Sensualistischer Idealismus: Untersuchungen zur Erkenntnistheorie und Metaphysik des jungen Herder (1763–1778) 9783787330416, 9783787311354

Bisher wenig beachtete Entwürfe und frühe Schriften Herders stehen im Zentrum dieser Untersuchung. Sie werden als kontin

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Sensualistischer Idealismus: Untersuchungen zur Erkenntnistheorie und Metaphysik des jungen Herder (1763–1778)
 9783787330416, 9783787311354

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MARION HEINZ Sensualistischer Idealismus

STUDIEN ZUM ACHTZEHNTEN JAHRHUNDERT Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts Band 17

FELIX MEINER VERLAG

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HAMBURG

MARION HEINZ

Sensualistischer Idealismus Untersuchungen zur Erkenntnistheorie des jungen Herder (1763-1778)

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Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1135-4 ISBN E-Book: 978-3-7873-3041-6 © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1994. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.  www.meiner.de

INHALT

Vorwort Einleitung

VII IX

Kapitel I : Versuch über das Sein (1763) 1. Erkenntnistheoretische Vorklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Programm einer subj ektiven Philosophie und die Theorie der

unzergliederlichen B egriffe

3. Der Begriff des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die B egriffe Raum, Zeit und Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Auseinandersetzung mit B aumgarten und Wolff in Hinsicht auf den Begriff des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Herders Kritik an Kants »Einzig möglichem B eweisgrundExistenz und Individualität. Untersuchungen zu Herders >Gott«>Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«4 verstanden, Herder aus dem Feld wissenschaft­ lich ernst zu nehmender Philosophie zu verbannen und in das der wortgewandten Erdichtung bloßer Hypothesen zu verweisen. Philosophie, die sich als Wissen­ schaft begreift, hat sich seither mit Herders Schriften wenig anfreunden können. Daß Herders Denken zu Recht im Schatten der Geniess geblieben ist, scheint der Vergleich der Werke zu bestätigen. »Hier eine Systematik von imponierender Großartigkeit des Aufbaus und undurchbrechlicher Geschlossenheit des inneren Gefüges - dort ein Nebelmeer von flüchtigen Impressionen und zusammenhang­ losen, nicht selten sich widersprechenden Einfällen, das keinem ernsthaften Zugriff standhält.«6 Dies ist nach Th. Litt der Eindruck, der nicht nur für die Zeitgenossen, sondern auch für die philosophierenden Generationen der Folgezeit entschieden hat, daß eine ernsthafte philosophische B eschäftigung mit Herder zu nichts führen könne. Daß es durchaus Herders Selbstverständnis entsprach, Gedanken zu >>säen«, d.h. sie in anderen erwecken und sie nicht selbst zu fertiger und gültiger Form

I Vgl. Herders »Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft« von 1 799. In: SWS XXI, S. 1 ff. Stellenangaben zu dieser Ausgabe im Text erfolgen so: die römische Zahl gibt die Bandnummer an, die arabische Ziffer bezeichnet die Seitenzahl. 2 Vgl. R. Haym: Herder nach seinem Leben und seinen Werken. 2 Bde. Berlin 1 8 8 0 - 1 885. Neuausgabe Berlin 1958, Bd. II, S. 737 ff. 3 Vgl. M. Jaesche: Ueber die drei Grundvesten des modernsten Empirismus einer phantasie­ renden Vernunft, Raum, Zeit, Kraft. In: Mancherley zur Geschichte der metacritischen Invasion. Hrsg. v. F.T. Rink. Königsberg 1 800, S. 63 f. 4 Vgl. Kant AA 8, S. 43-66. 5 Wie die philosophische Forschung von Kants Werk gebannt war, so die germanistische von Goethe. Nicht nur die ausgereiften klassischen Werke, sondern auch die Tatsache, daß hier Leben und Werk in souveräner Harmonie verbunden zu sein scheinen, faszinierten und ließen den als griesgrämig und bitter dargestellten Lehrer Herder eher in den Hintergrund treten. Zum Verhältnis zwischen Herder und Goethe vgl. jetzt H.D. Irmscher: Goethe und Herder im Wechselspiel von Attraktion und Repulsion. In: Goethe Jahrbuch 161 (1 989), S. 22 ff.; vgl. auch Ch. Fasel: Herder und das klassische Weimar. Kultur und Gesellschaft 1 789-1 803. Frankfurt 1988. 6 Th. Litt: Kant und Herder als Denker der geistigen Welt. Leipzig 1 930, S. 2.

X

Einleitung

entwickeln zu wollen7, bezeugt folgender Selbstkommentar: »Diese Samenkörner aufzuziehen und zu Bäumen zu erheben und vielleicht auch Früchte zu sammlen, überlasse ich Andren, und ich erbitte mir blos die Aufmerksamkeit, die man an­ wendet, um vielleicht edlen Samen zu finden.>Ideen zur Philosophie der Ge­ schichte der Menschheit« seien >>bei uns dergestalt in die Kenntnisse der ganzen Masse übergegangen, daß nur wenige, die sie lesen dadurch erst belehrt werden, weil sie durch hundertfache Ableitungen von demj enigen, was damals von großer B edeutung war, in anderem Zusammenhange schon völlig unterrichtet worden.«s Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzt eine umfangreiche und sorgfältige Be­ schäftigung mit Herders Werk ein, markiert durch die von 1877-1913 erscheinende Ausgabe der >>Sämmtlichen Werke>in den Tagen der neu erstehenden Herrlichkeit des deutschen Reiches, ein Jahrhundert nachdem Herder mit seinen ersten Schriften die Nation zur Pflege ihrer eigensten geistigen Art und Kraft aufgerufen eine Ehrenpflicht deutscher Wissenschaft, seinem Genius gerecht zu werden und das Erbe, das er seinem Volke hinterlassen, in völli­ gem B estande, in unverfälschter Form dem gegenwärtigen Geschlechte nahe zu bringen, dem kommenden zu überliefern! >Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts« veranstaltete Tagung über »Johann Gottfried Herder>Herder und der Sturm und Drang« (1984) und »Herder und die Anthropologie der Aufklärung>subj ektiven Philosophie« präsentiert. In Anküpfung an Humes Philosophie des Geistes und an Kants Ü berlegungen zur Methode der Philosophie im »Versuch über die Deutlichkeit [ . . . ]« sieht Herders Programm einer subj ektiven Philosophie vor, den Ursprung und die Systematik von nicht weiter analysierbaren Grundbegriffen aus der spezifischen Verfassung des endlich­ menschlichen Erkenntnissubjekts als subj ektiv notwendige Begriffe, denen keine obj ektive Gültigkeit zukommen kann, zu erweisen. Der Gedankengang, durch den Herder dieses Resultat der bloß subj ektiven Gültigkeit dieser Begriffe gewinnt, ist in Kürze folgender: Gott hat keine unzergliederlichen Begriffe, denn für Gott sind alle B egriffe vollständig durchschaubare Folgen seines eigenen Seins. Die endlich­ menschliche Erkenntnis ist auf das Gegebensein ihrer Inhalte angewiesen, als ge­ gebene sind diese im Unterschied zu den Produkten des göttlichen Denkens nur bis zu einem bestimmten Grad analysierbar. Die menschliche Erkenntnis stößt also auf unzergliederliche Grundbegriffe. Diesen Begriffen kann keine obj ektive Gültigkeit zukommen, denn sie sind nicht definierbar. Philosophiegeschichtlich bedeutsam ist, daß Herder ohne - wie später Kant - den spezifischen Charakter der Anschauung im Unterschied zur begrifflichen Vorstellung als solchen klar de­ finieren zu können, den Versuch unternimmt, die Sinnlichkeit vermittelst der B egriffe Sein, Raum, Zeit und Kraft zu charakterisieren und damit eine eigentüm­ liche B estimmung der sinnlichen Erkenntnis zu liefern und sie nicht bloß als min­ deren Grad der Verstandeserkenntnis zu fassen. Diesen Ansatz, die Endlichkeit der menschlichen Erkenntnis durch die kategorial bestimmte Sinnlichkeit zu defi­ nieren, hält Herder zeitlebens aufrecht. Auch der für Herders späteres Denken charakteristische Spinozismus ist schon in der ersten philosophischen Abhandlung nachzuweisen. Hier steht das spinozistische Motiv der »einen göttlichen Gedan­ kenwelt« allerdings noch unverbunden neben dem anthropologisch-psychologi­ schen Ansatz; es dient im wesentlichen als Kontrastfolie zur Bestimmung der Struktur des menschlichen Geistes. Herders Verhältnis zu Kants Philosophie wird im zweiten Kapitel anhand von Herders Rezension der »Träume eines Geistersehers . aus dem Jahr 1766 weiter verfolgt. Kants Theorie über den Unterschied materieller und immaterieller Sub­ stanzen sowie seine These über den Leib-Seele-Zusammenhang werden hier aus­ führlich vorgestellt, weil Herder sowohl Kants dynamische Materie-Konzeption . . «

Einleitung

XVII

als auch die Hypothese Kants zum Problem des Commercium in den später be­ handelten Schriften in modifizierter Form verwendet. Aufschlußreich ist die Re­ zension der »Träume [ . . . ] « für die Entwicklung des Herdersehen Denkens in Aus­ einandersetzung mit Kant in zwei Hinsichten. Zum einen wird klar, daß Herder den von Kant hier bloß erwogenen Gedanken des Dualismus der Welten, d.h. die Unterscheidung von mundus intelligibilis und sensibilis entschieden ablehnt. Gegen den Dualismus der Substanzen bzw. Welten plädiert Herder für die Einheit von Geistigem und Körperlichem, die das Lebendige repräsentiert. Faszinierend ist für Herder Kants Gedanke der Möglichkeit organischer Gesetze, wohingegen die Idee pneumatischer Gesetze radikal verworfen wird. Das Lebendige wird für Herders D enken zum paradigmatischen Seienden. Eine Philosophie des Lebens verspricht die Möglichkeit der Aufhebung der Gegensätze von Geist und Materie, von Immanenz und Transzendenz, von zeitlosem Sein und geschichtlichem Wer­ den. Zwar verändern sich die Konstruktionen im einzelnen - der Ansatz einer Grundverfassung des Seienden derart, daß ein geistig-seelisches Inneres untrennbar mit einem körperlichen Äußeren verbunden ist, hält sich j edoch durch. Zum anderen zeigt Herders Kam-Rezension ebenso wie der »Versuch über das Sein« die fundamentale Verschiedenheit im Verständnis von Philosophie bei Herder und Kant. Durch Hume war das Vertrauen in die Möglichkeit einer ratio­ nalen Metaphysik gründlich erschüttert worden. Kant greift diese Provokation auf: in den »Träumen eines Geistersehers>verborgener Rationalis­ musmatters of fact« erweist sich als irrational vor dem Hintergrund dessen, was rati­ onal zu erkennen ist, den >>relations of ideas«. Wie die Beispiele Hamann und Jacobi zeigen, kann das skeptische Resultat Humes auch so weiter verfolgt werden, daß die Seite des Irrationalen nicht in die Natur verlagert wird, also nicht als natürliche Gesetzmäßigkeit der Funktions­ weise der menschlichen Psyche begriffen wird, sondern als Basis für die Begrün­ dung der Möglichkeit und Notwendigkeit des Glaubens im religiösen Sinne ge­ nommen wird. Liest man Herders philosophische Versuche vor diesem Hintergrund, kann die Konstellation seines Denkens dahingehend beschrieben werden, daß Herder eine neue Theorie über das Wesen spezifisch menschlicher >>Vernunft« zu konzipieren versucht, die gar nicht erst die Kluft zwischen Rationalität und Irrationalität auf­ reißt, indem das Erkennen als ganzes - anknüpfend an Hume - in die Natur inte­ griert wird, d.h. naturalisiert wird. Damit entfällt die Möglichkeit, eine Art der Erkenntnis zum überzeitlichen Maßstab zu nehmen. Das Schillernde in Herders philosophischen Arbeiten ist wesentlich darin begründet, daß er die erkenntnis­ theoretische Problematik durch psychologische und ontologische Fragestellungen zu unterlaufen versucht. Vereinfacht gesagt, versucht Herder, Humes Skepsis zu vermeiden, indem er den Menschen als Teil einer Natur interpretiert, die ihrerseits im Wesen Geist ist. Einen wichtigen Wendepunkt in Herders Denken markiert das im dritten Kapitel dargestellte, bisher unveröffentlichte Manuskript »Plato sagte [ . . . ]«, das 1766-1768 kurz vor dem »Vierten kritischen Wäldchen« (1769) entstanden ist. Hier findet sich erstmals die für Herders späteres Denken grundlegende Kombi­ nation von Idealismus und Sensualismus, die zunächst allerdings nur im Ausgang von dem endlich-menschlichen Erkeimtnissubj ekt entwickelt ist, während schon die 1769 entstandene Skizze »Grundsätze der Philosophie« eine systematische Verbindung mit der Theologie herstellt. Im Ausgang von Mendelssohns Preis­ schrift » Ü ber die Evidenz [ . . . ]« von 1763 greift Herder in dem Manuskript »Plato sagte [ . . . ] >So lange man bloß aus Erfahrungssätzen deren Prämissen stets der Idealist leugnet, beweisen will, so demonstriert man immer hypothetisch sicher, aber ohne den geringsten Einfluß auf ihn.« (VS 1 0)4 Mit der idealistischen Theorie der Genese von Vorstellungen setzt sich Herder in folgender Weise auseinander. Der dogmatische Idealismus leugnet die Existenz 3 Vgl. D . Hume: Enquiry concerning human understanding. In: Enquiries concerning human understanding and concerning the principles of morals. Ed. by L.A. Selby-Bigge. Third edition with text revised and notes by P.H. Nidditch. Oxford 1 983, S. 152 f. Humes �Enquiry« wurde 1 755 in deutscher Übersetzung von Johann Georg Sulzer herausgege­ ben. Im Nachlaß Herders finden sich �Auszüge und Bemerkungen« Herders zu dieser Ausgabe (Auszüge und Bemerkungen zu Philosophische Versuche über die Menschliche Erkenntniß von David Hume, Ritter. Als dessen vermischter Schriften zweyter Theil. Nach der zweyten vermehr­ ten Ausgabe aus dem Englischen übers. und mit Anmerkungen des Herausgebers IJohann Georg Sulzer] begleitet. Harnburg und Leipzig 1 755. Transkribiert von H.D. Irmscher. Nachlaß Kapsel XXV 54, ca. 1 766.), die von H.D. lrmscher �ca 1 764« datiert werden (Nachlaßkatalog, S. 1 96). Sicher ist, daß Herder bereits zur Zeit der Abfassung des »Versuchs über das Sein« Humes �Enqui­ ry« kannte. Dies geht zweifelsfrei aus dem Aufgreifen Humescher Problemstellungen (s.o.), der Übernahme zentraler Begriffe Humes (>impression< und >copy< bzw. >Eindruck< und >Kopie< (VS 1 2)), sowie einigen nahezu wörtlichen Übernahmen (z.B. »[ . . . ] Ritter und Riesen und Aben­ teuer [ . . . ]«, (VS 1 7; Hume: Enquiries concerning human understanding [ . . . ] , S. 149)) hervor. D aß Hamann für die Verbreitung von Humes Philosophie in Deutschland eine zentrale Rolle zukommt, ist kürzlich erneut von G. Gawlick I L. Kreimendahl herausgestellt worden (vgl. G.G. I L.K.: Hume in der deutschen Aufklärung. Umrisse einer Rezeptionsgeschichte. Stuttgart 1 987). Herder und Kant standen zu dieser Zeit in freundschaftlichem persönlichem Kontakt zu Hamann. Herder spielt überdies in der »Zuschrift« auf Hamanns 1 759 erschienene Schrift »Sokratische Denkwürdig­ keiten« an, für die Humes Theorie des >belief< von großer Bedeutung ist. (Vgl. VS 9: »Ihre Stimme wird gewisser und wahrer sein als die Stimme des Publikums, des unbekannten Abgotts, den jeder nennt, das stets leere Schälle antwortet, und nicht höret. « Vgl. dazu Hamann: Sokratische Denk­ würdigkeiten. Aesthetica in nuce. Mit einem Kommentar hrsg. v. S.-A. Jergensen. Stuttgart 1 968, S. 7, zu Hume vgl. ebd. S. 5 1 ). Zur Beantwortung der in der Kant-Forschung diskutierten Frage, wann Kant welche Schriften Humes zur Kenntnis genommen hat, versuchte man Anhaltspunkte aus Herders Schriften zu gewinnen. Sowohl R. Haym als auch B. Erdmann haben j edoch die Be­ einflussung von Herders erster Schrift durch Hume verkannt. Vgl. B . Erdmann: Kant und Hume um 1 762. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 1 ( 1 8 88), S. 62-77, S. 2 1 6 -230. Als erster hat M. Baum die B edeutung Humes für diese Abhandlung herausgestellt (siehe Anm. 1). 4 Diese Einsicht konnte Herder allerdings auch aus Kants Vorlesungen gewinnen, wo diese Argumentation in Hinsicht auf Berkeley ohne Bezugnahme auf Hume vorgebracht wird. Vgl. Kant AA 2 8 . 1 , S. 42.

