefgang in den wechselseitigen eher pubertären Versicherungen: Sei mir treu – Doch sei mir treu! – Sei treu! – O laß dich nicht versuchen! (IV,4) Von draußen ruft der Heerführer Aeneas, und natürlich darf ein Abschiedskuss nicht fehlen. Shakespeares Werk ist voller Küsse, aber dieser Abschiedskuss ist merkwürdig matt. Troilus

Noch einen Kuß zum Abschied!

Paris (draußen) Auf, Bruder Troilus! Troilus

Paris, komm herein Und bring Aeneas mit und Diomedes! Cressida Ihr bleibt doch treu, mein Prinz? (IV,4)

Ja, ja: echte Treu, meine Treu, treu …. Dann tritt Diomedes auf begleitet von Troilus Brüdern Deiphobus und Paris sowie dem Chef Aeneas. Troilus Willkommen, Diomed! Hier ist die Dame, Die für Antenor wir euch überliefern. Am Thor, Herr, geb’ ich sie in deine Hand, Und schildre unterwegs dir, was sie ist. (IV,4)

Diomedes, ganz galanter Grieche, erklärt sich sofort zum Diener Cressidas und giftet Troilus an. Es geht dabei um nichts Militärisches, sondern um reine Nebenbuhlerschaft. Diomedes

O nicht so hitzig, Prinz! Laßt mir das Vorrecht meiner Sendung, daß Ich frei hier sprechen darf. Bin ich erst fort, Dann folg’ ich meiner Willkür; und vernimm, Ich thu’ nichts auf Geheiß: nach ihrem Werth Wird sie geschätzt; doch sprichst du: so solls seyn, Werd’ ich nach Muth und Ehr’ erwidern: Nein! (IV,4)

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Mit diesem Abgang hat Diomedes offene Scheunentore eingerannt, und die Art und Weise, wie sich Cressida in der nächsten Szene bei den fidelen, lustigen Griechen präsentiert, macht Erstaunen. Sie ist, wie zu sehen war, wie verwandelt. Es ist eine andere Cressida, und noch am Abend desselben Tages wird Diomedes von Cressida die Ärmelkrause von Troilus verlangen und Cressida wird sie ihm geben. Nach der Übergabe der Dame Cressida, deren Zeuge wir waren, tauchen die trojanischen Helden im griechischen Lager auf. Man veranstaltet eine harmlose ritterliche Turnierrunde, und an deren Ende frägt Troilus höflich bei Ulysses nach Kalchas Zelt. Er bekommt eine Antwort, die ihn Erschrecken macht. Dennoch bleibt er diplomatisch. Ulysses In Menelaus Zelt, mein edler Prinz: Dort speiset Diomed mit ihm zu Nacht, Der nicht an Erde mehr noch Himmel denkt, Und ganz von Lieb’ entflammt, nur Augen hat Für Fräulein Cressida. (IV,5)

Es scheint fast, als hätten die Griechen nun im siebten Kriegsjahr Revanche für den Verlust der Helena bekommen. Troilus bittet Ulysses um Begleitung, und dieser erkundigt sich nach dem Ruf der Schönen. Sein erstes Urteil war ja vernichtend. Er möchte gerne leutselig-listig wissen, ob das Mädchen keinen Liebhaber in Troja gehabt habe. Troilus gibt eine einigermaßen sibyllinische Antwort. Troilus Sie liebt’ und ward geliebt, und wirds noch heute, Doch neidschem Glück ward Liebe stets zur Beute. (IV,5)

Dass Troilus und Cressida nun umgehend der Exempelfall ihrer prophetischen Worte werden, ist ausgemachte Sache. Alle Weichen sind gestellt, um Troilus eine bittere Erfahrung zuteil werden zu lassen: bitter und voller Zynismus, weil es eben nicht das neidische Glück ist, dem seine Liebe zum Opfer fällt, sondern weil sie einem absichtsvollen Verrat einer Frau erliegt, die die sprichwörtliche Treulosigkeit ist. Julias Wesen ist die Liebe, Cressidas Wesen ist treulos. Ulysses und Troilus sind zum heimlichen Lauschen positioniert, Thersites, der zynische Narr positioniert sich als zweiter Kommentar dahinter. Sie kommen: Cressida und Diomedes. Sie flüstern mit-

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einander und Ulysses kann seinen „Witz“ nicht zügeln und Thersites äfft hinterher. Ulysses Sie spielt euch jedem auf, beim ersten Anblick. Thersites Und Jeder spielt sie vom Blatt, wenn er den Schlüssel weiß; sie ist notirt. (V,2)

Dann aber sagt sie schmeichelnd zu Diomedes:

Cressida Verlocke mich zur Thorheit, süßer Grieche! (V,2)

Diese Aufforderung wird neckisch hin und her gespielt. Ulysses will Troilus vor sich selber schützen und will ihn fortziehen. Aber sein selbstquälerisches Beharren ist stärker. Diomedes So willst du wirklich? Cressida Nun ja, ich will, sonst trau’ mir niemals wieder! Diomedes Gib mir zur Sicherheit ein Unterpfand! Cressida Ich hole dirs. (Cressida geht ab) (V,2)

Sie ist im Nu mit der Ärmelkrause von Troilus zurück. Es folgt ein kurzer Augenblick des Bedenkens, damit das Ärgernis, das das Mädchen mit ihrem Treuebruch gibt, wenigstens einen bescheidensentimentalen Schimmer bekommt. Cressida O Götter! O du liebes, liebes Pfand! Dein Herr liegt jetzt im Bett, und denkt gewiß An dich und mich, und seufzt; nimmt meinen Handschuh, Und gibt ihm manchen süßen Kuß gedenksam, So wie ich dir. Nein, reiß’ sie mir nicht weg; Wer diese nimmt, muß auch mein Herz mit nehmen. (V,2)

Der Dialog fliegt hin und her, die Kommentare aus dem Versteck fliegen darüber hin, bis es zum Schwur kommt. Diomedes Nun, soll ich kommen? Wann?

Cressida • 503

Cressida Ja, komm! O Zeus, Komm nur. Schlimm wird mirs gehn! Diomedes (geht ab) (V,2)

Leb wohl so lange!

Wir wissen Bescheid; eine weitere Szene wäre schon ein indiskreter Blick durchs Schlüsselloch. So weit geht der Dichter nicht. Er gibt dem Abgang Cressidas noch einmal einen leichten Schimmer der Wehmut. Cressida Gut’ Nacht; – ich bitt’ dich, komm! – Ach, Troilus, Noch blickt mein Eines Auge nach dir hin, Das andre wandte sich, so wie mein Sinn. Wir armen Fraun, wir dürfens nicht verhehlen, Des Augs Verirrung lenkt zugleich die Seelen: Was Irrthum führt, muß irr’n: so folgt denn, ach! – Vom Blick bethört, verfällt die Seel’ in Schmach. (V,2)

Mit diesen Worten legt sich Cressida zu Diomedes nieder und kommt im Stück nicht wieder. Man kann diesen Abgang ein Loblied auf die Flatterhaftigkeit der Frauen nennen – und Shakespeare weiß es zu formulieren, als schriebe er für Mozart ein Libretto; in den Worten von Thersites ist die Grundierung des Liedes tiefschwarz und böse, und da klingt es eher wie eine Vorlage für Verdi. Thersites Das sind untrüglich folgerechte Sätze; Noch richt’ger: meine Seele ward zur Metze. (V,2)

Cressida oder nicht Cressida, diese Frage treibt Troilus fast an den Rand der Verzweiflung. Der Patient bekämpft seine Eifersucht mit einer Reflexion, die ihn urplötzlich auf den Thron eines altersweisen Philosophen katapultiert. Troilus Dieß wäre sie? Nein, dieß ist Diomedes Cressida! Hat Schönheit Seele, dann war sie es nicht. Wenn Seele Eide zeugt, wenn Eide heilig, Wenn Heiligkeit den Göttern Wonne ist, Wenn Maaß und Ordnung in der Einheit walten, Dann war sie’s nicht. O Wahnsinn der Gedanken, Der Gründe aufstellt für und gegen sich,

504 • Cressida

Durch schnöde Anmaßung! Wo sich Vernunft Empört und nicht vernichtet, wo Verlust Alle Vernunft mit fortreißt ohn’ Empörung: So war dieß Cressida und war es nicht! (V,2)

Troilus geht immer noch weiterphilosophierend nicht ganz so lautlos aus dem Stück ab, das seinen und seiner Cressida Namen im Titel trägt, aber der Dichter verwehrt ihm das, was ihn noch antreibt: Rache an Diomedes. Sie wird ihm so wenig gewährt wie dem Menelaus an Paris für Helena. Thersites hetzt zwar die beiden Kontrahenten Diomedes und Troilus, in seiner Funktion als chorischer Sprecher, aufeinander, … Thersites Er wird ihn kitzeln für seine Fleischeslust! – (V,2)

… aber der Kampf verliert sich ins Nichts. Außer Spiegelfechterei kommt kein wirklicher Kampf zustande. Troilus hält noch einen eher faden heroischen Abgesang auf Hectors Tod und bleibt als das schuldlose Opfer weiblicher Untreue im Gedächtnisspeicher der geflügelten Worte: „So treu wie Troilus“ : „So falsch wie Cressida!“ (III,2)

deutsche Übersetzung: Wolf Graf Baudissin

Cassandra • 505

Cassandra

Troilus und Cressida (1601 / 1603)

designed by Kenny Meadows and engraved by William Henry Mote

506 • Cassandra

Cassandra • 507

Cassandra ist eine relativ kleine Rolle in Shakespeares „Troilus und Cressida“. Sie hat zwei Szenen respektive drei Auftritte von mäßigem Umfang. Die deutschen Programmhefte schreiben aber gerne viel über sie, besonders seit es die Erzählung „Kassandra“ von Christa Wolf gibt. Die kannte Shakespeare noch nicht; er bezog seine Weisheit aus populären, aber unhomerischen Geschichten, die im England des 16. Jahrhunderts in Umlauf waren. In Verzückung mit fliegenden Haaren, so die Regieanweisung, kommt sie auf die Szene. Unser Künstler hat sie eher mit fliegenden Gewändern dargestellt, obwohl gerade die wirre Haarpracht in Shakespeares Zeiten ein symbolisches Zeichen für geistige Umnachtung war. Sie platzt mitten in die Ratsversammlung im Palast des Priamus, in der über das Angebot der Griechen bezüglich einer Herausgabe der entführten Helena beraten wird. Priamus trägt das Angebot der Griechen vor. Priamus „Gebt Helena, und jeder andre Schaden, Als Ehre, Zeitverlust, Aufwand und Müh, Blut, Freund’, was und noch Theures sonst verschlang Des nimmersatten Krieges heiße Gier, Sei abgethan.“ Hector, wie dünkt es dich? (II,2)

Hector wäre sofort mit einer Herausgabe einverstanden, weil er schon lange der Meinung ist, dass Helena den Preis nicht wert ist, den sie Troja kostet. Troilus widerspricht heftig und argumentiert mit viel Sophisterei und alten Geschichten sich keinesfalls für das Angebot der Griechen auszusprechen. Der Stein des Anstoßes bleibt also ein Stolperstein. Da kommt, wie Troilus sagt, die tolle, die irre Schwester der Priamus-Söhne Cassandra und erklärt unter großem Jammer und Geschrei, Helena endlich ziehen zu lassen. Sie spricht vielleicht nicht mit rationalen Argumenten, aber ihr Auftritt ist einigermaßen beeindruckend. Vermutlich ist es die eher irrationale Weise ihres Vortrags, die den Grundwiderspruch ihrer Prophezeiungen bedingt.

508 • Cassandra

Sie hat zwar immer recht, aber niemand glaubt ihr, weil man sie für verrückt hält. (Cassandra kommt, in Verzückung, mit fliegenden Haaren) Cassandra Weint, Troer, weint! Leiht mir zehntausend Augen, Und alle füll’ ich mit prophet’schen Thränen! Hector Still, Schwester, still! – Cassandra Jungfraun und Knaben, Männer, schwache Greise, Unmündge Kindheit, die nichts kann als weinen, Verstärkt mein Wehgeschrei! Und zahlt voraus Die Hälfte all’ des Jammers, der uns nah! Weint, Troer, weint: gewöhnt eu’r Aug’ an Thränen: Troja vergeht, das schöne Ilium sinkt! Paris, der Feuerbrand, verzehrt uns Alle. Weint, weint! O Helena, du Weh der Wehen! – Weint! Troja brennt! Verbannt sie, heißt sie gehen! (geht ab) Hector Nun, junger Troilus, weckt ‘dieß grause Lied Der prophezeinden Schwester kein Gefühl Der Reu im Herzen? oder ist dein Blut So toll erhitzt, daß Überlegung nicht, Noch Furcht vor schlechtem Ausgang schlechter Sache Die Gluth dir mäß’gen kann? – (II,2)

Trotz des theatralischen Auftritts der Schwester und Hectors Mahnung, ihre zugegebenermaßen etwas wirre Rede ernst zu nehmen, bleibt Troilus bei seiner Meinung. Paris stimmt ihm zu, wobei er als Eigentümer der Frau betont, dass es für ihn jenseits des persönlichen Interesses auch objektive Gründe gebe, Helena weiterhin zurückzuhalten. Hector opponiert und verweist auf das Moralgesetz des Staates und der Natur, die eine Rückgabe erfordern. Aber trotz seiner wohlformulierten Rede stimme er den Brüdern zu. Der Fall Helena ist ein Fall der Ehre und des Ruhms. Und, so Troilus zusammenfassend: Troilus Sie ist ein Gegenstand für Ehr’ und Ruhm, Ein Sporn zu tapfrer, hochbeherzter That, Giebt jetzt uns Muth, die Feinde zu vernichten,

Cassandra • 509

Und für die Zukunft Preis, der uns verklärt. (II,2)

Die Ehre ist – die Ehre! Alles andere wäre eine Blamage, mehr, es wäre Schande. Das Ende der Fahnenstange ist bei solcher Handlungsmotivation von Personen und gar von literarischen Figuren immer schnell erreicht, und Hector hat wider bessere Einsicht auch schon mit einer Finte vorgesorgt, um die träg gewordenen Feinde wieder zum Kampf zu bewegen. Das trifft sich gut mit den Strategien des zynischen Chefdenkers der Griechen, mit Ulysses. Auch der hat so seine Pläne, den Achill wieder aus dem Bett des Patroclus zu holen. Der Krieg kommt wieder in Bewegung und verläuft nach Plan und geschichtlicher Vorgabe. Nach der Übergabe von Cressida ins griechische Lager veranstalten Ajax und Hector ein verabredetes kleines Scheingefecht, um den Achilles eifersüchtig zu machen. Sein Ruf steht auf dem Spiel, und als man nach dem kurzen Waffengang auf einem kleinen small-talk beisammensteht, taxiert Achilles auf provozierende Weise Hectors Körperbeschaffenheit. Hector bittet, sich seine hochmütigen Blicke auf morgen zu sparen. Hector Ich bitt’ euch, laßt im Feld uns euch begegnen; Es gab nur kleinen Krieg, seit ihr verließt Die griechschen Fahnen. Achilles Du verlangst nach mir? Dir nah’ ich morgen, furchtbar wie der Tod: – Heut abend sei’n wir Freunde! (IV,5)

Man hat die beiden dahin gebracht, wo man sie wollte. Auf Ehre, man betrinkt sich des Abends ordentlich im Zelt des Achilles – vor dem Zelt des Kalchas werden wir noch Beobachter einer delikaten Szene zwischen Cressida und Diomedes –, und schon ist es früher Morgen vor dem trojanischen Palast. Die berühmte mythologische Frau des geliebten Hector, Andromache, die noch viele tragische Schicksalsschläge vor sich hat, rauft sich die Haare, als der in aller Frühe schon in voller Rüstung vor dem Haus steht. Andromache Entwaffne, entwaffne dich, ficht heute nicht! (V,3)

Hector schickt sie ins Haus. Er ist entschlossen zu kämpfen. Die Frau hatte einen Traum, der Unglück weissagte. Den Traum bestätigend kommt die Schwester Hectors dazu. Die Traumbilder von

510 • Cassandra

Blut und Aufruhr und Gemetzel deiner Frau sind wahr, sagt Cassandra. Bitte, bitte, bleib da und lass die Kampfsignale schweigen. – Schwur ist Schwur, meint Hector, und Cassandra opponiert zunehmend lauter werdend. Cassandra Taub sind die Götter raschen, thörgen Eiden: […] Der gute Vorsatz leiht dem Eid die Kraft, Nicht Eid auf jeden Vorsatz darf uns binden, Entwaffne dich, mein Hector! – (V,3)

Kommt nicht in die Tüte, sagt der Mann stur, und da ist sie wieder, die verdammte Ehre. Hector

Laßt mich, Fraun! Denn meine Ehre trotzt des Schicksals Sturm. Das Leben gilt uns theu’r; doch theurer Muth Hält Ehr’ um vieles theurer, als das Leben. (V,3)

Wen kann man da noch bemühen, Hector vom Gegenteil zu überzeugen? Cassandra, bitte hol den Vater, damit der ihm seinen Plan ausredet. Während Cassandra König Priamus holt, entspinnt sich ein Disput zwischen Hector und Troilus, der heute Morgen nach der vergangenen Nacht als Voyeur vor Kalchas Zelt besonders geladen ist. Seine Liebe zu Cressida hatte einen argen Dämpfer erhalten. Folglich würde er am liebsten rücksichtslos alle kurz und klein schlagen, während Hector für einen ritterlich geordneten Kampf plädiert. Er erachtet das Plädoyer des Bruders als Symptom eines allgemeinen Verfalls der Ordnung, als giftige Rache und ehrlosen Krieg. Die Schwester kommt mit dem gramgebeugten Vater zurück. Sie beschwört ihn, Hector zurückzuhalten; er sei seine und seines Volkes Stütze. Ohne ihn verfalle Troja dem Untergang. Die Regie kann den königlichen Vater auf die Knie vor dem Heldensohn sinken lassen, wenn er zu Hector spricht: Priamus

Bleib, Hector, bleib; Dein Weib sah Träume, deine Mutter Zeichen, Cassandra weissagt Unglück, und ich selbst, Wie ein Prophet in plötzlicher Verzückung, Verkünde dir, der Tag ist vorbedeutend: Drum kehr zurück! (V,3)

Cassandra • 511

Ich habe es versprochen, ich darf mein Wort nicht brechen, ich habe es im Angesicht des Ruhms zugesagt … und im Übrigen bin ich über dich verärgert, liebe Frau, weil du mir die Sache so schwer machst. Geh’ ins Haus! Tatsächlich geht sie ins Haus ohne ein Wort des Abschieds, und Troilus schimpft über die verrückte Schwester: Troilus Die abergläubsche, tolle Träumerin Schafft all’ die Angst. (V,3)

Die angstschaffende Schwester kommt seiner unsagbaren Wut und Hectors Kampfgeist ganz gelegen. In ihrem schauerlichen Vorwissen der Zukunft Trojas bestimmt sie die Brüder wie trotzige Kinder erst recht zum Kampf in den Untergang ihrer Stadt, der in Troilus blindwütigem Gemetzel und in Hectors grausamem Tod vorweggenommen wird. Cassandra Leb’ wohl, mein theurer Hector! Sieh, wie du stirbst! Sieh, wie dein Aug’ erbleicht! Sieh, wie dein Blut aus vielen Wunden strömt! Horch Trojas Wehruf, Hecubas Geheul, Den lauten Jammerschrei Andromache’s! O sieh Verzweiflung, Wahnsinn, wild Entsetzen, Gleich tollen Larven durcheinander rennen, Und rufen: „Hector! Hector fiel! o Hector!“ – (V,3)

Troilus versucht die Unglücksprophetin mit hilfloser Geste zu verscheuchen, als würde das ihre seherischen Worte ungehört und unwirksam machen. Troilus Hinweg! hinweg! (V,3)

Cassandra, die schon im Abgehen begriffen war, wendet sich daraufhin noch einmal zurück. Jetzt, heute, sogleich wird sich die Zukunft erfüllen. Cassandra Leb wohl! doch still! nie sehen wir uns wieder; Du täuschest dich und stürzest Troja nieder! (V,3)

Der Rest ist lautdröhnendes Schweigen. Die beiden Brüder stürzen sich in eine sinnlose Schlacht mit viel Schlachtenlärm und kübelweise Blut. Von Ehre und Ruhm ist das Gemetzel meilenweit entfernt; Achilles Befehl an seine Myrmidonen spottet allen hehren

512 • Cassandra

Vorstellungen Hohn. Ritterlichkeit ist ein Anachronismus, nur eine blasse Erinnerung in bestialischer Gegenwart. Nahezu alle Figuren von Shakespeares inkommensurablem Stück erweisen sich auf dem Hintergrund ihres glanzvollen Rufes ihrer Hochschätzung als unwürdig. Stiere und Köter sieht der Zyniker Thersites in Paris und Menelaus am Werk, und viehisch schleift Achill den toten Hector um die Mauern Trojas. Freudengeschrei auf Seiten der Griechen. Das hölzerne Pferd und weitere drei Kriegsjahre spart sich Shakespeares Bühne. Mehr Ende geht nicht. Wie Troilus Ende bleibt auch Cassandras Ende im Stück offen. Sie soll nach dem Krieg von Agamemnons Frau Klytaimnestra erdolcht worden sein. Wir glauben aber, sie lebt bis heute. deutsche Übersetzung: Wolf Graf Baudissin

Helena • 513

Helena

Troilus und Cressida (1601 / 1603)

designed by K. Fields and engraved by G. Inglis

514 • Helena

Helena • 515

Nichts ist im siebten Kriegsjahr in Troja und vor Troja noch in Ordnung. Die Griechen zweifeln, ob die Hure Helena, die sie in diesem Krieg zurückholen wollen, all den Einsatz von Kampf und Blut überhaupt wert ist. War man zunächst mit Hurra und großem Einsatz von Personal und mit vielen Schiffen nach Troja aufgebrochen, … Prologus Neunundsechzig Führer, Prangend im Fürstenhut, sind abgesegelt Von Attika gen Phrygia; ihr Gelübde, Troja zu schleifen wo im Schirm der Mauern Frau Helena, geraubt dem Menelaus, Beim üpp’gen Paris schläft: – das ist der Krieg.

… so beurteilt man die Lage in einem Augenblick allgemeiner Ermattung und Ernüchterung realistischer. Zwar schwört man offiziell noch immer auf die großen Ziele, aber wenn man auf den Kampfgeist im Allgemeinen und im Falle des Achill im Besonderen schaut, dann muss man ernüchtert feststellen, dass es da ziemlich hapert. Achill will nicht mehr kämpfen, und sein großer Kontrahent auf der trojanischen Gegenseite bilanziert laut die Opfer, die Helena verursacht, und äußerst dann seine grundsätzlichen Zweifel. Hector Welcher vernünft’ge Grund denn, der uns hindert, Sie auszuliefern? (II,2)

Ausgerechnet der junge Troilus, der eben aus Verliebtheit zu Cressida erklärt hat, nicht mehr kämpfen zu wollen, erhebt pathetisch Einspruch, den Hector nüchtern zurückweist. Hector Bruder, sie ist nicht werth, was sie uns kostet, Sie hier zu halten. (II,2)

Thersites, der Narr und die Stimme der einfachen Leute, bringt es in drastischem Stilniveau auf einen wenig schmeichelhaften Nenner. Thersites … die ganze Geschichte dreht sich um einen Hahnrei und eine

516 • Helena

Hure; ein hübscher Gegenstand, um Partheiung und Ehrgeiz aufzuhetzen und sich daran zu Tode zu bluten: daß doch der Aussatz das Gesindel fräße! (II,3)

Nach einer solchen Ein- und Heranführung auf den Stein des Anstoßes ist eigentlich kein hohes klassisches Profil mehr von der schönsten Frau des Altertums zu erwarten. Aber die Künstler präsentieren uns eine Helena, deren Bildnis noch ganz im hohen Stil gehalten wird. Die Heraldik, die sie umgibt, die bildlich-dekorativen Elemente, die ihren Thron zieren, und der hehre Faltenwurf ihrer Kostümierung und die graziöse Armhaltung erinnern Feierlichkeit und Pathos. Mag sein, dass den Künstlern des 19. Jahrhunderts das klassische Stilideal ihrer Zeit einen Streich spielt, denn die Szene, Helenas einziger Auftritt im Stück, trieft vor Koketterie und launiger Unverbindlichkeit. Als wäre Shakespeare ein Bruder von Jacques Offenbach, der das Thema aus der klassischen Stillage und aus der hohen Form in die trivialeren Niederungen der Operette holte, initiiert Shakespeare ein travestierendes Rollenspiel, das seinesgleichen sucht. Diener und Zuhälter und die Standespersonen Helena und Paris sprechen auf gleicher prosaischer Ebene. Das Format ist ein allzu menschliches, voller Frivolität und Verniedlichung. Paris nennt seine schöne Helena mit Kosenamen: Nell = Lenchen. Lenchen passt nun gar nicht als Unterschrift zum obigen Bild. Und Lenchen will auch noch, dass ihr der Kuppler ein Lied von der Liebe vorsingt. Der aber will an Graf Paris nur eine Nachricht von seinem Bruder Troilus bestellen des schlichten Inhalts, dass er ihn an der Abendtafel beim Vater und König Priamus entschuldigen soll. Pandarus Ihr habt die Gnade, mit mir zu scherzen, süße Königin. Aber die Sache ist die, mein Prinz, ... mein gnädigster Prinz und höchstgeehrter Freund, euer Bruder Troilus – Helena Herr Pandarus! Mein honigsüßer Pandarus – Pandarus Laßt mich, süße Königin, laßt mich; … empfiehlt sich euch aufs inständigste – (III,1)

Pandarus kommt einfach nicht weiter und macht Anlauf um Anlauf und dazwischen komplimentiert er mit Süßholzgeraspel.

Helena • 517

Pandarus Süße Königin! Das ist eine süße Königin! Nein, welche süße Königin! Helena Und eine süße Königin traurig machen, ist ein bittrer Frevel. Pandarus Nein, damit setzt ihrs nicht durch, damit wahrhaftig nicht! nein! solche Worte machen mich nicht irre, nein! nein! – Und, mein gnädiger Prinz, er bittet euch, ihr wollt seine Entschuldigung übernehmen, wenn der König bei der Abendtafel nach ihm fragt. (III,1)

Helena stört ununterbrochen mit banalem Geplapper, und Paris kann nur schwer seine Frage nach dem Grund der Abwesenheit anbringen. Helena Bester Pandarus – Pandarus Was sagt die süße Königin? die allersüßeste Königin? Paris Was hat er denn vor? Wo speist er zu Nacht? Helena Aber, bester Pandarus – (III,1)

Der Kuppler wehrt ab; er möchte nicht, dass weder seine Nichte Cressida noch Prinz Paris ob Helenas unentwegtem Flirt böse auf ihn werden. Helena hat verstanden, warum er nicht zum Abendessen kommen will. Helena Ihr dürft nicht fragen, wo er zu Nacht speis’t! – Paris Ich setze mein Leben dran, bei meiner Herzenskaiserin Cressida. (III,1)

Auch wenn Pandarus zunächst verneint, es ist nicht zu verhehlen; in leichtem Rätsel gesteht er schließlich: Pandarus Meine Nichte ist erschrecklich verliebt in ein Ding, das ihr habt, süße Königin. Helena Sie solls haben, wenns nicht mein Gemahl Paris ist.

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Pandarus Den? Nein, nach dem fragt sie nicht. (III,1)

Helena setzt noch eine Anzüglichkeit hinterher, und dann bequemt sich Pandarus doch dazu, ein verliebtes Lied zu singen. Dann verabschiedet er sich artig von dem leutseligen Prinzenpaar und erinnert noch einmal: Pandarus – Ihr denkt daran, euern Bruder zu entschuldigen? (III,1)

Süße König hin, süße Königin her, man empfiehlt sich, lässt bei Cressida schöne Grüße ausrichten, und Helena macht sich auf Bitten von Paris fertig, dem heimkehrenden Hector aus der Rüstung zu helfen. Bei ihrer letzten Replik darf sie sogar in poetischen Vers fallen. Paris geht zärtlich verliebt mit ihr ab. Paris Du Süße! Über alles lieb ich dich! (III,1)

Das weitverbreitete Gefühl in den Lagern der Griechen wie der Trojaner, dass Helena das viele Blut nicht wert ist, das um sie vergossen wird, ist nach einer solchen Szene durchaus verständlich. Ihr Auftritt bestätigt Hectors nüchternes und Thersites zynisches Urteil. Von einer Huldigung für die schönste Frau der Weltgeschichte kann keine Rede sein, aber auch von keiner Darstellung eines magisch verführerischen Blendwerks höllischer Mächte. Diese Frau schläft beim liebesseligen Paris, das ist die triviale Wahrheit aus der Niederung menschlicher Alltäglichkeit. Geradezu dümmlich ist es deshalb von Prinz Paris ausgerechnet sein Schattenbild in Sachen Frauenentführung und Frauenverführung, den Griechen Diomedes, zu fragen: Paris Nun sagt mir, edler Diomed, sagt frei, Im echten Geist aufricht’ger Brüderschaft, – Wer würd’ger sei der schönen Helena, Ich oder Menelaus? (IV,1)

Die Antwort des Diomedes auf diese Frage eines völlig verblödeten Mannsbilds – passt dieser geile Schlitten eher zu mir oder zu ihm? – ist entsprechend abfällig und nimmt kein Blatt vor den Mund. Ihr seid beide gleich blöd. Diomedes Er, ein schwachmüt’ger Hahnrei, tränke willig Die Neig’ und Hefe abgestandnen Weins;

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Dich Lüderlichen freut’s, aus Hurenleib Dir deine künftgen Erben zu erzeugen: (IV,1)

Das ist eine aufrichtige Antwort unter Feinden, und der zynische Diomedes, den Thersites einen „falschen Schurken“ schimpft und der sich eben anschickt seinerseits Cressida zur Hure zu machen, erklärt unumwunden Helenas Unwert. Diomedes Für jeden Tropfen ihres schnöden Bluts Zahlt eines Griechen Leben; jeder Skrupel Des pesterfüllten, buhlerischen Leibes Erschlug ‘nen Troer. (IV,1)

Es fließt, so klarsichtig die Analyse auch ist, noch viel griechisches und trojanisches Blut, das die „Metze“, die „Hure“ nicht wert ist. Das Fazit des Stücks ist bitter, bietet aber doch auch einen Lichtstreif am Himmel, weil im Wiederholungsfall für Cressida überhaupt kein Blut fließt. Das ist aber kein Verdienst der im Schlachthaus tobenden Männer, sondern des Autors, der sie im Regen stehen lässt. deutsche Übersetzung: Wolf Graf Baudissin

Isabella • 521

Isabella

Maß für Maß (1603 / 1604)

designed by Kenny Meadows and engraved by B. Eyles

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Isabella • 523

Das Bild von „Kenny Meadows and engraved by B. Eyles“ gibt als Zitatgrundlage die 1. Szene aus dem dritten Akt von Shakespeares „Maß für Maß“ an. Das kann nicht sein, denn diese Szene III,1 spielt im Gefängnis, und dort steht sicherlich kein erhöhter Regentensessel vor einem mächtigen Säulenfuß toskanischer Ordnung. Charles Heath,1 der Auftraggeber des opulenten Stahlstichwerks, gibt in Abweichung zur Angabe unter dem Bild von Isabella einen Textauszug aus der 4. Szene des zweiten Akts, eine Angabe, die Heinrich Heine2 geflissentlich ignoriert hat. Er wählt zwar auch eine Szene aus Akt II,4 – eine etwas frühere Textstelle als Heath –, aber er etikettiert sie dann falsch und gibt an: Maß für Maß. Akt III, Szene II. Diese Szene spielt aber auf der Straße vor dem Gefängnis. Da Heine bei den charakteristischen Stückzitaten zu den Komödien ohnehin relativ frei schaltet und waltet, halten wir uns an die Angabe von Charles Heath. Sie markiert das skandalöse Zentrum des relativ skandalträchtigen, gerne „Problem“-Komödie genannten Stücks, das am 26. Dezember 1604 uraufgeführt wurde. Man konnte wieder lustvoll Theater spielen nach überstandenem Pestjahr. Isabella, die keusche, tiefgläubige Novizin des Ordens der Klarissinnen und schöne Schwester des jungen Edelmanns Claudio, wird bereits zum zweiten Mal beim Interimsstatthalter von Wien vorstellig, um eine Begnadigung des Bruders zu erreichen. Claudio wurde der Unzucht angeklagt; seine Geliebte, schon rechtmäßig Verlobte Julia ist schwanger, und dafür soll der arme Kerl nun hingerichtet werden. Der Statthalter Angelo ist vom verreisten Herzog Vincentio angehalten, die sittlich etwas verlotterte Stadt Wien wieder auf moralischen Hochglanz zu polieren. Angelo gilt als sittenstreng und tugendhaft und für diesen Job geeignet, und um sich zu profilieren, hat er bereits angeordnet, dass alle Bordelle und sonstigen einschlägigen Etablissements der Unzucht und Hurerei in den Vorstädten abgerissen werden sollen. Das erste Gespräch verlief wie nicht anders zu erwarten ergeb-

524 • Isabella

nislos. Isabella konnte dem Statthalter kein Gnadenwort abringen. Obwohl sie ihre ganze Beredsamkeit bemühte und, ohne es selbst zu wissen, ihre schöne Keuschheit vortrefflich zur Geltung brachte, blieb Angelo hart. Aber das letzte Wort schien noch nicht gefallen, denn überraschenderweise war er bereit, sie am nächsten Tag noch einmal zu empfangen. Diesmal war sie ohne Begleitung, und die Stimmung war verändert. Mit Angelo war etwas passiert, aber Isabella kann sich noch keinen Reim darauf machen. Die Zuschauer wissen wie fast immer bei Shakespeare mehr, weil er schon mit sich selber in Gesprächen verwickelt war, in denen er klar erkennbar aussprach, was er Isabella nun gewunden und auf sprachlich merkwürdige Weise andeutet. Das fällt ihr schon auf: wär, wärt, wögen, gäbs, müßt, könnt, nähmt, nehmt an … etc. Trotzdem oder gerade wegen seiner vielen konjunktivischen Wendungen fühlt er sich unverstanden. Angelo Dein Sinn erfaßt mich nicht, sprichst du’s in Einfalt? Stellst du dich listig so? Das ist nicht gut! – (II,4)

Nochmals versucht er sich in Andeutungen. Es geht nicht, er kommt so nicht weiter. Achtung #MeToo! Dann eben eine klare Rede für sexuelle Gewalt bei sexualisiertem Machtmissbrauch. Angelo … dreist nun sprech’ ich: Ich halte dich beim Wort: sei, was du bist, Ein Weib; willst mehr du seyn, so bist du keins; Und bist du eins (wie all’ dein äußrer Reiz So holde Bürgschaft giebt), so zeig’ es jetzt, Und kleide dich in die bestimmte Farbe! (II,4)

Bitte, sprecht nicht so mit mir! Lieber in Konjunktiven, noch besser im Ton richterlicher Vernehmung und Prüfung. Das tut er aber nicht, und sie versucht es mit einer Drohung, die wie immer in solchem Falle machtlos und wirkungslos ist. Isabella Ich hab’ nur eine Zunge: theurer Herr, Ich fleh’ euch an, sprecht eure vor’ge Sprache! Angelo Ich sag’ es frei und klar, ich liebe dich. Isabella Mein Bruder liebte Julien, und ihr sagt:

Isabella • 525

Er müsse dafür sterben. Angelo Liebst du mich, Isabella, soll er nicht. Isabella Ich weiß, eurer Würde ward dieß Vorrecht, Sie scheint ein wenig schlimmer, als sie ist, Und prüft uns Andre. Angelo Glaub’, auf meine Ehre, Mein Wort spricht meinen Vorsatz. Isabella O kleine Ehre, so viel ihr zu glauben! Und Gott verhaßter Vorsatz! Schein, o Schein! – Ich werde dich verkünden, sieh dich vor: Gleich unterzeichne mir des Bruders Gnade, Sonst ruf ’ ichs aller Welt mit lautem Schrei, Was für ein Mann du bist. Angelo Wer glaubt dirs, Isabella? Mein unbefleckter Ruf, des Lebens Strenge, Mein Zeugniß gegen dich, mein Rang im Staat Wird dein Beschuld’gen überbieten, Daß du ersticken wirst am eignen Wort, Und nach Verläumdung schmecken. Ich begann; Und nun, entzügelt, nehmt den Lauf, ihr Sinne: Ergieb dich meiner glühenden Begier, Weg sprödes Weigern, zögerndes Erröthen, Das abweis’t, was es wünscht; kauf deinen Bruder, Indem du meinem Willen dich ergiebst; Sonst muß er nicht allein des Todes sterben, Ja, deine Härte soll den Tod ihm dehnen Durch lange Martern. Antwort gib mir morgen; Denn, bei der Leidenschaft, die mich beherrscht, Ich werd’ ihm ein Tyrann! Und dir sei klar, Sprich, was du kannst; mein Falsch besiegt dein Wahr. (geht ab) (II,4)

„Ich liebe dich“ geht den verliebtesten Heldinnen und Helden bei Shakespeare oft wahnsinnig schwer über die Lippen – etwa Beatrice und Benedict in „Viel Lärm um nichts“ –, aber der verklemmte Angelo bringt die drei Worte relativ locker über die Lippen. Aber er liebt ja nicht, sondern er begehrt nur Sex. Er ist ein früher Bruder

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des Polizeichefs Baron Scarpia, aber Isabella ist keine Floria Tosca. Tosca liebt einen Künstler und ersticht den Baron, Isabella liebt nebst ihrem Bruder vor allem Gott. Nicht einmal zum Schein, wie Tosca, würde sie auf Angelos Infamie eingehen; schon der bloße Gedanke einer solchen Beschmutzung ihres Körpers um der Rettung des Bruders willen ist abscheulich und schreit zum Himmel. Isabella Ja, Claudio, stirb: ich bleibe keusch und rein; Mehr als ein Bruder muß mir Keuschheit seyn. Ich sag’ ihm noch, was Angelo beschieden, Dann geh er durch den Tod zum ew’gen Frieden. (II,4)

Sagt’s zu sich und geht ins Gefängnis, um ihm die schlechte Botschaft zu bringen. Ein wenig ist er schon durch einen sehr beredten Klosterbruder auf seinen Tod vorbereitet, aber als ihm Isabella die definitive Nachricht bringt, ist sein „Mut zum Tod“ schnell wieder verflogen, vor allem weil sie ihm auch von jenem Hintertürchen spricht, das der fromme Angelo dreist anbot. Er würde dich laufen lassen, wenn ich heute Nacht ihm meine „Unschuld opfern wollte“. – „Sterben ist entsetzlich!“, und nach einer langen Rede über die Schrecknisse des Todes mündet sie in die Bitte: Claudio O Liebste, laß mich leben! – Was du auch thust, den Bruder dir zu retten, Natur tilgt diese Sünde so hinweg, Daß sie zur Tugend wird. (III,1)

Isabella hatte schon gegen sein ‚entsetzliches Sterben’ einen rhetorischen Ausfall gewagt und ein Leben ohne Ehre dagegengesetzt; aber was jetzt als Antwort kommt, rückt die Schwester unvermittelt an die Seite des (falschen) Tugendeiferers und Hinrichtungsfreunds mit der Gesetzestugend im Mund. Isabella O Thier! O feige Memm’! o treulos Ehrvergeßner, Soll meine Sünde dich zum Mann erschaffen? – Ists nicht blutschändrisch, Leben zu empfahn Durch deiner Schwester Schmach? Was muß ich glauben? Hilf Gott! War meine Mutter falsch dem Vater? Denn solch entartet wildes Unkraut sproß Niemals aus seinem Blute. Dir entsag’ ich, Stirb, fahre hin! Wenn auch mein Fußfall nur

Isabella • 527

Dein Schicksal wenden möcht’, ich ließ es walten: Ich bete tausendmal für deinen Tod, Kein Wort zur Rettung. (III,1)

Solche Herzenshärte konnte er beim besten Willen nicht von seiner Schwester erwarten. Tun oder nicht tun, das ist hier durchaus eine Frage, aber Verfluchung und Verstoßung mit der Bitte zu Gott auf seinen Tod, das ist Tugendrigorismus pur, der den Vater die Tochter morden lässt und die Schwester den Bruder dem Tode opfert. Wir sind zu Mitte des Stücks, das sich seit der ersten Folio-Ausgabe von 1623 als eine Komödie anbietet. Dabei stecken wir in diesem Augenblick, in dem unser Geschwisterpaar definitiv mit seinem Latein am Ende ist, in einer sich anbahnenden Tragödie. Da kommt ihnen – Gott sei’s gedankt – der irgendwo abhandengekommene Chef Angelos als Klosterbruder verkleidet in die Quere. Er ist gar nicht nach Irgendwo verreist – so die offizielle Verlautbarung seines Presseamts –, sondern er tritt in seiner Verkleidung ab jetzt als der heimliche Mitspieler und Spielmacher der dramatischen Abhandlung auf. Er löst den Knoten nicht als Deus ex machina, sondern als mithandelnder Regisseur, als Marionettenspieler. Kaum hat Isabella ihre grausam-mitleidlose Aburteilung ausgesprochen, tritt er aus dem Hintergrund des Kerkers, bringt Claudio wieder in die Spur des Todes und schiebt ihn sanft von der Szene, auf der er im weiteren Verlauf nicht mehr aktiv wird. Aktiv wird sich auch Isabella nicht mehr zu Wort melden, sondern nur getreu ihrem geistlich-philosophischen Einflüsterer. Mit platonischer Weisheit, dass das Schöne gut und das Gute schön sei, bringt er das Mädchen zu sich selbst zurück und zu der Einsicht, dass zuvörderst nicht der Bruder, sondern Angelo bestraft werden müsse. Die Strafe wird nicht drakonisch in Angelos Weise sein; sie wird pädagogischen Ansprüchen verpflichtet sein. Der verkleidete Herzog versucht ihr wie der ausfragende Sokrates auf die Erkenntnissprünge zu helfen. Herzog Wie wollt ihrs nun machen, diesen Statthalter zufrieden zu stellen, und euren Bruder zu retten? (III,1)

Isabella bleibt ihren Gedankengängen treu. Sie muss wohl den Tod des Bruders in Kauf nehmen, aber bei Rückkehr des Herzogs wolle sie sein Verbrechen laut herausschreien. Nein, das wird Angelo natürlich zurückweisen. Der Herzog, ein stückweit Shakespeare selbst, erinnert sich des sogenannten bed-trick, der im eben vollendeten

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Stück „Ende gut, Alles gut“ so hilfreich war. Die Delikatesse dieser Intrige muss der Novizin in aller Rechtschaffenheit klar gemacht werden. Der Herzog bleibt bei seiner sokratischen Fragemethode aus ihr das herauszuholen, was er vorgeplant hat. Herzog Tugend ist kühn, und Güte ohne Furcht. Hörtet ihr nie von Marianen, der Schwester Friedrichs, des tapfern Helden, der auf der See verunglückte? (III,1)

Sie hat tatsächlich davon gehört, und nach und nach wird in sokratischem Dialog die Taktik entwickelt, die vor Jahren schmählich von Angelo verlassene Verlobte statt Isabella in sein Bett zu bringen. Der Herzog ist erkennbar darum bemüht, seinen Statthalter nach dem Übergriff auf Isabella in die gleiche Situation wie die des zum Tode verurteilten Claudio zu bringen. Dunkelheit, Schweigsamkeit und nur eine kurze Verweildauer soll die Bedingung für diesen onehour-stand sein. Herzog Jenes Mädchen hegt noch immer ihre erste Neigung; seine ungerechte Lieblosigkeit, die nach Vernunftgründen ihre Zärtlichkeit ausgelöscht haben sollte, hat sie wie eine Hemmung im Strom nur heftiger und unaufhaltsamer gemacht. – […] Wir bereden das gekränkte Mädchen, sich an eurer Statt zur bestimmten Verabredung einzufinden. (III,1)

Isabella ist dem geistlichen Berater eine gehorsame Tochter; sie eilt zu Angelo, er zu Mariane. Über dem sich anbahnenden Theatercoup bleibt die Frage auf der Strecke, ob das diesmal – anders als zwischen Bertram und Helena – eine wirklich gute Lösung ist. Shakespeare will es so, lässt aber sein alter ego auf der Straße vor dem Gefängnis noch durch ein unangenehmes Sperrfeuer böser Vorwürfe seitens eines frech aufmüpfigen und zwielichtigen Burschen namens Lucio laufen. Dieser Lucio – aber das ist eine eigene Geschichte – ist in seiner gewitzten Liederlichkeit und zynischen Vernünftigkeit ein höchst sympathischer Charakter in der nun immer schneller ins Taumeln geratenden Tugendfarce um den Statthalter Angelo. Lucio redet sich um Kopf und Kragen vor dem verkleideten Herzog über den Herzog, der ein gutes Gedächtnis hat und ihn am Ende bestrafen wird. Lucio Lord Angelo herzogt indeß recht tapfer in seiner Abwesenheit;

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er nimmt das galante Wesen rechtschaffen ins Gebet. (III,2)

Natürlich hat der Kerl recht, aber das kann er als Herzog nicht laut sagen. Jedenfalls ist er froh, als er endlich allein ist und sich zum ultimativen Strippenzieher seiner Marionetten bestimmt. Herzog List gegen Bosheit wend’ ich nun: Lord Angelo soll heute ruhn Bei der Verlobten, erst Verschmähten: So soll der Trug den Trug vertreten, Falschheit die Falschheit überwinden, Und neu der alte Bund sich gründen. (III,2)

Ab jetzt wird Maß für Maß gespielt. Der Herzog und Isabella treffen sich in Marianens Haus. Isabella hat alles bei Angelo für das heimliche Treffen abgesprochen, der Herzog stellt die Damen einander vor. Isabella kann Mariane problemlos zu der Unternehmung überreden, zu der der Pater seine Billigung erteilt. Eine kleine Bitte hat Isabella noch. Beim Abschied soll sie Angelo ganz leise und schwach an ihren Bruder erinnern. Während die Damen bei Angelo den bed-trick so routiniert durchspielen, als hätten die Jungfrauen nie etwas anderes gemacht, wird das Gefängnis zum Théâtre du Grand-Guignol. In der HorrorShow geht es darum, einen Ersatzkopf für den Kopf des Claudio zu finden, denn Angelo besteht trotz der erfüllten sexuellen Bedingungen auf seinem Tod. Alle Komiker vom Fache bekommen hier ihren Auftritt: der Kerkermeister, der Bierzapfer Pompejus als Helfer des Scharfrichters Grauslich, der Mörder Bernardino und nicht zuletzt der Herzog selbst, der Regie führt, dass kein Unglück geschieht. Bernardino weigert sich einfach, sich köpfen zu lassen. Aber man braucht um 4 Uhr früh einen Kopf, den man auf Ähnlichkeit trimmen will: Haare schneiden, Bart stutzen etc. Da kommt dem Kerkermeister in den Sinn, dass heute früh Ragozyn, ein berüchtigter Pirat, starb. Der hat auch noch eine passable Ähnlichkeit mit Claudio. Der Kerkermeister geht ab und kommt nach neun Verszeilen wieder zurück. Schliesser Hier ist der Kopf, ich trag’ ihn selber hin. (IV,3)

Draußen meldet sich Isabella. Sie kommt direkt vom Rendezvous und will wissen, ob Angelo ihren Bruder Claudio schon begnadigt

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habe. Leider nein, sagt der Herzog. Von seinen Bemühungen, Claudios Kopf zu retten, respektive von dem Kasperltheater um den Kopf von Ragozyn, sagt er nichts. Im Gegenteil, er bestätigt Claudios Tod. Herzog Er hat ihn, Tochter, von der Welt erlöst; Das abgeschlagne Haupt ward ihm gesandt. […] Zeigt eure Weisheit, Jungfrau, durch Ergebung! (IV,3)

Dieses Spiel ist grausam und zynisch. Isabella weint heftig. Obwohl sie kurz aufbegehrt, unterwirft sie sich schnell dem „Masterplan“ des Herzogs. Der sieht seine Rückkehr für morgen vor, einen Empfang am Stadttor, eine Rück-Übergabe des Statthalter-Amts, wobei Angelo in aller Öffentlichkeit von ihr zur Rechtfertigung für den Tod des Bruders gezogen werden soll. Das ist der Plan, und Shakespeare Dramaturgie zoomt schnell vom Gefängnis in Angelos Haus. In der kurzen Einblende zeigt sich Angelo von des Herzogs Nachrichten einigermaßen überrascht und verwundert. Dann fokussiert er sich auf sich selbst bezüglich der vergangenen Nacht. Ob sie wie die zwischen Helena und Bertram schön war – wunderzärtlich! –, erfahren wir nicht, wohl aber teilt uns sein Inneres mit, dass ihn ein ziemlich schlechtes Gewissen plagt. Angelo Die That nimmt allen Halt mir, stumpft den Sinn Und lähmt mein Handeln. – Ein entehrtes Mädchen! – Und durch den höchsten Richter, der die Strafe Geschärft! Wenn zarte Scheu ihr nicht verwehrte, Den jungfräulichen Raub bekannt zu machen, Wie könnte sie mich zeichnen! Doch Vernunft Zwingt sie zum Schweigen. (IV,4)

Angelo vertraut auf seine Würde und Hoheit, aber auch der Kopf des Claudio spukt in seinen Gedanken herum. Da der Herzog nicht in zweifacher Gestalt auftreten kann, hat er sich für seine Rolle als Pater den Bruder Peter als eine Art Double bestellt. Er selber präsentiert sich zu Beginn des fünften Akts, der nur aus einer Szene besteht, bei der Ankunft am Stadttor in herzoglicher Tracht. Öffentliche Begrüßungsworte und Lob und Dank für geleistete Arbeit werden abgespult. Dann wird Bruder Peter mit Isabella vorstellig. Und es geschieht das, was zu befürchten war. Der von Isabella erhobene Vorwurf des sexuellen Missbrauchs und die

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Ermordung ihres Bruders wird von Angelo schon vorab als „seltsames“ Gerede zurückgewiesen. Isabella Höchst seltsam, doch höchst wahrhaft werd’ ich reden. Daß Angelo meineidig ist; wie seltsam! Daß Angelo ein Mörder ist; wie seltsam! Daß Angelo ein dieb’scher Ehebrecher, Ein Heuchler und ein Jungfraunschänder ist: Ist das nicht seltsam? Seltsam? (V,1)

Nicht nur zehnfach seltsam findet der Herzog die Anschuldigungen, sondern glatten Wahnsinn. Isabella beginnt den Wahnsinn von vorne aufzurollen und als Zeuge nennt sie ausgerechnet den liederlichen Lucio. Der Lästerer kommt beim Herzog nicht gut an und er heißt ihn schweigen. Also erzählt Isabella die uns bekannte Geschichte weiter. Isabella Nur für das Opfer meiner Keuschheit selbst An seine lüstern ungezähmte Gier, Sprach er den Bruder frei. Nach langem Kampf Siegt schwesterliches Mitleid über Ehre, Und ich ergab mich ihm; doch nächsten Morgens, Im Übermaß der Bosheit, fordert er Des armen Bruders Haupt. (V,1)

Das ist eine Geschichte gespeist aus purem Hass; bringt sie für diese Verleumdung ins Gefängnis. Gibt es da einen Dunkelmann, der hinter der Sache steckt? Ja, der Pater Ludwig, schreit Isabella als sie schon abgeführt wird. Den Mönch sofort herholen, befiehlt der Herzog. Wenn das alles stimmt, dann würde Angelo vergleichsweise wie Claudio gehandelt haben und ebenso beurteilt werden müssen. Und immer deutlicher lugt hinter des Herzogs Reden die Maxime seines Masterplans auf: Herzog Sündigt’ er also, Dann wägt’ er deinen Bruder nach sich selbst (V,1)

In einem Tanz auf hohem Seil versucht er, die Szene zum Tribunal umzuwandeln, in dem Angelo selbst den Richter über sich selbst zu spielen hat. Die Bibelreminiszenz des Titels „Maß für Maß“ / „Measure for Measure“ (Matthäus 7,1-2) bestimmt immer mehr seine Inszenierung.

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Herzog Reicht Sessel her! Kommt, Vetter Angelo; Ich will nur Hörer seyn, sprecht ihr als Richter In eurer eignen Sache. – Ist dieß die Zeugin? (V,1)

Die verschleierte Mariane wird von Bruder Peter herbeigeführt. Sie weigert sich, ihren Schleier abzunehmen; nur auf Befehl ihres Gemahls werde sie das tun. In einem kuriosen Frage- und AntwortSpiel über ihre Personen- bzw. Familienstandsdaten – vermählt? Nein! / Mädchen? / Nein! / Witwe? Auch nein! – kommt der allwissende Herzog langsam zum Kern der Sache. Isabella hat ja gelogen, denn nicht sie, sondern Mariane hat mit Angelo geschlafen. Mariane Sie, die ihn anklagt um verletzte Zucht, Dadurch zugleich verklagt sie meinen Gatten, Und zwar erwähnt sie solcher Zeit, mein Fürst, Wo ich bezeug’, ich selbst umarmt’ ihn damals In Lieb’ und Zärtlichkeit. (V,1)

Shakespeare macht es seinen Protagonisten ziemlich schwer, schlau zu werden. Wir sind mit dem Herzog auf der guten Seite und wissen Bescheid. Die Verwirrung ist groß. Angelo Meint sie wen sonst, als mich? Mariane Nicht daß ich wüßte! Herzog Nicht? Ihr sagtet, euer Gatte? – Mariane Jawohl, mein Fürst: und das ist Angelo, Der glaubt, daß er mich niemals hat berührt, Und wähnt, daß Isabella ihn umarmt. Angelo Das geht zu weit! Laß dein Gesicht uns sehn! Mariane Mein Gatte forderts, dann entschleir’ ich mich. (sie nimmt den Schleier ab) Sieh dieß Gesicht, grausamer Angelo, Dem einst du schwurst, es sei des Anblicks werth: Sieh diese Hand, die durch geweihten Bund Sich fest in deine fügte: sieh mich selbst,

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Die dich von Isabellen losgekauft, Und in dem Gartenhause dir begegnet, Als wär’ es jene. (V,1)

Zugegeben, ich kenne die Frau, aber das ist fünf Jahre her. Weder habe ich sie seither gesprochen noch sonst irgend Etwas mit ihr gehabt. Das ist doch absurd, bei meiner Ehre. – Das gilt auch meinerseits, das mit der Ehre, sagt Mariane. Mariane Ich bin sein anverlobtes Weib, so fest Ein Treugelübde bindet; ja, mein Fürst, Erst Dienstag Nacht in seinem Gartenhaus Erkannt er mich als Weib. (V,1)

Das wird mir aber jetzt zu bunt, empört sich Angelo. Die beiden Frauen lügen für wen auch immer. Der Herzog überlässt ihm gerne die Verhandlungsführung. Wir müssen ohnehin abwarten, bis der Kollege vom Pater Peter kommt. Man hatte schon nach ihm geschickt, aber der Pater Ludwig hat es scheinbar nicht eilig. Der Kerkermeister weiß, wo er steckt. Der kann ihn doch holen, sagt der Herzog. Im Übrigen muss ich auch schnell mal weg. Sagt’s und geht und überlässt die Szene kurz sich selbst. Der Pater Ludwig muss ein schlimmer Gesell sein, meint Lucio, der die Wartepause für einen Auftritt nutzt. Escalus, die rechte Hand von Angelo, bittet, Isabella wieder zu holen. Vielleicht kann er nach seiner Methode etwas Aufklärung schaffen. Schon wird sie wieder hereingeführt und siehe da, auch der Kerkermeister kommt mit dem Mönch Ludwig. Natürlich erkennt keiner den Herzog in dieser Verkleidung. Escalus legt sich für den Kollegen Angelo ins Zeug. Herr Ludwig, frägt er so unvermittelt wie undiplomatisch. Escalus … Habt ihr diese Weiber angestiftet, Lord Angelo zu verläumden? Sie haben bekannt, daß ihr es thatet. (V,1)

Ich doch nicht, sagt der Mönch. Im Übrigen werde ich nur dem Herzog antworten. – Wir sind seine Stellvertreter, wirft sich Escalus für Angelo ins Zeug. Das ist ziemlich schlimm für die Mädchen, denn dann fordern sie vom Fuchse hier ein Lamm zurück. Der Herzog tat Unrecht, als er den Schuft zum Richter in eigener Sache machte. – Das ist Lästerung, hinweg mit ihm, auf die Folter, damit er seinen Plan für dieses ganze Komplott ausspuckt. Jetzt weist der

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Mönch auch Escalus zurück und beginnt nebst Angelo auch über Wien zu lästern. Es wird immer tumultartiger. Staatsverleumdung, schreit Escalus. Angelo lässt sich von Lucio bestätigen, dass der Mönch schon immer aufrührerische Worte im Munde führte. Jetzt bekommen sich der Mönch und der Vorstadtstenz in die Haare. Gevatter Kahlkopf, nennt er den Mönch, ein Signal, dass die Maskenbildner zwischen den kurzen Auf- und Abgängen des Herzogs ziemlich viel zu tun haben. Die Vorwürfe fliegen hin und her. Der Mönch beteuert, dass er den Herzog so sehr liebe wie sich selbst. Jetzt schreit auch noch Angelo dazwischen: Angelo Hört doch, wie der Schurke sich jetzt abbrechen möchte, nachdem er verrätherische Lästerungen ausgestoßen! – (V,1)

Legt ihn ins Eisen, schreit Escalus, und die zwei leichtfertigen Dirnen am besten dazu; der Kerkermeister versucht den Mönch zu packen. Halt, befiehlt der Mönch, und Angelo schreit nach Lucio: Helft ihm! Er widersetzt sich! – Endlich darf Lucio auch einmal ran. Lucio Wartet nur, wartet nur, wartet nur; pfui doch! Was, ihr kahlköpfiger, lügnerischer Schuft, ihr müßt euch den Kopf so vermummen? Müßt ihr? Zeigt einmal euer Schelmengesicht, und an den Galgen mit euch! Zeigt euer Strauchdiebsgesicht, und laßt euch frisch hängen! Will die Kapuze nicht herunter? (reißt ihm die Mönchskappe ab und erkennt den Herzog) (V,1)

Ist das nun eine Klamotte, Farce, Komödie, Tragikomödie, Tragödie oder gar Epiphanie??? – Wie inszeniert man das? Trifft die leicht theatralische Nacherzählung einer ungeheuren Missbrauchsgeschichte den Geist dieses Stücks, das jetzt eigentlich zu Ende ist und dessen Titel keinerlei Augenzwinkern kennt. Im Matthäus-Evangelium steht: Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Denn mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden. (7.1–2)

Jetzt ist der Herzog, der bisher immer nur spielen wollte, als Richter über dem Richter auf der Szene gefordert. Er muss, was ordentlich aus dem Ruder gelaufen ist, wieder stabilisieren, er muss eine schlimme Ausgangslage, die er selber herbeigeführt hat, wieder glücklich auflösen. Nicht weil die Komödientheorie das fordert,

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sondern weil ein happy end eine Rechtfertigung Gottes hinsichtlich des von ihm in der Welt zugelassenen Übels und Bösen sein muss. Dieses Böse – und es wurde einiges davon in Wien zugelassen – muss versöhnt werden, in Einklang gebracht werden mit dem Glauben an die Allmacht, Weisheit und Güte Gottes. Und wenn dieser Gott nicht mehr sich selbst offenbarend erscheinen will, kann oder darf, dann ist es stellvertretend der Fürst, der Herzog oder die rechtmäßige Obrigkeit, die für die Lösung der Widersprüche zuständig ist. Es ist daher nur folgerichtig, dass Angelo sich selbst richtend vor dem Herzog auf die Knie geht und sein Urteil spricht. Angelo O mein furchtbarer Fürst! Ich wäre schuld’ger wohl als meine Schuld, Dächt’ ich, ich könnt’ euch irgend noch entschlüpfen, Da ich erkannt, wie ihr mein Thun durchschaut, Dem ew’gen Richter gleich. Drum, gnäd’ger Fürst, Nicht längre Sitzung prüfe meine Schande; Statt des Verhörs nehmt mein Geständniß an; Unmittelbarer Spruch und schneller Tod Ist Alles, was ich flehe. (V,1)

Diese Beichte wollte der Herzog hören. Ohne Leugnung, ohne Entschuldigungen, Maß für Maß. Gott sei Dank, die Übel und das Böse sind in Wien wie im London der Shakespearezeit und gemäß Stück eher bunt als böse, und Angelos verdammenswerte Vorsätze und Taten konnten einigermaßen ausgebremst werden. Dank der herzoglichen Regie im Hintergrund verblieb ein Hauch von Vorsehung, und um ihr wieder zu vorigem Ansehen zu verhelfen, ist der Fürst jetzt gefordert alttestamentarische Losung in neutestamentarisches Handeln umzusetzen: Maß für Maß abzuwägen, aber nicht Rache für Rache zu nehmen. Wer’s pathetisch will, nimmt die Bibelstelle: Liebet eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch fluchen; bittet für die, so euch beleidigen. (Lukas.2728). Wer es nach Theorie der Komödie will, muss die Leute verheiraten. Aber ganz so leicht macht es sich Shakespeare respektive dem Herzog damit nicht. Wunden schließen ist schwerer als Wunden aufreißen. Der Herzog bittet Marianne zu sich und frägt Angelo, ob er mit ihr verlobt war. Das bestätigt dieser schlicht und einfach. Also schickt er die beiden mit dem Bruder Peter sofort zur Vermählung

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in die Kirche. Den Kerkermeister schickt er aber hinterher. Seltsam, was davon zu halten ist? Noch seltsamer, dass er jetzt Isabella eröffnet, dass er ihren Bruder leider nicht erretten konnte. Der schnelle Hergang habe seinen Plan zerstört. Komisch, aber gar nicht lustig! Isabella nimmt es demütig und klaglos an. Fast so schnell als denkbar sind die Neuvermählten zurück. Der Herzog bittet Isabella um Marianes willen Angelos Angriff auf ihre Ehr und Tugend zu verzeihen. Das macht sie schweigend und vielleicht gestisch. Wo es aber kein Pardon gibt, ist die gedoppelte Verletzung sowohl durch den Beischlaf mit Mariana als auch des gebrochenen Schwurs betreffs Claudios Leben. Das gilt sogar nach des Angeklagten eigenem Urteil: Herzog „Ein Angelo für Claudio, Tod für Tod: Liebe für Liebe, bittern Haß für Haß, Gleiches mit Gleichem zahl’ ich, Maß für Maß.“ Drum, Angelo, da dein Vergehn am Tage, So klar, daß selbst kein Läugnen Hülfe böte, Sei nun verurteilt zu demselben Block, Wo Claudio fiel, und zwar mit gleicher Hast. Hinweg mit ihm! (V,1)

Das hat Mariane nach der Heirat nicht mehr erwartet. Sie erhebt Einspruch, fühlt sich verspottet. Die Welt ist einfach nicht einfach, und der Herzog versucht die Schwierigkeiten der Gleichung zu erläutern. Herzog Nur zur Beschützung eurer Ehre hielt ich Den Ehbund nöthig, daß kein Vorwurf je, Weil ihr die Seine war’t, eu’r Leben treffe Und hemme künft’ges Glück. All’ seine Güter, Obwohl nach dem Gesetz an uns verfallen, Sind euch als Witthum und Besitz verliehn; Kauft damit einen bessern Mann. (V,1)

Einen bessern Mann wünscht Mariane nicht. Es kommt ohne Zögern aus ihrem Munde, und Ulrich Bräker, der schon Helenas Heirat mit Bertram in „Ende gut, Alles gut“ sarkastisch kommentiert hatte, träfe es hier haarscharf: „Es gibt doch in aller Welt so kuriose Weibsbilder von so wunderlichem Geschmack und dazu so standhaft in ihrer Liebe, daß sie einen vom Galgen herabschneiden würden.“3

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Der Herzog dehnt seine Lehrstunde in Erläuterung der Gleichung Maß für Maß fast ins Unerträgliche. Das ist verlorne Müh; führt ihn zum Tod. Mariane wirft sich zu des Herzogs Füßen und bittet Isabella mit ihr zu knien. Und tatsächlich fällt die tief Gekränkte neben der Herzensfreundin nieder und bittet für Angelos Leben. Isabella Huldreicher Fürst, Ich fleh’ euch, schaut auf diesen Mann der Schuld, Als lebte Claudio noch. Fast muß ich denken, Aufricht’ge Pflicht hat all’ sein Thun regiert, Bis er mich sah. Wenn es sich so verhält, Laßt ihn nicht sterben! (V,1)

Isabella wird augenblicksweise die Verführungskraft ihrer keuschen Schönheit klar, aber der Herzog richtet und richtet weiter. Jetzt stellt er den Kerkermeister zur Rede, aber mit dem ist das Spiel abgekartet. Er wird nach dem überlebenden Bernardino geschickt, kommt aber gleich mit drei Personen zurück. Der Mörder wird begnadigt und dem Pater Peter zur Besserung übergeben. Neben dem Mörder steht ein ratloses Mädchen, die schwangere und zitternde Julia, und ein verhüllter Mann. „Wer ist der Eingehüllte?“ Das ist ein Gefangener, den ich neben Bernardino gerettet habe, sagt der Kerkermeister. Er sieht dem Claudio so ähnlich, als wär’s dieser selbst. Nimmt Claudio die Verhüllung ab. Herzog (zu Isabella) Wenn er ihm ähnlich sieht, – um seinethalb Sei ihm verziehn; und eurer Anmuth halb Gebt mir die Hand und sagt, ihr seid die Meine: Er ist mein Bruder dann. Doch dieß für künftig. Lord Angelo sieht also, daß er lebt; Mir scheint, sein Aug’ erglänzt in neuer Hoffnung. (V,1)

Eine kürzere Brautwerbung ist kaum denkbar. Was noch kommt, ist eins, aber Beiwerk, was nicht kommt ist Hauptsache, die verstört. Das Beiwerk betreffend ist zu sagen, dass der lockere Lucio seine Metze samt Kind zudiktiert bekommt. Der jammert darüber eher laut, aber bei den anderen verordneten Ehepartnern vernimmt man keinen Laut, schon gar keine Freudenschreie: weder von Mariane und Angelo, noch von Julia und Claudio. Die Verheiratung wirkt wie Verurteilung zu Gefängnis und Todesstrafe. Keine und keiner bekommt das Wort im Finale dieser absonderlichen Komö-

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die, und ob Isabella überhaupt „Ja“ sagt auf den schneidig und jetzt kurz wiederholten Heiratsantrag des Herzogs, bleibt in der Schwebe. Herzog Claudio, die ihr gekränkt, bringt sie zu Ehren; Glück euch, Mariane! Liebt sie, Angelo, Ich war ihr Beicht’ger, ihre Tugend kenn’ ich. […] Theure Isabella, Noch hab’ ich eine Bitt’, auch euch zum Besten: Und wollt ihr freundliches Gehör mir leihn, So wird das Meine eu’r, das Eure mein. (V,1)

Auf diese Ehen darf man Wetten abschließen. Da sich Shakespeare nie hinter die Kulissen seiner happy ends blicken lässt, ist eine Empfehlung auf hohe Wett-Quoten oder niedrige -Quoten gleichermaßen unangebracht. Da, wo er uns Blicke gestattet, herrscht von vorne herein Klarheit auf den Ausgang. Es sind Tragödien wie Hamlet, Macbeth oder Othello und Familiendramen im Historienformat. Fazit: Mit langem didaktischem Zeigefinger hat der Herzog die Titelformel ins Gegenteil verwandelt und in hoher Ironie harte Richtersprüche zu Ehen gemildert, für die das Prinzip Hoffnung gelten mag. Puritanischer Tugendrigorismus und juristische Schärfe als ein angemessenes Mittel zur Disziplinierung der Gesellschaft und Sexualität wird in vielfachen Wendungen und Windungen des Stücks in Frage gestellt. Dennoch stand ein Menschenalter später eine Zukunft vor der Tür, in der unter Oliver Cromwell Unzucht, Hurerei, Ehebruch und Inzest wieder zu Kapitalverbrechen erklärt wurden. In der Theokratie des siegreichen Puritanismus wurden die Theater nicht durch die Pest geschlossen, sondern durch die Nachkommen von Angelo, die die Gerichtshäuser besetzten. Maß für Maß galt ironiefrei wieder als die oberste Norm der Staatskunst. Shakespeares Stück „Maß für Maß“ führte noch bis ins 20. Jahrhundert ein Schattendasein. deutsche Übersetzung: Wolf Graf Baudissin 1) [Charles Heath] The Shakspeare Gallery. Containing the principal female characters … 1836/1837 2) Shakspeares Maedchen und Frauen. Mit Erlaeuterungen von H. Heine. Paris: H. Delloye, Leipzig: Brockhaus, Avenarius 1839 (Auslieferung im November 1838) 3) Ulrich Bräker, S. 31

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Othello, der Mohr von Venedig (1603 / 1604)

designed by John Hayter and engraved by H. Robinson

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Wie die Geschichte von Prinz „Hamlet“, der jedem wenigstens dem Namen nach bekannt ist, ausgeht, das wissen Theaterabstinente eher nicht. Wie die Geschichte „Othellos“, des „Mohren von Venedig“ – so der Untertitel der Tragödie von Shakespeares Stück in der ersten Druckausgabe von 1622 –, ausgeht, das wissen vermutlich sehr viele Menschen, auch solche, die nie ein Theater von innen gesehen haben. Er erstickt, erwürgt oder erdrosselt sie. Sie, das wissen wahrscheinlich viele schon wieder nicht, sie heißt Desdemona, und beide, die Schöne und der Schwarze, gehören zu den klassischen tragischen Liebespaaren der Weltliteratur. Ihre Beziehung Ehe zu nennen, scheint unangebracht, weil sie kaum zwei Tage hält, bis sie in einer Katastrophe endet. Anders als bei Hamlet und Ophelia lieben sich die beiden aber wirklich, und nachweislich sollen sie sich in Whitehall am 1. November 1604 erstmals auf der Bühne vorgestellt haben. Geschenkt zuallererst die Diskussion, ob der Mohr ein Maure oder auch ein Berber ist. Die Rassismen, die dem Bösewicht vom Fache, dem hinterhältigen Jago und dem genasführten Rodrigo sowie dem geprellten Vater von Desdemona, dem Herrn Senator Brabantio, locker von der Zunge gehen, differenzieren diesbezüglich nicht wirklich. Nicht jeder kleine Beitrag für ein Programmheft oder eine Aufführungsankündigung muss mit dieser Frage beginnen. Eine wirkliche Frage brennt aber auf der Zunge, und die Antwort darauf scheint von einigem Belang. „Warum entführt Shakespeares Othello seine Geliebte Desdemona?“ – Und woher weiß Jago, dass dies gerade eben passiert ist, als er in Szene eins mit Rodrigo auf nächtlicher Straße vor dem Hause Brabantios auf und ab spaziert? Schon wird vor dem Hause des Vaters Radau gemacht. Die Szene erinnert an die Entführung der Tochter des Juden Shylock, wenn Jago und Rodrigo im nächtlichen Venedig schreien. Rodrigo Halloh, Brabantio! Signor Brabantio, ho! –

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Jago Erwacht; halloh! Brabantio! Diebe! Diebe! – Nehmt euer Haus in Acht, eu’r Kind, eu’r Geld! – He, Diebe! Diebe! – (I,1)

Zunächst will Brabantio die Hiobsbotschaft nicht recht glauben – immerhin ist Rodrigo ein von ihm zurückgewiesener Bewerber Desdemonas –, aber nachdem er im nächtlichen Hause nachgeschaut hat, muss er einsehen, dass die Schreckensnachricht stimmt. Sie ist weg! Leute und Fackeln werden aufgeboten, eine Suche zu starten, und auch der „verhasste“ Rodrigo ist plötzlich willkommen bei dem nächtlichen Suchtrupp. Eigentlich vermuten wir den schnell vermählten Othello – Rodrigo hat Brabantio eine Vermählung bestätigt – im Bett bei seiner entführten jungen Frau, aber er spaziert mit Jago auf der Straße und lässt sich über des Schwiegervaters Wut unterrichten. Da kommt sein Leutnant Cassio mit Befehl des Dogen, sich sofort und blitzschnell in dessen Palast zu begeben. Es sei etwas mit Zypern am Köcheln. Genau jetzt platzt Brabantio mit seinem Suchtrupp auf die Szene, und Beschimpfungen und gezogene Schwerter sind eins. Othello tritt energisch vor seinen Schwiegervater und bittet ihn zum mitternächtlichen Treffen in den Dogenpalast. Da könne man ja über beides reden: übers Geschäftliche und übers Private. Alle eilen in den Dogenpalast. Das Zypernproblem wird schnell vorgestellt. Die türkische Flotte segelt Richtung Insel, und schon sind Schwiegervater und -sohn in der Ratsversammlung angekommen. Der Doge überfällt Othello mit kurzem Befehl. Herzog Tapfrer Othello, ihr müßt gleich ins Feld Wider den allgemeinen Feind, den Türken. – (I,3)

Gleich heißt schnell, also sofort. Erst jetzt sieht der Doge den Kollegen Senator und heißt ihn willkommen. Der jammert wegen seiner Tochter, und der Doge glaubt sie überraschend gestorben. Nein, viel schlimmer, sie ist beschimpft, entführt und verderbt durch Hexenkünste. Der Doge will sich der Sache des Senators annehmen, als wäre es seine eigene. Allgemeines und großes Erstaunen, als Brabantio auf Othello deutet. Brabantio Hier dieser ists, der Mohr, den jetzt, so scheints,

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Eu’r dringendes Gebot im Dienst des Staats Hieher berief. (I,3)

Der Schwiegersohn versucht, nicht zu leugnen, sondern eine kurze und bündige Antwort zu geben. Ihre Kernaussage ist ein klares Eingeständnis der Entführung und Vermählung. Othello Daß ich dem alten Mann die Tochter nahm, Ist völlig wahr; wahr, sie ist mir vermählt. Der Thatbestand und Umfang meiner Schuld Reicht so weit, weiter nicht. (I,3)

Die Hexenkünste weist er entschieden zurück, und der Doge glaubt ihm, dem erprobten General, aufs Wort und weist des Schwiegervaters weitere Behauptungen in diesen Teufelskünsten als nicht beweiskräftig zurück. Er bittet zum Beweis Desdemona zu holen, die vor dem Vater Zeugnis geben soll. Das dauert einige Zeit – von ruhiger Hochzeitsnacht kann keine Rede sein –, und die überbrückt Othello mit einer ausführlichen Darstellung ihres Kennenlernens und ihrer beider sich entwickelnden Liebe. Schon seine Eingangsbemerkung überrascht. Othello Ihr Vater liebte mich, lud oft mich ein, Erforschte meines Lebens Lauf von Jahr Zu Jahr: die Schlachten, Stürme, Schicksalswechsel, So ich bestand. Ich ging es durch, vom Knabenalter her, Bis auf den Augenblick, wo er gefragt. (I,3)

Da fragt sich der aufmerksame Leser denn doch, warum bei so viel Geneigtheit nicht ein offenes Wort über der Tochter Hand angebracht gewesen wäre, anstatt bei Nacht und Nebel zu verschwinden. Auch die Tochter war Auge und Ohr, seinen wilden Geschichten zu lauschen und ihn dabei anzuhimmeln. Othello […] das zu hören War Desdemona eifrig stets geneigt. Oft aber rief ein Hausgeschäft sie ab; Und immer, wenn sie eilig dieß vollbracht, Gleich kam sie wieder, und mit durst’gem Ohr Verschlang sie meine Rede. Dieß bemerkend, Ersah ich einst die günst’ge Stund’ und gab Ihr Anlaß, daß sie mich recht herzlich bat,

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Die ganze Pilgerschaft ihr zu erzählen, Von der sie stückweis Einzelnes gehört, Doch nicht in strenger Folge. Ich begann, Und oftmals hatt’ ich Thränen ihr entlockt, Wenn ich ein leidvoll Abenteu’r berichtet Aus meiner Jugend. Als ich nun geendigt, Gab sie zum Lohn mir eine Welt von Seufzern: Sie schwur – in Wahrheit, seltsam! Wunderseltsam! Und rührend wars! unendlich rührend wars! – Sie wünschte, daß sie’s nicht gehört; doch wünschte sie, Der Himmel habe sie als solchen Mann Geschaffen, und sie dankte mir, und bat mich, Wenn je ein Freund von mir sie lieben sollte, Ich mög’ ihn die Geschicht’ erzählen lehren, Das würde sie gewinnen. Auf den Wink Erklärt ich mich: Sie liebte mich, weil ich Gefahr bestand; Ich liebte sie um ihres Mitleids willen: Das ist der ganze Zauber, den ich brauchte; Hier kommt das Fräulein, laßt sie dieß bezeugen! (I,3)

Wenn wir noch einen Blick auf das vorstehende Bildnis des englischen Kupferstechers werfen, so glauben wir durchaus in den großen Augen der Desdemona die Bewunderung für Othellos abenteuerliches Leben und für ihre Liebe lesen zu können. Selbst der Doge ist von Othellos Rede überzeugt und räumt ein, dass unter solchen Umständen selbst seine Tochter hingeschmolzen wäre. Er rät Brabantio, die verfahrene Sache von der besten Seite zu nehmen. Es ist weit nach Mitternacht, und Desdemona hat endlich ihren Auftritt und der rundet das Bild ab, indem sie doppelte Rechenschaft gibt. Desdemona Mein edler Vater, Ich sehe hier zwiefach getheilte Pflicht; Euch muß ich Leben danken und Erziehung, Und Leben und Erziehung lehren mich Euch ehren; ihr seid Herrscher meiner Pflicht, Wie ich euch Tochter. Doch hier steht mein Gatte, Und so viel Pflicht, als meine Mutter euch Gezeigt, da sie euch vorzog ihrem Vater, So viel muß ich auch meinem Gatten widmen, Dem Mohren, meinem Herrn. (I,3)

Brabantio gibt sich geschlagen aber mit hörbarem Zähneknirschen.