Erkenntnistheoretische Verklärungen

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der Außenwelt und behauptet die Vorstellungen oder Ideen als einzige Wirklich­ keit, die demnach aus Produkten des Geistes selbst besteht. Zur Prüfung dieser Po­ sition ist zu klären, >>ob das B ewußtsein vom gemeinen Vorstellungsvermögen we­ sentlich unterschieden werde.« (VS 1 0)5 Wenn nämlich der innere Sinn nicht bloß als das B ewußthaben von und Operieren mit Vorstellungen der äußeren Sinne, sondern als spontanes Prinzip der Erzeugung von Gedanken aufzufassen ist, fällt die Widerlegung des Idealismus schwer oder sie wird gänzlich unmöglich.6 Nach Herder verhält es sich so, daß der Mensch dadurch vom Tier unterschieden ist, daß er nicht nur über Vorstellungen der äußeren Sinne verfügt, sondern sich ihrer be­ wußt ist, sie als seine Vorstellungen erkennt. »Tiere sehen im Sinne Bilder, Men­ schen ihre Bilder.« (VS 1 0)7 Der innere Sinn des Menschen vollzieht sich in den Weisen von Abstraktion und Reflexion und setzt als solcher das Gegebensein von Vorstellungen im äußeren Sinn voraus (vgl. VS 1 0). Dadurch ist das endliche, menschliche B ewußtsein von einem göttlichen Bewußtsein unterschieden. Sieht man aber von dem spezifisch Menschlichen des Vermögens der deutlichen Vor­ stellung ab, so folgt daraus nichts, was den Egoistens , also denj enigen, der »denkt, daß ich, der da denkt, das einzige einfache Wesen ist, ohne nexu mit andern«,9 wi­ derlegen würde, das soll heißen: Es folgt nichts für die Frage, ob nicht ein auf den inneren Sinn beschränktes Wesen möglich sei und ob ich dieses Wesen sein könnte. Bloß definitorisch ergibt sich, daß für ein nur mit dem inneren Sinn ausgestattetes Wesen »keine Ideen von äußerlichen Dingen> [ . . . ] indessen gibts doch eine egoistische Gedankenwelt ein Etwas, was frei von allen sinnlichen Eindrücken, ohne alle gegebne Begriffe, ohne 5 Herder bezieht sich hier offenbar auf Crusius, für den das Bewußtsein eine besondere Grund-Kraft erfordert, der sich also m.a.W. dagegen wendet, daß das Bewußtsein lediglich ein hö­ herer Grad der Lebhaftigkeit oder Deutlichkeit der Vorstellungen darstellt. V gl. Crusius: Die philosophischen Hauptwerke. Leipzig 1 744-1 747. Nachdruck Bildesheim 1 964-1 969. Hrsg. v. G. Tonelli. Bd. 2: Entwurf der nothwendigen Vernunft=Wahrheiten, wiefern sie den �ufälligen entge­ gen gesetzet werden, § 444, S. 863 ff. 6 Vgl. hierzu und zum folgenden M. Baum: Herder's essay on being, S. 127 ff. 7 Herder setzt also »inneren Sinn« und Bewußtsein gleich. Mit dieser Gleichsetzung beruft sich Herder auf den vorkritischen Kant, nicht auf Locke, für den >reflection< und >consciousness< nicht zusammenfallen (vgl. Kant AA 2, S. 60. Vgl. Locke: An essay concerning human under­ standing. Ed. with a foreword by P.H. Nidditch. Oxford 1 984, S. 105, § 4; S. 1 08, §§ 1 0, 1 1 ; S. 1 1 5, § 1 9). Kant unterscheidet hier Mensch und Tier dadurch, daß nur dem Menschen der innere Sinn zukommt. Dieser wird bestimmt als das Vermögen, »seine eigenen Vorstellungen zum Objecte sei­ ner Gedanken zu machen«. Vgl. auch Herders Kant-Mitschriften, AA 28. 1 , S. 1 1 7; AA 2 8 .2, 1 , S . 901 ; R . Haym: Herder, Bd. 1 , S . 5 8 f . Z u Locke vgl. U . Thiel: Lockes Theorie der personalen Identität. Bonn 1983, besonders S. 94 ff. Die Quelle Kants ist Baumgarten, der zuerst diese Gleich­ setzung vornimmt. Vgl. Baumgarten: Metaphysica. Editio VII. Halle 1 779. Nachdruck Bildesheim 1963, § 535. 8 Egoismus ist die im 1 8. Jahrhundert geläufige Bezeichnung für Solipsismus. 9 Kant AA 28. 1 , S. 42. 10 Vgl. Kant AA 28.2. 1 , S. 895. ,

,

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Kapitel I · Versuch über das Sein

die entferntste Prämisse a posteriori vielleicht einzig zu sich ich sagen kann: - gött­ lich zu sich sagen kann: ich denke durch mich; und alles andere durch mich ! « (VS 1 1 ) Das göttliche Bewußtsein unterscheidet sich darin fundamental von dem menschlichen, daß es kein B ewußthaben von anderwärts Gegebenem ist, sondern daß alles, was von ihm gedacht wird, zugleich ein Produkt seines Denkens ist. Alle Inhalte dieses B ewußtseins stammen aus diesem B ewußtsein selbst, sind durch es hervorgebracht. Deshalb kann Gott »vielleicht einzig zu sich ich sagen>Zwittermenschheit« zeigen, vermeidet. Während der Rationalismus die Gemeinsamkeit von göttlichem und menschlichem Denken übertreibt, indem er die Angewiesenheit auf das Gegeben­ sein der Inhalte des Bewußtseins verkennt, übertreibt der Empirismus die tierische Seite des Menschen, indem er die Sinne zur universalen Grundlage allen Denkens macht. Der Vermittlungsversuch des jungen Herder geht dahin, die Sinnlichkeit der Vorstellungen aus der Endlichkeit des Bewußtseins zu erweisen, so daß dieses analog zum göttlichen Bewußtsein als Prinzip von Begriffen angesetzt ist, aber eben nur ihrer Form nach. Mit dieser Sicht ist das Faktum einer göttlichen >>ego­ istischen Gedankenwelt« durchaus vereinbar: Das menschliche Bewußtsein und seine sinnlichen Vorstellungen von Gegenständen könnten als Teil des allumfas­ senden göttlichen Denkens begriffen werden. Allerdings enthält sich Herder in diesem Text jeglicher Behauptung über diesen Sachverhalt. Das Programm von Herders subj ektiver Philosophie kann als Versuch angese­ hen werden, Teile der Philosophie des Crusius und des vorkritischen Kant psy­ chologisch-genetisch zu rekonstruieren. Anders als für W olff, der der Ansicht war, das System der philosophischen Erkenntnisse einzig aus dem Satz vom Wider­ spruch begründen zu können, behauptet Crusius, für die dem Menschen mögliche Erkenntnis seien außer dem Satz vom Widerspruch zwei weitere Grundsätze an­ zunehmen: der Satz des Nichtzutrennenden: »Was sich nicht ohne einander den­ ken lässet, das kan auch nicht ohne einander seyn>Denn aus diesen allein [den formalen Grundsät­ zen] kann wirklich gar nichts bewiesen werden, weil Sätze erfordert werden, die den Mittelbegriff enthalten, wodurch das logische Verhältnis andrer Begriffe soll in einem Vernunftschlusse erkannt werden können, und unter diesen Sätzen müssen einige die ersten sein.«3 1 Herder greift Crusius' und Kants Lehre von den unzergliederlichen B egriffen und den unerweislichen Urteilen auf.J2 Seine Intention geht j edoch nicht wie bei Crusius und Kant dahin, im Ausgang solcher Grundbegriffe und Grundsätze die Metaphysik als Wissenschaft zu begründen; seine Absicht ist vielmehr, diese B e­ griffe und ihre Ordnung aus dem Subj ekt als deren Grund genetisch zu entwik­ keln. Das heißt, diese Begriffe und Sätze werden hier nicht als die unbeweisbare Grundlage metaphysischer Erkenntnisse über die Dinge in den Blick genommen, sondern sie werden als ein aus der Beschaffenheit des Subj ekts zu erklärendes Fak­ tum behandelt. Daß diese B etrachtungsweise - wie schon gesagt - ein Korrektiv gegen eine einseitige Philosophie darstellen soll, geht aus Herders Ü berlegungen zu der dem Menschen möglichen Gewißheit hervor. Daß die unzergliederlichen B egriffe keiner obj ektiven Gewißheit qua Beweiskraft fähig sind - da sie nicht über Merkmale verfügen oder sich in ihnen keine Merkmale unterscheiden lassen, ent­ fällt eben die Möglichkeit der Herleitung der Merkmale aus anderen - besagt nicht, daß sie überhaupt keiner Gewißheit fähig sind. Entsprechend unserer >>Zwitter­ menschheit« gibt es außer der obj ektiven, auf Beweis beruhenden Gewißheit noch eine subj ektive, auf sinnlicher Ü berzeugungskraft beruhende Gewißheit. (V gl. VS 1 1 ) Während diese von »übertriebenen Philosophen« mißachtet wird, wird j ene >>vom Pobel in Zweifel gezogen.« (VS 1 1 ) Wenn Herder in der subj ektiven Ge­ wißheit ein Werk der >>Mutter Natur« sieht, der wir demnach die auch für alles

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Vgl. ebd., S. 286. Vgl. ebd., S. 280. Ebd., S. 281 f. Ebd., S. 295; Kant kritisiert allerdings die von Crusius aufgestellten obersten Regeln der Gewißheit. Vgl. ebd.; Herders Metaphysik-Nachschrift, Kant AA 28. 1 , S. 1 0 f. 32 D. Henrich hat in seiner differenzierten Analyse der Preisschrift die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Kant und Crusius herausgearbeitet. Vgl. D. Henrich: Kants Denken um 1 762/63, bes. S. 1 8 -20, 23 -26, 29 f.

Der Begriff des Seins

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Denken grundlegenden Ü berzeugungen zu verdanken haben, so ist damit die Nähe zu Humes »Enquiry« klar dokumentiert. (Vgl. VS 1 2, 1 3 , 1 9)33 3. Der B egriff des Seins An der Spitze der unzergliederlichen Begriffe steht der Begriff des Seins. In die er­ ste Reihe der Erfahrungsbegriffe gehören außerdem die Begriffe Raum, Zeit und Kraft. ( Vgl. VS 1 2, 20) Der Begriff des Seins ist angesetzt als der allersinnlichste Begriff, dem entsprechend auch die höchste sinnliche, subj ektive Gewißheit, die fast einem theoretischen Instinkt34 gleichkommt, eignet. (Vgl. VS 1 1 f., 19 f.) Dieser Begriff soll der Grundbegriff sein, der allen anderen Begriffen zugrunde liegt. Zur Begründung führt Herder an: »Dies fordert die Einheit, da bei j edem aliquoties ein quid zum Grunde liegen muß.« (VS 12) Das heißt, der Begriff des Seins ist beansprucht als das gemeinsame Element aller sinnlichen Begriffe, zufolge dessen sie einheitlich als sinnliche B egriffe bestimmt sind. Es ist nicht leicht, Herders Ausführungen zum Begriff des Seins in einen konsi­ stenten Zusammenhang zu bringen. Schon die Rede von einem allersinnlichsten Begriff (vgl. VS 1 2) scheint ein Widerspruch zu sein. Dieser Widerspruch läßt sich j edoch vermeiden, wenn Begriff hier unspezifisch im Sinne von Vorstellung über­ haupt genommen wird.JS Eine weitere Schwierigkeit liegt in folgendem. Einerseits wird die Sinnlichkeit der Seinsvorstellung so expliziert, daß diese Vorstellung der unanalysierbare »Rest« sein soll, der sich in einem Analyseverfahren nicht weiter >>verfeinigen« läßt. (Vgl. VS 1 1 ) Andererseits soll Sein der Begriff sein, der allen Begriffen als Begriffen von Seiendem zugrunde liegt. (Vgl. VS 1 2) Das heißt, Sein wäre als der gemeinsame Inhalt aller Begriffe selbst der abstrakteste und allgemein­ ste B egriff. Wie läßt sich beides zusammendenken ? Offenbar greift Herder hier auf Crusius' Theorie der unauflöslichen Begriffe zurück. Diese Begriffe sind als einfa33 Vgl. Hume: Enquiry concerning human understanding, z.B. S. 55; vgl. M. B aum: Herder's essay on being, S. 1 3 3 . 34 Z u m Begriff d e s Instinkts vgl. Hume: Enquiry concerning human understanding, S. 55 u.ö. Der Begriff des Instinkts wurde von Shaftesbury in die philosophische Terminologie des 18. Jahr­ hunderts eingeführt, um die subtilen Auseinandersetzungen über die eingeborenen Ideen zu ver­ meiden und doch eine Klasse von Ideen hinsichtlich ihres Ursprungs zu kennzeichnen: »But this I am certain of; that Life and the Sensations which accompany Life, come when they will, are from mere Nature, and nothing eise. Therefore if you dislike the word lnnate, Iet us change it, if you will, for lnstinct; and call lnstinct, that which Nature teaches, exclusive of Art, Culture or Disci­ pline.« (Shaftesbury: Standard Edition. Sämtliche Werke, ausgewählte Briefe und nachgelassene Schriften. In englischer Sprache mit deutscher Übersetzung. Hrsg., übers. und kommentiert von G. Hemmerich. Stuttgart-Bad Cannstatt 1 984 ff., Bd. 11, 1, S. 340). Auch Herder spricht davon, die Gewißheit des Seins sei angeboren. Vgl. VS 1 9: »Es [das Sein] ist der erste, sinnliche Begriff, dessen Gewißheit allem zum Grunde liegt: Diese Gewißheit ist uns an­ geboren, die Natur hat den Weltweisen die Mühe benommen zu beweisen, da sie überzeugt hat [ . . . ]« Vgl. den Schlußsatz von Kants »Einzig möglichen Beweisgrund«: »Es ist durchaus nötig, daß man sich vom Dasein Gottes überzeuge, es ist aber nicht ebenso nötig, daß man es demon­ striere.« 35 Vgl. M. Baum: Herder's essay on being, S. 1 32.

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Kapitel I Versuch über das Sein ·

ehe unanalysierbar, d.h. nicht durch Analyse in Elemente zerlegbar. Sofern es das Kennzeichen der sinnlichen Vorstellungen als solcher ist, unzergliedert zu sein d.h. nach Crusius: sie besitzen lediglich die gemeine Deutlichkeit3 6 - ist es ein­ leuchtend, wenn Herder Sinnlichkeit und Unzergliederlichkeit als Synonyma setzt. (Vgl. VS 1 1 ) Denn das Unzergliederliche ist eben gar keiner Analyse, d.h. keiner Arbeit des Verstandes unterziehbar und kann als solches bloß aufgenommen, rezi­ piert werden,37 Dabei ist es gleichgültig, ob die Vorstellung »an sich«, wegen ihrer Einfachheit, oder nur für uns, der Grenzen unserer Erkenntnis wegen, unzerglie­ derlich ist. Die Unzergliederlichkeit von Vorstellungen zeigt die Grenzen des Ver­ standes an und verweist damit auf ein anderes Prinzip, die Sinnlichkeit als Feld des Irrationalen.JB Wenn auch selbst unzergliederlich, so sind die unauflöslichen Begriffe doch erst durch einen Prozeß der Analyse und Abstraktion zu gewinnen: komplexe Vor­ stellungen werden analysiert, durch Abstraktion von allen anderen Vorstellungen, mit denen zusammen die unauflöslichen Begriffe zunächst gegeben sind, gelangt man zu diesen Begriffen selbst.39 Die einfachsten Begriffe sind daher im Unter­ schied zu den bloß unaufgelösten Begriffen der Sinnlichkeit (Farben etc.) der lexi­ kalischen Deutlichkeit fähig.4o Herder greift zur Kennzeichnung dieses doppelten Aspekts der Seinsvorstellung innerhalb des menschlichen Geistes auch auf Humes Begriffe impression und copy zurück: >>Ich möchte meinen Zweck ganz vereiteln, wenn ich um zu beweisen daß das Sein unerklärlich wäre, mit einer Erklärung davon anfinge. Der gemeine B e­ griff, der Eindruck der Natur davon erklärt es gnug, daß man hier ein Realsein, der Begriff den das Ideal- und Existentialsein gemeinschaftlich haben, versteht, dessen Kopie das logische Sein ist; welches sich zu ihm, wie die Symmetrie der Farben zum lebenden Original verhält.« (VS 12) Um eine präzise Fassung der Begriffe Realsein und logisches Sein ist Herder nicht bemüht. Wie aus den Ausführungen Herders über Baumgarten und W olff hervorgeht, bezieht sich Herder mit dieser Unterscheidung offenbar auf die Ver­ wendung der B egriffe real und logisch in Kants Schrift >>Versuch den B egriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen.« (Vgl. VS 1 3 f.)4 1 Kant macht hier von diesen Begriffen einen parallelen Gebrauch zum Zweck einer Einteilung der B egriffe Grund und Opposition in Realgrund und logischen Grund bzw. in Realopposition und logische Entgegensetzung.42 Das Prinzip der logischen Ver­ hältnisse ist der Satz vom Widerspruch bzw. die Regel der Identität. In realen Ver3 6 Vgl. Crusius: Entwurf der nochwendigen Vernunft=Wahrheiten, § 8, S. 1 1 ff. 37 Vgl. VS 20: »Alle äußerlichen Begriffe also werden als sinnliche qua strictissime tales unzer­

gliederlich sein.« 38 Vgl. dazu M. Wundt: Kant als Metaphysiker, Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Philosophie im 1 8. Jahrhundert. Stutegart 1 924, S. 53 f. 39 Vgl. Crusius: Entwurf der nochwendigen Vernunft=Wahrheiten, § 8, S. 1 2 f. 40 Vgl. ebd. 4 1 Vgl. Kant AA 2, S. 1 64 ff. 42 Vgl. ebd., S. 203 .

Der Begriff des Seins

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hältnissen lassen sich i m Unterschied zu den logischen die Beziehungen Entgegen­ setzung, Grund und Folge nicht nach diesen Prinzipien bestimmen. Wenn Herder das Etwas als logisches Sein ansetzt, so heißt das offenbar, hier ist das Sein durch das Wesen des Verstandes, seine Denkbarkeit, bestimmt. (Vgl. VS 12 f.)43 Wie in dem Abschnitt »Vom Sein als einem Begriff>Sokratischen Denkwürdigkeiten« hat Hamann zuerst seine christliche Umdeutung von Humes Theorie des belief präsentiert: >>Unser eigen Daseyn und die Existenz aller Dinge ausser uns muß geglaubt und kann auf keine andere Art ausgemacht werden.Die Einbildungskraft, wäre sie ein Sonnenpferd u. hätte Flügel der Morgenröthe, kann also keine Schöp­ ferirr des Glaubens seyn. «54 Hamann unterlegt Humes Begriff des belief das pauli­ nisch-lutherische Glaubensverständnis, wonach der Glaube nicht als Resultat menschlichen Tuns, sondern allein als Gabe Gottes zu sehen ist.55 Anders als bei 50 Vgl. Hume: Enquiry concerning human understanding, S. 46. 5 1 Vgl. D. Henrich: Kants Denken um 1 762/3 , S. 28, Anm. 73 . 52 Vgl. hierzu: I. Berlin: Hume and the sources of German anti-rationalism. In: David Hume.

Bicentenary papers. Ed. by G.P. Morice. Edinburgh 1 977, S. 93 - 1 1 6; C.W. Swain: Hamann and the philosophy of David Hume. In: Journal of the History of Philosophy 5 ( 1 967), S. 343-35 1 ; R. Lüthe: Misunderstanding Hume. Remarks on German ways of interpreting his philosophy. In: Philosophers of the Scottish enlightenment. Ed. by U. Hope. Edinburgh 1 984, S. 1 05- 1 1 5 . 53 Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten, S . 52. 54 Ebd., S. 53. 55 Vgl. hierzu C.W. Swain: Hamann and the philosophy of David Hume, S. 348; H. Graubner: Theologischer Empirismus. Aspekte der Hume-Rezeption Johann Georg Hamanns. Vortrag gehalten auf der Hume-Conference in Marburg, 1 5 . - 1 9. August 1 988. Unveröffentlichtes Manu­ skript, S. 7.

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Hume kann daher nicht die Einbildungskraft die Quelle des Glaubens darstellen. Hamann setzt den Glauben analog zum »Schmecken und Sehen«,5 6 d.h. Glauben geht aus der unmittelbaren Wahrnehmung der Sinne hervor. Denn die »Sensation« » allein hat eine von den Tätigkeiten des menschlichen Geistes unabhängige, nur empfangene Evidenz, die Hamann deshalb theologisch eine >sinnliche Offenba­ rung< nennt.«57 Ein weiteres wichtiges Element von Hamanns theologischem Sen­ sualismus tritt in der >>Aesthetica in nuce« hervor: die Umdeutung der durch die Sinnlichkeit gelieferten >>Bilder« in ein Universum der Rede, genauer der Anrede Gottes an den Menschen, so daß Erkenntnis als Prozeß der Kommunikation zwi­ schen Mensch und Gott zu verstehen ist.5 8 Hamanns Angriff auf die Philosophie seiner Zeit als Angriff gegen eine ihre eigenen Grenzen verkennende sich selbst verabsolutierende Vernunft macht sich die aus Humes skeptischer Einsicht hervorgehende und diese festschreibende Theorie des belief zunutze. Diese Theorie wird j edoch christlich umgedeutet, so daß das, was bei Hume als natürliche Bedingung der menschlichen Existenz er­ scheint, die Grenzen empirischer Erkenntnis und ihre Kompensation durch die von der Natur mitgegebenen Vorstellungen des belief, bei Hamann als Zeichen der christlich verstandenen Endlichkeit qua Geschaffenheit fungiert. 59 Es liegt auf der Hand, daß Herder diese christliche Wendung nicht nachvoll­ zieht. Herder hält sich wesentlich näher an Hume, wenn er das Resumee seiner Ü b erlegungen zieht: »Das Sein unerweislich - Kein Dasein Gottes erweislich. Kein Idealist zu widerlegen - alle Exsistentialsätze, der größte Teil der menschlichen Erkenntnis nicht zu beweisen - o alles ungewiß, nein nicht ungewiß, auch nicht im Erweise ungewiß: sondern gewiß und gar nicht zu erweisen.« (VS 1 9) Die skepti­ sche Position ergibt sich nur für die »überstudierten Philosophen«, die sich lächer­ lich machen, indem sie Zweifel pflegen, wo die Natur längst überzeugt hat. (VS 1 9) Herder plädiert mithin für den natürlichen Menschen, der als Korrektiv gegen die aus der Mißachtung der conditio humana »Scheinprobleme« produzierende Philo­ sophie ins Feld geführt wird. 6 0 Gegen eine solche ihre eigenen Prämissen verken­ nende Philosophie als demonstrative Wissenschaft stellt sich Herders subj ektive Philosophie, deren Rationalität paradox formuliert gerade darin besteht, daß sie die Irrationalität des menschlichen Wissens nicht leugnet, sondern zum Ausgangs­ punkt einer philosophischen Klärung dieses Faktums und seiner Konsequenzen macht. Indem Herder Humes Einsichten in die Grenzen menschlicher Erkenntnis von ihren skeptischen Konsequenzen trennt, weist er der Philosophie ein neues Arbeitsfeld zu: die vorurteilslose Aufklärung über die Organisation des endlich­ menschlichen Subj ekts und die daraus bestimmten Grenzen und Möglichkeiten. 56 57 58 59 60

Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten, S. 5 1 . H . Graubner: Theologischer Empirismus, S . 7. Vgl. ebd., S. 9. Vgl. C.W. Swain: Hamann and the philosophy of David Hume, S. 348. Vgl. hierzu M. Baum: Herder' s essay on being, S. 1 37. Baum weist zu Recht auf die Nähe zu Rousseau hin.

Die Begriffe Raum, Zeit und Kraft

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»Einziehung der Philosophie auf Anthropologie« lautet die wenig später gefun­ dene programmatische Formel. 6I 4. Die B egriffe Raum, Zeit und Kraft

Herder greift hinsichtlich der Begriffe Raum, Zeit und Kraft auf den vorkritischen Kant zurück. Kant seinerseits stützt sich ganz offensichtlich auf Crusius . Nach der Lehre des Crusius sind unsere ersten Gedanken Empfindungen, aus diesen sind alle unsere Vorstellungen abstrahiert. 62 Empfindung wird definiert als >>derj enige Zustand unsers Verstandes, da wir etwas unmittelbar als existirend zu denken ge­ zwungen sind, ohne daß wir es erst durch Schlüsse zu erkennen brauchen [ . . . ] « .63 Die Ontologie gelangt zur Definition des Begriffs der Existenz, indem sie den in der Empfindung liegenden Begriff des Wesens absondert und so das, »was für die Existenz übrig bleibet« zum Gegenstand der Untersuchung macht. 64 Nach dem Grundsatz des Nichtzutrennenden ist für Crusius der Begriff der Existenz »dasj e­ nige Prädicat eines Dinges, vermöge dessen es auch ausserhalb der Gedanke irgendwo und zu irgend einer Zeit anzutreffen ist. « 6 s Für Crusius ist wie für Wolff der Gedanke der Existenz etwas, was zu der im Wesen erfaßten Möglichkeit eines Dinges (interna possibilitas) hinzukommt; das, was hinzukommt, ist jedoch nicht eine Anzahl weiterer Prädikate, wodurch das Wesen zu dem, was allein existieren kann, nämlich einem Individuum, vervollständigt würde, 66 sondern das Hinzu­ kommende ist der Gedanke des Subsistierens in Raum und Zeit. Das Wirkliche ist im Unterschied zum Möglichen dadurch bestimmt, daß es nicht nur im Verstande ist (inesse intellectui), sondern auch außerhalb des Verstandes; dieses »außerhalb« ist positiv bestimmt als >>esse alicubi & aliquando«.67 Raum und Zeit sind weder Substanzen noch inhärierende Eigenschaften, sofern diese Begriffe nämlich aus dem B egriff des metaphysischen Wesens abstrahiert sind, sondern sie sind Ab­ stracta der Existenz, d.h. Umstände, die aus der Existenz aller vollständigen Dinge zu abstrahieren sind. Sofern Gott die ewige und notwendige Existenz ist, kommen ihm auch diese Abstracta allezeit . zu; Raum und Zeit sind insofern zu denken als die den endlichen Dingen vorhergehende Möglichkeit des Neben- und Nachein­ anderseins. 68 In Crusius ' Einteilung der Begriffe nach ihrer Deutlichkeit gehört der Begriff der Existenz zu den auflösliehen Begriffen, da er in die Begriffe inesse, ubi 61 62 63 64 65

Vgl. Philosophie zum Besten des Volkes, DKV 1, S. 132. Vgl. Crusius: Entwurf der nochwendigen Vernunft=Wahrheiten, § 45, S. 73. Ebd., § 1 6, S. 2 8 . E b d . , § 45, S. 73. Ebd., § 46, S. 73 . Von Kant wurde diese Bestimmung kritisiert. Vgl. Kant AA 2 8. 1 , S. 130; AA 2, 76 f. 66 Vgl. Wolff: Ontologia, § 1 74; Deutsche Metaphysik, 2. Kap., §§ 1 3 - 1 5 ; zum Unterschied des Existenzbegriffs von Wolff und Baumgarten vgl. A. Maier: Kants Qualitätskategorien. Berlin 1930 (Kam-Studien. Ergänzungshefte; 65), S. 1 8 f. 67 Crusius: Entwurf der nochwendigen Vernunft=Wahrheiten, § 47, S. 76. 68 Vgl. ebd., § 5 1 , S. 82 ff.

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und quando zu zergliedern ist; diese Begriffe selbst gehören zu den ganz aufgelö­ sten einfachen Grundbegriffen.69 Eine Zusammenstellung der Begriffe Raum, Zeit und Kraft findet sich in Cru­ sius ' >>Entwurf [ . . . ) >Äußerlichkeit unserer Begriffe« : »Bloß unsere Fesseln, die Äußerlichkeit unserer B egriffe machts, daß ein j edes die­ ser Sein das ubi und quando bei sich haben: - reden wir aber von Wesen über­ haupt, ohne darauf zu sehen obs Teile eines Ganzen, 81 sind, von dem sie die Be­ griffe b ekommen, so muß man von diesem zwiefachen Sein das Gemeinschaftliche beider Begriffe abstrahieren, so wie wirs getan haben.« (VS 2 1 ) Die Notwendigkeit, Vorstellungen als durch Raum, Zeit und Kraft z u einem Ganzen verbunden zu denken, ergibt sich nur für einen Verstand, der nicht durch seinen inneren Sinn schon über das Ganze verfügt. Für einen solchen Verstand wären anders als für den menschlichen die Gesetze der Analysis, der Satz vom Widerspruch und der Satz der Identität zugleich Gesetze des realen Zusammen­ hangs der Dinge. Wenn die Dinge nicht aus dem Prinzip ihrer Möglichkeit erkannt werden können, dann ist einzig die Erkenntnis ihrer Verhältnisse zueinander und zu dem vorstellenden Ich möglich. In seinen Auszügen und Bemerkungen zu Sul­ zers Ausgabe von Humes »Enquiry« macht Herder diesen Gedanken deutlich: der einzige für Gott gegebene Begriff ist der Begriff seines Seins, durch ihn hat er den Gedanken des Universums; für den Menschen, dessen Begriffe a posteriori gege­ ben sind, ist der B egriff des Seins >>angeboren, bleibt unzergliederlich und nach ihm folgen Raum, Zeit und Kraft, die sich nicht ganz zergliedern lassen, weil sie ganz sinnliche Beziehungen sind.«82 Herder erwägt daher, Humes Assoziations-

76 Vgl. Kant AA 17, Refl. 3716, S. 258. 77 Vgl. ebd., S. 256. 7 8 Vgl. K. Reich: Kants Behandlung des Raumbegriffs in den »Träumen eines Geistersehers«

und im »Unterschied der Gegenden im Raum«, Einleitung zu I. Kant: Träume eines Geistersehers. Der Unterschied der Gegenden im Raum. Hrsg. v. K. Reich. Harnburg 1 975, S. XI; vgl. auch Herders Metaphysiknachschrift in Kant AA 28, S. 1 6 1 f. 79 Vgl. Herders Metaphysiknachschrift in Kant AA 28. 1 , S. 1 3 8 ; AA 28.2. 1 , S. 888, 914, 9 1 7. 80 Vgl. außer den in der vorigen Anmerkung genannten Hinweisen Kants »Einzig möglicher Beweisgrund [ . . . ]«, AA 2, S. 34-37. 81 Dieses Komma ist wohl als Druckfehler anzusehen. 82 Auszüge und Bemerkungen zu »Philosophische Versuche über die Menschliche Erkenntniß von David Hume, Ritter.« Vgl. Anm. 3 .

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prinzipien resemblance, contiguity, cause or effect8 3 durch die Begriffe Raum, Zeit und Kraft zu ersetzen. 84 5 . Auseinandersetzung mit Baumgarten und Wolff in Hinsicht auf den Begriff des Seins Um ex negativo eine Bestätigung für seine These zu finden, daß der Begriff des Seins der erste unauflösbare Grundbegriff ist, führt Herder »einige Irrwege der Philosophen>Einzig möglichen B eweisgrundes [ . . . ]« durch das Formale oder Logische der Möglichkeit qua Widerspruchsfreiheit, im zweiten Falle nach Kantischer Terminologie durch das Reale der Möglichkeit, durch das Etwas qua gegebene Materie der Möglichkeit.85 Das heißt, Herder systematisiert die Definitionen auf dem Boden von Kants B egrifflichkeit im »Einzig möglichen Beweisgrund [ . . . ]« und bedient sich auch, wie noch zu zeigen ist, in seiner Kritik daran weitgehend der Argumente Kants und Crusius ' . Herders Kritik an der Definition des aliquid läuft darauf hinaus zu zeigen, daß das aliquid qua nonnihil nicht durch Negation des Nichts zu gewinnen ist, wie es bei B aumgarten geschieht.S6 Das vorausgesetzte Nichts ist von B aumgarten bean­ sprucht als das logische Nichts qua Widersprüchlichkeit, aus dessen Negation sich das Etwas als das Nichtwidersprüchliche, Denkbare, Mögliche ergibt. Herder ar­ gumentiert dagegen (vgl. VS 13 f.): Der Gegensatz zum logischen Nichts ist nicht das Etwas, sondern die Widerspruchsfreiheit. Logisches Nichts und logische Mög­ lichkeit setzen aber das Etwas als die gegebene Denkmaterie, die in diesen logi­ schen Verhältnissen stehen kann, schon voraus. Und dieses Etwas kann seinerseits nicht durch die Negation seines Gegensatzes qua Nichts erklärt werden, denn der 8 3 Vgl. Hume: Enquiry concerning human understanding, S. 24. 84 Vgl. Auszüge und Bemerkungen zu »Philosophische Versuche über die Menschliche

Erkenntniß von David Hume, Ritter.«, S. 6. 8 5 V gl. Kant AA 2, S. 77 f. 8 6 Vgl. Baumgarten: Metaphysica, §§ 7, 8.