Desdemona • 545

Brabantio Tritt näher, Mohr! – Hier geb’ ich dir von ganzem Herzen hin, Was, hätt’st du’s nicht, ich dir von ganzem Herzen Verweigerte. – (I,3)

War, so die Frage, deshalb die Entführung nötig oder ist das Zähneknirschen eine fatale Folge der Entführung. Hätte sich das nicht entschieden besser lösen lassen? Ohne diesen fragwürdigen Theatercoup. Und tatsächlich, Shakespeares Vorlage für sein Stück kennt keine Entführung. In der Erzählung „Disdemona und der Mohr“ von Giovan Battista Giraldi Cinthio liest sich die Geschichte, die Shakespeare im ersten Akt zu einer Art Exposition oder zu einem Prolog verdichtet, viel gemächlicher. Sie beginnt fast wie ein Märchen. „Einst lebte in Venedig ein tapferer Mohr [… und] eine tugendhafte Dame von außerordentlicher Schönheit namens Disdemona. […] Ihr Verhältnis entwickelte sich so glücklich, dass sie das Band der Ehe knüpften, obgleich die Eltern der Dame alles daransetzten, sie zu einem anderen Gatten zu überreden. Solange sie in Venedig blieben, lebten sie in höchstem Frieden und Eintracht miteinander, und nichts fiel in Wort und Tat zwischen ihnen vor, was nicht die innigste Liebe kundgab.“1

Dass Shakespeare mit der Zeit in seinen Stücken einen großzügigen Umgang pflegte, ist keine Neuigkeit. Aber die Verdichtung der Zeit für die Zwecke seiner dramaturgischen Vorstellungen und Notwendigkeiten wird hier doch ein wenig problematisch und vielleicht überstrapaziert. Was die Erzählung mit Wendungen wie „solange“, „unterdessen“, „und nicht lange darauf “, „nach einigen Tagen“, „eines Tages“ oder „seit einigen Tagen“, „am folgenden Tag“ in eine undramatisch gemächliche Zeitordnung stellt, erzeugt in den szenischen Schnitten einer Nacht eine Hektik, die das beliebte Theatermittel der „Entführung“ zu Tode reitet. Und das geht so weiter im ersten Akt von Othello, denn in mitternächtlicher Stunde wird nicht nur „entführt“, geheiratet und in der Signoria darüber verhandelt, während der Zypernkonflikt schon überkocht, sondern auch noch darüber befunden, wo Desdemona standesgemäß bleiben soll, wenn Othello auf Kriegszug geht. Beim Vater, da sind sich Schwiegervater, Schwiegersohn und Tochter einig, nie

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und nimmer. Was sich in der erzählenden Vorlage über Tage hinzieht, geschieht wiederum in kurzen und knappen Entscheidungen. Herzog Was wünscht ihr, Desdemona? […] Desdemona

Drum laßt mich mit ihm ziehn! […]

Herzog Es sei, wie ihrs mitsammen festgesetzt: Sie folg’ euch, oder bleibe; das Geschäft Heischt dringend Eil’ – zu Nacht noch müßt ihr fort. (I,3)

Der Vater schickt noch eine kleine gemeine Warnung beziehungsweise einen fiesen kleinen Fluch hinterher. Brabantio Sei wachsam, Mohr! Hast Augen du zu sehn, Den Vater trog sie, so mags dir geschehn! (I,3)

Das sitzt, aber Luft ist da keine mehr, und trotzdem müssen Rodrigo und Jago nach Abgang aller Beteiligten und dem glücklich vermählten Paar noch ihre Intriganten-Geschäfte absprechen, und Jago darf laut nachdenkend uns über seine üblen Absichten in Kenntnis setzen. Ab jetzt spielt er den hochbegabten, aber hasserfüllten Regisseur für ein Arrangement, in dem das Personal wie willenlose Marionetten nach seinen Launen tanzt. Das Prologspiel ist zu Ende, und mit dem Beginn des 2. Akts sind wir in der Hauptstadt Zyperns. Für die nächsten vier Akte hetzt uns der Dramatiker entgegen der immanenten Erzählzeit seiner Vorlage erneut durch das Stück, dass uns der Atem vergeht. Nach gut ein und ein halb Tagen eher symbolischer als realer Zeit sehen wir den völlig von Eifersucht zerrütteten Feldherrn in den Trümmern seines Lebens, seiner Leidenschaft und seiner Liebe vor dem Bett in Desdemonas Schafzimmer stehen. Er küsst sie, und nach kurzer und grausamer Auseinandersetzung erstickt er sie. Das ist ihrer beider Hochzeitsnacht, in der die Ehe auf eine schreckliche Weise zum ersten Mal vollzogen wird. Wie kommt das, wie geht so etwas, wenn man nicht an den Teufel oder das absolut Böse glauben will? Es beginnt relativ banal wie vermutlich viel Böses in der Welt. Der Fähnrich Jago fühlt sich zurückgesetzt; er war dem Feldherrn bisher bedingungslos ergeben, aber die Stelle des höherrangigen Leutnants, die der junge und

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recht hübsche aber praktisch unerfahrene Florentiner Cassio bekommen hat, wäre ihm zugestanden. Jago Ich kenne meinen Preis – das kommt mir zu. (I,1)

Und kurz und gut, wenn ich ihm auch weiterhin diene, dann haben sich die Prämissen verändert. Jago Wenn ich ihm diene, dien’ ich nur mir selbst; Der Himmel weiß es! nicht aus Lieb’ und Pflicht, Nein, nur zum Schein für meinen eignen Zweck. (I,1)

Ab jetzt bin ich nicht mehr, der ich war, sondern jetzt gilt ein neues Gebot: Jago

Ich bin nicht, was ich bin! – (I,1)

Sein Hass bleibt erstaunlich selbstlos, aber er wird zusätzlich rassistisch übermalt, und ein scheinbar latenter Hang zur Intrige bekommt nun freien Lauf. Er ist nicht nur schlau, sondern er weiß auch geschickt Spuren zu legen und Verdacht zu schüren und des Feldherrn Fall ist letztes Ziel. Desdemona scheint zunächst eher im Abseits zu stehen, aber die unsinnige Entführung passt gut ins Konzept des sich entwickelnden Schurken, der plötzlich den Spötter und Zyniker zu spielen beginnt. Allmählich tritt auch Desdemona in die Konzepte zum Schaden des Feldherrn. Eine Doppelstrategie entsteht in seinem Kopf. Er will das Amt Cassios ergattern mit Hilfe eines Verdachts beim Feldherrn bezüglich der Treue seiner Frau. Diesen Floh wird er ihm ins Ohr setzen. Der Verlauf der Ereignisse in Zypern gestaltet sich günstig. Man landet in verschiedenen Schiffen an: zuerst kommt Desdemona, Jago und dessen Frau Emilia nebst Rodrigo, dem abgewiesenen Liebhaber Desdemonas. Wir hören platten Smalltalk und leicht peinliche Versuche, ein wenig zu flirten und in Reimen zu parlieren. Der Testlauf ist schnell zu Ende, denn jetzt entsteigt auch Othello seinem Schiff und begrüßt seine Frau einerseits soldatisch (Kriegerin) und auch in emphatischen Worten als seine Frau und Geliebte (Liebestod). Wie lange die Reise gedauert hat, wissen wir nicht, aber Othello fasst die wechselseitige Freude des Wiedersehens in hochgemute Worte.

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Othello Amen, ihr holden Mächte! – Nicht auszusprechen weiß ich diese Wonne, Hier stockt es; oh, es ist zu viel der Freude: (er umarmt sie) (II,1)

Dies zu sehen und zu hören, dass der Krieg schon aus ist, weil ein gewaltiger Sturm die Flotte der Türken zerstört hat, hebt die allgemeine Stimmung. Der Krieg und die Aufgabe des Feldherrn sind zu Ende, bevor Othello überhaupt antreten musste. Er lässt durch einen Herold verkünden, dass man heute Nacht die Vernichtung der türkischen Flotte mit Tanz und Freudenfeuer, Spiel und Lustbarkeiten feiern dürfe, und außerdem soll gleichzeitig im Palast seine Hochzeit mit Desdemona nachgefeiert werden. Herold […] Alle Säle des Pallastes sind geöffnet, und volle Freiheit zu Schmaus und Fest von jetzt fünf Uhr an, bis die elfte Stunde geschlagen. Der Himmel segne die Insel Cypern und unsern edlen General Othello! (II,2)

Das gibt Zeit und Gelegenheit für Intrigen und Einflüsterungen eher privater Natur. Der Fall Cassio ist für Jago schnell erledigt. Er bringt ihn beim Feldherrn leicht zu Fall. Bei dem abendlichen Freudenfest macht er den Abstinenzler ziemlich schnell betrunken, schwärzt ihn dann beim Statthalter Montano als Alkoholiker an und verwickelt Cassio geschickt in eine Rauferei mit Rodrigo. Der Statthalter will Einhalt gebieten, wird aber vom betrunkenen Cassio schwer verletzt, und schon eilt der Feldherr von der Hochzeitstafel oder gar aus dem Bett als Streitschlichter herbei. Keiner merkt, dass, wie auch bei allem Künftigen, Jago der Strippenzieher ist. Othello kann nicht dulden, was sein Leutnant im Suff angestellt hat, und er trifft eine klare Entscheidung. Othello – Cassio, ich liebe dich; Allein mein Lieutnant bist du länger nicht. – (II,3)

Jetzt kommt auch noch Desdemona; sie war schon im Bett. Othello beruhigt sie. Othello ’S ist Alles gut schon, Liebchen – komm zu Bett. (II,3)

Noch eine kurze Anordnung, den verletzten Montano zu versorgen

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und Befehl an Jago, für Ruhe in der Stadt zu sorgen, und ab geht es ins Bett. Othello Komm, Desdemona: oft im Kriegerleben Wird süßer Schlaf der Störung Preis gegeben. (II,3)

Wie Othellos Worte gemeint sein könnten, darüber lässt uns der Dichter diskret im Unklaren. Klar ist nur, dass es Jago nun schon zweimal gelungen ist, Desdemonas und Othellos „süßen Schlaf “ zu stören. Jago nimmt sich tröstend des entlassenen Leutnants Cassio an und empfiehlt ihm, sich an Desdemona zu wenden. Die Frau des Generals sei jetzt eben unser aller General; aber sie sei freundlich und hilfreich und sie wird die fatale Sache schon wieder einrenken. Cassio bedankt sich und geht ins Bett, um wieder nüchtern zu werden. Wieder bleibt Jago auf der Szene und denkt laut nach. Sein Höllenplan ist fertig und er geht so. Jago Derweil der gute Tropf In Desdemona dringt, ihm beizustehn, Und sie mit Nachdruck sein Gesuch begünstigt, Träuf ’ ich den Gifttrank in Othello’s Ohr: Daß sie zu eigner Lust zurück ihn ruft; Und um so mehr sie strebt, ihm wohlzuthun, Vernichtet sie beim Mohren das Vertrau’n. So wandl’ ich ihre Tugend selbst zum Laster, Und strick’ ein Netz aus ihrer eignen Güte, Das Alle soll umgarnen. – (II,3)

Am nächsten Tag wird Jagos Frau Emilia, ohne von den schnöden Absichten ihres Mannes eine Ahnung zu haben, als Fürsprecherin für Cassio bei Desdemona geworben. Man sieht die drei im Schlossgarten, und Desdemona verspricht hoch und heilig sich für die Rehabilitation des Leutnants beim Chef einzusetzen. Ihr ist nicht im mindesten klar, auf was sie sich mit ihrem Versprechen da einlässt. Othello und Jago kommen von einer Inspektion der Außenwerke der Stadt zurück, und als Cassio Othello sieht, verabschiedet er sich hastig. Aber natürlich ist schnell klar, wer da das Weite suchte, und Desdemona, nicht faul, verwendet sich sofort für den Leutnant. Jetzt nicht, heut Abend nicht, und morgen Mittag auch nicht, wimmelt er die Bittende ab. Da bin ich schon besetzt. Aber ich will dir nichts versagen. Damit ist das Thema fürs erste vom Tisch, und Desde-

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mona geht mit Emilia ab. Othello wirkt ein wenig zerknirscht und äußert für sich etwas dunkel und geheimnisvoll. Othello Holdselig Ding! Verdammniß meiner Seele, Lieb’ ich dich nicht! und wenn ich dich nicht liebe, Dann kehrt das Chaos wieder. (III,3)

Ob Jago den General verstanden hat oder nicht – nur akustisch und oder auch inhaltlich –, er nimmt die Gelegenheit beim Schopf und seift nach allen Regeln der Kunst Othello mit Andeutungen und Vermutungen bezüglich der Treue seiner Frau im Allgemeinen und mit Cassio im Besonderen ein. Das rhetorische Meisterstück landet genau dort, wohin Jago gar nicht kommen und worüber er partout nichts sagen wollte. Jago

Oh, bewahrt euch, Herr, vor Eifersucht, Dem grüngeaugten Scheusal, das besudelt Die Speise, die es nährt! – (III,3)

Noch widersteht ihm Othello standhaft. Othello

Nicht weckt mirs Eifersucht, Sagt man, mein Weib ist schön, gedeiht, spricht scherzend, Sie liebt Gesellschaft, singt, spielt, tanzt mit Reiz: – Wo Tugend ist, macht das noch tugendhafter – Noch schöpf ’ ich je aus meinen eignen Mängeln Die kleinste Furcht, noch Zweifel ihres Abfalls; Sie war nicht blind, und wählte mich. Nein, Jago, Eh’ ich zweifle, will ich sehn; zweifl’ ich, Beweis: Und hab’ ich den, so bleibt nichts anders übrig, Als fort auf Eins mit Lieb’ und Eifersucht. (III,3)

Gut, die Beweise will Jago liefern; ein paar Spritzer infamen Verdacht verteilt er noch. Er erinnert an den leisen Fluch des Vaters in jener Nacht vor dem Dogen. Jago Den Vater trog sie, da sie euch geehlicht – Als sie vor Euerm Blick zu beben schien, War sie in euch verliebt. (III,3)

Aber nein, verzeiht mir, wenn ich so geschwätzig bin. Ich sollte lieber nichts mehr sagen. Ab geht er, und schnell ist er noch einmal zurück und redet seine Verdächtigungen klein.

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Jago Denkt nur, ich war zu ämsig in der Furcht, (Und wirklich muß ich fürchten, daß ichs war –) Und haltet sie für treu, mein edler Feldherr! (III,3)

Die berühmt-berüchtigte Mittelszene eines Stücks, wo die Geschichten ins Kippen kommen, ist noch lange nicht vorbei. Desdemona und Emilia bitten zu Tisch, zu einem Festessen für eine Abordnung edler Zyprioten. Der feinfühligen Desdemona fällt sofort auf, dass Othello irgendwie unpässlich ist. In der Tat gibt er vor, leichte Schmerzen an der Stirne zu haben. Desdemona führt es darauf zurück, dass er wohl zu wenig Schlaf gehabt hat, und bietet ihm ihr Taschentuch zum Verbinden an. Othello Dein Schnupftuch ist zu klein. (sie läßt ihr Schnupftuch fallen) Laß nur: komm mit, ich geh’ hinein mit dir. Desdemona Es quält mich sehr, daß du dich unwohl fühlst. (Desdemona und Othello ab) (III,3)

Kleine Dinge, große Wirkung. Emilia hebt das Tuch auf. Es war ein Liebespfand Othellos, und Jago, der scheinbar einen siebten Sinn für intrigentaugliche Requisiten hat, wollte das leicht magische Stickwerk schon immer haben. Sie sollte es für ihn stehlen. Jetzt liegt es da, und weil sie eine ehrliche Haut ist, will sie es nur nachsticken und es ihrem Mann schenken. Emilia Wozu er’s will, der Himmel weiß: gleichviel, Ich füge mich in seiner Launen Spiel. (III,3)

Wer dem Teufel den kleinen Finger bietet, sieht sich schnell seiner Hand beraubt. Jago ist zur Stelle, und schon hat er das Original. Emilia geht vermutlich zum Gastmahl der Zyprier, um nach dem Rechten zu schauen. Jago spinnt sein Garn. Jago Ich will bei Cassio dieses Tuch verlieren, Da soll ers finden; Dinge, leicht wie Luft, Sind für die Eifersucht Beweis, so stark Wie Bibelsprüche. Dieß kann Wirkung thun. Der Mohr ist schon im Kampf mit meinem Gift: – (III,3)

Othello kommt voreilig vom Gastmahl. Nichts schmeckt ihm mehr.

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Jagos Redereien treiben ihn um. Er hat eine blühende Fantasie. Es wäre ihm egal, wenn das ganze Lager ihren süßen Leib gekostet hätte, sofern er es nicht wüsste. Aber jetzt, einfach so, dieser Verdacht mit Cassio, das hält er nicht mehr aus. Wenn du sie frech verleumdest, dann bring ich dich um. Othello Sehn will ich, oder mindestens Beweis, An dem kein Häkchen sei, den kleinsten Zweifel Zu hängen dran, sonst wehe deiner Seele! – (III,3)

Jetzt jammert Jago mit schamloser Berechnung. Oh, hätte er doch nicht gesprochen, keine Andeutungen gemacht. Aber wenn Othello Beweise wolle, müsse er jetzt weiterreden. Für Beweise hat er jetzt mit dem Taschentuch ein Faustpfand, also kann er noch eins drauflegen in Sachen infamer Verleumdung. Jago Ich hasse dieß Geschäft: Doch weil ich hierin schon so weit gegangen – (III,3)

… erzähle ich euch, was Cassio neulich – „lately“, „jüngst“, „unlängst“, als ich bei „Cassio übernachtet“ oder auch „bei ihm schlief “ –, im Schlaf drauflosgeredet hat. Ich konnte wegen Zahnweh nicht schlafen. Jago Im Schlafe seufzt er: süße Desdemona! – Sei achtsam, unsre Liebe halt geheim! – Und dann ergriff und drückt’ er meine Hand, Rief: süßes Kind! – und küßte mich mit Inbrunst, Als wollt’ er Küsse mit der Wurzel reißen Aus meinen Lippen, legte dann das Bein Auf meines, seufzt’ und küßte mich und rief: „Verwünschtes Loos, das dich dem Mohren gab! – Othello O gräulich! gräulich! (III,3)

Wir denken, dass die dramaturgisch bedingte Hast, den Feldherrn eigentlich im Unterbewusstsein nachrechnen lassen müsste, dass das gar nicht sein kann. Vor der Entführungsnacht wusste eigentlich niemand von dem Verhältnis der beiden Liebesleute; in der Entführungsnacht ging es spät nach Mitternacht gleich auf die Schiffe. Die Herrschaften kamen in Zypern aber auf getrennten

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Seglern an. Und in der ersten, sprich der letzten Nacht auf Zypern, war Cassio ziemlich besoffen und Jago auf Wache. Für dessen Lügen braucht es keine Wahrscheinlichkeit mehr; Othello glaubt alles, und als Beweis hat der Fähnrich das Taschentuch in der Hinterhand. Mit diesem Requisit lässt sich gut sichtbar machen, was nie passiert ist. Und schon hat er es im Munde. Scheinheilig frägt er nach dem mit Erdbeeren bunt bestickten Tuch, das er selbst in der Hosentasche hat, und behauptet, dass er heute Cassio damit den Bart sich wischen sah. Tod und Teufel und wieder fällt ein unseliges Wort: „Rache“; es folgt ihm „Hass“ und „Blut“. Das ergibt einen Auftrag Othello Laß in drei Tagen mich von dir vernehmen, Daß Cassio nicht mehr lebt! Jago Mein Freund ist todt; ihr wollt’s, es ist geschehn: – Sie aber schont! Othello Verdammt, verdammt sei sie, die bübsche Dirne! Komm, folge heimlich mir, ich will im Stillen Ein schnelles Todesmittel mir verschaffen Für diesen schönen Teufel. – Nun bist du mein Lieutnant! Jago Ich bin auf ewig euer! (sie gehn ab) (III,3)

Damit ist eine lange Szene zu Ende, und die Frage, wohin die Reise geht, kennt nur eine Antwort: in Schuld und Untergang. Othellos Absichten schreien zum Himmel. Desdemona spürt instinktiv, was das verlorene Taschentuch bedeuten könnte. Dass sie von Emilia belogen wird, kann sie nicht wissen. Aber noch hofft sie auf einen Mann, auf dessen „ehrlich Auge“ sie sich verlassen kann. Desdemona Wär’ mein edler Mohr Nicht großgesinnt und frei vom niedern Stoff Der Eifersucht, dieß könnt’ auf schlimme Meinung Ihn führen. (III,4)

Othello kommt, und man sieht ihm die Qual seiner Verstellung an. Ein kleiner doppelbödiger Dialog folgt, und Desdemona tut das in dieser Situation Unmögliche. Wieder versucht sie Othello von

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Cassios soldatischer Ergebenheit zu überzeugen. Das Stichwort „Cassio“ fährt ihm ins Herz wie ein Schwert, und sofort folgt ein Gegenangriff. Othello Mich plagt ein widerwärt’ger, böser Schnupfen, Leih mir dein Taschentuch! (III,4)

Dass das schöne Zaubertüchlein zu schade ist, um als Schnäuztuch verwendet zu werden, ist in dieser Lage kein Argument. Othellos lange Erklärungen machen klar, dass eine derartige Profanierung des magischen Gewebes so sakrilegisch wäre wie sein Verlust, den Desdemona zu verschleiern sucht. Emilia steht dabei und schweigt zu dem Wortduell – Cassio hie, Taschentüchlein her. Desdemona Ich bitt’ dich, nimm den Cassio wieder an! Othello So hole mir das Tuch: mir ahnet Schlimmes. Desdemona Sei gut; Du find’st nicht wieder solchen tücht’gen Mann. Othello Das Tuch – Desdemona Er ist ein Mann, der all’ sein Glück Von je auf deine Freundschaft hat gebaut, – Othello Das Tuch – Desdemona Fürwahr, du thust nicht recht! Othello

Hinweg! (ab) (III,4)

Das ist eine traumhafte Szene für Schauspielerin und Schauspieler, aber eine alptraumhafte Szene für die sie verkörpernden Rollen. Emilia und Desdemona stehen mit verlegenen Kommentaren neben sich, und – wir sind immer noch im Schlossgarten – wie von ungefähr kommen Jago und Cassio. Der bittet erneut um Desdemonas Hilfe, aber sie muss ihn enttäuschen. Othello ging eben in großer Aufgeregtheit und im Zorn weg. Das ist für Jago das Stichwort, um sofort zu Othello zu laufen. Die Damen räsonieren noch

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über Eifersucht, und Cassio bedankt sich noch einmal dafür, dass sich Desdemona weiterhin für ihn verwenden will. Während die Damen weitergehen, kommt Bianca, Cassios Bettfreundschaft, und klagt, dass er sich schon sieben Tage und Nächte nicht mehr hat blicken lassen. „O lästige Rechnung!“, sagt sie, und wir versuchen diesmal keine Zeitrechnung anzufangen. Seine Bitte an sie, ihm doch das Muster des Erdbeer-Taschentuchs abzuzeichnen, ist für den Zuschauer gedacht. Der soll wissen, dass das Tuch von Jago bei Cassio gelandet ist. Welche Bombe er da in Händen hat, weiß er nicht; er hat sich durch seine Bitte um eine Nachzeichnung der Erdbeeren bei Bianca aber erhebliche Eifersüchteleien eingehandelt. Jago weiß, dass das Tuch bei Cassio gelandet ist, so dass er jetzt bei Othello das später immer gerne von Dramatikern kopierte Requisit wieder als Gesprächsfaden aufnehmen kann. Er überschüttet ihn derart mit heißen Szenen, dass selbst ein Heiliger in Aufruhr geraten würde: heimliche Küsse, nackt im Bett, und das Tuch. Er hat es und, sagt Jago, er prahlt laut damit herum. Othello Was sagt’ er? Jago Daß er bei ihr, – ich weiß nicht, wie er sagte, – Othello Was? Was? – Jago

Gelegen –

Othello Bei ihr? Jago

Bei ihr, auf ihr, wie ihr wollt.

Othello Bei ihr gelegen! auf ihr! Das Tuch – diese Geständnisse – das Tuch – Eingestehn, und dann für die Mühe gehängt werden; zuerst gehängt, dann eingestehn. – Ich zittre davor! – Natur würde sich nicht in so verfinsternde Qualen verhüllen, wäre es nicht Vorbedeutung. Nicht Wahnbilder, die mich so erschüttern! – Hu! Nasen, Ohren und Lippen: ist es möglich? Eingestehn, –Tuch, – – o Teufel! – (er fällt in Ohnmacht) (IV,1)

Jago reibt sich die Hände. In diesem Augenblick schaut Cassio bei

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der Tür herein. Passt sich gut, sagt Jago; wenn der Feldherr wieder in Ordnung ist, hätte ich ein Wort mit dir zu reden. Der Feldherr ist wieder einigermaßen fit, und Jago bittet ihn beiseite auf Lauschstation zu treten. Er habe Cassio herbestellt, und er wolle ihn vor seinem Aug und Ohr zur Rede stellen. Jago Wo, wann, wie oft, wie lange schon und wie Er euer Weib geherzt und herzen wird; (IV,1)

Der Trick der Szene ist, dass Jago vertraulich leise und für Othello teils unhörbar nach Cassios Geliebter Bianca nachfrägt, der Einfaltspinsel aber immer laute Antwort gibt und Othello aus seinem Versteck beiseite seinen Kommentar einwirft. Eigentlich ist das eine klassische Komödiennummer. Othello (beiseit) Seht nur, wie er schon lacht! – Jago Nie hab’ ich so verliebt ein Weib gesehn. Cassio Das gute Närrchen! Ja, sie liebt mich wirklich. Othello (beiseit) Jetzt leugnet er’s nur schwach und lacht’s hinweg! – Jago Hör’ einmal, Cassio, – Othello (beiseit)

Jetzt bestürmt er ihn, Es zu gestehn; nur fort; – recht gut, recht gut! –

Jago Sie rühmt sich schon, du nimmst sie bald zur Frau; Ist das dein Ernst? Cassio

Ha, ha, ha, ha!

Othello (beiseit) Triumphirst du, Römer? triumphirst du? Cassio Ich sie zur Frau nehmen? – Was! Eine Buhlschwester? Ich bitt’ dich, habe doch etwas Mitleid mit meinem Witz; halt’ ihn doch nicht für so ganz ungesund! Ha, ha, ha! – (IV,1)

Zehn Mal bestätigt Othello aus dem szenischen off, was er hören

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kann bzw. was er verstehen will. Die Szene ist saukomisch und todtraurig. Da kommt Bianca in die Szene gelaufen. Wutentbrannt und voller Eifersucht schreit sie Cassio nieder. Bianca Mag der Teufel und seine Großmutter dir nachlaufen! – Was hast du mit dem Taschentuch vor, das du mir jetzt eben gabst? Ich war eine rechte Närrin, daß ich’s nahm. Ich soll die ganze Arbeit abzeichnen? Recht wahrscheinlich, daß du’s in deinem Zimmer sollst gefunden haben und nicht wissen, wers daließ. ‘S ist das Geschenk irgendeines Schätzchens, und ich soll die Arbeit abzeichnen? Da giebs deinem Steckenpferde: woher du’s auch hast, ich werde die Stickerei nicht abzeichnen. (IV,1)

Perfekter könnte es nicht gelaufen sein. Und zum zehnten Mal kommentiert Othello nun aus seinem Versteck Othello (beiseit) Beim Himmel, ist das nicht mein Taschentuch? (IV,1)

Bianca haut ab, und Jago schiebt Cassio hinterher. Jetzt ist für Othello alles klar und er kann wüten, wüten und wüten. Othello Wie mord’ ich ihn? Jago? […] O! daß ich neun Jahre an ihm morden könnte! – Ein hübsches Weib, ein schönes Weib, ein süßes Weib! – […] Mag sie verfaulen und verderben und zur Hölle fahren zu Nacht; denn sie soll nicht leben. […] Ich will sie in Stücke hacken. Mir Hörner aufsetzen! – […] Schaff ’ mir Gift, Jago, diese Nacht: – […] Jago Thut es nicht mit Gift; erdrosselt sie in ihrem Bett, demselben Bett, das sie entehrt hat! […] Und Cassio, – diesen übernehm’ ich selbst: Um Mitternacht erfahrt ihr mehr. (IV,1)

Eine Trompete meldet Besuch aus Venedig, den Desdemona her-

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eingeleitet. Othello soll, da ja der Krieg glücklich abgewendet, nach Venedig zurückkehren, und Cassio soll die Position auf Zypern halten. Noch einmal bringt Desdemona Cassio ins Spiel, weil der venezianische Gesandte nach ihm frägt. Ja leider sei Zwist zwischen ihm und ihrem Gatten, räumt Desdemona ein. Da lässt sich nach kurzen Hin und Her Othello zu etwas hinreißen, was aller Etikette spottet. Othello Teufel! (schlägt sie) (IV,1)

Darauf war niemand gefasst. Desdemona bleibt demütig gefasst, aber sie weint natürlich und will abgehen. Der venezianische Gesandte ist empört und fordert von Othello Entschuldigung bei seiner Frau. Das tut er nicht, murmelt Unverständliches in seinen Bart, lädt aber den Gesandten ein, mit ihm zu Nacht zu speisen. Kopfschütteln allerseits, dem Jagos Worte noch Nachdruck geben. Othello hat natürlich Emilia im Verdacht, die Kupplerin zu spielen. Sie schwört zwar Stein und Bein, dass Desdemona absolut „redlich, keusch und treu“ sei, aber für Othello ist klar: Eine Kupplerin ist eine Kupplerin und kann nicht sprechen, als sei sie keine. Emilia holt Desdemona; Othello schickt sie dann als Wache vor die Tür. Eine lange, quälende, auch selbstquälerische und Desdemona tief verletzende und beleidigende Szene folgt, die ihr völlig unverständlich ist und die in einer monströs-zynischen Abbitte endigt. Othello

Dann verzeiht mir! Ich nahm euch für die Dirne von Venedig, Die den Othello freite. – (IV,2)

Othello geht, ein Rasender, der mitleidlos eine am Boden zerstörte Frau zurücklässt. Er wollte von ihr ein Geständnis, das sie nicht geben konnte, und sie konnte keine Rechtfertigung vorbringen, weil der Name Cassio und auch sonst kein Name genannt wurde. Der edle Mohr, der schwarze Afrikaner, ist schon lange – einen Tag??? – aus den Fugen. Desdemona mutet es wie ein schlechter Traum an, was ihr widerfährt. Desdemona Ich kann nicht weinen, hab’ auch keine Antwort, Die nicht zu Wasser würde. Bitt’ dich, diese Nacht

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Leg’ auf mein Bett mein Brauttuch – denke dran Und ruf ’ mir deinen Mann. (IV,2)

Warum sie Emilia bittet, ausgerechnet nach Jago zu schicken, hat einen doppelten Grund. Aber zunächst müsste das Publikum, dem der Fiesling ja bestens vertraut ist, bei seinem Auftritt schreien wie die Kinder im Kasperletheater, wenn das böse Krokodil kommt. Tut es aber leider nicht (mehr). Diese Rolle übernimmt in etwa Emilia, und es ist eigentlich tragisch-komisch, wie sie im Beisein ihres Mannes über den Schuft spricht und ihm, ohne es zu wissen, den Pelz wäscht. Ohne mit der Wimper zu zucken, schüttelt er die Lauge von sich ab. Emilia Nein, hängt mich, wenn ein Erzverläumder nicht, Irgend ein schmeichelnder, geschäft’ger Schuft, Ein glatter Schurk’, um sich ein Amt zu fischen, Die Lügen ausgedacht; ja, darauf sterb’ ich. Jago Pfui, solchen Menschen giebts nicht; ‘s ist unmöglich. Desdemona Und giebt es einen, so vergeb’ ihm Gott! Emilia Ein Strick vergeb’ ihm! Nag’ an ihm die Hölle! Sie Metze schimpfen! – Wer besucht sie je? – Wo? Wann? Und wie? – Wo ist auch nur ein Schein? Ein recht ausbünd’ger Schurk’ belog den Mohren, Ein niederträcht’ger Schurk’, ein schäb’ger Bube. O Himmel! Möchtst du solch Gezücht entlarven, Und jeder wackren Hand ‘ne Geißel geben, Den Schurken nackt durch alle Welt zu peitschen, Vom Ost zum fernen West!

Das sitzt und trifft; jetzt noch nicht, aber am Ende des Abends doch. Noch kann Jago etwas genervt und mit gepresster Stimme zuraunen: Jago

Schrei doch nicht so! – (IV,2)

Emilia schimpft ungeniert weiter, bis Desdemona – und das ist der zweite Grund für Jagos Erscheinen – den Bock zum Gärtner macht. Desdemona Geh zu ihm, Freund; denn, bei der Sonne Licht,

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Ich weiß nicht, wie ich ihn verlor. – Hier knie’ ich: – (IV,2)

Sie zählt Gründe für Gründe auf, wie weit entfernt sie je von Betrug und Verrat gewesen sei, aber zu wissen, dass der Auftrag an den Täter geht, macht zunehmend feuchte Hände. Gott sei Dank ruft die Trompete zur Abendtafel für die venezianische Gesandtschaft. Nach dem Eklat durch Othellos Schläge ist dies ein besonders schwerer Gang für Desdemona. Die Damen sind abgegangen, Rodrigo kommt, und Jago instruiert ihn über die Ernennung Cassios und präpariert ihn, für Jago das Geschäft zu erledigen, das er Othello versprochen hat. Rodrigo Wie meinst du das – ihn bei Seite schaffen? Jago Nun, ihn für Othellos Amt untauglich machen, ihm das Gehirn ausschlagen. (IV,2)

Schon ist die Abendtafel zu Ende. Lodovico bedankt sich im Namen der Gesandtschaft und wünscht eine gute Nacht. Man geht auseinander. Othello will Lodovico noch kurz begleiten und bittet Desdemona zu Bett zu gehen. Dann soll sie Emilia für heute entlassen. Aber die Damen kommen beim Auskleiden noch ein wenig ins Gespräch, und während sich Desdemona die Haare löst, singt sie ein altes, sentimentales Lied, das „Lied von der Weide“, das aus alter Tradition stammt und das so sentimental wie traurig ist und auf das Schreckensende einstimmt. Desdemona Singt Weide, grüne Weide! Singt Weide, Weide, Weide! Singt Weide, grüne Weide! Singt Weide, Weide, Weide! Singt Weide, grüne Weide! (IV,3)

Fünf Mal ist der Refrain zu hören, und Giuseppe Verdi hat daraus eine höchst eindringliche Nummer in seiner Oper „Othello“ gemacht. Nach soviel Traurigkeit gibt Shakespeare Emilia noch einmal Gelegenheit zu einer kräftigen Rede gegen die Männer, deren Kernsatz hohnvoll ihre eigene Ehe betrifft. Emilia Allein mich dünkt, es ist der Männer Schuld, Daß Weiber fallen. (IV,3)

Währenddessen läuft auf einer der Straßen der zyprischen Haupt-

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stadt der Showdown. Rodrigo geht wie von Jago erbeten auf Cassio los; aber er verwundet ihn nur und gibt Cassio gute Gelegenheit ihn seinerseits schwer zu verwunden. Aus dem Hinterhalt sticht Jago Cassio von hinten ins Bein. Othello sieht das mit Befriedung aus einem Fenster, lobt Jago und setzt sich endgültig bei uns ins moralische Abseits durch Meuchelmord in mittelbarer Täterschaft. Othello – Püppchen, dein Geliebter fiel, Und deine Stunde naht. Ich komme, Dirne! Dein Blick, dein Reiz soll mir im Herzen sterben, Dein sündig Bett das Blut der Sünde färben! (V,1)

Er verschwindet Richtung Schlafzimmer – endlich nach all den hektischen Nächten, aber zu welchem Ende? Jago ersticht noch schnell den schwer verletzten Rodrigo, Cassio, der beim Abendessen bei seiner Bianca war, wird zum Wundarzt gebracht, und Jago feiert sich dafür, dass alles so gut geklappt hat. Jago (für sich) Dieß ist die Nacht, Die mich vernichtet oder glücklich macht. (V,1)

Wenn wir richtig gezählt haben, geht die Tragödie jetzt in die dritte Nacht. Dass Desdemona zu schlafen vermag nach all dem, was sie erleben musste, ist der Dramaturgie geschuldet. Othello legt seinen Degen beiseite, denn er wird und will nicht ihr Blut vergießen. Er denkt laut darüber nach; dann küsst er sie. Es hat sicherlich eine eigene Bewandtnis, über die nicht weiter philosophiert werden sollte, wie hier übers Küssen geredet wird. Othello O würz’ger Hauch, der selbst Gerechtigkeit Ihr Schwerdt zu brechen zwingt! – Noch einen! einen! Sei, wann du todt bist, so: dann tödt’ ich dich, Und liebe dich nachher – noch einen und den letzten! So süß war nie so tödlich. Ich muß weinen. (V,2)

Es ist gottserbärmlich, in welch perverser Logik unentschuldbare Leichtgläubigkeit Männer zu Taten verführt, die jede tragische Höhe vernichten. Jetzt, in diesem Augenblick, da sie erwacht, wäre noch Gelegenheit zu einer Korrektur seines Handelns. Tragisches Scheitern hieße eigentlich, einen Mann in seiner monströsen Eifersucht zusammenbrechen zu sehen, vor einer Frau, die ihre Würde in jedem Augenblick des Stücks behaupten konnte. Aber Shakes-

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peare dreht die Sache um und verzichtet auf eine klassische Lösung und lässt seinen „heldischen“ Mann sinnlos ob eines läppischen Taschentuchs eine Frau würdelos zu seinen Füßen liegen. Er ist um seinen Verstand gebracht, und das nimmt der mörderischen Szene jegliche Würde. Desdemona hat nicht den Hauch einer Chance vor diesem verblendeten Mann, der weder ein schwarzer noch ein weißer Mann ist, der nicht die Nacht ist, die sich in den hellen Tag, in die Sonne, verliebt hat und Abend- oder Morgenrot erzeugt, wenn er sich vereinigt. Othello ist schlicht ein Mann, vor dem sie jetzt Angst hat. Davon hatte sie bis zu diesem Augenblick keine Ahnung. Desdemona Und dennoch fürcht’ ich dich, denn du bist schrecklich, Wenn so dein Auge rollt, Warum ich fürchten sollte, weiß ich nicht, Da ich von Schuld nichts weiß; doch fühl’ ich, daß ich fürchte. Othello Denk’ deiner Sünde! Desdemona Das ist zu dir die Herzensliebe! Othello Und dafür stirbst du. (V,2)

Das ist ein Widerspruch im Grundsätzlichen, ein wahrer Teufelskreis, der gar nicht mehr im Psychologischen, sondern in der Schöpfung begründet liegt. Die Liebe ist die Sünde, ist der Tod. „Shakespeare in Love“, das hat sich seit „Hamlet“ verändert und in „Othello“ sich zu einem mythischen Zerwürfnis entwickelt, aus dem es kein Entkommen gibt. Die Frage, ob Desdemona als Jungfrau gestorben ist, mutet sehr banal an. Ihr Tod muss sein, muss sein aus Liebe. Othello erstickt sie. Und als er Emilia draußen hört, wird der Schnee ihrer Haut doch noch rot von Blut. Othello Ich bin zwar grausam, aber doch barmherzig; Nicht möcht’ ich dir verlängern deine Qual. – (ersticht sie mit dem Dolch) (V,2) […] O, unerträglich! O, furchtbare Stunde! Nun, dächt’ ich, müßt’ ein groß Verfinstern seyn An Sonn’ und Mond, und die erschreckte Erde Sich aufthun vor Entsetzen. (V,2)

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Die fundamentale Störung der kosmischen Ordnung, die Othellos Text hier ins Ohr zaubert, ist eine Reminiszenz an den Tod Jesu am Kreuz. Der Vorhang des Tempels zerriss und die Sonne verfinsterte sich und die Gräber taten sich auf. Das eschatologische Bewusstsein in Othellos Worten über sein eigenes Tun ist natürlich weit höher als das eines Amokläufers, der zögert, die Ehe sexuell zu vollziehen. Als Desdemona im Augenblick ihres Verscheidens noch vernimmt, wie Emilia ins Schlafzimmer kommt, beteuert sie noch einmal ihre Unschuld und ent-schuldet Othello von aller Mordtat. Desdemona Ich sterbe schuldlos. Emilia

O! Wer hat die That vollbracht?

Desdemona Niemand – ich selbst, – leb’ wohl! Empfiehl mich meinem güt’gen Herrn, – leb’ wohl! – [sie stirbt] (V,2)

Schon lange ist alles hässlich an diesem Mann unter Vormundschaft seines noch hässlicheren Einflüsterers. Mit einer sprachlichen Volte kommt sein Geständnis bei gleichzeitiger Verteufelung seiner Frau. Othello Sie fuhr als Lügnerin zur Flammenhölle; Ich war ihr Mörder. Emilia So mehr Engel sie, Und du so schwärz’rer Teufel! Othello Sie fiel der Sünd’ anheim und ward zur Hure. Emilia Nein, du belügst sie und du bist ein Teufel! (V,2)

Eigentlich ist das Stück hier zu Ende. Die Zuschauer wissen Bescheid, der Mörder ist nicht mehr zu retten. Seine Tat schreit zum Himmel. Emilia weiß, dass Cassio mit ihrer Frau nichts zu schaffen hatte, wann und wo auch immer. Aber der Abspann muss sein. Dass Othello sich auf Jago beruft, ist allerdings auch für Emilia unglaublich, wie für Othello nach wie vor Desdemonas Untreue Wahrheit ist. Das bedarf noch einer Klärung des Ermittlers an der

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Leiche. Die Ermittler schreit Emilia heran, weil sie Othello festgenommen sehen will. Er kann ihr drohen, wie er will. Emilia

Dummkopf! blöder Thor! – Hirnlos, wie Koth: die That, die du gethan – Was kümmert mich dein Schwerdt? Ich mach’ es kund, Und gölt’ es zwanzig Leben. Helft, helft, helft! Der Mohr hat meine Frau erwürgt: Mord! Mord! (V,2)

Montano, der Statthalter in Zypern, und Gratiano, aus der zyprischen Gesandtschaft, sind zur Stelle. Warum sie von Jago begleitet werden, ist klar und unklar, aber gleichwohl eine Dreistigkeit des Strippenziehers, der sich seiner Sache absolut sicher ist und der seinen Triumph jetzt auskosten will. Ihm ist nichts nachzuweisen, er hat niemand umgebracht, aber dass plötzlich seine Frau ihn nun ins Kreuzverhör nimmt, damit hat er nicht gerechnet. Emilia Straf ’ diesen Bös’wicht Lügen, wenn du Mann bist: Er spricht: Du sagtest ihm, sein Weib sei falsch, Ich weiß, das thatst du nicht, du bist kein Schelm: – Sprich, denn mein Herz ist voll. (V,2)

Und, o Wunder, warum sagt Jago das, was er jetzt sagt? Wer zwingt ihn dazu, einmal die Wahrheit zu sagen. Othello ist im Wahnsinn und ein Mörder und niemand wird ihm glauben. Jago Ich thats. (V,2)

Vielleicht sagt er es nur leise zu Emilia, aber die schreit es heraus. Emilia Das war ‘ne Lüge; schnöde, höllische Lüge: Bei Gott, ‘ne Lüge, recht verdammte Lüge: Sie falsch mit Cassio? Sagtest du, mit Cassio? Jago Mit Cassio, Weib: still! Bänd’ge deine Zunge! (V,2)

Was sie von einem solchen Lügner und Verleumder hält, hat sie in aller Deutlichkeit schon vor Jago gesagt, als Desdemona ihn um Hilfe bat. Warum hat er nicht da schon „Ja“ gesagt, anstatt zu behaupten, dass es einen solchen schurkischen Menschen unmöglich geben kann. Jetzt lässt Emilia nicht mehr locker. Sie schreit und schreit und schreit.

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Emilia O Büberei, verruchte Büberei! – Ich denke dran – ich denk’ – ich merk’s – o Büberei! Ich dacht’ es gleich – vor Gram möcht’ ich mich töten! O Büberei! – Jago Was, bist du toll? Geh gleich nach Haus’, befehl’ ich! (V,2)

Die obrigkeitlichen Ermittler verstehen eigentlich gar nichts, und Othello wird immer verblendeter. Othello Ja, es ist jammervoll! Doch Jago weiß, Daß sie die schnöde That mit diesem Cassio Wohl hundert Mal beging: Cassio gestands, Und sie vergalt ihm seine Liebesglut Mit dem Gedächtnißpfand und Brautgeschenk, Das ich ihr gab; ich sah’s in seiner Hand; (V,2)

Wie himmelschreiend? Hundertmal (a thousand times)! Der Rasende hat alle Orientierung verloren, jeden Bezug zu Wirklichkeit und Zeit. Aber eigentlich ist diese Zählung unsinnig, weil in Shakespeares Tragödie „eine doppelte Uhr der Geschehnisse“2 läuft und die Motivierungen ohnehin äußerst künstlich sind. Jedenfalls wächst Emilia jetzt über sich hinaus. Sie wird neben der leidenden Frau zur eigentlichen Heldin des Dramas, sie stürzt sich in einen tragisch-heroischen Tod. Sie weiß um einen Fehler, den sie gemacht hat und den sie bereit ist mit ihrem Tod zu bezahlen. Emilia Es muß heraus, heraus! Jetzt schweigen? Nein, Nein, ich will reden, ungehemmt, wie Nordwind. Laß Himmel, Menschen, Teufel, Alle, Alle, Schmach rufen über mich, ich rede doch! – […] (Jago macht Miene, sie zu erstechen) […] O dummer Mohr! Das Tuch, von dem du sagst, Fand ich durch Zufall und gab’s meinem Manne; Denn oft mit feierlichem Ernst und Nachdruck (Mehr, als für solche Kleinigkeit sich ziemte) Hieß ers mich stehlen. Jago

Du verdammte Metze!

566 • Desdemona

Emilia Sie gab es Cassio? – Nein, ach nein! Ich fands Und gab es meinem Mann. Jago

Ausbund, du lügst!

Emilia Bei Gott, ich log nicht, nein, ihr edlen Herrn! Blutdürst’ger Narr! Was sollt’ auch dieser Tropf Mit solcher guten Frau? – (Jago ersticht seine Frau und läuft fort) (V,2)

Warum der mordgeile Narr jetzt plötzlich Emilia glaubt, was er seiner Frau nie geglaubt hat, ist schwer zu sagen. Der Umschlag zur Erkenntnis ihrer Unschuld ist jäh. Das grüngeäugte Scheusal hat plötzlich keine Macht mehr über ihn, das Chaos lichtet sich. Emilia lässt sich neben ihre Herrin legen, und Shakespeare legt ihr ein glaubwürdiges letztes Wort in den Mund. In „glaubwürdig“ steckt „Würde“, jene Würde, die ihr Sterben nach Theaterherkommen klassisch verklärt. Emilia

Was deutete dein Lied? Hörst du mich noch? Ich will dem Schwane gleich In Wohllaut sterben. Weide, Weide, Weide! – Mohr, sie war keusch; sie liebte dich, Barbar! So werde Heil mir, als ich Wahrheit zeuge; Und redend, wie ich denke, sterb’ ich – sterb’ ich. (sie stirbt) (V,2)

Jetzt liegen schon zwei tote Frauen auf einem Bett, die Opfer zweier Männer sind. Die eine stirbt durch einen Mann, der durch einen Mann ohne jegliche moralische Grundsätze ins Chaos seiner Gefühlswelt und seines Geistes gestürzt und zum irrsinnigen Mörder gemacht wurde; die andere Frau musste sterben, als sie spät erkannte, dass in ihrem unscheinbaren Mann, den sie ein Leben lang am Kragen hatte, jener unmögliche und niederträchtige Teufel steckte, den sie weit weg vermutete. „Den Teufel spürt das Völkchen nie“, weiß Goethes Mephisto zu dozieren und in der Tat, weder Othello, noch Desdemona, noch Emilia, noch Cassio, noch die Honoratioren von Venedig und Zypern erkennen in Jago mehr als den rechtschaffenen soldatischen Biedermann. Er tut sich zwar durch planerisches Kalkül und eine beachtenswerte Intellektualität hervor,

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aber immer so, dass er von der Umgebung als hilfreich und wohlwollend gesehen wird. Trotzdem macht er das Stück, das man jedoch nicht als einen Geniestreich des Bösen überbewerten darf. Ein schurkischer Intrigant ist noch keine Inkarnation des Teufels. Jago ist weit entfernt von Goethes Mephistopheles. Jagos verweigerte Beförderung ist keine Chiffre für den gestürzten Luzifer. Jago ist keine Inkarnation des Bösen. Erst der Librettist Arrigo Boito schreibt für Verdis Othello (1887) ein Credo, ein Teufelsbekenntnis, das einen Einblick in sein Seelenleben und seine Motivation, Böses zu tun, gewährt. Das ist durchaus logisch, denn Boito kennt Goethes „Faust“ und hat selbst daraus seine Oper „Mefistofele“ (1868/75) geschaffen. Aber ein solches Bekenntnis steht nicht bei Shakespeare. Jago monologisiert Hamlet ungleich über solche Dinge nicht. Jago taucht sich selber ins Rätselhafte, indem er, nachdem man ihn wieder eingefangen hat, auf Othellos Bitte um Aufklärung über die Gründe seines Hasses eine ebenso dreiste wie verblüffende Antwort gibt. Othello Wollt ihr von diesem Teufel wohl erfragen, Warum er Seel’ und Leib mir so verstrickt? – Jago Fragt mich um nichts mehr: was ihr wißt, das wißt ihr. Von dieser Stund’ an rede ich kein Wort. (V,2)

Das Böse bleibt unerklärt, und das Drama erreicht keinen „Symbolrang“ und bleibt „in seiner Wörtlichkeit eingeschlossen“.3 Jago wird auch durch die angedrohte Folter nicht zum Reden gebracht werden. Und Othello soll für den Staat Venedig in Haft genommen werden. Obrigkeit ist immer dumm und unfähig zu erkennen, was auf der Hand liegt. Othello erklärt, Lodovico müsse melden, was er von sich selber hält. Schon müssten alle Alarmglocken schrillen. Othello Gemach! – Nur noch zwei Worte, eh’ ihr geht! Ich that Venedig manchen Dienst, man weiß es: Nichts mehr davon! – In euren Briefen, bitt’ ich, Wenn ihr von diesem Unheil Kunde gebt, Sprecht von mir, wie ich bin – verkleinert nichts, Noch setzt in Bosheit zu: Dann müßt ihr melden Von einem, der nicht klug, doch zu sehr liebte; Nicht leicht argwöhnte, doch einmal erregt, Unendlich ras’te: (V,2)

568 • Desdemona

Spätestens hier müsste endgültig klar sein, dass der Mann noch einmal ins Rasen kommt und sich selbst erledigen wird. Was in jedem simplen Krimi für die Ermittler wichtig ist, die Waffe des Täters in die Hand zu bekommen oder ihn vom selbstmörderischen Sprung in die Tiefe zurückzuhalten, Lodovico, Gratiano und der neue Chef auf Zypern, Cassio, schauen seelenruhig zu, wie sich der Mann ersticht, aufs Bett zu Desdemona wirft und sie sterbend küsst. Othello Ich küßte dich, Eh’ ich dir Tod gab – nun sei ’dieß der Schluß: Mich selber tödtend sterb’ ich so im Kuß. (V,2)

Dieser Tod gibt der mörderischen Vergewaltigung der Desdemona keinerlei Sinn und Würde zurück, und dümmer als Cassio dies tut, kann man den Vorgang kaum kommentieren. Cassio Dieß fürchtet’ ich – doch glaubt’ ihn ohne Waffen – Denn er war hochgesinnt. (V,2)

Schimpfend auf den Hund Jago ziehen sie mit ihm im Schlepptau ab, ein Stück beendend, das wie so oft bei Shakespeare den schlagenden Beweis erbringt, dass seine Frauenfiguren fast immer an Männer minderen Formats geraten. Othello ist zuallererst ein Mann, und alles andere an ihm ist zeitbedingte Folklore und Dekoration, ist schlicht entbehrlich und kann dem Rotstift zum Opfer fallen. Seine Hautfarbe ist mitnichten seine Achillesferse. In der Dramaturgie der „Tragödie“ spielt sie keine Rolle und ebenso wenig gesellschaftliche Unsicherheit als „Fremder“. Er, Othello, war nur unendlich leichtgläubig und war nicht klug, und wenn er zu sehr liebte, wie er nach Venedig berichtet haben will, dann war im Stück davon nicht viel zu hören und zu sehen, allenfalls ein Taschentuch, ein Schnupftuch. Er war ein ganz gewöhnlicher Mann, von der Verkörperung des Heroischen kann keine große Rede sein, und Desdemona eine schöne junge Frau und das Böse ist banal, brutal und der Tod grausam, aber dumm, und Tragik ist eher selten. Der Rest ist für den Tatortreiniger. Nur einer blickt mit Genugtuung auf die „tragische Bürde dieses Betts“. Jago wird schweigen. deutsche Übersetzung: Wolf Graf Baudissin 1) Günther Jürgensmeier, S. 548 2) Jan Kott, S. 125 3) Jan Kott, S. 111

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Cordelia

König Lear (1605 / 1606)

designed by Kenny Meadows and engraved by G. Inglis

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Die Darstellung der Cordelia trägt in der Erstausgabe von Heinrich Heines Schrift über „Shakspeares Maedchen und Frauen“ von 1839 die Stellenbezeichnung: Akt 5, Sz. 3.1 Diese Szene zeigt das britische Lager bei Dover. Der Bastardsohn Edmund des Grafen von Gloster tritt als Sieger mit der gefangenen Cordelia und ihrem alten Vater König Lear auf. Er lässt sie beide nach kurzem Wortwechsel in den Kerker abführen. Ihnen hinterher schickt Edmund einen Hauptmann, der sich gegen Beförderung erbötig zeigt, die Gefangenen im Kerker zu töten. Die Situation verändert sich schnell; aus dem Sieger wird im Handumdrehen ein Besiegter. Edmunds Bruder Edgar taucht in Rüstung auf und fordert ihn zum Zweikampf, in dem Edmund fällt. Sterbend bekennt er, dass er Befehl zum Töten der Gefangenen gab. Man schickt eilends aufs Schloss, und schon ein Dutzend Dialogzeilen später kommt Lear auf die Bühne, seine Tochter Cordelia tot in den Armen tragend. Das Bild und die Handlung des fünften Akts passen partout nicht zusammen. Heine lässt die Stellenangabe auf sich beruhen und ignoriert in seinem Text ganz pragmatisch die Diskrepanz von Dargestelltem und szenischem Verweis. Sollte er das Vorlagenwerk für die Bilder von Charles Heath2 zur Hand gehabt haben, könnte ihn dessen Textverweis aus doppeltem Grund irritiert haben. Heath druckt zum Bild der Cordelia eine Textstelle aus der dritten Szene des vierten Akts (IV,3), in der Cordelia gar keinen Auftritt hat. Ausnahmsweise gestaltet der Künstler nämlich eine Szene, die nur geschildert wird, die aber im Stück nicht dargestellt wird. Es gibt keine wirkliche Szene, in der Cordelia auf einem Thron sitzt und Tränen vergießt und einen Brief auf dem Schoß hat. Kent

Hat sie nichts gesprochen?

Edelmann Ja, mehrmals seufzte sie den Namen Vater Stöhnend hervor, als preßt’ er ihr das Herz: Rief: Schwestern! Schwestern! Schmach der Frauen! Schwestern!

572 • Cordelia

Kent! Vater! Schwestern! Was, in Sturm und Nacht? Glaubt an kein Mitleid mehr! Dann strömten ihr Die heil’gen Thränen aus den Himmelsaugen, Und netzten ihren Laut; sie stürzte fort, Allein mit ihrem Gram zu seyn. Kent Die Sterne, Die Sterne bilden uns’re Sinnesart, Sonst zeugte nicht so ganz verschiedne Kinder Ein und dasselbe Paar. – Spracht ihr sie noch? (IV,3)

Falls Heine das Galeriewerk und die charakteristischen Stückzitate von Mister Heath vor sich gehabt hätte, wäre der Fehler vermeidbar gewesen. Es steht aber auch die Vermutung im Raum, dass Heine eine Textausgabe des König Lear gehabt haben könnte, wo er die Stelle aus Akt IV, Szene 3 überhaupt nicht gefunden hat, weil die gesamte Szene in der Folioausgabe von 1623 fehlte.3 Wie dem auch war, wir sehen eine dem Zuschauer vom Dichter vors innere Auge imaginierte tränenüberströmte junge Frau auf dem französischen Thron sitzen, die wir seit dem ersten Akt nicht mehr gesehen haben. Der Graf von Kent, der dem alten König trotz Verbannung in Verkleidung weiterhin treu dienende Gefolgsmann des Königs, hat die französische Königin in seinen heimlichen Briefen vom Zustand des Vaters und der Lage in England in Kenntnis gesetzt. Seit der Teilung des Reichs von König Lear, bei der die geliebte dritte Tochter Cordelia nicht so wie ihre Schwestern mitgespielt hatte, ist die vorrömische britische Welt aus den Fugen. Cordelia, die Lieblingstochter, brachte anders als die beiden älteren Schwestern keinerlei Schmeichelworte für den Vater über die Lippen und wurde vom König enterbt und verstoßen. Wie immer, wenn es ums Erben geht, gab es auch bei Königs Zoff und Streit, und der Hauskrach war besonders hart, weil der gut achtzigjährige Patriarch temperamentsmäßig ziemlich unberechenbar und jähzornig war. Wenn er schon zu Lebzeiten abdanken und sein Reich an seine drei Töchter geben wollte, dann wollte er dafür auch entsprechend umschmeichelt werden. Die beiden Schwestern Goneril und Regan hatten sich schöne Sprüchlein ausgedacht und den Vater mit süßen Liebesworten bezirzt. Aber Cordelia empfand das öffentliche Süßholzraspeln von Goneril ziemlich peinlich. Sich selber befragend kam sie zu einem ehrenwerten, aber fatalen Entschluss.

Cordelia • 573

Cordelia (beiseit) Was sagt Cordelia nun? Sie liebt und schweigt. (I,1)

Und nach der entwürdigenden Lobhudelei in aufgeschminkten Worten der zweiten Schwester Regan sagt sie sich stillerweise erneut: Cordelia (beiseit) Arme Cordelia dann! – Und doch nicht arm; denn meine Lieb’, ich weiß, Wiegt schwerer als mein Wort. (I,1)

Jetzt ist Cordelia an der Reihe. Gerade jetzt will der Vater ganz besonders schöne Liebesworte von seiner Lieblingstochter hören. Aber was er zu hören bekommt, bringt ihn völlig aus der Fassung. Lear Nun unsre Freude, Du jüngste, nicht geringste, deren Liebe Die Weine Frankreichs und die Milch Burgunds Nachstreben; was sagst du, dir zu gewinnen Ein reichres Dritttheil als die Schwestern? Sprich! Cordelia Nichts, gnädger Herr! Lear Nichts? Cordelia Nichts. (I,1)

„Nothing, my lord. Nothing? Nothing.“ Cordelia mag die Worte wahrscheinlich demütig und still verhalten gesprochen haben, aber sie wirken auf Lear ziemlich schroff. Die Wirkung war wie in der Kirche, wenn die Braut auf die Frage des Pfarrers mit „Nein“ antwortet. Dann ist die Trauung zu Ende. Lear kann es nicht glauben. Lear Wie? Wie? Cordelia! Bessre deine Rede, Sonst schad’st du deinem Glück. Cordelia Mein teurer Herr, Ihr zeugtet, pflegtet, liebtet mich; und ich Erwiedr’ euch diese Wohlthat, wie ich muß, Gehorch’ euch, lieb’ euch und verehr’ euch hoch. Wozu den Schwestern Männer, wenn sie sagen, Sie lieben euch nur? Würd’ ich je vermählt, So folgt dem Mann, der meinen Schwur empfing,

574 • Cordelia

Halb meine Treu’, halb meine Lieb’ und Pflicht. Gewiß, nie werd’ ich frei’n wie meine Schwestern, Den Vater nur allein zu lieben. (I,1)

Die Argumentation Cordelias kommt einem bekannt vor. Hatte nicht Desdemona ebenso von einer „zwiefach geteilten Pflicht“ zwischen Ehemann und Vater vor dem Dogen gesprochen? Dort hatte es mit dem Problem schnell sein Bewenden, weil die Türken im Anmarsch waren, aber hier wird es existentiell und stückbestimmend. Lear Und kommt dir das von Herzen? Cordelia

Ja, mein Vater!

Lear So jung und so unzärtlich? Cordelia So jung, mein Vater, und so wahr. Lear Sei’s drum! Nimm deine Wahrheit dann zur Mitgift: (I,1)

Der Patriarch beendet seine Liebesprobe; er wollte in seinem Theaterstück „Liebe“ bestätigt bekommen, hat aber nur Text erhalten; „wo kein Text war, erkannte er auch keine Liebe.“4 Das Dilemma, das Cordelias Aufrichtigkeit verursacht, ballt der aufbrausende Familientyrann sofort zu einem neuen Theaterstück von kosmischer Dimension zusammen, indem er sein Kind in übelster Weise verflucht und verbannt. Lear Sei’s drum! Nimm deine Wahrheit dann zur Mitgift: Denn bei der Sonne heilgem Strahlenkreis, Bei Hekates Verderben, und der Nacht, Bei allen Kräften der Planetenbahn, Durch die wir leben und dem Tod verfallen, Sag’ ich mich los hier aller Vaterpflicht, Aller Gemeinsamkeit und Blutsverwandtschaft, Und wie ein Fremdling meiner Brust und mir Sei du von jetzt auf ewig. Der rohe Scythe, Ja der die eignen Kinder macht zum Fraß, Zu sätt’gen seine Gier, soll meinem Herzen So nah stehn, gleichen Trost und Mitleid finden, Als du, mein weiland Kind. (I,1)

Cordelia • 575

Nicht genug mit der Verfluchung und Verbannung des geliebten liebenden Kindes, der treue Gefolgsmann des Königs, der Graf von Kent, zieht sich ebenfalls den Fluch des abgedankten Herrschers zu, weil er sich bittend für das arme Kind verwendet. Er spricht eigentlich auch den Epilog in diesem Vorspiel vom gekränkten König, der wie der Jude Shylock seine Tochter lieber tot zu Füßen sähe denn als lebende Kränkung. Kent So leb’ denn wohl, Fürst! Zeigst du so dich, Lear, Lebt Freiheit auswärts und Verbannung hier. [Zu Cordelia] Dir, Jungfrau, sei’n die Götter mächtger Hort, Die richtig denkt und sprach das rechte Wort! [Zu Goneril und Regan] Eu’r breites Reden sei durch That bewährt! Daß Liebeswort willkommne Frucht gebärt (I,1)

Der kleine Rest des Prologs zur kommenden großen Tragödie ist schnell erzählt. Der Herzog von Burgund weist die Hand Cordelias zurück, als klar wird, dass die Braut keinerlei Erbe einbringt; der König von Frankreich entscheidet sich trotz der misslichen Situation galant für Cordelia. Er führt die Braut ohne Aussteuer nach Hause. Die beiden Schwestern bekommen gute Wünsche, aber beiseite gesprochen, auch bittere Wahrheiten gesagt. Als alle von der Bildfläche verschwunden sind, mischen die beiden zurückbleibenden zärtlichen Schwestern das für den Patriarchen versaute öffentliche Ereignis ihrerseits ziemlich „unzärtlich“ durch eine Absprache gegen den Vater auf. Sie fürchten seinen ungebärdigen Eigensinn und sein cholerisches Wesen und beschließen dem Einhalt zu gebieten. Goneril Behauptet unser Vater sein Ansehn mit solchen Gesinnungen, so wird jene letzte Übertragung seiner Macht uns nur zur Kränkung. Regan Wir wollen es weiter überlegen. Goneril Es muß etwas geschehen, und in der ersten Hitze. (I,1)

Wie der Hausstand von König Lear mit seinen drei Töchtern vor der Liebesprobe und der Teilung des Königreichs sich gestaltet hat, bleibt ein tiefes Geheimnis dieses Stücks. Man muss es auch nicht

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ergründen wollen, weil die Motivierungen zumeist sehr künstlich sind und aus dem Augenblick entworfen werden. Eine Mutter kommt in der Familienaufstellung ohnehin nur ganz am Rande vor. Wie es nach dem Erbfall weitergeht, davon erfährt Cordelia einerseits von heimlichen französischen Spähern unter der Dienerschaft im Hause Cornwall (Regan) wie im Palast von Albanien (Goneril) als andererseits aus den Briefen des getreuen Kent, dem es gelingt, sich inkognito bei Lear als Diener zu verdingen. Cordelia ist also auf dem Laufenden über das Schicksal ihres Vaters und über die Ränke der Töchter gegen ihren Vater. Der soll monatlich das Quartier mit seinem üppigen Gefolge wechseln. Das schafft laufende Unannehmlichkeiten, und das wollen die Schwestern nicht dulden. Sie empfinden den Alten als Belastung und bitten ihn nach gegenseitiger Absprache, seine Ritter zu entlassen. Der König empfindet dies als seine endgültige Entmachtung; er gerät in Kents Worten durch eigene Schuld „vom Regen in die Traufe.“ Wenn er seine Ritter nicht abrüstet, gibt es keine Unterkunft mehr; wieder endet Lear das Theater, das er diesmal nicht selber inszeniert hat, kompromisslos mit Verfluchung und seiner eigenen Flucht ins Unbehauste und in den Wahnsinn. Die Schwestern zeigen ihm die kalte Schulter. Über diesen Affront schickt der treue Kent durch einen Edelmann Nachrichten an Cordelia nebst einem Ring zur Beglaubigung des Boten. Über der Szene zieht ein gewaltiges Gewitter auf, in dem der König in Sturm, Donner und Blitz auf der Heide zu tragischer Größe und Wahnsinn erwächst. Lear Rassle nach Herzenslust! Spei’ Feuer, fluthe Regen; Nicht Regen, Wind, Blitz, Donner sind meine Töchter: Euch schelt’ ich grausam nicht, ihr Elemente: Euch gab ich Kronen nicht, nannt’ euch nicht Kinder, Euch bindet kein Gehorsam; darum büßt Die grause Lust: Hier steh’ ich, euer Sclav, Ein alter Mann, arm, elend, siech, verachtet: Und dennoch knecht’sche Helfer nenn’ ich euch, Die ihr im Bund mit zwei verruchten Töchtern Thürmt eure hohen Schlachtreih’n auf ein Haupt So alt und weiß, als ‘dieß. O, o, ‘s ist schändlich! – (III,2)

Der König spricht von zwei verruchten Töchtern, aber er hat nun schon drei verstoßene Töchter, denn gegen Cordelia – wir erinnern

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uns – hat er schon im Beginn der Handlung alle „Vaterpflicht, alle Gemeinsamkeit und Blutsverwandtschaft“ aufgekündigt. Der Fall wird zum verwirrenden Rechenexempel, ob zwei und eins drei sind oder ob bei drei minus zwei minus eins eins übrigbleibt, weil wir anders als Lear ein umgekehrtes Vorzeichen setzen. Der Schriftsteller und Theaterkritiker Julius Bab glaubt darin des Pudels Kern von Shakespeares „König Lear“ versteckt. Kein tieferes Wort ist über diese Dichtung gesagt worden als jenes, das ein Dichter unserer Tage, Richard Beer-Hofmann, einem seiner Dramen eingefügt hat. Dort schildert ein junger Mann einem Mädchen dieses Stück „von dem alten König und seinen drei undankbaren Töchtern“, und die junge Dame fragt erstaunt zurück: „Drei? Ich denke, zwei nur waren undankbar?“ Aber jener antwortet: „Drei, lest’s nur genau.5

Das Drama von Richard Beer-Hofmann heißt „Der Graf von Charolais“; es führt unentwegt einen intertextuellen Dialog mit Shakespeares „König Lear“ und mutet uns eine kritische Leseweise für Cordelia als undankbare Tochter zu, die das Stück mit seinem tragischen Ende widerlegen muss. Immerhin bricht sie ihrem Vater, der sie liebt und den sie liebt, durch ihre Unfähigkeit, ein paar Schmeichelworte zu sagen, das Herz. Ist das nicht halsstarrig, stolz, unnachgiebig und zeigt sie stur als des Vaters echte Tochter. Wenn ihr „Nichts“/„Nothing“ aber eine rebellische Tat war, dann ist der Preis hoch, sehr hoch, und alle Glättungen ins happy end gerade bei diesem Stück wollten das Gegeneinander, den Widerstreit beziehungsweise die tiefe Kluft zwischen (Nicht-)Wort und Wesen in Cordelias Verhalten nicht aushalten. In welches Ende läuft also dieses Stück, dessen Vorlagen6 in den Historien und Chroniken alle ins Glück laufen und Cordelia und den Vater am Ende auf dem Thron sehen? Der Tiefpunkt auf der stürmischen Heide hat eine Parallelhandlung mit einem Vater und zwei Söhnen, einem verruchten und einem herzensguten. Auch deren Geschichte besitzt eine Vorlage; sie ist von Philip Sidney7. Auch sie geht – nehmt alles nur in allem – gut aus. Der gute Sohn wird Nachfolger des blinden Königs, und der Vater stirbt durch das „Übermaß der Freunde“ im Augenblick der Krönung. Shakespeare schärft durch diese Spiegelung wechselseitig das Vater-Töchter-Drama und das Vater-Söhne-Drama. Aus den Geschichten des unklugen Königs und eines leichtgläubigen

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Vaters werden symbolhaft bedeutende Handlungen, die vom privaten Beispielfall auf allgemein menschliche Gültigkeit verweisen. Die Hütte, die König Lear, sein Narr und der als Diener Caius verkleidete Kent im Sturm erreichen, ist schon besetzt mit dem vor dem Bruder geflohenen und zur Tarnung als Bettler verkleideten Edgar von Gloster. Während der König sich augenblickweise selbst auf dem Weg zum Wahnsinn sieht, begegnet ihm nun aus der Hütte tretend ein junger Mann im Aufzug eines Wahnsinnigen. Edgar spielt, um sich vor seinen Verfolgern zu schützen, das, was Lear ist. In die irre Szene platzt Edgars Vater, der Graf von Gloster. Er sucht den König, um ihm vom Vorhaben seiner Töchter zu berichten, aber er erkennt seinen eigenen von ihm verstoßenen Sohn nicht, weil der den Irren absolut überzeugend gibt. Graf von Gloster war dabei, als die zwei „verruchten“ Töchter den König in die Nacht schickten; es war auf seinem Schloss. Er entschuldigt sich vielmals, dass er als Hausherr diesen Frevel zugelassen hat. Aber er hatte vor ihnen Angst und, Gott sei Dank, er habe den König jetzt doch noch gefunden und er bitte ihn, wenigstens in eine bescheidene Unterkunft mitzukommen, wo ein Mahl und ein wärmendes Feuer bereitet sind. Fast im Nebenbei erzählt er Kent/Caius, dass die Töchter den Tod des Königs planen und dass er selbst einen Sohn hatte, der ihm nach dem Leben trachtete. Er fürchte darüber seinerseits fast verrückt zu werden. Er wird nicht verrückt darüber werden, aber blind. Man wird ihm bald auf seinem eigenen Schloss in einer der berühmt-berüchtigtsten Szenen auf Shakespeares Theater die Augen ausstechen, weil ihn sein Bastardsohn Edmund an die britannische Erbengemeinschaft verraten hat. Er sei Anhänger der französischen Partei, also auf Seiten Cordelias, und folglich ein schäbiger Verräter. Bevor die ehrenwerte Gesellschaft zur Tat schreiten kann, gelingt es Graf Gloster noch, die Irren in der Hütte – sie veranstalten ein absurdes Possenspiel als Abrechnung mit Lears Töchtern –, insbesondere Kent und den König, zu warnen. Gloster Von einem Vorschlag, ihn zu tödten, hört’ ich. Ich hab ‘ne Sänfte, leg’ ihn da hinein, Und rasch nach Dover, wo du finden wirst Schutz und Willkommen. Eil’ und nimm ihn auf; – Säumst du ‘ne halbe Stunde nur, so ist Sein Leben, dein’s und Aller, die ihn schützen,

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Verloren ohne Rettung: fort denn, fort! Und folge mir; ich schaffe, dich zu schützen, Ein schnell Geleit. (III,6)

Der König ist auf dem Weg nach Dover, wo Cordelia mit französischen Truppen gelandet ist, während Graf Gloster in seinem eigenen Haus von seinen Gästen gefangen wird und nicht nur seine Augen verliert, sondern auch erfahren muss, dass ihn Edmund verraten hat und dass er seinem Sohn Edgar unendliches Leid verursacht hat. Der nackte Willkürakt durch Regans Mann Cornwall verursacht Kollateralschäden. Ein Diener Glosters hält die Schinderei nicht aus und greift Cornwall nach dem ersten Auge an. Er verletzt ihn so schwer, dass er bald darauf stirbt. Aber der Diener stirbt seinerseits, weil ihn Cornwalls Frau Regan von hinten ersticht. Den blinden Gloster wirft man aus seinem Haus. Regan Fort, werft ihn aus dem Thor, dann mag er riechen Den Weg nach Dover. (III,7)

Als Regan ihren schwerverletzten Mann abgeschleppt hat, erinnert sich ein anderer Diener des Hauses an den Irren beim König in der Hütte. Erster Diener Ihm nach, dem alten Grafen; schafft den Tollen, Daß er ihn führen mag: sein Bettler-Wahnsinn Läßt sich zu Allem brauchen. (III,7)

Das ist natürlich ein Volltreffer. Der tolle Edgar wird seinen blinden Vater nach Dover bringen. Der kommentiert die Situation mit Sarkasmus. Gloster ’S ist Fluch der Zeit, daß Tolle Blinde führen! – (IV,1)

Damit streben die Parallelhandlungen ins gemeinsame Ziel nach Dover zu Cordelia. Umgekehrt rüsten sich die Briten. Da Cornwall stirbt und der Herzog von Albanien ein Zauderer ist, übernimmt der Bruder Edgars, Edmund, das britische Kommando, und gleichzeitig sonnt er sich in der Gunst der beiden Königstöchter. Die Rivalität der beiden Frauen um denselben Mann schafft neues Konfliktpotential. Ein Ring hat sich geschlossen. Kent ist mit dem König angekommen und ist hocherfreut von seinem Boten zu hören, dass Cordelia

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nicht auf Rache gegen den Vater sinnt, der sie verstoßen hatte. Im Gegenteil, sie weint vor Rührung, und wenn der König, der nur augenblicksweise versteht, wo er ist, nicht voller Scham wäre, dann könnten sich Vater und Tochter in die Arme fallen. Zunächst aber soll mit ärztlicher Hilfe Besserung für Lear erreicht werden. Cordelia hat den Vater schon gesehen, aber er ist, geschmückt mit Blumen und wilden Kräutern wie die verrückte Ophelia weggelaufen und hat sich in einem Kornfeld versteckt. Cordelia Durchforscht jedwedes hochbewachs’ne Feld Und bringt ihn zu uns! Was vermag die Kunst, Ihm herzustellen die beraubten Sinne? Er, der ihn heilt, nehm’ alle meine Schätze! (IV,4)

Der Arzt verspricht sein Bestes; er glaubt zu wissen, dass er ein Mittel hat, „des Wahnsinns Auge“ zu schließen. Die Nachricht vom Vorrücken der Britischen Macht empfängt Cordelia mit großer Fassung. Cordelia

Oh, mein theurer Vater, Für deine Wohlfahrt hab’ ich mich gerüstet, Drum hat der große Frankreich Mein Trauern, meiner Thränen Fleh’n erhört. Nicht luft’ger Ehrgeiz treibt uns zum Gefecht, Nur brünst’ge Lieb’ und unsers Vaters Recht; Möcht’ ich doch bald ihn sehn und ihn vernehmen! (IV,4)

Gloster und sein Sohn kommen, wenn auch auf geistigen Um- und Abwegen in Dover an. Edgar hat ihn angeblich an den Rand der Klippen von Dover geführt, denn der alte Gloster möchte sich ob seines doppelten Leidens – die toten Augen und die Scham über das Unrecht an seinem Sohn – in die Tiefe stürzen. Natürlich will Edgar das verhindern und ihn ein für alle Mal von seinen Selbstmordabsichten heilen. Er gaukelt dem Vater einen steilen Anstieg vor und lässt ihn dann einfach auf die Erde fallen. Er imaginiert dem Blinden aber einen tiefen Fall vor und wechselt die Rolle. Plötzlich ist er nicht mehr der irre Tom, sondern spricht ihn mit verstellter Stimme an und gaukelt ihm ein Wunder vor. Den Zuschauer mutet die Szene wie eine Clownsnummer an. Gloster weiß nicht, ob er über seine Rettung wirklich glücklich sein soll.