Auseinandersetzung mit Baumgarten und Wolff

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Gegensatz zum Etwas ist die Aufhebung des Materialen der Möglichkeit. D i e Auf­ hebung des Materialen der Möglichkeit macht aber nach Kam das Denken über­ haupt unmöglich. Wenn also das logische Nichts das Etwas bereits voraussetzt und dieses nicht aus der Negation seines Gegenteils herzuleiten ist, vielmehr zur B edin­ gung irgend etwas Existierendes hat, dann ist erwiesen, daß der Begriff des Etwas den B egriff des Seins und nicht den Begriff des Nichts zur Voraussetzung hat. 8 7 Ging es im ersten Stück also in erster Linie darum zu zeigen, daß der Begriff des Logischen der Möglichkeit bereits das Materiale der Möglichkeit zur Bedingung hat und dieses nicht aus logischen Verhältnissen erschließbar ist, so geht es im zweiten Stück um den Nachweis, daß der Begriff der Realmöglichkeit den B egriff des Seins zur Bedingung hat und nicht als Grund des Seinsbegriffs gelten kann, wie es in Wolffs Definition der Existenz als complementum possibilitatis vorgestellt ist, sofern Existenz hier als Vervollständigung der im Begriff gedachten realitas gefaßt ist. 88 Die Kritik an dieser Definition greift nicht auf Kants Kritik im »Einzig möglichen Beweisgrund [ . . . ]« zurück. Herder geht vielmehr von der Untersu­ chung des Ursprungs des Begriffs der Realmöglichkeit aus, um mit Crusius zu zei­ gen, daß dieser Begriff den Begriff des Seins zur Voraussetzung hat. Nach Herder ist der B egriff der Realmöglichkeit von >>sinnlichen Menschen« anläßlich von Wahrnehmungen gebildet worden, die von den gewohnten Wahrnehmungsverbin­ dungen abweichen. >>Hier sahe man aus Gründen unerwartete Wirkungen entste­ hen. Dort gewiß erwartete fehlen: Man erstaunte zuerst da man es aber öfters wahrnahm: sann man auf die Ursache nennte das Unbemerkte in der Ursache Kraft, und die Beziehung zwischen beiden die Möglichkeit und die fehlende Beziehung eine Realunmöglichkeit.« (VS 1 5) Herders Genealogie des Begriffs der Realmöglichkeit hält sich weitgehend an Crusius, der die reale Möglichkeit von der bloß metaphysischen Möglichkeit als der Möglichkeit im Verstande unterscheidet und durch den Begriff der Kausalität bzw. Kraft definiert: »Denn da [in der Metaphysik] heisset die Möglichkeit dasj e­ nige Prädicat eines Dinges, vermöge dessen es gedacht wird, aber noch nicht existi­ ret, oder von dessen Existentz noch abstrahiret wird. Die Realität der Möglichkeit solcher Dinge, die noch nicht sind, bestehet darinnen, daß Ursachen vorhanden sind, welche die Kraft haben ihnen die Existentz zu geben.« 8 9 Indem Herder den Begriff der Realmöglichkeit durch den Begriff der Ursache definiert und die Entstehung dieser Begriffe empiristisch als Abstraktionen im

8 7 Herder bezieht sich mit dieser Argumentation auf Kam: »Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes«, zweite Betrachtung, AA 2 , S. 77 ff. und auf Kams Schrift »Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen«, AA 2, 1. Ab­ schnitt, S. 1 7 1 ff. Eine ähnliche Kritik an Baumgarten findet sich in Herders Denkschrift »Über Baumgartens Denkart«, SWS XXXI I, S. 1 80 f. 88 Auch Kam kritisiert Wolffs und Baumgartens Existenzbegriffe, vgl. AA 2, S. 76. 89 Crusius: Weg zur Gewißheit und Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenmniß, § 364, S. 646; vgl. auch die Definition von Kraft in Crusius: Entwurf der nothwendigen Vernunft=Wahr­ heiten, § 29, S. 45 f.; zum Begriff der Möglichkeit vgl. ebd., § 56, S. 94 ff.

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Ausgang von Wahrnehmungen deutet,90 gelangt er hinsichtlich des Verhältnisses der B egriffe Möglichkeit und Sein zu derselben Antwort wie Crusius, daß nämlich der Begriff des Möglichen das Wirkliche in zweifacher Hinsicht zur Vorausset­ zung hat, sowohl der Sache als auch der Erkenntnis nach. Bei Crusius heißt es: »Es verdienet aber angemercket zu werden, daß, ungeachtet in dem B egriffe des mögli­ chen weniger ist als in dem Begriffe des wircklichen, dennoch der Begriff des wircklichen so wohl der Natur nach, als unserer Erkenntnis nach eher sey, als der Begriff des möglichen. Ich sage erstlich, daß er der Natur nach eher sey. D enn wenn nichts wirckliches wäre: So wäre auch nichts mögliches, weil alle Möglich­ keit eines noch nicht existirenden Dinges eine Causal-Verknüpfung zwischen einem existirenden und zwischen einem noch nicht existirenden Ding ist. Ferner ist auch unserer Erkenntniß nach der Begriff des wircklichen eher, als der Begriff des möglichen. Denn unsere ersten Begriffe sind existirende Dinge, nehmlich Empfindungen, wodurch wir erst hernach zu dem Begriffe des möglichen gelangen müssen. Ja wenn man auch gleich aufs schärffste a priori meditieren will: So ist doch der Begriff der Existenz eher, als der Begriff der Möglichkeit. Denn zu dem B egriffe der Existenz brauche ich nur die einfachen Begriffe der Subsistenz, des Nebeneinander und der Succeßion. Hingegen zu dem Begriffe der Möglichkeit habe ich den Begriff der Causalität, Subsistenz und Existenz von nöthen.Einzig möglichem Beweisgrund« Im zweiten Kapitel, das die Ü berschrift trägt »Vom Sein als dem Glied eines Satzes«, setzt sich Herder kritisch mit Kants Schrift »Vom einzig möglichen B eweisgrund [ . . . ]« auseinander. Zunächst stellt Herder seine eigene Theorie von Existentialsätzen vor. Diese Sätze weisen die Besonderheit auf, daß ihnen ein Prä­ dikat im logischen Sinne fehlt, auch wenn man ihnen explizit ein grammatisches der Art »ist existent« gibt. Logisches Prädikat ist für Herder ein Partialbegriff des Subj ektbegriffes, der insgesamt als ein »bloß logisches Geschöpf, eine B eziehung der Begriffe nach der logischen Möglichkeit [ . . . ]«92 begriffen ist. Ü bereinstimmend mit Kant ist Herder demnach der Ansicht, daß Existenz ein Begriff ist, der nicht auf dem Wege der Analyse des Subj ektbegriffs zu gewinnen ist. Und sofern Kant in der Schrift »Der einzig mögliche Beweisgrund [ . . . ]« den Begriff des Prädikats mit einer Ausnahme93 gleichbedeutend mit dem, was in der Kritik der reinen Ver90 Vgl. Humes Ausführungen zur Genese des Kraftbegriffs: Enquiry concerning human under­ standing, S. 1 03 f. 9 1 Crusius: Entwurf der nothwendigen Vernunft=Wahrheiten, § 56, S. 98 f. 92 V gl. dazu Kant: Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, AA 2, S. 75: »Sogar ist in der bloßen Möglichkeit nicht die Sache selbst, sondern es sind bloße Beziehungen von Etwas zu Etwas nach dem Satze des Widerspruchs gesetzt [ . . . ]« 93 Existenz wird als Prädikat bezeichnet in AA 2, S. 9 f.: »Es ist aber das Dasein in den Fällen, da es im gemeinen Redegebrauch als ein Prädikat vorkommt, nicht sowohl ein Prädikat von dem Dinge selbst als vielmehr von dem Gedanken, den man davon hat. « D.h. Dasein ist ein Metaprädi­ kat.

Herders Kritik an Kant

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nunft reales Prädikat heißt,94 verwendet, also Prädikat und sachhaltige B estim­ mung gleichsetzt, stimmt Herder auch darin mit Kant überein, daß das Sein »kein Partialbegriff des Subj ekts und also auch kein Prädikat ist« . (VS 1 7) Auf der Basis dieser B egriffsklärungen folgert Herder unter Voraussetzung der Leibniz-W olff­ schen Urteilstheorie die Unbeweisbarkeit von Existentialsätzen. (Vgl. VS 1 7) Ein Satz wird bewiesen, indem das Enthaltensein des Prädikatbegriffs der Konklusion im Subj ektbegriff der Major vermittelst seines Enthaltenseins im Prädikatbegriff der Minor, der seinerseits als Teil des Subj ektbegriffs gesetzt wird, aufgezeigt wird. Wenn Sein überhaupt kein Prädikat ist, entfällt j ede Möglichkeit eines Beweises von Existentialsätzen.95 Auch in der Widerlegung dieser Art von Existenzbeweisen folgt Herder Kant, obwohl er sich nicht dessen Begriff von Dasein als absoluter Position zu eigen macht. Abweichend von Kant vertritt Herder allerdings die weitergehende These, Exi­ stenz sei ein empirischer Begriff und daher könne keinerlei Existenzbeweis a priori geführt werden. ( Vgl. VS 1 7) Diese These widerspricht unmittelbar Kants Versuch eines neuen Gottesbeweises im >>Einzig möglichen Beweisgrund [ . . . ] wodurch alle Möglichkeit überhaupt aufgehoben wird«;96 in der Realerklärung werden zwei Bedingungen genannt, unter denen dies der Fall ist, nämlich erstens wird durch das, was sich selbst widerspricht, das Formale der Möglichkeit aufge­ hoben, und zweitens wird durch die Aufhebung alles Daseins das Materiale der Möglichkeit aufgehoben,97 Im Unterschied hierzu schränkt Herder den Begriff des schlechterdings Unmöglichen auf den ersten Fall ein: »Keine innere Möglichkeit scheint mit einer absoluten Unmöglichkeit nicht einerlei zu sein weil die Vernei­ nung der Möglichkeit das Materiale aufhob, und die Unmöglichkeit beides mate­ rialiter setzt, und nur im Aufheben formaliter die Repugnanz besteht.« (VS 1 8) Offensichtlich greift Herder auf den Gedanken Kants, daß das Formale oder Logische der Möglichkeit einen Inhalt zur Voraussetzung hat, der in der B ezie­ hung des Widerspruchs oder der Übereinstimmung gedacht wird, zurück, wendet diesen aber gegen Kants Begriff des schlechterdings Unmöglichen. Wenn das Materiale der Möglichkeit Voraussetzung der Unmöglichkeit qua Widersprüch­ lichkeit ist, dann wird mit der Aufhebung des Materialen der Begriff des Unmögli­ chen unmöglich; folglich ist es sinnlos, diese Verneinung des Materialen unmöglich zu nennen. Mit dieser B edeutungsverengung des Begriffs der Unmöglichkeit ver94 Zur Unterscheidung logisches Prädikat - reales Prädikat vgl. KrV, B 626. 95 Herder greift in diesem Abschnitt auf Humes skeptische Einwände hinsichtlich der Tatsa­

chenerkenntnis zurück. Hume unterscheidet die Gegenstände menschlicher Erkenntnis in »relat­ ions of ideas« und »matters of fact«, nur die Vorstellungsbeziehungen sind demonstrativer Gewiß­ heit fähig. Tatsachen hingegen sind keines Beweises fähig, weil das Gegenteil ihrer möglich bleibt. V gl. Hume: Enquiry concerning human understanding, S. 25 ff. 96 Kam AA 2, S. 79. 97 Vgl. ebd.

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folgt Herder die Intention, das Erschließen des Materialen der Möglichkeit bzw. eines Existierenden als dessen Bedingung als falsch zu erweisen. Denn in Kants B eweis spielt der Begriff des absolut Unmöglichen eine zentrale Rolle, sofern der B egriff des schlechterdings Notwendigen darüber definiert ist: »Schlechterdings nothwendig ist, dessen Gegentheil an sich selbst unmöglich ist.«9 8 Wenn Herder den B egriff des schlechterdings Unmöglichen eingeschränkt auf das, was das For­ male der Möglichkeit aufhebt, verwendet, dann entfällt die Möglichkeit, vermit­ telst des indirekten Beweises dasj enige als absolut notwendig zu beweisen, wo­ durch alle Materie der Möglichkeit aufgehoben würde. Vereinfacht läßt sich Herders Argumentation so zusammenfassen: Der Begriff des schlechterdings Un­ möglichen hat das Materiale der Möglichkeit zur Voraussetzung, Unmöglichkeit kann nicht durch die Verneinung des Materialen definiert werden. Wenn dasj enige nicht ein schlechterdings Unmögliches genannt werden kann, wodurch alles Mate­ riale der Möglichkeit aufgehoben wird, dann kann auch dessen Gegenteil nicht als schlechterdings notwendig behauptet werden. Es liegt auf der Hand, daß diese Kritik Kants Beweis nicht gerecht wird. Das entscheidende Beweisargument der II. Betrachtung, Ziffer 2, es sei ein Wider­ spruch, >>daß irgendeine Möglichkeit sei und doch garnichts Wirkliches«, indem nämlich durch dessen Aufhebung auch zugleich alles Denkliche, alle >>Data zu ge­ denken« aufgehoben würde, wird von Herder gar nicht berührt.99 Es ist auch klar, daß Herders Kritik im wesentlichen auf einer Verwendung des Begriffs des Un­ möglichen fußt, die Kants Terminologie zuwiderläuft. Zugleich stützt sich Herder in seiner Kritik auf zentrale Argumente aus dem »Einzig möglichen Beweisgrund« . D i e Frage ist, ob Herder einfach Unverständnis gegenüber Kants Argumentation an den Tag legtl OO oder ob eine Strategie der Kritik ausgemacht werden kann. Herder macht den Gedanken, daß das Formale der Möglichkeit bereits ein gegebe­ nes D enkliebes voraussetzt, doch vermutlich deshalb so stark, weil damit etwas Prinzipielleres gesagt sein soll: Alle logischen Beziehungen beruhen bereits auf dem Gegebensein von Etwas und demzufolge ist es prinzipiell unmöglich, Exi­ stenz als Bedingung der Denkmaterie a priori zu erschließen, denn sofern ein Schluß eben auch ein logisches Verhältnis von Begriffen ist, muß hierfür schon Denkliebes gegeben sein. In diesem Sinne ist wohl der resümierende Satz zu ver­ stehen: »Man lasse sich also die Lust vergehen, die Exsistentialsätze vom Dasein Gottes zu demonstrieren: da die Exsistenz: Etwas in die Prämisse kommen muß.« (VS 1 9) Herder widerlegt also Kants Beweis nicht, sondern konfrontiert ihn mit der empiristischen These, daß hinter das Gegebensein von Vorstellungen nicht 9 8 Kant AA 2, S. 8 1 . 9 9 Zur Analyse des Beweisgangs i n »Der einzig mögliche Beweisgrund z u einer Demonstration

des Daseins Gottes« vgl. K. Reich: Kants einzig möglicher Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes. Ein Beitrag zum Verständnis des Verhältnisses von Dogmatismus und Kriti­ zismus in der Metaphysik. Leipzig 1 937. Vgl. auch Reichs Einleitung zu: I. Kant: Der einzig mög­ liche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes. Mit einer Einleitung u. Registern neu hrsg. v. K. Reich. Harnburg 1 963, S. VII-XXIX. 100 In den Vorlesungsnachschriften gibt Herder Kants Beweisführung korrekt wieder. V gl. Kant AA 28. 1 , S. 1 3 0 ff.; AA 28.2 . 1 , S. 9 1 3 ff.

Zusammenfassung und Ausblick

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durch das Denken, das selbst erst dadurch möglich wird, zurückgegangen werden kann. Es handelt sich also darum, Kants Argumentation ad absurdum zu führen, indem auf die unhintergehbare, nicht rational zu erschließende B edingung aller Rationalität abgehoben wird. IOI

7. Zusammenfassung und Ausblick Der »Versuch über das Sein« ist die Schrift Herders, in der sich am stärksten der Einfluß Humes geltend macht. Schon das Programm einer subj ektiven Philosophie verweist auf Humes Konzeption der Philosophie des Geistes, die in Analogie zu Newtons Physik die vorurteilsfreie Beschreibung und Analyse der Natur des menschlichen Geistes, seiner Kräfte und der Gesetze ihres Wirkens zur Aufgabe hat. I02 Wie Hume geht es Herder darum zu klären, auf welche Weise sich mensch­ liche Erkenntnis vollzieht, und zu untersuchen, ob und inwieweit das menschliche Erkennen obj ektive Gültigkeit beanspruchen kann. Sowohl der Naturalismus oder Anthropologismus Humes als auch die skeptische Bestimmung der Grenzen menschlicher Erkenntnismöglichkeit schlagen sich in Herders philosophischem Erstlingswerk nieder. Charakteristisch für den >>Versuch über das Sein>nebst diesem Sein was Indi­ viduelles was im 1 sten ubi, im 2ten quando und im 3ten per heißtPlato sagte [ . . . ] >auszuwickeln«, befolgt Kant das von ihm selbst in der Schrift » Über die Deut­ lichkeit [ . . . ]« als Methode der Philosophie dargestellte Verfahren der »Analyse«: »so halte ich meinen schlecht verstandenen Begriff an allerlei Fälle der Anwen1 2 Vgl. K. Reich: Über das Verhältnis der Dissertation und der Kritik der reinen Vernunft und die Entstehung der Kamischen Raumlehre. Einleitung zu Kant: De mundi sensibilis atque intelli­ gibilis forma et principiis I Über die Form und die Prinzipien der Sinnen- und Geisteswelt. Hrsg. v. K. Reich. Harnburg 1 958, S. XIV f. 1 3 Vgl. die Rezension von Mendelssohn in der »Allgemeinen Deutschen Bibliothek«, Bd. 4, 2. St. ( 1 767), S. 2 8 1 : »Der scherzende Tiefsinn, mit welchem dieses Werkchen geschrieben ist, läßt den Leser zuweilen in Zweifel, ob Hr. Kant die Metaphysik hat lächerlich oder die Geisterseherei glaubhaft machen wollen. « 1 4 Was Herders Monitum beweist: »Das Ganze der Schrift dörfte nicht gnug Einheit, u n d ein Theil nicht gnug Beziehung auf den andern haben.« (SWS I, 1 30) 15 Wegen dieses Mißverständnisses kann Herder Kant selbst vorwerfen, er bleibe nicht genug »bey Datis« (SWS I, 1 29).

Geist und Materie

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dung, und dadurch, daß ich bemerke, auf welchen e r trifft und welchem e r zuwider ist, verhoffe ich dessen verborgenen Sinn zu entfalten«. t6 Inhaltlich geht es um die Abgrenzung von Geist und Materie. Schon die »Phy­ sische Monadologie« von 1 756 zeigt, daß Kant in der Auffassung der Monaden der Position Wolffs nahesteht, der Leibniz' Monadenlehre deutlich in Richtung einer Rückkehr zum Cartesischen Dualismus verändert hatte. 1 7 Nach Wolff ist auch den Körpern der Rang von Substanzen, wenn auch abgeleiteten, zuzusprechen. Nicht j ede Monade ist vis repraesentativa, es gibt auch >>elementa rerum naturalium«, >>atomi naturae« genannt, die keine Perzeptionen haben.ts Mit der Konzeption von zwei verschiedenen Kräften, einer >>vis repraesentativa« der Seelen und einer >>vis motrix« der Körper, nähert sich Wolff Descartes ' Dualismus an.t9 In der >>Physischen Monadologie« 20 nennt Kant zwei Klassen von Monaden, ohne sich j edoch über den Unterschied näher zu erklären. Zum Begriff der Monade, die als einfache Substanz definiert wird, 2 t die nicht aus einer Mehrzahl von Teilen besteht, von denen einer ohne die anderen existieren kann, lautet die Anmerkung: »Weil es der Plan meines Vorhabens ist, nur über die Klasse der ein­ fachen Substanzen B etrachtungen anzustellen, die ursprüngliche Teile von Kör­ pern sind, so erinnere ich im voraus daran, daß ich im Folgenden die Begriffe der einfachen Substanzen, Monaden, Elemente des Stoffes und ursprünglichen Teile des Körpers als gleichbedeutend gebrauchen werde«. 22 In den »Träumen eines Geister16 Kant AA 2, S. 320. 1 7 Zum Begriff der Monade bei Leibniz vgl. W. Janke: Leibniz. Die Emendation der Metaphy­

sik. Frankfurt 1 963, S. 9-89; zur Veränderung der Monadologie innerhalb der Schulphilosophie, siehe H. Heimsoeth: Atom, Seele, Monade. Mainz 1 960, S. 77- 127; H. Poser: Zum Begriff der Monade bei Leibniz und Wolff. In: Akten des II. Internationalen Leibniz-Kongresses 1 975 (Studia leibnitiana. Supplementa; 1 4), S. 383-395; M. Casula: Die Lehre von der prästabilierten Harmonie in ihrer Entwicklung von Leibniz bis A.G. Baumgarten. In: Akten des II. Internationalen Leibniz­ Kongresses 1 975 (Srudia leibnitiana. Supplementa; 1 4), S. 397-4 14. 18 Vgl. Wolff: Psychologia Rationalis. Frankfurt 1 740. Nachdruck, hrsg. u. bearbeitet v. J. Ecole. Hildesheim 1 972, § 644; Cosmologia Generalis. Frankfurt 21 737. Nachdruck, hrsg. u. bear­ beitet v. J. Ecole. Hildesheim 1 964, §§ 1 86, 1 87. 1 9 Vgl. Wolff: Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik II, §§ 2 1 5 , 25 1 . Eine Rückkehr zum Leibnizianismus vollzieht A.G. Baumgarten, so daß man von einer durch Baumgarten hervorgeru­ fenen, gegen den Wolffianismus gerichteten Leibniz-Renaissance um die Mitte des Jahrhunderts sprechen kann. Vgl. A. Bäumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 1 8 . Jahrhunderts. Halle 1 923. Nachdruck Darmstadt 1967, S. 233. 2 0 Zu Kants Monadenlehre vgl. H. Heimsoeth: Atom, Seele, Monade, Kap. XVI; E. Adickes: Kant als Naturforscher, Bd. 1, Berlin 1 925, II. Abschnitt; K. Vogel: Kant und die Paradoxien der Vielheit. Die Monadenlehre in Kants philosophischer Entwicklung bis zum Antinomienkapitel der Kritik der reinen Vernunft. Meisenheim 1 975. 21 Vgl. Kant: Monadologia Physica. In: Werke in sechs Bänden. Hrsg. v. W. Weischedel. Darmstadt 1 975, Bd. 1, S. 523. 22 Ebd., Anmerkung. Den Unterschied zwischen Leibniz' und Kants Monadenlehre faßt E. Adickes in folgenden Punkten zusammen: 1. statt der Lehre von der prästabilierten Harmonie vertritt Kant einen influxus physicus; 2. die physischen Monaden sind nicht mehr unserer Sinnlichkeit nur in räumlichen Verhältnissen Erscheinendes, sondern wirkliche, den Raum erfüllende Substanzen; 3. Ziel der Umbildung ist es, durch die mit Attraktions- und Repulsionskraft ausgestatteten Mona­ den Newtons Atombegriff zu ersetzen. Vgl. E. Adickes: Kant als Naturforscher, S. 1 64.

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Kapitel II · »Träume eines Geistersehers«

sehers « präsentiert Kant die folgende schon in Herders Vorlesungsnachschriften aufgeführte Unterscheidung von monades materiales und immateriales: »Wesen also, welche die Eigenschaft der Undurchdringlichkeit nicht an sich haben, und deren so viele, als man auch will, vereinigt niemals ein solides Ganze ausmachen. Einfache Wesen von dieser Art werden immaterielle Wesen und, wenn sie Ver­ nunft haben, Geister genannt werden. Einfache Substanzen aber, deren Zusam­ mensetzung ein undurchdringliches und ausgedehntes Ganze giebt, werden mate­ rielle Einheiten, ihr Ganzes aber Materie heißen« .23 Wichtig an dieser Unterscheidung ist, wie Herder hervorhebt, daß die immate­ riellen Substanzen bloß negativ und äußerlich von den materiellen abgegrenzt sind. Materielle und immaterielle Substanzen sind nach Kant in zwei verschiedenen Hinsichten zu betrachten: hinsichtlich ihres inneren Zustandes und hinsichtlich ihrer äußeren Relationen. 24 Der innere Zustand unserer selbst ist durch die innere Erfahrung bekannt, und per Analogieschluß sprechen wir allem Lebendigem, d.h. allem, was sich wie wir selbst bewegt, eben dieselben Kräfte zu, die wir in uns ausmachen: Denken und Begehren. 25 Von dem inneren Zustand der materiellen Monaden fehlt eine gesicherte Erkenntnis; Leibniz' Hypothese, auch den Elemen­ ten der Materie dunkle Vorstellungen zuzusprechen, nimmt Kant als in hohem 23 Vgl. Kant AA 2, S. 3 2 1 ; dies wird auch so formuliert: die Geister können zwar einen Raum einnehmen, aber ihnen fehlt die Eigenschaft, einen Raum zu erfüllen. Vgl. ebd. S. 323. Vgl. Meta­ physik-Nachschrift Herders, AA 28 . 1 , S. 47: »Es gibt also einfache Substanzen, deren viel zusam­ mengenommen eine Materie ausmachen: andere die nicht eine Materie ausmachen können. jene sind monades materiales; diese immateriales«. Materie ist definiert als extensum impenetrabile. V gl. ebd. 24 Nach Vogel unterscheidet Kant zwischen inneren Kräften (leibnizisch: denominatio intrin­ seca) und äußerer Kraft (denominatio extrinseca) und erklärt, innere Kräfte seien grundsätzlich unerkennbar. Vgl. K. Vogel: Kant und die Paradoxien der Vielheit, S. 235 ff. Seine Darstellung ist im übrigen korrekturbedürftig: 1. Schon in den Metaphysik-Nachschriften Herdcrs unterscheidet Kant anders als Leibniz zwi­ schen Kraft und Substanz: »Das substantiale enthält den ersten Realgrund aller inhaerierenden Accidentien es ist keine sondern hat eine Kraft: diesen ersten Realgru nd können wir nie einse­ hen.« (AA 2 8 . 1 , S. 25) Weil im nexus des Realgrundes mit der Realfolge etwas durch etwas ande­ res gesetzt wird, kann dieses Verhältnis nicht nach der Regel der Identität eingesehen werden. Die Substanz kann durch den Begriff der Kraft nur hinsichtlich ihres respectus zu den Acciden­ tien gedacht werden. Wie diese Kraft zu bestimmen ist, kann nur durch Erfahrung erkannt wer­ den. Vgl. ebd. S. 24. 2. Das Verhältnis des Realgrundes zu den Accidentien als Realfolgen ist aber nicht gleichzusetzen mit dem Verhältnis von innerer und äußerer Kraft. Es gibt Veränderungen des inneren und des äußeren Zustandes und entsprechend innere und äußere Kräfte oder Prinzipien (vgl. ebd. S. 25). So spricht Kant davon, daß wir »bei uns das innere principium im Denken und Begehren wahrnehmen« (ebd. S. 1 1 5; vgl. noch besonders ebd. S. 1 45, wo von der inneren und äußeren Natur der Seele gehandelt wird). Der Unterschied von innen und außen ist durch den Begriff des Raums bezeichnet: äußere Veränderungen sind Veränderungen im Raum und d.h. Veränderun­ gen, die sich auf die Koexistenz von Monaden, also auf ihren respectus untereinander beziehen. 3. Durch Vogel wird das Problem der >>Träume eines Geistersehers« mißdeutet: Es geht um die Un­ erkennbarkeit der äußeren Wirksamkeit der Seele, deren reale Möglichkeit nach Reich aber durch Wolffs Raumbegriff (»spatium adeo resultat ex possibilitate coexistendi«) schon unterstellt ist, so daß bloß das »Wie« noch Gegenstand spekulativer Erörterung sein konnte. Vgl. K. Reich: Einlei­ tung, S. VIII f. 25 Vgl. Herder-Nachschriften, AA 28 . 1 , S. 1 1 5 .

Geist und Materie

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Grade wahrscheinlich an.26 Auch wenn man den Unterschied immaterieller Sub­ stanzen von materiellen dahingehend fassen wollte, daß man j ene positv durch Vernunftkraft bestimmt, ist für eine triftige Abgrenzung von Geistern und materi­ ellen Elementarteilchen nichts gewonnen: Die Möglichkeit der Ü bereinstimmung des inneren Zustandes ist nicht ausgeschlossen, und die Unterscheidung hinsicht­ lich der äußeren Gegenwart ist nicht vollzogen. >>Nun würden aber dergleichen Substanzen [die einen Raum erfüllen], ob sie gleich in sich Vernunftkraft haben mögen, doch äußerlich von den Elementen der Materie gar nicht unterschieden sein, bei denen man auch nur die Kräfte ihrer äußeren Gegenwart kennt und, was zu ihren inneren Eigenschaften gehören mag, gar nicht weiß. « 2 7 Die Schwierigkeit besteht darin, daß man bezüglich der immateriellen Monaden keinen positiven Be­ griff ihrer äußeren Gegenwart hat, durch den sie allein von den materiellen zu un­ terscheiden sind. Ü berhaupt gilt, daß Kräfte nicht durch Zergliederung, sondern nur durch Erfahrung zu erkennen sind.2s Die einzige Art äußerer Wirksamkeit, die in der Erfahrung unmittelbar gegeben ist, ist die durch Repulsion bewirkte Un­ durchdringlichkeit, von einer anderen haben wir direkt keine Erfahrung. D .h. aber, daß die Gegenwart der Seele im Raum nicht konkret gedacht werden kann, ohne daß diese Undenklichkeit jedoch >>als eine erkannte Unmöglichkeit« anzusehen wäre. 2 9 D araus folgt, daß die Annahme immaterieller Wesen möglich ist, ohne daß j edoch aus der Erfahrung oder aus der Vernunft Gewißheit für diese Hypothese beigebracht werden könnte. Für die Annahme des Daseins immaterieller Naturen in der Welt und die Einordnung der menschlichen Seele in diese Klasse, spricht nach Kant das Phänomen des Lebens. >>Was in der Welt ein Principium des Lebens enthält, scheint immaterieller Natur zu sein. Denn alles Leben beruht auf dem in26 Vgl. Kant AA 2, S. 328; Herder-Nachschriften AA 28. 1 , S. 44. Damit ist jedoch keine Vor­ stellungskraft der Materie selbst behauptet. Die Begründung, die sich ganz ähnlich in Condillacs »Essai [ . . . ]« findet, lautet: »weil viel Substanzen von solcher Art, in einem Ganzen verbunden, doch niemals eine denkende Einheit ausmachen können.« Vgl. Kant AA 2, S. 328. Vgl. auch Con­ dillac: Essai sur l' origine des connoissances humaines. Hrsg. v. J. Derrida. Paris 1 973, S. 1 08 f. Zur Geschichte dieser Argumentationsfigur vgl. B.L. Mijuskovic: The Achilles of rationalist arguments. The simplicity, unity, and identity of thought and soul from the Cambridge Platonists to Kant. The Hague 1 974. 2 7 Siehe Kant AA 2 , S. 3 2 1 . 28 Vgl. ebd., S. 370. 29 Vgl. ebd., S. 323. Hinsichtlich der Erkennbarkeit stellt sich das Verhältnis der materiellen und immateriellen Substanzen wie folgt dar: interne Deter­ minationen

externe Deter­ minationen

materielle Substanzen

unerkennbar

erkennbar

immaterielle Substanzen

erkennbar

unerkennbar

Also können niemals beide Substanzen in einer Erfahrung, sei es der inneren oder der äußeren, ver­ einigt werden.

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Kapitel II »Träume eines Geistersehers« ·

neren Vermögen, sich selbst nach Willkür zu bestimmen. Da hingegen das wesent­ liche Merkmal der Materie in der Erfüllung des Raumes durch eine nothwendige Kraft besteht, die durch äußere Gegenwirkung beschränkt ist; daher der Zustand alles dessen, was materiell ist, äußerlich abhängend und gezwungen ist [ . . . }>nicht durch die Kraft der Undurchdringlichkeit im Raum gegenwärtig« ist. (AA 28. 1 , 1 46) Daraus folgt, daß körperliche Elemente auch da sein können, wo die 3 0 Ebd., S. 327, Anmerkung; daß die Welt des Lebendigen nicht nach mechanischen Gesetzen

zu erklären ist, lehrt Kant schon im ,.Einzig möglichen Beweisgrund [ . . . )«, vgl. Kant AA 2, S. 1 14 f. Zum Zusammenhang von Lebensbegriff und Anthropologie beim frühen Kant vgl. H. Heimsoeth: Empirische Anthropologie auf der Basis der Stufenordnung und Gesetze des Organischen. In: H.H.: Studien zur Philosophie lmmanuel Kants Il. Methodenbegriffe der Erfahrungs­ wissenschaften und Gegensätzlichkeiten spekulativer Weltkonzeption. Bonn 1 970, S. 67-85. 3 1 Kant unterscheidet ausdrücklich solche Vermutungen von wissenschaftlichen Hypothesen (vgl. AA 2, S. 371); der Ausdruck ist hier und im folgenden nicht terminologisch gebraucht. 3 2 Vgl. Kant AA 28. 1 , S. 145 ff. 33 Zu Kants Systematisierung der vorliegenden Theorien zum Leib-Seele-Zusammenhang (Occasionalismus, praestabilierte Harmonie, Influxus-Theorie) im Anschluß an Baumgarten vgl. Metaphysik Herder, AA 2 8 . 1 , S. 1 02 ff. 34 Kant AA 2, S. 328. 35 Ebd.