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Gloster Ich will hinfort Mein Elend tragen, bis es ruft von selbst: Genug, genug, und stirb! (IV,6)

Da taucht Lear aus dem Kornfeld auf. Die beiden geschundenen Väter sind ein herzzerreißender Anblick, und ihr Gespräch zeigt Anfang und Ende von Vernunft und Wahnsinn. Sie sind ein Inbild menschlichen Leids in ihrer körperlichen und geistigen Blindheit. Der blinde Vernünftige erkennt die sehende Unvernunft. Gloster Den Ton von dieser Stimme kenn’ ich wohl: Ists nicht der König? Lear

Ja, jeder Zoll ein König – (IV,6)

… aber jedes Wort ein Narr, denn was der misogyne, frauenfeindliche Ausbruch Lears am Exempel seiner Töchter offenbart, ist dem sehenden Ohr des Männervaters das Ende aller familiären Ordnung und der Zusammenbruch des Universums. Gloster O du zertrümmert Meisterstück der Schöpfung! – So nutzt das große Weltall einst sich ab Zu nichts. Kennst du mich wohl? (IV,6)

Das ist natürlich nicht das letzte Wort des Stücks, wenngleich Edgars Resümee des närrischen Gesprächs in seinem Widerspruch der Sache schon recht nahe kommt. Edgar O tiefer Sinn und Aberwitz gemischt! – Vernunft in Tollheit! (IV,6)

Und der närrische König beendet, bevor er vor den Bedienten Cordelias davonläuft, das absurde Theatergespräch noch einmal mit Verweis auf die Eckdaten unseres Daseins, auf Geburt und Tod. Überwältigt vom jammervollen Anblick des kindisch davonlaufenden Königs, ruft der die Bedienten kommandierende Edelmann verzweifelt hinterher: Edelmann Du hast Ein Kind, Durch das die Welt vom grausen Fluch erlöst wird, Den Zwei auf sie gebracht. (IV,6)

582 • Cordelia

Nach so viel philosophisch getönter Reflexion kommt wieder Bewegung ins Drama, weil dieses Kind nun beweisen muss, dass und wie Erlösung von Fluch und Sünden sein könnte. Edgar und der Vater stehen plötzlich allein auf weiter Flur, da naht der böse Feind in Gestalt von Gonerils Haushofmeister. Der sieht seine Chance, das Kopfgeld auf den blinden Hochverräter Graf von Gloster zu verdienen. Aber er wird ratz fatz von Edgar niedergemacht. Damit hat er nicht gerechnet, dass der Bauerntölpel für den Grafen antritt. Großzügig gibt er ihm im Sterben noch seine Börse und ein paar verdächtige Briefe Gonerils an ihren Geliebten Edmund. Nach der großen Schlacht soll ihr Mann Albanien aus dem Weg geräumt werden. Edgar wird die Brisanz dieser Post zu nutzen wissen. Dann schleppt er den Leichnam fort; vermutlich wirft er ihn über die Klippen. Neuerdings redet er den Blinden auch als Vater an, ohne dass der sonderlich überrascht scheint. Die Erlöserin tritt auf. Kent hat sich Cordelia zu erkennen gegeben; Lear hat man eingefangen, und der Arzt hat ihn in einen Heilschlaf versetzt. Man bringt den schlafenden Lear in einem Sessel herein und ordnet Musiktherapie an. Die wirkt wohl nicht nur auf den kranken König, denn auch Cordelia findet unter ihrer Wirkung liebende Worte und zärtliche Gesten. Cordelia Mein theurer Vater! O Genesung, gieb Heilkräfte meinen Lippen; dieser Kuß Lindre den grimmen Schmerz, mit dem die Schwestern Dein Alter kränkten! […] Warst du ihr Vater nicht, – dieß Silberhaar Verlangte Mitleid. O war dieß ein Haupt, Dem Sturm der Elemente preis zu geben? Dem lauten, furchtbar’n Donner? – Stand zu halten Dem höchst grau’nvollen, schnell beschwingten Flug Gekreuzter Blitze? (IV,7)

Lear erwacht, aber er ist noch weit von aller Wirklichkeit entfernt. Cordelia sinkt wohl vor dem Vater auf die Knie. Cordelia Oh, seht auf mich, Mylord! – Hebt eure Hand zum Segen über mich! Nein, Herr, ihr müßt nicht knieen. (IV,7)

Dass sie dem Vater auch ohne Kniefall verzeiht, ist keine Neben-

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sächlichkeit, denn in der Tat gäbe es beidseitig Notwendigkeit zum Niederknien und Verzeihen. „Drei, lest’s nur genau“, sagte der junge Mann im Drama von Richard Beer-Hofmann. „Vier – auch der Vater – lest’s nur genau“, möchte man ergänzen. Und weiter geht es mit Paradoxien. Jetzt, da der König zu Sinnen kommt, fürchtet er um seinen Verstand. Lear Ich fürchte fast, ich bin nicht recht bei Sinnen. Mich dünkt, ich kenn’ euch, kenn’ auch diesen Mann, Doch zweifl’ ich noch, denn ich begreif ’ es nicht, An welchem Ort ich bin; all mein Verstand Entsinnt sich dieser Kleider nicht, noch weiß ich, Wo ich die Nacht schlief. Lacht nicht über mich, Denn so gewiß ich lebe, Die Dame halt ich für mein Kind Cordelia. (IV,7)

Die Dame bestätigt es und weint vor Rührung und Freude. Der Vater will die Situation noch nicht ganz glauben und zweifelt an der Aufrichtigkeit der Tränen. Lear Sind deine Thränen naß? Ja, wirklich! Bitte, O weine nicht! Wenn du Gift für mich hast, so will ich’s trinken, Ich weiß, du liebst mich nicht; denn deine Schwestern, So viel ich mich erinnre, kränkten mich; Du hattest Grund, sie nicht. (IV,7)

Nein, keinen Grund, ich habe überhaupt keinen Grund dich nicht zu lieben, beruhigt Cordelia, beruhigt ihn auch über seinen Aufenthaltsort. Lear Bin ich in Frankreich? Cordelia In eurem eignen Königreich, Mylord! (IV,7)

Der Arzt bittet nun, wie es Ärzte zu tun pflegen, ihn wieder ruhen zu lassen, damit es nicht zu viel wird für seine noch ungefestigte Wiederherstellung. Im Abgehen kommt dann das endgültig erlösende Wort, das den unbeugsamen Patriarchen wenigstens in Worten, die für Werke stehen, niederknien lässt.

584 • Cordelia

Lear O habt Geduld mit mir! Bitte, vergeßt, Vergebt, denn ich bin alt und kindisch. (IV,7)

Wie groß diese Szene des Erwachens aus dem Wahnsinn und des Wiedererkennens gedacht werden darf, kann der Bericht eines eher trockenen und nüchternen Mannes belegen. Der Aufklärer, Professor für Experimentalphysik in Göttingen und Schriftsteller, Georg Christoph Lichtenberg schildert in seinen „Briefen aus England“ 1775 genau diese Szene der Erlösung. Er war in London ziemlich oft im Theater, kannte den berühmten Schauspieler Garrick persönlich in verschiedenen Rollen, unter anderem auch als König Lear, und berichtet über seine Überwältigung durch die Schauspielerin der Cordelia. „Unter den hiesigen Schauspielerinnen ist nach meinem Geschmack Mrs. Barry noch immer die größte, oder doch die allgemeinste, und die einzige, die in diesem Punkt eine Vergleichung mit Garrick aushält. […] Ich habe sie als Cordelia im König Lear gesehen, wie sie die von Tränen glänzenden großen Augen nach dem Himmel hob, dann sprachlos die Hände hochringend, mit dem Anstand und, wie mich dünkte, dem Glanz einer Verklärten, ihrem alten verlassenen Vater entgegen eilte und ihn umarmte. Es ist das Größte, was ich in der Art von einer Schauspielerin gesehen habe, noch itzt das Fest meiner Phantasie, und ich werde das Andenken an diese Szene nur mit meinem Leben verlieren.“8

Der Vorabend der Schlacht war wunderschön und erweckt Hoffnungen auf ein Ende der Geschichte im Sinne von Shakespeares Quellen. Lear zeigte sich bereit, Cordelia und ihr liebendes Wesen und seine eigene Verblendung zu erkennen. Aber Shakespeare ist gnadenlos und besteht darauf, dass die Familienaufstellung in Gänze dem Untergang geweiht werden muss. Gleichwohl gibt es in diesem Finale bittere und weniger bittere Todesarten und schönere und weniger schöne Leichen. Im Feldlager der britischen Truppen bei Dover ist am nächsten Morgen schon viel Betrieb. Unter dem Befehl von Edmund laufen alle Fäden zusammen. Regan, die durch ihres Mannes Tod eine freie Witwe ist, stichelt eifersüchtig gegen die Schwester Goneril. Die macht aus ihrer Eifersucht kein Hehl und setzt uns, kaum hat sie die Schwester erblickt, unmissverständlich in Kenntnis von der Lage der Dinge.

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Goneril (beiseit) Eh’ daß mir diese Schwester ihn entfremdet, Möcht’ ich die Schlacht verlieren. (V,1)

Albanien, ihr Gemahl, gibt Grundsätzliches für die Schlacht zu bedenken. Man geht zur Beratung in ein Zelt ab, aber da kommt der verkleidete Edgar und hält Albanien kurz zurück. Er drückt ihm die Briefe Gonerils in die Hände, die von ihrer Mordabsicht sprechen. Wenn er Hilfe brauche, soll er ihn durch den Herold rufen lassen. Schneller kreuzweiser Wechsel: Albanien geht zum Lesen ab, Edmund tritt zum kleinen Monolog auf. Edmund Den beiden Schwestern schwur ich meine Liebe, Und beide hassen sich, wie der Gestochne Die Natter. Welche soll ich nehmen? Beide? Ein’ oder Keine? – Keiner werd’ ich froh, Wenn Beide leben. Mir die Wittwe nehmen, Bringt Goneril von Sinnen, macht sie rasend, Und schwerlich komm’ ich je zu meinem Ziel, So lang’ ihr Gatte lebt. Gut, nutzen wir Sein Ansehn in der Schlacht; ist die vorüber, Mag sie, die gern ihn los wär’, weiter sinnen, Ihn schnell hinwegzuräumen. (V,1)

Soviele Intrigen und Uneinigkeit auf Seiten der Briten lassen für die Französische Seite aufs gute Ende hoffen. Die Bühnenschlacht ist kurz, so kurz wie keine sonst bei Shakespeare. Edgar bringt den Vater unter einem Baum in Sicherheit. (Edgar geht ab) (Getümmel, Schlachtgeschrei; es wird zum Rückzug geblasen) (Edgar kommt zurück) Edgar Fort, alter Mann, gebt mir die Hand, hinweg! – Lear ist besiegt, gefangen sammt der Tochter, Gebt mir die Hand: nur fort! – (V,2)

Die Schlacht als solche, der Kampf der Guten gegen die Bösen, scheint Shakespeare unwichtig zu sein. Edmund tritt als Sieger auf und befiehlt, den König und Cordelia in strenge Haft wegzuführen. Die beiden ergeben sich wechselseitig in ihr Los. Bei Lear scheint sich ein neuer Wahnsinnausbruch vorzubereiten. Heimlich schickt Edmund einen Hauptmann hinterher, der sich schnell auf Beförderung bereit erklärt, die beiden im Gefängnis zu töten. Trompeten

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ertönen, und die Schwestern plus ein verbliebener Ehemann erscheinen. Albanien, im Hause Lear jetzt der oberste Herr im Clan, fordert die Gefangenen für sich. Edmund will sie nicht herausrücken und vertröstet ihn auf morgen. Jetzt mischen auch die Schwestern keifend mit. Im Wissen um die noch vor der Schlacht gelesenen Briefe seiner Frau lässt Albanien einen Herold verkünden: „Wenn irgendein Mann von Stand oder Rang im Heer wider Edmund, den angeblichen Grafen von Gloster, behaupten will, er sei ein vielfacher Verräther, der erscheine beim dritten Trompetenstoß; er ist bereit, sich zu vertheidigen.“ (V,3)

Albanien inszeniert nun ein schnelles mittelalterliches Ritterspiel. Edgar tritt bewaffnet auf, also mit geschlossenem Visier. Edmund tritt für sich selber als Kämpfer gegen den Beschuldiger auf. Er akzeptiert seinen unbekannten Gegner. Lüge gegen Wahrheit! Getümmel; sie fechten; Edmund fällt. Noch einmal dürfen wir auf ein Ende ohne Schrecken hoffen. Albanien konfrontiert seine Frau mit ihrem Brief, in dem sie seinen Tod fordert. Wütend geht sie ab. Edgar gibt sich dem sterbenden Bruder Edmund und Albanien zu erkennen und schildert den Tod ihres blinden Vaters so ergreifend, dass der böse Edmund im Tode richtig gerührt wird. In dem Augenblick, als Edgar anfängt von der Begegnung der beiden Väter und von dessen Schutzgeist des Königs, von Kent, zu erzählen, kommt ein Edelmann mit einem blutigen Messer hereingestürzt und vermeldet das Hintergrundsdrama. Goneril habe Regan vergiftet und sich dann erstochen. Das findet der sterbende Edmund fast erbaulich. Edmund Ich war verlobt mit Beiden: alle Drei Vermählt jetzt ein Moment. (V,3)

Während die Dreieinigkeit des Bösen auf der Bühne schicklich arrangiert wird, kommt, wie schon von Edgar angekündigt, Kent hereingestolpert, um sich vom König zu verabschieden. Er ist elend und sterbenskrank. Da fällt Albanien glatt wieder ein, dass er über dem Trubel um den Feldherrn, seine Frau und seine Schwägerin die Hauptsache aus den Augen verloren hat. Albanien So Großes ward vergessen! – Sprich, Edmund, wo ist Lear? Wo ist Cordelia? (V,3)

Cordelia • 587

Es ist schon fast peinlich wie butterweich der schwarze Schurke im Sterben wird. Edmund Nach Leben ring’ ich. Gutes möcht’ ich thun, Trotz meiner eignen Art. Schickt ungesäumt – O eilt euch! – auf das Schloß: denn mein Befehl Geht auf des Königs und Cordeliens Leben. (V,3)

Trotz des Tumults gibt er, damit alles seine Richtigkeit hat, zur Beglaubigung an den Hauptmann sein Schwert mit. Damit nach seinem Tod keine Unklarheiten bezüglich des Aufhängens aufkommen können, bekennt er, bevor er weggetragen wird, noch ganz sachlich fürs Protokoll: Edmund Er [der Hauptmann] hat Befehl von deinem Weib [Goneril] und mir, Cordelien im Gefängnis aufzuhängen, Und der Verzweiflung dann die Schuld zu geben, Daß sie sich selbst entleibt. (V,3)

Damit ist Edmund hinüber; sein Tod, so Albanien später, ist nicht wichtig hier. Wichtig ist des Königs und der Cordelia Auftritt. Beide sind, bevor der Offizier mit dem Schwert überhaupt auf dem Schloss sein kann, schon vor Ort zu ihrem letzten Auftritt, weil der alte Lear tatsächlich den Hauptmann erschlagen hat. Damit war ihr Weg frei. Aber beider Auftritt ist dennoch kein Bild der Freiheit, sondern ein Bild des Schreckens und des Jammers für das verbleibende Trio des Rechts und der Gerechtigkeit, für Edgar, Albanien und Kent. Lear kommt, seine Tochter Cordelia todt in den Armen tragend. Lear Heult, heult, heult, heult! O ihr seid All’ von Stein! Hätt’ ich eur’ Aug’ und Zunge nur, mein Jammer Sprengte des Himmels Wölbung! – Hin auf immer! Ich weiß, wenn Einer todt und wenn er lebt: Todt wie die Erde! Gebt ‘nen Spiegel her; Und wenn ihr Hauch die Fläche trübt und streift, Dann lebt sie. Kent

Ist dieß das verheißne Ende?

Edgar Sinds Bilder jenes Grau’ns?

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zu König Lear, Akt 5, Szene 3

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Albanien

Brich, Welt, vergeh! – (V,3)

Das umgekehrte Vesperbild, das uns Shakespeare als Schluss des Leidens und Sterbens der Passionsgeschichte Cordelias anbietet, ist überwältigend. Sie zahlt für die Sünden und Verbrechen einer gottlos finsteren Welt, aber anders als die Mutter im biblischen Vorbild bleibt der Vater der dramatischen Schöpfung gefangen in den Verstrickungen dieser Welt; erneut macht sich Wahnsinn breit. Lear Fluch über euch, Verräther, Mörder, All’! – Ich konnt’ sie retten; nun dahin auf immer! Cordelia, Cordelia! Wart’ ein wenig, ha! Was sprachst du? – Ihre Stimme war stets sanft, Zärtlich und mild; ein köstlich Ding an Fraun. – Ich schlug den Sclaven todt, der dich gehängt. (V,3)

Lear entkommt nicht aus den Wirrungen seines Patriarchats, aus den Zwangsvorstellungen bezüglich seiner Töchter. Cordelia muss in seinen Armen sterben; ihr Tod hintertreibt seine letzten Versuche, in dem ganzen Gefüge der Welt einen Sinn zu finden. Sie waren und sind vergeblich. Keine seiner Töchter gelangt zum Thron. Edgar, der Sohn des blinden Gloster, tritt in die Rechte der Töchter ein und wird bei aller Rechtschaffenheit den Druck der trüben Zeit weitertragen als neuer Patriarch. Lears Prognose auf die Zukunft, auf den Kern der Tragödie, ist nicht optimistisch. Lear – O, du kehrst nimmer wieder, Niemals, niemals, niemals, niemals, niemals! – […] Seht ihr dieß? Seht sie an! – Seht ihre Lippen, Seht hier, – seht hier! – (er stirbt) (V,3)

Ins desillusionierende Ende der Tragödie bricht für die leidende Kreatur, für die geschundene Menschheit kein Hoffnungsstrahl. Ob Shakespeare heimlich katholisch oder öffentlich protestantisch war, spielt keine Rolle im Ende dieses Stücks ohne jeglichen metaphysischen Schimmer. Die Frage ist nach Lage der Dinge irrelevant. Das Wunder dieses Lebens wird nicht auf Zukunft, sondern auf Vergangenheit gerechnet. Der alte Kent, der auf dem Weg zu seinem Meister in den Tod ist, zieht eine nüchterne Bilanz seines königlichen Lebens.

590 • Cordelia

Kent Das Wunder ist, daß ers ertrug so lang: Sein Leben war nur angemaßt. (V,3)

Cordelia, die ihr Herz besonders im Beginn ohnehin nie auf der Zunge hatte, schweigt schon lange in diesem Stück. Ihr reicher Schatz an Vaterliebe und Güte bleibt auch im Ende stumm, ist in des Vaters Armen stille Antwort als reine Liebe auf sein Leid. In Analogie zu Marias totem Sohn ist das moderne Vesperbild vielleicht auch Antwort auf alles Leid der Welt – aber Andacht fordert es nicht. Des Vaters Leben war „Anmaßung“. deutsche Übersetzung: Wolf Graf Baudissin 1) Shakspeares Maedchen und Frauen. Mit Erlaeuterungen von H. Heine. Paris: H. Delloye, Leipzig: Brockhaus, Avenarius 1839 (Auslieferung im November 1838) 2) [Charles Heath] The Shakspeare Gallery. Containing the principal female characters … 1836/1837 3) Frank Günther, Bd.14, S. 336 4) Frank Günther, Bd.14, S. 278 5) Julius Bab: Shakespeare. Wesen und Werke, Union Deutsche Verlagsgesellschaft: Stuttgart / Berlin / Leipzig 1925, S. 245 6) Günter Jürgensmeier, S. 575–614 7) Günter Jürgensmeier, S. 615–617 8) Georg Friedrich Lichtenberg: Briefe aus England, Dritter Brief.

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Lady Macbeth Macbeth (1605 / 1606)

designed by Alfred Edward Chalon and engraved by H. Cook

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Der Brief, den Lady Macbeth im breiten Gürtel stecken hat, ist von ihrem Gemahl, dem Anführer des königlichen Heeres, der sich in der Schlacht für König Duncan von Schottland ausgezeichnet hat. Lady Macbeth (liest) „Sie begegneten mir am Tage des Sieges; und ich erfuhr aus den sichersten Proben, daß sie mehr als menschliches Wissen besitzen. Als ich vor Verlangen brannte, sie weiter zu befragen, verschwanden sie, und zerflossen in Luft. Indem ich noch, von Erstaunen betäubt, da stand, kamen die Abgesandten des Königs, die mich als Than von Cawdor begrüßten; mit welchem Titel mich kurz vorher diese Zauberschwestern angeredet, und mich durch den Gruß: Heil dir, dem künft’gen König, auf die Zukunft verwiesen hatten. Ich habe es für gut gehalten, dir dieß zu vertrauen, meine geliebteste Theilnehmerin der Hoheit, auf daß dein Mitgenuß an der Freude dir nicht entzogen werde, wenn du nicht erfahren hättest, welche Hoheit dir verheißen ist. Leg’ es an dein Herz und lebe wohl!“ (I,5)

Wer sind „Sie“, von denen der Brief spricht, den Lady Macbeth bei ihrem Auftritt mittendrin laut (vor)zulesen beginnt? Das ist für den Zuschauer kein Rätsel, weil er in den vorhergehenden Szenen die „Zauberschwestern“ in Aktion gesehen und gehört hat, was sie Macbeth prophezeit haben. Macbeths geliebte Frau ist damit bestens im Bilde über die merkwürdigen Einflüsterungen der seltsamen Frauen, die die Sprecherangabe klar als „Hexen“ bezeichnet. Lady Macbeth zweifelt keine Sekunde daran, dass die Weissagung eine Selbstverpflichtung ist. Man muss ihr aktiv nachhelfen. Was bei Macbeth diffuse Vorstellungen erregt, ist für seine Frau eine klare Ansage. Lady Macbeth Glamis bist du; und Cawdor; und sollst werden; Was dir verheißen ward: – Doch fürcht’ ich dein Gemüth; Es ist zu voll von Milch der Menschenliebe, Das Nächste zu erfassen. Groß möchtst du seyn, Bist ohne Ehrgeiz nicht; doch fehlt die Bosheit, Die ihn begleiten muß. Was recht du möchtest,

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Das möchtst du rechtlich; möchtest falsch nicht spielen, Und unrecht doch gewinnen: möchtest gern Das haben, großer Glamis, was dir zuruft: „Dieß mußt du thun, wenn du es haben willst!“ – Und was du mehr dich scheust zu thun, als daß Du ungethan es wünschest. Eil’ hieher, Auf daß ich meinen Muth ins Ohr dir gieße; Und Alles weg mit tapfrer Zunge geißle, Was von dem goldnen Zirkel dich zurückdrängt, Womit Verhängniß dich und Zaubermacht Im voraus schon gekrönt zu haben scheint. – – (I,5)

Soweit die schöne Vorrede zu vielen schlechten Taten. Die „Milch der Menschenliebe“ wird sie seinem Wesen, das durchaus ehrgeizig ist, entschieden austreiben und ihren „Mut“ wird sie ihm „ins Ohr“ gießen. Die Meldung eines Boten, dass König Duncan sich zu Besuch für heute angesagt hat, beflügelt sie in ihren Plänen. Sie freut sich darauf, Königin von Schottland zu werden; aber ein wenig nachhelfen kann nicht schaden. Noch bevor Macbeth zu Hause eintrifft, ist ihr Plan reif. Lady Macbeth – Kommt, Geister, die ihr lauscht Auf Mordgedanken, und entweibt mich hier; Füllt mich von Wirbel bis zur Zeh’, randvoll, Mit wilder Grausamkeit! Verdickt mein Blut; Sperrt jeden Weg und Eingang dem Erbarmen, Daß kein anklopfend Mahnen der Natur Den grimmen Vorsatz lähmt; noch friedlich hemmt Vom Mord die Hand! Kommt an die Weibesbrust, Trinkt Galle statt der Milch, ihr Morddämonen! Wo ihr auch harrt in unsichtbarer Kraft Auf Unheil der Natur! (I,5)

Das ist atemberaubend, wie Shakespeare eine Situation, die in seiner Vorlage von Raphael Holinshed sich über Jahre erstreckt, zeitlich so zusammenrafft, dass sie in ein paar Bühnenminuten explodiert. Macbeth kommt, die Frau gratuliert zu den Beförderungen und in vier Repliken ist klargestellt, wie es in dieser Nacht weitergeht. Lady Macbeth Wohl versorgt Muß der seyn, der uns naht; und meiner Hand Vertrau’ das große Werk der Nacht zu enden,

Lady Macbeth • 595

Daß alle künft’gen Tag’ und Nächt’ uns lohne Allein’ge Königsmacht und Herrscherkrone! (I,5)

Weil man vermutlich von draußen schon König Duncan mit seinen Söhnen und Gefolge kommen hört, vertagt man eine genauere gemeinsame Besprechung des Komplotts auf später. Vorerst wird der König freundlich von der Lady begrüßt, und schon sitzt er mit seinen Leuten beim Abendessen zu Tisch. Macbeth stiehlt sich weg vom Essen und sinniert abseits darüber, was zu tun ist. Er fängt ein wenig wie Hamlet zu denken an, aber sein Verstand ist eben nicht wie Hamlets Art. Er ist schnell wieder bei der Tat, aber dann zögert er doch wie Hamlet. Lady Macbeth schleicht ihm nach und merkt sofort, wie er von des Gedankens Blässe angekränkelt ist. Mit Verweis auf ihre Liebe und geschickt platzierten Sophismen weiß sie ihn in die Enge zu treiben. Ihre beidseitige Liebe ist in zynischer Weise echt und wahr – sie sind das einzige wirklich glückliche Ehepaar Shakespeares –, aber man darf diese Liebe nicht falsch instrumentalisieren. Lady Macbeth – Von jetzt an denk’ ich Von deiner Liebe so. Bist du zu feige, Derselbe Mann zu seyn in That und Muth, Der du in Wünschen bist? Möcht’st du erlangen, Was du den Schmuck des Lebens schätzen mußt, Und Memme seyn in deiner eignen Schätzung? (I,7)

Und überhaupt, warum hast du mir von dieser Hexengeschichte erzählt? Bis dato warst du ein Mann, aber jetzt, wo die Situation so günstig ist, kneifst du plötzlich. Schau mich an; und jetzt geht sie so frontal auf ihn los, stellt sich in derart grelle Beleuchtung, dass sie ab jetzt jeden Versuch unsererseits zu Nichte macht, ihr Handeln auch nur ansatzweise verstehen zu können. Es ist einfach nur niedrig und gemein und monströs. Ich wäre, sagt sie, anders als du in einer vergleichbaren Situation. Lady Macbeth Ich hab’ gesäugt, und weiß, Wie süß, das Kind zu lieben, das ich tränke; Ich hätt’, indem es mir entgegen lächelte, Die Brust gerissen aus den weichen Kiefern, Und ihm den Kopf geschmettert an die Wand, Hätt’ ichs geschworen, wie du dieses schwurst. (I,7)

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Macbeth lässt die Ungeheuerlichkeit einfach an sich abperlen und wendet kleinlaut ein: Macbeth Wenns uns mißlänge, – (I,7)

Seine Bedenken sind nicht moralischer, sondern praktischer Art. Nie und nimmer wird das sein, beteuert sie. Und so wird das ablaufen. Lady Macbeth

Wenn Duncan schläft, Wozu so mehr des Tages starke Reise Ihn einlädt – seine beiden Kämmerlinge Will ich mit würz’gem Weine so betäuben, Daß des Gehirnes Wächter, das Gedächtniß, Ein Dunst seyn wird, und der Vernunft Behältniß Ein Dampfhelm nur – Wenn nun im vieh’schen Schlaf Ertränkt ihr Daseyn liegt, so wie im Tode, Was können du und ich dann nicht vollbringen Am unbewachten Duncan? was nicht schieben Auf die berauschten Diener, die die Schuld Des großen Mordes trifft? (I,7)

Wozu Hamlet fünf Akte braucht, für Macbeth ist die Tat nun beschlossene Sache, und aus ihr wächst das weitere Drama. Es ist schon nach Mitternacht, als der Kollege Banquo und sein Sohn noch im Schlosshof eintreffen. Auf ein Gespräch über die Zauberschwestern – Banquo hat von den Hexen auch einen Orakelspruch erhalten – lässt sich Macbeth um diese Uhrzeit nicht mehr ein. Er bittet beide in Begleitung eines Dieners zu Bett. Die Kämmerlinge haben von der Lady höchstpersönlich ihren scharf gewürzten Schlaftrunk erhalten, so dass Macbeth sich ganz auf seine Schreckenstat konzentrieren kann. Ein phantasierter Dolch, der vor ihm schwebt, weist ihm den Weg zum Schlafzimmer des Königs. In Realisierung dieses Selbstgesprächs mit dem Dolch hat die Regie eine gute Möglichkeit Ambitionen und Intentionen zu zeigen. Er steigt hinauf und Lady Macbeth tritt unten auf. Sie zittert mit den Zuschauern, sie phantasiert den Mord am König, den Shakespeare hier mit Absicht nicht zeigt. Shakespeare, der vor Morden auf offener Bühne selten zurückschreckt, hat wohl seinen Grund, warum er den Mord nur in einer Art Mauerschau zeigt, warum wir „die finster fortzeugende Untat“1 nur auf indirekte Weise zu sehen be-

Lady Macbeth • 597

kommen. Beim fiebrigen Warten lässt uns Lady Macbeth aber wissen: Lady Macbeth – Hätt’ er nicht Geglichen meinem Vater, wie er schlief, So hätt’ ichs selbst gethan. – (II,1)

Das ist zwar ein leicht menschelndes Eingeständnis, aber wir wissen mit dieser Rührseligkeit zu ihrer Entlastung wenig anzufangen. Sie ist auch sofort wieder sachlich, als Macbeth kommt und meldet: Macbeth Ich hab’ die That gethan. – (II,1)

Aber der ansonsten tatenfrohe Kriegsheld wirkt geknickt ob seiner heimtückischen Tat. Die Lady ist wieder ganz Mann und wischt seine Skrupel vom Tisch. Lady Macbeth Dieser Thaten muß Man so nicht denken; so macht es uns toll. (II,1)

Das ist ein durchaus prophetisches Wort in eigener Sache. Aber im Augenblick gilt es klaren Kopf zu behalten. Lady Macbeth Mein würd’ger Than, Du läßt den edeln Muth erschlaffen, denkst du So hirnkrank drüber nach. Nimm etwas Wasser, Und wasch von deiner Hand das garst’ge Zeugniß! – Was brachtest du die Dolche mit herunter? Dort liegen müssen sie; geh, bring’ sie hin, Und färb’ mit Blut die Kämm’rer, wie sie schlafen. (II,1)

Dazu ist er partout nicht mehr zu bewegen. Der Mann, der schon viele Tote gesehen hat, auch viele, die er selber totgeschlagen hat, weigert sich, noch einmal ins Schlafzimmer des Königs zu gehen. Lady Macbeth O schwache Willenskraft! Gieb mir die Dolche! Schlafende und Todte Sind Bilder nur; der Kindheit Aug’ allein Scheut den gemalten Teufel. Wenn er blutet, Färb’ ich damit der Diener Kleider roth; So tragen sie des Mords Livrei. (sie geht ab) (II,1)

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Und kommt bald wieder aus der Mordkammer und will sich wie Macbeth die Hände waschen. Es fällt kein Wort über den König, den sie jetzt nicht mehr schlafend wie ihren Vater, sondern in seinem Blut gesehen hat. Für Lady Macbeth wird es der einzige Gemordete sein, den ihr das Stück von Angesicht zu Angesicht zumutet, aber wir vermuten eine Wirkung auf nagende Dauer. Im Augenblick ist sie gefasst und entschieden. Lady Macbeth (es wird geklopft) Horch, wieder Klopfen. Thu’ an dein Nachtkleid; müssen wir uns zeigen, Daß man nicht sieht, wir wachten! – Verlier’ dich nicht So ärmlich in Gedanken! (II,1)

Normalerweise nähert sich ein Stück Mitte des dritten Akts einem Wendepunkt in seiner Geschichte. Aber wir sind erst in der Mitte des zweiten Akts, und mit dem Königsmord, der seinem Bedeutungsgehalt nach ein Gottesmord ist, taumelt der Held in die Kata­ strophe, sprich in seinen Untergang. Das ist im vorliegenden Fall eine ziemlich langwierige und unübliche dramatische Strecke. Bei Othello steht die Doppeltat des Mordes an Desdemona und seine Selbsttötung nicht am Anfang, sondern am Ende seines Wegs. Auch Hamlets Absturz in die Tat erzwingt erst das Ende; die Ermordung des Polonius ist eher fahrlässige Tötung. „Kurz“, so Friedrich Gundolf, „nur im Macbeth wächst Shakespeares jeweilige Schöpfung aus dem Samen der einen Tat … nur hier ist die Licht- und Schattenquelle die eindeutige Schuld, der einmalige Nu dem alles zudrängt, Versuchung, Skrupel, Anlaß, Hemmnis und dem alles weitere entspringt, Furcht, Reue, Wut, Schmach und Greuel über Greuel.“2

Kaum ist die Tat entdeckt, ersticht Macbeth die beiden Kämmerlinge und spielt den Söhnen des Königs, Macduff und Banquo vor, er habe das aus einem spontanen Wutanfall heraus getan. Zwei potentielle Täter sind zum Schweigen gebracht, aber wenn sich Macbeth umschaut, sieht er sich von Argwohn und Zweifel umgeben. Die Königssöhne beschließen sofort die Flucht nach vorne, der eine nach Irland, der andere nach England. Auch wenn sie ihre Flucht verdächtig macht, so haben sie damit ihre Haut gerettet. Macduff, der Kriegskollege, ist reserviert und Banquo glaubt an Aufklärung des Falles durch eine penible Untersuchung. Wie auch immer die

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Spekulationen laufen – die Kämmerlinge waren gedungene Mörder der Söhne des Königs –, da der vom König ernannte Nachfolger sich verabschiedet hat, ist fürs erste der größte Stein ohne Zutun übersprungen. Macbeth wird zum König gekürt. Das Ziel ist vorerst erreicht, aber Banquo zwingt ihm am Krönungstage dummerweise die immer noch ausstehende Unterredung über die Weissagungen der Zauberschwestern auf. Banquo Du hasts nun, König, Cawdor, Glamis, Alles, Wie dirs die Zauberfrau’n versprachen; und ich fürchte, Du spieltest schändlich drum. Doch ward gesagt, Es solle nicht bei deinem Stamme bleiben; Ich aber sollte Wurzel sein und Vater Von vielen Kön’gen. Kommt von ihnen Wahrheit (Wie, Macbeth, ihre Wort’ an dich bestät’gen), Warum, bei der Erfüllung, die dir ward, Soll’n sie nicht mein Orakel gleichfalls seyn Und meine Hoffnung kräft’gen? Still, nichts weiter! – (III,1)

Das wird vermutlich leise ins Ohr geflüstert, aber es ist ziemlich vorlaut, und Banquo hätte Macbeth besser nicht daran erinnert. Er verabschiedet sich auf einen kleinen Ausritt mit seinem Sohn ­Fleance, verspricht aber zum Festmahl am Abend zurück zu sein. Was er natürlich nicht weiß, ist, dass die zwei Männer, die ihm beim Verlassen des Schlosses am Tor begegnen, seine beiden Mörder sind. Sie sind schon zum König bestellt, weil sich Macbeth seinen Rücken frei schaufeln will. Macbeth – In Banquo wurzelt Tief unsre Furcht; in seinem Königssinn Herrscht was, das will gefürchtet seyn. […] Außer ihm ist Keiner, Vor dem ich zittern muß; und unter ihm Beugt sich mein Genius scheu, wie, nach der Sage, Vor Cäsar Mark Antonius Geist. (III,1)

Da rechtfertigt sich einer, indem er seiner Bosheit viel zu weite Kleider anlegt, um sie zu beschönigen. Genug, Banquo wird den Abend beim Festmahl nur noch als sein eigener Geist auf König Macbeths Stuhl erleben. Sein Sohn Fleance entwischt ärgerlicherweise den Mördern.

600 • Lady Macbeth

Lady Macbeth fühlt sich ein wenig aus der Geschichte verdrängt. Dass es zur Krönung gekommen ist, daran hat sie redlich mitgewirkt. Sie will ein wenig feiern und ihr neues Glück als Königin auch genießen. Lady Macbeth Nichts ist gewonnen, Alles ist dahin, Stehn wir am Ziel mit unzufriednem Sinn: (III,2)

Macbeth ist vermutlich zum ersten Mal seiner Frau gegenüber nicht aufrichtig. Er spielt, obwohl er entschlossene Aufträge erteilt hat und wieder in seiner professionellen mörderischen Spur ist, den Skrupulösen, den sie trösten muss. Lady Macbeth Oh, laß gut seyn! Mein liebster Mann, die Runzeln glätte weg; Sei froh und munter heut mit deinen Gästen. (III,2)

Das will er tun, bittet aber, dass sie Banquo heute mit besonderer Aufmerksamkeit begegnen solle. Ihre neugierige Nachfrage, was er vorhabe, bleibt unbeantwortet. Macbeth Unschuldig bleibe, Kind, und wisse nichts, Bis du der That kannst Beifall rufen. (III,2)

Im Abgehen fällt dann ein bemerkenswerter Kommentarsatz, der klüger ist als sein Sprecher und in nuce das Drama auf den Punkt bringt. Macbeth Things bad begun make strong themselves by ill. (III,2)

Mit seiner Übersetzung durch Dorothea Tieck hadern wir. Macbeth Sündentsproßne Werke Erlangen nur durch Sünden Kraft und Stärke. (III,2)

Aber auch Frank Günthers Übersetzung kann uns nicht wirklich begeistern. Macbeth was bös begann, Zieht sich allein durch Böses Kräfte an. (III,2)

Am treffendsten scheint uns aber Schiller in seiner nachdichtenden Übersetzung des „Macbeth“ zu sein.

Lady Macbeth • 601

Macbeth Was blutig anfing, mit Verrat und Mord, Das setzt sich nur durch blutge Taten fort! Damit laß dir genügen! (III,6)

Diese Übersetzung entstand im Januar bis Anfang April 1800, und an dieser Stelle mochte der Zeit seines Lebens Shakespeare bewundernde Klassiker an eine sprichwörtlich gewordene Stelle aus seinem „Wallenstein“ anknüpfen. Das eben ist der Fluch der bösen That, Daß sie, fortzeugend, immer Böses muß gebähren.  (Die Piccolomini, V,1)

Die Tafel im Prunksaal ist gedeckt, aber das Fest wird ein Desaster. Als die Macbeths die Gäste begrüßen wollen, kommt der erste Mörder zur Seitentüre herein und bringt eigentlich eine gute Botschaft für Macbeth. Mörder Herr, seine Kehle Ist durchgeschnitten; – das that ich für ihn. (III,4)

Macbeth ist über die Nachricht erfreut, aber als er hört, dass der Sohn Fleance entkommen konnte, wird er ziemlich sauer. Einer weniger, aber der junge Banquo bleibt eine Gefahr in der Zukunft. Lady Macbeth spürt instinktiv, dass ihr Gatte nicht gut drauf ist und ermahnt ihn, sich um seine Gäste zu kümmern. Lady Macbeth Mein königlicher Herr, Ihr seid kein heitrer Wirth. Das Fest ist feil, Wird nicht das Mahl durch Freundlichkeit gewürzt, Durch Willkomm erst geschenkt. Man speist am besten Daheim; doch auswärts macht die Höflichkeit Den Wohlgeschmack der Speisen: nüchtern wäre Gesellschaft sonst. (III,4)

Mit einer Antwort in reizendem Konversationston zeigt sich Macbeth auch von einer geradezu liebenswerten Seite. Macbeth Du holde Mahnerin! – Nun, auf die Eßlust folg’ ein gut Verdauen, Gesundheit beiden! (III,4)

Man bittet Macbeth sich obenan an die Tafel zu setzen. Aber da passiert etwas völlig Unerwartetes, das niemand sieht außer Macbeth

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und die Zuschauer. Banquos Geist kommt und setzt sich auf Macbeths Platz. Der reagiert zunächst sehr souverän, indem er Banquos Fehlen leicht tadelnd entschuldigt. Aber man drängt darauf, dass der König Platz nehmen soll. Aber wo? Und jetzt fällt Macbeth doch aus der Rolle. Er kann doch nicht annehmen, dass die Gäste den blutverschmierten Geist auf seinem Stuhl nicht sehen. Empört fragt er / schreit er in die Runde. Macbeth Wer von euch that das? (III,4)

Die Herrschaften verstehen natürlich nichts, weil sie nichts sehen. Und eben so wenig verstehen sie Macbeth, als er den Geist anredet. Macbeth Du kannst nicht sagen, daß ichs that. O, schüttle Nicht deine blut’gen Locken gegen mich! (III,4)

Mord oder Auftragsmord, Schandtat ist Schandtat, aber den Anwesenden erklärt die Königin, um die Situation zu retten, dass Macbeth immer wieder einmal derart komische Anfälle hatte. Die Gäste setzen sich wieder auf ihre Plätze, und die Lady zischelt Macbeth ins Ohr: Lady Macbeth

– Bist du ein Mann? (III,4)

Die Frage empört ihn und er entgegnet trotzig, aber mit leiser Stimme: Macbeth Ja, und ein kühner, der das wagt zu schauen, Wovor der Teufel blaß wird. (III,4)

Nichtsahnend von dem Mord an Banquo, bezieht die Königin seine Rede auf die Mordnacht an Duncan. Lady Macbeth

Schönes Zeug! Das sind die wahren Bilder deiner Furcht; Das ist der luft’ge Dolch, der, wie du sagtest, Zu Duncan dich geführt! – Ha! dieses Zucken, Dies Starr’n, Nachäffung wahren Schrecks, sie paßten Zu einem Weibermärchen am Camin, Bestätigt von Großmütterchen. – O, schäme dich! Was machst du für Gesichter! denn am Ende; Schaust du nur auf ‘nen Stuhl. (III,4)

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Schau doch hin, sagt Macbeth. Siehst du denn nichts? Die Lady sieht natürlich nichts, und Macbeth wendet sich fordernd an den Geist. Macbeth Was sagst du? – Ha! meinethalb! Wenn du kannst nicken, sprich auch! […] (der Geist geht fort) (III,4)

Kopfschütteln bei der Königin, nochmalige Beteuerung durch Macbeth, der sich dann in krudesten Haarspaltereien verliert. Macbeth Blut ward auch sonst vergossen, schon vor Alters, Eh’ menschlich Recht den frommen Staat verklärte; Ja, auch seitdem geschah so mancher Mord, Zu schrecklich für das Ohr: da wars Gebrauch, Daß, war das Hirn heraus, der Mann auch starb, Und damit gut. Doch heutzutage stehn sie wieder auf, Mit zwanzig Todeswunden an den Köpfen, Und stoßen uns von unsern Stühlen: Das Ist wohl seltsamer noch als solch ein Mord. (III,4)

Was er da vor sich leise hingedacht hat, ist die banale Wahrheit des Augenblicks, dass der Geist seinen Stuhl am Esstisch besetzt hat, aber – Stuhl steht im Plural – dass der Geist auch seinen Königsthron beansprucht. Vorerst kommt Macbeth aus seinem Teufelskreis nur durch ein energisches Wort der Königin: Lady Macbeth Mein König, ihr entzieht euch Euren Freunden. (III,4)

Macbeth kommt zu sich und entschuldigt sich bei den Gästen, und mit knapper Not scheint die Situation gerettet. Da kommt der Geist wieder, und schon fällt Macbeth wieder aus der Rolle. Macbeth Hinweg! – Aus meinen Augen! – Laß Die Erde dich verbergen! Marklos ist dein Gebein, dein Blut ist kalt; Du hast kein Anschaun mehr in diesen Augen, Mit denen du so stierst. […] Hinweg! gräßlicher Schatten!

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Unkörperliches Blendwerk, fort! (Geist entweicht) (III,4)

Jetzt sieht auch die Königin ein, dass da keine Feierstimmung mehr aufkommt, und sie bricht das Gastmahl ab. Lady Macbeth

Ihr habt die Lust Verscheucht, und die Geselligkeit gestört, Durch höchst fremdart’ge Grillen. […] Ich bitt’ euch, sprecht nicht; er wird schlimm und schlimmer; Fragen bringt ihn in Wuth. Gut’ Nacht mit eins! Beim Weggehn haltet nicht auf euern Rang, Geht All’ zugleich! (III,4)

Gegen diesen Skandal beim Krönungsdinner der schottischen Royals verblassen alle Kalamitäten der Royals von heute zu einer quantité négligeable. Weiter nicht berichtenswert! Aber hörenswert ist dann doch, was im leeren Haus von den Eheleuten noch gesprochen wird. Macbeth kommt sofort wieder zur Sache. Macbeth Es fordert Blut, sagt man: Blut fordert Blut. (III,4)

Das bezieht Lady Macbeth ziemlich sicher auf König Duncan, und Macbeth erzählt ihr auch jetzt nichts von Banquos Geist. Er macht ein neues Fass auf und frägt nach Macduff. Er traut ihm nicht mehr über den Weg. Macbeth Was sagst du, daß Macduff zu kommen weigert, Auf unsre Ladung? […] Morgen will ich hin, Und in der Frühe zu den Zauberschwestern: Sie sollen mehr mir sagen; denn gespannt Bin ich, das Schlimmst’ auf schlimmstem Weg zu wissen. Zu meinem Vortheil muß sich alles fügen; Ich bin einmal so tief in Blut gestiegen, Daß, wollt’ ich nun im Waten stille stehn, Rückkehr so schwierig wär’, als durch zu gehn. Seltsames glüht im Kopf, es will zur Hand, Und muß gethan seyn, eh’ noch recht erkannt. (III,4)

Das ist das Arbeitsprogramm für den morgigen Tag. Die Königin quittiert es mit einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Es ist

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ihr letzter Satz im Stück, den sie bei geistiger Zurechnungsfähigkeit spricht. Lady Macbeth Dir fehlt die Würze aller Wesen, Schlaf. (III,4)

Wohlgesprochen, denkt Macbeth und sagt entschlossen: Macbeth Zu Bett! – Daß selbstgeschaffnes Graun mich quält, Ist Furcht des Neulings, dem die Übung fehlt – Wahrlich, wir sind zu jung nur. – (III,4)

Wie gut die junge Bösewichtin und der noch unerfahrene Bösewicht schlafen, lässt Shakespeare offen. Da Lady Macbeth in ihrem nächsten und letzten Auftritt nicht mehr ganz bei Verstand ist, hat sie vermutlich nicht gut geschlafen und der junge Anfänger Macbeth nur sehr kurz, denn die Nacht ist schon „im Kampf fast mit dem Tag“. Während die Macbeths schlafen, bekommen die Hexen von ihrer Chefin Hekate einen Anpfiff und den Befehl, den König morgen früh mit Zaubersprüchen und Gaukelwerk zu erwarten. Sie ihrerseits muss sich noch auf ein Unheilswerk konzentrieren, das spätestens um die Mittag erledigt sein will. Genau so kommt es dann auch. Macbeth erhält wieder zweideutige Prophezeiungen. Macbeth! Macbeth! Macbeth! scheu’ den Macduff, Scheue den Than von Fife! – Sei blutig, kühn und frech; lach’ aller Toren, Dir schadet keiner, den ein Weib geboren: Macbeth wird nie besiegt, bis einst hinan Der große Birnams Wald zum Dunsinan Feindlich emporsteigt. (IV,1)

Das passt, sagt sich Macbeth mit einiger Befriedigung. Den Macduff wollte er ohnehin heute Mittag besuchen. Nach dem, was die Hexen sagen, heißt das: „Du sollst sterben“ (IV,1). Die weiteren Punkte sind zu vernachlässigen. Wer ist nicht vom Weibe geboren? Wortklauberei ist nicht Sache eines Haudegens. Und dass der Wald anfängt spazieren zu gehen, das macht mich lachen. Bleibt noch ein Punkt: Banquo und seine Nachkommen. Die Hexen haben einen kleinen Hexenzauber mit acht Königen vorbereitet, denen Banquo folgt. Macbeth ist nicht wohl bei der Show. Aber als er nachfragen will, löst sich der Hexenzauber auf.

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Da wird ihm gemeldet, dass Macduff nach England geflohen ist. Gott sei Dank hat er wenigstens Lady Macduff und seine Kinder dagelassen. Nichts wie hin! Macbeth Die Burg Macduffs will ich jetzt überfallen; Fife wird erobert und dem Schwert geopfert Sein Weib und Kind, und alle armen Seelen Aus seinem Stamm. Das ist nicht Thorenwuth; Es ist gethan, eh’ sich erkühlt mein Blut. – Nur keine Geister mehr! – (IV,1)

Blinde Wut und Eiseskälte schließen sich nicht aus, wenn sich der König gefährdet sieht und endgültig zum Tyrannen mausert. Der Tiefpunkt allen Gottesgnadentums, aller heldischen Verklärung ist erreicht, wenn das Scheusal Macbeth dem dritten Richard die Hand im Geiste gibt. Shakespeare führt uns das Massaker auf offener Bühne vor. Mit Absicht und Berechnung und nicht nur aus Sensationslust mutet er uns nach einer rührenden Mutter-Kind-Szene einen bestialischen Mord zu, der Macbeth definitiv ins Abseits zu den Verworfenen aussortiert. Mörder Verrätherbrut!

(ersticht das Kind)

Sohn

Er hat mich umgebracht! Mutter, ich bitte dich, lauf fort! Lady Macduff (entflieht und schreit) Mord! (Die Mörder verfolgen sie) (IV,2)

Nachdem sich die schottischen Asylanten – der Königsohn Malcolm und der königliche Heerführer Macduff – in England diplomatisch sortiert und auf einen gemeinsamen Heerzug verbündet haben, bringt der schottische Edelmann Rosse dem Macduff die schwer in Worte zu fassende Nachricht: Rosse Dein Schloß ist überfallen; Weib und Kinder Grausam gewürgt – die Art erzählen, hieße Das Trauerspiel von deines Hauses Fall Mit deinem Tod beschließen. (IV,3)

Der Mann schluckt und kann es nicht glauben, und die Schauspieler sind um diese Szene nicht zu beneiden.

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Macduff Er hat keine Kinder! All’ die süßen Kleinen? Alle, sagst du? – O Höllengeier! – Alle! Was! all’ die holden Küchlein, sammt der Mutter, Mit Einem wilden Griff? (IV,3)

Malcolm nutzt die Gunst der Stunde, die nach Rache schreit und die ihm den Thron seines Vaters Duncan zurückerobern kann. Malcolm Macbeth ist reif zur Ernte, und dort oben Breiten ew’ge Mächte schon das Messer. (IV,3)

Der beginnende fünfte Akt zeigt anschaulich, was passiert, wenn der Schlaf, die Würze aller Wesen, fehlt. Wie viele schlaflose Nächte seit dem verhängnisvollen Krönungsbankett vergangen sind, bleibt offen. Offen bleibt auch, wann Macbeth von dem Besuch bei den Hexen und seiner Schlächterei im Hause Macduffs zurückkam. Wann hat Lady Macbeth davon erfahren? Das gilt auch für den Mord an Banquo. Stand der Dinge ist, dass Macbeth sich ziemlich konsequent von seiner Frau zurückgezogen hat. Sie wird aus welchen Gründen auch immer aus dem Zentrum an den Rand gedrängt. Was mit ihr passiert ist, darüber hören wir ihre Kammerfrau mit ihrem Hausarzt sich unterreden. Seit Macbeth in den Krieg gezogen ist – Malcolm und Macduff sind also längstens vor Dunsinan, dem Schloss Macbeths, aufmarschiert –, ist Lady Macbeth jede Nacht schlafwandelnd unterwegs. Das sei bedenklich, meint der Arzt, denn die Wohltat des Schlafes zu genießen und gleichzeitig die Geschäfte des Wachens zu verrichten, deute auf eine große Zerrüttung der Natur. Über die Dinge, die die Königin dabei laut spreche, will die Kammerfrau nichts aussagen. Sie scheinen aber sehr schrecklich. Da kommt die Lady mit einer Kerze in der Hand, die immer an ihrem Bett brennen muss. Sie hat die Augen offen, aber ganz offensichtlich schläft sie, denn ihre Sinne sind geschlossen. Dass sie sich die Hände reibt, sei ihre gewöhnliche Gebärde, erklärt die Kammerfrau. Jetzt beginnt sie zu sprechen, und der Arzt versucht aufzuschreiben, was sie sagt. Lady Macbeth Fort, verdammter Fleck! fort, sag’ ich! – Eins, Zwei! Nun, dann ist es Zeit, es zu thun. – Die Hölle ist finster! – Pfui, mein Gemahl, pfui! ein Soldat und furchtsam! Was haben

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wir zu fürchten, wer es weiß, da niemand unsre Gewalt zur Rechenschaft ziehen darf? – Aber wer hätte gedacht, daß der alte Mann noch so viel Blut in sich hätte? (V,1)

Der Kammerfrau und dem Arzt mag der alte Mann vielleicht noch ein Rätsel sein, der Zuschauer weiß Bescheid und weiß, dass ein schlafender Vater und ein blutverschmierter toter König doch zweierlei Bilder sind und einen hirnkrank machen können. Dann notiert der Arzt: Lady Macbeth Der Than von Fife hatte ein Weib: Wo ist sie nun? – Wie, wollen diese Hände denn nie rein werden? –Nichts mehr davon, mein Gemahl, nichts mehr davon; du verdirbst alles mit diesem Auffahren. (V,1)

Im Original klingt das fast lustig, weil „fife“ und „wife“ so naiv aufeinander reimen. Aber die Frage, wo Lady Macduff sei, lässt aufhorchen. Hat er ihr die Geschichte doch erzählt? Bedeutet ihr „Nichts mehr davon“ mehr als nur „nichts mehr erzählen und hören“, sondern „aufhören“ zu morden? Weiß sie etwas vom Mord an den Kindern der gemordeten Frau auf Macduffs Schloss? Wir werden es nie mit Sicherheit erfahren. Was der Zuschauer aber zweifelsfrei widerlegt bekommt, ist der Lady Irrglaube, dass man mit ein wenig Wasser But abwaschen und von der Tat freisprechen könne. Lady Macbeth Noch immer riecht es hier nach Blut; alle Wohlgerüche Arabiens würden diese kleine Hand nicht wohlriechend machen. Oh! oh! oh! (V,1)

Da hört der Arzt zu schreiben auf. Er erklärt sich für diese Krankheit unzuständig. Den beiden Lauschern wird noch ein weiteres Selbstgespräch geliefert, das sie halb verstehen und nicht verstehen. Lady Macbeth Wasch’ deine Hände, leg’ dein Nachtkleid an; sieh doch nicht so blaß aus – Ich sage es dir noch einmal, Banquo ist begraben, er kann aus seiner Gruft nicht heraus kommen. (V,1)

Macbeth hat es ihr offensichtlich doch erzählt, dass er Banquo im Auftrag getötet hat. Dann aber kommt die Schlafwandlerin noch einmal auf die Mordnacht, auf den gemeinsamen ersten Sündenfall zurück. Lady Macbeth Zu Bett, zu Bett! Es wird ans Thor geklopft. Komm, komm,

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komm, komm, gieb mir die Hand! – Was geschehn ist, kann man nicht ungeschehn machen – Zu Bett, zu Bett, zu Bett! (sie geht ab) (V,1)

Das war das letzte Wort der Königin im Stück. Verdis Oper „Macbeth“ hält sich relativ genau an die Vorlage. Durch die musikalische Überhöhung gerät die „Scène du Somnambulisme“ schnell in Gefahr, eine hassenswerte Täterin als bemitleidenswertes Opfer durchgehen zu lassen. Applaus, Vorhang! – Über ihr Ende werden wir bei Shakespeare in kurzen Einsprengseln unterrichtet, während sich der apokalyptische Endkampf vorbereitet und die Hexensprüche nach und nach eingelöst werden. Macbeth hat sich zunächst auf seinem Schloss verschanzt. Er kann leicht abwarten, bis der Wald von Birnam zu marschieren beginnt. Die zehntausend anrückenden Krieger aus England können ihn nicht beunruhigen. Wer unter denen sollte nicht vom Weibe geboren sein? Macbeth baut auf seine zwei Hexenlose, in denen er Glückslose sieht. Er ist ab jetzt wieder so professionell mörderisch wie in alten Dienstzeiten beim alten König. Er kommandiert, er schreit, wird seine Gegner wieder „vom Nabel auf zum Kinn“ aufschlitzen. Das hat er gelernt, damit ist er zu Ruhm gekommen und zum Helden geworden. Jetzt ist er kein Mörder, sondern wieder Soldat. Soldaten sind keine Mörder. Macbeth Ich will fechten, Bis mir das Fleisch gehackt ist von den Knochen. Gebt meine Rüstung mir! […] Wer Furcht nennt, wird gehängt. – Bringt mir die Rüstung! – (V,3)

Dann schreit er plötzlich den Arzt an. Macbeth Was macht die Kranke, Arzt? Arzt Nicht krank sowohl, Als durch gedrängte Phantasiegebilde Gestört, der Ruh’ beraubt. Macbeth Heil’ sie davon! Kannst nichts ersinnen für ein krank Gemüth? […]

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Arzt Hier muß der Kranke selbst das Mittel finden. Macbeth Wirf deine Kunst den Hunden vor, ich mag sie nicht. – (V,3)

Der Arzt wünscht sich nichts sehnlicher, als von Macbeths Schloss Dunsinan verschwinden zu können. Während die Belagerer sich zur Tarnung Äste und tragbare Bäume abschlagen, gibt es plötzlich großes Wehgeschrei in Macbeths Schloss. Ein Offizier in seinem Gefolge vermeldet in schneidigem Ton etwas, was der König zähneknirschend und unwirsch abtut. Seyton Die Kön’gin, Herr, ist todt. Macbeth Sie hätte später sterben können; – es hätte Die Zeit sich für ein solches Wort gefunden. – (V,5)

Wenn die Ehe der Macbeths tatsächlich einmal eine gute Ehe gewesen sein sollte, in einer solchen Reaktion ist davon nichts mehr zu spüren. Aber diese Frage wie auch die nach Kindern des Ehepaars sind müßig, weil Shakespeare die 17 Jahre währende Herrschaft auf eine zügige Abfolge von wenigen Wochen konzentriert hat. Was Shakespeare aber mit dieser zynischen Haltung zeigen will, ist die Entwicklung einer ohnehin schon problematischen Kämpfernatur zu einem stumpfsinnigen Mörder und Schlächter, der sich selber alles um sich mitreißend in einen sinnlos schäbigen Tod stürzt. Macbeth Morgen, und morgen, und dann wieder morgen, Kriecht so mit kleinem Schritt von Tag zu Tag, Zur letzten Sylb’ auf unserm Lebensblatt; Und alle unsre Gestern führten Narr’n Den Pfad des stäub’gen Tod’s. – Aus! kleines Licht! – Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild; Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht Sein Stündchen auf der Bühn’, und dann nicht mehr Vernommen wird: ein Mährchen ists, erzählt Von einem Dummkopf, voller Klang und Wuth, Das nichts bedeutet. – (V,5)

Kaum hat er seinen Lebensekel ausgekotzt, kommt ein Bote und meldet die Seltsamkeit, dass sich der Wald von Birnam auf Schloss

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Dunsinan zubewegt. Jetzt rundet sich Ekel und Abscheu zum apokalyptischen Gesamtbild. Macbeth Das Sonnenlicht will schon verhaßt mir werden; O! fiel’ in Trümmern jetzt der Bau der Erden! Auf! läutet Sturm! Wind, blas’! heran, Verderben! Den Harnisch auf dem Rücken will ich sterben. (V,5)

Mit offener Brust fordert er seinen Tod heraus in der falschen Sicherheit der Hexenprophezeiung. Macbeth Wo ist er, der nicht ward vom Weib geboren? (V,7)

Der junge Siward ist es scheinbar nicht; er holt sich unmittelbar seinen Tod durch Macbeths Schwert, der eine Lösung nach Römerart verwirft. Macbeth Weshalb sollt’ ich den Röm’schen Narren spielen, Sterbend durchs eigene Schwert? (V,7)

Seine Hybris und Vermessenheit will herausgefordert werden, am besten alle gegen ihn. Er ist ja unverwundbar. Macduff ist der nächste, und beider Zorn und Wut sind tödlich. Macbeth Mein Leben ist gefeyt, kann nicht erliegen Einem vom Weib Gebornen. Macduff So verzweifle An deiner Kunst; und sage dir der Engel, Dem du von je gedient, daß vor der Zeit Macduff geschnitten ward aus Mutterleib! (V,7)

Der „Engel“ ist natürlich der gefallene Engel, ist „Lucifer“, ist der Teufel der Hölle. Da sinkt Macbeth das Schwert und der Mut. Die Vorstellung jedoch, die Macduff androht, als Monster auf Jahrmärkten gezeigt zu werden, ist noch schrecklicher als der Tod. Er stürzt sich ihm kämpfend entgegen und sie verschwinden hinter der Szene, auf der nun Malcom mit Gefolge und Soldaten auftritt. Der alte Siward wird für seinen toten Sohn geehrt. Er nimmt es trocken wie ein Kriegsmann. Siward Mancher muß drauf gehn; doch, so viel ich sehe, Ist dieser große Tag wohlfeil erkauft. (V,7)

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Das Hexenorakel hat sich bewahrheitet. Macduff kommt mit Macbeths Kopf auf einer Stange und huldigt Duncans Sohn Malcom als Schottlands neuem König. Der spricht wie in allen Historien einen konventionellen Dank und ernennt die schottischen Thans zu englischen Grafen, ruft dazu auf, die durch den Tyrannen verbannten Freunde zurückzuholen und die Helfer „des Bluthunds und seiner höllischen Königin“ dingfest zu machen. Sie habe, so sei zu hören, „gewaltsam selbst ihr Leben geendet“. Ansonsten, letzte Information: Malcolm Und jetzt zur Krönung lad’ ich euch nach Scone. (Trompeten. Alle ab) (V,7)

Von einem Ehedrama des Schlächters und der Teufelskönigin kann zusammenfassend keine Rede sein. Von einer „Tragödie um einen ruhmvollen Krieger, der nach einer Prophezeiung zum Verbrecher und Tyrannen wird“, wie ein Programmbuch für ein jugendliches Publikum plakativ meint, kann auch nur sehr bedingt gesprochen werden. Wir sehen heute weit und breit keine „ruhmvollen Krieger“, und auch Macbeth war keiner. Er war schon ein Schlächter, bevor ihn seine Frau zum Sadisten machte. Die Rede des hinkenden und blutverschmierten Boten ganz zu Beginn des Dramas, das wir auch keine Tragödie nennen sollten – wieso sollte Macbeth nach allem, was wir gehört haben, ein tragischer Held in einem schicksalhaften Konflikt sein? –, verdient einige Aufmerksamkeit. Einem „scheußlichen Gemetzel“ entronnen, berichtet er in zweifelhaft hochtrabender Sprache. Hauptmann Denn Held Macbeth, – wohl ziemt ihm dieser Name Das Glück verachtend, mit geschwungnem Stahl, Der heiß von Blut und Niederlage dampfte, Er, wie des Krieges Liebling, haut sich Bahn, Bis er dem Schurken gegenüber steht; Und nicht eh schied noch sagt’ er Lebewohl, Bis er vom Nabel auf zum Kinn ihn schlitzte, Und seinen Kopf gepflanzt auf unsre Zinnen. (I,2)

Der blutende Krieger sieht ihn wie ein Krieger, sieht ihn nicht grausam, sondern wie Macbeth sich selbst als professionell mörderisch, als großen, militärisch effizienten Menschenschlächter. Die „Milch der Menschenliebe“, die Lady Macbeth ihrem Mann unterstellt, of-

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fenbart sich hier sicherlich nicht. Einmal Schlächter – immer Schlächter? Selbst aus Zeiten, in denen Kriegern noch leichter Kriegerdenkmale errichtet wurden als heute, tönt lauter Abscheu. Friedrich von Bodenstadt, weitgereist, polyglott und Shakespeareübersetzer und Inszenator weiß nur ein eindeutiges Urteil. „Nicht Einen Zug von Herrscherweisheit, Gerechtigkeit und Milde hat ihm der Dichter gegeben; seine Größe liegt einzig in der Größe seiner Verbrechen, in der Rücksichtslosigkeit, womit er sie ausführt, in seinem titanischen Egoismus, womit er Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um seinen Zwecken zu dienen.“3

Welch ein Missverständnis zu glauben, Shakespeare mute uns ironiefrei einen „ruhmvollen Krieger“ von solchem Zuschnitt zu. Musste dieser Mann erst durch seine höllische Königin auf die schiefe Bahn geschubst werden? Nein! Die Beiden haben sich wunderbar ergänzt. Shakespeare hat eine grandiose Dialogpartnerin des Bösen aus seiner Vorlage bei Holinshed gezaubert, in der sie nur mit einem lapidaren Halbsatz vorkommt. „aber vor allem hörte seine Frau, ein stolzes, ehrsüchtiges Weib voll brennender Begierde, Königin zu werden, nicht eher auf, ihm zuzusetzen, bis sein Entschluss fest war.4

Ein Dauermonolog des abgrundtief Bösen als dramatische Form, ein Monodrama aus Monologen eines senilen Menschenfeinds, ein Einpersonenstück à la Samuel Becketts „Letztem Band“ oder Günther Eichs Hörspiel „Man bittet zu läuten“, „Ein Bericht an eine Akademie“, den der Führer im Führerbunker diktiert, war selbst für das dramatische Genie Shakespeare eine Theaterutopie. Er löste es mit seinen Mitteln im Dialog und fand sich zu seinem Handlungsgerüst eine zweite Story bei Holinshed über „König Duffes Ende“,5 aus der er sich für sein Bild der Lady Macbeth weitere Anregungen holte. Der Rest, also fast alles, war dann seine Leistung. Er behauptet eine schreckliche Wahrheit, nämlich die, dass die Schlange im Paradies beide zum Abfall von Gott verführt hat und dass Eva wie Adam, Macbeth wie seine Lady aus dem Paradies vertrieben wurden. Der bauernschlaue Ulrich Bräker ist schon auf der richtigen Spur, wenn er augenzwinkernd die „schwarze Entschlossenheit“ von Lady Macbeth ins biblische Gleichnis setzt: „Ei, wann die listige Schlange erst die Eva hat, weh dir dann, Adam!“6

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Er erliegt nur dem Vorurteil, dass es die Frau sei, die den Mann ins Unglück stürzt. Shakespeare macht keine solche Rollenverteilung; in dieser Hinsicht sind sie wirklich „ein Fleisch“. Seit dieser Ursünde ist kein fester Grund gelegt für deren Kinder durch den Tod anderer, durch das Blut des Bruders. Kain ist kein Held, sondern ein Verbrecher. Macbeth und seine Lady müssen sich nicht in einem schicksalhaft tragischen Konflikt nolens volens für den Tod von König Duncan entscheiden. Es sind „nur“ die Hexen, der Engel Luzifer, die listige Schlange, falscher Ehrgeiz, die aus unheroischen Menschen furchtgetriebene „Böse“ machen. Für Lady Macbeth sind nicht einmal die Hexen das Problem. Ihr sind sie nicht begegnet. Shakespeare behauptet das Böse als eine mythologische Grundkraft und nicht als eine psychologische, und deshalb verstehen wir einmal mehr Harold Bloom nicht, wenn ihn angesichts des „toten Bluthund[s] und seiner höllischen Königin“ Zweifel befallen. Man kann nicht dem neuen König Malcolm Recht geben und dann doch hinterhermaulen: … „und doch murrt etwas in uns dagegen, irgendwie scheint uns dieses Urteil über die beiden unangemessen.“7

Das im Unterschied zum Guten eifrigere Böse kann ansteckend und faszinierend sein, aber es verdient im vorliegenden Exempel keinerlei mildernde Umstände. Sogar die Berliner, stellt Heinrich Heine im einschlägigen Porträt fest, haben einsehen gelernt, „daß die jute Macbeth eine sehr bese Bestie sint.“8 deutsche Übersetzung: Dorothea Tieck 1) Friedrich Gundolf, Bd.II, 398 2) Friedrich Gundolf, Bd.II, 399/400 3) Friedrich von Bodenstedt, S. 315 4) Günter Jürgensmeier, S. 627 5) Günter Jürgensmeier, S. 632 6) Ulrich Bräker, S. 33 7) Harold Bloom, Tragödien, S. 236 8) Heinrich Heine, (2014) S. 125

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Kleopatra

Antonius und Kleopatra (1606 / 1607)

designed by Kenny Meadows and engraved by W. J. Edwards

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86 v. Chr. 14. Januar: Marcus Antonius wird geboren (vielleicht auch im Jahre 83 oder 82 v. Chr.) 69 v. Chr. Kleopatra VII. Philopator wird in Alexandria geboren 48 v. Chr. 27. Juli: Gaius Julius Cäsar landet in Alexandria. Dort macht er die Bekanntschaft der jungen Königin Kleopatra. Beginn einer leidenschaftlichen Liebesbeziehung mit Kleopatra, aus der die beiden ein Kind mit dem Namen Cäsarion hatten (geb. 47 v. Chr). 44 v. Chr. 15. März: Gaius Julius Cäsar wird ermordet (Alter 56) 44 v. Chr. 19 März: Die Eröffnung von Cäsars Testament sorgt für eine Überraschung. Es bestimmt den jungen Octavius zu Cäsars Haupterben und zum posthumen Adoptivsohn. 42 v. Chr. Okt./Nov: Doppelschlacht bei Philippi; Antonius und Octavius Cäsar besiegen die Cäsarmörder Cassius und Brutus. Sie regeln, vertraglich besiegelt, die Aufteilung ihrer künftigen Aufgaben und Neuverteilung ihrer Machtbereiche. Der Westen ist für Octavius, der Osten für Antonius, der Norden Afrikas für den dritten Triumvir Lepidus. Ägypten ist (noch) ein unabhängiges Königreich. 42/41 v. Chr. Winter: Antonius geht als Privatmann nach Griechenland 41 v. Chr. Jahresbeginn: Antonius lässt sich bei seinem Einzug in Ephesos als Neuer Dionysos verehren 41 v. Chr. Sommer: Antonius lässt Cleopatra nach Tarsos in Kilikien (Türkei) vorladen. Die Ankunft wird von Plutarch anschaulich beschrieben 41/40 v. Chr. Winter: Antonius reist nach Ägypten und verbringt – anders als früher Cäsar – als Privatmann ohne Militärbegleitung den Winter, um den Alexandrinern zu demonstrieren, dass er ihre Unabhängigkeit achte. Kleopatra hält ihren Geliebten ständig bei Laune durch die Anmut ihres Wesens und den Liebreiz ihrer Stimme.