Geist und Materie

35

Seele ist, und daß die Seele im Körper keinen bestimmten Ort hat (vgl. ebd.). Die Art der Gegenwart der Seele im Körper ist positiv als Wirken und Leiden »von in­ nen«, ihr Erkennen als Erkennen des inneren Zustands der Körpermonaden ge­ dacht. Indem die Seele die Zustände der körperlichen Elemente von innen erkennt, hat sie zu diesen dasselbe Verhältnis, das Gott zu den von ihm geschaffenen Din­ gen hat: sie ist die Gottheit des Körpers (vgl. ebd.). Worin die Schwäche dieser »Theorie« liegt, wurde bereits angesprochen: Edah­ rung haben wir nur von dem äußeren Wirken der Körper aufeinander; die gege­ bene Darstellung der Möglichkeit einer Wirksamkeit der Seele im Körper ist daher eine bloße Möglichkeit, nur ein Gedanke, dem weder auf empirischem noch auf apriorischem Weg Gewißheit zu verschaffen ist. Ganz deutlich wird in den »Träumen [ . . . ]« das metaphysische Anliegen Kants, den Unterschied von materiellen und immateriellen Naturen sicherzustellen, um die Möglichkeit von Freiheit und Unsterblichkeit zu garantieren. Gegen die denk­ bare Hypothese, daß die äußere Gegenwart der Seele nicht von der der materiellen Substanzen verschieden sei, führt Kant allein die Folgen an: >>Alsdann aber würde man kein eigenthümliches Merkmal der Seele mehr mit Sicherheit erkennen wel­ ches sie von dem rohen Grundstoffe der körperlichen Naturen unterschiede, und Leibnizens scherzhafter Einfall, nach welchem wir vielleicht im Kaffee Atomen verschluckten, woraus Menschenleben werden sollen, wäre nicht mehr ein Ge­ danke zum Lachen. Würde aber auf solchen Fall dieses denkende Ich nicht dem gemeinen Schicksale materieller Naturen unterworfen sein, und, wie es durch den Zufall aus dem Chaos aller Elemente gezogen worden, um eine thierische Ma­ schine zu b eleben, warum sollte es, nachdem diese zufällige Vereinigung aufgehört hat, nicht auch künftig dahin wiederum zurückkehren ?«3 6 Wie Kant selbst sagt, sind diese Folgen >>erschreckend« und edordern deshalb ein Ü berdenken der Prä­ missen. Aus diesem Gesichtspunkt ist der Unterschied beider Naturen konzipiert. Indem den immateriellen Naturen die Kräfte der Materie, Attraktion und Repul­ sion abgesprochen werden, unterliegen sie nicht den mechanischen Gesetzen der Bewegung. Nur diese Substanzen sind selbst Ursache von Veränderungen, d.h. frei,37 wohingegen die materiellen Substanzen zwar auch >>innere Tätigkeit als den Grund der äußeren Wirksamkeit haben«,3 s sich j edoch nicht selbst zum Handeln oder zur Wirksamkeit bestimmen können, sofern ihr innerer Zustand offensicht­ lich nicht durch sie selbst verändert wird, sondern nur Veränderungen erfährt als Wirkungen, deren Ursache entweder materielle Gegenstände oder immaterielle Substanzen sind. D .h. materielle Substanzen werden entweder nach mechanischen Gesetzen zum Wirken bestimmt oder dienen bloß als Mittel zu Zwecken immate­ rieller Wesen. 3 6 Vgl. Kant AA 2, S. 326 f. 37 Zum Unterschied von tierischer Willkür und Freiheit des Menschen vgl. Herders Metaphy­

sik-Nachschriften, AA 2 8. 1 , S. 99, 1 1 7. 3 8 Vgl. Kant AA 2, S. 328.

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Kapitel II · »Träume eines Geistersehers«

Herders Urteil zu diesem Teil von Kants Ü berlegungen erschließt sich nur aus dem Gesamtkontext seiner Stellungnahme, die daher hier vollständig wiedergege­ ben wird: im Anschluß an den bereits zitierten Satz »Der Verfasser, der den glück­ lichen Analytischen Weg gehet, immer xm: ' äv8gm:n:ov zu philosophiren, thut zwar zur gewöhnlichen Bestimmung eines Geistes blos etwas verneinendes dazu; allein eine Eigenschaft, die seinem ganzen Unterschiede von der Materie eine bis­ her unbemerkte Klarheit giebt«, fährt Herder fort: >>So wie Körperliche B egriffe uns aber so sehr umhüllen, daß wir uns schwerlich eine Art der Würksamkeit in einen Raum gedenken können, ohne daß das Principium der Würksamkeit wenig­ stens in Absicht auf ein anderes Wesen, das in seiner [geistigen] Natur mit ihm identisch wäre, eine Art von [sozusagen] geistiger Undurchdringlichkeit hätte: so wird freilich diese [kantische] Hypothese alsdenn erst eine philosophische Gewiß­ heit erhalten, wenn der Begrif des Raums völlig zergliedert, und der B egrif der Kraft a priori eingesehen wird. So lange als dies unmüglich ist, so wird auch die Hyp othese des Verfassers unter allen bisherigen Systemen von der Gemeinschaft des Geistes und des Körpers die sicherste bleiben, weil sie am wenigsten behauptet, und überhaupt dem Ursprung des Begriffes im Wort Geist am nächsten kömmt, das vermutblich gar nicht einer Philosophischen Erfindung, sondern einem Wahn seinen Ursprung zu danken hat, dem seine Unwissenheit, und sein vorläufiges Urtheil das Wort Geist eingab .« ( I, 128) Wie der erste Satz zeigt, beurteilt Herder Kants Hypothese bezüglich des Leib­ Seele-Problems im ersten Hauptstück im Zusammenhang mit dem zweiten Haupt­ stück, das den Gedanken einer Gemeinschaft der Geister enthält. Herders Rede von » geistiger UndurchdringlichkeitVersuch über das Seinwelches man die immaterielle Welt (mundus intelligibilis) nennen kann.einer wirklichen und allgemein zugestandenen Beobach­ tungder Ordnung der NaturDiese neue Geisterwelt, zu der der V. und vielleicht einige ausser- und überordentliche Genies den Schlüßel haben möchten, ist allerdings ein Gebäude einer schöpferischen Philosophischen Einbil­ dungskraft, die auf der Erde eine so systematische Verbindung unsichtbarer Dinge entwirft, als sie vormals am Himmel fand: sie zeigt von dem Schadfsinn und der Aufmerksamkeit ihres Urhebers, sein System auf allen Seiten zu zeigen.4 8 Allein worauf beruhet es ? darauf, daß die Geister, vielleicht auch unmittelbar eine Ge­ meinschaft haben; möchte nicht aber eine Organische Gemeinschaft gnug seyn, wenn es keine mehr als Seelen giebt, und wer weiß von mehrern ? - Die Moralische Einheit, und das uneigennützige Gefühl dörfte ja zu seinem Mittelpunkte der An­ ziehung nicht eben eine Geisterwelt, sondern blos die Welt des Lebendigen haben, und überhaupt hat die ganze Hypothese mehr Schönheit wie eine Synthese be­ trachtet; als sie haben dödte, wenn sie immer bey Datis bliebe.« ( I, 1 29) Das Konstruktionsmittel, dessen sich Kant bedient, die Zweiweltenlehre, ist Herder suspekt. Gegen die Hypothese einer unmittelbaren Gemeinschaft der Gei­ ster argumentiert er erstens erkenntnistheoretisch und zweitens moralphiloso­ phisch. Während nach Kant Seele und Geist als Arten von immateriellen Substan­ zen dadurch unterschieden sind, daß diese Vernunft haben, j ene nicht, beide aber verbunden mit Körpern oder getrennt von ihnen existieren können, hebt Herder auf den Aristotelischen Begriff der Seele als Prinzip des Lebens der Körper ab . Die Ansicht, es gebe nur Seelen bzw. wir wüßten nur von solchen, heißt: Für uns gibt es nur immaterielle Naturen in Einheit mit materiellen. Der Begriff Geist steht bei Herder offenbar für körperlose immaterielle Prinzipien und verdankt seines Er­ achtens einem Wahn seinen Ursprung, insofern als die Existenz solcher Wesen (zumindest als Teile der Welt) weder durch Edahrung noch durch Vernunft er­ weisbar ist. Herder macht sich hier Kants methodische Reflexion über den Ursprung des B egriffs Geist zunutze. Dieser Begriff kann nach Kant nicht »als ein von der Er­ fahrung abstrahirter behandelt werden«,49 weil Wesen dieser Art gerade nicht in den Sinnen gegeben sind. Kant erklärt den Ursprung des Begriffs daher so, daß er wie viele Begriffe durch geheime und dunkle Schlüsse bei Gelegenheit der Erfah­ rung gebildet worden sei.SO Wegen der ausgeführten Unerkennbarkeit immateriel­ ler Wesen muß offenbleiben, ob der B egriff Geist zu den erschlichenen B egriffen 47 Vgl. Kant AA 2, S. 332. 4 8 Herder unterstellt also, die in der »Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels«

entwodene Kosmologie bilde zusammen mit der hier entwickelten Psychologie ein System. 49 Kant AA 2, S. 320, Anmerkung. 5 0 Vgl. ebd.

Herders Kritik der Zweiweltenlehre

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(weil ohne Nachweis der Rechtmäßigkeit ihres Gebrauchs) gehört, die »nichts als ein Wahn der Einbildung>alles Leblose überhaupt« gebracht werden. 53 Von der ersten Klasse handelt die empirische Psychologie, »welche eigentlich die metaphysische Erfahrungswissenschaft vom Menschen ist«; >>ZU welcher um der Analogie willen auch die empirische Zoologie, d.i. die Betrachtung der Thiere, hinzugefügt wird«.54 Diese Disziplin unterscheidet sich von der rationalen Psychologie methodisch, indem sie durch Erfahrung und nicht durch Vernunft er­ kennt, und dies hat zur Folge, daß der Gegenstand der empirischen Psychologie anders bestimmt ist. Sie handelt wie gesagt von allem »Leben, was in unsere Sinne fällt«, d.h. von Gegenständen, die anders geartete Bestimmungen als die zum Begriff des Körpers gehörenden aufweisen, so daß hier eine anders geartete Natur als die der materiellen Substanzen angezeigt ist. Sofern diese j edoch nicht als solche in der Erfahrung aufweisbar ist, heißt es: »was den Ausdruck der Seele betrifft, so ist es in dieser Abtheilung noch nicht erlaubt zu behaupten, daß er [der Mensch] eine habe.«55 Ebenso bleibt es in Herders Rezension offen, ob er den Begriff der immateriel­ len Substanz verteidigt. Denn der Begriff der Seele muß nicht, wenn man, wie Herder will, »immer bey Datis bliebe«, positiv als immaterielle Substanz gedacht

5 1 Ebd. 52 Vgl.: M. lmmanuel Kants Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Win­

terhalbjahre 1 765-66, AA 2, S. 305-3 1 8. Vgl. zum folgenden H. Heimsoeth: Empirische Anthropologie auf der Basis der Stufenordnung und Gesetze des Organischen, S. 67 ff. 53 Vgl. AA 2, S. 309. 54 Vgl. ebd. 55 Ebd.

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Kapitel II · »Träume eines Geistersehers«

werden. Wie Kant zeigt, ist es auch möglich, Denken und Begehren als besondere Eigenschaften der als Element der Materie verstandenen Seele anzunehmen. 56 Als Resümee dieser erkenntnistheoretischen Einwände gegen den Gedanken eines mundus intelligibilis können zunächst Herders Worte gelten: >>so möchten wir vielleicht eben auf dem Punkt seyn, der uns ohne Metaphysik der sicherste ist.Phädon«, daß er an der Position von 1 766 festhält. 62 Festzuhalten ist also, daß Herders Einwände nirgends Kants wahre Meinung63, sondern stets nur die im Dienst der skeptischen Methode aufgestellten Hypothe­ sen treffen, so daß man Hayms Wort, Herder sei ein »Kantianer vom Jahre 1 765 « 64 mit guten Gründen dahin abwandeln könnte, er sei ein »Kantianer von 1 766« geblieben. Gleichwohl drängt sich aus dem Rückblick auf die philosophische Ent­ wicklung Kants und Herders der Eindruck auf, diese Schrift sei die Schnittstelle, an der die Wege auseinandergehen. Während für Kant der hier bloß als Gedanke vorgetragene Dualismus zwei er Welten als Vorbereitung der Unterscheidung des Phänomenalen und Noumenalen eine zentrale Bedeutung gewinnt, greift Herder den Ansatz einer Philosophie des Lebendigen auf, die in der Tat nach Kants dama­ liger Meinung die einzig legitime Konsequenz seiner Ü berlegungen ist.65 Merk­ würdig ist, daß Herders Rezension gar nicht in diesem Bewußtsein formuliert ist. nach diesem »Modell«, das die psychische Welt analog zu der physischen so konzipiert, daß der nexus der Substanzen durch wechselseitige Einschränkung definiert ist, dieses Gesetz des allgemei­ nen Willens Grund oder Prinzip der Sittlichkeit, indem nämlich das moralische Gefühl bloß die Wirkung dieses Zusammenhangs der Geisterwelt sein soll. Dadurch, daß Kant hier aber annimmt, daß im Zustande der Gemeinschaft mit dem Körper das Bewußtsein der Seele von ihrer Teilnahme am Geisterreich verdunkelt ist, kann das Gesetz des allgemeinen Willens doch nicht die Funktion übernehmen, die ihm später zugewiesen wird, nämlich subjektiver B estimmungsgrund des Willens zu sein. V gl. K. Reich: Kant und Rousseau. 61 Die These, daß » Kants Umkippung in der Theorie der Moral« durch das Erscheinen von Mendelssohns »Phädon« veranlaßt wurde, entwickelt K. Reich in: Kant und die Ethik der Grie­ chen, S. 1 1 ff. 62 In einem B rief an Hamann vom 22. November 1 768 heißt es: »Ich habe seit geraumer Zeit in einigen trüben Stunden den Gedanken umhergewälzt, wie Diagenes seine Tonne, ein Schüler So­ krates zu werden, u. ein viertes Gespräch zu den drei Mendelssohnschen zu schreiben, aber ein Ge­ spräch Zweifel. [ . . . ]« ( B riefe, Bd. I, S. 1 1 4); in einem Brief an Nicolai vom 27. 12. 1 768 schlägt Herder vor, sein geplantes Gespräch als Rezension in der Allgemeinen Bibliothek erscheinen zu lassen. ( Vgl. Briefe, Bd. I, S. 1 27) Wegen der bevorstehenden Reise nach Frankreich im Mai 1 769 kommt es nicht zur Ausführung dieses Plans; im Nachlaß sind die Disposition dazu und ein Blatt zur Ausführung erhalten. Vgl. Nachlaßkatalog, S. 1 98, Kapsel XXV, Nr. 77 und 78; Abdruck von Nr. 78 in SWS XXXI I, S. 200. Herder faßt seine Zweifel schließlich in zwei ausführlichen Briefen an Mendelssohn zusammen. Der erste Brief datiert von Anfang April 1 769 ( B riefe, Bd. I, S. 1 3 7143), auf das Antwortschreiben Mendelssohns vom 2. 5. 1 769 reagiert Herder mit einem zweiten Brief vom 1. 12. 1 769 ( B riefe, Bd. I, S. 1 77- 1 8 1 ; der Brief von Mendelssohn ist abgedruckt in: Jub.A. 1 2 , 1 ( Briefwechsel II,1 ), S. 1 82-1 87.) Herders Auseinandersetzung mit Mendelssohn über den Phädon ist in der Herderforschung bisher kaum beachtet worden. Vgl. j etzt H. Adler: Die Prä­ gnanz des Dunklen. S. 1 71 ff. 63 Vgl. das dritte Hauptstück: Praktischer Schluß aus der ganzen Abhandlung, Kant AA 2, s. 369 ff. 64 Vgl. R. Haym: Herder, Bd. I, S. 55. 6 5 Vgl. Kant AA 2, S. 370 f.

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Kapitel II

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Träume eines Geistersehers«

Befremdlich ist diese Rezension also, weil sie einen Gegensatz zwischen Kant und Herder zum Ausdruck bringt, der zu der Zeit noch gar nicht existiert. Wie ist das zu erklären ? Herder mißversteht Kants Skepsis. Während für Kant aus der Unbe­ greiflichkeit der äußeren Wirksamkeit der Seele auch folgt, daß alle möglichen Hypothesen darüber nicht zu widerlegen sind, sondern mit ebenso guten Gründen zu verteidigen sind, versteht Herder die im Phänomen des Lebens bezeugte Ein­ heit von Immateriellem und Materiellem als Datum der Erfahrung, an das sich alle Theorie zu halten hat. Während für Kant auch die Erfahrung hinsichtlich der posi­ tiven Einsicht in die Art des Wirkens der Seele im Raum versagt, 66 nimmt Herder das Phänomen des Lebens positiv als Zeugnis für die Einheit von Seele und Kör­ per. Herder ist also vom Standpunkt der kantischen Philosophie her gesehen dog­ matischer Empirist. Es ist hier schon erkennbar, daß von diesem Ausgangspunkt her, der Erfahrung der geistigen und körperlichen Verfassung des einen und selben Seienden als Datum, dem die Theorie zu entsprechen hat, die Verbindung mit einer spinozistischen Metaphysik der zwei Aspekte einer Substanz, wie sie Herder spä­ ter vornimmt, naheliegt.