Plutarch schreibt:

„Dort in Alexandria vergeudete er unter den Belustigungen und Scherzen eines müßigen Knaben das kostbarste Gut, die Zeit. [...] Kleopatra aber wusste Antonius, ob er sich nun mit ernsten oder heiteren Dingen beschäftigte, mit immer neuen Verführungskünsten vollständig zu bestricken und ließ ihn weder bei Nacht noch bei Tag los. Sie würfelte, zechte, und jagte mit ihm, sah ihm zu, wenn er sich in Waffen übte, und strich mit ihm, als Dienerin verkleidet, des Nachts umher, wenn er an die Fenster und Türen armer Leute klopfte und die im Haus neckte.“ 1

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An dieser Stelle von Plutarchs Geschichte setzt Shakespeares Stück ein. Wir sind im Palast der Königin Kleopatra in Alexandria. Zwei Gefolgsleute des Antonius tauschen sich diskret über ihren verliebten Feldherrn aus. Philo Nein, dieser Liebeswahnsinn unsres Feldherrn Steigt übers Maaß. Die tapfern, edlen Augen, Die über Kriegsreih’n und Legionen glühten, So wie der erzne Mars, sie heften sich Und wenden ihrer Blicke Dienst und Andacht Auf eine braune Stirn: sein Heldenherz, Das im Gewühl der Schlachten sonst gesprengt Die Spangen seiner Brust, fällt ab zur Schmach, Und ist zum Fächer worden, und zum Blas’balg, Die lüsterne Zigeun’rin abzukühlen. Seht da, sie kommen! (I,1)

Die beiden treten in den Hintergrund und man hört, nachdem die Trompeten verklungen sind, Philo flüstern. Philo Bemerkt ihn recht, so seht ihr dann in ihm Des Weltalls dritte Säule umgewandelt Zum Narren einer Buhlerin; schaut hin und seht! – (I,1)

Mit „Weltall“ übertreibt es der Übersetzer vielleicht doch ein wenig, aber die dritte Säule des römischen „Weltreichs“ klingt auch nicht gerade unbescheiden. Allerdings fehlt darin noch eine Perle: das Ptolemäerreich, das Zauberland Ägypten, das von verführerischer Hand regiert wird. Von römischen Rassismen frei, fährt Antonius’ Soldatentugend gleich gegen die Wand, indem er seiner Liebe sofort eine kosmische Dimension verleiht. Kleopatra Ists wirklich Liebe, sag’ mir denn, wie viel? Antonius Armsel’ge Liebe, die sich zählen ließe! – Kleopatra Ich will den Grenzstein setzen deiner Liebe! Antonius So mußt du neue Erd’ und Himmel schaffen. (I,1)

Von solchen Höhen ist schwer in irdische Wirklichkeiten zu kommen, und entsprechend unwirsch reagiert Antonius auf einen

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Boten aus Rom mit Nachrichten vom „milchbärtigen“ Octavius Cäsar und/oder von Fulvia, seiner „zänkischen“ Frau. Kleopatra weiß ihn durchaus mit spitzen Bemerkungen zu ärgern, weil ihr klar ist, dass Antonius nach Rom zurückbeordert werden soll. Aber Antonius bleibt auf dem heroischen Podest und trompetet im erhabenen Stil: Antonius Schmilz in die Tiber, Rom! Der weite Bogen Des festen Reichs, zerbrich! Hier ist die Welt, Thronen sind Staub: – die koth’ge Erde nährt Wie Mensch, so Thier: der Adel nur des Lebens Ist, so zu thun, wenn solch ein liebend Paar – (umarmt sie) Und solch Zwillings-Gestirn es darf: worin (Bei schwerer Ahndung wisse das die Welt), Wir unerreichbar sind. (I,1)

Kleopatra reizt ihn weiter mit dem Gesandten und stichelt eifersüchtig gegen ihn mit Fulvia; er windet sich in hohen Worten. Dann erinnert sich Shakespeare seiner Vorlage, daran was im Plutarch steht, und er lässt Antonius sagen: Antonius Kein Bote! Einzig dein, und ganz allein! – Zu Nacht durchwandern wir die Stadt und merken Des Volkes Launen. Komm, o Königin, Noch gestern wünschtest du’s. – Sprecht nicht zu uns! (I,1)

Sie strolchen durchs nächtliche Alexandrien und erinnern dabei ein wenig an ein ähnliches Paar, an Theseus und Hippolyta. Der Bote traut sich natürlich nichts mehr zu sagen, und die beiden römischen Herren im Hintergrund schütteln bedenklich die Köpfe. Demetrius Wie! schätzt Antonius Cäsarn so gering? Philo Zu Zeiten, wenn er nicht Antonius ist, Entzieht sich ihm die große, würd’ge Haltung, Die stets ihn sollte schmücken. (I,1)

Dieser ersten Szene folgen – je nach Zählung – 37 oder mehr Bilder. Das Karussell macht die, die mitfahren, leicht schwindelig. Shakespeares Stück spielt in Rom, Athen, Alexandria, bei Aktium (Westküste Griechenlands), in Misenum (beim heutigen Neapel), Mes-

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sina, auf der Galeere von Sextus Pompejus, in Syrien, Ägypten und im Grabmal von Kleopatra. Der zeitliche Rahmen des Stücks sind die Jahre von 40-30 v. Chr., und die Handlung ist in ihrer Sprunghaftigkeit schwer durchschaubar und setzt eigentlich eine gute Portion klassisches Schulwissen voraus. Mit Erstaunen stellt man fest, dass römische Legionäre, Galeeren und Feldherrn in bewundernswerter Geschwindigkeit durch ihr Weltreich reisen, dass sich Shakespeares Abziehbilder auf der Bühne aber geradezu in einem Geschwindigkeitsrausch bewegen, als stünde vor jeder Haustüre ein Privatjet zum Abflug bereit. Dass sie wie nebenbei zehntausende Soldaten, Reiterei und tausende Galeeren, Kriegsschiffe und Millionen Tonnen Material wie auf einem Monopoly-Spielfeld verschieben, muss dem elisabethanischen Publikum eine Anmutung wie im Zeitraffer gewesen sein. Aber vielleicht war die zeitliche und handlungsmäßige Verdichtung und zerstreuende Mannigfaltigkeit auch eine Zumutung, denn ein Erfolgsstück scheint „The Life of Antony and Cleopatra“ zu Lebzeiten des Dichters nicht gewesen zu sein. „Boten“ sind auf dem Theater zumeist unbedeutende Rollen, aber um Nachrichten schnell zu vermitteln, sind sie so hilfreich wie ein Handy heute. Der Bote meldet sich, obwohl ihn Antonius abgewiesen hatte, am nächsten Tag noch einmal zu Wort. Er bringt Nachricht von den Kriegen seiner Frau Fulvia, und diesmal ist der Feldherr aufnahmebereiter, weil er etwas beschämt ist von seiner gestrigen Arroganz gegen den Nachrichtenübermittler. Der entschuldigt sich vorab für schlechte Nachrichten, und Antonius bittet, ihn nicht zu schonen. Die Nachrichten von General Quintus Labienus, der ihm zusammen mit den Parthern die Kontrolle über Syrien entrissen hat, macht ihn unangenehm darauf aufmerksam, dass er seine Feldherrnpflichten vernachlässigt hat. Darüber kommt er ins Sinnieren. Antonius – Die starke egypt’sche Fessel muß ich brechen, Sonst geh’ in Lieb’ ich unter. – (I,2)

Aber kaum ist der Bote abgegangen, kommt ein zweiter Bote mit einer persönlich schmerzhaften Nachricht. Zweiter Bote Fulvia, dein Weib, ist todt. Antonius

Wo starb sie?

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Zweiter Bote Herr, In Sicyon: Der Krankheit Dauer, und was sonst von Nachdruck Dir frommt zu wissen, sagt dieß Blatt. – (I,2)

Lesen, kurzes Gedenken, Verzeihen und der Vorsatz von eben wiederholt sich. Antonius Fliehn muß ich diese Zauberkönigin: Zehntausend Weh’n, und schlimmre, als ich weiß, Brütet mein Müßiggang. He! – Enobarbus! – (I,2)

Sein Faktotum und Freund in allen wichtigen Dingen und Entscheidungen steht zu Diensten, als hätte er hinter der Türe gelauscht. Antonius teilt ihm mit, dass er eilig fort müsse, dass seine Frau Fulvia tot sei, dass er die Führer verständigen solle. Antonius Ich verständ’ge dann Die Königin vom Anlaß dieser Eil, Urlaub von ihrer Liebe fordernd. (I,2)

Der Gang zu Kleopatra fällt Antonius sichtlich schwer, zumal sie schon ahnt, was kommen wird. Antonius Vernimm, Der Zeiten strenger Zwang heischt unsern Dienst Für eine Weile: meines Herzens Summe Bleibt dein hier zum Gebrauch. Unser Italien Blitzt rings vom Bürgerstahl; Sextus Pompejus Bedroht mit seinem Heer die Häfen Roms: […] Doch ein nährer Grund, Und der zumeist mein Gehn euch sollt’ entschuld’gen, Ist Fulvias Tod. (I,3)

Während man in Alexandria im Beisein der Dienerin Charmion noch wechselseitiges Theater zum Abschied spielt – ich habe es doch immer schon gewusst / nein, mit meinem Herzen bleib ich hier –, sitzen die beiden anderen Säulen des römischen Weltreichs, Octavius und Lepidus, in Rom zusammen und erörtern Antonius Verhalten aus ihrer römischen Sicht. Die ist vergleichsweise so, wie die eingangs von Philo und Demetrius abgegebene Einschätzung. Auch hier bringt ein Bote schlechte Nachrichten. Sextus Pompejus

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hat sich zusammen mit seinen Piraten ganz nebenbei eine stattliche Macht zur See aufgebaut und beherrscht nun Sardinien, Korsika und Sizilien. Man beschließt, etwas dagegen zu unternehmen, und hofft auf eine Rückkehr von Antonius nach Rom. Kleopatra hat Antonius ziehen lassen wie Frau Venus ihren Tannhäuser aus dem Venusberg, aber anders als dem Tannhäuser wird Antonius sein Aufenthalt in Rom schnell verziehen. Kleopatra aber sitzt verlassen in ihrem Palast und wünscht die Zeit seiner Abwesenheit durchzuschlafen. Wie lange wird er wegbleiben? Monate? Jahre? So lange kann kein Mensch schlafen. In entsprechend erregter Haltung zeigt uns der Künstler der obigen Abbildung die verlassene Königin jammern. Kleopatra O liebe Charmion, Wo denkst du dir ihn jetzt? sag, steht er? sitzt er? Wie, geht er wohl? Sitzt er auf seinem Pferd? O glücklich Pferd, Antonius Last zu tragen! Sei stolz, mein Pferd! Weißt du wohl, wen du trägst? Den halben Atlas dieser Erde, Schild Und Schutz der Welt! – Jetzt spricht er, oder murmelt: Wo weilst du, meine Schlang’ am alten Nil? Denn also nennt er mich. Jetzt weid’ ich mich Am allzusüßen Gift! Gedenke mein, Ob auch von Phöbus Liebesstichen braun, Und durch die Zeit gerunzelt! Als du hier Ans Ufer tratst, breitstirn’ger Cäsar, war ich Werth eines Königs: Held Pompejus stand Und ließ sein Aug’ auf meinen Brauen wurzeln, Da warf sein Blick den Anker ein, er starb Im Anschaun seines Lebens. (I,5)

Wer Julius Cäsar ist, bedarf keiner Erklärung. Wer Pompejus ist bzw. welcher Pompejus es war, darüber lässt sich streiten; jedenfalls nicht der obige Seepirat. Sie tut die Affären als Jugendsünden ab, als leichte Verirrungen aus ihren „salad days“, aus ihrer „Milchzeit“, ihren „krautköpfigen Jahren“. Mit denen ist Antonius nicht zu vergleichen, und wir sehen Richard Burton (Antonius) vor ihrem geistigen Auge, wie er das Bild von Rex Harrison (Cäsar) verdrängt. Sie bittet um Papier und Tinte und verspricht einen täglichen Liebesbrief an Antonius. In Messina sitzt Sextus Pompejus mit seinen Piraten und macht

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Sandkastenspiele. Wenn Antonius kommt, wie zu hören ist, dann wird er mit dem staubtrockenen Octavius schnell Streit suchen. Menas Ich glaube nie, Daß Cäsar und Anton sich freundlich grüßen. Sein Weib, nun todt, hat Cäsarn schwer gereizt (II,1)

Menas ist kein dummer Ratgeber, wie sich noch zeigen wird, aber es kommt anders. Plutarch schreibt: „Denn als er nach Italien kam, und Cäsar ihm sichtlich keine Schuld beimaß, sondern nur über Fulvia Klage führte, brachten die Freunde auf beiden Seiten einen vollständigen Ausgleich zustande, nach dem das Reich unter beide geteilt und der Ionische Meerbusen zur Grenze bestimmt wurde, während Lepidus im Besitz von Afrika blieb. Der Zufall bot ihnen eine noch stärkere Bürgschaft für ihr Verhältnis dar. Octavia, eine ältere Schwester Cäsars, die er zärtlich liebte, eine Frau von den vorzüglichsten Eigenschaften, war durch den Tod ihres Gatten Cajus Marcellus unlängst Witwe geworden. Es schien aber auch Antonius nach dem Tod Fulvias Witwer zu sein, da er zwar ein Verhältnis zu Kleopatra nicht leugnete, jedoch in diesem Punkt noch mit Vernunft gegen die Liebe ankämpfte. Alle schlugen nun die Vermählung der beiden vor in der Hoffnung, dass Octavia, die nicht nur Schönheit, sondern auch Würde und Geist besaß, die Liebe des Antonius gewinnen und zum allgemeinen Heil ein Band zwischen ihm und Cäsar knüpfen würde. Da der Vorschlag nun beiden gefiel, begaben sie sich nach Rom und vollzogen dort die Eheschließung.“2

40 v. Chr. Jahresmitte: Fulvia, die Frau von Marcus Antonius stirbt in Sikyon bei Korinth. (≈ 40) 40 v. Chr. Oktober: Antonius heiratet zur Bekräftigung des Paktes mit Octavius Cäsar dessen knapp 30-jährige, kürzlich verwitwete Schwester Octavia. Obwohl die Hochzeit mit viel Gepränge Ende des Jahres in Rom stattfand, war sie keine Liebesheirat, sondern eine rein politische Vernunftehe.

Die zweite Szene im zweiten Akt Shakespeares bietet uns – die Verhandlungen der Triumvirn, – die Absprache der Heirat von Antonius und Octavia – und den gemeinsamen Plan, mit dem Piraten Sextus Pompejus ins Gespräch zu kommen. Seine Flotte ankert vor Misenum (Neapel) und dort wolle man ihn treffen. Damit Kleopatra nicht vergessen sei, macht, nachdem die Trium-

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virn abgegangen sind, Enobarbus, Antonius’ Mann für alle Fälle, noch ein großes Fass auf. Er schildert dem staunenden Agrippa, Cäsars Freund, mit Hintersinn die erste Begegnung von Antonius und Kleopatra. Die Römer sollen ruhig ein wenig staunen. Plutarch schreibt:

„So fuhr sie den Cydnus in einem Boot mit vergoldetem Heck hinauf; die purpurnen Segel waren aufgespannt; silberne Ruder bewegten sich im Takt zu der Harmonie von Flöten, Syringen und Zithern. Sie selbst lag unter einem goldgestickten Baldachin, malerisch geschmückt wie Aphrodite; Knaben, den Amoretten auf Bildern ähnlich, standen auf beiden Seiten und fächelten ihr Kühlung zu. Ihre schönsten Dienerinnen, in den Gewändern von Nereiden und Grazien, befanden sich am Steuer und Tauwerk. Wunderbare Wohlgerüche erfüllten die Ufer. Die Menschen gaben ihr zu beiden Seiten des Flusses das Geleit; andere kamen ihr aus der Stadt entgegen, das Schauspiel zu sehen. Die Menge ergoss sich vom Markt hinaus, und Antonius selbst blieb schließlich allein auf dem Richterstuhl zurück. Und unter allen Leuten hörte man das Wort, Aphrodite komme in feierlichem Zug zu Dionysus zum Heile Asiens. Er schickte zu ihr und ließ sie zur Tafel laden, aber sie wollte lieber, dass er zu ihr käme; und da er sich ihr gleich anfangs freundlich zeigen wollte, gab er nach und kam. Er fand bei ihr eine unbeschreibliche Pracht, besonders staunte er über die Menge der Lichter.“3

Shakespeare dichtet daraus für Enobarbus – ut pictura poesis / Wie ein Bild sei das Gedicht – ein filmreifes Gemälde. Enobarbus Als sie den Marc Anton das erste Mal sah, stahl sie ihm sein Herz; es war auf dem Flusse Cydnus. […] Ich will’s berichten. – Die Bark’, in der sie saß, ein Feuerthron, Brannt’ auf dem Strom: getriebnes Gold der Spiegel, Die Purpursegel duftend, daß der Wind Entzückt nachzog; die Ruder waren Silber, Die nach der Flöten Ton Takt hielten, daß Das Wasser, wie sie’s trafen, schneller strömte, Verliebt in ihren Schlag; doch sie nun selbst, – Zum Bettler wird Bezeichnung: sie lag da, In ihrem Zelt, das ganz aus Gold gewirkt, Noch farbenstrahlender, als jene Venus, Wo die Natur der Malerei erliegt. Zu beiden Seiten ihr’ holdsel’ge Knaben,

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Mit Wangengrübchen, wie Cupido lächelnd, Mit bunten Fächern, deren Wehn durchglühte (So schiens) die zarten Wangen, die sie kühlten; Anzündend statt zu löschen. Agrippa

Ihm, welch Schauspiel! –

Enobarbus Die Dienerinnen, wie die Nereiden, Spannten, Sirenen gleich, nach ihr die Blicke, Und Schmuck ward jede Beugung; eine Meerfrau Lenkte das Steuer; seidnes Tauwerk schwoll Dem Druck so blumenreicher Händ’ entgegen, Die frisch den Dienst versah’n. Der Bark’ entströmend Betäubt’ ein würz’ger Wohlgeruch die Sinne Der nahen Uferdämme; sie zu sehn Ergießt die Stadt ihr Volk; und Marc Anton, Hochthronend auf dem Marktplatz, saß allein, Und pfiff der Luft, die, wär’ ein Leeres möglich, Sich auch verlor, Cleopatra zu schaun, Und einen Riß in der Natur zurückließ. Agrippa O wundervolles Weib! – Enobarbus Als sie gelandet, bat Antonius sie Zur Abendmahlzeit; sie erwiederte, Ihr sei willkommner, ihn als Gast zu sehn, Und lud ihn. Unser höflicher Anton, Der keiner Frau noch jemals Nein gesagt, Zehnmal recht schmuck barbirt, geht zu dem Fest, Und dort muß nun sein Herz die Zeche zahlen, Wo nur sein Auge zehrte. Agrippa

Zauberin! – (II,3)

So schreibt ein Genie ab, so schreibt es einen Plot der Weltgeschichte zur großen Dichtung um. Das sitzt und macht etwas her für die Römer. Aber Mäcenas sagt trocken: Mäcenas Nun muß Antonius sie durchaus verlassen! Enobarbus Niemals! Das wird er nicht! […]

andre Weiber

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Sätt’gen die Lust gewährend; sie macht hungrig, Je reichlicher sie schenkt (II,3)

So wird es kommen, und kaum hat Antonius Octavia nur einmal als Geliebte angesprochen, hören wir ihn zu sich sagen: Antonius Und schloß ich diese Heirath mir zum Frieden, Im Ost wohnt meine Lust. – (II,3)

Der arme Bote, der aus Rom Nachrichten nach Alexandria von Antonius Hochzeit bringen muss. Es wird ihm übel mitgespielt. Die

Abb. 19: William Etty (1787-1849): Kleopatras Ankunft in Kilikien (1821)

Szene ist dennoch lustig und grotesk komisch. Die eifersüchtige Königin schlägt ihn / schlägt ihn wieder / sie zerrt ihn hin und her / Zieht einen Dolch. Der Bote läuft weg. Dann kommt er wieder. Sie versucht erneut, das Gegenteil von ihm zu hören. Er bleibt dabei und verschwindet wieder. Sie schickt ihren Alexas hinterher mit einem Spezialauftrag. Kleopatra Geh zu dem Boten, mein Alexas, heiß ihn Octavias Züge schildern, ihre Jahre,

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Ihr ganz Gemüth: er soll dir nicht vergessen Die Farbe ihres Haars: gieb schnell mir Nachricht! (II,5)

Und nicht vergessen: Auch ihre Größe will ich wissen. Sie schickt ihren Eunuchen Mardian hinterher. Während Kleopatra wartet und wartet – Kleopatra bekam Zwillinge von Antonius und sollte ihn dreieinhalb Jahre nicht wiedersehen –, sitzen die drei Säulen des römischen Weltreichs mit dem Sextus Pompejus beim Monte Misenum zusammen. Im römischen Kriegshafen war damals einiges los, und schön ist Italia dort auch noch heute. Man hat einiges zu bereinigen und zu diesem Zweck Geiseln ausgetauscht – für alle Fälle, man weiß ja nie. Es geht hart zur Sache, aber als man sich endlich einig ist, sagt Pompejus kumpelhaft: Pompejus Ich lad’ euch All’ an Bord meiner Galeere; Wollt’ ihr vorangehn? (II,6)

Plutarch schreibt:

„Als die Unterhaltung am lebhaftesten und die Scherze auf Kleopatra und Antonius im besten Gange waren, trat der Pirat Menas dicht an Pompejus heran, dass die anderen ihn nicht hörten, und sagte: „Willst du, dass ich die Anker des Schiffes kappe und dich zum Herrn nicht nur Siziliens und Sardiniens, sondern des gesamten römischen Reiches mache?“ Pompejus hörte es an und sagte nach kurzem Bedenken: „Du hättest das tun sollen, o Menas, ohne mir davon vorher etwas zu sagen: nun wollen wir es lassen, wie es ist, denn eidbrüchig zu werden ist nicht meine Sache.“ Nachdem Pompejus dann seinerseits auch von den anderen beiden bewirtet worden war, segelte er nach Sizilien ab.“4

In der Tat, es ging hoch her in diesem ehrenwerten Haus, und das römische Weltreich wurde durch die Ehre eines Ganoven bei dieser teuflischen Sauferei noch kurz gerettet. Shakespeare fasst zusammen: Menas Mein Feldherr, vor dem Becher wahrt’ ich mich; Du bist, wenn du’s nur wagst, der Erde Zeus, Und was das Meer umgrenzt, umwölbt der Himmel, Ist dein, wenn du’s nur willst.

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Pompejus

So sag mir, wie? –

Menas Diese drei Weltentheiler, die Triumvirn, Faßt unser Schiff; ich kappe jetzt das Tau, Wir stoßen ab, ich greif ’ an ihre Kehle, Und dein ist Alles. Pompejus Ah! hättst du’s gethan, Und nicht gesagt! In mir ists Büberei, Von dir getreuer Dienst. Vergiß es nie, Mein Vortheil nicht geht meiner Ehre vor, Die Ehre ihm. Bereu’ es, daß dein Mund So deine That verrieth: Thatst du’s geheim, Dann hätt’ ichs, wenns geschehn, als gut erkannt, Doch nun muß ichs verdammen. – Vergiß, und trink! (II,7)

Die Dialektik von Vorteil und Ehre kann bis heute in vielen Fällen studiert werden. Der selbstlose Menas flucht in sich hinein, während die sturzbesoffenen Säulen der Welt über den schwankenden Steg heimwanken. Menas Hinfort Folg’ ich nie wieder deinem morschen Glück! Wer sucht, und greift nicht, was ihm einmal zuläuft, Findets nie wieder. (II,7)

Pompejus hatte zwar seinen Vertrag von Misenum, aber glücklich wurde er nicht mehr. Aus Shakespeares Stück verschwindet er, und 35 v. Chr. wird er in Milet hingerichtet. 39 v. Chr. Herbst: Antonius verlässt Italien und reist mit Octavia nach Athen, wo er mit ihr den Winter verbringt; er führt eine harmonische Ehe. Geburt der Tochter Antonia maior. 38 v. Chr. Frühjahr: Antonius beginnt mit energischen Rüstungen gegen die Parther. 37 v. Chr. Sommer: Bei Tarent treffen Octavius und Antonius zum letzten Mal aufeinander. Das Triumvirat wird im Vertrag von Tarent bis Ende 33 v. Chr. verlängert. 37 v. Chr. Herbst: Antonius segelt wieder in den Osten und schickt die erneut schwangere Octavia von Korkyra (Korfu) nach Italien zurück; diese Trennung sollte endgültig sein und seine zweite Tochter Antonia die Jüngere wird er nie sehen. 37/36 v. Chr. Winter: Antonius lädt Kleopatra nach Antiochia in Syrien ein

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und verbringt dort mit ihr den Winter 37/36 v. Chr. Er nahm seine Beziehung nicht nur aus erotischen Gründen wieder auf, sondern auch, um sich für den geplanten Partherkrieg die Hilfe des reichen Ägypten zu sichern.

In einer kurzen Szene blitzt zu Beginn des dritten Akts Syrien und der Krieg gegen die Parther auf. Für die eigentliche Handlung ist sie aber nicht wirklich notwendig. Dann sehen wir, wie sich Antonius mit Octavia von Bruder und Schwager Octavius Cäsar in Rom unter Tränen verabschiedet. Sie gehen nach Athen. In Alexandria bringt der Bote für Kleopatra Nachrichten vom Aussehen der Octavia. Die Beschreibungen fallen zu Kleopatras Zufriedenheit aus. Sie entschuldigt sich für ihre Bosheiten von letzthin. Der Bote ist’s zufrieden. Indessen gibt es Zwist im Hause Antonius in Athen. Octavius verhält sich nicht so, wie es sich nach Meinung des Antonius gehört. Octavia sieht sich ob der politischen Differenzen zwischen Bruder und Ehegatten ziemlich unglücklich aufgestellt. Antonius schickt sie als Vermittlerin nach Rom. Jetzt beginnt das Stück dramaturgisch zu stolpern bzw. im Zeitraffer davonzulaufen. Octavia ist bei Cäsar in Rom. Der ist empört über Antonius, von dem er weiß, dass er wieder bei Kleopatra in Alexandria ist. Cäsar In Alexandria, (hier schreibt man mir’s,) Thronten auf offnem Markt, vor allem Volk, Cleopatra und er auf goldnen Stühlen Und silbernem Gerüst: zu ihren Füßen Cäsarion, meines Vaters Sohn genannt, Und all’ die Bastardbrut, die ihre Lust Seitdem erzeugt. Zur Herrschaft von Egypten Gab er ihr Cypern, Nieder-Syrien, Lydien, Als einer unumschränkten Königin. (III,6)

Cäsar ist empört bei gleichzeitiger Zurückweisung der Vorwürfe des Antonius über nicht eingehaltene Zusagen. Und als Octavia in die Runde platzt, wird es noch heftiger. Nicht gezwungen komme sie, sondern aus freier Wahl als Vermittlerin habe sie um Urlaub nach Rom gebeten. Der Bruder ist durchaus zynisch. Cäsar

Den er gern gewährt,

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Weil zwischen ihm und seiner Lust du standst! (III,6)

Da weiß Cäsar entschieden mehr als Octavia. Sie glaubt ihn noch in Athen, aber der Bruder weiß es besser, und er versucht die Schwester nicht zu schonen. Cäsar Nein, schwer gekränkte Schwester. Cleopatra Hat ihn zu sich gewinkt. Er gab sein Reich An eine Metze, und nun werben sie Der Erde Kön’ge für den Krieg. (III,6)

Er rattert eine lange Liste der mit Antonius verbündeten Könige und Fürsten herunter. Der Entschluss zum Krieg steht fest. Cäsar

Weit über alles Maaß Wardst du gekränkt; und die erhabne Gottheit Macht, dich zu rächen, uns zu ihren Dienern, Und alle, die dich lieben. (III,6)

Mäcenas pflichtet Octavius bei. Mäcenas Ganz Rom ist euch ergeben und beklagt euch; Nur Marc Anton, im frechen Ehebruch Und allem Greul vermessen, stößt euch aus, Und gibt sein Scepter einer Buhlerin Als Waffe wider uns. Octavia

Ist dieß die Wahrheit? (III,6)

Mit dieser Frage scheidet auch Antonius zweite Frau aus dem Stück aus. Die Wahrheit, die Octavius bestätigt, ist nicht leicht für Octavia. Ja, Antonius ist wieder bei Kleopatra. 32 v. Chr. Scheidung von Octavia. Sie überlebt Antonius fast 20 Jahre und stirbt 11 oder 10 v. Chr. in Rom. 31 v. Chr. 2. September: Schlacht bei Actium. Antonius führt etwa 110.000 Mann gegen 80.000 Mann ins Feld; mit 12.000 Reitern je Partei ist man gleichauf. Octavius hat 400 leichte Kriegsschiffe auf seiner Seite, Antonius 170 schwere Schiffe und einige Hilfsschiffe.

Kaum dass Cäsar seiner Schwester die skandalöse Rückkehr bestätigt hat, sehen wir die beiden Parteien – in der Wirklichkeit vergehen einige Jahre – schon im Krieg bei dem Vorgebirge Actium. Octavius ist sehr schnell über das Ionische Meer gekommen und kann

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Antonius im Meerbusen von Aktium einschließen. Im Lager des Antonius gibt es insofern Probleme, weil eine Beteiligung der Königin nicht gewünscht ist. Kleopatra Unser ist Der Krieg, und als der Vorstand meines Reichs Streit’ ich in ihm als Mann. Sprich nicht dagegen, Ich bleibe nicht zurück. (III,7)

Es gibt aber nicht zuletzt wegen Kleopatra ein weiteres Problem. Sie besteht auf einem Kampf zur See. Davon sind die Oberbefehlshaber überhaupt nicht begeistert. Sie argumentieren zu Recht, dass die Flotte schlecht bemannt ist. Aber Antonius ist von Kleopatras Wunsch begeistert und schreit unentwegt „Zur See! Zur See!“ Entschieden diktiert er ins Pflichtenheft des Candidius: Antonius Candidius Du bleibst am Land mit neunzehn Legionen, Und den zwölftausend Pferden; wir gehn an Bord. Komm, meine Thetis! – (III,7)

Den Ehrentitel „Thetis“ – Kreuzworträtsel-Lösung (alt) mit 10 Buchstaben: MEERESGOTT, gegendert (neu) MEERESGOETTIN – für Kleopatra hören die Männer nicht gerne. Trotzig sagt, nachdem das hohe Paar abgegangen ist, ein Soldat … Soldat Beim Hercules! Mir deucht, ich habe recht. (III,7)

… und Candidius gibt ihm Recht: Candidius Das hast du, Freund. Doch all’ sein Thun keimt nicht Aus eigner Macht: So führt man unsern Führer, Und wir sind Weiberknechte. (III,7)

Bei Plutarch fand Shakespeare seine Szene so zusammengefasst:

„Antonius war nun dermaßen ein bloßes Anhängsel der Frau geworden, dass er Kleopatra zu Gefallen den Krieg mit der Flotte entscheiden wollte, obgleich er durch sein Landheer überlegen war, und obgleich aus Mangel an Seemannschaft seine Schiffskapitäne aus dem schon so mitgenommenen Griechenland Wanderer, Eseltreiber, Schnitter und ganz junge Leute gepresst hatten, und selbst so noch die meisten Schiffe unvollständig bemannt waren.“5

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Die Sache der Weiberknechte steht nicht gut; die Seeschlacht läuft in einer kurzen Szene so ab, wie Plutarch berichtet und wie es Shakespeare zum Inszenieren an die Regie weitergibt. Von der einen Seite Canidius mit seinen Landtruppen über die Bühne ziehend; von der andern Taurus, Cäsars Unterfeldherr. Nachdem sie vorbeimarschiert sind, hört man das Getöse einer Seeschlacht. Feldgeschrei. Enobarbus kommt zurück. Enobarbus Schmach, Schmach! Ich kanns nicht länger sehn! Die Antoniad’, Egyptens Admiralschiff, Mit allen sechz’gen flieht, und kehrt das Ruder: Dieß seh’n, verzehrt die Augen mir! – (III,8)

Das wars dann; Kleopatra hatte mit ihren 60 Seglern die feindlichen Reihen durchgebrochen. Er, Antonius hinterher, alles im Stich lassend. Sein Freund Scarus nimmt kein Blatt vor den Mund. Scarus Sie hatte kaum gewandt, Als ihres Zaubers edles Wrack, Antonius, Die Schwingen spreitend wie ein brünst’ger Entrich, Die Schlacht verläßt auf ihrer Höh’, und fliegt ihr nach: – Noch nimmer sah’ ich eine That so schändlich; Erfahrung, Mannheit, Ehre hat noch nie Sich selber so vernichtet! – (III,8)

Mit dem großen Feldherrn ist es vorbei; Herkules hat bei Omphale das Löwenfell gegen Weiberkleider getauscht. Das ist nicht schmeichelhaft für einen römischen Helden, vor allem, wenn die Frau nun das Löwenfell trägt bzw. die Hosen anhat. Er sitzt nach diesem theatralischen Blitzkrieg völlig geknickt im Palast zu Alexandria. Es gelingt Kleopatra jedoch, ihn durch einen Kuss mit Symbolwert einigermaßen zu stabilisieren. Man beschließt einen Gesandten zu Cäsar zu schicken und bittet um eine Friedenslösung en famille. Plutarch schreibt: „Zugleich schickten sie Gesandte an Octavius Cäsar nach Asien, Kleopatra, um die Herrschaft über Ägypten für ihre Kinder zu erbitten [immerhin war ihr Sohn Cäsarion ein Kind von Julius Cäsar und der „kleine Cäsar“ immerhin ein Stiefbruder zu Octavius Cäsar, der ein Adoptivsohn des großen Cäsar war], Antonius mit dem Gesuch, in Athen, wo nicht in Ägypten als Privatmann leben zu dürfen. Aus Mangel an Freunden, und weil sie keinem sonst trauten, wurde der Lehrer ihrer Kinder, Euphronius, mit dieser Sendung betraut. […]

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Cäsar wollte von Antonius’ Anträgen nichts wissen, Kleopatra aber gab er den Bescheid, es solle ihr nichts Billiges versagt werden, wenn sie Antonius töte oder aus dem Land triebe. Zugleich sandte er einen seiner Freigelassenen namens Thyrsus mit, einen Menschen von Verstand, der als Abgesandter des jugendlichen Imperators zu der stolzen und eitlen Frau sehr gewinnend zu sprechen wusste. Da dieser länger als andere

Abb. 20: Lorenzo A. Castro (um 1640-1700): Die Schlacht bei Actium, 2 September 31 v. Chr. (1672), National Maritime Museum in London

bei ihr verweilte und das ehrendste Entgegenkommen fand, erregte er den Verdacht des Antonius, der ihn festnehmen und auspeitschen ließ und dann mit einem Brief an Cäsar abschickte des Inhalts, dass er ihn, der durch sein Unglück sehr reizbar geworden, durch seine Verhöhnung und Missachtung aufgebracht habe. […] Seitdem bewies ihm Kleopatra die höchste Aufmerksamkeit, um jeder Anklage und jedem Verdacht zuvorzukommen.“6

Shakespeare versifiziert den Plot des Plutarch in gekonnter Weise. Cäsar

Sei’s! Sag deinen Auftrag!

Euphronius Er grüßt dich, seines Schicksals Herrn, und wünscht Zu leben in Egypten. Schlägst du’s ab, So mäßigt er die Fordrung, und ersucht dich, Gönn’ ihm zu athmen zwischen Erd’ und Himmel

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Als Bürger in Athen. So viel von ihm. Dann: Cleopatra huldigt deiner Macht, Beugt sich vor deiner Größ’, und fleht von dir Der Ptolemäer Reif für ihre Söhne, Als Willkür deiner Gnade. Cäsar

Für Anton Bin ich der Fordrung taub. Der Königin Wird nicht Gehör noch Zugeständniß fehlen, Treibt sie hinweg den schmachentstellten Buhlen, Oder erschlägt ihn hier: vollbringt sie dieß, Sei ihr Gesuch gewährt. So viel für Beide. – (III,10)

Den listigen Thyreus schickt er, wie berichtet, dem Euphronius hinterher. Von ihm hat Antonius schon von dem infamen Angebot Cäsars gehört: Antonius

Die Königin Soll also Gunst erfahren, wenn sie uns Verrathen will? (III,11)

In seiner Hilflosigkeit kommt er auf eine absurde Idee. Er will Cäsar zum Zweikampf herausfordern. Enobarbus, der Freund, der langsam an Antonius verzweifelt, langt sich wörtlich/bildlich an die Stirn. Dann empfängt Kleopatra Thyreus. Sie taktiert mit ihm so listig und lange, dass es Antonius verdächtig vorkommt. Er lässt den Gesandten auspeitschen und überhäuft Kleopatra mit Vorwürfen, die tief aus der Vergangenheit der Frau geholt sind. Antonius Ich fand euch, einen kaltgewordnen Bissen Auf Cäsars Teller, ja ein Überbleibsel Cnejus Pompejus; andrer heißer Stunden Gedenk’ ich nicht, die Eure Lust sich auflas, Und nicht der Leumund nennt: denn ganz gewiß, Wenn ihr auch ahnen mögt, was Keuschheit sei, Ihr habt sie nie gekannt! – (III,11)

Kleopatra ist bass erstaunt über diese Wendung und wartet so lange, bis Antonius mit dem armen Boten abgerechnet hat. Dann versucht sie sich zu rechtfertigen. Das gelingt ihr tatsächlich, und Antonius spielt plötzlich wieder den „wackren Helden“. Kleopatra ist sofort mit von der Partie. Die Emotionen gehen im Handumdrehen von einem Extrem ins andere.

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Antonius Ich will verdoppeln Herz und Muth und Sehnen, Und wüthig fechten. […] Kommt, Noch einmal eine wilde Nacht; ruft mir All’ meine ernsten Krieger; füllt die Schalen, Die Mitternacht noch einmal wegzuspotten! – Kleopatra Morgen ist mein Geburtstag: Ich wollt’ ihn still begehn, doch da mein Herr Antonius wieder ward, bin ich Cleopatra. (III,11)

Während die einen ans Feiern denken, beschließt Enobarbus kopfschüttelnd über so viel Vermessenheit zu Cäsar überzulaufen. Antonius verabschiedet am Geburtstag der Königin treue Diener, und entgegen dem Anschein von Niedergeschlagenheit verkündet er in bemitleidenswerter Selbstüberschätzung: Antonius Denn ich sprach euch zum Trost: ich wünschte ja, Daß wir die Nacht durchschwärmten; wißt ihr, Kinder, Ich hoff ’ auf morgen Glück, und will euch führen, Wo ich ein siegreich Leben ehr erwarte Als Tod und Ehre. Kommt zum Mahle, kommt, Und alle Sorg’ ertränkt! (IV,2)

In der Nacht, während die Antonier feiern, kann man seltsame harmonische Töne hören, die als schlechtes Zeichen für Antonius gedeutet werden. Bei Tagesanbruch wird er, ohne geschlafen zu haben, von Kleopatra in seine Rüstung gepackt. Dann kommen die Hauptleute zum Morgengruß, und Antonius verabschiedet sich mit einem Kuss. Alle Guten Morgen, General! Antonius […] Fahr’ wohl denn, Frau; wie es mir auch ergeht, Nimm eines Kriegers Kuß! Man müßte schelten, Und Scham die Wange röthen, weilt’ ich länger In müß’gem Abschied. (IV,4)

Im Lager bei Alexandria erhält er gleich als erste Rabenpost die Nachricht, dass Enobarbus zu Cäsar übergelaufen ist. (die taubenpost bedient den frieden, / der krieg befiehlt die rabenpost: Goethe/

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Grimm) In zynischer Großmut schickt er ihm all seine Habe hinterher. Enobarbus schämt sich darüber zu Tode. Der erste Schlachttag läuft gut für die Antonier. Kleopatra ist begeistert. Am nächsten Tag wechselt Cäsar die Taktik. Antonius Heut rüsten sie sich auf den Kampf zur See, Zu Land gefall’n wir ihnen nicht. (IV,10)

Jetzt sind schnelle Wechsel angesagt. Cäsar tritt auf, Satz, wieder ab. Antonius tritt auf, Stichwort, wieder ab. Schlachtgetöse in der Ferne wie von einem Seetreffen. Antonius kommt zurück. Antonius

Alles hin! Die schändliche Egypterin verrieth mich; Dem Feind ergab sich meine Flotte: dort Schwenken sie ihre Mützen, zechen sie, Wie Freunde lang getrennt. Dreifache Hure! Du hast dem Knaben mich verkauft! Mein Herz Führt Krieg mit dir allein. – Heiß Alle fliehn! Denn wenn ich mich gerächt an meinem Zauber, Bin ich zu Ende: Geh! heiß Alle fliehn! – (IV,10)

Das war in zwanzig Verszeilen eine Seeschlacht und ein Zechgelage und eine Schuldige und Verzweiflung zum Tode. Antonius jammert noch lange, ohne dass wir verstehen, was geschehen ist. Antonius O Sonne! Nimmer seh ich deinen Aufgang! Ich und Fortuna scheiden hier: – hier grade schütteln Die Hand wir uns! […] Ich bin verkauft! O falsch egyptisch Herz! o tiefer Zauber! Du winkt’st mein Heer zum Krieg, du zogst es heim, Dein Busen war mein Diadem, mein Ziel, Und du, ein echt Zigeunerweib, betrogst mich Beim falschen Spiel um meinen ganzen Einsatz! (IV,10)

Warum die ägyptischen Schiffe auf die Seite Octavians gewechselt sind und warum die Reiterei desertierte, bleibt einigermaßen im Dunkeln. Auch Plutarch gibt keine Erklärung. Und auch Wikipedia gibt keine Begründung. „In der von Antonius geführten Entscheidungsschlacht vor Alexandria ergaben sich die ägyptische Flotte und Reiterei kampflos, sodann auch die Hauptstadt (1. August 30 v. Chr.).“

Kleopatra • 637

Kleopatra stürzt auf die Bühne. Antonius schreit sie hasserfüllt an. Kleopatra Was tobt mein Freund so gegen die Geliebte? (IV,10)

Mehr sagt sie nicht, kann sie nicht sagen, weil sie Antonius niederbrüllt. Also erhalten wir auch von ihr keine Aufklärung. Antonius tobt und schreit und schimpft sie eine Verräterin, den größten Schandfleck ihres Geschlechts. Verschwinde, hau ab! Ohne ein Wort geht sie ab. Er phantasiert sich wieder in sein Vorbild Herkules hinein, schreit „Tod der Hexe“ und schwört auf ihren Tod. Pharaonen haben bekanntlich schon zu Lebzeiten großen Wert auf ihre pyramidalen Grabstätten gelegt, und so hat auch Kleopatra, wiewohl erst 39 Jahre alt, sich bereits ein schönes Grabmal errichten lassen. Man sucht bis heute intensiv danach, und immer wieder taucht die Meldung von seiner phänomenalen Entdeckung auf. Dorthin ist sie geflohen und lässt anstatt langer Erklärungen auf Antonius ungeheuerliche Vorwürfe ihm die Nachricht übermitteln: Kleopatra Mardian, geh, sag’ ihm, ich erstach mich selbst; Sag ihm, mein letztes Wort war Marc Anton; Und recht wehmüthig sprichs: ich bitt’ dich! Geh, Mardian, und melde mir, wie er es nimmt! (IV,11)

Antonius, immer noch im Glauben Kleopatra habe ihn an Cäsar verraten, ist fest entschlossen sich nach Römerart selbst zu töten. Er sieht sich und sein Leben wie einen Wolkenzug verschwimmen. Da kommt der Bote von Kleopatra und beteuert ihm, dass ihn die Herrin liebe und ihr Schicksal fest an seines geknüpft habe. Er glaubt ihm nicht und weist ihn zurück. Sie soll sterben. Das passt als Stichwort für seine Meldung: Mardian Was du gewollt, Ist schon vollbracht. Ihr letztes Wort im Leben War Marc Antonius, edler Marc Anton! – […] Antonius Todt also?

638 • Kleopatra

Mardian

Todt. (IV,12)

Es wird, man muss es so sagen, von den Protagonisten des Stücks viel pathetisches Theater gespielt. Der Zorn ist wieder einmal im Nu vergessen, der Entschluss zum Tode – aber jetzt wieder anders herum begründet – bekräftigt. Antonius Ich hole bald dich ein, Cleopatra; Und weine um Verzeihung: also sei’s. Aufschub ist Folter; weil dein Licht erlosch, Ruh’ aus, schweife nicht länger! […] – ich komme, Königin! (IV,12)

Für diesen letzten Augenblick im Leben hat der echte Römer eine Trumpfkarte im Ärmel. Plutarch schreibt: „Er hatte einen treuen Sklaven namens Eros. Diesem hatte er schon vor langer Zeit das Versprechen abgefordert, ihn im Notfall zu töten, und jetzt erinnerte er ihn daran. Doch Eros zog das Schwert und erhob es, als ob er ihn durchbohren wollte, dann aber wandte er das Gesicht ab und tötete sich selbst. Als er zu Antonius’ Füßen niedersank, sagte der:“7 Antonius Oh, dreimal edler du als ich! Du lehrtest mich, mein tapfrer Eros, was Ich sollt’ und du nicht konntest. Meine Königin Und du, ihr mahntet durch eu’r großes Beispiel Mich an den alten Muth. Nun will ich seyn Ein Bräutigam dem Tod, und zu ihm eilen Wie zu der Liebsten Bett. Wohlan! Und Eros, Dein Meister stirbt dein Schüler: das zu thun (fällt in sein Schwerdt) Lernt’ ich von dir ... Was? – Nicht todt? Nicht todt? Wache! O, endet nun mit mir! – (IV,12)

Ein Mann, der schon viele Männer erstochen hat, entpuppt sich nicht nur als ein Schüler von Eros, sondern als ein Stümper in seinem Handwerk. Er bettelt um Vollendung seiner Tat gegen sich selbst, als die Wachen kommen. Antonius O, wer mich lieb hat, tödte mich! (IV,12)

Kleopatra • 639

Da kommt ein Diener von Kleopatra und meldet dem Sterbenden, dass die Königin lebt. Es sei alles nur ein Missverständnis gewesen. Antonius gibt sofort eine klare Anweisung. Antonius Tragt mich zur Kön’gin, meine guten Freunde, Dieß ist der letzte Dienst, den ich verlange. (IV,12)

Plutarch erzählt:

„Als er so erfuhr, dass sie noch lebte, befahl er den Dienern freudig, ihn aufzuheben, und ließ sich auf ihren Armen an die Tür des Grabmals tragen. Kleopatra ließ die Tür nicht öffnen, sondern zeigte sich an einer oberen Öffnung und ließ Stricke und Taue herab. An diesen befestigte man Antonius, und so zog sie ihn mit zwei Frauen, die sie allein mit sich ins Grabmal genommen, hinauf. Ein kläglicheres Schauspiel, so versichern diejenigen, die es angesehen, habe es nie gegeben. Mit Blut besudelt und mit dem Tode ringend wurde er hinaufgezogen, während er, in der Luft hängend, die Hände nach ihr ausstreckte. Und für die Frauen war es keine leichte Arbeit, denn nur mit Mühe und indem sie sich mit dem Gesicht tief herabbeugte, konnte Kleopatra den Strick fest anfassen und aufnehmen, während die Untenstehenden ihr zuriefen und ihre Not teilten.“8

Wieder einmal ist es der Regie auferlegt, viel Aktion bei gleichzeitigem Text in hoher Stillage zu arrangieren. Die Damen erscheinen oben auf dem Grabmal und ihr Jammer ist groß. Antonius wird von der Wache hereingetragen und Kleopatra deklamiert und Antonius respondiert: Kleopatra O du Sonne, Verbrenne deine Sphäre! Nacht, steh fest Auf wechselnden Weltfluren! O Antonius, Anton, Anton! O Charmion, hilf, hilf, Iras, Helft, Freunde, unten! Zieht herauf ihn! Antonius Still! Nicht Cäsars Kraft besiegte Marc Anton, Nein, Marc Anton erlag sich selber nur! Kleopatra So mußt’ es sein; Antonius konnt’ allein Anton bewältigen: doch weh dem Tag! (IV,13)

Es ist weiter von letzten Küssen die Rede, und auch Octavia bekommt noch einen kleinen Seitenhieb ab. Dann kommandiert sie:

640 • Kleopatra

Kleopatra

Komm, Antonius, Helft, meine Fraun, wir ziehn dich hier herauf; Faßt Alle an.

Antonius

O schnell, sonst bin ich hin.

Kleopatra O seltsam Spiel, wie schwer du wiegst, Geliebter! (IV,13)

Die holde Weiblichkeit hat es geschafft; Antonius ist oben und macht noch schnelle Vorschläge, wie Kleopatra sich gegen Octavius Cäsar in Zukunft positionieren soll. Mit einem markigen Römerwort stirbt er. Antonius Den jammervollen Wechsel und mein Sterben Beweint, beklagt sie nicht; stärkt eu’r Gedächtniß An der Erinn’rung meines frühern Glücks, Das mich erhob zum ersten Weltgebieter, Zum edelsten; und jetzt, nicht feige sterb’ ich, Noch ehrlos, neige meinen Helm dem Landsmann, Ein Römer, männlich nur besiegt vom Römer. Jetzt nun entflieht mein Geist, das Wort erstirbt. (IV,13)

Stöhnen, seufzen, jammern, hadern, dann fällt Kleopatra in Ohnmacht, aus der sie aber sehr schnell wieder erwacht, um lange zu räsonieren über Glanz und Eitelkeit der Welt. „Kommt“, sagt sie zu ihren Frauen, Kleopatra Dieß Haus des Riesengeistes ist nun kalt! Ach Mädchen, Mädchen, kommt! In dieser Noth Blieb uns kein Freund, als Muth und schneller Tod. (IV,13) 30 v. Chr. 1. August: Marcus Antonius stirbt in Alexandria (≈ 56) 30 v.Chr. 12. August: Kleopatra stirbt in Alexandria (39)

Kleopatras schneller Tod lässt noch ein Weilchen auf sich warten. Was Octavian im Schild führt, nachdem er die Nachricht von Antonius Tod erhalten hatte, ist nicht klar. Er ruft seine Freunde zur Trauer auf und zwingt sich selber eine Träne ab. Dann aber stellt er entschieden klar:

Kleopatra • 641

Cäsar Raum war nicht für uns Beide In ganzer weiter Welt. (V,1)

Ein Bote kommt von Kleopatra; sie lässt anfragen, welche Absichten Cäsar bezüglich ihrer Zukunft habe. Sie wünscht für ihren Sohn die Herrschaft über Ägypten, fürchtet aber, dass Octavian sie nach Rom bringen will, um sie im Triumphzug dem Volk als Besiegte vorzuführen. Der Librettist einer anderen Ägyptengeschichte, die Verdi unter dem Titel „Aida“ vertonte, hatten die Angst der Königin vor dieser Schmach wohl im Auge. Er ersparte seiner äthiopischen Sklavin Aida die Geiselhaft in Feindesland nicht. Octavian plant, und er plant mit Hinterhalt. Sein Unterhändler Proculejus tut diplomatisch schön mit der Königin, während ein gewisser Gallus – auch ein sogenannter Freund des Cäsar – das Grabmal erstürmt, um Kleopatra in seine Gewalt zu bringen. Proculejus kann ihr den Dolch gerade noch entreißen und stellt die emotional hoch erregte Königin unter die Aufsicht Dolabellas, der ihr im Vertrauen die Absichten Cäsars bestätigt. Kleopatra Wißt ihr, was Cäsar über mich beschloß? Dolabella Ich wollt’, ihr wüßtet, was ich ungern sage. Kleopatra Ich bitt’ euch, Herr ... Dolabella

Wie groß sein Edelmuth, –

Kleopatra Er will mich im Triumph aufführen? Dolabella So ists, ich weiß es. (V,2)

Fürstin,

Cäsar kommt mit seiner ganzen Entourage hereingestürmt. Aufs Knie werfen vor Cäsar und gnädig wieder aufheben durch Caesar, gehört selbst auf dem „Strohlager und im bloßen Unterkleid“ (Plutarch) zum unverzichtbaren Ritual. Dann geht es da noch um Kleopatras Vermögen. Ihr Schatzverwalter gesteht dem Cäsar, dass sie einiges von Wert zurückbehalten habe. Der Vorwurf empört sie so sehr, dass sie den Mann wüst beschimpft. Das gibt Cäsar die Gele-

642 • Kleopatra

genheit, sich generös zu zeigen. Er wolle nichts von ihr, er sei keine Krämerseele. Dann kommt seine Ansage für sie: Cäsar Wir wollen so mit euch verfügen, wie Ihr selbst uns rathen werdet: eßt und schlaft; So sehr gehört euch uns’re Sorg’ und Tröstung, Daß ihr als Freund uns finden sollt. Lebt wohl! (V,2)

Seine Worte sind wie ein Orakelwort. Sie glaubt ihm seine Phrasen nicht. Sie tuschelt mit ihren Mädchen und bittet, ihr eilig eine Bestellung zu bringen. Sie scheinen zu wissen, was Sache ist. Dann kommt Dolabella auf einen kurzen Sprung vorbei und vermeldet Cäsars Absichten abzureisen und Kleopatra und ihre Kinder vorauszuschicken. Das könnte dem jungen Mann seinen Kopf kosten, bleibt aber unentdeckt. Für Kleopatra ist die Sache klar. Cäsar spielt ein doppeltes Spiel. Er will sie in Rom in öffentlicher Demütigung als seine Beute vorführen, und dazu braucht er sie am Leben. Ihren Mädchen gibt sie Anweisung, sie als Königin zu schmücken, als ob sie Antonius zum ersten Mal am Kydnos begegnen würde. Auch ihre Krone sollten sie nicht vergessen. Plutarch erzählt: „Darauf kam jemand vom Land mit einem Korb. Als die Wächter ihn fragten, was er trüge, öffnete er ihn, nahm die Feigenblätter oben ab und zeigte ihnen das Gefäß voll Feigen. Sie bewunderten ihre Schönheit und Größe, und er forderte sie lächelnd auf, davon zu kosten, worauf sie ihm ohne Argwohn erlaubten, sie hineinzutragen.“9

Unter den Feigen versteckt sich die Kontrebande. Sie besteht aus Schlangen; mit einem Euphemismus sprechen Bauer und Königin von „artigen Nil-Würmern“. Der Bauer ist bauernschlau und mit seinen sexuellen Doppeldeutigkeiten so witzig in seinem Gespräch mit der Königin, dass er ihrem Liebestod einen leicht parodistischanzüglichen Beigeschmack verleiht. Er geht zwar brav von der Bühne, aber mit einem Satz, der die anschließende Sterbeszene absonderlich beleuchtet. Bauer Ja wahrhaftig, ich wünsche euch viel Zeitvertreib von dem Wurm. (ab) (V,2)

Der Kontrast zum nächsten Satz der Königin könnte drastischer nicht sein. Iras kommt zurück mit Krone und Kleid.

Kleopatra • 643

Kleopatra Den Mantel gieb, setz mir die Krone auf, Ich fühl’ ein Sehnen nach Unsterblichkeit! (V,2)

Ihre Argumentation für die Unsterblichkeit begründet sich in ihrer Liebe zu Antonius. Bei erstaunlich vielem Streit und Missverständnissen in dieser Beziehung, bei sich wiederholenden Täuschungen und Enttäuschungen zweier zwiespältig gebrochener Charaktere, verklärt sich beider Bild in ihren vergoldenden Worten zu mythischer Größe. Kleopatra mich dünkt, ich höre Antonius Ruf: ich seh’ ihn sich erheben, Mein edles Thun zu preisen; er verspottet Des Cäsar Glück, das Zeus nur als Entschuld’gung Zukünft’gen Zorns verleiht. Gemahl, ich komme – Jetzt schafft mein Muth ein Recht mir zu dem Titel! Ganz Feu’r und Luft, geb’ ich dem niedern Leben Die andern Elemente. – (V,2)

Sie küsst ihre beiden Mädchen; Iras, die Haarkräuslerin fällt hin und stirbt. Charmion bleibt der Szene noch ein Weilchen erhalten. Kleopatra setzt sich einen der Nil-Würmer an die Brust und malt ein Bild von wunderlicher Art. Kleopatra Siehst du den Säugling nicht an meiner Brust In Schlaf die Amme saugen? Charmion Brich, mein Herz! Kleopatra So süß wie Thau! so mild wie Luft, so lieblich – O mein Antonius! – Ja, dich nehm’ ich auch, (setzt eine zweite Schlange an ihren Arm) Was wart’ ich noch ….. (fällt zurück und stirbt) (V,2)

Charmion rückt der Königin die schiefsitzende Krone zurecht, bittet die hereinstürzende Wache um Ruhe – Still, weckt sie nicht –, zeigt sich schadenfroh, dass Cäsars Boten zu langsam waren, und setzt sich auch eine Schlange an. Plutarch erzählt: „Charmion, schon schwankend und taumelnd, setzte ihr das Diadem auf dem Haupt zurecht. Und als einer im Zorn rief: „Du machst ja schöne

644 • Kleopatra

Sachen, Charmion!“, erwiderte sie: „Ja, sehr schön, und wie es der Enkelin so vieler Könige geziemt.“ Weiter sprach sie nichts, sondern sank dort neben dem Ruhebett nieder.“10

Als die Wachen sehen, dass sie zu spät kommen, ruft die Erste Wache Was giebt’s hier? Charmion, ist das wohlgethan? –

… und Charmion darf Plutarch zitierend sterben. Charmion Ja, wohlgethan; und wohl ziemt’s einer Fürstin, Die so viel hohen Königen entstammt – – (stirbt) (V,2)

Der Rest ist Konvention; Cäsar will ganz sachlich wissen, wie die drei Charitinnen starben. Man einigt sich, dass es vermutlich Gift gewesen ist, vielleicht sogar Schlangengift. Dann kommt seine offizielle Verlautbarung. Cäsar Mit ihrem Marc Anton laßt sie bestatten! – Kein Grab der Erde schließt je wieder ein Solch hohes Paar. Der ernste Ausgang rührt Selbst den, der ihn veranlaßt, und ihr Schicksal Wirbt so viel Leid für sie, als Ruhm für den, Der sie gestürzt. (V,2)

Pompejus verfing sich in der Dialektik von Vorteil und Ehre, Cäsar Octavius in die Dialektik von Leid und Ruhm. Der Ruhm wird mit Opfern bezahlt. Im Unterschied zu Pompejus hat er die Sache so raffiniert eingerichtet, dass er erst im Nachhinein davon erfahren hat, was er gegen seine Absichten vielleicht doch heimlich gewünscht hat: Kleopatras Tod. Der steht real wie symbolisch für den endgültigen Verlust der ägyptischen Unabhängigkeit, für den Sieg der technokratischen Kultur Roms über ägyptische Dekadenz. Auch Plutarch schließt seine Geschichte von Antonius und Kleopatra mit einem Zwiespalt in der Sache: „Cäsar war zwar über Kleopatras Tod verärgert, aber er bewunderte ihre edle Gesinnung und ließ ihren Leichnam neben dem des Antonius glänzend und königlich beisetzen. Auch die beiden Frauen erhielten auf seinen Befehl ein ehrenvolles Begräbnis.“11 30 v. Chr. 23. August: Knapp zwei Wochen nach dem Selbstmord seiner

Kleopatra • 645

Mutter Kleopatra am 12. August 30 v. Chr. wurde Cäsarion, Cäsars leiblicher Sohn, auf Befehl von Octavius Cäsar, dem Adoptivsohn Cäsars, hingerichtet. Zwei Söhne des vergöttlichten Julius Cäsar waren undenkbar. Ein Hauch von Kain und Abel umweht die Szene, die schon weit jenseits der Geschichte von Antonius und Kleopatra liegt.

zu Antonius und Kleopatra, Akt 5, Szene 2

646 • Kleopatra deutsche Übersetzung: Wolf Graf Baudissin 1) Günter Jürgensmeier, S. 634 2) Günter Jürgensmeier, S. 635 3) Günter Jürgensmeier, S. 634 4) Günter Jürgensmeier, S. 635 5) Günter Jürgensmeier, S. 637 6) Günter Jürgensmeier, S. 638/39 7) Günter Jürgensmeier, S. 639 8) Günter Jürgensmeier, S. 640 9) Günter Jürgensmeier, S. 641 10) Günter Jürgensmeier, S. 641 11) Günter Jürgensmeier, S. 641

Virgilia • 647

Virgilia

Coriolanus (1608)

designed by Kenny Meadows and engraved by W. J. Edwards

648 • Virgilia

Virgilia • 649

Sympathisanten für die Macbeths zu finden ist schwer möglich. Sie sind ganz und gar unsympathisch, ja mehr noch, sie sind abgrundtief böse. Dahin reicht die Bedeutung des Adjektivs „unsympathisch“ nicht annähernd. Cajus Marcius Coriolanus hinwiederum ist nicht so tiefschwarz in Bosheit verfangen wie Macbeth oder Jago, aber von Sympathie für die römische Kampfmaschine kann seit Plutarchs Biographie, aus der Shakespeares Stück entstand, gleichwohl keine Rede sein. Er nennt ihn starrsinnig, unleidlich, gehässig, widrig, gebieterisch, kurz angebunden, schroff, voll Gift und Galle, voller Geringschätzung und Verachtung. Alle diese Epitheta sind keine schmückenden, sondern einschränkende bis sehr abwertende Beiwörter. Shakespeare bescheinigt ihm – allerdings durch die Brille seiner Gegner – Hochmut und Stolz, nennt ihn herrisch, unfreundlich, unverschämt, selbstsüchtig. Heinrich Heine qualifiziert ihn als den „starren Coriolan“, man nennt ihn auch höhnisch, ungestüm tobend, cholerisch, maßlos, ungebärdig, ehrsüchtig, einen infantilen Mars, abstoßend, überheblich, schroff, und die Etiketten im Schauspielführer von heute bezeichnen ihn als arrogant, aggressiv, kompromisslos, Vaterlandsverräter, rachsüchtig, politisch unreif, dünkelhaft. Als einzige Tugend wird ihm seine soldatische Tapferkeit zugerechnet; aber auch die sprengt jedes Maß und jede Mitte und neigt zur Tollkühnheit. Schon Plutarch weist auf junge Männer hin, die sich aus Ruhmsucht selbst immer wieder durch noch größere Taten zu übertreffen wünschen. „Eine solche Gesinnung hegte Marcius. Er machte es sich zum Prinzip, in der Tapferkeit mit sich selbst zu wetteifern […] Andere machten den Ruhm zum Endzweck ihrer Tapferkeit, aber für Marcius war der Endzweck des Ruhms die Freude seiner Mutter […] und ward es nie satt, Volumnia Freude und Ehre zu machen; ja er nahm bloß auf ihr Bitten und Verlangen eine Frau, und auch als sie zwei Kinder hatten, wohnte er noch mit seiner Mutter in einem Haus zusammen.“1

650 • Virgilia

Die Frau des Helden von Corioli heißt Virgilia, und wir sehen sie als aufrecht stolze römische Frau dargestellt. Sie hat Tränen in den Augen, denen der Künstler anders als den Juwelen des Diadems stillen Glanz verleiht. Die Szene spielt in Rom auf einem großen öffentlichen Platz. Cajus Marcius, ihr Mann, kommt aus dem Krieg gegen die Volsker nach Rom zurück. In tollkühnem Einsatz hat er den Sieg errungen. Die Details der Erstürmung hat uns Shakespeare in rauflustigen Szenen nicht vorenthalten. Für seine Tapferkeit bei der Stadteroberung erhält er den Ehrennamen „Coriolanus“. Ab der neunten Szene des ersten Akts wechselt die Sprecherangabe von „Marcius“ zu „Coriolanus“. Als dieser Coriolanus tritt er nun seiner Frau zum ersten Mal gegenüber. Sie ist, so beschreibt Heinrich Heine den Auftritt, „eine schüchterne Taube, die nicht einmal zu girren wagt in Gegenwart des überstolzen Gatten. Wenn dieser aus dem Felde siegreich zurückkehrt, und alles ihm entgegenjubelt, senkt sie demütig ihr Antlitz, und der lächelnde Held nennt sie sehr sinnig: ‚mein holdes Schweigen!’ In diesem Stillschweigen liegt ihr ganzer Charakter; sie schweigt wie die errötende Rose, wie die keusche Perle, wie der sehnsüchtige Abendstern, wie das entzückte Menschenherz … es ist ein volles, kostbares, glühendes Schweigen, das mehr sagt als alle Beredsamkeit, als jeder rhetorische Wortschwall. Sie ist ein verschämt sanftes Weib, und in ihrer zarten Holdseligkeit bildet sie den reinsten Gegensatz zu ihrer Schwieger, der römischen Wölfin Volumnia, die den Wolf Cajus Marcius einst gesäugt mit ihrer eisernen Milch.“2

Lassen wir einmal dahingestellt, dass Virgilia ihr Antlitz keineswegs „demütig senkt“, vergessen wir die bei dieser Shakespeareszene ins geradezu peinliche Abseits driftenden poetischen Girlanden – die errötende Rose / die keusche Perle / der sehnsüchtige Abendstern / das entzückte Menschenherz –, dann bleibt doch die Einsicht wichtig, dass es einen großen Gegensatz zwischen der Schwiegertochter und der Schwiegermutter, zwischen der Ehefrau und Mutter gibt, den die zum Bild gewählte Textpassage an ganz anderen Stellen des Stücks ausformuliert. Hier geht es „nur“ um Virgilias Schweigen und um ihre Tränen. Coriolanus Mein lieblich Schweigen, Heil! Hätt’st du gelacht, kam auf der Bahr’ ich heim,

Virgilia • 651

Da weinend meinen Sieg du schaust? O, Liebe! So in Corioli sind der Witwen Augen, Die Mütter, Söhne klagend. Menenius Die Götter krönen dich! Coriolanus (zu Valeria)

Oh! edle Frau, verzeiht!

Volumnia Wohin nun wend’ ich mich? Willkommen heim! Willkommen, Feldherr! Alle sind willkommen! Menenius Willkommen tausendmal! Ich könnte weinen Und lachen; ich bin leicht und schwer. Willkommen! Ein Fluch entwurzle eines Jeden Herz, Der nicht mit Freuden dich erblickt. Euch drei Muß Rom vergöttern. – Doch, auf Treu und Glauben, Holzäpfel, alte, stehn noch hier, die niemals Durch Pfropfen sich veredeln. Heil euch, Krieger! Die Nessel nennen wir nur Nessel, und Der Narren Fehler Narrheit. (II,1)

„Was denkt Virgilia, wenn es in ihr denkt?“ Wenn wir Frank Günthers3 Frage in Bezug auf Coriolan umwenden und an seine Frau adressieren, die er „mein lieblich Schweigen“ nennt, dreht sich die Antwort nicht einfach um. Coriolans Herz – wenn er denn eines hat – bzw. seine Gedanken liegen immer auf seiner Zunge. Er kann nichts für sich behalten. Er hat kein Innenleben. Obgleich die Anrede für seine Frau noch zum Freundlichsten gehört, was der Mann in seinem ganzen Bühnenleben sagt, dreht er ihr ihre Nicht-Worte sofort mit einer rhetorischen Finte im Mund um. Natürlich hätte Virgilia nicht gelacht, wenn man ihn tot heimgebracht hätte. Die Belehrung folgt auf den Fuß. Tränen sollen die verwitweten Frauen und die verzweifelten Mütter in Corioli vergießen. Warum aber weinst du? Warum weint Virgilia? Sind es Freudentränen!? Die sind für Volumnia. Deren Herz und Gedanken liegen immer auf ihrer Zunge wie bei ihrem Sohn. Hier jubelt sie nur dreimal „Willkommen“. Es ist ein öffentlicher Auftritt; da haben private Tränen nichts zu suchen, keine Tränen der Erleichterung aus Liebe oder gar – horribile dictu – Tränen und Mitleid für die Toten Ehemänner und Söhne der Feinde. Virgilia ist anders als ihre Schwiegermutter ganz nahe am Wasser

652 • Virgilia

gebaut. Shakespeare hat uns schon einmal zum Zeugen einer häuslichen Szene gemacht, in der ihre Empfindsamkeit gegen die Haltung der Mutter ausgespielt wird. Während Cajus Marcius im Krieg unterwegs ist, sitzen beide zu Hause und nähen. Den Einstieg ins Gespräch macht die Schwiegermutter, aber Virgilia muss wohl etwas gesagt haben. Volumnia Ich bitte dich, Tochter, singe, oder sprich wenigstens trost­ reicher; wenn mein Sohn mein Gemahl wäre, ich würde mich lieber seiner Abwesenheit erfreuen, durch die er Ehre erwirbt, als der Umarmungen seines Bettes, in denen ich seine Liebe erkennte. (I,3)

Das römische Antiprogramm zum dekadenten Jetztzeitprogramm „Make love, not war“ geht noch eine ziemliche Weile weiter. Volumnias Plädoyer für Ehre und Ruhm galt schon für den Knaben, um so viel mehr für den Mann. Den schüchternen Einwand der Schwiegertochter donnert sie mit einer wahrhaft fürchterlichen Aussage nieder. Virgilia Aber wäre er nun in der Schlacht geblieben, theure Mutter, wie dann? Volumnia Dann wäre sein Nachruhm mein Sohn gewesen; in ihm hätte ich mein Geschlecht gesehn. Höre mein offenherziges Bekenntniß: hätte ich zwölf Söhne, jeder meinem Herzen gleich lieb, und keiner mir weniger theuer als dein und mein guter Marcius, ich wollte lieber elf für ihr Vaterland edel sterben sehn, als einen einzigen in wollüstigem Müßiggang schwelgen. (I,3)

Dies Unerhörte hörend will sich das empfindsame Kind zurückziehen, aber die Bitte findet kein Gehör. Sie muss bleiben und sich sogar noch eine ziemlich sadistisch gefärbte Schilderung anhören, wie der bärenstarke Sohn die Volsker zu Tode hetzt. Volumnia hat eine rege Phantasie, vor der Virgilia kapituliert. Volumnia Und er trocknet Die blut’ge Stirn mit eh’rner Hand, und schreitet So wie ein Schnitter, der sich vorgesetzt, Alles zu mähn, wo nicht, den Lohn zu missen.

Virgilia • 653

Virgilia Die blut’ge Stirn! – O Jupiter! kein Blut! Volumnia O schweig, du Thörin! schöner ziert’s den Mann, Als Goldt-Trophä’n. (I,3)

Eine blutige Stirne als Zierde mag ja noch angehen, aber diese römische Gesellschaft ist von Blut und Wunden besessen. „Geschunden“ sieht er aus, sagt der Kollege Anführer Cominius von Marcius nach seinem tollkühnen Ausfall durchs Tor von Corioli. Von vereint vergossnem Blut ist durchgängig die Rede, auf Marcius Blut wird immer und allenthalben hingewiesen. Blut markiert Wunden und ist als Theaterblut allzeit beliebt gewesen und heute beliebter denn je. Es wird gerne kübelweise verschüttet, erzeugt durch Schwerter, Dolche und Messer. Heute sind jede Menge Kalaschnikows dazugekommen, um bluten zu machen. Sie gehören sowohl in die Rüstkammern der Theater wie des Films. Ralph Fiennes blutiger Kopf für das Filmplakat zu seiner Coriolanus Verfilmung von 2011 kann als emblematisches Bild gelten. Sein Film mit Shakespeares Text spielt nicht vor 2500 Jahren, sondern im 21. Jahrhundert. https://www.imdb.com/video/ vi2668665881?playlistId=tt1372686&ref_=vp_nxt_btn Blut und Wunden sind der Ausweis für die Befähigung zu höheren politischen Ämtern. Der quasselige Patrizier Menenius Agrippa eröffnet im Reigen mit den Damen die Versteigerung der Wunden für die Wahl zum Konsul im römischen Senat. Menenius Ist er nicht verwundet? Sonst pflegte er verwundet zurückzukommen. Virgilia Oh! nein, nein, nein! Volumnia Oh! er ist verwundet, ich danke den Göttern dafür. Menenius […] Die Wunden stehn ihm gut. (II,1)

Das Duett beim Nähen im häuslichen Kreis ist zum Terzett geworden. Jetzt sieht sich Virgilia mit ihrem „Nein“ noch mehr ins Abseits gedrängt. Es kommt noch eine vierte Stimme dazu, die Freundin Valeria, die wunderbare Dinge von seinen Taten gehört hat, die wiederum Menenius bestätigt.

654 • Virgilia

Menenius Wahr? Ich schwöre, daß sie wahr sind. – Wo ist er verwundet? […] Volumnia In der Schulter und am linken Arm. Das wird große Narben geben, sie dem Volk zu zeigen, wenn er um seine Stelle sich bewirbt. Als Tarquin zurück geschlagen wurde, bekam er sieben Wunden an seinem Leib. Menenius Eine im Nacken und zwei im Schenkel, es sind neun, so viel ich weiß. Volumnia Vor diesem letzten Feldzuge hatte er fünfundzwanzig Wunden. Menenius Nun sind es siebenundzwanzig, und jeder Riß war eines Feindes Grab. (II,1)

Super, das ist rekordverdächtig, und als alle beim Auftritt des Helden nun jubeln, schweigt Virgilia beredt und weint glitzernde Tränen. Warum freut sie sich nicht über die vielen Wunden? Für die Mutter sind sie ein Grund zu großer Hoffnung. Volumnia

Ich erlebt’ es, Erfüllt zu sehn den allerhöchsten Wunsch, Den kühnsten Bau der Einbildung. Nur Eins Fehlt noch, und das, ich zweifle nicht, Wird unser Rom dir schenken. (II,1)

Es wird ein Danaergeschenk werden, und wenn es eine Tragödie in dieser sonderbaren Tragödie gibt, dann ist es die der Mutter in völliger Fehleinschätzung der Fähigkeiten ihres Sohnes, den sie sich zum Ehemann erwählt hat. Coriolan ist stolz, so stolz, dass er sich weigert, seine beeindruckende Sammlung von nicht weniger als 27 Verwundungen zu zeigen. Die beiden Volkstribunen haben von allem Anfang an einen Riecher für seinen Hochmut, für seine herausfordernde Überheblichkeit. Sicinius War je ein Mensch so stolz wie dieser Marcius? Brutus Er hat nicht seines Gleichen. (I,1)

Virgilia • 655

Wie er den Mut in den Übermut, den Stolz in die Überheblichkeit treibt, treibt er die Bescheidenheit zu provozierender Demut und Tiefstapelei. Seine schweren Verletzungen seien nichts als Kratzer und nicht würdig vorgezeigt und bewundert zu werden. Diese Geste und die Bitte um die Stimme des Volkes ist aber für die Bewerbung ums politische Amt nötig, das er nur um der Mutter Ehrgeiz willen erstrebt. Coriolanus Ich ersuch’ euch, Erlaßt mir diesen Brauch; denn ich kann nicht Das Kleid anthun, entblößt stehn und sie bitten Um ihre Stimmen, meiner Wunden wegen. Erlaubt, die Sitte zu umgehn! (II,2)

Er verweigert die Geste aber nur, weil er das Volk verachtet. Dem Pöbel, den Plebejern will er die Zeichen seines Ruhms partout nicht zeigen. Sein Ruhm würde faul von ihrem Atem. Und weil das so ist, scheitert seine Bewerbung krachend. Coriolanus Lieber verhungert, lieber gleich gestorben, Als Lohn erbetteln, den wir erst erworben. Warum soll hier mit Wolfsgeheul ich stehn, Um Hinz und Kunz und jeden anzuflehn Um nutzlos Fürwort? Weil’s der Brauch verfügt. (II,3)

Es kommt zu heftigen Auseinandersetzungen. Coriolan beschimpft die Volkstribunen wie das Volk. Es kommt zu Tätlichkeiten. Die Bürger wollen ihn deshalb lieber tot sehen. Coriolan zieht sein Schwert. Selbst der Freund Menenius findet seinen Wahlkampf unmöglich. Menenius Was zum Henker, Konnt’ er nicht freundlich sprechen? (III,1)

Nein, nein, nein, nein, nein, sagt Coriolan, und die beschimpften Bürger antworten auf die Frage des Brutus ebenso. Brutus Er Konsul? Die Bürger Nein, nein, nein, nein, nein! (III,1)

Frauen kommen im römischen Wahlkampf natürlich nicht vor. Das

656 • Virgilia

war schon im „Julius Cäsar“ zu bewundern: viele dicke glatzköpfige Männer. Aber hier zieht Volumnia im Hintergrund dennoch die Strippen für ihren Sohn. Nur sie hat die Macht, ihn zu zügeln. Als er von der Wahlrandale auf den Straßen Roms nach Hause kommt, wäscht sie ihm den Kopf. Volumnia

O! Sohn, Sohn, Sohn! Hätt’st deine Macht du doch erst angelegt, Eh du sie abgenutzt! (III,2)

Coriolanus versteht nicht recht, warum ausgerechnet sie ihn milder sehen will. Volumnia Du konntest mehr der Mann seyn, der du bist, Wenn du es wen’ger zeigtest (III,2)

Dann wird sie fast beleidigend. Volumnia

O! laß dir rathen: Ich hab’ ein Herz, unbeugsam, wie das deine, Doch auch ein Hirn, das meines Zornes Ausbruch Zu besserm Vortheil lenkt. (III,2)

Kurz und gut: Volumnia

Du bist zu herrisch. (III,2)

Sie setzt noch einmal zu einer Erklärung an. Du bist doch im Krieg auch ein kluges Köpfchen und weißt um die Dialektik von Ehre und List. Warum versuchst du nicht auch in der Politik der zu scheinen, der du gar nicht bist, der aber gewünscht wird? Ob der Mutter Sophisterei seine kriegerischen Tollkühnheiten wirklich auf den Punkt bringt, bleibt dahingestellt. Jetzt jedenfalls gilt es, das Hirn einzuschalten und das Herz nicht auf der Zunge zu tragen. Volumnia Weil jetzt dir obliegt, zu dem Volk zu reden, Nicht nach des eignen Sinnes Unterweisung, Noch in der Art, wie dir dein Herz befiehlt; Mit Worten nur, die auf der Zunge wachsen, Bastard-Geburten, Lauten nur und Sylben, Die nicht des Herzens Wahrheit sind verpflichtet. (III,2)

Das ist ein Lehrstück in politischem Doppelsprech, aber für diese

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Rolle ist der Sohn ungeeignet. Er ist ohne Hintergedanken, gradheraus, ohne Sinn für Diplomatie. Das ehrt ihn allerdings an der falschen Stelle. Zwar verspricht er es ein zweites Mal mit Sanftmut und Milde anzugehen, aber erneut scheitert er krachend mit seiner Bewerbung um das Amt eines Konsuls. Die Schule der Mutter war vergeblich. Es kommt zu Tumulten auf dem Forum, Coriolanus fällt völlig aus seiner Rolle und tritt in jedes Fettnäpfchen, das ihm aufgestellt wird. Die Assistenz von Menenius erweist sich als so untauglich wie die Hilfe einer Souffleuse, die das falsche Buch zur Aufführung dabei hat. Volksverräter hin, Lästerung des Volks und Beleidigung der Volkstribunen her! Coriolanus Der tiefsten Hölle Glut verschling’ das Volk! (III,3)

Seine augenblickliche Hinrichtung nach einem solchen Statement kann gerade noch verhindert werden, aber die Verbannung aus Rom ist ihm sicher. Er kommentiert sie gegen allen Rat der Mutter mit dem Herzen auf der Zunge. Coriolanus Du schlechtes Hundepack! deß Hauch ich hasse, Wie fauler Sümpfe Dunst; deß Gunst mir theuer, Wie unbegrab’ner Männer todtes Aas, Das mir die Luft vergift’t. – Ich banne dich! (III,3)

Nach dieser Publikumsbeschimpfung sind mit dem Ende des dritten Akts die Weichen für eine Doppeltragödie gestellt, die anders als bei „Julius Cäsar“ nicht in zwei Teile zerfällt. Sie hebt vor den Toren der Stadt Roms an. Nach langer Abwesenheit und langem Schweigen darf Virgilia den Ehemann und die Schwiegermutter begleiten. Man muss sich verabschieden, Coriolanus geht in die Verbannung. Er erinnert sich der Mutter Belehrungen, die Virgilia mit einem Seufzer unterbricht, für den der Mann sie zurechtweist. Virgilia O Himmel! Himmel! Coriolanus

Nein, ich bitte, Frau – (III,4)

Wir nehmen an, dass sie wieder leise weint, während Coriolan noch starke Sprüche an die Mutter richtet. Dann will er sich mit einem unsentimentalen kurzen Gruß losreißen.

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Coriolanus […] – Lebt wohl, Frau und Mutter! (III,4)

Es folgt aber nochmals rhetorische Kraftmeierei und Selbstbeweihräucherung. Beim zweiten Anlauf wird er etwas gefühlvoller. Coriolanus Bringt mich nur aus dem Thor! – Komm, süßes Weib, geliebte Mutter, und Ihr wohlerprobten Freunde! – Bin ich draußen, Sagt: Lebe wohl! und lächelt! (III,4)

Damit ist er auf dem Weg in die Verbannung, aber es ist kein Geheimnis, dass er zu Aufidius, dem Anführer der feindlichen Volsker, überläuft. Auf dem Rückweg haben Tochter und Mutter noch eine kleine, unangenehme Begegnung mit den Volkstribunen. Man ist sich verständlicherweise nicht grün. Volumnia trägt wieder einmal wie der Sohn das Herz auf der Zunge und pöbelt und flucht gewaltig. Die Einladung des Menenius zum Nachtmahl lehnt sie ab. Volumnia Zorn ist mein Nachtmahl; so mich selbst verzehrend, Verschmacht ich an der Nahrung. Laßt uns gehn! (III,5)

Virgilia geht schweigend mit nach Hause. Vermutlich weint sie. Wie erklärt sie es dem kleinen Sohn, dass der Papa für immer weg ist. Die zwei Heerführer, Aufidius und Coriolanus sind sich sehr schnell einig, gemeinsam gegen Rom zu marschieren: „Komm, deine Hand!“ Als man in Rom davon erfährt, will das wankelmütige Volk – wie es Coriolanus vermutet hat – jetzt seinen Feldherrn wieder zurück. Aber das geht natürlich – das Publikum weiß es als gewiss – nur über seine Leiche. Man hat einen Sklaven der Volsker festgenommen, der vermeldet, dass schon zwei Heere nach Rom unterwegs sind. Wie immer soll der Bote auch hier für die Botschaft gepeitscht werden. Menenius weiß es gerade noch zu verhindern. Da kommt schon die nächste Hiobsbotschaft, die besagt, dass Aufidius und Marcius Arm in Arm marschieren. Die Volkstribunen halten das für eine Finte. Die beiden seien einfach zu ungleich. Dann erscheint, aller schlechten Dinge sind immer drei, der ehrwürdige Kämpfer Cominius und berichtet erregt, wie alle dem Coriolan zulaufen und dieser fürchterliche Rache geschworen hat. Wovon natürlich niemand außer das Publikum etwas weiß, ist

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die Tatsache, dass Aufidius dem Coriolanus nicht wirklich traut. Auch ihm gegenüber beträgt er sich so stolz, wie er das nie erwartet hätte. Aber er soll sich mit der ungeteilten Macht zunächst nur die Hörner einrennen. Aufidius Ist, Cajus, Rom erst dein, Dann bist der Ärmste du, dann bist du mein. (IV,5)

Hinter dem Rücken der Zuschauer hat man beschlossen, den Cominius, seinen ehemaligen Feldherrn, zu Coriolanus zu schicken. Der ist soeben zurückgekommen und berichtet, dass dieser so getan habe, als kenne er ihn überhaupt nicht. Menenius weigert sich deshalb, den Canossagang anzutreten. Er schlägt die Volkstribunen für den Bußgang vor; schließlich haben die ja das Schlamassel verursacht. Menenius – Geht ihr, die ihn verbannt, ’Ne Meile schon vor seinem Zelt fallt nieder, Und schleicht so kniend in seine Gnade! (V,1)

Menenius lässt sich dann doch noch breitschlagen, Coriolan sozusagen als Ersatzvater ins Gebet zu nehmen. Während er schon auf dem Weg ist, denkt Comenius über eine ultimative Lösung nach. Der Muttersohn ist nur durch die Mutter und durch die Gattin zu bewegen. Drum, gehn wir hin, die Damen zum Bittgang zu bewegen. Menenius Auftritt im Lager der Volksker geht gründlich schief. Er quasselt sich vor den Wachen in eine Blamage sondergleichen. Coriolan demütigt ihn vor Aufidius und der Öffentlichkeit dermaßen, dass man für ihn schamrot werden möchte. Unverrichteter Dinge zieht er Leine und, o Wunder, was Coriolan nie geglaubt hätte, geschieht im Augenblick, da er dem Aufidius für morgen den Kriegszug in Aussicht stellt. Es gibt Geschrei hinter der Szene, und schon steht eine Gesandtschaft vor ihm, an die er nicht im Traum gedacht hat. Es treten auf Virgilia, Volumnia, die den jungen Marcius an der Hand führt, Valeria mit Gefolge. Alle in Trauer. Mit dem „Triumfeminat“ aus seinem eigenen Hause hat er nicht gerechnet. Der schöne Begriff stammt von Manfred Pfister aus seinem Nachwort zum „Coriolan“ in der Übersetzung Frank Günthers.4 Für einen Augenblick wird er weich und poetisch und sagt etwas richtig zu Herzen Gehendes.

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Coriolanus Mein Weib voran, dann die ehrwürd’ge Form, Die meinen Leib erschuf, an ihrer Hand Der Enkel ihres Bluts. – (V,3)

Die Familienaufstellung, wenn auch ohne Vater, ist einen Augenblick „überwältigend“. Sie bleibt es auch – „Überwältigung“ –, obwohl zunächst wieder die Routinen greifen. Der langen Zurückweisung kurzer Sinn: Coriolanus

Fort, Sympathie! Brecht, all’ ihr Band’ und Rechte der Natur! […] Ich steh’, als wär’ der Mensch sein eigner Schöpfer, Und kennte keinen Ursprung. (V,3)

Da knickst Virgilia vor ihm nieder und haucht kaum hörbar: Virgilia

Herr und Gatte! (V,3)

Sie hat etwas gesagt; sie steht plötzlich nicht mehr abseits. Sie lässt sich auf einen minimalen Dialog ein. Coriolanus Mein Auge schaut nicht mehr wie sonst in Rom. Virgilia Der Gram, der uns verwandelt hat, macht dich So denken. (V,3)

Coriolan kennt entgegen seinem Schwur – „Weib, Mutter, Kind, nicht kenn ich sie“ – urplötzlich Gefühle und wird schwach. Die sanfte Weiblichkeit Virgilias lässt den Unbeugsamen aus seiner Rolle fallen. Sie bedankt sich für seine Entschuldigung mit einem Kuss. Coriolanus

– Blut meines Herzens! Vergieb mir meine Tyrannei; doch sage Drum nicht: „Vergieb den Römern!“ – O! ein Kuß, Lang wie mein Bann und süß wie meine Rache! (V,3)

Coriolan hat Angst und er versucht, dem, was auf ihn zukommt, vorzubauen. Er weiß genau, dass das „Triumfeminat“ genau diesen Wunsch nach Generalabsolution vorbringen wird und dass seine

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Antwort seinen Tod bedeutet. Er begrüßt seine Mutter, vor der er auf die Knie fällt. Sie heißt ihn aufstehen und fällt ihrerseits auf die Knie. Seine Angst wächst vor der Bitte. Sie wird noch verzögert, indem Valeria vorgestellt wird. Man kennt sich wie natürlich auch den kleinen Sohn, den Volumnia zum Knien auffordert. Dann eröffnet sie heroisch die Schlacht ihrer Argumente und kündigt an, dass sie genau die Bitte stellen wird, vor der er sich um seiner selbst willen fürchtet. Volumnia Er und dein Weib, die Frau hier und ich selbst Sind Flehende vor dir. (V,3)

Da bäumt er sich noch einmal auf. Bitte bedenkt euch, bevor ihr um etwas bittet, was ich nicht gewähren kann. Coriolanus … heißt mich nicht entlassen Mein Heer; nicht, wieder unterhandeln mit Den Handarbeitern Roms; nicht sprecht mir vor, Worin ich unnatürlich scheine; denkt nicht Zu sänft’gen meine Wuth und meine Rache Mit euren kältern Gründen! (V,3)

Die Angst vor einer argumentierenden Mutter ist riesig. Das weiß Volumnia und sie winkt ab. Volumnia Du hast erklärt, du willst uns nichts gewähren; Denn nichts zu wünschen haben wir, als das, Was du schon abschlugst; dennoch will ich wünschen, Daß, weichst du unsern Bitten aus, der Tadel Nur deine Härte treffen mag. Drum hör’ uns! (V,3)

Das klingt bedrohlich von Seiten der Mutter und zusätzlich wird es jetzt öffentlich. Aufidius und die Volsker werden zu Zeugen der Unterredung gemacht. Coriolan setzt sich und muss sich eine lange, in Verse gebrachte Rede nach der Plutarchvorlage anhören. Diese Rede macht die Darstellerin der Volumnia zum Star jeder CoriolanAufführung und die Rolle zur heimlichen Titelrolle. Man sieht Coriolan förmlich zittern, denn er weiß insgeheim, dass die Mutter mit ihrer Bitte sein Todesurteil spricht. Er hat sich bei den Römern zum Verräter gemacht, der Bitte der Mutter nachzugeben würde ihn bei den Volskern ebenfalls zum Hochverräter machen. Volumnia macht kein Hehl aus seinem wie ihrem Dilemma.

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Volumnia Wie können für das Vaterland wir beten, Was unsre Pflicht? und auch für deinen Sieg, Was unsre Pflicht? – Ach! unsre theure Amme, Das Vaterland, geht unter, oder du, Du Trost im Vaterland. Wir finden immer Ein unabwendbar Elend, wird uns auch Ein Wunsch gewährt, – wer auch gewinnen mag: Entweder führt man dich, Abtrünn’gen, Fremden, In Ketten durch die Straßen; oder du Trittst im Triumph des Vaterlandes Schutt, Und trägst die Palme, weil du kühn vergossest Der Frau, des Kindes Blut; denn ich, mein Sohn, Ich will das Schicksal nicht erwarten, noch Des Krieges Schluß. Kann ich dich nicht bewegen, Daß lieber jedem Theil du Huld gewährst, Als einen stürzest – Traun, du sollst nicht eher Dein Vaterland bestürmen, bis du trat’st, (Glaub’ mir, du sollst nicht) auf der Mutter Leib, Der dich zur Welt gebar. (V,3)

Die weinende Virgilia pflichtet bei und spricht: Virgilia Ja, auch auf meinen, Der diesen Sohn dir gab, auf daß dein Name Der Nachwelt blüh’. Der kleine Marcius Auf mich soll er nicht treten. Fort lauf ich, bis ich größer bin, dann fecht’ ich. (V,3)

Die römische Wölfin ist noch lange nicht zu Ende. Coriolan wird ganz klein und steht unruhig auf. Vermutlich flucht er zum ersten Mal auf seine Mutter. Fast 90 Verszeilen hat ihr der Dichter für ihr Untergangsszenarium eingeräumt. Sie bittet ihn, nicht zu gehen. Sie beschwört ihn, nicht auf ungewissen Kriegsausgang zu setzen, sondern auf Versöhnung und Frieden zwischen den beiden Lagern. Sie appelliert an ihn, seinen Nachruhm nicht zu verspielen. Sie malt den Fluch der Götter in den Himmel. Sie spielt die Heroine und die Tragische. Sie erinnert an mütterliche Liebe und an seine Sohnespflichten. Sie droht mit Selbstmord, und als er sich abwendet, werfen sich die Frauen auf die Knie und stellen damit alle Ordnung auf den Kopf. Da nichts geschieht, kommandiert die Mutter einen Rückzug voller Hohn.

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Volumnia Kommt, laßt uns gehn: Der Mensch hat eine Volskerin zur Mutter, Sein Weib ist in Corioli, dieß Kind Gleicht ihm durch Zufall. – So sind wir entlassen, Still bin ich, bis die Stadt in Flammen steht, Dann sag’ ich etwas noch. (V,3)

Meisterlich setzt die Darstellerin eine Kunstpause, und, so wird berichtet, die Darsteller des Coriolan versuchen sich zu übertreffen, diese Pause aufzunehmen und ihr unhörbares hohes C möglichst lange auszusingen. Bei Plutarch wird es dann dramatisch: „Marcius schrie laut auf: ‚Ach Mutter, was tust du mir an!’“5

Shakespeare legt es in die Hand des Schauspielers, wann er und wie laut er schreit, stöhnt oder leise murmelt: Coriolanus O! Mutter! – Mutter! (er faßt die beiden Hände der Mutter. Pause) Was thust du? Sieh, die Himmel öffnen sich, Die Götter schaun herab; den Auftritt unnatürlich Belachen sie. – O! meine Mutter! Mutter! O! Für Rom hast du heilsamen Sieg gewonnen; Doch deinen Sohn – O glaub’ es, glaub’ es mir, Ihm höchst gefahrvoll hast du den bezwungen, Wohl tödtlich selbst. Doch mag es nur geschehn! (V,3)

Aufidius, von Coriolan gefragt, was er getan hätte, sagt ziemlich trocken und zynisch: Aufidius Ich war bewegt. (V,3)

Er, Aufidius, hat sein Herz nicht auf der Zunge. Aber beiseite spricht er leise und mit bösen Hintergedanken: Aufidius (für sich) Froh bin ich, daß dein Mitleid, deine Ehre, Dich so entzwei’n; hieraus denn schaff ’ ich mir Mein ehemal’ges Glück. (V,3)

Was kommen muss, kommt schnell und erwartbar. Ab jetzt ist die Anzahl der Wunden keine Maßzahl mehr für Befähigung und Erfolg. In Rom pöbelt das Volk gegen die Volkstribunen, weil es Angst vor Coriolans Rache hat. An einen Erfolg der Frauengesandtschaft

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glaubt keiner. Kaum gesagt, kommt ein Bote mit der freudigen Nachricht, dass die Frauen erfolgreich waren, dass die Volsker abziehen und Marcius sein Vorhaben, Rom zu zerstören, aufgegeben hat. Schon ist Musik zu hören und Freudengeschrei. Die Frauen treten auf und gehen über die Bühne. Sie sagen aber kein Wort mehr und verschwinden von der Bildfläche des Stücks. In Antium (südlich von Rom; heute Anzio), dem Wohnort des Aufidius, wird auf dem Stadtplatz ein kurzes Tribunal gegen den Verräter Coriolan angestrengt. Aufidius beschuldigt, wie nicht anders zu erwarten, Coriolan wegen ein paar Weibertränen des Wortbruchs an der gemeinsamen Sache gegen Rom. „Darum sterb er“, sagt er kurz und bestimmt. Die Mitverschworenen stehen schon in den Startlöchern mit ihren Schwertern an der Hand. Die zum Tribunal herbeibeorderten Senatoren scheinen ein offizielles Verfahren gewährleisten zu wollen. Dann kommt Coriolan wie ein Sieger in der Schlacht um Rom. Mit fadenscheinigen Argumenten will er seinen Abbruch des Krieges und seine Umkehr rechtfertigen. Aufi­dius bittet, das Friedensabkommen zu ignorieren; es sei ein Dokument des Verrats. Jetzt empört sich Coriolan, wie es immer seine Art war und ist, großmäulig und brüllt Aufidius nieder. Dieser bleibt bei seinem Vorwurf. Er verriet Rom, eure Stadt, ihr Volsker, an seine Frau und Mutter. Die Scham über den Verrat war allgemein. Die Verschworenen berufen sich auf ihren Anführer und schreien Die Verschwornen Dafür sterb’ er! Die Bürger (durcheinander) Reißt ihn in Stücke, thut es gleich! – (V,5)

Machtlos versucht ein Senator Ruhe herzustellen. Coriolan prahlt und protzt ein letztes Mal. Coriolanus

Oh! hätt’ ich ihn! Und sechs Aufidius, mehr noch, seinen Stamm, Mein treues Schwerdt zu prüfen! (V,5)

Das sind Coriolans letzte Worte. Der Dichter hat ihm das schlechteste Schlusswort aller seiner sterbenden Helden in den Mund gelegt. Allein schon dieser Plural „With six Aufidiuses, or more“. Das kann doch kein Schauspieler sprechen, kein Übersetzer übersetzen. Dorothea Tieck ist völlig schuldlos und auch Frank Günther wird

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verziehen: „Und hätt ich ihn / Und sechs Aufidiusse mehr“.6 Verzeih mir, um mit Ulrich Bräker zu sprechen, lieber großer William, was hast du dir dabei gedacht? Bevor die Senatoren überhaupt begreifen, was da kommen könnte, stürzen sich Aufidius und seine Mitverschworenen auf Coriolan. Die Verschwornen Durchbohrt! durchbohrt! durchbohrt ihn! (Aufidius und die Verschwornen ziehen und erstechen Coriolanus. Aufidius stellt sich auf ihn) (V,5)

So bestialisch er erstochen wurde, so ehrend wird der Leichnam weggebracht nebst einer Erinnerung des Mörders an die Toten, die der Ermordete auf dem Gewissen hat. Aufidius Obwohl in dieser Stadt Er manche Gatten kinderlos gemacht, Und nie zu sühnend Leid auf uns gebracht, So sei doch seiner ehrenvoll gedacht! (V,5)

Das Stück gibt uns keine Auskunft darüber, welche Wirkung die Ereignisse der letzten Szene auf die Frauen des Coriolan gehabt haben könnten. Sie sind stumm zwar, aber bei Freudengeschrei von der Bühne abgegangen. Coriolans Tod ist aber ihre Tragödie – sie haben ihn sehenden Auges in diese Zwickmühle gebracht –, und die Nachricht wird schneller in Rom sein, als ihnen lieb ist. Bringt sich Volumnia in ihrer Verzweiflung über den von ihr verursachten Tod ihres Sohnes um? Hat er Rom gerettet oder verraten? Ist sie eine stolz Trauernde? Was sagt Virgilia? Was sagt ihr Herz? Wird sie sich schlussendlich nach stillen Tränen befreit fühlen von der Vormundschaft der Mutter? Welche Geschichte wird man dem Sohn erzählen? Was wollte uns Shakespeare mit dieser lieblich schweigenden Frau überhaupt sagen? Wenn Bertolt Brechts Bearbeitung von Shakespeares Coriolan aus dem Jahre 1952/53 die bedeutendste aller aktualisierenden Bearbeitungen ist, dann ist sie das nicht zuletzt durch eine über Shakespeares Stück hinausgehende Epilogszene mit einer winzig kleinen Reminiszenz die Weiblichkeit des Stücks betreffend. Die Szene ist sehr lapidar und kurz. Ein Bote meldet, dass „am gestrigen Vormittage Cajus Marcius / Erschlagen wurd.“ Die Nachricht wird mit Stille aufgenommen. Der Plapperer Menenius stellt sofort einen

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Antrag auf eine Ehrung des großen Sohnes der Stadt durch den Senat. Den Antrag unterläuft der Volkstribun Brutus mit einem Gegenantrag: „Daß der Senat fortfahre mit der Sichtung / der täglichen Geschäfte.“ Dann stellt ein Konsul – wir vermuten der siegreiche Kandidat gegen Coriolan – eine Frage, die eine Bitte ist. Konsul Eine Frage: Die Marcier bitten, daß, nach der Verordnung Numa Pompilius’ für die Hinterbliebenen Von Vätern, Söhnen, Brüdern, doch den Frauen Erlaubt wird öffentliches Tragen Von Trauer für zehn Monde. Brutus Abgeschlagen. Der Senat setzt seine Beratungen fort.7

Brecht wusste als routinierter Dramatiker, dass er die Frauen nicht einfach im Regen stehen lassen konnte. Allerdings ist die dramatische Genugtuung in ihrer bürokratisch höhnischen Form keine Genugtuung in der Sache. Virgilia wird trotzdem trauern und weinen. Und was sie denkt und was ihr Herz sagt, werden wir nie erfahren. Es bleibt Shakespeares Geheimnis. Sie bleibt so schemenhaft wie in Plutarchs Vorlage, mit einem Hauch von Lieblichkeit, Anmut und Güte in einer Welt ohne Liebe: eisern, unerbittlich, spartanisch, puritanisch – ein reines Männerding in einer fürchterlichen Mutterwelt. deutsche Übersetzung: Dorothea Tieck 1) Günter Jürgensmeier, S. 668 2) Heinrich Heine, (2014) S. 45 3) Frank Günther, Bd.31, S. 277 4) Frank Günther, Bd.31, S. 329 5) Günter Jürgensmeier, S. 681 6) Frank Günther, Bd.31, S. 273 7) Bertolt Brecht: Gesammelte Werke 6. Zürich: Ex Libris 1977, Stücke 6, S. 2497

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Perikles, Fürst von Tyrus (1606 /1608)

Abb. 21: Titelblatt der ersten Quarto-Ausgabe von 1609

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Schon das Titelblatt der ersten Quarto-Ausgabe von 1609 behauptet, dass das Stück über den Prinzen von Tyrus sich beim Publikum scheinbar großer Beliebtheit erfreute: „The … much admired Play, Called Pericles“. Das Selbstlob im Titelblatt mutet etwas seltsam an, weil eine Aufführung des Stück erst am 2. Februar 1610 belegt ist.1 Aber vielleicht weiß das Titelblatt mehr als die erhaltene Überlieferung. Frank Günter vermutet die Uraufführung schon Ende 1607 oder Anfang 1608.2 Trotz des scheinbaren Erfolgs und obwohl die Quarto-Ausgabe „William Shakespeare“ ausdrücklich als Autor nennt, fehlt das Stück aus unerfindlichen Gründen in der maßgeblichen First-Folio-Ausgabe von 1623. Es erschien erst in der zweiten Auflage der dritten Folio-Ausgabe im Jahre 1664 (1. Auflage 1644). Die Bildergalerie von Charles Heath3 ist ihrerseits am Kanon der ersten Folio-Ausgabe von 1623 orientiert und bietet für die beiden Protagonistinnen, für Thaisa, die Frau des Perikles, und deren beider Tochter Marina deshalb kein Bild. Vermutlich wäre aber Marina zu Ehren des Galeriewerks von Charles Heath erhoben worden. Eine passende Textstelle zur Orientierung für den graphischen Künstler wäre ohne Probleme zu finden gewesen. Und weil Freiheit auch eine schöne Option ist, beginnen wir diesmal bei unserer bescheidenen Nachinszenierung des Stücks ausnahmsweise von vorne. Perikles, der Prinz von Tyrus (heute im Libanon), ist auf Brautschau. Er hat von einer außerordentlich schönen Tochter des Königs von Antiochien gehört (Syrien, heute Türkei). Der Haken für den Freier ist aber eine Bedingung, die wir heute besser aus Puccinis grausamem „Turandot“-Märchen kennen. Er muss eine Frage auf Leben, Braut oder Tod lösen. Perikles ist dazu bereit, obwohl viele abgeschlagene Köpfe auf Stangen rund um die Stadtmauer eher von der Unternehmung abraten. Aber junge Männer sind zumeist tollkühn und stürzen sich unerachtet großer Gefahren für Leib und Leben ins Verderben. Die namenlose Tochter wird vom potentiellen Brautvater unter feierlicher Musikbegleitung im Brautgewand auf die Szene gebeten.

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Perikles ist hingerissen von ihrer Schönheit und bereit, sich der Rätselfrage zu stellen. Perikles Bereitet so zu Leben oder Tod, Erwart’ ich nun den Schlag, Antiochus, Vorsicht verschmähend; laß das Blatt mich lesen. (I,2)

Die Tochter wünscht ihm Glück für die Lösung. Tochter Was du gesagt, sey dir zum Glück beschert, Was du gesagt, das wünsch’ ich dir zum Heil. (I,2)

Mag sein, dass ihr Glückwunsch aufrichtig ist – Shakespeare hat der Tochter nur diese beiden Verszeilen gegeben –, aber er ist dennoch vergiftet, weil er den Rätsellöser in ein unauflösliches Dilemma verstrickt. Weiß er die Lösung, verurteilt ihn die Antwort zum Tode, weiß er keine Lösung, verfällt er ohnehin dem Tode. Die Frage ist sehr delikat, und ob die Tochter durch eine Lösung sich aus der Umklammerung durch den Vater befreien oder sich weiterhin willig seinen Wünschen unterwerfen möchte, bleibt unklar. Wie so oft, ist der Zuschauer bei Shakespeare durch ein Wissen im Vorteil, das dem Protagonisten fehlt. Der Prologsprecher, der Dichter John Gower, hat uns nicht nur mit Ort und Zeit der Handlung vertraut gemacht, sondern auch ausgiebig über die Ausgangslage für das merkwürdige Werberitual am Hofe von Antiochus dem Großen. Gower Der König nahm ein Weib fürwahr, Sie starb, ein Töchterlein gebar, Ganz lustsam, schön und roth und weiß, Geschmückt von Gott mit allem Fleiß. Davon der Vater ward gerührt, Und zur Blutschande sie verführt. Schlimm Kind, und bös’rer Vater, eigen Blut Zu reizen, daß es also übel thut! Gewohnheit bald sie dahin bracht, Daß es nicht Sünde ward geacht’t. Mit Schönheit zog das sünd’ge Weib Dahin wohl manches Fürsten Leib, Der sie erwählt zum Bettgenoß Und zu der Eh’lust Spielgenoß; D’rum ließ er ein Gesetz nun walten, Zu schrecken, sie für sich zu halten,

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Daß, wer nicht, der sie gehrt zum Weib, Sein Räthsel riet, verlör’ den Leib. (I,1)

Perikles hat keine großen Schwierigkeiten, des Rätsels Lösung zu finden, aber sie auszusprechen kostet den Kopf so gut wie keine Antwort zu geben. Perikles Ein Fürst ist Erdengott, Gesetz wird sein Verbrechen: Schweift Zeus auch aus, wer wird von ihm als Sünder sprechen? (I,2)

Also schweigt der Prinz im Wissen, dass er um sein Leben fürchten muss, wenn er des Königs Verbrechen nennt. Und Antiochus seinerseits sieht ihm an, dass er die Lösung weiß; gnädig gibt er ihm noch vier Wochen Zeit, das Skandalwort „Blutschande“ oder „Inzest“ zu sagen. Warum der König so erpicht ist, seine Schande benannt zu hören, ist der Weisheit himmlischer Dramaturgie vorbehalten. Antiochus Er fand den Sinn, und d’rum sind wir gesinnt Sein Haupt zu haben. Er soll nicht leben, meine Schande zu posaunen, Der Welt zu sagen, daß Antiochus In Sünde lebt so schwarzer Art. D’rum sterbe dieser junge Prinz alsbald, Denn nur sein Tod ist meiner Ehre Halt. – (I,3)

Den Tod des Perikles hätte er entschieden einfacher haben können, denn die gewährte Frist nutzt der Held, sich aus dem Staub zu machen. Er sieht es nicht als seine Aufgabe an, das „schlimme Kind“ aus seiner Verstrickung zu erretten, sondern woanders sein Glück erneut zu versuchen. Gegen Blutschande scheint er fürs Leben gefeit. Das Stück bleibt die Antwort schuldig, warum dieses Exempel nötig war. Die punktgenaue Vorlage zum Stück „Die Geschichte des Königs Apollonius von Tyrus“ aus den „Gesta Romanorum“ greift tiefer und gibt ihm Auskunft über den neuralgischen Punkt solcher Dreiecksverhältnisse. Dort wird er über sein prinzipielles Vergehen aufgeklärt. „Weil du zu sein begehrst, was er als Vater selbst ist“.4

Das Herrenrecht der ersten Nacht gehört zumindest symbolisch dem Vater und ist Hintergrundfolie in allen Brautwerbungsgeschichten.

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Seine Flucht vor der Rache des Antiochus zieht Perikles zunächst wieder nach Hause, nach Tyrus, zurück. Aber er fühlt sich da nicht mehr sicher vor dem großen Heerführer, der das Tabu nicht nur symbolisch, sondern sehr in Tat und Wahrheit gebrochen hat. Er übergibt die Stadt an seinen erprobten Freund Helikanus und reist nach Tharsus (heute Türkei). Kaum ist er weg, sind die Häscher des Antiochus auch schon da. Sie scheinen über seine Flucht eher froh zu sein, weil sie sich deshalb die Hände nicht mehr schmutzig machen müssen. Man lässt sich gerne vom Statthalter zum Essen einladen, bevor man heimfährt. Helikanus ist trotzdem beunruhig und schreibt Perikles einen warnenden Brief nach Tharsus. In Tharsus herrscht Mangel an Getreide, sprich, es ist Hungersnot. Perikles hat, warum auch immer, seine Flotte mit dem begehrten Stoff geladen. Damit ist er bei Cleon und Dionysia, dem Statthalterehepaar von Tharsus, herzlich willkommen. Er kann den Lohn seiner guten Tat aber ob der Warnung des Helikanus nicht wirklich auskosten und flüchtet mit seiner Flotte nach nirgendwo. Ein Seesturm zerstört seine Schiffe, Schätze und Gesellen und spült ihn in Pentapolis (heute Libyen) an Land. Plitschnass steht er am Ufer des Meeres, wo ihn drei barmherzige Fischer notdürftig versorgen. Sie erzählen ihm auch, dass in Pentapolis der gute König Simonides regiert und dass ausgerechnet morgen zum Geburtstag seiner schönen Tochter aus der ganzen Welt Ritter zum Turnier angereist sind. Da möchte Perikles natürlich auch mitmachen, aber woher eine Rüstung nehmen. Kaum gedacht, ist sie schon da. Nicht besonders schön, aber im Netz der Fischer hat sich eine rostige Rüstung verfangen, und die erkennt er auch noch als die seines verstorbenen Vaters. Die Fischer freuen sich auf künftige Entlohnung für ihre Hilfe, und schon ist er als der „geringe Ritter“ beim Turnier angemeldet. Aufmarschiert ist König Simonides mit seiner Tochter Thaisa, und vor ihnen präsentieren sich die Ritter mit ihren durch schöne Sinnbilder gezierten Schilden. Thaisa weiß sie sehr schön zu erklären und die lateinischen Inschriften vorzulesen. Eins, zwei, drei, vier, fünf … Der sechste Ritter geht vorüber. Simonides Das sechst’ und letzte, das der Ritter selbst Dir hinhält mit so adligen Geberden? Thaisa Er scheint ein Fremder, und sein Bildniß ist

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Ein welker Zweig, nur an der Spitze grün, Der Spruch: in hac spe vivo. Simonides Sehr schön ersonnen! Er hofft, es soll durch dich sein Glück von neuem Aus seinem armen Zustand auferblühn. (II,3)

Frank Günther ist nicht nur ein Übersetzer, sondern auch ein Theaterpraktiker gewesen, und er schreibt dem Simonides auch gleich die Übersetzung aller lateinischen Inschriften in den Text. Danke! „In dieser Hoffnung leb ich.“5

Bei den Hofherrn kommt der rostige Ritter nicht so gut an, aber beim König und seiner Tochter läuft es gut für Perikles, und als er auch noch zum Turniersieger ausgerufen wird, ist für Thaisa die Sache gelaufen. Beim anschließenden Bankett im Prunksaal stellt man sich vor, kommt sich näher und findet sich auf Anhieb mehr als sympathisch. Der Vater scheint diesmal keine Rätsel stellen zu wollen und auch nicht auf eine Herrennacht zu spekulieren. Ein abschließender Tanz in den Rüstungen entbehrt nicht einer gewissen Komik, und vielleicht singt Perikles auch noch ein Lied. Am Hof von Tyrus hat der Statthalter soeben erfahren, dass der blutschänderische Antiochus und seine verbuhlte Tochter, während sie eine gemeinsame Ausfahrt hielten, vom Blitz erschlagen wurden. Die himmlische Strafe für die beiden Sünder wird allgemein gutgeheißen, führt aber in Tyrus zu einer falschen Schlussfolgerung. Die hohen Lords bitten Helikanus, sich zum König krönen zu lassen; er weigert sich und bittet um Aufschub für ein Jahr. Bis dahin könnte ja Perikles wieder auftauchen und ohne fernere Bedrohung durch Antiochus seine Regentschaft fortsetzen. Oder noch besser, liebe Lords, macht euch auf die Suche und bringt ihn zurück. In Pentapolis gestaltet sich die Situation nach dem Turnier wie folgt. Der gute König Simonides teilt den Turnierrittern mit, dass seine Tochter sich innerhalb der nächsten zwölf Monate nicht verehelichen will. Vielen Dank, meine Herren, und auf Wiedersehen. Traurig ziehen die Ritter ab. Simonides weiß mit gutem Instinkt den Grund der Absage, den Thaisa ihm in einem Brief mitteilt. Simonides

… nun zu der Tochter Brief.

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Sie schreibt, vermählt sie sich dem Fremden nicht, So will sie nicht mehr sehen des Tages Licht. Recht gut, Fräulein, die Wahl stimmt mit der meinen: Es freut mich; aber, wie befehlerisch! Ganz sorglos, ob es mir auch recht mag seyn. (II,6)

Prinzipiell ist an der Einstellung des Simonides wenig auszusetzen, aber gefragt werden will der Vater dann doch. Da kommt Perikles gerade recht. Simonides verwickelt ihn in ein kleines Prüfungsgespräch und die herbeieilende Thaisa in ein trotziges Geständnis ihrer Liebe zu Perikles. Die Situation gefällt dem königlichen Vater und lässt ihn zu schauspielerischer Hochform auflaufen. Er spielt einen Moment lang den römischen pater familias, der plötzlich das Recht zu beanspruchen scheint, sein Kind nach seiner Laune und seinem Willen zu verheiraten. Das Paar befürchtet Schlimmes, denn er erhebt Einspruch gegen ihre Wahl und überrascht sie dann mit einer Pointe. Simonides D’rum, Fräulein, hört, entweder meinem Willen Gebt nach, und Ihr, mein Herr, fügt Euch im Guten, Wo nicht, so mach’ ich Euch – zu Mann und Frau! – Kommt, Händ’ und Lippen müssens auch besiegeln, Und so vereint, stör’ ich so eure Hoffnung. Zur Strafe denn – Gott geb’ euch viele Freude! Nun, seyd ihr glücklich? Thaisa

Ja, wenn Ihr mich liebt.

Perikles So wie mein Leben, wie mein Lebensblut! Simonides Nun, seyd Ihr einig? Beide Ja, wenn’s Euch gefällt, mein König. Simonides So gut, daß ich Euch gleich vermählt will seh’n, Dann sollt Ihr auch alsbald zu Bette geh’n. (II,6)

Nichts lieber als das! Man kann es förmlich hören, wie den beiden die Steine vom Herzen fallen. Der Zuschauer aber ist schon am Ende des zweiten Akts ins happy end einer Komödie gelangt, die ab jetzt Fahrt aufnimmt in ein neues Genre, konventionell „Romanze“

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genannt, von uns aber lieber als „Ehedrama“ mit eingelegtem Lustspiel in zweiter Generation und doppelten happy end beschrieben sein möchte. Diese dramaturgische Neuorientierung gilt für Shakespeares Alterswerk in Variationen. Sie beginnt hier an dieser Schnittstelle, denn angeblich hat die beiden ersten Akte von „Perikles“ ein Kumpel von Shakespeare geschrieben, ein gewisser George Wilkins. Das mag so gewesen sein, aber ganz ohne Shakespeares Zutun hat das Projekt sicher nicht seinen Anfang genommen. Eine Voraussetzung ist ja offensichtlich gleichgeblieben: Shakespeare und sein Alias-Autor bedienen sich für ihre Geschichte großzügig in der Quelle der „Gesta Romanorum“ („Die Geschichte des Königs Apollonius von Tyrus“), die ihnen auch in der Überlieferung bekannt war, die der mittelalterliche Dichter John Gower in seiner Verserzählung „Confessio Amantis“ gestaltet hat. Diesen Dichter hat das Autorenduo aus seinem Grab als Sprecher auf die Bühne geholt. Er hat der Dramaturgie ihres im Coworking entstanden Stücks einen gewissen epischen Charakter verliehen. Was sich allerdings geändert hat, ist der Charakter der gewählten Quellen selbst. Sie sind nicht mehr der steifen Biographik Plutarchs verpflichtet, sondern freieren poetisch erzählenden Formen, die vergleichsweise bunter und lockerer von Schiffsbrüchen, Entführungen durch Piraten, von bunten historischen Ereignissen etc. erzählen. Shakespeare hat sich Zeiten und Räume ohnehin immer großzügig verfügbar gemacht, ab jetzt ist seine Willkür gegen und über die Wahrscheinlichkeiten der wirklichen Welt aber ziemlich schrankenlos. Wer möchte, kann „Macbeth“ und „Othello“ als ein Ehedrama mit tragischem Ausgang lesen. Im „Hamlet“ steckt mit dem alten König und mit seinem Nachfolger König Claudius und der Königinwitwe Gertrud gleichsam eine doppelte Ehetragödie; der Liebestragödie von „Antonius und Kleopatra“ korrespondiert eine gescheiterte Konventionsehe mit Octavia. Die Ehe von Cäsar endet in Witwenschaft und die von Brutus in beidseitigem Untergang. Coriolans Ehe ist ein Desaster und die Ehen in den Historien sind bis auf die Ehe Catharinas mit Heinrich V. Katastrophenfälle. Von der Ehe König Lears kennt man nur drei Töchter, wovon nur eine, Cordelia, glücklich verheiratet ist. Die Zwischenbilanz schaut nicht gut aus und sie soll verbessert werden. Ab dem „Perikles“ fädelt Shake-

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speare Ehen ein, zerstört sie durch Schicksal oder Schuld, um sie schließlich wieder aufwendig zu restaurieren. Gleichzeitig erzählen die Stücke der Zukunft immer eine innere Geschichte von den Schicksalen der Kinder, die wieder in Ehen münden: Vater, Gattin/ Mutter, Tochter und Bräutigam. Das Rad läuft nicht immer ganz rund (siehe die böse Stiefmutter in „Cymbeline“), aber es läuft im „Wintermärchen“ wie geschmiert, und hier im „Perikles“ läuft es ebenfalls vorzüglich. Thaisa hat ihren Gatten, und schon in der nächsten Szene ist sie schwanger. Alles läuft gut für das junge Paar. Die Lords aus Tyrus sind in Pentapolis fündig geworden und bitten um Rückkehr als König. Von Antiochus droht keine Rache mehr, aber Neptun ist aus welchen Gründen auch immer neidisch und zerstörerisch. John Gower erzählt, was kommt. Gower Auf Neptuns Wogen; halb die Fahrt Ist schon vollbracht, da läßt von Art Das Glück wiedrum, der Norden graus Spey’t solchen wilden Sturm heraus, Daß wie die Ente taucht hernieder, So treibt das Schiff auch hin und wieder: Es schreyt die Frau, und, helf ’ uns Gott! Fällt gar vor Angst in Kindesnoth. Was nun im Sturme mag gescheh’n, Das sollt ihr selbst mit Augen seh’n. (III,1)

An Deck fleht Perikles die Götter an, zum einen um einen Schiffbruch abzuwenden, zum anderen betet er zur Göttin Lucina, die für Hilfe bei der Geburt zuständig ist. Die Göttin hilft zwar, so dass die Amme dem Vater ein gesundes neugeborenes Kind in den Arm legen kann, aber, das ist die schlechte Nachricht, Thaisa ist tot. Lychorida Dieß blieb von Eurer Königinn lebendig: Ein Töchterlein, um derentwillen seyd Gefaßt, und tröstet Euch. (III,2)

Unter Tränen der Trauer und der Freude nimmt Perikles sein Kind entgegen und segnet es. Perikles Es möge milde seyn dein Leben! Nie hatt’ ein Kind wohl stürmisch’re Geburt.

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Dein Sinn mag sanft und immer ruhig seyn; So rauh ward nie in diese Welt bewillkommt Ein Fürstenkind. Beglückt sei deine Zukunft! Wild tobend war die Stunde der Geburt, Den ärgsten Gruß gab Feuer, Wasser, Erde, Luft, Himmel dir, aus Mutterleib erscheinend; Im Anbeginn ist dein Verlust schon größer, Als dir das Leben je ersetzen kann. Ihr Götter schaut gütig und freundlich nieder! (III,2)

Dass Thaisa tot ist, ist Jammers genug, aber die Seeleute bestehen darauf, dass die tote Frau vom Schiff muss. Der Sturm wird sich nicht legen, solange sie an Bord ist. Perikles beugt sich schweren Herzens dem Aberglauben. Die Matrosen haben eine Kiste, die abgedichtet und verpicht ist. Da hinein bettet man die in Spezereien gewickelte tote Mutter; Schmuck und Schriften kommen dazu, und Neptun ist versöhnt, als er die Kiste auf dem Wasser schwimmen sieht. Um des Kindes willen ändert man die Fahrtroute und steuert statt Tyrus Tharsus an. Das Kind soll bei Cleon und seiner Frau Dionysia in Pflege gegeben werden. Die haben ohnehin selber ein kleines Kind bekommen und sind noch immer dankbar für das Getreide. Der nautische Laie fragt sich über den Sinn dieser Kursänderung, aber das ist das kleinste Problem, denn ein größeres erwartet ihn, ein Wunder. Dass sich der Sturm gelegt hat, ist ein natürliches Ereignis, dass da Strandgut angeschwemmt wird, ist üblich. In Ephesus, am großen Heiligtum der Diana, ziehen die Diener des Arztes Kerimon eine Kiste an Land, die einem Sarg gleicht. Ihm entströmt ein lieblicher Geruch. Aber die geöffnete Kiste bietet dann doch einen zunächst erschreckenden Einblick: einen Leichnam in Prachtgewand gehüllt, balsamiert und mit Schätzen und Schriften versehen. Kerimon Durch die Schrift sey es bekannt, Kommt dieser Sarg jemahls zu Land: Mir, Perikles, starb sie zu Leid, Die mehr mir als Weltkostbarkeit. Ein Grab bereit’ ihr, wer sie find’t, Sie war ein’s reichen Königs Kind, Und nehm’ zu Lohn die edlen Stein’, Der Himmel mag ihm günstig seyn. (III,3)

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Ein Arzt empfindet den Tod als Niederlage, und Kerimon sieht sofort, dass sein „Schneewittchen“ erstaunlich frisch aussieht. Er befiehlt, sofort Feuer zu machen, Tücher und Medizin zu holen und Musik zu spielen. Schon verspürt er den warmen Atem der Königin, sie öffnet die Augen, sie bewegt sich und spricht: Thaisa Diana! Wo bin ich? Wo mein Gemahl? Und welche Welt? Zweyter Edelmann Ist das nicht seltsam? Erster Edelmann

Wunder! (III,3)

Auch wenn im Original nur „äußerst seltsam / most rare“ steht, übersetzt Ludwig Tieck, der Romantiker, dem Text zu Trotz mit „Wunder“; und wenn man den neuen dramatischen Grundakzent für Shakespeares späte Stücke registriert, akzeptiert man auch die Verwandlung des Dramas ins „Märchenstück“, in dem Tote auferstehen und Tiere sprechen können, Zauberer zaubern und mit magischen Kräften Stürme entfachen dürfen. Der Grat zwischen Wunder, Mirakel, Magie, Zaubertrick und Hexenwesen ist hauchdünn und die Grenzen verwischen sich, aber das Personal verzichtet zunehmend, das Wunderwesen zu hinterfragen. Hamlet hat mit dem Geist seines Vaters und Macbeth mit den Hexen durchaus Probleme. Kerimon ist mit seiner ärztlichen (Zauber-) Kunst im Reinen. Ob Thaisa entbunden hat, weiß sie nicht und der Arzt weiß es nicht zu bestätigen, und da sie Perikles wohl niemals wieder sehen wird, geht sie ins Kloster der Diana in Ephesus. Während in Ephesus aus der Kiste das Wunder der auferstandenen Thaisa entsteigt, übergibt Perikles sein Baby in Tharsus zur Pflege. Mittlerweile hat das Kind auch einen Namen. Perikles

Mein holdes Kind, Marina, (Weil sie zur See geboren, so genannt) Vertrau’ ich Eurer Liebe, lasse sie Als Eure Sorge hier, und bitt’ Euch, fürstlich Sie zu erzieh’n, daß Sitte und Geburt Sich gleichen. (III,4)

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Die Amme der Marina, Lychorida, lässt er bei dem Kind zurück und selber kehrt er nach Tyrus zurück, um seinen Statthalter Helikanus endlich zu entlasten. Gute vierzehn Jahre vergehen. Die überbrückt uns der Erzähler Gower. Er fasst zusammen, was wir schon wissen, also wer wie was und wo gemacht hat. Dann erzählt er uns, dass Marina bestens erzogen und ausgebildet wurde, aber dass die eigene Tochter der Pfleg­eltern immer einen Tick schlechter ist, ob beim Sticken, beim Singen und Musizieren und natürlich was die Schönheit betrifft. Als dann die Amme stirbt, spielt die Pflegemutter Dionysa die böse Stiefmutter und beschließt, das Mädchen zu töten. Sie beauftragt den Diener Leonin, der etwas trottelig neben dem Mädchen herläuft, das aufs Grab der Amme Blumen streuen will. Sie verwickelt ihn in ein Gespräch über ihre harte Geburt auf dem Schiff, er fordert sie zum Beten auf. Nicht zu lange bitte, damit ich meiner Herrin Auftrag erledigen kann. Marina riecht den Braten sofort und frägt den Hohlkopf. Marina Warum will sie mich tödten lassen? So viel ich weiß, hab’ ich, bei meiner Treu, In meinem Leben ihr kein Leid gethan. Sprach kein schlimm Wort, that keinem lebenden Geschöpfe Harm, das glaubt mir auf mein Wort; […] Leonin Mein Auftrag Ist nicht die That besprechen, sondern thun. (IV,2)

Der feste Vorsatz ist im Nu zunichte, denn hier schlägt einmal das Böse das Böse aus dem Felde. Es geht blitzschnell; als er zustechen will, kommen drei Seeräuber und schlagen Leonin in die Flucht und verschwinden mit Marina nach Mytilene ins nächste Bordell. Verschiedene Auftragslagen bedingen verschiedene Lösungen, und der Weg an den neuen Arbeitsplatz ist nicht gerade ein Spaziergang um die Ecke und vergleichbar mit heute – mindestens so weit wie aus Rumänien nach Hamburg. Leonin ist froh, dass er Vollzug melden kann, ohne ein Auftragskiller sein zu müssen. Im Sprung sind wir vor Ort, und die Zurichtung des gut 14-jährigen Mädchens verläuft wie der Widerspenstigen Zähmung. Marina ist nicht so naiv, dass sie nicht wüsste, was ihr zugemutet wird.

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Die Reden der Kupplerin sind hohle Versprechungen, gegen die sich das Mädchen sträubt. Kupplerin Und in Freuden wirst du leben. Marina Nein. Kupplerin O ja, gewiß, und alle Arten von feinen Herrn wirst du versuchen. Es wird dir gut thun, du wirst die Verschiedenheit aller Temperamente haben. Wie? Du hältst dir die Ohren zu? Marina Seyd ihr eine Frau? Kupplerin Nun, was sollt’ ich denn sonst seyn, wenn ich keine Frau wäre? Marina Eine tugendhafte Frau, oder keine Frau. Kupplerin Ei, daß du Ohrfeigen kriegtest, du Gänschen! Ich merke, du wirst mir zu schaffen machen. Komm, du bist ein junger kindischer Schößling, du mußt dich biegen, wie ich dich haben will. Marina Die Götter werden mich erlösen. Kupplerin Wenn es den Göttern gefällt, dich durch Männer zu lösen, so müssen Männer dich vergnügen, so müssen Männer dich speisen, so müssen Männer sich an dich machen. – (IV,4)

Marina wird sich ihre Variante im Spiel von binär/non-binär mit Hilfe von Diana finden. Es ist aber keine leichte Rolle, im Bordell die tugendhafte Frau zu spielen, nein, besser tugendhaft zu sein! Marina Brennt Feuer, schneiden Dolch’, ertränkt die Fluth; Bewahrt den Jungfrauen-Gürtel mir mein Muth. Und du, Diana, hilf! Kupplerin Was haben wir mit Dianen zu thun? Nun, willst du wohl mit mir kommen? (IV,4)

In Tharsus geht es hoch her im Hause des Cleon und der Dionysa. Sie hat Leonin vergiftet und er ist empört. Alles gäbe er hin, um den

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Tod der Marina rückgängig zu machen. Der Schurke Leonin ist verschmerzbar. Cleon Was kannst du nun wohl sagen, Wenn Perikles nach seinem Kinde fragt? Dionysa Nun, daß sie starb. Ein Wärter ist kein Gott, Der es ernährt und immerdar erhält. Sie starb bey Nacht; ich sag’s: wer widerspricht? (IV,5)

Für unser Kind, fasst Dionysa kühl zusammen, ist es das Beste, dass Marina keinen Schatten mehr auf sie wirft. Ich habe es aus Liebe zu ihr getan. Dionysa Und was den Perikles betrifft, Was kann er sagen? Wir beweinten sie, Und trauern noch; ihr Monument ist fast Vollendet, und ihr Epitaphium sagt Im gold’nen Glanz der Schrift den Ruhm, Der allgemein in ihr war, und uns’re Liebe, Die’s kostbar ihr gesetzt. (IV,5)

Dionysa ist stolz auf sich und auf ihr timing, denn Gower kommt und erzählt, dass Perikles gerade eben nach 14 Jahren sich aufgemacht hat, um seine Tochter, „seines Lebens Lust“, heimzuholen. Wieder, zum dritten Mal bereits in diesem episch erzählenden Stück, delegiert der Dramatiker dem Theater die Aufgabe in einem „Stummen Spiel“, einer „Pantomine“ (engl. dumb-show) die Handlung ohne Text weiterzutreiben. Stummes Spiel Perikles tritt mit seinem Zuge von der einen Seite auf, Cleon und Dionysa von der andern; Cleon zeigt dem Perikles das Grabmahl, worauf Perikles heftige Klage führt, ein Trauerkleid anlegt und im größten Schmerz abgeht. (IV,6)

Die Grabschrift, die die böse Dionysa für Marina hat machen lassen und die Gower rezitiert, ist in ihrem Zynismus schwer erträglich und kann hier wegfallen. Die sanfte, glatte Schmeichelei, so der Erzähler, mag Perikles glauben oder nicht, jetzt soll und muss erzählt – gespielt – werden, … Gower … Der Tochter Ach und Weh und schweres Büßen

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Im Dienst’ der Bösen: ruhig mögt Ihr’s seh’n, Und denkt euch alle jetzt in Mitylen’. (IV,6)

Dort wenden sich zwei Edelleute mit Grausen von dem Bordell ab, in dem Marina arbeitet. Unerhört! Erster Edelmann … hier Theologie predigen! Konnte Euch das je im Traum einfallen? (IV,7)

Das ist ein Hammer! Von schlechten Häusern dieser Art, wo die Prostituierten predigen und beten, will der Kollege nichts mehr wissen. Was sind denn das plötzlich für Frauen – keusche Jungfrauen. Die beiden wenden sich mit Graus und fliehen dieses ehrenwerte Haus. Im Haus flucht der Kuppler. Wenn er das gewusst hätte, was das Mensch kostet, wäre sie nie ins Haus gekommen. Und die Kuppelmutter jammert hinterher: Kupplerin Pfui, pfui über sie! Sie ist imstande, den Gott Priapus kalt zu machen, und ein ganzes Geschlecht zugrunde zu richten. Man muß ihr entweder Gewalt thun, oder sie los zu werden suchen. Wann sie gegen ihre Freunde so seyn soll, wie sich’s gehört, wenn sie das thun soll, was unsrer Profession zukommt, so kommt sie daher mit ihren Finten, ihren Beweisen und Hauptbeweisen, ihren Gebethen und Kniebeugungen, so daß sie den Teufel zum Puritaner machen könnte, wenn er nur einen Kuß von ihr einhandeln wollte. (IV,8)

Das Mädchen verwandelt das Hurenhaus in ein Bethaus. Wir müssen sie loswerden. – Da kommt der Lord Lysimachus, der Regent von Mytilene. Man kennt ihn, obwohl er verkleidet ist. Er ist wohl ein Stammgast. Die Szene, die uns Shakespeare zumutet, ist schier unglaublich. Der Regent ist nicht abgeneigt, Marina als das Stück Jungfernfleisch zu goutieren, wie es ihm die Puffmutter andient. Er gibt ihr ein kleines Trinkgeld, und sie schärft Marina noch einmal ein, welchen Fisch sie da an der Angel hat. Kupplerin (zu Marina) Erstlich, müßt ihr Euch merken, das ist ein ehrenvoller Mann. Marina Ich wünsche ihn so zu finden, daß ich ihn als würdig merken möge.

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Kupplerin Dann ist er der Regent dieses Landes, und ein Mann, dem ich verpflichtet bin. Marina Wenn er das Land regiert, so seyd Ihr ihm freilich verpflichtet, aber wie ehrenvoll er darin ist, kann ich nicht sagen. Kupplerin Hört, ohne weiter jüngferliches Zieren, wollt Ihr gegen ihn freundlich seyn? Er wird Eure Schürze mit Gold füllen. Marina Was er liebreich thut, werde ich dankbar annehmen. Lysimachus Seyd Ihr fertig? (IV,8)

Der Regent wird ungeduldig, die Chefin erinnert noch einmal, Geduld mit der Anfängerin zu haben. Dann verschwindet sie, und der Freier beginnt ein Gespräch à la mode de maison. Lysimachus Nun, du hübsches Ding, seit wie lange bist du bey diesem Gewerbe? (IV,8)

Dass Lysimachus anders aus dem Haus gehen wird, als er hereingekommen ist, ist ihm noch nicht klar. Aber das kleine Biest verdreht ihm jedes Wort im Munde und kriegt ihn auf ihre Bahn. Lysimachus Nun, das Haus, worin du wohn’st, macht es ja deutlich, daß du ein Geschöpf für Geld bist. Marina Kennt Ihr dieß Haus als einen solchen Ort, und kommt doch herein? Man sagte mir, Ihr wäret ehrenwerth, und der Statthalter dieser Gegend. (IV,8)

Damit hat er nicht gerechnet. Wofür seine Verkleidung? Das geht noch eine Weile so dialektisch weiter. Frank Günther6 hat in seiner Übersetzung das spitzfindige und haarspalterische Dialogspiel noch erweitert durch Passagen aus einer Prosafassung der Geschichte seines Koautors George Wilkins, um der heiligen Hure mehr Glaubwürdigkeit zu geben. Sie packt ihn direkt bei seiner Ehre. Wenn sie der Regent hier in Mytilene sind, dann zeigen sie ihren Adel. Marina Seyd Ihr von edlem Stamm, so zeigt es jetzt,

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Erhieltet Ihr den Adel, so bestätig’t Das Urtheil, das Euch dessen würdig hielt. (IV,8) Lysimachus Wie war das? Wie? Nur weiter. – Sprich deine Weisheit. (IV,8)

Sie hat ihn, und es sprudelt aus ihr und ihre gediegene Bildung kommt ihr zu Gute. Lysimachus Ich dachte nicht, Daß du so gut spräch’st, träumte nicht davon; Hätt’ ich verderbten Sinn hierher gebracht, Dein Wort hätt’ ihn verwandelt. Nimm dieß Gold, Beharre stets auf diesem reinen Wege, Und ihren Beystand geben dir die Götter! (IV,8)

Plötzlich will er am besten gar nicht hier gewesen sein – irgendwie stinkt hier alles –, und da er doch offensichtlich da ist, kam er dennoch mit keinen bösen Absichten hierher. Er bezahlt sie königlich. Adel erkennt Adel. Lysimachus Fahr’ wohl. Du bist ein Bild der Tugend, ward’st Gewiß von edler Art erzogen. Nimm, Hier hast du noch mehr Gold. Fluch über den, er sterbe wie ein Dieb, Der deiner Tugend dich beraubt! Hörst du Von mir, so soll’s zu deinem Besten seyn. (IV,8)

Wir plaudern aus dem Nähkästchen bzw. aus der Zukunft. Der Tugend wird er sie später dennoch berauben, jenseits des Stückendes. Vorerst ist sie die finanziell erfolgreichste Hure des Hauses, und in einer Gardinenpredigt bringt sie den Gehilfen des Zuhälters dazu, sie in einem Haus für ehrbare Frauen unterzubringen. Sie könne Unterricht geben in Gesang, Weberei, als Schneiderin und Tänzerin. Mit sittsamen Frauen hat er zwar wenig Erfahrung, aber – hier ist Gold – das wird sich einrichten lassen. Der Chef und die Chefin hätten sie ohnehin gerne los. Marina ist frei und schnell in einem sittsamen Haus untergebracht. Gower berichtet den Zuschauern aber auch, dass Perikles vom Grabmal seiner Tochter in Tharsus in Mytilene angelandet ist. Er hatte ob ihres Todes geschworen, sich den Bart nicht mehr zu schneiden und sich nicht mehr das Gesicht zu waschen. Man feiert gerade das Fest des Gottes Neptun und Lysimachus, der Herr von

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Mytilene, klopft bei dem fremden Schiff an, um die Besatzung zum Feiern einzuladen. Meinem Herrn von Tyrus ist aber nicht nach Feiern zumute, sagt sein Sprecher Helikanus. Es geht ihm nicht gut, … Helicanus … weil er Ein liebes Kind verlor und seine Gattinn. (V,2)

Könnte ich, fragt Lysimachus freundlich, ihn vielleicht kurz sprechen. Ja schon, sagt Helikanus, aber er spricht mit niemand. Um nicht unhöflich zu sein, hebt er einen Vorhang, hinter dem Perikles in tiefer Schwermut sitzt. Da macht ein bisher nicht auffällig gewordener Lord aus dem Gefolge des Lysimachus einen sensationellen Vorschlag. Lord Ein Mädchen ist in Mitylen’, ich wette, Die macht’ ihn reden. (V,2)

Woher weiß der Lord von der Überzeugungskraft der Frau. Hat ihm Lysimachus von seiner Bekehrung erzählt? Der Statthalter ist jedenfalls sofort einverstanden. Er empfiehlt die Frau mit warmen Worten. Lysimachus Sie wird gewiß mit süßer Harmonie Und vieler selt’nen Lieblichkeit ihn reitzen, Und Oeffnung stürmen durch die festen Thore, Die jetzt verschlossen sind. In allem glücklich, und die Schönste aller, Mit weiblichen Gefährten ist sie oben Im Laubengang’, der hier auf dieser Seite Sich nach dem Meere zieh’t. (V,2)

Wenn das keine Empfehlung ist; Helikanus ist zwar skeptisch, aber schaden kann es auch nicht. Schon ist das Mädchen mit einem Gefolge zur Stelle; Lysimachus begrüßt sie herzlich, aber ein leicht verlegenes Gefühl ist auch dabei von wegen ihrer ersten Begegnung. Dem leutseligen Helikanus vertraut er im Vertrauen sogar an: Lysimachus Ihr Wert ist so, daß, wär’ ich nur versichert, Sie sey von edler Art und Abstammung, Ich um sie frey’t, und hoch vermählt mich dünkte. – (V,2)

Ob Marina es vielleicht gehört hat, der Autor lässt es an dieser Stelle im Dunkel. Lysimachos verwendet sich noch einmal für den Kran-

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ken, und dann tritt Marina mit Gesang zu dem fremden Mann. Sie spricht ihn sanft an, aber er reagiert unwirsch. Sie erzählt von ihrem Geschick, aber eher aus Verlegenheit. Sie will einen Gesprächsfaden finden. Er murmelt ihrer Geschichte nachdenklich hinterher, um sie gleichwohl hart zurückzuweisen. Perikles Mein Glück, – Geschlecht, – ein vornehmes Geschlecht – Dem meinem gleich, – so war’s? – Nicht wahr, so war’s? (Er stößt sie heftig von sich.) (V,2)

Marina quittiert seine Grobheit mit einem leichten Tadel, der ihn verbindlicher macht und eine Erinnerung wachruft. Perikles Sieh mich noch ein Mahl an, – du gleichst jemand, – Du bist ein Mädchen hier, nicht wahr, vom Fest’ Vom Schauspiel’ hier? (V,2)

Um Gottes Willen, das hat nichts mit Theater zu tun, ich bin ein Kind des Leidens. Mein Gesicht spricht nicht von fremden Schmerzen, sondern von meinem Geschick. Für Perikles öffnen sich plötzlich innere Augen. Perikles Weh-schwanger bring’ ich Thränen nun zur Welt. – Mein holdes Weib war diesem Mädchen gleich, So könnte meine Tochter jetzo seyn; Der Königin Brauen, völlig ihre Größe, Gewachsen wie ein Rohr, die Silberstimme, Juwel das Aug’, und auch so reich gefaßt, Juno im Gang’; Das Ohr erstirbt, wenn sie es nährt, wird hung’rig, So mehr sie ihm der Rede gibt. – (V,2)

Der Bann ist gebrochen. Ein Gesprächsfaden gefunden. Er beginnt zu fragen und Marina antwortet. Wo lebst du? Und wo erzogen? Wem stammst du ab? Jetzt verzögert sie und er drängt auf Antworten. Perikles Mein Sinn soll deinem Wort’ durchaus vertrau’n, Bis zu Unmöglichkeiten, denn du gleich’st Jemand, den ich geliebt. Wem stamm’st du ab? Du sagtest ja, als ich dich von mir stieß, – Gleich als ich dich zuerst geseh’n, – du sey’st Von guter Abkunft? (V,2)

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Ja, schon, aber meine Geschichte ist so unwahrscheinlich wie eine Lügengeschichte, über die man lacht. Davon will Perikles nichts wissen. Perikles Erzähl’ dein Leid, […] – und die Aeltern? Und wie verlor’st – wie heißt du, zart’ste Jungfrau? Nun sag’, ich bitte; komm’, sitz’ zu mir her. (V,2)

Jetzt kommt ein sensationeller Augenblick. Obwohl das Stück mit der Geschichte des Königs Perikles jenseits aller klassischen poetologischen Unterscheidungen sich bewegt, steuert es jetzt auf einen Punkt zu, der in eben dieser Poetik von zentraler Bedeutung ist. Es ist der Augenblick, den die Theorie mit dem Begriff „Anagnorisis“ markiert. Das meint das Wiedererkennen zwischen Personen in einem näheren Verwandtschaftsverhältnis. Es ist ein dramatisches Element sowohl der Tragödie als auch der Komödie, denn es bestimmt jeweils einen Umschwung der Handlung in eine bisher noch nicht eindeutig erkennbare Lösung des Konflikts. Die sonst poetisch versierte Therapeutin setzt sich zu dem gebeutelten Mann und sagt jetzt in aller Schlichtheit: Marina Marina ist mein Nahm’. (V,2)

So ernst der Augenblick auch ist, Perikles entfährt ein Wort von so schillernder Bedeutung, dass es für den Schauspieler eine wahre Freude sein muss, alle Varianten gleichzeitig auszudrücken. Perikles O, I am mocked, And thou by some incensed god sent hither To make the world to laugh at me. (V,2)

to mock: narren, täuschen, verspotten, mokieren, lustig machen, verhöhnen, heute auch gerne: verarschen, foppen, hereinlegen, veräppeln, veralbern, vergackeiern, verhohnepipeln, verkohlen, verulken, jemanden auf den Arm nehmen, jemandem einen Bären aufbinden, jemandem ein X für ein U vormachen, jemanden hinters Licht führen, jemanden zum Narren halten, jemanden für dumm verkaufen, bayerisch: dablecka, u.s.w. Ludwig Tieck übersetzt den Witz im Ernst, den sich Shakespeare erlaubt, eher ungeschickt.

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Perikles

Ich werd’ ein Spott – Ein zorn’ger Gott hat dich hierher gesandt, Daß mich die Welt verlachen soll! (V,2)

Die emotionalen Reaktionen von Marina im fortschreitenden Wiedererkennungsprozess bleiben verhalten. Sie bittet um Geduld, anderenfalls höre ich auf zu erzählen. Aber, sagt Perikles, du hast mich mit deinem Namen ziemlich erschreckt. Die Königstochter, auch das lässt sie wie nebenbei fallen, beginnt jetzt mit einer langandauernden Inszenierung einer Enthüllung ihrer Person. Weiter, weiter bitte, weiter! Perikles

– Weiter: wo ward’st du geboren? Warum Marina denn genannt? […] Und wer war deine Mutter? […] – Wo ward’st erzogen? Ich will hören […] Nun sey so gut, wie kamst du denn hierher? Wo wurdest du erzogen? (V,2)

Der Zuschauer ist in der komfortablen Lage, die Antworten zu wissen, die dem Vater so wichtig sind. Aber dieser muss über die Hürde ihres Todes springen und auch sie ist sich seiner Identität nicht sicher; sie hat ihn ja nur mit Babyaugen gesehen. Deshalb geht Marina sehr behutsam vor. Nach und nach kommen ihre Enthüllungen an den Punkt, wo die Vergangenheit die Gegenwart einholt. Jetzt ist Perikles so weich, dass er zu Weinen beginnt. Marina sagt ganz ruhig und gefasst: Marina Ich bin das Kind des Königs Perikles, Wenn er noch lebt, der gute Perikles. (V,2)

Aus Perikles Tränen werden im Augenblick Tränen ungebändigter Freude. Er ruft Helikanus und Lysimachus zu Zeugen seines Glücks herbei und fällt der Tochter um den Hals. Perikles – O komm hierher, Du, die erzeugt, der dein Erzeuger war, Du, see-geboren, zu Tharsus begraben,

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Zur See gefunden wieder? – (V,2)

Es ist ein einigermaßen geheimnisvoller Satz, in dem Perikles sich von seiner Tochter neu ins Leben zurückgeholt sieht. Er trifft auch auf das „Wintermärchen“ und „Cymbeline“ zu, in dem Leontes durch Perdita und sogar Cymbeline wieder durch Imogen in die Familienausstellung geholt wird. Immer ist da eine, der ihren Erzeuger ins Leben zurückbringt. Hier eine Parallele zur Blutschande von Antiochus und seiner Tochter zu konstruieren, erscheint eher als eine überzogene These. Das Herrenrecht der Väter auf eine erste Nacht zerfließt in die Rührung und übergroße Vaterliebe zu den Töchtern, die ein Bild der verlorenen Mütter sind. Die Kinder sind der Nachschein eines verlorenen Seins, sind Trauer mit Goldrand, die zu spätem, wunschlosem Glück werden. Perikles nimmt nun seinerseits auch der Tochter die imaginäre Binde von den Augen, indem er sich als Vater bestätigt. Perikles Ich bin von Tyrus Perikles; nun nenne Noch meiner meerbegrab’nen Königin Namen (V,2)

Marina nennt und bestätigt den Namen der Mutter. Marina Nur dieses fehlt’, um Tochter Euch zu seyn, Daß ich Thaisa, meine Mutter nenne? Thaisa hieß die Mutter, die geendet Im Augenblick, als ich begann. (V,2)

Ein erstes Finale ist erreicht, und unter Sphärenmusik schläft Perikles ein. Alle ziehn sich zurück und überlassen der Göttin Diana das Feld am Lager von Perikles. Sie begegnet auch in Shakespeares Vorlage. Dort erscheint sie Perikles im Traum als eine engelgleiche Gestalt; das Theater schreit nach Verkörperung des Traums. Die Göttin tritt vor Perikles, respektive sie schwebt herab. Ohne Deus ex machina kommt die Geschichte der Irrfahrten des Königs und seiner Tochter nicht mehr ins endgültige Ziel irdischer Geschicke. Sein Traum, respektive der Göttin Text weist den Weg, indem sie ihn zum Opfer an Dianas Altar in Ephesus auffordert. Sie bittet ihn, vor allem Volke die Geschichte seiner Gemahlin und Tochter haarklein zu erzählen, natürlich zu ihrem Ruhme. Diana Thu’ dieß, sonst wirst in Elend du gezogen, Thust du’s, beglückt, bey meinem Silber-Bogen!

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Erwach’, erzähle deinen Traum. (V,2)

Es wäre nach dieser Traumrede töricht von unserem Helden, wenn er seinem ersten Impuls nach Rache folgen und nach Tharsus segeln würde. Ephesus liegt ja ohnehin auf dem Weg nur wenig südlich von Mytilene. Zuerst aber braucht er noch Proviant, und ein wenig erfrischen will sich Perikles auch noch. Er sieht ja mit seinem ungeschorenen Bart, dem ungewaschenen Gesicht und seinen schäbigen Kleidern wirklich nicht gut aus. Lysimachus ist absolut einverstanden, denn er möchte bezüglich Marinas noch eine Bitte anbringen, von der wir schon wissen: seinen Heiratsantrag. Den ist er dem Autor zur Vollendung einer doppelten Komödie, seines Märchens, seiner Romanze, schuldig. Man sieht sich wieder in Ephesus. In kurzem Zwischentext unterrichtet uns Gower, dass Lysimachus Marina als Braut erhält, aber erst, wenn das Opfer für Diana vollbracht ist. Dass wir alle so schnell nach Ephesus gekommen sind, daran ist ausnahmsweise einmal nicht Neptun schuld, sondern, so Gower, unser aller Phantasie. Mit ihrer Hilfe imaginiert uns die Schlussszene einen Aufzug von der einen Seite und von der anderen Seite. Wir erkennen die Protagonisten beider Seiten, aber untereinander sind sie sich ziemlich fremd. Lassen wir die Begleitungen von Priesterinnen und anderweitigem Gefolge außer Acht, verbleiben ein Vater und seine Tochter, die einer Ehefrau und Mutter gegenüberstehen, die sie nicht erkennen und umgekehrt diese nicht (mehr) ihren Mann und keinesfalls ihr Kind. Es sind gut vierzehn Jahre vergangen, nach damaliger Zeit eine halbe Ewigkeit. Perikles beginnt seine Rede vor dem Volk und vergisst nicht, alles Leid und Weh nach dem Wunsch der Göttin zu erzählen. Da bricht es aus der Frau hinter Diana wie aus einem Vulkan, und Perikles vermeint ihren völligen Zusammenbruch zu erleben. Jedenfalls sinkt sie ohnmächtig stammelnd nieder. Thaisa Gestalt Und Ton! – Du bist – o König, Perikles! Perikles Was will die Frau? Sie stirbt. Helft doch, Ihr Herrn! (V,4)

Jetzt tritt einer an die Rampe, den keiner mehr auf der Rechnung hatte. Cerimon, der Kräuterarzt und Totenerwecker, erklärt in klarem „wenn“ / „dann“:

Thaisa / Marina • 691

Cerimon Spracht ihr die Wahrheit vor Dianens Altar, Ist diese Eure Gattin. (V,4)

Nein, so beteuert Perikles, meine Gattin starb zur See im Kindbett, und ich warf sie in einem Sarg mit eigenen Armen über Bord, und an diese Küste, … wo ich ihn fand, führt Cerimon den Satz weiter. Jetzt schaut sie doch richtig an, sagt Cerimon; ihre kleine Ohnmacht will nichts bedeuten. Cerimon Seh’t nach der Frau. – Sie ist nur überfreut. – (V,4)

Thaisa erwacht langsam aus ihrer Ohnmacht und bittet, den Mann genauer ansehen zu dürfen. Und noch einmal hebt eine Wiedererkennungsszene an, mit der uns Shakespeare glücklich erschöpft oder so „überfreut“ / „overjoyed“ wie es Thaisa beim Anblick von Perikles ist. Für das Verb „überfreuen“ bekommt Ludwig Tieck ein Sonderlob als Übersetzer. Thaisa Seyd Ihr, mein König, denn nicht Perikles? Ihr sprecht gleich ihm, gleich ihm seyd Ihr gestaltet, Spracht Ihr von Sturm’ nicht, und Geburt, und Tod? Perikles Die Stimme der gestorbenen Thaisa! Thaisa Die bin ich, todt gewähnt, im Meer’ begraben. Perikles Göttin Diana! (V,4)

Was Augen und Ohren beglaubigen, bestätigt auch der Ring von ihrem Vater an seiner Hand. Damit haben die Wunder ein Ende, und das schlussendliche Glück einer erneuten Eheschließung fängt mit einem Kuss an. Perikles o laßt mich Gleich, wenn ich ihren Mund berühre, schmelzen, Hinschwinden ganz! Komm, sey begraben denn Zum zweyten Mahle an dieser Brust! (V,4)

Auch Marina bekommt einen letzten Satz, den Ludwig Tieck wiederum wunderbar übersetzt hat.