66 Vgl. ebd.; nach Kant kann aus der Erfahrung nur erkannt werden, daß ich denke und mich nach Willkür bestimme, aber »alle solche Urteile, wie diejenigen von der Art, wie meine Seele den Körper bewegt oder mit anderen Wesen ihrer Art jetzt oder künftig im Verhältnis steht, können niemals mehr als Erdichtungen sein«. (Hervorhebung v.V.)

KAPITEL III

Plato sagte: daß unser Lernen bloß Erinnerung sei ( 1 766/1 768)

1. Einleitung In Herders Nachlaß findet sich ein Manuskript mit dem Titel »Plato sagte: daß un­ ser Lernen bloß Erinnerung sei>Entwurf zu einer phi­ losophischen Ästhetik«4 einen guten Anhaltspunkt. Auf der Basis der im >>Versuch über das Sein« dargestellten Theorie der unzergliederlichen Begriffe Sein, Raum, Zeit und Kraft entwickelt Herder in diesem Stück Ansätze zu einer Theorie der Wahrnehmung, die in wesentlichen Zügen mit der im >>vierten kritischen Wäld­ chen« ausgeführten Theorie übereinstimmt. Den Kern dieser Wahrnehmungstheo­ rie bildet die Zuordnung der unzergliederlichen B egriffe Raum, Zeit und Kraft zu den Sinnen Gesicht, Gehör und Gefühl, so daß diese als Organe für die Wahrneh­ mung von Räumlichem, Zeitlichem und von Kräften bestimmt werden. Bekannt­ lich unternimmt Herder im >>vierten kritischen Wäldchen« den Versuch, auf der Grundlage seiner Wahrnehmungstheorie eine philosophische Ästhetik im Sinne einer Theorie des Schönen auszuarbeiten. Auch das Manuskript »Plato sagte [ . . . ] « handelt i m vierten Teil »von den Empfindungen des Schönen«, s o daß man darin eine Vorstufe zum »vierten kritischen Wäldchen« zu sehen hat.S Es ist j edoch I Dieses bisher unveröffentlichte Manuskript findet sich unter der Nr. XXVIII, 2 im »Studi­ enbuch« 0, das die Aufschrift trägt »Excerpta mit verschiedenen Bemerkungen«. Laut Nachlaß­ katalog ist es größtenteils in Riga geschrieben, es finden sich auch einzelne Eintragungen aus der Weimarer Zeit auf freigebliebenen Blättern. Dieses Studienbuch war als Sammelband angelegt mit folgenden Titeln: »Üssa disciplinarurn, quarundarn Anatornica, Logica quaedarn, Membra physices disjecta«. Vgl. hierzu Nachlaßkatalog, S. 241 f. Vgl. Anhang. 2 Die mir zugängliche Transkription H.D. Irenschers notiert als Entstehungszeitpunkt »Ca. 1 766«, der Nachlaßkatalog »Ca. 1 768-69«, vgl. Nachlaßkatalog, S. 242. 3 So lautet die Kennzeichnung H.D. Irenschers auf der ersten Seite der Transkription. 4 Vgl. Nachlaßkatalog, S. 242. 5 Leider b emerkt B. Suphan nur diffus: »Das vierte Wäldchen hat Herder zu Anfang des Jah­ res 1 769 begonnen; die Anlage dazu reicht noch etwas weiter zurück. « (SWS III, S. XII) Erst im Jahre 1 846 wurde das vierte Wäldchen »durch einen sehr mangelhaften Abdruck der Handschrift in >Herders Lebensbild< (1,3,2, S. 2 1 7-520)« veröffentlicht. Vgl. B . Suphan: Einleitung zu SWS III, S. VI. Einen Abdruck des Manuskripts »der letzten Bearbeitung« unter Hinzuziehung auch »der älteren Niederschrift« bietet der vierte Band der Suphan-Ausgabe. Siehe SWS IV, S. 3 - 1 98; vgl. Ein­ leitung, SWS IV, S. V f. Ein wichtiges Zeugnis für die Entstehung von Herders Theorie der Sinnlichkeit in Abhängigkeit von der Auseinandersetzung mit Baumgarten sind auch die von U. Gaier teils neu und verbessert, teils erstmals edierten Manuskripte aus Kapsel XXV: XXV, 62 »Von Baumgartens Denkart in sei­ nen Schriften« (DKV 1 , S. 653-65 8; Lebensbild 1,3 , 1 , S. 292-3 1 7; SWS XXXII, S. 1 78-83) und XXV, 57: »Plan zu einer Aesthetik« (DKV 1, S. 659-670) (erstmals ediert). Den »Plan zu einer

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Kapitel III Plato sagte: daß unser Lernen bloß Erinnerung sei ·

zugleich mehr als eine bloße Vorstufe. Während Herder im »vierten kritischen Wäldchen« ganz auf der Grundlage des Sensualismus argumentiert - so sollen etwa die B egriffe des Schönen auf ihren Ursprung in den Sinnen zurückverfolgt werden6 - handelt es sich in diesem Manuskript um eine Metaphysik der Wahrnehmung, hier wird der Sensualismus in einem Idealismus begründet. Was im »vierten kriti­ schen Wäldchen« als Setzung erscheint, die Vorrangstellung der Sinnlichkeit in der anthropologischen und ästhetischen Dimension, zeigt sich in der »Metaphysik der Wahrnehmung>Sinne«, der dritte »Obj ektive Gewißheit und Wahrheitvon den Empfindungen des Schönen«. Das Manuskript beginnt mit den Sätzen: »Plato sagte: daß unser Lernen blos Erinnerung sei und Moses (in seiner Preisschrift) bestirnt nach der Wolfsehen Ter­ minologie, wie dieser Satz möglich sey, wie das Denken die innere Möglichkeit der Seele sey, und diese sich in einem Gedanken die ganze Welt vorstellt, implicit - ex­ plicit einen Theil der Welt nach der Lage etc.« (1)9 Damit bezieht sich Herder auf eine Stelle aus Mendelssohns Evidenzschrift, in der dieser seine Theorie der mathe­ matischen Erkenntnis durch eine Reminiszenz an Platons Menon erläutert. 10 Her­ ders Beschreibung, hier werde Platons Anamnesislehre nach der Wolffschen Ter­ minologie erklärt, ist völlig korrekt. Der Inhalt ist in Kürze folgender: Im Unter­ schied zur Philosophie, die es mit Qualitäten zu tun hat, handelt die Mathematik überhaupt von Quantitäten, die Geometrie besonders von der Ausdehnung. In den B egriffen von Größe und Ausdehnung liegen alle mathematischen Erkenntnisse, sie können sämtlich nach dem Satz des Widerspruchs durch Zergliederung aus ihnen entwickelt werden. »So liegt z.B. in dem sinnlichen Eindrucke der Ausdeh­ nung der ganze lnnbegriff der geometrischen Wahrheiten, die durch Schlüsse nur mehr ans Licht gezogen werden. « l l Platons Anamnesislehre wird als >>seltsamer Einfall« zur Lösung folgender Schwierigkeit eingeführt: >>Nun ist es aber wider die Vernunft, dem sinnlichen Eindrucke, als einer körperlichen B ewegung, die die See­ le wahrnimmt, einen so großen Schatz von tiefsinnigen Wahrheiten zuzuschreiben, und wenn man auch dieses obj ective zugeben wollte; so ist doch nicht zu b egrei­ fen, wie diese unendliche Menge von Begriffen, der Seele auf einmal durch ein augenblickliches Anschauen eingetrichtert werden können.« 12 Die Wahrheit von Platos Gedanken, die sinnlichen Eindrücke seien nur die Anlässe, bei welchen sich die Seele des in einem früheren Zustand Gewußten, aber beim Eintritt in dieses Leben Vergessenen, wieder erinnere, werde auch - freilich von allem Mystischen entkleidet - von der neueren Philosophie gelehrt. Es folgt eine Explikation der Grundgedanken von Leibniz' Monadologie, wonach die Seele als Vorstellungs­ kraft j ederzeit über Vorstellungen verfügt, ohne sich ihrer allerdings auch j ederzeit bewußt zu sein. >>Man siehet hier den Uebergang zu den erhabenen Lehren der neuern Weltweisen, daß die Seele niemals aufhöre sich implicite schlechterdings die ganze Welt, explicite aber nur die Welt nach der Lage ihres Körpers in dersel­ ben vorzustellen, daß die sinnlichen Eindrücke nur die Anlässe und Gelegenheiten seyn, b ey welchen die Vorstellungen der Seele sich entwickeln und wahrgenom9 Die Zitate des Herder-Manuskripts werden im folgenden durch Angabe des übergeordneten Abschnitts (Sinne, obj ektive Gewißheit und Wahrheit, etc.) ihrer Reihenfolge entsprechend in rö­ mischer Ziffer und durch Angabe der durchnumerierten Unterpunkte zu den Abschnitten in arabi­ scher Ziffer belegt, z.B. bedeutet II,2 zweiter Abschnitt des zweiten Punktes »Sinne«. Diese Anga­ ben werden in Klammern unmittelbar hinter den Zitaten plaziert. Im vorliegenden Fall steht der zitierte Satz vor dem ersten U nterpunkt. 10 Vgl. Mendelssohn: Abhandlung über die Evidenz, Jub.A. 2, S. 274 ff. 1 1 Vgl. ebd., S . 275. 12 Ebd., S. 275.

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men werden, und daß diese Entwickelung der Begriffe in der Seele mit der Ent­ wickelung der B egebenheiten ausser derselben vollkommen harmoniere. « 1 3 Wie Altmann ausführt, dient die Berufung auf Platon der Unterstützung von Mendelssohns These, die Mathematik bediene sich ebenso wie die Metaphysik der analytischen Methode. Platons Erzählung wird als Beleg dafür genommen, daß mathematische Erkenntnisse gewonnen werden, ohne Definitionen, Axiome und Postulate vorauszusetzen, »d.h. ohne nach der synthetischen Methode Euklids zu verfahren.« 1 4 3 . Das Gefühl des Seins Im ersten Passus seines >>Entwurfs einer Metaphysik der Wahrnehmung« führt Herder seine Theorie über das Verhältnis von Vorstellungskraft und Sinnlichkeit im Ausgang von der Bestimmung des Wesens der Vorstellungskraft in zwölf Unterpunkten aus. Die wichtigsten Abschnitte sollen hier vorgestellt und kom­ mentiert werden. Der erste Unterpunkt lautet: >>Die Seele tritt auf die Welt: Vorstellungskraft ist ihr Wesen: aber sie ist sich selbst ganz ihr Gedanke - der dunkle, aber lebhaftste Begriff ihres Seyns erfüllt sie ganz: das ist ihre Welt: in dem liegt alles: so wie die ganze Welt ein Gedanke in dem Seyn Gottes ist« . (1, 1) Hiermit nimmt Herder zunächst noch Bezug auf die Einführung von Leibniz' Definition der Vorstel­ lungskraft und seiner Theorie der dunklen Vorstellungen im Zusammenhang von Mendelssohns Erläuterungen zur Anamnesislehre. Nach Mendelssohn hat die Seele als Kraft stets Vorstellungen, ohne diese allerdings auch stets zu erkennen; dies gilt für den Zustand des Schlafs und den Zustand der Seele vor ihrem Eintritt in dieses Leben. 1 5 Herders Formulierung: >>Vorstellungskraft ist ihr Wesen« weist eine große Nähe zu W olffs Definition der Seele in Anlehnung an Leibniz auf. Wie für Leibniz, der Kraft und Substanz identifiziert, d.h. substantielle Wirklichkeit als Wirksamkeit versteht, 16 ist für Wolff Kraft die erste B estimmung der Substanz. Wolff definiert die Seele daher folgendermaßen: >>Essentia animae consistit in vi repraesentativa universi situ corporis organici in universo materialiter et constitu­ tione organarum sensoriorum formaliter limitata.« 1 7 13 14 15 16

Ebd., S. 2 76 f. A. Altmann: Moses Mendelssohns Frühschriften zur Metaphysik, S. 272. Vgl. Jub.A. 2, S. 276. Vgl. W. Janke: Leibniz, S. 3 0 ff.; W.J.: Die höchste Bedeurung von Einheit, Entelechie und Apperzeption in der Monadologie. In: Akten des Internationalen Leibniz-Kongresses 1 966. Wies­ baden 1 968, Bd. 1, S. 1 6 1 - 1 74, vgl. hier S. 1 72 . 1 7 Wolff: Psychologia Rationalis. Frankfurt 1 740. Nachdruck, hrsg. u. bearbeitet v. J. Ecole. Hildesheim 1 972, § 66; siehe hierzu R.J. Blackwell: Christian Wolffs doctrine of the soul. In: Journal of the History of Ideas 22 (1 96 1 ), S. 339-354. Vgl. auch H. Poser: Zum Begriff der Monade bei Leibniz und Wolff, S. 3 8 8 ff.; M. Casula: Die Lehre von der prästabilierten Harmonie in ihrer Entwicklung von Leibniz bis A.G. Baumgarten, S. 397-4 1 5 .

Das Gefühl des Seins

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Der mit »aber« beginnende Teilsatz »aber sie ist sich selbst ganz ihr Gedanke« liest sich wie eine Korrektur an Wolffs Definition. Herder gesteht zu, daß das Wesen der Seele vis repraesentativa universi ist, macht j edoch geltend, daß sie beim Eintritt in dieses Leben nicht unmittelbar in dieser Weise existiert. Das Vorstellen von Welt ist zwar ihre wesentliche Möglichkeit, sie ist jedoch zunächst wirklich als Vorstellen ihres eigenen Seins. Nach Mendelssohn wird die Seele beim Eintritt in dieses Leben durch die Eindrücke der Sinne dazu veranlaßt, ihre dunklen Vorstel­ lungen zu entwickeln, sie stellt nach wie vor implizit die ganze Welt vor, einen Teil der Welt nun j edoch explizit, d.h. ein Teil ihrer dunklen Vorstellungen wird klar und damit bewußt. Herder setzt anders an: Der Eintritt der Seele in diese Welt bedeutet nicht unmittelbar schon, daß die bisher impliziten Vorstellungen von Welt partiell explizit werden, sondern daß die Seele über ein Gefühl ihres eigenen Seins verfügt. Zwischen der Stufe der impliziten Weltvorstellung und der Stufe der expliziten Vorstellung von Teilen der Welt liegt nach Herder die Stufe des dunklen Gefühls der Seele von sich selbst. Herder setzt also insofern cartesianisch an, als er von der durch das cogitare gegebenen Gewißheit des Seins der Seele ausgeht. 18 Wenn gesagt wird, der Gedanke ihres Seins sei ihre Welt (I, 1 ), so ist dies erstens so zu verstehen, daß dieser Gedanke den ausschließlichen Gegenstand oder B ereich des V orstellens der Seele ausmacht, und zweitens so, daß in diesem Gedanken die Vorstellung von Welt schon liegt. Welt- oder Gegenstandsbewußtsein wird im Selbstbewußtsein begründet. Wie sich später noch genauer zeigen wird, ist die erste Stufe des Bewußtseins von Herder als unterschiedslose Identität b egriffen, erst in einer zweiten genetisch aus der ersten herzuleitenden Stufe entsteht das B ewußtsein eines vom Ich unterschiedenen Gegenstandes und das eines vom Gegenstand unterschiedenen Ich. Die erste Stufe des Bewußtseins wird aber nicht verlassen, sie verschwindet nicht, sondern ist stets als fundamentalere und primäre Weise des Seins der Seele präsent, und zwar im Gefühl. Mit diesem Ausgangspunkt greift Herder auf die schon im »Versuch über das Sein« angeführte Parallelisierung von göttlichem und menschlichem Bewußtsein im B ezug auf den Gedanken des Seins zurück. Der Gedanke erhält hier j edoch eine andere sich stärker an die Vorarl?eiten zum >>Versuch über das Sein« anlehnende idealistische Wendung, indem der menschliche Geist in genauer Entsprechung zum göttlichen zunächst bloß als innerer Sinn angesetzt ist. 1 9 Die Gleichrangigkeit 18 Innerhalb der zeitgenössischen Schriften kommt Herder in diesem Punkt Lamberts »Neuem Organon« am nächsten. Nach Lambert haben wir den Begriff der Existenz unmittelbar aus dem Bewußtsein unserer selbst. Vgl. Lambert: Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und B ezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein. Leipzig 1 764. 1. Bd., Alethiologie, § 24. In: Philosophische Schriften. Hrsg. v. H.W. Arndt, Bd. I, Bildesheim 1965. Daß Herder Lamberts Werke zur Zeit der Abfassung des Manuskripts bereits gut kannte, be­ zeugt ein Brief Herders an Scheffner vom 3 1 . 1 0. 1 767: »Ich habe lange eine Philosophische Sprach­ kunst für unsre Sprache gewünscht, aber wenig Materialien dazu gefunden. Lambert habe ich durchgepflüget, u. werde gelegentlich einmal Unheil u. Supplemente zu ihm öffentlich vorzeigen.« {Herder: B riefe 1, S. 92) 1 9 Die Vorarbeiten zum »Versuch über das Sein« sind abgedruckt in Kant AA 28.2 . 1 , S. 935 946; h ier heißt es: »Unser Ich ist allein vor u n s unzergliederlich u ns angebohren: alles übrige: Ein-