692 • Thaisa / Marina

Marina

Mein Herz Will in den Busen meiner Mutter springen. (V,4)

Bei Shakespeare steht tatsächlich „into my mothers bosom“ und wenn man „into“ mit „an meiner Mutter Busen“ übersetzt, dann muss man die Regieanweisung „kniet vor Thaisa“ in der Tat als leicht absurd empfinden. Harold Bloom mäkelt: „Wessen Herz aufhüpft und an der Mutter Busen will, kniet, so sollte man denken, nicht nieder.“7 Niederknien und bildlich mit dem Herz ins Herz springen scheint uns möglich, vor allem, wenn der Vater in ebensolcher Bildlichkeit fortfährt: Perikles Sieh, wer hier kniet, Fleisch von deinem Fleisch’, Dein Kind der Angst zur See, genannt Marina, Weil sie zur Welt dort kam. Thaisa

Gesegnet! Mein! (V,4)

Nach dem Segen der Mutter kommt konventionell-zeremonielles Bekanntmachen und – Marina und Lysimachus warten sehnsüchtig – eine frohe Ankündigung, die sie vielleicht mit einem Kuss besiegeln. Perikles

– Dieser Fürst, Thaisa, Ist der Verlobte deiner Tochter, zu Pentapolis soll die Vermählung seyn, Und diese Zier, die mich so wild entstellt, Soll nun zuerst nach vierzehn Jahren wieder Das Messer fühlen, sich von neuem schmücken, Um zu verschönern den Vermählungstag. (V,4)

In Pentapolis – Neptun sei den Paaren gnädig! – wird eine junge Ehe gegründet und eine totgeglaubte Verbindung erneuert. Wer dann wo herrscht, ist nur noch Formalie. Perikles Wir bleiben dann in diesem Königreich’, Zu Thyrus herrschen unser Sohn und Tochter. – (V,4)

Im Abgehen bittet der König fast schon standardmäßig darum, alles Erzählenswerte der vergangenen 14 Jahre wechselseitig zu erzählen. Ob Marina und Lysimachus dort auch erzählen, wo und wie sie sich kennengelernt haben, bleibt ein großes Geheimnis. Der Epilogsprecher Gower versucht eine Klammer vom Anfang

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zum Ende des Stücks zu schlagen. Er versucht, die inzestuöse Turandotgeschichte von „greuelhafter Lust“ zwischen Antiochus, seiner Tochter und Perikles auf Teufel komm raus in Parallele zum Triumph der „Tugend“ zwischen Perikles, Thaisa, Marina und Lysimachus zu setzen. Seine Erklärung macht den zweifelhaften Entwurf der Koautoren nicht besser. Eine „Nebensächlichkeit“ am Rande findet noch Erwähnung. Von seinem Vorsatz zur Rache an Cleon und Dionysa wird Perikles entlastet. Das erledigt der Himmel, bzw. das Volk von Tharsus. Es hat das Paar samt Palast wütend abgebrannt. Gower Die Götter schienen so den Mord zu hassen, Daß sie, auch unvollbracht, ihn strafen lassen. (V,5)

Kein Märchen hat vor diesen drastischen Schlüssen je Angst gehabt. Dieses Märchen und in Folge auch „Das Wintermärchen“ und „Cymbeline“ waren natürlich nicht für die sehr erfolgreichen Kindertruppen der Shakespearezeit geschrieben, die vornehmlich in privaten Spielstätten wie etwa dem „Blackfriars Theatre“ spielten. Sie waren selbstverständlich für Shakespeares Stammpublikum gedacht und relativ erfolgreich und beliebt bis zur Schließung der Theater durch die Puritaner. Sie und insbesondere „Perikles“ zogen aber immer auch kritische Einwände auf sich, und nach der Wiedereröffnung ließ ihre Attraktivität sehr zu wünschen übrig. Die Einwände gegen die schlechte Textqualität war für die Abneigung vielleicht nicht das Hauptargument; die episodenhafte Reihung bunter Szenen ohne zwingende Abfolge dramatischer Ereignisse wog schwerer. Sie schienen nicht nur, sondern sind durchaus ziemlich oberflächlich. Die neuen Qualitäten eines epischen Ansatzes, eines theatralischen Bildertheaters spielten sich nur in einem langen Prozess wieder in den Vordergrund. Ohne den Beweis seiner Bühnentauglichkeit hätten mir die berechtigten Zweifel und Einwände dieses Werk ebenfalls zu einem schwächeren Werk Shakespeares gemacht. Zwar ist es keine quantité négligeable im Kosmos seines Gesamtwerks, aber doch reichlich flach und unverdichtet. Aber ich hatte das Glück, das auch heute sehr selten gespielte Stück nicht in einer x-beliebigen, sondern einer exzellenten Aufführung im Deutschen Schauspielhaus Hamburg 1981 sehen zu können.8 Die Inszenierung des damals als Theaterguru aus Portugal/Argentinien gehandelten Augusto Fernandes

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machte auf Anhieb klar, dass das Stück nicht schlechter, sondern eben anders war, eine neue Variante im Werk Shakespeares, ein letzter Anlauf zur Summe seiner Spätwerke. Fernandes nutzte, nicht zuletzt auch an Brecht geschult, die episch unhierarchische Struktur der Vorlage und seiner aus vielen poetischen Welten erwachsenen exotischen Bilder und schuf in seiner Inszenierung aus dem Text des „Perikles“ einen szenischen Abenteuerroman, ein berauschendes Theaterereignis, ein üppig blühendes, sinnlich barockes Welttheater als großes Schauvergnügen. Die Reise des Perikles, auf die ihn Fernandes schickte, war wie ein orientalisches Märchen, dann wieder schien es wie aus dem maurischen Mittelalter, mutete bald chinesisch und bald griechisch antik an. Neben der Buntheit und Vielfalt gab es aber auch eine ernsthafte Konzentration auf jene Szenen, die das Stück als von Shakespeare Genie beglaubigt lesen lassen. Der Literatur- und Thea­terkritiker Hellmuth Karasek schrieb damals zur Inszenierung in der Zeitschrift „Theater heute“9 begeistert: „Hält man sich jene Wiederfindungsszene in der Hamburger Inszenierung von Augusto Fernandes vor Augen, dann lässt sich mit ihr schlüssig ein Philologenstreit natürlich nicht entwirren. Aber: jene nachzitternde Trauer im späten Wiederfinden, jenes durch Angst verzögerte Glücksgefühl, das in der Tochter die Sehnsucht eines ganzen Lebens mit bebendem Glück in die Arme zu schließen sucht – diese Szene macht in ihrer Mischung aus barockem Lebensgefühl und Lust an theatralischen Glücksmomenten – ein Bühnencoup und eine Lektion in Welterfahrung und utopischer Hoffnung in einem – deutlich, das der „Perikles“ (Shakespeare hin, Shakespeare her) die märchenhaft verschlüsselte Altersthematik der späten Romanzen- und Märchenspiele in all ihrem schillernden Reichtum enthält.“

deutsche Übersetzung: Ludwig Tieck 1) Ina Schabert, S. 525 2) Frank Günther, Bd. 35, S. 238 3) [Charles Heath] The Shakspeare Gallery. Containing the principal female characters … 1836/1837 4) Günter Jürgensmeier, S. 645 5) Frank Günther, Bd. 35, S. 71 6) Frank Günther, Bd. 35, S. 168 ff. 7) Harold Bloom, Tragödien, S. 339 8) Premiere 29.03.1981 9) Theater heute, Mai 1981, Heft 5, S. 24

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Cymbeline (1609 / 1610)

designed by Edmund Thomas Parris and engraved by T. A. Dean

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Vor Bellarius Höhle.

(Imogen tritt auf in Mannskleidern) Imogen Ich seh’, als Mann zu leben ist beschwerlich: Ich bin ermattet. Schon zwei Nächte war Mein Bett die Erde, und ich würd’ erkranken, Hielt’ mein Entschluß mich aufrecht nicht. – Milford, Als dich Pisanio mir vom Berge zeigte, Schienst du nicht fern. O Jupiter! Ich glaube, Gebäude fliehn den Unglücksel’gen, solche, Wo er Erquickung sucht. Zwei Bettler sagten, Ich könne fehl nicht gehn – lügt armes Volk, Das Leiden trägt, und selber weiß, wie schwer Als Züchtigung sie oder Prüfung lasten? Kein Wunder, da kaum wahr der Reiche spricht. Im Überfluß zu sündigen ist schlimmer, Als Lüg’ aus Noth; und Falschheit zeigt sich böser Im Kön’ge als im Bettler. – Theurer Gatte! Du bist der Falschen einer: dein gedenkend, Vergeht der Hunger; eben wollt’ ich noch Verschmachtend niedersinken. – Was ist das? Es führt ein Pfad hinein: welch Haus der Wildniß? Am besten wohl, nicht rufen; nein, ich wags nicht; Doch macht Verhungern tapfer die Natur, Eh’ es sie aufreibt ganz. Der Überfluß Und Friede zeugen Memmen, Drangsal ist Der Keckheit Mutter. – Heda! Wer ist hier? Bist ein gesittet Wesen, sprich; bist wild, Nimm oder gieb! – Ganz still? So tret’ ich ein. Doch zieh’ ich erst mein Schwerdt, und wenn mein Feind Das Schwerdt nur fürchtet so wie ich, dann wagt ers Kaum anzusehn. O, solchen Feind, ihr Götter! (sie geht in die Höhle) (III,6)

Höhlen können arkadische Schauplätze sein, Orte der erotischen Verführung, aber auch des Schauers und der Vergewaltigung und am Ende – wie in „Titus Andronicus“ – ein Grabloch. Insoweit hat

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die Frau im Pagenkostüm mit dem seltsamen Namen „Imogen“ schon recht, mit dem Schwert in der Hand nach den Bewohnern zu rufen. Da niemand zu Hause ist, bedient sie sich in der Höhle, um ihren Hunger zu stillen. Auch Mundraub kennen wir schon von Orlando, der sich an des Herzogs Tafel im Ardenner Wald bedient. So wie man in der Komödie „Wie es euch gefällt“ den Hungrigen freundlich einlädt, so hier. Die Bewohner der Höhle kommen von der Jagd, ein Vater mit zwei Söhnen. Sie sind vom Charme des „schönen Jünglings“ derart bezaubert, dass sie mit ihm gleich eine Wohngemeinschaft à la „Schneewittchen und die Sieben Zwerge“ hinter den sieben Walisischen Bergen anstreben. Sie wittern instinktiv so etwas wie Verwandtschaft. Und in der Tat, die drei sind Geschwister und König Cymbelines Kinder mit seiner ersten Frau. Bellarius, ihr vermeintlicher Vater, hat sie bei seiner Verbannung durch den König aus Rache geklaut und in die Ödnis mitgenommen und dort 20 Jahre lang zu edlen Waldkindern aufgezogen. Imogen ist ihre Schwester. Man versteht sich auf Anhieb blendend, auch wenn man nichts von der wechselseitigen Verwandtschaft weiß. Warum stoßen hier mitten in der kambrischen Wildnis drei Königskinder aufeinander? Weil es am Hof von König Cymbeline scheinbar immer turbulent herging (siehe Bellarius) und weil es neuerdings eine böse Stiefmutter gibt, die einen ziemlich unguten Einfluss auf den König hat. Er ist ihr schwer verfallen und tut alles, was sie will; und sie will ihren dummdreisten Sohn Cloten auf den Thron bringen. Er soll Imogen heiraten. Aber des Königs schlaue Tochter ist der Stiefmutter zuvorgekommen und hat heimlich einen anderen Mann geheiratet. Da geht sie in den Spuren von Shylocks Tochter Jessica und von Othellos Gattin Desdemona. Das wäre heute noch ein Skandal, und damals war es überhaupt nicht denkbar. Der Mann war zwar gut beleumundet, aber sonst war er nichts. Im Sinne ihres Anspruchs auf die Krone hat sich Imogen in den Augen des Vaters nicht gerade mustergültig – comme il faut – verhalten. Er reagiert, wie er muss. Er verbannt Posthumus Leonatus, so heißt der Auserwählte mit Vor- und Zuname, und sperrt die Tochter ein. Die schiefe Familienlage bringt ein Gespräch zweier Edelleute im Beginn des Stücks treffend auf den Punkt. 1. Edelmann Die Erbin dieses Reiches, seine Tochter,

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Bestimmt’ er seiner Frauen einz’gem Sohn, Die er als Wittwe kürzlich sich vermählt. Die Tochter wählte nun den Gatten selbst, Der arm, doch edel ist: sie sind vermählt; Der Mann verbannt, verhaftet sie: und Alles Ist äußrer Schmerz; obwohl der König, mein’ ich, Wahrhaft bekümmert ist. (I,1)

Die Bekümmernis trifft ihn ins Mark, und es bedarf einer abenteuerlich verworrenen und bunten Handlung, um die Familie wieder ordentlich aufzustellen. Das gelingt Shakespeare mit leichter Hand, und die Einordnung des Stücks als „Tragedie of Cymbeline“ in der ersten Folioausgabe von 1623 ist als ein Irrtum zu markieren. Es bedarf keiner literaturwissenschaftlichen Grundsatzdiskussion, um dem Urteil des bauernschlauen Lesers aus dem Toggenburg, Ulrich Bräker, zuzustimmen: „Gewüß ein charmantes Lustspiel, du hast es zierlich gedrechselt, William, habe Dank dafür.“1

Das Gespräch der beiden Edelleute setzt den Zuschauer noch mit zusätzlichen Ausführungen über die hohen Qualitäten des favorisierten Prinzgemahls von Imogen in Kenntnis und über die beiden vor etwa zwanzig Jahren entführten Buben des Bilderbuchkollegen von König Lear. Dann verschwinden sie, weil die Königin mit dem Skandalpaar in den Garten kommt. Sie verabschiedet Imogen und Posthumus und verspricht, sich für beide zu verwenden, sobald sich der Grimm des Königs ein wenig gelegt habe. Sie sei ja keine Stiefmutter nach allgemeinem bösem Klatsch. Imogen weiß, was sie davon zu halten hat. Tiefbetrübt nimmt das frischgetraute Paar voneinander Abschied und wechselt einen Ring und ein Armband zum Zeichen lebenslanger Treue. Wie bestellt – natürlich von der Stiefmutter –, kommt der König und droht sofort mit Tod. Posthumus verschwindet schnell nach Rom zu seinem Freund Philario, während der König mit seiner Tochter ordinär schimpft, weil sie den Sohn der Königin verschmäht. Der Diener von Posthumus, Pisanio, kommt gelaufen und vermeldet der Königin, dass Cloten, ihr Sohn, noch mit Posthumus eine Partie ausfechten wollte; aber das Gefecht konnte glücklicherweise verhindert werden. Dann kommt er selbst, der vielgepriesene bzw. der verschmähte Freier, und der Eindruck, den er hinterlässt, ist mehr als zwiespältig.

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Fürs erste ist er dem Publikum leibhaftig vorgestellt, aber Shakespeare wird ihn wieder und wieder ins Rennen schicken, um seine Unmöglichkeit unter Beweis zu stellen. Pisanio kommt vom Hafen zurück. Er, der ab jetzt für Imogen arbeiten wird, berichtet von einem traurig im Horizont sich auflösenden Geliebten, von dem sich Imogen leider nicht mehr richtig verabschieden konnte. Imogen … ich wollt’ ihm geben Den Abschiedskuß, den in zwei Zauberworte Ich eingefaßt: da tritt mein Vater ein, Und wie der grimme Hauch des Nordens, schüttelt Er unsre Knospen ab, eh sie erblüht. (I,4)

Und schon ist Posthumus in Rom und wir mit ihm im Haus seines Freundes Philario. Der vielgepriesene junge Mann – in Lieb und Lob immer der Erste (I,1) – verpatzt sich in einer typischen Männergesellschaft durch eine mehr als blödsinnige Wette auf Anhieb seine Zukunft. Er lässt sich von einem windigen Italiener, der wie Cymbeline von Lear eine Bilderbuchausgabe von Jago ist, zu einer Wette auf die Keuschheit und Treue seiner Frau Imogen überreden. Jachimo, so sein Name, und Posthumus besiegeln die Wette per Handschlag, und Posthumus setzt seinen Ring von Imogen zum Pfand ein. Indessen lässt sich die Königin von ihrem Hausarzt eine Mixtur erstellen, die einen langsam schleichenden Tod bereitet. Der Doktor traut der Königin nicht über den Weg und gibt ihr nur ein schnell und kurz wirkendes Schlafmittel. Das spielt sie an Pisanio weiter, dem sie dezente Versprechungen macht, wenn er für sie gegen Imogen arbeiten würde. Schon steht der Italiener im britannischen Palast von Cymbeline und macht Imogen seine Aufwartung. Wir sind immer noch im ersten Akt, und wieder zaubert Shakespeare mit der Zeit. Einer ist von Britannien nach Rom und ein anderer ebenso schnell von Rom zurück, und wir haben noch nicht richtig realisiert, dass wir im Zeitalter von Kaiser Augustus befindlich sind und dass dessen Rom der Zeitenwende wie das Rom der Renaissance ausschaut. Es finden sich Anachronismen über Anachronismen im Stück. Dennoch ist bisher alles noch recht überschaubar, und Jachimo geht sofort in die Vollen. Er lässt sich melden und versucht es mit Cäsars Devise: veni, vidi, vici. Er verleumdet Posthumus der Untreue und rät Imo-

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gen, sich zu rächen und mit ihm ins Bett zu gehen. Jachimo Rächt es! Ich weihe selbst mich euren süßen Freuden, Weit edler, als der Flüchtling eures Lagers; Und werde fest an eurer Liebe halten, So sicher wie geheim. (I,7)

Natürlich reagiert Imogen mit Entrüstung, wie es sich für eine treue Ehefrau gehört. Sie weiß, was sie sich schuldig ist, glaubt fest an seine Treue, unterschätzt aber doch Posthumus’ toxische Männlichkeit bei delikaten Wetten. Imogen Hinweg! – Fluch meinen Ohren, die so lange Dich angehört. – Wärst du ein Mann von Ehre, Du hättst um Tugend dieß erzählt, und nicht Für einen Zweck, so niedrig als befremdend. Du schmähst ‘nen edlen Mann, der so entfernt Von deiner Schildrung ist, wie du von Ehre; Und buhlst um eine Frau, die dich verabscheut, Dich und den Teufel gleich. – (I,7)

So schnell gibt Jachimo natürlich nicht auf. Er ändert sofort seine Taktik und erklärt das ganze Manöver als einen Test. Er lobt und preist Posthumus ob seiner tugendhaften Frau und bittet sie um Verzeihung für die prüfende Zumutung. Dass Imogen ihm die plötzliche Kehrtwendung glaubt, zeigt ihren weiblichen Instinkt auch nicht auf der Höhe der Situation. Aber Shakespeare wäre nicht Shakespeare, wenn er nicht machen könnte, dass Jachimo seine Wette gewinnt und Imogen trotzdem keusch bleibt. Jachimo inszeniert eine Variation des bed-trick, den wir schon von „Ende gut, Alles gut“ und „Maß für Maß“ kennen. Leider wird diesmal kein Beischlaf imaginiert und im off vollzogen, dafür aber je nach Laune der Regie eine Nummer auf der offenen Bühne zwischen slapstick und psycho zum Gaudium des Publikums gespielt. Jachimo bittet Imogen ihm zu erlauben, dass er sicherheitshalber eine Kiste mit wertvollem Silberzeug und Edelsteinen für den Kaiser in ihrem Schlafzimmer abstellen dürfe. In seiner Unterkunft sei das Zeug nicht sicher, „nur für diese Nacht“, denn morgen schon müsse er wieder an Bord. Danke vielmals, sagt er, dafür nehmt ihr mir ein Briefchen für Posthumus mit, sagt sie. Lebt wohl!

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Cloten hat von dem Italiener gehört, ist sofort eifersüchtig und will ihn sich ansehen. Der zweite Edelmann vom Anfang kommentiert nach dem Gespräch mit Cloten in bester Zusammenfassung, was bisher passiert ist, und gibt einen Ausblick aufs Ende. 2. Edelmann Daß ein so list’ger Teufel, wie die Mutter, Der Welt den Esel gab! ein Weib, das Alles Mit ihrem Geist erdrückt; und er, ihr Sohn, Kann, für sein Leben, nicht von zwanzig zwei Abziehn, daß achtzehn bleiben. Arme Fürstin, O edle Imogen, was mußt du dulden! Der Vater hier, den die Stiefmutter lenkt; Die Mutter dort, die stündlich Ränke spinnt; Ein Freier, hassenswürd’ger als der Bann Des theuren Gatten und der sünd’ge Vorsatz Der Scheidung! Unerschüttert halte Gott Die Mauer deiner Ehr’, und unentweiht Den Tempel, dein Gemüth; die Treu’ belohne Rückkehr des Gatten und die Herrscherkrone! (II,1)

Das sind keine schlechten Aussichten zusammen mit Posthumus regierende Königin zu werden. Das sollte doch möglich sein, denn bisher ist die Handlung noch immer überschaubar. Auch ist völlig klar, was nun kommt: das Schlafzimmer Imogens, in dessen Ecke die Kiste steht. Imogen hat fast drei Stunden gelesen, legt nun ihr Buch weg – vermutlich liest sie im Ovid –, schickt die Kammerfrau zur Ruhe, lässt aber die Kerze brennen. Das hat eigentlich nur den Grund, dass wir sehen können, was im Zimmer passiert. Früher hatte Imogen von der Kostümbildnerin vermutlich ein locker verrutschtes Nachtkleid bekommen, heute ist sie eher Nacktschläferin. Sie spricht ein kurzes Stoßgebet an die Götter, und schon ist sie eingeschlafen. Eine Tür quietscht; nein, es war der Deckel der Truhe oder vielleicht doch zirpende Grillen draußen. Aus der Schatzkiste steigt der Italiener, und was er sieht, ist ihm Cythera. Da liegt eine wunderschöne Frau mit entblößtem Busen eingerahmt von einer Zimmerausstattung von delikatestem Renaissance-Geschmack. Er will sie küssen, aber er redet zu viel. Seine Rede schildert dem Zuschauer, was die elisabethanische Bühne nicht zeigen konnte. Er prägt sich die Bettvorhänge und Wandteppiche genau ein. Dann löst er der Schlafenden das Armband ab und sieht … ein Merkmal ihres Lei-

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bes, das ein Volltreffer für ihn und die Eifersucht ihres Mannes ist. Jachimo Auf Der linken Brust ein Mahl, fünfsprenklig, wie Die rothen Tropfen in dem Schooß der Primel. Beweis, hier gült’ger als Gerichtsausspruch: Dieß Zeichen zwingt ihn, daß er glaubt, ich löste Das Schloß und raubte ihrer Ehre Schatz. (II,2)

Ein abschließender Blick ins Buch bestätigt uns, dass sie grausige Geschichten im Ovid gelesen hat. Die Uhr schlägt drei, und er steigt in seine enge Kiste zurück. Vor dem Schlafzimmer geht es schon munter zu. Cloten will Imogen ein Morgenständchen bringen. Die lässt sich aber nicht blicken. Da kommen der König und die Königin vorbei und trösten ihn. Ein Bote meldet Besuch aus Rom, und schon sind sie wieder weg. Jetzt ist Cloten so penetrant vor Imogens Schlafzimmer, bis diese tatsächlich aus ihrem Bett kommt. Sie gibt ihm einen Korb auf ewig und drei Tage. Dass das schlechteste Kleid, das Posthumus je getragen hat, mehr wert sein soll als er und alle seine Haare auf seinem Kopf, dieser Vergleich macht ihm zu schaffen. Noch schlimmer, jedes seiner Haare ein Kerl wie er und alle zusammen weniger wert als ihres Mannes Unterbekleidung. Cloten Ihr habt mich schwer gekränkt – sein schlechtstes Kleid? Imogen Ja wohl, das war mein Wort; Wenn ihr mich drum verklagen wollt, ruft Zeugen! (II,3)

Während Imogen ihr Armband sucht, ist Clotens nächstes Wort „Rache“. Wie die Truhe aus dem Zimmer kommt, bleibt offen, aber schon in der folgenden Szene sind wir und Jachimo in Rom. Der übergibt Imogens Briefe und verkündet lautstark: Jachimo Gern macht’ ich einen Weg, noch mal so weit, Für eine zweite Nacht, so süß und kurz, Als mir Britannien gab; mein ist der Ring. (II,4)

Posthumus bekommt einen Faustschlag nach dem anderen: die genüssliche Schilderung der Teppiche mit Cleopatra und Antonius

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am Kydnus, das Kaminstück mit der keuschen Diana im Bade, das Deckenstück und die Feuerböcke – goldene Cherubime und zwei schlummernde Cupidos. Dann, bitte erbleicht, wenn ihr könnt: Hier ist das Armband. Dann kommt der K.O.-Schlag. Jachimo Wenn ihr fordert Noch stärkre Proben, unter ihrer Brust (So werth des Druckes) ist ein Maal, recht stolz Auf diesen süßen Platz. Bei meinem Leben, Ich küßt’ es, und es gab mir neuen Hunger Zu frischem Mahl, nach dem Genuß. Erinnert Ihr euch des Mahls? (II,4)

Posthumus taumelt und fällt mit einem Aufschrei. Posthumus Hätt’ ich sie hier, sie stückweis’ zu zerreißen! Ja, ich geh’ hin, und thu’s am Hofe vor Des Vaters Augen! – Etwas will ich thun – (er geht ab) (II,4)

Und kommt sofort wieder und monologisiert wie eine Bilderbuchausgabe von Othello, schimpft in derart frauenverachtender Weise auf seine Mutter, auf Imogens Enthaltsamkeit, dass es den Zuhörer schamrot machen könnte, und ist einfach nur verzweifelt. Die Wette ist verloren. Er will sie quälen wie der schlimmste Teufel. Inzwischen muss der römische Gesandte Cajus Lucius im Palast Cymbelines zur Kenntnis nehmen, dass die Britannier ihren Tribut an Rom nicht mehr bezahlen wollen. Besonders die Königin und ihr Sohn finden das unangebracht. Das ist ein Kriegsgrund, auch wenn man persönlich im Guten auseinandergeht. Pisanio hat Post aus Rom bekommen. Einen Brief für Imogen und einen Brief an sich von Posthumus. Darin fordert er den treuen Diener auf, Imogen zu töten. Der ist entrüstet und erklärt dem Publikum, dass er das keinesfalls tun werde. Im Brief an seine Frau bittet er sie, nach Milford-Hafen in Cambria/Wales zu kommen. Er sei dort aus Rom angekommen und es wäre schön, wenn man sich da treffen könnte. So weit reicht der Bannstrahl des Königs nicht. Was tut eine verliebte und treue und eingesperrte Ehefrau? Sie bittet um ein Reitkleid, um Pferde, um Pisanios Begleitung und sucht eine Gelegenheit zur Flucht zu finden. Die Zuschauer sind ein wenig schneller in Wales und vor einer Höhle. Aus ihr kommen ein

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älterer Mann mit zwei jungen, bildschönen Burschen, um der Sonne den Morgengruß zu sagen. Dann wollen sie zur Jagd. Den Alten plagen sentimentale Erinnerungen an seine Zeit vor seiner Verbannung am königlichen Hof, und die jungen Männer beklagen sich, dass sie hier in der Ödnis keine vergleichbaren höfischen Erfahrungen machen können. Wie es ist, es ist nie recht. Nachdem die zwei Söhne im Bergwald verschwunden sind, verrät uns Bellarius in einem erweiterten Selbstgespräch, dass er die beiden Burschen als kleine Kinder geraubt hat. Sie waren ihm der Gegenwert für seine vom König geraubten Güter. Die Jungen sind prächtig gediehen und halten ihn für ihren Vater; die Ziehmutter ist früh gestorben und demonstriert wieder einmal mehr das Motiv der abwesenden Mutter in Shakespeares Stücken. Die Namen und Decknamen tun nichts zur Sache; sie verwirren nur: Bellarius alias Morgan / Arviragus alias Cadwell / Guiderius alias Polydor und Ziehmutter Euriphile. Mit denkbar schlechtem Gewissen ist der Diener Pisanio neben Imogen im feschen Reitkleid nach Milford-Hafen geritten. Aber, wo ist nun Posthumus? Du bist so komisch Mann, sagt Imogen. Was ist los? Rede doch! – Da rückt er seinen Brief von Posthumus heraus und gibt ihn Imogen zum Lesen. Imogen (liest) „Deine Gebieterin, Pisanio, hat als Metze mein Bett entehrt: die Beweise davon liegen blutend in mir. Ich spreche nicht aus schwacher Voraussetzung, sondern aus einem Zeugniß, so stark wie mein Gram, und so gewiß, wie ich Rache erwarte. Diese Rolle, Pisanio, mußt du an meiner Statt spielen, wenn deine Treue nicht durch den Bruch der ihrigen befleckt ist. Mit eigner Hand nimm ihr das Leben: ich verschaffe dir Gelegenheit dazu bei Milford Hafen. Sie bekommt deshalb einen Brief von mir; wenn du dich fürchtest, sie zu tödten, und mir nicht gewisse Nachricht davon giebst, so bist du der Kuppler ihrer Schmach, und im Verrath gegen mich verbunden.“ (III,4)

Imogen ist wie vom Blitz getroffen und vom Donner gerührt. Sie hat keinerlei Erklärung für die Vorwürfe parat. Jetzt flucht sie ihrerseits auf die Männer. Das muss etwas mit dem verfluchten Italiener zu tun haben!? Der treue Pisanio versucht sich Gehör zu verschaffen; sie drängt ihn, sie zu töten. Die Begründungen sind aberwitzig: Ich kann nicht Selbstmord machen, weil das ja eine Todsünde ist,

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aber du kannst, musst es machen wie befohlen. Für dich ist es keine Sünde. Imogen Das Lamm ermuthigt den Schlächter. Wo Hast du dein Messer? Allzu träge bist du Des Herrn Geheiß, zumal, wenn ichs begehre. (III,4)

Einen Plan, einen Plan, ein Königreich für einen Plan, sagt sich Pisanio und schlägt folgendes vor. Pisanio Ich geb’ ihm Nachricht, ihr seid todt, und send’ ihm Davon ein blutig Zeichen; denn befohlen Ward mir auch dieß; am Hof vermißt man euch, Und dadurch scheints gewiß. Imogen

Doch was, du Treuer, Thu’ ich indeß? Wo berg’ ich mich? Wie leb’ ich? (III,4)

Ich gehe davon aus, dass ihr nicht mehr an den Hof zurück wollt? – Nein! Dann wäre es gut, sich an den Römer Lucius zu wenden, der morgen von hier nach Rom absegelt. Ihr müsst euch allerdings als Frau verleugnen und als Page in Männerkleidern anheuern. Ich habe in weiser Voraussicht schon Wams und Hose und Hut mitgenommen. Ihrer Familie verlustig und ihrer weiblichen Identität beraubt, auf fremdes und unwirtliches Terrain verschlagen, ist das Mädchen mit seinen Vorschlägen sofort einverstanden. Hier ist von meinem Geld, sagt Pisanio großzügig, und hier ist eine Medizin, falls ihr seekrank werdet. Er holt das Fläschchen der Königin heraus und schickt sie zum Umziehen. Pisanio

Geht dort ins Dickicht, Und schafft euch um zum Mann! Die Götter leiten Zum Besten Alles! Imogen

Amen! Habe Dank. (III,4)

Lucius verabschiedet sich bei der Familie Cymbeline. Da fällt es dem König auf, dass seine Tochter nicht da ist. Natürlich ist sie nicht auf ihrem Zimmer, aber Pisanio ist wieder zurück von Wales. Der hat nun die ganze Niederträchtigkeit von Cloten auszubaden. Er verpflichtet den armen Mann nun für ihn zu arbeiten. Damit ist er schon der Diener dreier Herren; er besorgt ihm einen alten

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Anzug von Posthumus, den gleichen, den er bei seinem Abschied trug. Der Wunsch hat böse Absichten wegen der Beleidigung durch Imogen. Selbst das schlechteste Unterkleid von Posthumus sei besser als er, Cloten. Cloten In demselben Kleide will ich ihr Gewalt anthun – erst ihn umbringen, und vor ihren Augen; da soll sie meine Tapferkeit sehn, und das wird eine Marter für ihren Hochmuth seyn. Er auf dem Boden, meine Rede voll Hohn auf seinem todten Leichnam beendigt, – und wenn ich meine Lust gebüßt habe (was ich, wie ich sagte, sie zu quälen, alles in den Kleidern thun will, die sie lobte), will ich sie nach Hofe zurück schlagen, sie mit den Füßen wieder nach Hause stoßen. Es machte ihr eine rechte Freude, mich zu verhöhnen, nun will ich auch in meiner Rache ausgelassen seyn. (III,5)

Das möge Gott verhüten, und er tut es. Die Abstrafung läuft andersrum ab. Cloten bricht zwar nach Milford-Haven auf, kommt aber nie dort an. Er landet just vor der Höhle, in der Imogen Unterschlupf gefunden hat, und lässt sich wiederum lautstark über Posthumus aus. Zuerst ist dein Kopf dran, dann deine Geliebte! Bellarius und seine Söhne gehen wieder zur Jagd, Imogen bleibt zu Hause zurück. Ihr ist ohnehin nicht wohl, so dass sie etwas aus dem „Giftfläschchen“ als Medizin nimmt und wie Schneewittchen in todesähnlichen Schlaf versinkt. Draußen laufen sich Guiderius, einer der vermeintlichen Söhne des Bellarius, und Cloten über den Weg. Ein Wort gibt das andere, und sie gehen fechtend in die Büsche. Bellarius kehrt zurück, und Guiderius kommt triumphierend mit Clotens Kopf aus dem Unterholz. Das ist schiefgelaufen für den Sohn der Königin. Aber Bellarius, der Cloten erkennt, fürchtet die Rache der Königin und schlägt vor, heute daheim zu bleiben und lieber zu kochen. Da kommt, oh Schreck, Arviragus, der andere Sohn mit Imogen in seinen Armen aus der Höhle. Sie ist „wie“ tot. Allgemeine Trauer und die Planung einer angemessenen Bestattung sind eins. Dann singen die beiden Burschen recht und schlecht aus rauen Kehlen ein schönes Grablied, das bei den Interpreten von Shakespeares Lyrik hoch im Kurs steht. Losgelöst vom Stück mag das zutreffend sein, aber die Szene im Theater hat einen doppelten Boden. Der tote junge Mann ist eine Frau, ist gar nicht tot und ist die Schwester der beiden Burschen. Das Spiel mit dem doppelten Boden geht noch weiter. Der Vater erinnert sich, dass Cloten zwar

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ein Feind war, gleichwohl aber ein Fürst sei. Man legt die beiden Toten nebeneinander und bedeckt sie mit Blumen. Leider fehlt der Kopf von Cloten; den hat Guiderius in den Fluss geworfen. Nun liegt ausgerechnet der Mann neben Imogen, den sie unendlich hasst und umgekehrt. Sie erwacht aus ihrem Todesschlaf und sieht in einem Dämmerzustand zwischen Traum und Bewusstsein einen Toten neben sich, den sie an seinem Anzug erkennt. Einen Kopf hat der blutverschmierte Tote ja nicht, aber alle Äußerlichkeit des Körpers deutet ironischerweise auf Posthumus. Und ein böser Verdacht schießt gegen Pisanio hoch. Imogen Du, mit Cloten vereint, dem wilden Teufel, Erschlugst hier meinen Mann! – Sei Schreiben, Lesen Verrath hinfort! – Du höllischer Pisanio! Mit falschen Briefen – höllischer Pisanio! Schlugst du vom schönsten Fahrzeug in der Welt Den Hauptmast ab! – O Posthumus! weh mir! Wo ist dein Haupt? wo ist es? ach! wo ist es? (IV,2)

Nach weiteren Klagen sinkt Imogen auf den kopflosen Leichnam und merkt in ihrem Schmerz überhaupt nicht, dass sie plötzlich von Römern umringt ist. Es ist Lucius und seine Leute. Jetzt ist er nicht mehr Gesandter, sondern Feldherr, der den Tribut einfordert. Er identifiziert Imogen als den Pagen, der sie sein möchte. Lucius, ein wirklich freundlicher Römer, bietet ihr/ihm, Fidelio – so sein Aliasname – sofort eine Stelle an. Imogen/Fidelio sagt freudig zu, bittet aber, erst den toten Mann begraben zu dürfen. Lucius macht das auf Kriegerart schnell und professionell und tröstet den Knaben. Lucius

– Erheitre deinen Blick: Ein tiefer Fall führt oft zu höherm Glück. (IV,2)

Das Glück arbeitet für Imogen, und deshalb verschwindet sie für einige Zeit von der Bühne, auf der man nun Cymbeline klagen hört. Cymbeline

– O Himmel, Wie hart schlägst du mich plötzlich! Imogen, Mein größter Trost, dahin; die Königin Liegt auf dem Todesbett; zu einer Zeit,

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Da Krieg mir schrecklich droht, ihr Sohn verschwunden, So unentbehrlich jetzt: es trifft mich schwer Und hoffnungslos. – Doch du, Gesell, der sicher Um ihre Flucht gewußt, und jetzt dich stellst Wie Einer, der nichts weiß, dir wirds erpreßt Durch Folterqual. (IV,3)

Ganz lustspielgemäß bekommt der Diener vieler Herren die Prügel angedroht, dabei ist er völlig unschuldig und treu. Aber er gibt zu, dass da eine gewisse Dialektik nötig sei. Er nennt es nur anders. Pisanio Die Götter mögen helfen, Durch Falschheit bin ich ehrlich, treu durch Untreu’. Im Krieg zeig’ ich, wie ich Britannien liebe, Der König rühme selbst mich, fall’ ich nicht. Die Zeit mag, was noch dunkel ist, erhellen; Heim bringen steuerlos manch Boot die Wellen. (IV,3)

Vor der Höhle sitzen die bekannten Höhlenbewohner und beratschlagen über ihre Kriegsbeteiligung für Britannien. Bellarius findet, dass der König seines und seiner Söhne Dienst nicht wert ist, aber er gibt sich geschlagen, weil die jungen Burschen auf eine Bewährung aus sind. An ihnen soll Britannien nicht zugrunde gehen. Einen, den wir schon seit seinen frauenfeindlichen Tiraden vermissen, ist plötzlich wieder da. Er ist aus Rom zurück und steht zwischen dem römischen und dem britischen Lager. Posthumus hat tatsächlich das blutige Zeichen von Pisanio erhalten, nämlich ein Bluttuch als Beweis für Imogens Tod. Auch er steckt in einem Zwiespalt. Er bedarf einer moralischen Heilung, einer Rehabilitierung für den Auftragsmord an seiner Frau. Klar, für die Römer, mit denen er kam, will er nicht gegen Britannien kämpfen, aber muss er deswegen für die tote Prinzessin kämpfen? Ein langer Monolog versucht diesem Zwiespalt auszuloten. Posthumus Ich kam mit Röm’schen Rittern zu bekämpfen Der Gattin Reich: doch ists genug, Britannien, Daß deine Fürstin ich erschlug; sei ruhig! Dir geb’ ich keine Wunde. Drum, ihr Götter, Hört meinen Vorsatz gnädig an: hier leg’ ich Italiens Kleider ab, und hülle mich In britt’sche Bauerntracht: so fecht’ ich gegen Das Volk, mit dem ich kam; so will ich sterben.

710 • Imogen

Für dich, o Imogen, ist doch mein Leben, Ja, jeder Atemzug ein Tod; so unbekannt, Gehaßt nicht, noch beklagt, weih’ ich mich selbst Dem Untergang. (V,1)

Die beiden Heere marschieren auf: von einer Seite und von der anderen Seite. Bei den Britanniern zieht Posthumus in einfacher Tracht mit, bei den Römern Jachimo. Den haben wir fast aus den Augen verlorenen. Posthumus besiegt ihn kurz und schmerzlos und lässt ihn dann laufen. Er fühlt sich seiner Mannheit beraubt, und wir dürfen das als sehr doppeldeutig verstehen. Immerhin wird Cymbeline von den Römern gefangen; aber Bellarius und seine Burschen kommen ihm zu Hilfe. Auch Posthumus hilft bei den Briten mit, und schon ist Cymbeline wieder befreit. Lucius stellt fest, dass die Linien einigermaßen durcheinandergeraten sind. Der Dramatiker lässt den Theatermachern viel Freiheit für diesen Krieg mit ziemlich wenig Text. Die Aktion geht auf einem anderen Teil des Schlachtfeldes nun aber beredter weiter. Jetzt hat Posthumus das Wort, und er nimmt sich Zeit und redet viel und kämpft wenig. Aber im Grunde erzählt er nur das, was die Regie eben inszeniert hat. Wenn der Zuschauer auch nichts Neues erfährt, so weiß er jetzt doch die Heldentaten zu würdigen, die Bellarius und seine Söhne vollbracht haben. Posthumus gibt sie den Zuschauern in der Person eines geflohenen Lords in gereimter Form mit auf den Weg. Posthumus Zwei Knaben und ein Greis, zweimal so alt als beide, Ein Paß, ward uns zum Hort, dem Feind zum Leide. (V,3)

Was jetzt geschieht, ist in seiner Logik schwer zu begreifen. Posthumus verkleidet sich wieder als Römer und lässt sich von den Briten gefangen nehmen. Cymbeline persönlich übergibt ihn dem Kerkermeister. Er will jetzt sterben, ohne Selbstmord machen zu müssen. Das darf er lang und ausführlich im Gefängnis darlegen mit der Konsequenz: Posthumus So, ihr urew’gen Mächte, Nehmt ihr den Rechnungsschluß, so nehmt mein Leben, Und reißt entzwei den Schuldbrief. Imogen! Ich spreche jetzt zu dir im Schweigen. (er schläft ein) (V,4)

Imogen • 711

Was Shakespeare jetzt inszenieren lässt, ist ein Schauspiel, das die Komödie in das verwandelt, was gemeinhin „Romanze“ genannt wird, in Deutschland gelegentlich auch „Märchendrama“. Die ohnehin schon der Wirklichkeit poetisch entrückte Handlung wird zur Geschichte verklärt, die von himmlischen Mächten ins Heil geführt wird. Das ist prinzipiell nicht neu im Theater, denn schon die Antike kannte den Deus ex machina, den Gott aus der Theatermaschine, also eine außenstehende, zumeist himmlische Macht, die eine Lösung der Konflikte bewirkte. Shakespeare greift den alten dramaturgischen Kniff auf und beginnt seine sehr irdische Schaubühne ins frühbarocke Unendliche zu erweitern. Der schlafende Posthumus wird durch eine feierliche Musik in einen Traum geholt, in dem er die Geister seines Vaters und seiner Mutter erblickt. Dem Ausstatter wird freie Hand gegeben. Schmuck und Dekoration darf sein, für die jungen Brüder sind „offene Wunden“ vorgesehen, die sie in der Schlacht erhalten haben. Sie alle bitten Jupiter um Gnade und Verzeihung für Posthumus. Es klingt sogar leichter Vorwurf in ihren Bitten. Musste es wirklich sein, dass er verbannt wurde, dass sein Eheglück von einem eitlen Italiener zerstört wurde und ihm alle Gunst in Leid verkehrt wurde? Bitte Jupiter, mach dein kristallnes Fenster auf, um uns Hilfe zu gewähren. Zweiter Bruder Hilf, wir verklagen sonst dich selbst, Willst du gerecht nicht seyn. (V,4)

Das will sich Jupiter nicht nachsagen lassen, dass er ungerecht sein könnte, und steigt mit allem, was dazu gehört, vom Olymp herab: mit Donner und Blitz, auf einem Adler sitzend und Blitze schleudernd. Alle Bittenden fallen auf die Knie, und Jupiter erklärt den Sinn des Leidens und der Prüfung. Jupiter Den hemm’ ich, den ich lieb’; es wird sein Lohn Verspätet süßer nur. Traut meiner Macht; Mein Arm hebt auf den tief gefallnen Sohn, Sein Glück erblüht, die Prüfung ist vollbracht. (V,4)

Das klingt gut, damit ist die Verwandtschaft zufrieden und verschwindet, als Posthumus erwacht. Er weiß nicht so recht, was er von seinem Traum halten soll, und aus dem Täfelchen, das ihm Jupiter auf die Brust gelegt hat, wird er nicht schlau.

712 • Imogen

Posthumus (er liest) „Wenn eines Löwen Junges, sich selbst unbekannt, ohne Suchen findet, und umarmt wird von einem Stück zarter Luft; und wenn von einer stattlichen Ceder Aeste abgehauen sind, die, nachdem sie manches Jahr todt gelegen haben, sich wieder neu beleben, mit dem alten Stamm vereinen und frisch emporwachsen: dann wird Posthumus Leiden geendigt, Britannien beglückt, und in Frieden und Fülle blühend.“ (V,4)

Das scheint ihm blühender Unsinn, und die Shakespeare-Exegeten werden aus dieser Szene auch nicht schlau, und einige finden den Auftritt schrecklich und grauenhaft und für den Dichter eine Blamage und eine Schande. Wir finden den „Schund“2 ganz lustig und versuchen mit Posthumus den Text auf dem Täfelchen zu lesen, aber wir können ihm auch nicht helfen. Auch wir verstehen es nicht. Die Lesehilfe kommt später, denn jetzt tritt ein Kerkermeister auf, der Posthumus launig und redselig auf seine Hinrichtung vorbereitet. Dieses Vorhaben durchkreuzt ein Bote des Königs – vermutlich kam der Einfall von Jupiter – und beordert ihn in Cymbelines Palast. Die Verhandlung ist schon im Gange und wird sich hinziehen bis zur schlussendlichen Lösung. Der Zweck dieser Aufklärung gilt nicht so sehr dem Zuschauer – der weiß ja durch den Ablauf die wesentlichen Fakten der Handlung –, sondern den Protagonisten und insbesondere dem König. Wir kennen Bellarius und seine vermeintlichen Söhne, aber Cymbeline benötigt einen Faktencheck. Selbst als er sie zu Beginn der langen Schlussszene aus Dank zu Rittern schlägt, getraut sich Bellarius noch immer keine Beichte über ihre Entführung abzulegen. Aber als der Doktor Cornelius kommt und den Tod der Königin vermeldet, wird ohne großes Aufhebens einem happy end der Weg eröffnet. Wenn die böse Stiefmutter im Märchen tot ist, besteht Hoffnung. Sie hat auch noch ein Geständnis gemacht, zum einen, dass sie den König nie geliebt hat und zum anderen, dass sie ihre Stieftochter mit Gift umbringen wollte. Und drittens, sie wollte auch dich, o König, durch ein tödliches Mittel beseitigen. Das war eine relativ sachliche Klarstellung, und der König entschuldigt sich, dass er durch ihre Schönheit blind gemacht wurde. Bedauerlich sei nur, was mit Imogen geschehen ist. Jetzt tritt der Rest des Besetzungszettels auf: Lucius, Jachimo, der Wahrsager und mehrere Römische Gefangene mit Wachen; Posthumus und Imogen zuletzt. (V,5)

Imogen • 713

Lucius, ganz Römer und tapfer, nimmt sein Los an: Hier ist unser Leben. Nur eins erbittet er sich: Lucius Nehmt Lösung an Für meinen Knaben, dieses Landes Sohn; Kein Herr hatt’ einen Pagen je, so sanft, So pflichtergeben, aufmerksam und fleißig, So allerwege treu, so weiblich pflegsam: Mag sein Verdienst mit meiner Bitte sprechen, Ihr könnt sie, edler König, nicht versagen; Er kränkte keinen Britten, war er Diener Auch eines Römers – ihn verschont, und spart Kein Blut sonst! (V,5)

Auch den Pagen kennen wir, und Cymbeline scheint sein Antlitz wohlvertraut. Er begnadigt ihn und stellt ihm einen Wunsch frei. Da bekommt Lucius, der sich eine Bitte um Begnadigung erhofft hat, eine Klatsche. Imogen Ach nein: Um ganz was Anders handelt sichs; da seh’ ich Mir Schlimmres noch als Tod: dein Leben, guter Herr, Muß selbst sich umthun. (V,5)

Imogen, also der Page, sieht einen Mann rumstehen, über den sie den König um ein Wort auf insgeheim bittet. Während sie heimlich sprechen, wundern sich Bellarius und die Söhne. Das ist doch Fidelio, dem wir mit Cloten die Totenfeier gehalten haben. Pisanio aber atmet im Hintergrund erleichtert auf, weil er seine Herrin lebend weiß. Schließlich hat er ihr doch Wams und Hut gegeben. Die kurze Geheimaudienz ist zu Ende; der Page darf eine Frage stellen. Imogen Ich bitte, daß der Edelmann uns sage, Wer ihm den Ring gab. (V,5)

Der König deutet auf Jachimo, und Posthumus wundert sich, warum dieser Page nach einem Ring fragt, der eigentlich nur ihn etwas angeht. Wir allmächtigen Zuschauer müssen aber immer im Auge behalten, dass Posthumus seine Ehefrau als Page, dass der König seine Tochter und dass auch Jachimo Imogen nicht erkennt. Dass umgekehrt Imogen/der Page ihren/seinen Mann in der Römertracht nicht kennt, sollte man auch im Auge behalten bei dem

714 • Imogen

ganzen qui pro quo. Die Verkleidungen sind auch Identitätswechsel und eine unabdingbare Voraussetzung des Spiels, wie schlecht oder recht die Bärte und Trachten auch sind. Jachimo hat auf diese Frage nach seinem Ring schon lange gewartet. Er will sich offenbaren. Er hat etwas auf dem Herzen. Er will auspacken. Sein Inneres sprudelt über. Er erzählt von der Wette, er entschuldigt die Naivität des Posthumus. Der König drängt aufs Wesentliche. Cymbeline Zur Sache; schnell! Jachimo Die Keuschheit eurer Tochter – hier beginnts – (V,5)

Wie schon gesagt, wir sind dabei gewesen im Schlafzimmer, allerdings ist die Sicht des Täters vielleicht anders als unsere. Als er in aller Freiheit auf das heimliche Merkmal unter ihrem Busen zu sprechen kommt, hält es Posthumus nicht mehr an seinem Platz. Er wütet gegen Jachimo – welscher Teufel –, er schimpft sich einen verdammten Mörder, gibt sich dem König als sein böser Schwiegersohn zu erkennen. Das Geständnis muss raus zur Reinigung der Seele. Posthumus Wirf Stein’ und Koth auf mich, und spei mich an; Laß hetzend auf mich los der Straßen Hunde, Geschimpft sei jeder Bube Posthumus, Und jede andre Büberei sei Ruhm! – O Imogen! Mein Weib, mein Leben, meine Königin! O Imogen! Imogen! (V,5)

Das ist Läuterung pur, und trotzdem mutet uns Shakespeare noch einen Dreh an der Spirale der dramatischen Steigerung zu. Imogen reagiert ganz ruhig in ihrer Rolle als Page und sagt Imogen Still, Herr, hört – (Peace, my lord, hear, hear –) (V,5)

Die Antwort, der Ausraster des Pönitenten, ist so unerwartet wie unglaublich: Posthumus Ist hier ein Schauspiel? Du vorwitz’ger Page,

Imogen • 715

Da liegt deine Rolle! (er schlägt sie, sie fällt hin) (V,5)



Hier setzt Shakespeare eine Generalpause, die erst durch Pisanio aufgehoben wird. Pisanio Helft, ihr Herrn! Helft mein und eurer Fürstin! – Posthumus! Erst jetzt erschlugst du Imogen: – helft, helft! O theure Fürstin! (V,5)

Seine rührende Bemühung um Imogen öffnet den Umstehenden die Augen, dem König, den drei Männern aus der Höhle, dem intriganten Jachimo und nicht zuletzt dem Ehemann. Der Page ist Imogen. Aber überraschenderweise richtet sich des Pagen / Imogens Zorn nicht gegen Posthumus, sondern gegen den treuen Diener. Ihn beschuldigt sie und nicht den mehr als übergriffigen Ehemann, der doch eben gestanden hat, dass er den Auftrag gab, seine Ehefrau ermorden zu lassen. Ganz zu schweigen von dem Umstand, dass er sie eben niederschlug. Dass er seine Frau nicht erkannt hat, macht nichts. Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Imogen fällt also über den völlig Falschen her. Imogen Geh mir aus den Augen, Du gabst mir Gift. Fort, du heimtück’scher Mensch! Und athme nicht, wo Fürsten sind! (V,5)

Den Fall kann nun, Gott sei Dank, Cornelius, der Arzt, sofort aufklären. Das Gift war kein Gift, auch wenn die Königin damit Böses wollte. Imogens Schlaf in der Höhle war kein Todesschlaf, sondern ein Heilschlaf. Schneewittchen war gar nicht tot, und Fidelio war eine Frau, die Stieftochter der Königin und des Königs weggesperrte edle Tochter. Und jetzt kommt wie aus heiterem Himmel eine plötzliche und unvermittelte Hinwendung dieser Tochter an ihren – wir können es uns nicht anders vorstellen – bedröppelt dastehenden Ehemann, der sie eben geschlagen hat (bedröppelt: es gibt dafür etwa 110 Synonyme). Sie sagt und tut etwas, was wir als eine Zumutung empfinden.

716 • Imogen

Imogen Wirfst du so weg dein angetrautes Weib? Denk’, daß du auf ‘nem Felsen stehst, und wirf Mich wieder fort! (sie umarmt Posthumus) (V,5)

Warum, lieber Shakespeare, vergibst du so oft so geistig minderbemittelte Männer an deine wunderbaren Frauen (minderbemittelt: auch dafür gibt es viele Synonyme)? Welche Geständnisse und Indizien sind noch nötig bis diese lange Prozessszene ins Heil läuft? Die Königin-Mutter ist tot und Cymbeline kann viel auf sie abschieben. Sie war böse und trägt viel Schuld an Vielem, am Zerwürfnis von Vater und Tochter insbesondere. Die verzeihende Umarmung wird schnell erledigt. Auch an den verweigerten Tributzahlungen für die Römer ist die Königin schuld. Aber das nur nebenbei. Wo ist der Königin Sohn Cloten? Der alte Pisanio kann, befreit vom Verdacht, vorspringen und erzählen. Cloten sei hinter Imogen nach Milford-Haven geritten. Warum er dafür die Kleider von Posthumus angezogen habe, wisse er aber nicht. Auch nicht, was aus ihm geworden sei. – Diese Frage klärt Bellarius Sohn mit einer klaren Aussage. „Ich hab ihn dort erschlagen.“ (V,5) Sein Geständnis kommt nicht gut an beim König. Cymbeline Dein eignes Wort verdammt dich, das Gesetz Heißt Tod: du stirbst! (V,5)

Das möge Gott verhüten, dass der König im allerletzten Augenblick seinen eigenen Sohn hinrichten lässt. Imogen hat schnell begriffen, dass der Kopflose neben ihr im Anzug ihres Mannes der ihr verhasste Cloten war. Aber der Blinde, der König, bedarf der Aufklärung. Jetzt muss sich Bellarius doch bekennen und sein Schweigen brechen. Es gibt unfreundliche Worte vom König, und als er erfährt, wer der alte Mann ist, ist er schon wieder beim Verurteilen. „Fort mit ihm!“ Es bedarf einer längeren Erklärung des Bellarius und einiger Beweisstücke und Muttermale, bis die Angelegenheit zu Protokoll gegeben werden kann. Cymbeline Bin ich so Mutter Von dreien Kinder? Nie war eine Mutter So froh nach der Geburt – (V,5)

Imogen • 717

Nun dürfen sich die drei Königskinder endlich ohne erotische Verwirrungen um den Hals fallen. Cymbeline ist glücklich und lobt ihre spontane Zuneigung als „Wunder des Instinkts“. Er ist plötzlich sehr interessiert an ihren Geschichten und setzt Fragezeichen um Fragezeichen: Wann, wie, wo, was und wer? Aus Bellarius, den er gerade noch verurteilen wollte, wird ein Bruder, und Imogen macht den Ziehvater ihrer Brüder auch zu ihrem zweiten Vater. Was römische Herrscher auf dem Thron vermögen, kann auch ein Britannier. Clemenza, Gnade, Milde, Nachsicht überfällt Cymbeline angesichts seines Familienglücks auch für die Feinde. Lucius und seine Römer werden begnadigt, und Imogen macht ihn dezent darauf aufmerksam, dass sie/er daran nicht ganz schuldlos ist. Bleibt noch ein Geheimnis zu klären. Wo ist der Krieger, der in der armen Bauerntracht wahre Wunder für die Britannier erbracht hat. Posthumus meldet sich. Es mag verwirren, denn er hat römische Kleidung an. Aber Jachimo kann bestätigen, dass Posthumus den römisch-britannischen Wechselbalg gespielt hat. Posthumus verzeiht dem Jachimo seinen bösen Betrug mit seiner Kiste und verzichtet auf Rache. Cymbeline nimmt sich an der Großmut seines Schwiegersohns ein gutes Beispiel. Cymbeline Es soll uns Großmuth unser Eidam lehren: Verzeihung Allen! (V,5)

Den Römern ist verziehen, Bellarius ist verziehen, der aufmüpfigen widerspenstigen Imogen ist verziehen, die Königin und Cloten sind tot, bleibt Posthumus, der unerwünschte und verbannte Schwiegersohn. Er hat zwar wie ein Löwe mit den dreien von der Höhle zusammen gekämpft, aber standesgemäß für eine Königstochter ist der mittellose Krieger noch lange nicht. Aber er hat von Jupiter ein Täfelchen bekommen, das jetzt dem Wahrsager Philarmonus zur Erklärung und Deutung vorgelegt wird. Der versteht auf Anhieb die Geschichte von der Zeder mit den abgeschlagenen Ästen. Klar, die Äste, die Buben, sind wieder frisch emporgewachsen und … Wahrsager … dann wird Posthumus Leiden geendigt, Britannien beglückt und in Frieden und Fülle blühend. (V,5)

Posthumus wird von Jupiter persönlich bestätigt und als Abkömmling von Leo-natus, so sein Beiname, geadelt. Auf dem Täfelchen steht auch geschrieben, dass der Junge des Löwen …

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Wahrsager … ohne Suchen findet, und umarmt wird von einem Stück zarter Luft (V,5)

Das ist doch sonnenklar, meint der erfahrene Wahrsager, was das bedeutet. Imogen … Wahrsager Ist dieß standhafte Weib, die eben jetzt, Buchstäblich nach den Worten des Orakels, Euch unerkannt und ungesucht umschloß Als zarte Luft. (V,5)

Da haben die beiden keine Worte mehr und nehmen sich vermutlich erneut in die Arme, das Löwenjunge und ein Ausbund süßer Luft (embrac’d by a piece of tender air). Dem König leuchtet das ein mit der Zeder und dem Frieden; er wächst über das Bilderbuchformat hinaus und verkündet den Römern, dass er ab jetzt, obwohl er doch gesiegt hat, wieder Tribut zahlen wird. Die böse Königin war schuld! Da sie tot ist, muss sie auch nicht mehr auf Schneewittchens Hochzeit in rotglühenden Pantoffeln tanzen; Imogen ist ja schon verheiratet, aber noch nicht Königin. Die zwei geliebten Brüder stehen ihr plötzlich im Weg. Cymbeline hat ihr im Nebensatz ihren Anspruch auf ihr Erbe entzogen. Cymbeline

– O Imogen! Dadurch hast du ein Königreich verloren. (V,5)

Das wird wohl der Knackpunkt der bei allen Sprunghaftigkeiten, bizarren Verwirrungen und märchenhaften Unglaubwürdigkeiten insgesamt doch kohärenten (etwa 50 Synonyme) Geschichte in der Zukunft jenseits des happy end sein. Imogen ist nicht nur die Frau des Posthumus, sondern war auch als die Britische Thronfolgerin vorgesehen. Bräker freut sich wie ein Kind über den guten Ausgang. „Was wird das vor entzückte Freude sein, zwanzig Jahr verlorne Söhne zu finden, totgeglaubte Imogen zu sehen und diese einen wiedergebornen Posthumus zu herzen, ein verräterisces Weib begraben und einen reuenden Böswicht Jachimo in den Händen zu haben und Gnade erteilen. Gewüß ein charmantes Lustspiel, du hast es zierlich gedrechselt, William, habe Dank dafür.“3

Imogen • 719

Das Stück hat einen guten Ausgang, wohl wahr. Aber Imogen hätte ein Stück mit einer besseren Hintergrundsauflösung verdient, ein dénouement (es gibt Synonyme über Synonyme frz./engl./dt.) ohne Hinterhalt und doppelten Boden. Musste das so sein: Ein Königreich für zwei Brüder!? – Besser: Ein Königreich und zwei Brüder und einen Prinzgemahl, den die jungfräuliche Elisabeth nicht hatte. deutsche Übersetzung: Dorothea Tieck 1) Ulrich Bräker, S. 70 2) Harold Bloom, Tragödien, S. 366 3) Ulrich Bräker, S. 70

zu Cymbeline, Akt 3, Szene 6

Perdita • 721

Perdita

Das Wintermärchen (1610 /1611)

designed by Charles Robert Leslie, R. A. and engraved by William Henry Mote

722 • Perdita

Perdita • 723

Es geht lustig zu in der dritten Szene des vierten Akts. Es wird gefeiert, und zwar das Schafschurfest auf dem Platz vor dem Haus eines Schäfers. Die Schafschur findet nach dem Winter im Frühling statt, und das Fest bedarf einer Königin. Sie heißt bei den Schäfern in Böhmen „Flora“ und trägt einen Blütenkranz und ein kleines Gebinde mit schlichten Blüten. Ihr Kleid ist nicht streng zeremoniös, sondern leicht und locker, aber dennoch züchtig und nicht erotisch aufgeladen. Das Mädchen, das uns in dieser Rolle entgegentritt, heißt nach Sprecherangabe „Perdita“ und ihr huldigendes Gegenüber „Florizel“. Er hat sich in schlichte Bauerntracht gekleidet, obwohl er ein Prinz ist und sie nur eine arme, niedere Magd. Die beiden sind offensichtlich ein Liebespaar, und sie sind bisher in Shakespeares romanzenhaftem Stück „Das Wintermärchen“ noch nicht in Erscheinung getreten. Es ist also höchste dramaturgische Notwendigkeit, die beiden in der dritten Szene des vierten Akts in die Spur zu bringen. Hier beginnt – spät zwar, doch sie beginnt – eine Komödie innerhalb der Romanze, ein Heiratsstück im Ehestück mit glücklichem Ausgang nach tragisch-schmerzlichen Ehezerwürfnissen. Das Mädchen ist etwas verunsichert. Es fühlt sich nicht ganz wohl in seiner Rolle und in seinem Kostüm; auch der Standesunterschied dämpft seine Fröhlichkeit. Die junge Frau weiß, dass er ein Prinz ist, er dagegen weiß nur, was sie dem Schein nach ist, eine Königin des dörflichen Festes. Da helfen auch Florizels mythologische Exempel von Jupiters, Neptuns oder Apolls Herablassung zu weiblichen menschlichen Geschöpfen nicht. Und eine unmittelbare Angst lauert im Hintergrund. Was würde passieren, wenn Florizels Vater zufälligerweise vorbeikommen würde? Solche Ängste sind bis heute nicht ganz unbekannt und unbegründet bei Liebesleuten. „Was würd er sagen?“, fragt das Mädchen ängstlich. Der Prinz schiebt ihre Sorgen beiseite und bittet Perdita, sich um die Gäste des Festes zu kümmern. Auch der alte Schäfer, ihr Vater, mahnt die Tochter als Herrin des Festes für einen guten Verlauf zu sorgen, wie

724 • Perdita

weiland die Mutter für fröhliche Feste gesorgt hat (vgl. Kap. Mary Shakespeare, geb. Arden). Die ersten Gäste sind schon da und werden mit Blumen begrüßt. Es sind zwei ältere Herren, die in symbolischer Entsprechung zu ihrem Alter mit Rosmarin und Raute bedacht werden. Sie verwickeln Perdita in ein leicht sophistisches Fachgespräch über diese für sie unvorteilhafte Symbolik mit Winterblumen und über die Kultivierung von Pflanzen im Gartenbau im Allgemeinen. Dann wendet Perdita sich an Florizel und an die jüngeren Schäferinnen und Schäfer und breitet einen erlesenen sprachlichen Blumenteppich aus, der zum poetisch Schönsten gehört, was Shakespeare in seinem blumendurchwirkten Werk je angeboten hat. Perdita – Nun, schönster Freund, Wünscht’ ich mir Frühlingsblumen, die sich ziemen Für eure Tageszeit [zu jüngeren Schäfern], und eur’, und eure, Die ihr noch tragt auf jungfräulichem Zweig Die Mädchenknospe. – O Proserpina! Hätt’ ich die Blumen jetzt, die du erschreckt Verlorst von Pluto’s Wagen! Anemonen, Die, eh’ die Schwalb’ es wagt, erscheinen und Des Märzes Wind’ mit ihrer Schönheit fesseln; Violen, dunkel wie der Juno Augen, Süß wie Cytherens Athem; bleiche Primeln, Die sterben unvermählt, eh’ sie geschaut Des goldnen Phöbus mächt’gen Strahl, ein Übel, Das Mädchen oft befällt; die dreiste Maaßlieb Die Kaiserkrone, Lilien aller Art, Die Königslilie drunter! hätt’ ich die, Dir Kron’ und Kranz zu flechten, süßer Freund, Dich ganz damit bestreuend! Florizel

Wie den Leichnam?

Perdita Nein, wie der Liebe Lager, drauf zu kosen, Nicht wie ein Leichnam, mind’stens nicht fürs Grab, Nein, lebend mir im Arm. Kommt, nehmt die Blumen, Mich dünkt, ich recitire, wie ichs sah Im Pfingstspiel; denn gewiß, dieß prächt’ge Kleid Verwandelt meinen Sinn.

Perdita • 725

Florizel Was du auch thust, Ist stets das Holdeste. Sprichst du, Geliebte, Wünsch’ ich, du thätst dieß immer; wenn du singst, Wünsch’ ich, du kauftest, gäbst Almosen so, Sängst dein Gebet, thätst jedes Hausgeschäft Nur im Gesange; tanzest du, so wünsch’ ich, Du seist ‘ne Meereswell’, und thätest nichts Als ‘dieß, stets in Bewegung, immerdar, Dieß dein Geberden. All dein Thun und Wirken, So auserlesen im Gewöhnlichsten, Krönt all dein Handeln, wie du’s eben thust, Daß Königin ist jeglich Walten. (IV,3)

Mit diesem wunderschönen Kompliment an seine Geliebte erweist sich – seltene Ausnahme bei Shakespeare – Florizel auf Augenhöhe mit der Frau seines Herzens. Die spricht natürlich nicht wie das Kind eines Schäfers, sondern wie eine gelernte königliche Prinzessin. Sie turteln noch eine Weile so fort, und die beiden in der Schäferei unbekannten älteren Gäste wechseln bedeutungsvolle Worte. Polyxenes Dieß ist das schmuckste Hirtenkind, das je Gehüpft auf grünem Plan: nichts thut, noch spricht sie, Das nicht nach Größrem aussieht, als sie ist, Zu hoch für solchen Platz. Camillo Er sagt ihr etwas, Das sie erröthen macht; fürwahr, sie ist Die Königin von Milch und Rahm. (IV,3)

Während des Schäfertanzes erkundigt sich der eine der fremden Herren beim alten Schäfer, dem Vater des Mädchens, nach dem schmucken jungen Hirten, mit dem sie überaus zierlich tanzt. Wortreich erklärt er, dass er über den jungen Mann nichts weiß, und auf die Frage, wer er sei, zuckt er unwissend mit den Schultern. Ein Knecht vermeldet einen Hausierer, der lustige Balladen und bunte Bänder in allen Farben des Regenbogens und Galanteriewaren anbietet. Er legt einen umjubelten Auftritt hin und macht gute Geschäfte. Das Fest kommt in Fahrt. Es gibt weitere Gesangseinlagen und diverse Auftritte tanzender Bauern, die als Satyrn verkleidet sind. Eine gewisse Ungezügeltheit gehört sich beim Schafschurfest, auch wenn seine Königin auf Schicklichkeit pocht.

726 • Perdita

Die beiden fremden Gäste machen sich an den Liebhaber der Festkönigin heran und fragen ihn, warum er seiner Liebsten nichts von den Bändern des Krämers kauft. Er lässt sich auf die neugierigen Frager ein und erklärt ihnen, dass sie keinen Wert auf solchen Kram und Tand legt, denn alles, was er geben kann, gehöre ihr ohnehin. Und wieder fließen Worte von den Lippen, als wäre er ein Bruder Romeos. Florizel Geschenke, die von mir sie hofft, sind im Verschluß von meinem Herzen; das ist schon Ihr Eigenthum, wenn auch nicht überliefert. – Vernimm mein Innerstes vor diesem Greis, Der, wie es scheint, auch einst in Liebe war; Hier nehm’ ich deine Hand, die theure Hand, Wie Flaum von Tauben weich, und ganz so weiß Wie eines Mohren [!] Zahn, wie frischer Schnee, Der zweimal ward vom Nordwind rein gesiebt. Polyxenes Und weiter dann? –(IV,3)

Der alte Herr scheint begierig auf Forizels und Perditas Geschichte. Weil das so ist, bittet der junge Mann ihn gleich zum Zeugen seines öffentlichen Eheschwurs. Florizel

Wohl, seid mein Zeuge!

Polyxenes Und hier mein Nachbar auch? (IV,3)

Nichts lieber als das, denkt sich Florizel, und nimmt das Angebot des zweiten fremden Mannes freudig an. Er und alle hier sollen Zeugen sein von unserer Liebe. Florizel

Und er, und mehr Als er und Menschen, Himmel, Erd’ und Alles, Daß, – trüg’ ich auch des größten Reiches Krone, Als Würdigster, wär’ ich der schönste Jüngling, Der je ein Aug’ entzückt, an Kraft und Wissen Mehr als ein Mensch, – dieß Alles schätzt’ ich nichts, Ohn’ ihre Lieb’; ihr schenkt’ ich Alles dann; In ihrem Dienst nur würd’ es niedrig, hoch, Oder als Nichts verdammt. (IV,3)

Perdita • 727

Das beeindruckt die Gäste, und der alte Schäfer stuppst seine Tochter in die Seite, jetzt auch etwas zu sagen. Er hat ja nichts dagegen, das Kind gut unter die Haube zu bringen. Perdita Ich kann so gut Nicht reden, nichts so thun, nicht besser fühlen; Nach meines eignen Sinnes Klarheit meß’ ich Des seinen Reinheit. (IV,3)

Dafür, dass sie so zauberhafte poetische Blumenworte als Königin des Festes fand, ist sie nun sehr bescheiden in ihrer Rede, aber der alte Vater des ihm lieben Kindes weiß, was die Situation jetzt erfordert. Der alte Schäfer Beschlossen, gebt die Hände; – Und, unbekannte Freund’, ihr seid uns Zeugen: Die Tochter geb’ ich ihm, und ihre Mitgift Mach’ ich der seinen gleich. (IV,3)

Das mit der Mitgift will der junge Ehemann nicht ganz unkommentiert stehen lassen. Auch er hat etwas anzubieten. Florizel Das könnt ihr nur In Eurer Tochter Werth. Wenn Jemand stirbt, Hab’ ich einst mehr, als ihr euch träumen laßt; Genug für euer Staunen. Jetzt verbindet Vor diesen Zeugen uns! Der alte Schäfer So gebt die Hand, – Auch, Tochter, du! (IV,3)

Da mischt sich völlig unerwartet einer der Zeugen in die Zeremonie, um eine Frage zu stellen. Polyxenes Halt, Jüngling, noch ein wenig. Hast du ‘nen Vater? Florizel

Ja. Doch was soll der?

Polyxenes Weiß er davon? Florizel Nein, und er soll auch nicht. (IV,3)

728 • Perdita

Der ältere Herr ist in diesem Punkt entschieden anderer Ansicht. Wenn es dem Vater gut geht und wenn er altersbedingt noch zurechnungsfähig sein sollte, dann ist der Vater doch der würdigste Gast an der Hochzeitstafel des Sohnes. Von einer Mutter ist nicht die Rede, so wenig wie auf Seiten Perditas von einer alten Schäferin. Florizel widerspricht nicht, aber er macht Gründe geltend, von denen er hier nicht sprechen kann. Der fremde Trauzeuge bittet dennoch, den Vater ins Benehmen zu setzen. Jetzt schließt sich auch Perditas Vater der Bitte an. Florizel bleibt bei seinem „Nein“ und bittet den Ehevertrag zu schließen. Selbst bei Shakespeare kommt ein coup de théâtre selten so überraschend wie dieser Knalleffekt, mit dem sich der fremde Herr zu erkennen gibt. Er ist es selbst, der Vater, der König von Böhmen, just der, dem Florizel seine unstandesgemäße Heirat verheimlichen möchte. Lustspielhaft ist, dass ihm der Sohn ins Garn gegangen ist, aber das Donnerwetter des Vaters über ihn entlädt sich nicht in Manier des zeternden komischen Alten aus der Commedia, sondern es versteigt sich in die pathetischen Höhen der Tragödie mit ihren jähzornigen Vaterfürsten. Polyxenes wütet wie Lear gegen Cordelia oder wie dessen Bilderbuchausgabe Cymbeline gegen Posthumus, wie Brabantio, Desdemonas Vater, gegen Othello und Shylock gegen Jessica. Polyxenes (indem er sich zu erkennen giebt) Jetzt zur Scheidung, Knabe, Den ich nicht Sohn mehr nennen darf; zu niedrig Für dieses Wort: der seinen Scepter tauscht Um einen Schäferstab! – (IV,3)

Einen alten Schuft nennt er den Sohn und die Braut eine Hexe. Polyxenes

– Und du, Prachtstück Ausbünd’ger Hexenkunst, die kennen mußte Den Königsnarren, der ihr nachlief; – […] Der Dorn soll deine Schönheit dir zergeißeln, Bis sie nichtswürd’ger wird als deine Herkunft. – Dir sag’ ich, junger Thor, – erfahr’ ich je, Daß du nur seufzest, weil du nie mehr, nie Dieß Ding hier siehst, wie du gewiß nicht sollst, Verschließ’ ich dir dein Erbrecht, nenne dich Mein Blut nicht, ja, mir auch nicht anverwandt,

Perdita • 729

Fern von Deucalion her: – merk’ auf mein Wort, Folg’ uns zum Hof! – (IV,3)

Die weiteren Flüche und Drohungen gelten dem alten Schäfer und sind natürlich schreiendes Unrecht. Der Bauer verflucht sich selbst und verschwindet mit seinem Sohn von der Bildfläche. Perdita sieht sich von den Machtworten des Königs aus ihrem Traum unsanft erweckt. Sie bittet schweren Herzens ihren Liebsten, an den Hof zurückzukehren. Aber Florizel versichert ihr seine unverbrüchliche Liebe und trotzt dem Vater. Florizel Erheb’ den Blick; – streich’, Vater, mich als Erbe Des Reiches aus, bleibt mir doch meine Liebe! (IV,3)

Es verbleibt der Begleiter des Königs, der sich ebenfalls seiner Verkleidung entledigt hat. Florizel kennt ihn gut. Es ist der sizilianische Freund und Ratgeber seines Vaters. Camillo, so sein Name, bietet sich als Vermittler beim Vater an, und Florizel ermächtigt ihn, seinen Zorn zu besänftigen. Dann vertraut er ihm ein Geheimnis an, das er dem König gerne verraten dürfe. Florizel Dieß nur wisse, Und sag’ es ihm, – ich sei zur See gegangen, Mit ihr, die ich im Lande nicht kann schützen; Und, höchst erwünscht für unsre Noth, hab’ ich Ein Schiff hier nahe, wenn gleich nicht gerüstet Für diesen Zweck. Wohin mein Lauf sich wendet, Frommt deiner Kenntniß nicht, noch paßt es mir, Es dir zu sagen. (IV,3)

Über Shakespeares geographische Großzügigkeit, dass er Böhmen am Meer liegen lässt, gehen wir ebenso großzügig hinweg. Er hat diesen „Fehler“ einfach aus seiner Quelle, aus Robert Greenes Prosaromanze „Pandosto or The Triumph of Time“ von 1588 übernommen. Den Hinweis Florizels auf ein Schiff am böhmischen Strand nimmt Camillo aber hellhörig auf und kocht daraus sein eigenes Süppchen. Schon lange wollte er wieder nach Sizilien zurück, aber der böhmische König Polyxenes war für diese Bitte taub. Seine Wünsche und Forizels Fluchtabsicht per Schiff ergänzen sich wunderbar. Schon ist ein Plan geboren. Camillo Ich rath’ euch, – […] – geht nach Sicilien,

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Und stellt euch dort, mit eurer schönen Fürstin […] Leontes vor; Man wird sie wohl empfangen, wie sichs ziemt Für eu’r Eh’gemahl. Ich sehe schon Leontes, wie er weit die Arme öffnet Und Willkomm euch entgegen weint: Vergebung Von euch, dem Sohn, erfleht, als wär’s der Vater: Die Hände küßt der jugendlichen Fürstin; Jetzt denkt er seiner Härte, jetzt der Liebe; Verwünscht den Haß zur Höll’, und wünscht, daß Liebe Noch schneller wachs’ als Stunden und Gedanken. (IV,3)

Florizel ist einverstanden, bittet aber noch um einige Auskünfte, weil er über diesen Leontes eigentlich nichts weiß und auch nichts darüber, in welchem Verhältnis sein Vater Polyxenes zu dem König von Sizilien steht. Camillo verspricht ihm, alles ausführlich aufzuschreiben, was er wissen und machen und sagen soll. In ihrer Not sind die Verliebten mit dem Plan einverstanden, bedanken sich herzlich bei Camillo, der für Florizel bei dem Hausierer noch ein höfisches Gewand besorgt. Während sich Florizel umzieht, erfahren wir noch in einem von Camillo „beiseite“ / „aside“ / „apart“ gesprochenen Text, wie sein Plan hinter dem Plan für Florizel ausschaut. Camillo (beiseit) Mein erst Geschäft ist nun, dem König sagen, Daß sie entflohn, wohin sie sich gewendet; Wodurch, das hoff ich, er bewogen wird, Schnell nachzueilen; mit ihm werd’ ich dann Sicilien wieder sehn, nach dessen Anblick Ich krankhaft schmachte. (IV,3)

Die Liebenden eilen zum Schiff nach Sizilien, Camillo an den Hof des böhmischen Königs, und der lustige Hausierer bespricht sich mit dem alten und jungen Schäfer sehr wichtigtuerisch. Die beiden Schäfer sind, nachdem die Luft wieder rein ist, zurückgekehrt und haben durchaus etwas zu vermelden, etwas sehr Wichtiges bezüglich des wunderschönen Mädchens, das gar nicht des alten Schäfers Tochter, sondern ein Findelkind ist. Findelkinder sind in der Wirklichkeit ein unschönes soziales Problem (im deutschen Strafrecht kann bei einer Aussetzung eine Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu zehn Jahren verhängt werden), im Märchen sind sie zumeist eine schöne Überraschung, und im „Wintermärchen“ ist des Schäfers Findelkind ein Königskind, das den sprechenden Namen „Per-

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dita“, „die Verlorene“, erhielt. Das muss Polyxenes, der König, unbedingt erfahren, und dem Hausierer mit dem für böhmische Verhältnisse saukomischen altgriechischen Namen Autolycus gelingt es tatsächlich, mit den beiden Schäfern zwar nicht zum König, aber wenigstens aufs Schiff von Florizel zu gelangen. Ab geht es nach Sizilien, und der König kommt mit Camillo auf dem Schiff hinterher. Der Sohn soll ihm nicht entkommen. Auf der Seereise ist Zeit, in der der Schäfer all die schönen Dinge auspacken kann, die er bei dem Kind vor 16 Jahren gefunden hat. Aber die Seekrankheit der Liebenden verhindert vorerst die Aufdeckung der Geheimnisse um Perdita. *** Während die beiden Schiffe von Böhmen nach Sizilien segeln, ist es unbedingt nötig, die Geschichte des königlichen Kindes Perdita nachzuholen. Sie beginnt vor 16 Jahren, und es ist die traurige Geschichte seiner Mutter Hermione, der Ehefrau des Königs Leontes von Sizilien. Bei diesem König war der König Polyxenes, also der Vater von Florizel, damals zu Besuch. Der Knabe war zuhause bei seiner Mutter in Böhmen und ungefähr vier Jahre alt. Die beiden Herrscher hatten sich seit ihren Jugendtagen, die sie in enger Freundschaft verbrachten, nicht mehr gesehen und genossen die Tage in sentimentalen Erinnerungen. Wenn man von Böhmen in Sizilien damals zu Besuch war, blieb man nicht bloß für ein paar Tage, sondern Wochen und Monate. In diesem Fall dauerte der Besuch schon neun Monate. Das war dann doch schon etwas lang, aber Leontes bat den Freund um Aufschub seiner Abreise. Der machte dringende Staatsgeschäfte geltend, und außerdem wollte er nach neun Besuchsmonaten nicht mehr beschwerlich fallen. Weil Leontes mit seiner Bitte nicht durchdringt, bittet er seine Frau Hermione, ihren Charme einzusetzen, damit der Freund seinen Aufenthalt doch noch um ein Weniges verlängert. Der jungen, schönen und eleganten Herrin des gastlichen Hauses gelingt es tatsächlich, Polyxenes umzustimmen. Er verspricht noch eine weitere Woche zu bleiben, und schon beginnt man wieder in schwelgerischen Erinnerungen an vergangene Jugendtage. Als Hermione dem Gast freundlich die Hand reicht, steigt völlig unvermittelt in Leontes ein eifersüchtiger Gedanke auf.

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Leontes (für sich) Zu heiß, zu heiß! So heftig Freundschaft einen, eint das Blut. Die Brust ist mir beklemmt, es tanzt mein Herz, Doch nicht aus Freude, Freude nicht – Solch traulich Wesen […] … solch traulich Wesen Gefällt nicht meinem Herzen, nicht der Stirn. – (I,1)

Für nebenbei Gesprochenes ist sein beginnender Argwohn ziemlich lang geraten, und als sein kleiner, etwa siebenjähriger Sohn Mamilius angerannt kommt, sieht er plötzlich komisch nach ihm und seiner Mutter, derart komisch, dass es Polyxenes und Hermione durchaus eine Nachfrage wert ist. Der König verneint Verstimmungen bzw. Unwohlsein und bringt das Gespräch auf die Kinder, bis Hermione abbricht und den Gast zu einer Gartenrunde einlädt. Leontes blickt verstohlen hinter den beiden her und monologisiert sich in eine Eifersuchtsszene, über der kein Gras mehr wachsen wird. Er ganz allein, ohne einen Jago, flüstert sich ins absolute Unheil, zerbricht seine Ehe mit einer aus dem Nichts angefachten Wut, für die es keine Erklärung gibt. Camillo, sein guter Ratgeber, wird ins Vertrauen über die Untreue der Königin gezogen. Aber je länger das Gespräch mit Camillo dauert, umso mehr gerät der König in seine für die Königin und den Freund bedrohliche Raserei. Die fiebrigen Gedanken gebären Wünsche nach schnellen Taten. Camillo, der von der Unschuld der Königin felsenfest überzeugt ist, gerät immer mehr in die Fänge eines Mannes, der alle emotionale Kontrolle über sich verloren hat. Der Böhme muss sterben, und du wirst das für mich erledigen. Camillo verspricht es unter einer Bedingung. Leontes Ich thu’s, und schaff ’ euch Böhmen auf die Seite, Vorausgesetzt, eure Hoheit schenkt der Kön’gin, Ist jener fort, die vor’ge Liebe wieder; Schon euers Sohnes halb, wie auch, zu fesseln Die Lästerzungen all’ der Reich’ und Höfe, Die euch befreundet und verwandt. (I,2)

Natürlich ist das ein leeres Versprechen des Königs, und natürlich hat Camillo einen Plan, den Böhmen und sich selber in Sicherheit zu bringen. Er nimmt sich Polyxenes zur Seite und entdeckt ihm Leontes Mordabsichten. Er rät zur gemeinsamen Flucht.

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Polyxenes Ich glaube dir: ich sah in seinem Antlitz Sein Herz. Gieb mir die Hand, sei mein Pilot, Und du sollst immer mir der Nächste bleiben. Die Schiffe sind bereit, und meine Leute Erwarten schon die Abfahrt seit zwei Tagen. (I,2)

Auf die holde Königin kommen schreckliche Tage zu, denn durch die Flucht ist für Leontes die Schuld des Ehebruchs mit dem Freund mehr als bewiesen. Außerdem ist sie im neunten Monat schwanger. Ein Schelm, wer dabei nicht Böses dächte. Das eigene Kind, den Knaben Mamilius, nimmt er der Königin weg und lässt sie nach heftigsten Vorwürfen ins Gefängnis werfen. Jedem, der das Wort zu ihrer Verteidigung erhebt, droht er mit Schuldspruch. Der gesamte sizilianische Hofstaat ist entsetzt, und nur der alte Lord Antigonus wagt Widerspruch und rät zu Bedacht. Sein Versuch ist vergeblich, aber immerhin hat der König, um seiner Willkür vor der Öffentlichkeit Legitimität zu verleihen, zum Orakel nach Delphi gesandt. Ein Spruch von dort soll Klarheit schaffen. Mit der Klarheit von Orakelsprüchen ist es so eine Sache; sie sind zumeist zweideutig. In diesem Fall verwirren sie zunächst aus anderen Gründen. Es verunsichert uns, weil die Zeit, in der das Stück spielt, nur noch eine diffuse Orientierung zulässt. Sind wir in der Spätantike oder in der Renaissance? Die vermeintlichen Fehler sind Absicht und gehören zum Spiel des Dichters mit Ort und Zeit seiner märchenhaften Handlung. Auch der Frau des Antigonus, der ehrwürdigen Matrone Paulina, lässt der Fall der Königin keine Ruhe. Sie stürmt empört mit mehreren Dienern zum Gefängnis, wird aber nicht vorgelassen. Allenfalls ist ein Gespräch mit ihrer Kammerfrau möglich, sagt der Kerkermeister, aber nur in meiner Anwesenheit. Emilia kommt mit der Nachricht, dass die Königin etwas vor der Zeit entbunden hat. Emilia Ein Mädchen, und ein schönes Kind, Kräftig und lebensvoll. Sein Anblick tröstet Die Kön’gin: mein gefangnes, armes Kind, Sagt sie, ich bin so unschuldig, so wie du. Paulina Das will ich schwören: – Verdammt des Königs heillos blinder Wahnsinn!

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[…]

Ich bitte dich, Emilia, Empfiehl der Kön’gin meinen treuen Dienst; Und will sie mir ihr kleines Kind vertrauen, Trag’ ich’s dem König hin und übernehm’ es, Ihr lauter Anwalt dort zu seyn. Wer weiß, Wie ihn des Kindes Anblick mag besänft’gen: Oft spricht beredt der reinen Unschuld Schweigen, Wo Worte nichts gewinnen. (II,2)

Natürlich hat der Kerkermeister Bedenken, aber die resolute Paulina verbürgt sich für ihn. Schon ist sie im Audienzzimmer im Anmarsch. Der König tobt schon, bevor er sie nur sieht. Er schimpft auf die Ehebrecherin, den verhurten Exfreund, nur der kleine Prinz macht ihm Sorgen. Er ist krank. Die Erklärung folgt auf den Fuß; er schämt sich ob der Schande seiner Mutter. Mit der Schande im Arm tritt Paulina voller Hoffnung vor den König. Man will sie abdrängen. Antigonus, ihr Mann, wird angebrüllt, warum er ihn mit seiner Frau belästige. „Werft sie hinaus!“, schreit er. Von wegen gute Königin! Paulina bleibt ganz ruhig und legt ihm das Kind vor die Füße. Das macht Leontes noch wütender; er beschimpft die tapfere Frau als Hexe und Kupplerin, ihren Mann als Weiberknecht und das Baby als Brut des Polyxenes. Sowohl das Kind als auch die Mutter gehören verbrannt. Paulina lässt sich nicht einschüchtern und spielt virtuos mit den Schlüsselreizen, die die Evolutionsbiologie heute unter dem Begriff „Kindchenschema“ zusammenfasst. Paulina

Das Kind ist euer; Und, nach dem alten Sprichwort, gleicht euch so, Daß es ‘ne Schand’ ist. – Seht doch, liebe Herrn, Ist auch der Druck nur klein, der ganze Inhalt Des Vaters Abschrift: Augen, Mund und Nase, Der finstre Zug der Brau’n, die Stirn, die Grübchen. Die hübschen hier auf Wang’ und Kinn; sein Lächeln; Ganz auch die Form der Nägel, Finger, Hände: – Natur, du gute Göttin, die es schuf So ähnlich dem, der’s zeugte, bildest du Auch das Gemüth, so gib aus allen Farben Ihm nur kein Gelb, daß sie, wie er, nicht wähne, Ihr Kind sei ihres Gatten nicht! (II,3)

Vom Gift gelber Eifersucht wird das Kind freibleiben, das ab jetzt für die nächsten 16 Jahre eine bedeutende, wenn auch stumme

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Rolle in diesem Stück Shakespeares spielen wird. Erst beim Schafschurfest wird es den Mund öffnen und hochpoetische Worte sprechen. Paulina spielt auf riskant, lässt es zu Füßen des Königs liegen und geht einfach ab. Hilflos, wenngleich in übergroßer Wut und blind vor Eifersucht, beschimpft Leontes den Mann der Paulina und befiehlt ihm, das Kind ins Feuer zu werfen. Alle, der gesamte Hofstaat, fällt auf die Knie, damit der blinde, für die Reize des hübschen Mädchens unempfindliche Vater den Befehl zurücknehmen möge. Er tut es tatsächlich, aber ob die Alternative weniger grausam ist als schneller Tod, bleibt der Vorsehung vorbehalten. Antigonus bekommt einen nicht minder grausamen Auftrag. Leontes Wir gebieten Bei deiner Lehnspflicht, nimm hier diesen Bastard, Und trag’ ihn gleich von dann’, an einen Ort, Der wüst und menschenleer und weit entfernt Von unsern Grenzen ist, und laß ihn dort Ohn’ alle Gnad’ in seinem eignen Schutz, Der freien Luft vertraut. Von einem Fremdling Kam er zu uns: mit Recht befehl’ ich drum, Bei deiner Seele Heil, des Leibes Marter, Daß du ihn wo in fremdes Land aussetzest, Wo Glück ihn nähren, tödten mag. So nimm ihn! (II,3)

So kommt das vermeintliche Bastardkind in die Fremde. Für Vater und Mutter ist es ab jetzt verloren. Antigonus wird den verbrecherischen Auftrag ausführen. Er setzt das Kind in einer wüsten Gegend am Meer aus. Die Wahl des Antigonus ist symbolischer Art. Ob sie seiner Weisheit oder der höheren Weisheit seines Autors entspringt, bleibe dahingestellt. Es ist Böhmens Küste und für das Kind vielleicht doch eine Hoffnung. Antigonus bezahlt mit seinem Leben, denn kaum hat er das Kind wohl verpackt, reichlich mit Geld versorgt, mit königlichen Herkunftszeichen geziert und mit dem sprechenden Namen „Perdita“ versehen an der unwirtlichen Küste niedergelegt, wird er von einem Bären gefressen. „Er entflieht, von einem Bären verfolgt.“ (III,3) Herzzerreißend war sein Monolog mit dem er das Kind seinem Geschick übergab, eher tragikomisch die Verfolgung durch den Bären und wundervoll die Errettung des Findelkinds durch zwei barmherzige Schäfer, die sich durch das beigelegte Geld für die nächsten 16 Jahre gut bezahlt fühlen. Die Reste des vom Bären verspeisten Antigonus werden zum Abschluss

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des Glückstags für die armen Leute gebührend beweint und begraben. Fast hätten sie sich in Sizilien noch die Türklinke in die Hand gegeben: Antigonus war kaum fort mit dem Kind, als die Abgesandten zum Orakel von Delphi rückgemeldet werden. Sie wissen nicht, was sie bringen, hoffen aber auf einen guten Spruch für die Königin. Das Staatsgericht ist einberufen und Leontes hofft vom Schein der Tyrannei entlastet zu werden. Hermione wird von Paulina und anderen Hofdamen begleitet vor das Gericht geführt. Ein Beamter verliest die Anklage: Hochverrat durch Ehebruch, Verschwörung mit Camillo gegen den König. Hermiones Verteidigungsrede ist ein großer Auftritt und bietet bei wenigen Einwürfen des Königs gute Gelegenheit, nicht nur schauspielerisch zu glänzen, sondern ein überzeugendes Plädoyer für ihre Unschuld zu geben. In allen Punkten sei sie falsch beschuldigt und stelle sich dem Orakelspruch aus Delphi. Am traurigsten aber sei das Ende ihrer gemeinsamen großen Liebe, ihrer Ehe. Hermione Die Kron’ und Lust des Lebens, eure Liebe, Die geb’ ich auf: ich fühl’ es, sie ist hin. Doch wie, das weiß ich nicht (III,2)

Das zweite große Glück ihres Lebens, ihr kleiner Sohn, sei ihr entwendet und nicht minder bitter sei, dass ihr drittes Glück des Lebens, ihr Baby, von ihrer Brust gerissen und umgebracht wurde. Alles, was das Glück unserer Familie hätte ausmachen können, ist durch tyrannische Eifersucht zerstört. Die Boten mit dem Orakel werden aufgerufen, sie schwören das Siegel des Dokuments nicht erbrochen zu haben. Es wird geöffnet, und die Botschaft wird verlesen. Sie ist so lapidar und klar wie vermutlich noch nie ein delphischer Orakelspruch war. Beamter (liest) Hermione ist keusch, Polyxenes tadellos, Camillo ein treuer Unterthan, Leontes ein eifersüchtiger Tyrann, sein unschuldiges Kind rechtmäßig erzeugt, und der König wird ohne Erben leben, wenn das, was verloren ist, nicht wieder gefunden wird.“ (III,2)

Ab jetzt überstürzen sich die Ereignisse. Zwar widerspricht Leontes trotzig der Wahrheit des Orakelspruchs, aber die Hiobsbotschaften kommen so schnell, dass sie den König ins Mark treffen. Der dritte

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Akt besiegelt sein Schicksal dauerhaft, und es ist nicht abzusehen, wie diese Katastrophe jemals wieder ins individuelle Glück, ins allgemeine Heil gedreht werden könnte. Eine Tragödie ist irreversibel. Kaum hat der König seine Stimme gegen das Orakel erhoben, … Leontes Nur Lüg’ und Falschheit spricht aus dem Orakel (III,2)

… wird ihm vermeldet, dass sein kranker Sohn eben gestorben ist. Das ist ein derartiger Tiefschlag des Schicksals, dass schon sein nächster Satz eine 180°-Wende markiert. Leontes Apollo zürnt, und selbst der Himmel schlägt Mein ungerecht Beginnen. Was ist das? (Hermione fällt in Ohnmacht) (III,2)

Die strenge Paulina macht daraus sofort einen zweiten irreversiblen Akt er Götter. Paulina Die Nachricht ist der Kön’gin Tod: – schaut nieder Und seht, wie Tod hier handelt!

Die Hofdamen und Paulina tragen die Königin fort. In diesen Abgang macht Leontes ein vollgültiges Geständnis aller seiner törichten Eifersuchtstaten. Leontes Oh, verzeih, Apollo! Verzeih die Lästrung gegen dein Orakel! Ich will mich mit Polyxenes versöhnen, Der Gattin Lieb’ erflehn, Camillo rufen, Den ich getreu und mild hier laut erkläre. Durch Eifersucht zu Rach’ und Blutgedanken Gerissen, rief ich mir Camillo auf, Polyxenes, den Theuren, zu vergiften. Auch wär’s vollbracht, Wenn nicht Camillo’s edler Sinn verzögert Den schleunigen Befehl, obgleich durch Tod, Durch Lohn, ich ihn ermuthigt und geschreckt, Wofern er’s that und ließ; doch wahrhaft menschlich Und ehrenvoll enthüllt’ er meinen Plan Dem hohen Gast, verließ hier sein Vermögen, Das groß war, wie ihr wißt, und gab sich selbst Als sichres Spiel unsichrem Zufall preis, Nur reich an Ehre. – O, wie glänzt er rein

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Durch meinen Rost! Und seine Frömmigkeit, Wie färbt sie schwärzer meine Missethaten! (Paulina tritt auf) (III,2)

Die Generalbeichte vor den Herren und Beamten vom Hof ist zu Ende. Paulina hat sie nicht gehört und stürzt voller Verzweiflung und Todesmut in den Gerichtshof und wütet gegen den König, indem sie dessen Taten noch einmal in dramatischer Rede resümiert. – Verrat an dem Freund und König Polyxenes – Anstiftung zum Königsmord – grausame Bestrafung eines unschuldigen Kindes durch Aussetzung mit Gefahr für sein Leben – Schuld am Tod des Sohnes – Verleumdung der Königin und schließlich – das ist die ultimative Botschaft – Tod der Königin Den letzten Punkt in ihrer Liste betont sie nochmals nachdrücklich. Paulina Ich sage, sie ist todt; ich schwör’s; wenn Wort Und Eid nicht gilt, so geht und schaut; könnt ihr In Lipp’ und Auge Farb’ und Glanz erwecken, Die äußre Wärm’ und innern Hauch, so bet’ ich Euch wie die Götter an. – Doch, o Tyrann! Bereu’ nicht, was du thatst; es ist zu ruchlos, Und keine Klage sühnts: drum stürze wild Dich in Verzweiflung! (III,2)

Und ganz nebenbei, sagt sie, den Tod meines Gatten Antigonus will ich gar nicht erwähnen. Jedenfalls ist er bis heute nicht zurückgekommen. Ein Häufchen königliches Elend liegt am Boden und ordnet mit kläglicher Stimme die Beerdigung der Königin und seines Sohnes an. Mit der Familie sinkt auch das stolze sizilianische Königshaus in die Gruft. An eine Wiederverheiratung mag jedenfalls im Augenblick keiner auch nur im Traum denken. Leontes

Bitte, führe mich Hin zu der Kön’gin Leich’ und meines Sohnes: Ein Grab vereine Beid’; auf ihm erscheine Die Ursach’ ihres Todes, uns zur Schmach

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Für alle Zeiten; einmal Tags besuch ich Die Gruft, die sie verschließt, und Thränen, dort vergossen. Sind dann mein einz’ges Labsal: und so lange Natur ertragen kann die heil’ge Feier, Gelob’ ich, täglich sie zu halten. Komm Und führe mich zu diesen bittern Schmerzen! (III,2)

*** Shakespeare hält sich weder an die dramentechnischen Kriterien einer Tragödie noch an die einer Komödie: Er macht die Kriterien für sich, und andere können sich daran gerne ein Vorbild nehmen. Deshalb beginnt nach der tragischen Klimax im dritten Akt – eine Lösung ist nicht in Sicht – ein neues Stück, ein Lustspiel, das ein Prolog vor dem Beginn des vierten Akts ankündigt. Als Prologsprecher*in hat Shakespeare „Die Zeit“ gewählt, lautete doch der Untertitel seiner Quelle „Pandosto or The Triumph of Time“. Das ist in englischer Bedeutung aber eine männliche Figur, „Father Time“, nach der emblematischen Figur „Chronos“, die sich aus der griechischen Mythologie herleitet. Er hat in englischer Tradition besonders bei William Hogarth eine großartige Gestaltung gefunden. Wir würden der Regie raten, ihn als Zwitter in goldbronzierter Nacktheit auftreten zu lassen. Sie/er klärt den Zuschauer auf, dass sechzehn Jahre seit der Auffindung von Perdita vergangen sind, dass Leontes seine Eifersucht seither in tiefer Einsamkeit durch tägliche Bußübungen aufrichtig bereut hat. Dann imaginiert sie/er, dass wir nun im schönen Böhmen sind und dass sie/er vom Sohn des Königs erzählt habe. Da täuscht sich die Zeit, denn nur König Polyxenes hat vor 16 Jahren von seinem kleinen Sohn kurz Erwähnung getan. Wie dem auch sei, die Zeit erzählt nun von Florizel und Perdita, aber mit ziemlicher Einschränkung. Zeit Florizel Nenn ich ihn nun; erzähl’ euch auch zugleich Von Perdita, die schön und anmuthreich Erwuchs, zum Staunen aller; ihr Geschick Sag’ ich euch nicht vorher, der Augenblick Zeig’ euch, was er erschafft: – des Schäfers Kind, Er und sein Haushalt, all dergleichen sind Der Inhalt nun des Spiels: seht, wie es endet (Ende III,3, Anfang IV, 1, Chorus)

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Diesmal sind wir mit unserer Erzählung dem Zuschauer voraus. Die Geschichte dieses Lustspiels im schönen Böhmen ist schon erzählt (ab Beginn bis zum ersten Sternchen); uns fehlt nur noch das Ende, will sagen, wie es die Ehe- und Familientragödie in eine neue Wunderform auflöst, in eine Romanze. Darüber lässt die Zeit, bzw. Shakespeare, den Zuschauer und natürlich auch uns gegen seine sonstige Gepflogenheit im Unklaren. Über ihr Geschick, lässt er durch die Zeit ausrichten, sag ich euch nichts. Er/sie ist uns auch sonst noch ein paar Auskünfte schuldig. Die erhalten wir im fünften Akt, in dessen Beginn wir wieder in den Palast von Leontes nach Sizilien versetzt werden. Nach sechszehn Jahren des Trauerns und Büßens sei es genug, meint der Hofstaat vertreten durch die zwei Boten von damals, zu Apolls Orakel. Das Reich hat keinen Thronfolger, und Paulina wittert den Wunsch der Höflinge nach Wiederverheiratung des Königs. Da ist sie strikt dagegen. Das Orakel war klar. Paulina Denn sprach nicht so der himmlische Apoll, War das nicht des Orakels heil’ges Wort: Es soll Leontes keinen Erben haben, Bis sein verlornes Kind sich fand? Dies ist Nach unsrer Einsicht ebenso unmöglich, Als daß Antigonus das Grab durchbräche Und wieder zu mir käme; der doch wahrlich Verdarb zusammt dem Kind. Ists euer Wille, Daß unser Herr dem Himmel widerstrebt Und seinem Rathschluß trotzt? (V,1)

Leontes pflichtet ihr bei. Sie macht aber komische Andeutungen in der Art „wenn“ / „dann“ die keiner richtig versteht. Das erste Schiff aus Böhmen ist angekommen. Ein Edelmann meldet die Ankunft eines gewissen Prinzen Florizel. Der sei Sohn des Königs Polyxenes, und er sei begleitet von einer Frau – die schönste Fürstin, die, so der Edelmann, er je gesehn. Das will etwas heißen. Paulina bezweifelt das. Aber der gar nicht mehr so junge Edelmann – er scheint die alte Königin noch gekannt zu haben – hat das herrlichste Geschöpf der Erde scheinbar schon genau nach Wert und Beliebtheit taxiert und kommt zu einer nicht überbietbaren Einschätzung. Edelmann Die Frauen lieben sie, weil Frau sie ist, Mehr werth als alle Männer; und die Männer,

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Weil sie der Frauen schönste. (V,1)

Der brave Mann hat den Auftritt professionell präpariert, und nebenbei erinnert Paulina den Leontes schmerzlich an seinen Sohn Mamilius, der mit dem böhmischen Prinzen – lebte er denn noch – ein schönes Paar abgäbe. Der König hört die „Gemeinheit“ nicht gerne. Sie kommen. Das Gefolge ist eher bescheiden, nicht des Vaters Glanz wie damals. Aber ganz sein Bild und Gleichnis. Dann ein Blick auf die Frau an seiner Seite. Da ist ein Glanz, der den damaligen – „Göttin!“ – weit übertrifft. Florizel spult nun rasch ab, was Camillo ihm ins Dossier geschrieben hat. Leontes fällt wieder in seine Büßerrolle und bedauert lauter Vergehen von damals an Florizels Vater und an seiner Frau und seinen Kindern, die dieses Frühlingspaar vermutlich nicht ganz verstehen. Der Besuch in Sizilien lässt sich so an, wie erhofft. Da spuckt das zweite Schiff aus Böhmen, von dem Florizel nichts wissen kann, eine unerwünschte Ladung an Land. Ein Hofherr meldet die Ankunft des Königs von Böhmen nebst seiner Bitte, seinen Sohn festzunehmen, der mit einer Schäferstochter durchgebrannt sei. Das ist wieder einmal ein dramatischer Paukenschlag in diesem Stück, und Florizel durchzuckt es. Florizel Mich verriet Camillo, Deß Redlichkeit und Ehre jedem Wetter Bis jetzt getrotzt. (V,1)

Und dieser Verräter Camillo, so der Hofherr, ist gerade dabei, den Vater und den Bruder dieser vorgeblichen Fürstin zu verhören. Er habe sie zufällig in Sizilien getroffen und auf dem Weg zum Palast arretieren lassen. Dass seine Verhörmethoden nicht ganz sauber sind, bleibt nicht unerwähnt. Perdita sendet für Vater und Bruder einen Stoßseufzer zum Himmel. Leontes will wissen, ob das saubere Pärchen verheiratet sei. Florizel verneint und bekräftigt seinen Entschluss, Perdita gegen alle Widrigkeiten zu ehelichen. Ja, er bittet Leontes, ihn an seine Jugend erinnernd, sich bei seinem Vater für ihn und seine Liebste zu verwenden. Es gehen seltsame Blicke zwischen Leontes und Perdita hin und her, die Paulina tadelt. Sie scheinen ihr verdächtig. Aber der bußfertige Mann verspricht, sich für das Paar bei Polyxenes zu verwenden. Scheinbar hat er in 16 Jahren doch dazugelernt.

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Jetzt kommt eine Szene (V,2), die man eine monströse „Mauerschau“ nennen könnte. Im Sachwörterbuch der Literatur wird auf das Stichwort „Teichoskopie“ verwiesen, auf ein dramentechnisches Mittel, um in mündlichem Bericht einer oder im Dialog mehrerer Theaterfiguren über ein auf der Bühne schwer darstellbares Ereignis zu berichten. Shakespeares dramaturgische Ökonomie greift im Wissen um das Ende seines Ehemärchens zunächst auf dieses indirekte Darstellungsmittel zurück, weil er sicherlich noch eine Überraschung in der Hinterhand hat. Ein erster Edelmann erzählt dem neugierigen Autolycus, dass er dabei war beim Verhör der beiden Schäfer, die endlich ihr Bündel auspacken durften. Der alte Mann habe es bei dem Kind gefunden, aber jetzt, da es spannend zu werden versprach, habe man ihn aus dem Zimmer komplimentiert. Er macht es aber im Auftrag seines Autors Shakespeare spannend, indem er eine wunderbare Verwandlung von König Polyxenes und Camillo andeutet. Ob sie Anstoß zu Freude oder großem Schmerz bedeute, könne er aber nicht sagen. Da kommt ein zweiter Edelmann, der jubiliert, dass es eine Pracht ist. Das Orakel habe sich erfüllt, des Königs Tochter sei gefunden. Das könne kein balladenschreibender Jahrmarktsschreier je in Worte fassen. Autolycus wittert gute Geschäfte für seine Zukunft, aber er bleibt stumm vor Stolz, weil ein dritter Edelmann erscheint – Paulines Haushofmeister. Auch er hat den Leuten vor dem Palast etwas aus der laufenden Untersuchung durchzustechen. Vor den Ohren der Öffentlichkeit weiß er sehr genaue Details zu nennen, die sich bei dem Findelkind fanden: der Mantel der Königin Hermione, eins ihrer juwelenbesetzten Halsbänder und Briefe des Antigonus. Und dann sind da noch die indirekten Indizien wie die Ähnlichkeit mit der Mutter und der natürliche Adel von Perdita. Was nun gar nicht mehr zu schildern ist – und natürlich kaum darstellbar –, war die Begegnung der beiden Könige. Sie gebärdeten sich wie die Verrückten: ein Augenaufschlagen, ein Händeemporwerfen, eine Verzückung und ein Schreien und ein Verzeihungbitten, ein Zerdrücken und Umhalsen. Selbst den alten Schäfer ließ man nicht ungeschoren. Fast hätten sie ihn erdrückt. Die Nachfrage nach dem Schicksal des Antigonus war aber leider eine unerfreuliche Botschaft für Paulina. Der junge Schäfer konnte ihr nur mit einiger Rücksicht mitteilen, dass er von einem

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Bären zerrissen wurde. Das Schnupftuch und ein paar Ringe des armen Mannes waren in den Unterlagen. Paulina war hin- und hergerissen zwischen Schmerz und Freude. Dann hob sie Perdita von der Erde und umschloss sie so fest, als ob sie sie für immer an ihr Herz heften wollte. Völlig unerwartet schiebt der erste Edelmann einen Kommentar in die Nachrichten aus dem Palast, die die Staatsereignisse als das qualifizieren, was sie immer auch sind: großes Staatstheater. Erster Edelmann Die Hoheit dieser Szene verdiente Könige und Fürsten als Zuschauer, denn von solchen ward sie gespielt. (V,2)

Die Frage, ob Shakespeare hier mit einem heimlichen Wunsch aus seiner Rolle fällt, sei erlaubt. Der dritte Edelmann fängt die entgleiste Szene wieder ein und bekennt, dass selbst er mit den Tränen zu kämpfen hatte bei dem Bericht über den Tod der Königin Hermione. Ihrer Tochter Tränen aber waren Blut. Die Wiedergefundene bittet, als sie Paulina von einer Statue ihrer Mutter sprechen hört, sofort dorthin zu gehen. Es erfolgt ein allgemeiner Aufbruch in ein entlegenes Haus, in dem Paulina bei dem großartigen italienischen Meister, bei Julio Romano, ein Werk in Auftrag gegeben hat, das Hermione so vollkommen der lebendigen Hermione gleich gemacht hat, … Dritter Edelmann … daß, wie man sagt, man mit ihr sprechen und Antwort erwarten möchte: (V,2)

Das wollen natürlich alle sehen, alle drei Edelleute – und auch Autolycus, der alles zu diesem Ende eingefädelt hat. Die beiden Schäfer, die eben schnell geadelt wurden und irgendwie nun zur Verwandtschaft gehören, nehmen den Wohltäter wider Willen zur Statue und vielleicht auch zum Abendessen vor Ort mit. Damit ist der Bericht von hinter der Mauer beendet und es geht im Haus der Paulina weiter. Julio Romanos Wunderwerk – und damit hat uns Shakespeares Stück zeitlich endgültig aus der Zeit des delphischen Orakels mitten in die italienische Renaissance gebeamt – steht in einem prächtigen Saal in Paulinas Haus. Eine zweite Mauerschau erspart uns Shakespeare und lässt uns nun an einem Wunder teilhaben, das durchaus schwer zu spielen ist. Wir durften mit dem Personal des Stücks einen Rundgang durch die prächtigen Säle mit manchen Seltenhei-

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ten machen. Vermutlich war, da Julio Romano ein in eroticis bewährter Maler war, auch manches delikate Wandstück zu sehen. Wir feiern ja eine Verlobung, von der wir nur in einem Nebensatz von Paulina erfahren. Irgendwo wurde diese Verlobung zwischen Tür und Angel erledigt. Paulina Mit Eurem Bruder und den Neuverlobten (V,3)

Der Bruder ist natürlich der Königsbruder Polyxenes, und die Neuverlobten sind das sizilianische und das böhmische Königskind. Die Stimmung geht in Richtung Hochzeit, auch wenn die Beteiligten noch keine Ahnung davon haben. Danke vielmals für all die schönen Sachen, die ihr uns gezeigt habt, liebe Paulina, aber jetzt ergreife ich für meine Tochter das Wort. Leontes Was meine Tochter sehnlich wünscht zu schaun, Der Mutter Bild. (V,3)

Natürlich ist auch Leontes begierig, das Standbild seiner Frau zu sehen. Er hat Gründe genug und ziemlich widersprüchliche. Paulina arrangiert ihre Gäste dezent in eine günstige Position. Paulina So wie sie unvergleichlich Im Leben war, so, glaub’ ich, übertrifft Ihr todtes Abbild, was ihr je gesehn Und Menschenhand je schuf: drum halt’ ichs hier Liebend gesondert: schaut, und seid gefaßt, Zu sehn, wie dieß lebendig höhnt das Leben, Mehr als der Schlaf den Tod: hier; sagt, ‘s ist gut. (sie zieht einen Vorhang weg, man sieht eine Statue) (V,3)

Alle schweigen erstaunt und betroffen. Paulina fordert den König auf zu sprechen. Paulina Ists ihr nicht ziemlich gleich? (V,3)

Jetzt wird es ein wenig kitzlig; der König drückt sich um eine klare Antwort. Doch, schon, aber … Leontes – Doch, Paulina, Hermione war nicht geältert, so

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Wie dieses Bildniß scheint. (V,3)

Gut, dass die Statue nicht hören kann. Paulina versucht die Indiskretion ob der kleinen Falten sofort ins Positive zu wenden. Paulina Um so viel höher steht des Bildners Kunst, Der sechzehn Jahre überhüpft, sie schaffend, Als lebte jetzt sie. (V,3)

Leontes korrigiert seinerseits. Leontes Wie sie jetzt noch könnte, Zum süßen Trost mir, so wie nun der Anblick Mein Herz durchschneidet. (V,3)

Er verfällt wieder in routinierte Bußfertigkeit und schiebt dann Perdita vor. Perdita Vergönnt; Und nennts nicht Aberglauben, wenn ich knie Und bitt’ um ihren Segen! – Theure Kön’gin, Die endete, als ich begann zu leben, Reich mir die Hand zum Kuß! (V,3)

Den Kuss verbietet Paulina. Die Farbe sei noch nicht trocken. Leontes ist immer noch sehr bewegt, ja verstört, und Paulina bedauert, dass sie ihm das Bild gezeigt habe. Dennoch besteht er darauf, dass der Vorhang nicht geschlossen wird. Leontes Nicht die Vernunft der ganzen Welt kommt gleich Der Wonne dieses Wahnsinns. Zieh nicht vor! (V,3)

Paulina spielt mit feinem psychologischem Gespür auf der Klaviatur seiner Gefühle. Paulina Es ängstet mich, daß ich euch so erregt: Ich könnt’ euch stärker noch erschüttern. (V,3)

Einerseits, andrerseits: Das ist boshaft von ihr, aber Leontes will erschüttert werden, sprich, er will die Statue seiner Frau küssen. Das geht nicht wegen der nassen Farbe. Dann macht Paulina wie der Zauberer im Varieté beim Zersägen der Jungfrau eine Ansage. Wer das nicht sehen könne, darf den Saal verlassen. Leontes bestimmt: „Jedweder bleibe.“

746 • Perdita

Paulina Wecke sie, Musik! (Musik) (V,3)

Als Mauerschau wäre, was nun passiert, langweilig. Das Theater ist eine Zauberbude, und was nun folgt, ist doch auf verschiedenste Weise spektakulär. Zum einen steht die Schauspielerin der Hermione schon einige zehn Minuten im Blickfeld der Zuschauer. Der soll glauben, was die Protagonisten glauben. Sie soll Stein sein, nicht atmen, sich nicht bewegen, nicht einmal die Augen, kein bisschen. Das ist nicht leicht. Die Statuendarsteller in den Fußgängerzonen von heute können ein Lied davon singen; besonders der Trick mit den Augen ist wichtig. Zum anderen gibt es natürlich zwei immanente Sichtweisen des Vorgangs. Mutet uns Shakespeare ein Wunder à la Lazarus zu, den der Herr von den Toten auferweckt hat? Oder spielt Paulina die Geschichte aus dem Ovid von dem Bildhauer Pygmalion und seiner Galatea nach, die lebendig zu ihm herabsteigt von ihrem Postament. Ein Wunder ist es so oder so und Musik ist ihr Zauberstab. Paulina Zeit ists: sei nicht mehr Stein, komm, steig’ herab; Füll’ Alle, die dich sehn, mit Staunen! Nahe, Dein Grab verschließ ich: nun, so komm doch her; Dem Tod vermach’ dein Starrseyn, denn von ihm Erlöst dich frohes Leben. – Schaut, sie regt sich. (Hermione steigt herab) (V,3)

Pauline genießt ersichtlich ihre Zaubershow. Sie hat zwar betont, dass hier keine schwarze Magie im Spiel ist, aber sie sagt auch, dass sie Hermiones Grab mit dieser Auferstehung verschließt. Die Königin selbst aber schüttle ab die Starrheit des Todes, um zu glücklichem Leben erlöst zu sein. Paulines Zauberstück geht unter die Haut ihrer Zuschauer. Paulina Erschreckt nicht: heilig ist ihr Thun, und auch Mein Zauberspruch ist fromm: nicht kehrt euch von ihr, Sonst seht ihr wiederum sie sterben; dann Habt ihr sie zweimal umgebracht. Die Hand her: Als sie noch jung, da warbt ihr; jetzt, im Alter, Muß sie das Frei’n beginnen. (V,3)

Das sollte nicht schwerer sein als bei Pygmalion. Dieser liebkoste sein Kunstgeschöpf, und nachdem es lebendig wurde, ging aus ihrer

Perdita • 747

Verbindung eine Tochter hervor. Auch Leontes umarmt die Königin; sie ist warm, und die Tochter steht schon vor der Mutter. Die Bitte um der Mutter Segen wird ihr auch wieder zur Sprache verhelfen. Paulina Ihr, schönes Kind, müßt dieß bewirken: kniet, Um eurer Mutter Segen. – Theure Fürstin, Schaut her, gefunden unsre Perdita! (Perdita kniet vor der Königin) Hermione Ihr Götter, blickt herab, Und Gnade gießt aus euren heil’gen Schalen Auf meiner Tochter Haupt! – (V,3)

Es ist überliefert, dass in einer Inszenierung von „The Winter’s Tale“ 1887 in London die berühmte US-amerikanische Schauspielerin Mary Anderson (1859–1940) erstmals in der Doppelrolle von Perdita und Hermione aufgetreten ist. Ob diese Möglichkeit Schule gemacht hat, ist uns nicht bekannt. Die Idee erscheint reizvoll und lässt sich szenisch an dieser Stelle, wo beide gleichzeitig auf der Bühne stehen, sicherlich mit einigem Geschick realisieren, da Perdita ohnehin keinen Text mehr hat. In einer solchen Doppelbesetzung wird natürlich das alte Zwillingsmotiv in diversen Komödien Shakespeares nobilitiert. Die Mutter im Spiegel der Tochter und umgekehrt ist mehr als nur eine Identität in der Geschlechterfolge, sondern in einer höheren symbolischen Gleichzeitigkeit ein Wunder, das die Zeit aufhebt, die Zeit, die ja eine nicht unbedeutende Rolle im Stück spielt wie – kleiner Nebeneffekt – in peinlichen Mutter-Tochter-Witzen oder im Spieglein von Schneewittchens Stiefmutter. Im Theater ist ja heute vieles denkbar und möglich. Wieder durch die Tochter der Sprache mächtig, spricht Hermione schließlich auch das erlösende Wort, das dem Glaubens-, Mythen- und Märchenzauber der Paulina ein sehr rationales Ende setzt. Sie hat mit dem Tod der Königin geschummelt; sie hat tollkühn auf die einzige rätselhafte Stelle des Orakels gewettet, auf die Rettung und die Heimkehr des verlorenen Kindes gegen alle Wahrscheinlichkeit. Jenseits ihres Zauberwesens entpuppt sich die Wirklichkeit als das eigentliche Wunder, als ein Märchen in Raum und Zeit allein aus der Hoffnung geboren. Es ist alles ganz plausibel und

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logisch. Shakespeare ist ein Meister, seine Tiefen an der Oberfläche zu verstecken. Hermione … dann wisse du, Ich, – durch Paulina hörend, das Orakel Gab Hoffnung, daß du lebst, – verbarg mich hier, Den Schluß erwartend. (V,3)

Dass die Szene ab jetzt nach einer Doppelhochzeit schreit, ist klar. Sie war immer zum Greifen nahe, wenn auch unklar war, wie das gehen soll, da doch tragische Konstellationen irreversibel sind. Formal haben wir es bei dieser Romanze also um eine doppelte Liebesgeschichte zu tun, eine wiedererneuerte Ehegeschichte und die Geschichte einer jungen Liebe, die vermutlich in den Spuren der alten Liebe geht. Sie bzw. die wiedergefundene Tochter und ihr Glück war aber die Bedingung für die Erneuerung der elterlichen Liebe und Ehe. Eine dritte Hochzeit kommt noch dazu. Leontes verheiratet Paulina, die Witwe des Antigonus, mit seinem treuen Freund und Berater Camillo. Natürlich gibt es noch viel zu fragen und zu erzählen: wer, wie und wo? Leontes Ein Jeder frag’ und höre, welche Rolle Wir in dem weiten Raum der Zeit gespielt, Seit wir zuerst uns trennten. Folgt mir schnell! (V,3)

deutsche Übersetzung: Dorothea Tieck

Miranda • 749

Miranda

Der Sturm (1610 / 1611)

designed by Kenny Meadows and engraved by William Henry Mote

750 • Miranda

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Sturm herrscht nicht mehr, aber es ist noch ziemlich windig, wie die flatternden Haare und Mirandas Busenschleier andeuten, die der Porträtist um sie dekorativ wehen lässt. Sie musste eben mit ansehen, wie ein Schiff und seine Besatzung am Strand ihrer kleinen Insel zerschellt ist. Seit das Mädchen denken kann, lebt es mit seinem Vater allein auf dieser Insel und hat außer ihm und einem ungeschlachten Diener noch nie einen Menschen gesehen. Plötzlich steht da einer, ein Mensch, den sie in seiner Schönheit für einen überirdischen Geist hält. Ein weiterer Sturm zieht auf, aber nun ein Sturm im Herzen. Ihr Vater Prospero beobachtet sie ganz genau und zeigt sich beiseite gesprochen zufrieden vom anhebenden Sturm der jungen Herzen. Es passt in sein Konzept, dass die beiden aufeinander abfahren. Im Unterschied zur Tochter weiß er, wer der junge Mann ist. Miranda Was ists? ein Geist? O Himmel, wie’s umherschaut! Glaubt mir, Vater, ‘S ist herrlich von Gestalt; doch ists ein Geist. Prospero Nein, Kind, es ißt und trinkt, hat solche Sinne Wie wir ganz so. Der Knabe, den du siehst, War bei dem Schiffbruch, und entstellt’ ihn Gram, Der Schönheit Wurm, nicht, nenntest du mit Recht Ihn wohlgebildet. Er verlor die Freunde Und schweift umher nach ihnen. Miranda Nennen möcht’ ich Ein göttlich Ding ihn: nichts Natürliches Sah ich so edel je. Prospero (beiseit) Ich seh’, es geht Nach Herzenswunsch. Geist! lieber Geist! dafür Wirst in zwei Tagen frei. Ferdinand Gewiß die Göttin,

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Der die Musik dient. – Gönnet meinem Wunsch Zu wissen, ob ihr wohnt auf dieser Insel; Wollt Anleitung mir geben, wie ich hier Mich muß betragen; meiner Bitten erste, Zuletzt gesagt, ist diese: schönes Wunder, Seid ihr ein Mädchen oder nicht? Miranda

Kein Wunder, Doch sicherlich ein Mädchen. (I,2)

Ferdinand, so heißt der junge Mann, hat eben das traumatische Erlebnis des Schiffbruchs hinter sich und taumelt in die nächste bedrohliche Situation, in den Irrgarten der Liebe auf den ersten Blick. Auch er, obwohl er schon entschieden mehr Menschen gesehen hat, hält sie so unmittelbar nach seiner wunderbaren Rettung aus den Fluten für eine Göttin. Ihr galt wohl die schöne Musik, ihr, der Göttin dieser Insel. Das verneint sie und beteuert ihm, ganz sicherlich ein Mädchen zu sein. Darüber ist er nicht enttäuscht, im Gegenteil, er geht sofort in medias res: Ferdinand

O wenn ein Mädchen, Und eure Neigung frei noch, mach’ ich euch Zur Königin von Napel. (I,2)

So gerne Vater Prospero – er hat sich noch nicht richtig vorgestellt – die Neigung seiner Tochter sieht, das geht ihm jetzt doch etwas zu schnell. So unüberlegt muss der Handel nicht besiegelt werden; das drückt den Preis. Und damit ist Prospero ein Vater wie so viele Väter bei Shakespeare und der Shakespearezeit und sogar bis heute. Sie sterben nicht ganz aus. Er hat einen Einwand: von wegen „Königin von Napel“. Das ist eine Anmaßung. Dieser Königstitel steht dir nicht zu. Und als Miranda sich für ihn verwendet, wird er plötzlich sehr unfreundlich und will ihn als Herr der Insel gefangen setzen. Ferdinand zieht seinen Degen, Miranda geht dazwischen, und Prospero droht mit einem Zauberstab den stürmischen Burschen zu entwaffnen. Tatsächlich entfällt seiner plötzlich kraftlos gewordenen Hand die Waffe. Er wird ganz handzahm. Prospero bedankt sich bei einem Wesen, das Ariel heißt und das wohl für die Musik verantwortlich war. Wie es aussieht, weiß nur der Regisseur, dem das Personenverzeichnis sagt: ein Luftgeist. Er / sie / es kann männlich, weiblich

Miranda • 753

oder sächlich sein. Wir sind wieder in einem Märchen – nur dort gibt es solche Wesen –, einer Romanze, einer Liebesgeschichte, der leider diesmal die rahmende Ehegeschichte fehlt, weil es keine Mutter (mehr) gibt. Sie ist wohl tot. Prospero hat es dem Kind Miranda kurz vor Erscheinen des jungen, schönen Manns erzählt. Prospero Ein Tugendbild war deine Mutter, und Sie gab dich mir als Tochter, und dein Vater War Mailands Herzog; seine einz’ge Erbin Prinzessin, nichts Geringers. (I,2)

Das war nicht alles, was Miranda vor einer knappen halben Stunde über ihre Familiengeschichte erfahren hat. Angesichts der merkwürdigen Schiffskatastrophe bestand scheinbar Bedarf an einem Aufklärungsgespräch zwischen Vater und Tochter. Das Kind ist nicht so sehr davon betroffen, dass der Vater Wind und Wellen toben ließ, dass er ein Zauberer ist – wir sind im Märchen –, sondern dass dabei Geschöpfe in den tobenden Fluten zugrunde gingen. Es waren Geschöpfe, das konnte sie sehen und hören, die litten und schrien. Der Vater beruhigt sie und versichert, dass niemand zu Schaden kam. Miranda nimmt diese Versicherung, da sie nichts von der Welt und anderen Menschen weiß, als gesicherte Wahrheit über die Wirklichkeit, in der sie lebt. Sie kann das Ereignis nicht verorten und hat auch kein Bedürfnis es zu „hinterfragen“. Miranda Mehr zu wissen, Gerieth mir niemals in den Sinn. (I,2)

Das soll, das muss sich ändern, weil ich das alles nur für dich, meine Tochter, getan habe, … Prospero Die unbekannt ist mit sich selbst, nicht wissend, Woher ich bin, und daß ich viel was Höhers Als Prospero, Herr einer armen Zelle, Und dein nicht größ’rer Vater. (I,2)

Die Fragen, wer höher sein könnte als der Vater oder was größer gebaut ist als ihre Einsiedelei hier auf der Insel, kommen in ihrer Welterfahrung, die eine reine Naturerfahrung ist, überhaupt nicht vor. Prospero ’S ist Zeit,

754 • Miranda

Dir mehr zu offenbaren. Leih die Hand Und nimm den Zaubermantel von mir! (I,2)

Da sie immer noch weint, gibt er nochmals die Versicherung, dass bei dem grausen Schauspiel des Schiffbruchs keiner Seele, besser keiner Kreatur ein Haar gekrümmt wurde. Gut, sagt Miranda, ich höre gerne, was du mir schon öfter sagen wolltest, aber immer wieder verdrängt hast. Prospero

Die Stund’ ist da, Ja die Minute fodert dein Gehör. Gehorch und merke! Kannst du dich einer Zeit Erinnern, eh zu dieser Zell’ wir kamen? Kaum glaub’ ich, daß du’s kannst: denn damals warst du Noch nicht drei Jahr’ alt. (I,2)

Doch, sie kann eine kleine Erinnerung in ihrem Gedächtnis zusammenkratzen. Es gab wohl viele Frauen zur Aufwartung des Kindes. Aber sonst erinnert sie sich an nichts. Immerhin erfährt sie, dass der Vater bis vor zwölf Jahren der Herzog von Mailand war. Vermutlich hat sie rechnen gelernt und kann zusammenzählen: drei Jahre und zwölf Jahre. Sie ist 15 Jahre alt und vergleichbar alt wie manch anderes Mädchen in Shakespeares Kosmos. Marina aus dem Perikles ist vierzehn, Perdita wächst in Böhmen auf und ist gerade 16 Jahre alt geworden, als sie heiratet. Julia Capulet ist ebenfalls erst vierzehn Jahre alt. Das Leben damals war entschieden kürzer als heute und begann früher und Frauen starben sehr oft im Kindbett oder waren sehr schnell junge Witwen, weil sich ihre Männer beim Raufen nicht zurückhalten konnten. Die Mutter Mirandas war ein Tugendbild – das wissen wir schon –, aber leider wurden wir, so der Vater, ob der Arglist meines Bruders, deines Onkels, aus Mailand vertrieben. Ein wenig schuld daran war ich selber, denn ich kümmerte mich mehr um meine geheimen Studien und gab ihm zu viel Gelegenheit, sich der Staatsgeschäfte anzunehmen. Prospero erzählt von seinem Scheitern als Fürst in einem ihn selbst aufwühlenden Monolog, bei dem er aber merkt, dass Miranda eher gleichgültig zuhört. Immer wieder muss sie ihm bestätigen, dass sie doch mit großer Aufmerksamkeit zuhört. Als nun dieser heimtückische Bruder das Gefühl hatte, er sei der Herzog selber, verbündete er sich mit dem König von Neapel, der

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sein/mein Herzogtum tributpflichtig machte. Das war der Preis für die Anerkennung seines Bruders als Herzog von Mailand. Mich und dich rissen seine Diener um Mitternacht aus dem Bett, verfrachteten uns auf ein schon verrottetes Schiff und übergaben uns dem Gebrüll der See. Durch Gottes Vorsehung und mit Hilfe eines alten, edlen Neapolitaners namens Gonzalo – er versorgte uns mit dem Nötigsten – kamen wir hierher auf dieses Eiland, und hier .... Prospero Hab’ ich, dein Meister, weiter dich gebracht, Als andre Fürsten können, bei mehr Muße Zu eitler Lust und minder treuen Lehrern. (I,2)

Das Mädchen bedankt sich brav für seine gute Ausbildung, der Vater legt wieder seinen Zaubermantel an und beginnt ihre Frage nach dem Sinn des von ihm erregten Sturms zu beantworten. Sie spürt instinktiv, dass es zwischen der Herkunftsgeschichte und den aktuellen Ereignissen einen Zusammenhang zu geben scheint. Den bestätigt der Vater. Prospero So viel noch wisse: Durch seltne Schickung hat das güt’ge Glück, Jetzt meine werthe Herrin, meine Feinde An diesen Strand gebracht (I,2)

Aber Prospero macht auch klar, dass ab jetzt kein Fragen mehr gilt, zum einen, weil nun Gegenwart regiert, deren Zukunft der Zauberer auch noch nicht kennt, zum anderen, weil das Kind ohnehin müde und erschöpft von der langen Erzählung der Vergangenheit ist. Miranda schläft ein, und des Vaters Zauber hilft ihrer Müdigkeit nach. Von seinem herbeigerufenen treuen Diener Ariel lässt er sich die Details des großen Seesturms erzählen, und wir können endgültig und verwundert registrieren, dass die große erste Szene des Stücks mit dem Sturm und dem in Seenot befindlichen Schiff eine reine Theaterveranstaltung, beziehungsweise eine Zaubernummer fern aller Wirklichkeit war. Allerdings ist anders als im Theater oder bei der zersägten Jungfrau in diesem Falle für die Beteiligten in keinem Moment ersichtlich gewesen, dass mit ihnen doch ein relativ grausames Spiel getrieben wurde. Aber Prospero mag das unter Maß für Maß für die Vertreibung aus Mailand verbuchen. Es ist Rache seines halben Hauses (keine Mutter mehr) gegen das feindliche halbe Haus des Königs von Neapel (auch keine Mutter mehr?). „Aus bei-

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der Feinde unheilvollen Schoß / Entspringt ein Liebespaar“, heißt es im Prolog zu „Romeo und Julia“, und dieses Stück könnte im Untertitel analog zur frühen Tragödie gerne auch „Ferdinand und Miranda“ heißen. Ariel scheint seine Inszenierung viel Spaß gemacht zu haben. Mit großem rhetorischem Aufwand schildert er alle seine Theatertricks, durch die er Angst und Schrecken verbreitet hat. Selbst Prospero frägt jetzt besorgt: Prospero Sie sind doch unversehrt? (I,2)

Das kann er bestätigen. Ihr Schiff liegt unversehrt in stiller Bucht, die Mannschaft schläft, den Sohn des Königs, Ferdinand, habe er abgesondert vom Vater und seinen fürstlichen Begleitern. Der Rest der Flotte ist trauernd auf dem Weg nach Neapel. Es meint zwar jeder vom andern, er sei umgekommen, aber das lässt sich schon wieder einrenken. Gut gemacht, sagt Prospero, jetzt haben wir noch ein paar Stunden Zeit, in denen du mir hilfst, dann bist du wie versprochen frei. Vermutlich trägt er Ariel die Geschichte seiner Befreiung durch ihn nur deshalb so ausführlich vor, damit der Zuschauer von ihrer beider Verhältnis in Kenntnis gesetzt wird. Die von Algier hierher verbannte Hexe Sycorax hatte vor ihrem Tod Ariel in einer gespaltenen Fichte eingeklemmt. Du Ariel und ihr Bastardsohn Caliban, den sie sich noch in Algier zeugen ließ, waren die einzigen Wesen dieser Insel, als ich und meine Tochter hier ankamen. Ich habe dich aus der Spalte befreit und deinen Schmerzen ein Ende bereitet. Danke Meister! – Was soll ich tun? Geh, mach dich unsichtbar wie eine Nymphe und komm in dieser Bildung wieder zurück. Du weißt schon mit wem! Miranda hat sich von der langen Lehrstunde in Familiengeschichte erholt und wird wieder wach. Prospero ruft Caliban, den missgestalteten Sohn der Hexe, zur Arbeit. Der mault gewaltig und ist mehr als störrisch, aber er wird seinerseits ziemlich schäbig und hart behandelt. Auch seine Vorgeschichte wird abgehandelt. Er behauptet, was nicht zu leugnen ist, dass … Caliban … Dieses Eiland Ist mein, von meiner Mutter Sycorax, Das du mir wegnimmst. (I,2)

Miranda • 757

Zu Beginn, als ihr beide kamt, warst du noch freundlich, aber jetzt behandelst du mich wie den letzten Dreck, jammert er. Das hat Gründe. Der Kerl ist ziemlich unbelehrbar, und Lehren und Unterweisen, das tut Prospero gerne; aber Caliban hat auch versucht, Miranda zu vergewaltigen. Das hat die Beziehung der drei zueinander sicherlich nicht verbessert, vor allem da Caliban, der reine Naturmensch, keinerlei schlechtes Gewissen ob seines triebhaften Überfalls hat. Es steht auch nicht zu befürchten, dass sich das noch verbessern könnte, weil das Stück in ziemlicher Realzeit läuft und spätestens in drei Stunden beendet sein wird. Es ist das Stück Shakespeares, das die klassische Einheitenlehre von Ort, Handlung und Zeit ausnahmsweise penibel beachtet. Während Caliban also unwillig und unterdrückt geht, um Brennholz zu holen, kommt Ariel unsichtbar, spielend und singend; Ferdinand folgt ihm. Wie man sichtbare Unsichtbarkeit herstellt, ist bis heute ein kniffliges Regieproblem. Aber es soll so etwas wie ein „Unsichtbarkeit“ symbolisierendes Kostüm gegeben haben. Unsichtbar machende Tarnkappen sind immer ein beliebtes Theatermittel gewesen, und es reicht, dass wir die beiden sehen, aber Ferdinand ob dem mythischen Gegenstand den Blinden spielt. Ferdinand fragt sich, woher die Musik kommen mag, ist aber durchaus durch sie getröstet in seinem Schmerz über den vermeintlich verlorenen Vater. Ferdinand Das Liedlein spricht von meinem todten Vater. Dieß ist kein sterblich Thun; der Ton gehört Der Erde nicht: jetzt hör’ ich droben ihn. (I,2)

Es ist also nicht ganz unverständlich, dass Miranda, als sie den jungen Mann erblickt, ihn in seiner Schönheit für einen überirdischen Geist hält. Ein weiterer Sturm zieht auf, aber nun ist es ein Sturm im Herzen. Die erste Begegnung verläuft wie eingangs schon geschildert. Willig begibt sich Ferdinand ins Joch der Liebe, wie es Mirandas Vater fordert. Ferdinand Mag Freiheit alle Winkel Der Erde sonst gebrauchen: Raum genug Hab’ ich in solchem Kerker. (I,2)

Auch er geht zum Brennholz tragen, aber froh und willig im Unterschied zu Caliban. Seine Belohnung wird königlich sein.

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Prospero hat mit dem gekaperten Schiff einen kapitalen Fang gemacht. Alle seine Mailänder Feinde sind in seiner Hand. Unglaublich und doch wirklich. Sein untreuer Bruder Antonio, der ihn der Herrschaft beraubt hat, dann der Helfershelfer beim Staatsstreich, der König Alonso von Neapel, der Vater von Ferdinand. Auch der Bruder des Königs, Sebastian, ein undurchschaubarer Finsterling, ist unter den Gestrandeten, dazu noch einige Herren vom Hofe und Gonzalo, der Aufrechte unter so viel Unrechten, der Prospero heimlich geholfen hat. Sie sind in gedrückter Stimmung. Alonso vermisst seinen Sohn und wähnt ihn ertrunken, und alle zusammen haben keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Gonzalo versucht zu trösten, aber die Malaise ist offensichtlich. Sie waren auf der Heimreise von Afrika, wo Alonso seine Tochter mit dem König von Tunis verheiraten durfte, und alles war guter Stimmung. Sie saßen alle auf einem Schiff – das war ein Fehler – und sitzen nun alle auf einer einsamen Insel, die ihr Vorbild in den Bermudainseln hat. Von dort wurde 1610 ein sensationeller Fall berichtet, auf den Shakespeare begierig zugriff und für seine Zwecke ausmalte.1 Der Fall, ihr Fall ist noch zu frisch, um eine sinnvolle Überlegung auf ihre Zukunft anzustellen. Nur der alte Gonzalo phantasiert wie zum Zeitvertreib eine Utopie für ein Leben auf dieser Insel herbei, die eher der Verzweiflung geschuldet ist. Sie ist so konfus und lächerlich, weil sie nicht ein noch aus weiß. Da sitzen lauter Männer rum, und er imaginiert eine Zukunft, in der Männer und Weiber gleich sein sollen und schlaraffenlandmäßig müßig und alle herrschaftsfrei und gleichberechtigt und waffenfrei und so weiter. Gonzalo So ungemein wollt’ ich regieren, Herr, Daß es die goldne Zeit verdunkeln sollte. (II,1)

Der Regieassistent von Prospero, Ariel, kommt und spielt eine feierliche Musik, als ob er Gonzalos sinnlose Utopien beglaubigen wollte, aber eigentlich ist es eine Schlafmusik. Alle sind ziemlich müde vom ausgestandenen Unglück, und sie schliefen wohl auch ohne Schlaflied ein. Nur der besonders böse Antonio und der ebenso fiese Sebastian bleiben wach. Antonio bringt ihn auf die grandios blöde Idee, seinen Bruder Alonso zu ermorden. Das ist wie ein Gegenentwurf zu Gonzalos Reich der goldenen Freiheit. Greif zu, der Sohn Ferdinand ist ertrunken, und wenn du Alonso tötest, dann bist du Herr in Neapel. Mach es so wie ich mit Pro-

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spero. Scheinbar gebiert der südliche Himmelsstrich kranke Phantasien. Sebastian lässt sich zunächst zögerlich überzeugen, um dann gegen alle Vernunft loszuschlagen. Sie regeln hier die Thronfolge, wissen aber nicht, wie sie von der Insel wegkommen. Es ist sehr gut, dass der Assistent aufpasst, damit kein Unglück geschieht. Er singt in Gonzalos Ohr und macht ihn und Alonso wach. Da stehen die zwei Finsterlinge mit gezogenem Schwert, fühlen sich ertappt und erfinden schnell eine absurde Geschichte von angreifenden Löwen. Alonso bittet weiter nach seinem Sohn zu suchen, und Ariel klopft sich auf die Schulter, weil er sich durch sein Eingreifen beim Chef empfehlen kann. Im Fortgang der Geschichte trifft Caliban beim Brennholzsammeln auf zwei Schiffbrüchige aus der Bedientenabteilung des Königs, den Spaßmacher Trinculo und den betrunkenen Mundschenk Stephano. Der hat ein paar Flaschen aus dem Untergang gerettet. Da sie sich wechselweise ziemlich kurios finden, veranstalten sie ein hübsches Besäufnis. In betrunkenem Zustand entwickelt Caliban plötzlich eine höchst poetische Sprache und ein aufrührerisches Freiheitspathos. Caliban

Ban, ban, Ca – Caliban Hat zum Herrn einen andern Mann, Schaff einen neuen Diener dir an. Freiheit, heisa! heisa, Freiheit! Freiheit, heisa! Freiheit! (II,2)

Noch einer schleppt Brennholz, der Königssohn Ferdinand. Er will sich seine Prinzessin redlich verdienen, und deshalb schleppt er gerne Holz. Das Mädchen findet das nicht so gut und will für ihn arbeiten. Die Szene steht natürlich unter Beobachtung von Prospero, als wäre sie eine Theaterprobe mit einem Regisseur im dunklen Zuschauerraum. Der reibt sich die Hände, weil es gut läuft. Sie glauben sich unbeobachtet, und er wagt eine Frage. Ferdinand Ich ersuche euch (Hauptsächlich um euch im Gebet zu nennen) Wie heißet ihr? Miranda Miranda. – O mein Vater! Ich hab’ eu’r Wort gebrochen, da ichs sagte.

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Ferdinand Bewunderte Miranda! In der That Der Gipfel der Bewundrung; was die Welt Am höchsten achtet, werth! (III,1)

Der Regisseur und Beobachter im Dunkeln, Prospero, sagt nichts, weil gar nicht klar ist, ob er das je verboten hat. Aber er, beziehungsweise sein Schöpfer Shakespeare ist stolz auf den Namen „Miranda“. Einschlägig wird darauf verwiesen, dass Shakespeare ihn für die Heldin seines Stücks „Der Sturm“ erfunden hat. Das stimmt und doch nicht ganz. Er hat ihn aus dem lateinischen Titel eines berühmten Buches herausdestilliert, das 1590 in Deutsch und Lateinisch von Theodor de Bry in Frankfurt erschien. Es war der erste Band seiner großen, auf acht Bände anwachsenden Amerikareihe. Die lateinische Ausgabe trug den Titel „Admiranda narratio fida tamen, de commodis et incolarum ritibus Virginiae“. Ferdinand Admire’d Miranda! Indeed the top of admiration! worth What’s dearest to the world! (III,1)

Da stand der Name seiner Heldin,2 und auch das eine und andere bildliche Detail für den „Sturm“ entstammt diesem Buch. Obwohl sich Frank Günther in seiner Übersetzung geradezu überschlägt bei der Übersetzung von „Admire’d Miranda“ … Ferdinand Miranda Wunderbar! Bewundert, wahr, Wunder bewundernswert, wert, was die Welt Am höchsten wunderschätzt. (III,1)

…, gibt er sich in seinen Anmerkungen mit der Erklärung „Miranda“ = „die Bewundernswerte“ zufrieden.3 Soweit geht die wahre Geschichte des Namens „Miranda“. Die beiden verlieren sich in Liebesschwüren, und man gewahrt einmal mehr Romeo und Julias erste Begegnung, erkennt plötzlich die Romanzenausgabe der frühen Tragödie: Romeo und Julia redivivus. Wie dort fegt Miranda alle Förmlichkeit hinweg und macht Ferdinand in aller Selbstverständlichkeit einen Heiratsantrag. Miranda Fort, blöde Schlauheit! Führ’ du das Wort mir, schlichte, heil’ge Unschuld! Ich bin eu’r Weib, wenn ihr mich haben wollt,

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Sonst sterb’ ich eure Magd; ihr könnt mirs weigern, Gefährtin euch zu seyn, doch Dienerin Will ich euch seyn: ihr wollet oder nicht. Ferdinand Geliebte, Herrin, und auf immer ich So unterthänig! Miranda Mein Gatte denn? Ferdinand Ja, mit so will’gem Herzen, Als Dienstbarkeit sich je zur Freiheit wandte. Hier habt ihr meine Hand. Miranda Und ihr die meine, Mit meinem Herzen drin; und nun lebt wohl Auf eine halbe Stunde! Ferdinand Tausend, tausendmal! (Beide ab) (III,1)

Ende des Duetts, der Kuss ist für später vorgesehen, Applaus, Verbeugung. Prospero ist zufrieden. Aber er hat bis zum Abendessen noch einiges zu arrangieren und zu inszenieren. Heute muss sein Mittagsschläfchen wohl ausfallen. Das Säufer-Trio bietet wieder eine Gelegenheit zum Lachen. Einerseits, aber andererseits kippt die Szene, weil Alkohol aggressiv macht. Caliban fühlt sich, so lallt er, durch Prospero um seine Insel betrogen und bittet Stephano diesen zu töten. Dann würde er ihn als König der Insel anerkennen. Dieser ordinäre Mordplan hat im Gegensatz zu dem Plan der hochadeligen Verschwörer sogar Zukunft, denn die drei Simpel haben zumindest eine Frau in ihrem Kalkül. Die Tochter von Prospero ist ein schmuckes Mädel und würde für den zukünftigen König eine geordnete Thronfolge gewährleisten. Stephano ist neugierig, ob sie etwas taugt. Caliban Ja, Herr, sie wird wohl anstehn deinem Bett, Das schwör’ ich dir, und wackre Brut dir bringen. (III,2)

Top, der Handel gilt, sagt Stephano, und Trinculo schlägt ein. Caliban In einer halben Stund’ ist er im Schlaf:

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Willst du ihn dann vertilgen? Stephano Ja, auf meine Ehre! (III,2)

Gut dass der Regieassistent unsichtbar über der ganzen Szene wacht; Ariel hat alles gehört und wird es an seinen Chef vermelden. Dann macht er ein wenig Musik, zu der das Trio brav hinterhertrottet. Die Chefetage des Schiffes taucht niedergeschlagen und müde auf. Kein Königssohn weit und breit. Die beiden Schurken Antonio und Sebastian lassen beiseite gesprochen wissen, dass sie ihren Mordplan noch nicht aufgegeben haben. Das Regieteam ist im off zur Stelle – beide also unsichtbar im Dunklen: Prospero oben und Ariel da, wo die Musik spielt. Sie haben in der Requisite ein aufwendiges Arrangement bestellt, das durch ein kleines Team phantastisch kostümierter Statisten aufgebaut wird. (Verschiedne seltsame Gestalten kommen und bringen eine besetzte Tafel. Sie tanzen mit freundlichen Gebärden der Begrüßung um dieselbe herum, und indem sie den König und die übrigen einladen zu essen, verschwinden sie) (III,3)

Erst zögern sie, dann wollen sie, hungrig wie sie sind, zugreifen. Der König gibt das Buffet frei. Alonso

Ich gehe dran und esse, Wär’s auch mein letztes. Mag es! fühl’ ich doch, Das Beste sei vorüber. – Bruder, Herzog, Geht dran und thut wie wir! (III,2)

Plötzlich zeigt sich Ariel unter Theaterdonner und -blitz in Gestalt einer Harpye und lässt das wunderschöne Bankett verschwinden. Die grässliche Gestalt eines großen Raubvogels mit dem Gesicht und den Brüsten einer jungen Frau hat das Regieteam Prospero/ Ariel bzw. Shakespeare bei Vergil entlehnt. Die Theatermacher erzielen große Wirkung, betreiben aber enormen Aufwand, damit Ariel nun die Dreierbande wirkungsvoll zur Rechenschaft ziehen kann. In einer langen Rede wird abgerechnet mit den drei Sündenmänner, die mit allem gerechnet haben auf dieser Insel nur nicht mit einem Strafgericht über Vergehen von vor zwölf Jahren in Mailand. Ja wo sind wir denn hier? Im falschen Film oder in einem schlechten Theaterstück? Sie ziehen ihre Degen, aber wie schon Ferdinand erfahren musste, sie können sie nicht mehr halten.

Miranda • 763

Ariel Zu schwer sind jetzt für eure Kraft die Degen Und lassen sich nicht heben. Doch bedenkt (Denn das ist meine Botschaft), daß ihr drei Den guten Prospero verstießt von Mailand, Der See ihn preisgabt, (die es nun vergolten) Ihn und sein harmlos Kind: für welche Unthat Die Mächte, zögernd, nicht vergessend, jetzt Die See, den Strand, ja alle Kreaturen Empöret gegen euren Frieden. Dich, Alonso, haben sie des Sohns beraubt, Verkünden dir durch mich: ein schleichend Unheil, Viel schlimmer als ein Tod, der Einmal trifft, Soll Schritt vor Schritt auf jedem Weg dir folgen. Um euch zu schirmen vor derselben Grimm, Der sonst in diesem gänzlich öden Eiland Aufs Haupt euch fällt, hilft nichts als Herzensleid, Und reines Leben künftig. (III,3)

Der Abgang Ariels ist wieder von Donner begleitet, und die Statisten tragen, indem sie allerlei Fratzen machen, die Tafel weg. Der Regisseur, gleichzeitig Hauptdarsteller in seinem Stück, lobt neidlos und überschwänglich die gemeinsame Leistung. Prospero (beiseit) Gar trefflich hast du der Harpye Bildung Vollführt, mein Ariel; ein Anstand wars, verschlingend! Von meiner Vorschrift hast du nichts versäumt, Was du zu sagen hattest; und so haben Mit guter Art und seltsamen Gebräuchen Auch meine untern Diener jeglicher Sein Amt gespielt. Mein hoher Zauber wirkt, Und diese meine Feinde sind gebunden In ihrem Wahnsinn; sie sind in meiner Hand. (III,3)

Den Daumen hoch geht er ab, um sich auf die nächste Szene mit Ferdinand und Miranda vorzubereiten. Der Schuldspruch tut seine Wirkung. Ariels dramatisch-theatralische Standpauke scheint ja ein Schicksalsspruch und kein Richterspruch aus Menschenmund. Alonso stürzt wie in Wahnsinn Richtung Wasser, Antonio und Sebastian ihm nach, und der alte Gonzalo schickt den Rest hinterher, um das Schlimmste zu vermeiden. Die nächste Szene spielt wieder vor der Behausung des Zaube-

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rers. Mit Fronarbeit ist Schluss für Ferdinand. Der Vater entschuldigt sich und ist sehr gnädig zu ihm und zu seiner Tochter, die sein ein und alles ist. Prospero Hab ich zu strenge Buß’ euch auferlegt, So macht es die Vergeltung gut: ich gab Euch einen Faden meines eignen Lebens, Ja das, wofür ich lebe; noch einmal Biet’ ich sie deiner Hand. All deine Plage War nur die Prüfung deiner Lieb’, und du Hast deine Probe wunderbar bestanden. Hier vor des Himmels Angesicht bestät’ge Ich dieß mein reich Geschenk. (IV,1)

Aaaaaaaaaaaber…… Prospero Zerreiß’st du ihr den jungfräulichen Gürtel, Bevor der heil’gen Feierlichkeiten jede Nach hehrem Brauch verwaltet werden kann, So wird der Himmel keinen Segensthau Auf dieses Bündnis sprengen: dürrer Haß Scheeläugiger Verdruß und Zwist bestreut Das Bett, das euch vereint, mit eklem Unkraut, Daß ihr es beide haßt. Drum hütet euch, So Hymens Kerz’ euch leuchten soll! (IV,1)

Wer partout nach biographischen Brosamen suchen will, mag diese Stelle als ein Schuldbekenntnis Shakespeares lesen, denn die Voraussetzung seiner Ehe mit Anne Hathaway war eher von dieser verdrießlichen Art. Der künftige Schwiegersohn gibt eine befriedigende Versicherung auf die Keuschheit seiner Braut; mit einer Einsegnung ihrer Ehe ist auf bald in Neapel zu rechnen. Hier vor Ort ist Prosperos Theaterkunst gefordert, und dafür bedarf er wieder seines Regieassistenten. Ariel steht bereit für die Bühnenmusik zu einem Stück im Stück bzw. zum festlichen Hochzeitsspiel auf dem Theater, bei dem jetzt Miranda und Ferdinand die Zuschauer sind. In höfischer Manier führt Ariel mit seiner kleinen Truppe ein Maskenspiel zur Feier des Verlöbnisses auf. Wieder wird an Aufwand nicht gespart. Iris, der personifizierte Regenbogen, die Göttin des Friedens, tritt auf, stellt sich vor und ruft Ceres, die Göttin der Fruchtbarkeit im

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Namen von Juno, der Schützerin der Ehen und der Geburten auf, sich dem Hochzeitspaar zu zeigen. Ceres Warum entbietet deine Herrin mich Auf diesen kurzbegrasten Plan durch dich? Iris Ein Bündniß treuer Liebe hier zu feiern, Und eine Gabe willig beizusteuern Zum Heil des Paares. (IV,1)

Schön, sagt Ceres, und will wissen, ob auch Venus mit ihrem Söhnchen Amor kommt. Auf die ist sie nicht gut zu sprechen seit der Sache mit Pluto. Die Details können Ferdinand und Miranda in Ovids „Metamorphosen“ nachlesen. Nein, sagt Iris in schön gereimten Blankversen – der Reim muss immer dann sein, wenn es feierlich ist –, sie wird nicht kommen. Sie ist wütend abgezogen, weil das Paar geschworen hat, bis zur kirchlichen Trauung vorerst noch keusch zu bleiben. Der Gott der Brautnacht, Hymen, kommt erst nach dem Pfarrer. Es ist wunderbar zu sehen und zu hören, wie wenig sich Realwelt und mythische Überhöhung ins Gehege kommen. Da kommt sie schon, Juno, die oberste Frau des Olymp. Mit leichter Ironie wird sie von Ceres angekündigt. Ceres Da kommt der Juno höchste Majestät: Ich kenne sie, wie stolz einher sie geht. (IV,1)

So stolz, so kurz bittet sie Ceres, das „Paar zu segnen, daß es glücklich sei“. Dann singt sie ein kleines Hochzeitsständchen, dem sich Ceres ebenfalls mit Segenswünschen anschließt. Ferdinand klatscht begeistert und stellt das tolle Stück betreffend eine kurios anmutende Frage an Prospero als dem Fachmann dieses Theaterzaubers. Ferdinand Dieß ist ein majestätisch Schauspiel, und Harmonisch zum Bezaubern. Darf ich diese Für Geister halten? Prospero Geister, die mein Wissen Aus ihren Schranken rief, um vorzustellen, Was mir gefällt. (IV,1)

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Jetzt müsste Prospero ein wenig differenzieren. Geister rief er als Autor des Spiels, als Dichter der Verse, für die Darstellung hat er gute Schauspielerinnen. Der fragende junge Mann ist wie viele seines Alters von dieser Träume realisierenden Kunstwelt begeistert. Prosperos Insel ist die Welt als ein tolles Theater. Ferdinand Hier laßt mich immer leben: So wunderherrlich Vater und Gemahl Macht mir den Ort zum Paradies. (IV,1)

Prospero macht „Pst“ und zeigt an, dass das Spiel nicht weiter gestört sein soll. Iris ruft das Ballett auf die Bühne, das Nymphen und Schnitter zu einem pastoralen Tanz auffordert. Die Tanzeinlage darf dauern, aber sie sollte in einer Aufführung von Shakespeares „Sturm“ kein Selbstzweck sein. Im immanenten Spiel bestimmt natürlich der Schauspieler Prospero die Dauer seiner Inszenierung. Er ist es, der den Zauber auflöst, indem er die Tänzerinnen und Tänzer auffordert, die Vorstellung abzubrechen. Warum? Er hat vergessen, was Ariel ihm von den Anschlagsplänen des Säufertrios vermeldet hat. Das ist jetzt, im Augenblick! Da ist ihm sein Zeitmanagement wohl wegen des fehlenden Mittagsschlafs durcheinander geraten. Das macht ihn so ärgerlich, dass Miranda aus der Schule plaudert. Miranda

Nie bis diesen Tag Sah ich ihn so von heft’gem Zorn bewegt. (IV,1)

Es bleibt gleichwohl erstaunlich, dass Prospero trotz drohendem Mordkomplott frei von aller Hektik anfängt über Welt und Theater, über Spiel und Illusionen, über Spieler und Rollen, über Vergänglichkeit, Schlaf und Tod zu räsonieren. Nicht das Mordkomplott, sondern dieser Moment der Desillusionierung und weltschmerzlichen Bitterkeit bewegt ihn. Das ist nicht Zorn über eine tolpatschiglächerliche Aktion, die scheitern wird, sondern die Einsicht ins Scheitern seines Lebens und seiner Künstlerexistenz. Ein Theatermacher zieht Bilanz. Prospero Das Fest ist jetzt zu Ende; unsre Spieler, Wie ich euch sagte, waren Geister, und Sind aufgelöst in Luft, in dünne Luft. Wie dieses Scheines lockrer Bau, so werden

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Die wolkenhohen Thürme, die Palläste, Die hehren Tempel, selbst der große Ball, Ja, was daran nur Theil hat, untergehn; Und, wie dieß leere Schaugepräng’ erblaßt, Spurlos verschwinden. Wir sind solcher Zeug Wie der zu Träumen, und ‘dieß kleine Leben Umfaßt ein Schlaf. – (IV,1)

Das war in diesem Stück der erste Epilog von einem meisterlichen Illusionisten am offenen Grabe des ästhetischen Scheins. Als ein vorweggenommenes Satyrspiel nach dem Muster des antiken Theaters kommt Ariel und führt die Verschwörer auf des Inselherrschers Leben am Narrenseil herbei. Er hat sie schon wie Puck im „Sommernachtstraum“ durch Disteln, Stechginster und Dornen geführt; dann hat er sie durch die Jauchegrube getrieben, und – Prospero kann sich einer gewissen Schadenfreude nicht erwehren – nun zaubert er ihnen aus dem Kostümfundus des Inseltheaters mit glänzenden Kleidern ihre inskünftige Herrlichkeit vor. Dabei vergessen sie glatt auf ihren Überfall. Ariel verjagt sie mit Jagdhunden, versteht sich mit Geistern in Gestalt von Hunden. Damit ist das Satyrspiel zu Ende. Bühnenzeit ist diesmal ungefähr Realzeit bei Shakespeare, und das Stück geht in die letzte halbe Stunde. Auf dem Probenplan steht der fünfte Akt. Prospero Was macht der König jetzt und sein Gefolg? (V,1)

Sie sind in einem erbärmlichen Zustand, sagt der Assistent vom Nebenpult. Drüben im Lindenhain sitzen sie gefangen und gebannt; sie können sich nicht rühren. Vor allem dem alten Gonzalo laufen die Tränen wie Sturzbäche auf den Bart herunter. Wenn schon Ariel, der Geist aus reiner Luft, Mitleid hat, dann kann er, der aus Fleisch und Blut ist, nicht nachstehen. Prospero Obschon ihr Frevel tief ins Herz mir drang, Doch nehm’ ich gegen meine Wuth Partei Mit meinem edlern Sinn: der Tugend Übung Ist höher als der Rache; da sie reuig sind, Erstreckt sich meines Anschlags ein’ger Zweck Kein Stirnerunzeln weiter: geh, befrei sie. (V,1)

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Hier biegt die Tragödie, die über der Liebe zweier junger Menschen aus verfeindeten Häusern lastet, in ein Romanzenende ein. Dieser Verzicht stand vermutlich nicht in Prosperos Zauberbüchern. Er schwört ihnen ab und schreibt ab jetzt keine Drehbücher mehr mit Geschichten von Rache und Tod. Er schwört seinem dramatisch-theatralischem Zaubern, seiner Künste Macht ab. Ab jetzt kein Zauber, kein Theater mehr, allenfalls Musik als Trösterin und Heilerin. Er zieht ein letztes Mal einen Zauberkreis, in den er seine Gefangenen treten lässt, um sie rückzuverwandeln in verstand- und vernunftbegabte Wesen. Aus Rollen übelster Bösewichterei und Dummheit, aus Königsmördern jenseits von Gewissen und Natur mögen sie befreit sein. Prospero – Ihr Verstand Beginnt zu schwellen, und die nah’nde Flut Wird der Vernunft Gestad in kurzem füllen, Das daliegt, schwarz und schlammig. – Nicht Einer drunter, Der schon mich ansäh’ oder kennte. – Ariel, Hol mir den Hut und Degen aus der Zelle, (Ariel ab) Auf daß ich mich entlarv’ und stelle dar Als Mailand, so wie vormals. – (V,1)

Das Metatheater über Shakespeares Theater geht zu Ende. Er legt seinen Zaubermantel ab, legt seine alten Kleider als Herzog von Mailand an und gibt sich zu erkennen. Ob die Entzauberung, ob die Seelenverwandlung gelingt, ist nicht garantiert. Prospero beginnt bei König Alonso, dessen doppelte Einsicht und Einwilligung er braucht für seine Tochter als Schwiegervater und für seine Wiedereinsetzung als Herzog von Mailand. Prospero

Seht, Herr König, Mailands gekränkten Herzog, Prospero. Und zum Beweis, daß ein lebend’ger Fürst Jetzt mit dir spricht, umarm’ ich deinen Körper, Und heiße dich und dein Gefolge herzlich Willkommen hier. (V,1)

Das ist ein Wort, und für die Wiedereinsetzung ist nicht zu fürchten. Alonso scheint durch das Inselerlebnis, durch Sturm und To-

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desnähe und Wahnsinn, kurz durch Prosperos genialen Theaterzauber geheilt. Alonso Ob du es bist, ob nicht, Ob ein bezaubert Spielwerk, mich zu täuschen, Wie ich noch eben, weiß ich nicht: dein Puls Schlägt wie von Fleisch und Blut; seit ich dich sah, Genas die Seelenangst, womit ein Wahnsinn Mich drückte, wie ich fürchte. Dieß erfodert, Wenns wirklich ist, die seltsamste Geschichte. Dein Herzogthum geb’ ich zurück, und bitte, Vergieb mein Unrecht mir! – Doch wie kann Prospero Am Leben seyn und hier? (V,1)

Aufklärung, wie die erbetene, wird zumeist zurückgestellt, weil die Retrospektive die Perspektive in die Zukunft verzögert. Gonzalo ist beglückt, aber er glaubt bei diesem Theaterzauber noch nicht, dass er in einer eigentlich unglaublichen Wirklichkeit angekommen ist. Mit seinem Bruder Antonio und dem Bruder des Königs Sebastian gelingt die Seelenverwandlung nicht. Sie sehen sich durchschaut in ihrem üblen Mordplan an Alonso und bleiben verstockt. Wie in allen happy ends muss auch hier ein unaufgelöster Rest verbleiben, der der totalen Harmonie einen Schatten verleiht. Antonio ist durch Spruch des Königs kaltgestellt, Sebastian ob seiner Mordpläne zum Leisetreten verdammt. Bleibt das Problem Prosperos von Schwiegervater zu Schwiegervater. Jetzt spielt Prospero wieder Theater. Herzliches Beileid zum Tod deines Sohnes, sagt er, aber auch ich verlor eine Tochter. Das lügt er, aber die Wirkung bei Alonso ist verblüffend. Alonso Eine Tochter? O Himmel! wären sie doch beid’ in Napel Am Leben, König dort und Königin! Wenn sie’s nur wären, wünscht’ ich selbst versenkt In jenes schlamm’ge Bett zu seyn, wo jetzt Mein Sohn liegt. Wann verlort ihr eure Tochter? (V,1)

Prospero hat gehört, was er hören wollte. Das war ein Versprechen auf Heirat, und die Zukunft ist gesichert. Jetzt kann er in die Retrospektive gehen, kurz und bündig, aber doch so ausführlich, dass Alonso versteht, was Sache ist. Kurz und gut:

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Prospero Weil ihr mein Herzogthum mir wiedergebt, Will ichs mit eben so was Gutem lohnen, Ein Wunder mind’stens aufthun, daß euch freue So sehr als mich mein Herzogthum. (V,1)

Prospero kann es nicht lassen. Wieder spielt er Theater. Er öffnet seine Zelle, seine Klause – vermutlich zieht er einen Vorhang beiseite –, und man sieht Ferdinand und Miranda, die Schach zusammen spielen. Die Spielenden sind sich nicht bewusst, dass sie auf offener Bühne agieren. Erst als sich Alonso aus dem Zuschauerraum mit einem Kommentar in ihr Spiel einmischt, wird die Illusion durchbrochen. Alonso Wenn dieß nichts weiter ist als ein Gesicht Der Insel, werd’ ich Einen theuren Sohn Zweimal verlieren. (V,1)

Das theatralische „Gesicht“ („vision“), die Illusion, die Täuschung der Miniszene löst sich auf in Wirklichkeit. Ferdinand fällt aus der Rolle und kniet vor Alonso. Des Theatermagiers Spiele sind grandios, aber die Wunder der Wirklichkeit, die sie überholt, sind beglückender. Alonso Nun, aller Seegen Des frohen Vaters fasse rings dich ein! Steh auf und sag, wie kamst du her? (V,1)

Der König frägt zum wiederholten Male nach der Vorgeschichte des Dramas, und wieder erhält er keine Antwort, denn jetzt ist es an Miranda, sich zu wundern. Jetzt glaubt sie sich plötzlich einer schönen Illusion ausgesetzt. Miranda O Wunder! Was giebts für herrliche Geschöpfe hier! Wie schön der Mensch ist! Wackre neue Welt, Die solche Bürger trägt! (V,1)

Mirandas entzückter Ausruf „O brave new world“ wurde sprichwörtlich durch den Titel den Aldous Huxley 1932 seinem dystopischen Roman „Brave New World“ gab. Er kommentiert in Romanlänge Prosperos pessimistische Kurzeinschätzung von Mirandas naiver Begeisterung über eine Welt und ein Publikum aus einer Reihe von höfisch-eleganten Schurken.

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Prospero

Es [sie] ist dir neu. (V,1)

Ferdinands Vater ist begeistert über die „Göttin“, die sich sein Sohn gefunden und erwählt hat. Der gibt ihm endlich befriedigende Auskunft. Ferdinand Sie ist die Tochter dieses großen Herzogs Von Mailand, dessen Ruhm ich oft gehört, Doch nie zuvor ihn sah; von ihm empfing ich Ein zweites Leben, und zum zweiten Vater Macht ihn dieß Fräulein mir. Alonso Ich bin der ihre; Doch o, wie seltsam klingts, daß ich mein Kind Muß um Verzeihung bitten! (V,1)

Dass Alonso seine Schwiegervaterschaft für Miranda bestätigt, ist Prospero hochwillkommen; weitere Erinnerungen an seine Vergehen soll er eher ruhen lassen. Sie könnten allenfalls schmerzlich sein. Gonzalo ist sehr gerührt, gibt für alle, die es noch nicht verstanden haben, eine ganz kurze Zusammenfassung, wie die Irrwege ins Heil führen, und Alonso spricht die Segenswünsche für das neue Königspaar. Alonso (zu Ferdinand und Miranda) Gebt Die Hände mir! Umfasse Gram und Leid Stets dessen Herz, der euch nicht Freude wünscht! Gonzalo So sei es, Amen! (V,1)

Damit ist die Komödie im Drama des berühmten Theatermachers, in dem er selbst die Hauptrolle spielt, im glücklichen Ende angekommen. Er selber hat ja seinen Zaubermantel schon abgelegt und sich auf sein aristokratisches Altenteil zurückgezogen. Bevor es morgen heimgeht, bleiben hier auf seiner Zauberinsel noch einige Hinterlassenschaften aus seiner zwölfjährigen Intendanz zu regeln. Ariel hat sich schon um die Schiffsmannschaft bemüht und sie aus ihrem Totenschlaf erweckt und hergeführt. Je mehr der Traum wieder weicht und Wirklichkeit wird, um so mehr Wunder sieht Alonso am Werk.

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Alonso All dieß geht nicht natürlich zu: von Wundern Zu Wundern steigt es. – Sagt, wie kamt ihr her? (V,1)

Der Bootsmann hat auch keine rechte Erklärung für das ganze Zauberwesen um ihn herum. Aber das Schiff ist in gutem Zustand, und wir sind abreisebereit. Bei Alonso ist des Grübelns kein Ende, und wieder verspricht Prospero Aufklärung. Heute Abend … Prospero Will ich euch Stück für Stück Erklärung geben, Die euch gegründet dünken soll, von jedem Ereigniß, das geschehn: so lang’ seid fröhlich Und denket gut von Allem! – (V,1)

Bleibt noch das lustige Mordtrio aus seinem Bann zu lösen. Nach einigen Blödeleien kommen die zwei spaßhaften Burschen zurück in die Schiffsmannschaft des Königs, während Caliban zum Hausputz bei Prospero geschickt wird. Vorher gebt ihr aber noch eure Kleider vom Trödel ab. Legt sie dort hin, wo ihr sie gestohlen habt, sagt Sebastian, und verabschiedet sich aus dem rahmenden Drama, das ebenfalls ein gutes Ende gefunden hat. Prospero lädt die Königlichen zur Übernachtung in seine bescheidene Behausung ein; es wird eng werden und anspruchslos, aber dafür verspricht er … Prospero

… die Geschichte meines Lebens Und die besondern Fälle, so geschehn, Seit ich hieher kam; und am Morgen früh Führ’ ich euch hin zum Schiff und so nach Napel. Dort hab’ ich Hoffnung, die Vermählungsfeier Von diesen Herzgeliebten anzusehn. Dann zieh’ ich in mein Mailand, wo mein dritter Gedanke soll das Grab seyn. (V,1)

Den unsichtbar dienstbaren Assistenten Ariel, der ihn gestupst hat – ein Lufthauch war zu spüren –, gibt er seine Freiheit zurück und bittet zu Tisch. Das Essen wird ohne Zauberei eher frugal sein, vielleicht findet der Mundschenk Stephano auf dem Schiff noch ein paar Flaschen Wein. Ferdinand und Miranda müssen sicherlich getrennt schlafen. Bis zur Vermählungsfeier ist noch Keuschheit angesagt.

Miranda • 773

*** Zwischen Wirklichkeit und Prosperos Schein zu unterscheiden, war für die Protagonisten von Shakespeares Theaterstück nicht immer ganz einfach. Der Sturm Prosperos war eine sehr scheinhafte Veranstaltung; trotzdem fällt es den Beteiligten schwer zu glauben, dass es Theater war, Theater in der Doppelkomödie „Der Sturm“ (die Geschichte von Prospero und die von Ferdinand und Miranda) von William Shakespeare. Sie beginnt mit einem Sturm, der fürs Publikum wie für die Protagonisten faktisch nicht als ein Theatersturm erkennbar ist. Dieser Shakespeare macht sich in seinem angeblich letzten Stück den Spaß, eine verwirrende metatheatralische Diskussion zu eröffnen über die Seinsweise der Welt auf einem Theater, das sich als Welttheater definiert und das sich ermächtigt fühlt, mit seinen dramatisch-theatralischen Mitteln Welt nachzuahmen, abzubilden, darzustellen. Die beiden Hauptprotagonisten, der Zauberer von Scheinwirklichkeiten und sein Regieassistent, der quirlige Ariel, inszenieren aber unablässig Wirklichkeit, machen Theater, arrangieren ein Lustspiel und drumherum eine Gerichtsund Bestrafungskomödie, in der sie natürlich selbst als Rollen vorkommen. Ihnen ist ihr gespaltenes Bewusstsein durchaus selbst bewusst, und ihr Schöpfer genießt es, uns Zuschauer mit seinen Figuren in einem Dauerkonflikt zu halten. In welcher Realität befinden wir uns? Ist das Stück eine Geschichte gemäß einer bestimmten nachgeahmten Wirklichkeit oder ist es eine Diskussion über die Bedingungen dieser theatralischen Wirklichkeit. Weil dem so ist, ist auch der Epilog eine doppelgesichtige Angelegenheit. Ein Epilog, wie natürlich auch ein Prolog, hat ja nicht nur die Funktion, uns mit der Geschichte vertraut zu machen bzw. die Moral von der Geschichte mit nach Hause zu geben, sondern beide sind stets auch Metazeichen dafür, dass hier Theater stattfindet. Insofern hat auch „Der Sturm“ einen Epilog, mit dem, wie viele glauben, der Meister selbst seinen Abschied von der Bühne nimmt. Wir sollten das nicht zu biographisch lesen, denn der Autor reflektiert im Glasperlenspiel von Sein und Schein ganz allgemein über die Grenzen von Wirklichkeit und Theater. Der Epilog ist so gesehen jenseits sentimental-biographischer Reminiszenzen eine konsequente Verlängerung des Stücks, das eine Doppelkomödie ist, die insofern keine Komödie ist, weil sie ein Diskussionsstück über die Bedingungen

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von Shakespeares Theater als Theaterstück ist. Der „Sturm“ ist eine „Komödie und auch keine“, weil er Theater als Stoff und Thema des Theaters „abhandelt“.4 Er ist eine selbstbezügliche Theoriediskussion als Doppelkomödie und lange vor Pirandello „Pirandellismo“ avant la lettre. Im Alter oder als Zwischenbilanz werden solche Glasperlenspiele besonders gerne gespielt, in denen die Einrichtung einer idealen Ordnung der Welt gleichgesetzt wird mit der Verfertigung eines gelungenen Theaterstücks, das in einer glanzvollen Inszenierung zeigt, wie es zustande kommt. Über das Gelingen entscheiden wie immer die Damen und Herren im Zuschauerraum. Epilog, von Prospero gesprochen. Hin sind meine Zauberei’n, Was von Kraft mir bleibt, ist mein, Und das ist wenig: nun ists wahr, Ich muß hier bleiben immerdar, Wenn ihr mich nicht nach Napel schickt. Da ich mein Herzogthum entrückt Aus des Betrügers Hand, dem ich Verziehen, so verdammet mich Nicht durch einen harten Spruch Zu dieses öden Eilands Fluch. Macht mich aus des Bannes Schooß Durch eure will’gen Hände los. Füllt milder Hauch aus euerm Mund Mein Segel nicht, so geht zu Grund Mein Plan; er ging auf eure Gunst. Zum Zaubern fehlt mir jetzt die Kunst: Kein Geist, der mein Gebot erkennt; Verzweiflung ist mein Lebensend, Wenn nicht Gebet mir Hülfe bringt, Welches so zum Himmel dringt, Daß es Gewalt der Gnade thut Und macht jedweden Fehltritt gut. Wo ihr begnadigt wünscht zu seyn, Laßt eure Nachsicht mich befrein. deutsche Übersetzung: August Wilhelm von Schlegel

Miranda • 775 1) Günter Jürgensmeier, S. 723 2) Günter Jürgensmeier, S. 705 und 722, bzw. Theodor de Bry, S. 52 3) Frank Günther, Bd.7, S. 202 4) Kiermeier-Debre, Joseph: Eine Komödie und auch keine. Theater als Stoff und Thema des Theaters. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1989, 338 S.

zu Der Sturm, Akt 1, Szene 2

Nachklang

Anna Boleyn • 777

Anna Boleyn

König Heinrich VIII. (1613) 1501 bzw. 1507 bis 19. Mai 1536 in London (enthauptet)

designed by John Bostock and engraved by G. Stodart

778 • Anna Boleyn

Anna Boleyn • 779

So nahe kam Shakespeare in keinem seiner Historienstücke seiner eigenen Gegenwart wie in „König Heinrich VIII.“ Da treten auf den Schauplatz: Anna Boleyn und Heinrich VIII. Es sind die Eltern der nachmaligen Königin Elisabeth I., und ihrer beider Geschichte müsste für Elisabeth traumatisch gewesen sein. Immerhin lässt ihr Vater ihre Mutter drei Jahre nach ihrer Geburt köpfen. Aber das bekommen wir nicht mehr zu sehen. So weit reicht der zeitliche Bogen des Stücks nicht. Die lockere Szenenfolge kennt zwar tragische Ereignisse, aber sie kulminiert in der Feststimmung der Schlussszene anlässlich der Taufe von Elisabeth. Da ist die neue Königin Anne Boleyn zwar nicht auf der Szene, sondern im Kindbett, aber alle Gäste sind an ihr Bett geladen: König Kommt, ihr Herrn, Ihr müßt die Königin noch Alle sehn: Euch Alle muß sie ihres Danks versichern, Sonst wird sie nicht genesen. (V,4)

Der vierte Akt zeigt uns in der ersten Szene dann die hochgelobte und gepriesene Frau wenigstens in der Ordnung des Krönungszuges. Sie ist das stumme, aber begeisternde Zentrum der verschwenderischen Show. Der Ablauf ist vom Autor genau festgelegt. Als Punkt 8 der Ordnung des Krönungszuges notiert die Regieanweisung: Der Thronhimmel, von vieren der Barone von den fünf Häfen getragen: unter demselben die K ö n i g i n im Krönungsgewande. Sie ist in bloßen Haaren, reich mit Perlen geschmückt, und gekrönt. Zu ihren Seiten die Bischöfe von London und Winchester. (IV,1)

Im Publikum auf der Straße nach Westminster sind zwei Edelleute, die den Zug für das Publikum im Theatersaal begeistert kommentieren: Zweiter (indem er die Königin erblickt) Gott sei mit dir!

780 • Anna Boleyn

Solch süß Gesicht als deins erblickt ich nie! Bei meinem Leben, Herr, sie ist ein Engel! Der König hält ganz Indien in den Armen, Und viel, viel mehr, wenn er die Frau umfängt; Ich tadle sein Gewissen nicht. (IV,1)

Was soll man da auch sagen: Der König nimmt eine weitaus jüngere und schönere Frau. Das ist bei Königs nicht anders als beim gemeinen Volk heute. Anne ist etwa 22 Jahre jünger als die aufs Altenteil verwiesene erste Frau aus Spanien, die Heinrich von seinem verstorbenen Bruder übernommen hatte. Und sie ist auch ein ganzes Stück jünger als der langsam Fett ansetzende König, der mittlerweile 42 wird. Was das Publikum im Stück nicht, das Publikum im Saal schon weiß, ist, dass Anne Boleyn mit Elisabeth schwanger ist. So ist das eben bei Hochzeiten, damals und auch heute oft. Selbst Shakespeares Hochzeit war da keine Ausnahme. Allerdings wurden und werden Hochzeiten nur ganz selten auch von Krönungsfeierlichkeiten flankiert. Diese Feierlichkeiten, so vermeldet ein dritter Edelmann, waren „wohl werth, gesehn zu werden.“ – „O erzählt uns“, bittet der Zweite. Und unser Adelsexperte schnurrt nun für das begierige Publikum beidseits der Rampe herunter, wie die Zeremonie vor den Lords und Edelfrauen abgelaufen ist. Einfach mega geil. Er kann sich gar nicht fassen und bestätigt, was der zweite Edelmann schon festgestellt hatte: Dritter Glaubt mir, sie ist das herrlichste Geschöpf, Die je an Mannes Seite lag. (IV,1)

Sein Redeschwall ist nicht zu stoppen. Er wird sogar noch weiter befördert durch den zweiten Höfling, der es noch genauer wissen will: „Nun, weiter?“ Dritter Dann trat sie vor, und ging, bescheidnen Schritts, Zum Altar, kniet’ und hub gleich einer Heil’gen Den schönen Blick empor, andächtig betend; Erhob sich dann und neigte dem Volk, Weil ihr der Erzbischof von Canterbury Die königlichen Zeichen all ertheilte, Das heil’ge Öl, die Krone König Eduards, Den Stab, die Friedenstaub’, und allen KrönungsOrnat: worauf in Einklang hoch vom Chor,

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Von den gewähltsten Stimmen unsers Landes Der Lobgesang erscholl. Drauf wandte sich Der Zug im vollen, ernsten Prunk zurück Nach York-Pallast, wo Tafel wird gehalten. (IV,1)

Das Gespräch kommt nun ab von der Zeremonie und verliert sich in politische Spekulationen den Erzbischof Cranmer betreffend. Wenn Anne Boleyn in den beiden bisher betrachteten Szenen nur stumme Schönheit oder unsichtbares Zentrum war, so bekommt die Frau in der vierten Szene des ersten Akts sogar ein paar Worte in den Mund gelegt. Kardinal Wolsey ist noch in der Gunst des Königs und hat zu einem Fest in seinen Palast geladen. Unter den auserwählten „schönen Kindern“ – die Herren machen einige indiskrete Anspielungen – befindet sich auch Anne Boleyn, die Hofdame Katharinas von Aragón, der Gemahlin Heinrichs VIII. Sie wird es nicht mehr lange sein. Der Kardinal begrüßt seine Gäste, und Anne darf ein paar kokette Sätze mit Lord Sands, einem engen Gefolgsmann des Königs, wechseln. Und schon kommt Heinrich selbst, allerdings ist er mit seinen Begleitern als Schäfer verkleidet. Sie wünschen die Damen des Festes zu sehen, um sie für ein Stündchen zu unterhalten. Schon ist man bei der Sache. Alle wählen sich Damen zum Tanz. Der König tanzt mit Anna Bullen. (I,4)

Anne Boleyn wird auch unter diesem Namen in der Historie geführt. Der nicht ganz vorteilhafte Name „Bullen“ lässt den Kardinal Wolsey über die seiner Meinung nach „tücksche Luthranerin“ (III,2) abfällig witzeln: Wolsey Anna Bullen! – Nein, die will ich nicht für ihn! – Ein schön Gesicht reicht hier nicht hin – Wie! Bullen? Wir wollen keine Bullen! – (III,2)

Noch ist es nicht so weit, aber auf der Party wirft der König, kaum dass er Annes Hand ergriffen hat, mit Superlativen um sich, die in eine – nehmt alles nur in allem – verhängnisvolle Zukunft führen, die wir allerdings auf diesem Schauplatz nie sehen werden. König Die schönste Hand, die ich berührt! O Schönheit, Dich ahnt’ ich bis heut’ noch nie! – (I,4)

782 • Anna Boleyn

Shakespeare scheint ein wenig bei „Romeo und Julia“ abgekupfert zu haben. Jetzt geht es Schlag auf Schlag. Durch eine kleine List enttarnt der Kardinal den König, der nun ungeniert nach seiner Tänzerin fragt: König

O Mylord Kämm’rer, Bitt’ euch, kommt her. Wer ist das schöne Fräulein? Lord-Kämmerer. Erlaubt, mein Fürst, Sir Thomas Bullens Tochter, Des Vicomte Rochford, von der Kön’gin Damen.

König Bei Gott! ein lieblich Kind. – Mein süßes Herz, (zu Anna Bullen) Unziemlich wär’s, zum Tanz euch aufzufordern Und nicht zu küssen. Stoßet an, ihr Herr’n, Bringt die Gesundheit rund. (I,4)

Man bittet zu Tische und kündigt noch eine spätere Tanzrunde an. Fazit: Schnell gefreit, bald bereut. Im Stück geht es wie im Zeitraffer. Schon im zweiten Akt wird von einem „heimlichen Munkeln über nahe Scheidung“ gemunkelt (II,1). Und zwei Szenen weiter wird Anne mit einer Hofdame in ein für sie intrikates Gespräch verwickelt (II,3). Sie scheint von den Munkeleien schon viel gehört zu haben. Die alte Dame sagt Anne auf den Kopf zu, dass Königin zu sein keine schlechte Bestimmung für sie wäre. Anne windet sich in dauernden Zurückweisungen solcher Anspielungen und Verdächtigungen. Anne

Auf Treu’ und Unschuld, Ich möchte keine Kön’gin seyn! (II,3)

Die Hofdame davon zu überzeugen, dass da nichts im Busch versteckt sei, gelingt Anne noch schlechter, als der Lord-Kämmerer mit der an sich erfreulichen Nachricht hereinplatzt, dass des Königs Gnade sie mit der Ehre einer Markgräfin von Pembroke schmücken wolle. Ferner, so der Lord-Kämmerer Fügt er zu solchem Titel tausend Pfund Als Jahrgehalt hinzu. (II,3)

Anne windet sich vor Verlegenheit bei dieser Nachricht, die Wasser auf die Mühlen der alten Hofdame ist.

Anna Boleyn • 783

Nur der historisch sehr gebildete Zuschauer – schwierig sowohl damals wie auch heute – vermag bei diesem Tempo der Entwicklung richtige Zeitspannen abzuschätzen. Wir wissen heute, dass spätestens seit Ende 1526 Heinrich VIII. in Anne Boleyn verliebt war. Aus dieser Zeit um 1527 und 1528 sind 17 Liebesbriefe des Königs an sie erhalten geblieben. Daraus würde sich ein heutiger Autor natürlich voll bedienen. Aber für Shakespeare waren die Archive noch geschlossen. Zum Trost, die Briefe sind eher steif und in höfischer Manier gehalten. Der König drängte Anne Boleyn in die Rolle einer Mätresse; sie wies diese Rolle entschieden zurück, und die eben erinnerte Szene mag in etwa daran gemahnen, dass das, was auf dem Theater in schnellen Bildern vorüberfliegt, sich in der Wirklichkeit etwas länger hingezogen hat. Überliefert ist die Ernennung zum „Marquess of Pembroke“ für den 1. September 1532, und mithin haben wir von Ende Akt I bis zur Mitte von Akt II fast sechs Jahre hinter uns gebracht, ohne dass uns der Autor die mindeste Andeutung von der verflognen immanenten Zeit der Handlung gegeben hätte. Das tat er auch nicht für die Eingangsszenen, die historisch kurz vor dem 17. Mai 1521 liegen. An diesem Tag wurde der Herzog von Buckingham durch Enthauptung hingerichtet. Wir haben also schon elf Jahre historische Zeit in knappen zwei Akten hinter uns gebracht. Zeit, diese Lehre sollte man berücksichtigen, spielt keine Rolle, zumindest nicht auf dem Theater Shakespeares. Weit auseinanderliegende Geschehnisse zieht der Dichter locker zusammen. Bleibt, was die Restzeit des Stückes betrifft, uns nur noch ein Jahr Zeit, denn von der Ernennung Anne Boleyns bis zum Stückende zieht gerade noch ein Jahr an uns vorüber. Das wissen wir mit Gewissheit. Deshalb darf die alte Hofdame, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen gegenüber der errötenden Anna – wir erlauben uns sie erröten zu lassen –, mit spitzer Zunge bemerken: Hofdame Der Ehre Schlepp’ Ist länger als ihr Vorderkleid. (II,3)

In der Tat, spätestens 3 Monate nach dieser Ernennung war Anne Boleyn an Weihnachten 1532 von Heinrich VIII. schwanger; geheiratet wurde heimlich schon am 25. Januar 1533 in einer stillen Zeremonie in einer Kapelle. Jetzt musste der König nur noch das Problem der Bigamie erledigen (s. Katharina von Aragon), damit das

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letzte Stück Shakespeares mit der Geburt von Elisabeth Tudor am 7. September 1533 und der baldigen Tauffeier zu Ende gehen kann. Das hört sich alles reichlich konfliktlos an und ist es auch tatsächlich, obwohl sich dahinter eine todtraurige Geschichte verbirgt, die Shakespeare vermutlich in Zusammenarbeit mit John Fletcher (1579-1625) ideologisch so zur Verherrlichung der Tudors umgebogen hat, dass selbst Elisabeth, hätte sie das Stück noch sehen können, es als peinlich-zynische Propaganda für ihr goldenes Zeitalter erachtet hätte. Es nennt keinen Preis für ihren Eintritt in die Geschichte, und Shakespeare war deshalb klug genug, dieses Werk erst nach dem Tode der Königin in Angriff zu nehmen und auf die Bühne zu bringen. Es entstand zwischen 1612 und 1613, und eine erste Aufführung scheint es um den 29. Juni 1613 gegeben zu haben. Dem scheinbaren happy end mit einer weiblichen Thronfolgerin geht eine Geschichte mit Heinrich dem VIII. voraus, die das zeitgenössische Publikum um 1613 anders in Erinnerung hatte. Es wusste um Heinrich VIII., als Ritter Blaubart (mit sechs Frauen, davon 2 hingerichtet), es wusste von Anna Boleyn (hingerichtet am 19. Mai 1536 in London), auch von Katharina, der rechtmäßigen Königin (sie lebte von 1533 bis zu ihrem Tod 1536 praktisch in Haft) und dem Erzbischof von Canterbury Cranmer, der im Nachgang von Maria der Katholischen (Bloody Mary) 1556 auf den Scheiterhaufen geschickt wurde. Das alles war noch nicht vergessen, sondern in guter Erinnerung. Das Publikum wusste, dass der selbstironisch zu verstehende ursprüngliche Titel der „Famous History“ etwas anders lautete: „All is true“. Er trifft das Stück weit besser, weil es unter diesem Titel die Historien mit einem Epilog beschließt, der die üppigen Szenerien augenzwinkernd als das benennt, was sie sind: beschönigende Show und Ausstattung über eine ziemlich skandalöse Geschichte im Hintergrund. Selbst zu den Krönungsfeierlichkeiten von Queen Elisabeth II. inszenierte Tyrone Guthrie 1953 „Heinrich VIII.“ im Old Vic in festlicher Ausstattung.1 Aufmarsch und Zeremonie – erstmals wurde eine Krönung im Fernsehen übertragen – ließ deutlich werden, wie nahe 1533 und 1953 beieinander lagen. Zeit spielt in diesem Welttheater keine Rolle. Wie sich die Bilder gleichen! deutsche Übersetzung: Wolf Graf Baudissin 1) Ina Schabert, S. 435

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Königin Katharina

König Heinrich VIII. (1613)

Katharina von Aragon 16. Dezember 1485 bis 7. Januar 1536

designed by J. Herbert and engraved by B. Holl

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Wie eine Jammergestalt sieht Katharina von Aragon, die Königin von England, die erste Gemahlin von Heinrich VIII. in unserer Portraitgalerie nicht aus. Die erste Szene des dritten Akts, den das Bild erinnert, macht aber sogleich deutlich, dass dem großen Zeremoniell, dem prunkvollen Historienstück mit Anna Boleyn ansatzweise auch ein Drama innewohnt. Es tritt aber sehr leise auf. Königin Nimm deine Laute, Kind, mich trübt der Kummer; Zerstreu’ ihn, wenn du kannst, laß deine Arbeit. (III,1)

Das nachfolgende Lied, das den mythischen Sänger Orpheus beim die Stürme besänftigenden Singen besingt, ist nicht wirklich geeignet Trübsal und Kummer zu vertreiben. Zwar räumt seine Schlussstrophe ein: Alle Wesen, so ihn hörten, Wogen selbst, die sturmempörten, Neigten still ihr Haupt herab. Solche Macht ward süßen Tönen; Herzensweh und tödtlich Sehnen Wiegten sie in Schlaf und Grab. (III,1)

Mitnichten werden Herzensweh und tödlich Sehnen der Königin vertrieben, denn schon die Ankündigung eines Besuchs der beiden Kardinäle Wolsey und Campejus lässt die Pulse der „gunstverstoßnen Frau“ entschieden höher schlagen. Und als sie da sind, weigert sie sich, sie in ihrem Kabinett zu hören. Die Wahrheit kann jeder hören, und in Latein soll sie auch nicht formuliert sein, sondern in gut Englisch, obwohl ja Spanisch ihre Muttersprache ist. Ihr „Fall“ sei klar und der himmlische Richter unbestechlich. Sie sieht sich verstoßen vom König durch die verleumderischen Anschuldigungen der skrupellosen Kardinäle oder vice versa, der König rät, was die beiden wünschen: Verderben! Sie weiß auf ihr Gewissen, dass sie unter lauter zweifelhaften Gestalten eine reine Lichtfigur ist. Und auch das Drama lässt daran keinen Zweifel und gibt ihr volles Rederecht. So lang sie lebe, sei sie ein treues Weib gewesen und, so die

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Königin Ein Weib – (ich darf ’s betheuern ohne Ruhmsucht) Zu keiner Zeit erreichbar dem Verdacht, Begegnet’ ich mit ganzer, voller Neigung Dem König stets, liebt’ ihn nächst Gott, gehorcht’ ihm, War ich aus Zärtlichkeit ihm abergläubisch, Vergaß ich meiner Andacht fast um ihn, Und werd’ ich so belohnt? O das ist hart! Zeigt mir ein Weib, das, ihrem Ehherrn treu Nie eine Freude träumte als sein Wohlsein; Und wenn sie Alles tat, so hab’ ich doch Noch einen Kranz voraus – große Geduld! – (III,1)

Und jedem Einwand des Kardinals zuvorkommend, verlautbart sie entschieden: Mylord, ich lade nie die Schuld auf mich, Dem edlen Rang freiwillig zu entsagen, Dem euer Herr mich hat vermählt: nur Tod Soll von dem Thron mich scheiden. (III,1)

Dies ist ihre klare Ansage in dem aufsehenerregenden Prozess, in dem sich Heinrich VIII. von seiner Frau, Katharina von Aragon, scheiden lassen will. Der Fall, ihr Fall, in des Wortes doppelter Bedeutung, ist verzwickt, ist pure Kasuistik und Rabulistik und Camouflage der sexuellen Wünsche des Königs durch angebliche dynastische Sorgen um die Thronfolge. Er deutet sich schon unmittelbar nach dem „Fall“ des Herzogs von Buckingham an, wo das Gerücht von Scheidung gestreut wird und der Schuldige schon klar benannt wird: Kardinal Wolsey. (II,1) Für solche Szenen sind Straßen und Vorzimmer gute Bühnenorte. Da kann der Dichter die unterschiedlichsten Leute leicht in Gespräche verwickeln, und wie nebenbei werden in Spitzzüngigkeiten Grundsatzfragen angedeutet, die der zeitgenössische Theaterbesucher sehr wohl verstand, die aber heute erläutert werden müssen. Der Lord-Kämmerer deutet an, dass er den König soeben „einsam, voll Bekümmernis und Gram“ verlassen habe. Auf Nachfrage nach der Ursache seiner Sorgen, meint er: Lord-Kämmerer Es scheint, die Eh’ mit seines Bruders Weib Kam dem Gewissen allzu nah. (II,2)

Da meint der Herzog von Suffolk süffisant:

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Suffolk Nein, sein Gewissen Kam einer andern Frau zu nah. (II,2)

„So ists“, bestätigt der Herzog von Norfolk, und er bestätigt wiederum, dass es der Priester, der blinde Pfaff, der König-Priester, der Kardinal ist, der alles verdreht. Da kann man nur hoffen, dass der König seine Ränke bald einmal durchschaut. Dass eine Frau im Spiel ist, die dem König und seinem Gewissen zu nahe kam, hat uns die Tanzszene mit Anna Boleyn (siehe Anne Boleyn) schon im vorhergehenden Kapitel gezeigt. Die Anspielung auf „seines Bruders Weib“ aber ist erklärungsbedürftig. Katharina war nämlich, bevor sie Heinrichs Frau wurde, verheiratet mit seinem erstgeborenen Bruder Prinz Arthur. Der starb zwar 1502 überraschend mit nur 15 Jahren, aber man wollte sich die interessante Partie nicht entgehen lassen. Sein Bruder Heinrich übernahm die Witwe, aber dafür brauchte es eine Erlaubnis aus Rom, weil Moses 3, Kap. 20, Vers 21 sagt: „Wenn jemand die Frau seines Bruders nimmt, so ist das eine abscheuliche Tat. Sie sollen ohne Kinder sein, denn er hat damit seinen Bruder geschändet.“

Da war ein päpstlicher Dispens notwendig, und unter der Voraussetzung, dass die Ehe noch nicht vollzogen war, war man mit der neuen Eheschließung einverstanden. Die Diskussion, ob Vollzug der Ehe zwischen den jugendlichen Eheleuten gegeben war oder nicht, wurde ziemlich indiskret geführt. Die neue Eheschließung wurde bis zur Volljährigkeit von Heinrich vertagt und fand 1509 kurz nach der Thronbesteigung statt. Jetzt, nach etwa zwei Jahrzehnten Ehe, in denen Katharina als Mutter versagt hatte und keinen männlichen Thronfolger erbracht hatte, und jetzt, da der König, wie alle Welt sehen konnte, ins Fahrwasser einer neuen, jungen Frau geriet, bemühte er seinerseits die alte Bibelstelle, sein Gewissen, die Frage der Thronfolge und seine sexuellen Wünsche und begründete umgekehrt wie bei der Eheschließung die Scheidung von Katharina von Aragon. Ihrer beider Ehe sei auf diesem Hintergrund nie rechtmäßig gewesen, so die Begründung. Was damals recht schien, war plötzlich nicht mehr wahr, sondern das Gegenteil. Das alles war dem Hof geläufig und gegenwärtig, und der Kardinal Wolsey machte sich die Situation zu Nutze und streute im Herz des Königs, so Norfolk …

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Norfolk Gefahr und Zweifel und Gewissensangst, Vorwurf und Furcht, bloß dieser Ehe wegen. Und nun, mit Eins den König zu erwecken, Räth er zur Scheidung, räth sie zu verstoßen, Die zwanzig Jahr an seinem Halse hing, Wie ein Juwel, doch nie den Glanz getrübt, Sie, die mit jener Zärtlichkeit ihn liebt, Mit der die Engel gute Menschen lieben, Ja, sie, die bei des Glückes härtsten Streichen Den König segnen wird! (II,2)

Das ist nicht fromm, und eigennützig ist es auch, und man kann nur hoffen, dass dem König – der wird von allem Makel freigesprochen – bald die Augen aufgehen über diesen falschen Ratgeber. Das Schicksal will es anders. Die anberaumte pompöse TribunalSzene in Blackfriars, dem Kloster der Schwarzen Mönche, unter dem Vorsitz des aus Rom abgesandten Kardinals Campejus und von Kardinal Wolsey läuft sich fest. Katharina verweigert sich dem Tribunal und wendet sich auf Knien direkt an den König. Sie stellt klar, dass ihre Ehe mit Heinrich damals als gültig anerkannt worden war und dass sie den Kardinal Wolsey als ihren Richter in dieser Sache zurückweise, weil er ihr Feind sei: Königin Als meinen Richter hass’ ich euch durchaus; Euch widersteht mein tiefstes Herz; ich halt’ euch Für meinen bösen Geist und hab’ euch nie Der Wahrheit treu geglaubt. (II,4)

Da ist der Gottesmann doch einigermaßen überrascht, und noch einmal betont die Königin: Königin. Ich will euch nicht zum Richter; vor euch Allen Beruf ich mich in dieser ganzen Sache Auf seine Heiligkeit den Papst; er soll Mein Urtheil fällen! (II,4)

Dann verneigt sie sich und geht mit ihrem Gefolge ab. In einer langen Suada darf nun der König seine Zweifel und Skrupel ausbreiten, dass ihm Katharina zwar treu, aber dass ihm ob der unrechtmäßigen Ehe als Strafe des Himmels kein Erbe beschieden sei. Ein männlicher Erbe wohlgemerkt! Deshalb, nur deshalb, wolle er Klärung in dieser Angelegenheit, will sagen Scheidung.

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Die Kardinäle trieben falsches Spiel mit dem König. Während Heinrich es kaum erwarten kann, Katharina als die Witwe des Prinzen Arthur erklären zu lassen, werden die Briefe des Kardinals Wolsey an den Papst abgefangen. Wieder weiß man im Vorzimmer Bescheid: Suffolk Des Kardinals Brief an den Papst ging fehl, Und kam dem König zu Gesicht; er las, Wie seiner Heiligkeit Rath wird ertheilt, Das Scheidungs Urtheil nicht zu fäll’n; (III,2)

Damit ist der Kardinal erledig, und es bedurfte kaum noch der Liste aller Reichtümer, die er unrechtmäßig in seinem Amt erworben hatte. Sie hatte sich theaterwirksam in der abgefangenen Post an den Papst verloren. Und weiter munkelt das Vorzimmer, dass der König maßlos über Wolseys Hinterlist erzürnt sei. Der Lord-Kämmerer weiß sogar zu erzählen: Lord-Kämmerer Der König sieht daraus, wie jener ihm Den eignen Weg umschleicht und sperrt; doch hierin Zerscheitern alle Künst’, und die Arznei Kommt nach des Kranken Tod: der König ward Dem schönen Fräulein schon vermählt. (III,2)

Jetzt wäre der Zeitpunkt für das Vorzimmer eine Flasche zu entkorken. Der gehasste Wolsey ist erledigt, der König ist aus eigner Macht geschieden und neu vermählt. Suffolk gibt noch eins drauf: Suffolk Befehle sind schon da zu ihrer Krönung; Dieß ist noch frisch, mein Treu, und nicht gemacht Für Aller Ohr. (III,2)

Man erfährt noch mehr. Der Kollege Kardinal Campejus ist heimlich nach Rom abgereist; dafür ist der dem König so getreue Ratgeber, der Doktor der Theologie, Thomas Cranmer, wieder zurück in London. Der, meint Norfolk, ist ein tüchtiger Mensch und hat sich für die Geschäfte des Königs verdient gemacht. Cranmer ist, so bestätigt Suffolk, Suffolk … der alten Meinung treu: Und die, sammt allen Facultäten fast

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Der Christenheit, rechtfertigt den Monarchen Hinsichtlich seiner Scheidung. Kurz, ich glaube, Sein zweites Ehbett, ihre Krönung, werden Dem Volk verkündigt; Catharinen bleibt Der königliche Titel nicht, sie wird Die Wittwe des Prinz Arthur künftig heißen. (III,2)

Da kommt Kardinal Wolsey ins Vorzimmer, und der König tritt bald darauf ebenfalls aus seinem Zimmer ins Vorzimmer, und es erfüllt sich, was alle schon wussten. Der König hat die einschlägigen abgefangenen Papiere in der Hand und nimmt den Kardinal ins Kreuzverhör. Des langen Dialogs kurzer Sinn: Der König gibt dem Kardinal seinen Brief an den Papst und das Verzeichnis seiner Güter mit den zynischen Worten zurück: König

Les’t dieß durch! Und darauf dieß: und dann zum Morgenimbiß, Mit soviel Eßlust euch noch bleibt. (III,2) Der König, so die Regieanweisung, geht ab und wirft einen zornigen Blick auf Wolsey. Die Hofleute drängen sich nach und flüstern und lächeln unter einander. (III,2)

Eigentlich ist alles geklärt, und das Stück stürzt sich über zwei weitere Akte ins glückliche Finale. Der Krönungszug setzt sich in Bewegung, die Geburt eines Kindes der neuen Königin Anna Boleyn steht an, und der für seine treuen Dienste zum Erzbischof von Canterbury beförderte Cranmer – die Anklage und Freisprechung hat der König selbst theaterwirksam geregelt – feiert mit dem König eine Taufe, die einem Mädchen gilt, das Zukunft verspricht. Die jüngere Frau heiligt die Tochter. Der König fühlt sich plötzlich auch mit einem „weiblichen Kind“ in „des Himmels Gnade“. Die Konflikte scheinen wie weggewischt – kein Wort kennt das Stück zu Rom –, keine Intrigen mehr am reichlich intriganten Hof von Heinrich VIII. Shakespeare löst mit großem Geschick die Aufgabe, gefährliche Wahrheiten in einer Weise zu sagen, dass man keinen Anstoß nimmt. Ende gut, Alles gut! Nur der Fall Katharina von Aragon bedarf noch einer Lösung. Irgendwie steht er der allgemeinen Freude im Weg. Und diese Lösung gibt es nicht, weil der Casus hinter dem Scheidungsfall der eigentliche Kern und Fall des Stückes ist. Es ist die Tragödie ehelicher Liebe und Treue auf Englands Thron, der

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Schmerz einer um einer jüngeren und schöneren Geliebten verlassenen Ehefrau. Der Dichter löst ihn, indem er Katharina gerade noch rechtzeitig zwischen der Krönung der Rivalin am 31. Mai 1533 und vor der Geburt Elisabeths am 7. September gegen alle Chronologie einen märchenhaften Tod sterben lässt. Historisch starb sie erst knapp drei Jahre später am 7. Januar 1536, gut vier Monate bevor Anne Boleyn am 19. Mai 1536 in London enthauptet wurde. Da waren beide Frauen fast gleichzeitig am Ziel: tot. Das chronologische Verwirrspiel Shakespeares dient der beschönigenden Dramaturgie des zur Romanze umgeformten Historienstücks. Und wie im Märchen wird „Alles ist wahr“ zu „Alles wird gut“. Die zweite Szene des vierten Akts spielt auf Kimbolton, wohin der König seine Frau „verstoßen“ bzw. weggesperrt hatte. Das war natürlich nicht schön; die bittere Trennung, die unglückliche Scheidung, war ja nicht wirklich einvernehmlich. Dieser Geschichte fehlt das happy end, das seine Romanze von der Dramaturgie her braucht. Gegen die historischen Fakten, die keine Vergebung, keine Versöhnung kennen, erfindet der Autor deshalb in seiner dichterischen Freiheit einen tröstlichen Traum – man mag ihn kühn finden, man kann ihn aber auch billig und unerträglich nennen –, der dieser himmelsguten Frau eine jenseitige Wiedergutmachung für irdisches Leid verspricht. Das Gespräch mit Griffith, ihrem Marschall, hat die todkranke Frau – sie ist gerade einmal real 51 bzw. im Stück 48 Jahre alt – erschöpft. Sie wünscht Musik. Die vormalige Königin wird jetzt vom Stück als Catharina geführt. Catharina. Laß die Musik die trübe Weise spielen, Die ich mein Grabgeläute hab’ genannt, Derweil ich sitz’ und denk’ an den Gesang Der Himmel, dem ich bald entgegengehe. (IV,2)

Sie schläft ein, und jetzt sind die Künste, die Musik und der Zauber des Theaters aufgerufen, des Lebens Wunden zu heilen. Natürlich war es Katharina eine Genugtuung, als Papst Clemens VII. anordnete, ihren Fall in Rom zu verhandeln. Und die Ablehnung einer Scheidung mochte sogar ein Triumph für sie gewesen sein. Aber er lief historisch ins Leere. Nicht ins Leere lief der Trost, der jetzt auf der Szene vom Himmel kommt. In einem Traumgesicht zaubert das Theater, macht es

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himmlische Show zum Ergötzen des jakobäischen Publikums. Die Vision ist aber auch ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit im Nachhinein, ein Denkmal, das das Unglück der Königin in der Geschichte abzugelten versucht. Traumgesicht Sechs Gestalten in weißen Gewändern, Lorbeerkränze auf dem Haupt, goldne Masken vor dem Gesicht, und Palmenzweige in den Händen, schweben langsam auf die Bühne. Sie begrüßen Catharinen, und tanzen darauf. Bei gewissen Wendungen halten die ersten zwei einen schmalen Blumenkranz über ihrem Haupt, während die vier übrigen sich ehrerbietig neigen. Dann wiederholt das nächstfolgende, und endlich das letzte Paar dieselbe Handlung. Die Fürstin giebt schlafend Zeichen der Freude, wie durch höhere Eingebung, und streckt beide Hände gen Himmel. Darauf verschwinden die Gestalten, und nehmen den Kranz mit sich hinweg. Die Musik währt fort. (IV,2)

Ob die Inszenierung der Szene nach der Offenbarung des Johannes 7,9 inspiriert ist oder nach einer sonstigen Bildvorlage der Zeit, spielt keine Rolle, denn das Chor der Engel, von dem sich Katharina zum himmlischen Festmahl geladen sieht, ist ihr Genugtuung in ihrer Todesstunde. Auch wenn sie nicht auf der Szene stirbt, sondern davon „hinweg geführt“ wird, gibt es keinen Zweifel, dass sie die Zeitschranken des Stücks lebend überschreiten könnte. Ihr Wunsch, den ihr Shakespeare beim Abgang in den Mund legt … Katharina. Ihr sollt mich balsamiren, dann zur Schau Ausstellen: zwar nicht Kön’gin, doch begrabt mich Als Königin, und eines Königs Tochter. (IV,2)

…, dieser Wunsch wurde ihr nicht erfüllt. „Sie wurde in der Kathedrale von Peterborough mit der Zeremonie der Witwe eines Fürsten von Wales beigesetzt, nicht mit der einer Königin“, weiß uns die allwissende Enzyklopädie namens Wikipedia zur historischen Person zu berichten. Ferner weiß sie: „Als der König vom Tode seiner ersten Frau erfuhr, soll er folgende Worte gesagt haben: ‚Gott sei gelobt! Wir sind nun von jeglicher Kriegsangst befreit.’ Einen Tag später nahm Heinrich an einem Ball teil; er untersagte seiner Tochter Maria, ihrer Mutter das letzte Geleit zu geben.“ Das alles weiß Shakespeares Figur natürlich nicht. Sie weiß aber jenseits der Historie durch Shakespeares Können von der Tragödie

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ihrer Ehe ein eindrucksvolles Bild zu vermitteln und mit ihrem Kampf um Englands Thron dramatische Phantasie zu erregen. Mit Königin Katharina, so der Urenkel Schillers, Alexander von Gleichen-Russwurm, in seinem Buch über „Shakespeares Frauengestalten“, schließt Shakespeare „die Reihe der historischen Frauen, deren Rede gellendes Weh, bitterer Haß, grimmer Fluch und entsagende Trauer war. Sie lehren so eindrücklich – wie es nur selten die Schöpfungen großer Dichter vermögen – daß der Mensch sein Glück und sein Elend in sich selbst trägt und daß ihn weder Ruhm, noch Macht, noch Erfolg vor seinem Schicksal bewahren.“1

deutsche Übersetzung: Wolf Graf Baudissin 1) Alexander von Gleichen-Russwurm, S. 174

zu König Heinrich VIII., Akt 1, Szene 4

Anhang

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Zur Textgestalt der Zitate Alle Shakespeare-Zitate folgen zeichengenau in Orthographie und Interpunktion den Ausgaben: Shakspeare’s dramatische Werke in zwölf Bänden, übersetzt von August Wilhelm von Schlegel und Ludwig Tieck [und Wolf Graf Baudissin und Dorothea Tieck]. Berlin: G. Reimer 1839/40/41 Shakspear, William: Perikles, Fürst von Tyrus. Übersetzt und herausgegeben von Ludwig Tieck, in: Ludwig Tieck’s sämtliche Werke. Ein und zwanzigster Band, Wien: Gedruckt und im Verlage bey Leopold Grund 1820, S. 204–309

Literaturverzeichnis Shakespeare, William: Gesamtausgabe zweisprachig in 39 Bänden. In der Übersetzung von Frank Günther mit Anmerkungen des Übersetzers und jeweils einem Essay eines namhaften Shakespeare-Forschers. Cadolzburg: ars vivendi verlag 2000–2019 Shakespeare, William: Sämtliche Werke (nach der Folio-Ausgabe von 1623 + Perikles). Ins Deutsche übertragen von August Wilhelm Schlegel, Dorothea und Ludwig Tieck, Wolf Graf Baudissin). Wiesbaden: R. Löwit [1973] Shakespeare, William: Sämtliche Werke. Englisch-Deutsch. Nach der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel, Dorothea Tieck, Ludwig Tieck und Wolf Graf Baudissin. Mit einem einführenden Essay von Harold Bloom, 2 Bände. Frankfurt: Zweitausendeins 2010 Shakespeare, William: Theatralische Werke in 21 Einzelbänden. Übersetzt von Christoph Martin Wieland. Hrsg. von Hans und Johanna Radspieler nach der ersten Züricher Ausgabe von 1762 bis 1766. Zürich: Haffmanns Verlag 1993 ***

[Heath, Charles] The Shakspeare Gallery. Containing the principal female characters in the plays oft the great poet. Engraved, in the most highly-finished manner, from drawings by the first artists, under the direction and superintendence of MR. CHARLES HEATH. Erschienen in London als Galeriewerk in 15 Einzellieferungen im Winter 1836/1837 [Heine, Heinrich] Shakspeares Maedchen und Frauen. Mit Erlaeuterungen von H. Heine. Paris: H. Delloye, Leipzig: Brockhaus, Avenarius 1839 (Auslieferung im November 1838) [Pecht, Friedrich] Shakespeare-Galerie. Charaktere und Szenen aus Shakespeare’s Dramen. Gezeichnet von Max Adamo, Heinrich Hofmann, Hans Makart, Friedrich Pecht, Fritz Schwoerer, August und Heinrich Spieß. 36 Blätter in Stahlstich, mit erläuterndem Texte von Friedrich Pecht. Leipzig: F.A. Brockhaus 1876 ***

Ackroyd, Peter: Shakespeare. Die Biographie, München: Albrecht Knaus Verlag 2006 Asimov, Isaac: Shakespeares Welt. Was man wissen muss, um Shakespeare zu verstehen, Berlin: Alexander Verlag 2014 Bab, Julius: Shakespeare. Wesen und Werke, Stuttgart-Berlin-Leipzig: Union deutsche Verlangsanstalt 1925 Beyenburg, Romana: Die Frauen in Shakespeares späten Stücken. Text und Aufführung, Trier: Wissenschaftlicher Verlag 1995 Bicks, Caroline: Midwiving Subjects in Shakespeare’s England, Aldershot: Ashgate 2003 Bloom, Harold: Shakespeare – Die Erfindung des Menschlichen. Erstes Buch: Komödien und Historien, Berlin: Berlin Verlag 2000 Bloom, Harold: Shakespeare – Die Erfindung des Menschlichen. Zweites Buch: Tragödien und späte Romanzen, Berlin: Berlin Verlag 2000 Bodenstedt, Friedrich: Shakespeare’s Frauencharaktere. Berlin 1874

798 • Bräker, Ulrich: Etwas über Shakespeares Schauspiele. Von einem armen ungelehrten Weltbürger, der das Glück genoß, ihn zu lesen. Anno 1780. In: Bräkers Werke in einem Band, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1989, S. 1–87 Brook, Peter: Mein Shakespeare. (The Quality of Mercy), Berlin: Alexander Verlag 2015 Brown, Ivor: The Women in Shakespeare’s Life, New York: Coward-McCann 1969 Bry, Theodor de: America. Sämtliche Tafeln 1590–1602, Köln: Taschen 2019 Bryson, Bill: Shakespeare wie ich ihn sehe, München: Goldmann 2010 Conrad, Bastian: Der wahre Shakespeare: Christopher Marlowe, München: Buch & media 2011, 2. verbesserte, korrigierte und erweiterte Auflage 2014 Dash, Irene G.: Women’s Worlds in Shakespeare’s Plays, Newark: University of Delaware Press 1997 Dürrenmatt, Friedrich: Werkausgabe in dreißig Bänden. Bd.11 König Johann, Titus Andronicus. Shakespeare-Umarbeitungen, Zürich: Diogenes 1980 Genée, Rudolph: William Shakespeare in seinem Werden und Wesen, Berlin: Georg Reimer 1905 Gleichen-Russwurm, Alexander von: Shakespeares Frauengestalten, Nürnberg 1909 Greenblatt, Stephen: Shakespeare: Freiheit, Schönheit und die Grenzen des Hasses. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2006, Frankfurt: Suhrkamp 2007 Greenblatt, Stephen: Verhandlungen mit SHAKESPEARE. Innenansichten der englischen Renaissance. Berlin: Wagenbach 1990 Greenblatt, Stephen: Will in der Welt. Wie Shakespeare zu Shakespeare wurde, Berlin: Berlin Verlag 2004 Griffin, Alice: Shakespeare’s Women in Love, Raleigh: Pentland Press 2001 Gundolf, Friedrich: Shakespeare und der deutsche Geist, Berlin: Georg Bondi 1920 Gundolf, Friedrich: Shakespeare. Sein Wesen und Werk. 2 Bde., Berlin: Georg Bondi 1928 (2. Auflage 1949) Günther, Frank (Hrsg.): Shakespeares WortSchätze. Englisch-Deutsch, München: dtv 2014 Günther, Frank: Unser Shakespeare. Einblicke in Shakespeares fremd-verwandte Zeiten, München: dtv 2014 Heine, Heinrich: Shakespeares Mädchen und Frauen. Hrsg. von Volkmar Hansen, Frankfurt: Insel Verlag 1978 (=insel taschenbuch 331) Heine, Heinrich: Shakespeares Mädchen und Frauen. In: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Hrsg. von Klaus Briegleb, München, Wien: Carl Hanser Verlag 1976, Bd. 7, S. 171–293; Anmerkungen S. 879–890 Heine, Heinrich: Shakespeares Mädchen und Frauen. Mit einem Nachwort von Jan-Christoph Hauschild, Hamburg: Hoffmann und Campe 2014 Heine, Heinrich: Shakespeares Mädchen und Frauen. Mit einer Einleitung von Eduard Engel, Hamburg-Berlin: Hoffmann und Campe 1921 Holme, Charles (Edt.): Shakespeare in Pictorial Art, Special Spring Number, London, Paris, New York: The Studio 1916 Jameson, A.: Frauenbilder oder Charakteristiken der vorzüglichsten Frauen in Shakespeares Dramen von Mrs. [Anna] Jameson. Deutsch von Dr. Adolf Wagner, Leipzig 1834 Jürgensmeier, Günter: Shakespeare und seine Welt. Berlin: Galiani 2016 Kott, Jan: Shakespeare heute. (Warschau 1961) München: dtv 1980 Kreiler, Kurt: Der Mann, der Shakespeare erfand: Edward de Vere, Earl of Oxford, Frankfurt: Insel Verlag 2011 (=insel taschenbuch 4015) Lüthi, Max: Shakespeare. Dichter des Wirklichen und des Nichtwirklichen, Bern 1964 (=DalpTaschenbücher; 373). MacGregor, Neil: Shakespeares ruhelose Welt, München: C.H. Beck 2013 Mahrenholtz, Katharina (Text) und Parisi, Dawn (Gestaltung): Shakespeare! Seine Werke, seine Welt, Hamburg: Hoffmann und Campe 2014 Mortimer, Ian: Shakespeares Welt. So lebten, liebten und litten die Menschen im 16. Jahrhundert, München: Piper Verlag 2020 Palmer, Henrietta Lee: The Stratford Gallery or the Shakspeare Sisterhood: Comprising forty-five ideal portraits, described by HENRIETTA LEE PALMER. Illustrated with fine engravings on steel, from designs by eminent hands. New York: D. Appleton and company, 1859

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Pitt, Angela: Shakespeare’s Women, Newton Abbot, London: David & Charles 1981 Rackin, Phyllis: Shakespeare and Woman, Oxford, New York: Oxford University Press 2005 Richartz, Walter E.: Shakespeare’s Geschichten. Bd. I. Nacherzählt von Walter E. Richartz, Zürich: Diogenes 1978 (vgl. Widmer, Urs) Rudhart, Blanca-Maria: Die Frauen in Shakespeares Königsdramen. Töchter der Ananke, FrankfurtBern: Peter Lang 1982 Schabert, Ina (Hrsg.): Shakespeare-Handbuch. Die Zeit, der Mensch, das Werk, die Nachwelt, Stuttgart: Kröner, 2. Auflage 1978 Stokes, Francis Griffin: Who’s Who in Shakespeare, London: Bracken Books 1989 (=Reprint London: George G. Harrap & Co. 1924) Vollmann, Ralf: Shakespeares Arche. Ein Alphabet von Mord & Schönheit, Frankfurt: Eichborn Verlag 1997 Widmer, Urs: Shakespeare’s Geschichten. Bd. II. Nacherzählt von Urs Widmer, Zürich: Diogenes 1978 (vgl. Richartz, Walter E.)

Abbildungsverzeichnis Die Darstellungen der Frauen zu Shakespeares Dichtungen entstammen der Erstausgabe von Shakspeares Maedchen und Frauen. Mit Erlaeuterungen von H. Heine. Paris: H. Delloye, Leipzig: Brockhaus, Avenarius 1839 (Auslieferung im November 1838) Dieser Ausgabe lag neben einer amerikanischen und einer französischen Lizenzausgabe ein sogenanntes „Galeriewerk“ zu Grunde, das der englische Kupferstecher und Illustrator Charles Theodosius Heath (1785–1848) in Auftrag gegeben hatte. The Shakspeare Gallery. Containing the principal female characters in the plays oft the great poet. Engraved, in the most highly-finished manner, from drawings by the first artists, under the direction and superintendence of MR. CHARLES HEATH. (= 45 in Stahl gestochene fiktive Frauenporträts aus Shakespeares Dramen, versehen mit charakteristischen Stückzitaten). Erschienen als Galeriewerk in 15 Einzellieferungen im Winter 1836/1837 Jedes der 45 in Stahl gestochenen fiktiven Frauenporträts (Königin Margaretha / „Heinrich VI.“ erhielt zwei Darstellungen) war begleitet von einer charakteristischen Textstelle, die dem jeweiligen Künstler als gestalterischer Aufhänger dienen sollte. Dabei kam es zur einen oder anderen Fehlzuweisung. Heines Arbeit wurde großzügig bezahlt, obwohl er nur für die Historien und die Tragödien einen Kommentar schrieb, der eine solche Bezeichnung überhaupt verdient. Zu den Komödien (außer zu den Damen aus dem „Kaufmann von Venedig“), also zu 21 Stichen, hat er ohnehin nur Werkzitate gewählt, entweder die von Charles Heaths Vorlagenwerk vorgegebenen oder irritierend frei gewählte Bezugsstellen. Das schöne Projekt wurde mithin nicht zu einem Glanzstück in Heines Schriften. Da Shakespeares „Perikles“ nicht in der First-Folio-Ausgabe von 1623 enthalten war, gibt es zu den doch sehr eindrücklichen Damen Thaisa und Marina, mit denen die Romanzenproduktion beginnt, keine Abbildungen bei Charles Heath. Sie scheinen uns aber gewichtig genug für ein Porträt in rein sprachlichem Kommentar ohne bildliches Äquivalent. *** Bleiben die Damen in der Tragödie „Timon von Athen“ und der Historie „König Richard der Zweite“. Dem Blick des Malers erschienen sowohl die beiden Kurtisanen im „Timon“ als auch die

800 • Königsgattin im Königsdrama bloße Randfiguren. Er hielt sie für nicht bedeutend genug, um sie mit einem Bild zu würdigen. In der Tat gehen sie im Gewimmel der beiden Männerstücke verloren. *** Die Abbildungen zu den realen Frauen um Shakespeare sind natürlich ein Notbehelf, weil es keinerlei Sicherheiten für Porträts von Mutter, Ehefrau und Töchtern gibt. Sie sind wie die textillustrierenden Abbildungen (Nr. 14–21) in der Regel gemeinfrei. Abb. 1: Shakespeare Denkmal in Weimar im Park an der Ilm, ist von © Michak Abb. 2: Prinzessin Elisabeth mit 13 Jahren um 1546 (gemeinfrei) Abb. 3: Mary Ardens Farm (gemeinfrei) Abb. 4: Grabmonument Shakespeares (gemeinfrei) Abb. 5: Titel der First-Folio-Ausgabe von 1623 (gemeinfrei) Abb. 6: Anne Hathaway’s Cottage (gemeinfrei) Abb. 7: Anne Shakespeares Grabplatte, fotografiert von © Tom Reedy Abb. 8: William Shakespeare liest seiner Familie aus „Hamlet“ vor (gemeinfrei) Abb. 9: Hall’s Croft, April 1951, after restoration, Photographer F. Daniel, 10 Bridge Street (gemeinfrei) Abb. 10: Unterschrift von Susanna Hall (gemeinfrei) Abb. 11: Haus von Judith Quiney, Shakespeare’s Tochter, Stratford, 1903 (gemeinfrei) Abb. 12: Thomas Quiney›s Unterschrift (gemeinfrei) Abb. 13: Marcus Gerards der Jüngere (ca. 1561–1636): Königin Elisabeth I. (gemeinfrei) Abb. 14: William Dyce (1806–1864): Heinrich VI. während der Schlacht vor Towton in Yorkshire auf dem Maulwurfshügel (gemeinfrei) Abb. 15: John Everett Millais (1829–1896): Ophelia (gemeinfrei) Abb. 16: Henri Gervex (1852–1929): Nellie Melba als Ophelia (gemeinfrei) Abb. 17: Nellie Melba als Ophelia in „Hamlet» von Ambroise Thomas, ca. 1889–1890, photographer Benque, Paris (gemeinfrei) Abb. 18: „Die Frankenberger Schauspielerin Ruth Himmelmann (1926–1975), um 1950“, in: Historische Bilddokumente https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/bd/id/22-135 Abb. 19: William Etty (1787–1849): Kleopatras Ankunft in Kilikien (1821) (gemeinfrei) Abb. 20: Lorenzo A. Castro (um 1640–1700): Die Schlacht bei Actium (gemeinfrei) Abb. 21: Titelblatt der ersten Quarto-Ausgabe von 1609 (gemeinfrei) *** Die szenischen Darstellungen dieses Buchs stammen aus dem Galeriewerk von Friedrich Pecht: Shakespeare-Galerie. Charaktere und Szenen aus Shakespeare’s Dramen. Gezeichnet von Max Adamo, Heinrich Hofmann, Hans Makart, Friedrich Pecht, Fritz Schwoerer, August und Heinrich Spieß. 36 Blätter in Stahlstich, mit erläuterndem Texte von Friedrich Pecht. Leipzig: F.A. Brockhaus 1876 *** Friedrich Pecht wurde am 2. Oktober 1814 in Konstanz geboren. Der Historien- und Porträtmaler erhielt seine Ausbildung in München. Er lebte und wirkte an wechselnden Orten, so in Dresden, Leipzig, Paris, Weimar und in Italien. Ab 1854 begann er bei der Augsburger Allgemeinen Zeitung als Kunstreferent. Als Kunstschriftsteller und zugleich als Maler gab er neben der Goethe-Galerie (siehe „Goethes Frauen“, wbg Darmstadt 2022) auch eine Schiller-Galerie (siehe „Schillers Frauen“, wbg Darmstadt 2022), eine Lessing-Galerie und die in diesem Band präsentierte ShakespeareGalerie heraus. In München, das er sich nach seinen Wanderjahren zum Wohnsitz erwählte, starb der produktive Künstler am 24. April 1903.

Nach der Mode der Galeriewerke des 19. Jahrhunderts werden in diesem Buch alle wichtigen Mädchen und Frauen aus Shakespeares Leben und Dichtung in empfindsamen Bildern, in nacherzählendem und interpretierendem Wort und in ausführlichem Zitat vorgestellt. Kein Dichter ist so reich an poetischer Einbildungskraft, was Frauen betrifft, wie Shakespeare; und wenn es wirklich einen sinnvollen Grund gäbe, seine Verfasserschaft anzuzweifeln, dann allenfalls mit der Behauptung, Shakespeare sei eine Frau gewesen.

Shakespeares Mädchen und Frauen

Prof. Dr. Joseph Kiermeier-Debre M.A. (* 1946) ist Literatur-, Theaterund Kunstwissenschaftler. Er lehrte an der Universität München, arbeitete als Museumsleiter und hat zur Literatur und Kunst zahlreiche Veröffentlichungen vorgelegt.

Joseph Kiermeier-Debre

www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-45016-9

Joseph Kiermeier-Debre

Shakespeares Mädchen und Frauen 53 Porträts aus Leben und Dichtung