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Kapitel 111 Plato sagte: daß unser Lernen bloß Erinnerung sei ·

von innerem und äußerem Sinn als Kennzeichen des Zwitterwesens Mensch, die im >>Versuch [ . . . ] >Versuch [ . . . ] « ist hier die Annäherung des menschli­ chen an das göttliche Bewußtsein so weit getrieben, daß in dem Begriff von Sein, über den der Mensch verfügt, ebenso wie in Gottes Seinsgedanke schon >>alles« liegt. Insofern als gesagt wird, nur ein Gedanke sei die Weh der Seele, kann man von einem Idealismus sprechen, sofern dieser Gedanke aber Gedanke des Seins der Seele ist, und auch die Welt nur ein Gedanke im Sein Gottes ist, ist Herders Posi­ tion zugleich als Realismus zu kennzeichnen. Seele und Gott sind res cogitans und ens necessarium, denn sie sind als Gedanke zugleich wirklich. Das heißt j edoch nicht, daß das im >>Versuch über das Sein« gegen den Egois­ mus gewendete kritische Pathos einer Besinnung auf die finitudo hominis nun ins Gegenteil verkehrt würde. An dem Gedanken der Unmöglichkeit, die darin be­ steht, >>daß alle unsere Begriffe nach einem göttlichen Gesetz sich nicht aus dem innern principium des Geistes entwickeln lassen« (VS, S. 1 1 ), hält Herder auch hier fest, allerdings verändert sich die Konstellation entscheidend durch die platoni­ stisch-Leibnizsche Wende in der Auffassung des inneren Sinns. Der Mensch teilt mit Gott und reinen Geistern die Vorstellung des Seins, durch Nichtproduktivität sind Menschen und andere endliche Geistwesen von Gott unterschieden. Der Mensch unterscheidet sich von reinen Geistern dadurch, daß er die ihm zunächst bloß als dunkles Gefühl präsente Vorstellung seines Seins nicht allein dadurch zur Deutlichkeit bringen kann, daß er seine Vorstellungskraft an diesem Begriff betä­ tigt. 2 0 Herders These lautet, die spezifische Endlichkeit des Menschen besteht darin, daß er zur Verdeutlichung seines Inneren auf äußere Sinne angewiesen ist. Neu gegenüber dem »Versuch über das Sein« ist die Auffassung, daß der innere Sinn nicht wie bei Locke als leere Tafel angesetzt ist, sondern mit Leibniz so ge­ dacht ist, daß alle Vorstellungen schon in ihm liegen. Daher sind alle Vorstellungen der äußeren Sinne Entwicklungen der im inneren Sinn gegebenen Seinsvorstelheit war nicht leere Tafel (sonst wäre es eine wüste Menge) insofern es mit unserm Ich im nexu steht, je näher, desto unzergliederlicher - bis das seyn - [ . . . ]« , ebd., S. 939. Die Sinnlichkeit unserer Vorstellungen wird hier nicht auf die Angewiesenheit des endlichen Bewußtseins auf den äußeren Sinn als Quelle des Gegebenseins von Vorstellungen zurückgeführt, sondern darauf, daß alle Vor­ stellungen als mit dem angeborenen unzergliederlichen Begriff des Ich zu verbindende Vor­ stellungen, also als meine Vorstellungen, notwendig zumindest partiell unzergliederlich sind. Auch die Unterscheidung in Ideal- und Existenzialsein, die im »Versuch über das Sein« aus der doppelten Gebundenheit des menschlichen Geistes begründet wurde, kommt hier nicht vor. Allerdings ist hier ebensowenig wie in dem »Versuch über das Sein« schon eine Bezugnahme auf Leibniz' Seelen­ begriff, die das Manuskript »Plato sagte [ . . . ]« aufweist, festzustellen. 20 Vgl. hierzu 1,1 1 : »Alles dies Menschlich: aus unserm Seyn entwickelt - wie ein anderes Ge­ schöpf die Welt, und in ihrer Schönheit Wahrheit Vollkommenheit erkennt ist hier nicht die Frage. Wie Gott alles noch weniger. Indessen wäre nicht eine Reihe von Geschöpfen zu assumieren, bei denen ihr B egriff von Seyn complex die Welt in sich faßte und sie auch deutlich enrwickelte, also gleichsam Großen Mathematischen Zirkel zur Sphäre hätte, bis Gott endlich unendlich [?]« Für die menschliche Seele hingegen ist der Körper die Sphäre ihrer Wirksamkeit (vgl. IV,3 und IV,4). Got­ tes Gedanke von Sein ist also produktiv, der Seinsgedanke vollkommenerer endlicher Geister ist durch logische Analyse zur Deutlichkeit zu bringen.

Das Gefühl des Seins

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lung. 2 t Aber Herder geht noch einen Schritt weiter, indem er nicht nur die Vor­ stellungen der äußeren Sinne als Entwicklungen des inneren Sinns denkt, sondern den Versuch macht, Leiblichkeit und äußere Sinnlichkeit genetisch als Folge der Vorstellungskraft des Menschen zu erklären,22 Der zentrale Unterschied zu Leib­ niz ' Philosophie besteht darin, daß die externen Relationen und das heißt auch die äußere Sinnlichkeit nicht mehr nur Folge der Dunkelheit der menschlichen Vor­ stellungen und das heißt bloße phaenomena bene fundata sind,23 sondern sie sind das notwendige Mittel zur Entwicklung und Aufklärung der Vorstellungen des inneren Sinnes. Damit erfährt die äußere Sinnlichkeit gegenüber Leibniz eine ent­ scheidende Aufwertung: Die externen Relationen sind zu den Faktoren geworden, die den Status des Inneren bestimmen. Mit diesem Gedanken der Abhängigkeit des Inneren von äußeren Relationen ist im Prinzip eine Naturalisierung des Geistes vollzogen, die der Leibnizschen Philosophie fern liegt, auch wenn sich Herder in diesem Manuskript auf idealistischem Boden bewegt. Um Herders These bezüg­ lich der Verschränkung der beiden Entwicklungsvorgänge: Entwicklung des Inne­ ren durch Veräußerlichung qua Bildung eines Leibes und äußerer Sinnlichkeit ge­ nauer verstehen zu können, soll zunächst die Explikation der Vorstellungskraft weiter verfolgt werden. Gott, Mensch und reine Geister verfügen in j eweils verschiedener Weise über einen Begriff des Seins, in dem >>alles>inneres Gefühl« übersetzt. 28 Dem Gefühl des Seins wird analog zu dem Denken Gottes Produktivität zuge­ sprochen: >>Dieser Gedanke ist ein dunkles, aber Einziges lebhaftes29 Gefühl: so stark und fruchtbarJ O , daß alle übrige künftige, auch sinnliche, und noch mehr Ab­ strakte B egriffe in ihm liegen. Indem er sie also ganz mächtig erfüllt: so ists eben damit daß sie sich ihr körperliches Daseyn bereitet, wie Gott sich aus dem Begriff seiner selbst (eine Welt) seiner Allmacht, Weisheit etc. eine Welt schafft« (I, 2) In diesen Sätzen ist die Verschränkung von innerer Entwicklung qua Aufklärung der dunklen Vorstellung des Seins und äußerer Entwicklung in der Bildung eines Lei­ bes als der Grundgedanke einer >>Metaphysik der Wahrnehmung« formuliert. Die menschliche Seele hat keinen unmittelbaren Zugang zu ihren angeborenen Inhal­ ten, es sei denn, den des dunklen unterschiedslosen Gefühls; Verdeutlichung voll­ zieht sich für den menschlichen Geist auf dem Weg über die Sinne. Die Welt, die eben kein Produkt des menschlichen Geistes ist, kann nicht unmittelbar durch Zergliederung der Begriffe des inneren Sinns in ihren inneren Prinzipien erkannt werden, sondern nur vermittelst der äußeren Sinnlichkeit in ihren äußeren Relatio­ nen. Dies ist sicherlich ein Zugeständnis an den Empirismus unter dem Einfluß Kants. Herder ist es j edoch um die Versöhnung von Empirismus und Leibnizscher Philosophie zu tun. Denn die durch äußere Sinnlichkeit vermittelten Vorstellungen sind gedacht als Folgen des inneren Gedankens bei Gelegenheit der Wahrnehmung von Obj ekten. Dies ist ein mit Berkeleys Philosophie vergleichbarer Versuch, den 2 7 Baumgarten: Metaphysica, § 535, S. 1 88 . 28 Vg l. B. Poppe: Alexander Gottlieb Baumgarten. Seine Bedeutung u nd Stellung in d er Leib­

niz-Wolffschen Philosophie und seine Beziehungen zu Kant. Nebst Veröffentlichung einer bisher unbekannten Handschrift der Ä sthetik Baumgartens. Borna Leipzig 1 907, § 29, S. 86. 2 9 Vgl. B aumgarten: Metaphysica, § 77; hier wird das Einzige (unicum) folgendermaßen defi­ niert: »Quicquid est, quod multa non sunt, est unicum (unum exclusive tale)«. Wenn Herder dieses Prädikat, das schlechthin nur auf Gott zutrifft, auf das Gefühl des Seins der Seele anwendet, ist klar, daß er sich von vornherein in Leibniz' Horizont bewegt, so daß jede Seele als einziges, d.h. als Individuum bestimmt ist. Mit dem Begriff »Lebhaftigkeit« (vividitas) kennzeichnet Baumgarten die sensitive Erkenntnis, die im Unterschied zur intellektuellen extensiv klar ist, d.h. eine Fülle von Merkmalen umgreift, wohingegen die intellektuelle Erkenntnis durch Analyse zu intensiver Klarheit, d.h. zur Klarheit der in einem Merkmal enthaltenen Merkmale gebracht wird. »Extensive clarior perceptio est vivida.« Ebd., § 53 1 . Daß nur die dunklen Vorstellungen lebhaft sind, vor allem i n dem Sinne, daß sie die Seele zur Tätigkeit anregen, wurde von Sulzer besonders betont. Vgl. Sulzer: Vermischte Philosophische Schriften, Bd. I, S. 2 1 3 . 3 0 Von d e r Stärke des Gedankens handelt insbesondere Abbt: »Ein Gedanke ist stark, wenn e r große Kräfte i n anhaltender Bewegung und Wirkungen von ausserordentlicher Dauer darstellet. « Der große Gedanke hingegen verfügt über »eine Mannichfaltigkeit und Menge, oder Ausdehnung welche die gewöhnlichen Maaße ganz übersteiget.« (Vom Verdienste. In: Vermischte Werke. Erster Theil. Berlin 1 772, S. 1 04) Vgl. auch Baumgarten: Metaphysica, § 5 1 5 . Fruchtbarkeit i s t das Kennzeichen eines Grundes, sofern aus ihm vieles folgt. Vgl. Baumgarten: Metaphysica, § 1 66.

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sinnlichen Vorstellungen die auch im Empirismus zweifelhaft gewordene Dignität zu garantieren. Wie aber ist diese doppelte Entwicklung gerrauer zu verstehen ? Herder führt dazu aus : »Jeder Sinn und Organisation, den sie sich in ihrem neuen Zustande gibt, ist eine Entwickelung ihres (Seyns) Einen Gedankens, in dem sie sich die ganze Welt denkt, und eine Art von Modification ihres Gefühls vom Seyn. - d.i. ein Zweig Ast vom seyn, (wie sie) auf dem sie sich bestrebt einen Theil der Welt, die in ihrem allgemeinen Bau dunkel lag, zu enthüllen, und eine Seite ihres Daseyns, das sie voraus rund und complex genoß, (zu entwi) explicit zu geniessen.« (1, 3) Deutet man die Metapher, die Organe bzw. Sinne seien ein >>Zweig Ast vom seyn« für diese Frage aus, so denkt Herder die Seele als Keim,3t d.h. als lebendiges Prinzip, das sich selbst in eine Vielheit von Teilen differenziert. Die Teile ihrerseits sind selbst als Teile eines lebendigen Ganzen Modifikationen des Ganzen, d.h. selbst Einheiten von der Art des Ganzen.32 Damit macht Herder einen ersten Ver­ such, den im >>Versuch über das Sein« noch vorhandenen Dualismus von äußerer Sinnlichkeit und innerem Sinn in den monistischen Gedanken des einen lebendigen Zusammenhangs, dessen Prinzip der innere Sinn ist, welcher darum hier auch allein als Seele, also als Prinzip des Lebendigen angesprochen wird, zu transfor­ mteren. Dieses organologische Modell enthält zwei Aspekte zur Interpretation der These, die Seele entwickele sich selbst, den dunklen Begriff ihres eigenen Seins, indem sie sich Sinne und körperliches Dasein bereite, die beide von Herder in An­ spruch genommen werden. Die Entwicklung der menschlichen Seele kann einer­ seits entwicklungspsychologisch, empirisch verstanden werden, so daß an die fak­ tische ontogenetische Entwicklung 'vom embryonalen Stadium an zu denken wäre. Diese Linie der Interpretation wird vor allem in dem zweiten Punkt >>Sinnein dem Leibe unsrer Mütter bekommt so wohl die Bildung unseres Körpers, als Geistes, ihre Form.< Und hier muß also die Erklärung anfan­ gen.« (SWS I, S. 45) Vgl. hierzu R. Haym: Herder, Bd. I, S. 1 95, 248.

Das Gefühl des Seins

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organologische Modell erlaubt andererseits eine metaphysische und zwar idealisti­ sche Deutung. Dieser Gesichtspunkt wird in dem dritten Punkt »Obj ektive Ge­ wißheit und Wahrheit« näher erläutert. Wenn die Sinne nichts als Modifikationen der Vorstellung des Seins der Seele sind, sind sie von derselben Art, d.h. andere Weisen des Vorstellens, so daß das Verhältnis von Seele und Sinnen bzw. der Seele zu ihrem körperlichen Dasein weder cartesianisch als Verhältnis heterogener Sub­ stanzen, noch leibnizisch als Verhältnis einer Substanz zu einer Vielzahl gleicharti­ ger Substanzen zu interpretieren wäre, sondern nach Art des Berkeleyschen Idea­ lismus. B evor auf diese beiden Aspekte und ihr Verhältnis zueinander näher eingegan­ gen wird, sind noch zwei Ergänzungen zum ersten Punkt des Manuskripts nach­ zutragen; die erste betrifft die Parallelisierung von Gott und Mensch, die zweite Herders Gedanken einer Philosophie und Mathematik des Seins. Gott und Mensch sind nach Herder darin gleich, daß in dem Begriff ihres Seins der Gedanke der Welt liegt. Verschieden ist der Grad der Deutlichkeit: der menschliche Begriff des Seins ist dunkel, ein Gefühl, der göttliche B egriff ist deut­ licher Gedanke (vgl. I, 1 ) . Beiden Gedanken wird eine Art von Produktivität zuge­ sprochen: Gott schafft aus dem Begriff seiner selbst die Weh, der Mensch bildet sich einen Körper (vgl. I, 2). Die Analogie zwischen menschlichem Selbstgefühl und Körper bzw. göttlichem Selbstbewußtsein und Welt wird in den Unterpunk­ ten 6 und 7 detaillierter ausgeführt: »6. Wenn ich mir also die Einwürkung der Allmacht Gottes auf die Welt vorstel­ len will: so muß ich suchen, die Einwürkung des Wollens der Seele auf den Körper zu erkennen. - Seine Allgegenwart ist ihre[r] Allgegenwart im Körper ähnlich. Seine Schöpfung, der Entwickelung unseres Körpers für uns: Seine Direktion der Welt, der Sorge unserer selbst für unsern Körper. 7. Nur wir baueten dunkel: (er) bei ihm ist die ganze Welt der Eine deutliche Ge­ danke seiner selbst. Wir wissen noch nicht, wie wir geschaffen: er deutlich, aus Gründen: Dies nennen wir die Berathschlagung des Schöpfers . Er weiß, wie er allem allgegenwärtig ist: das Commercium der Seele und etc. [des Körpers] ist uns unbekannt: er weiß wie er vor Alles sorgt; wir blos Instinkt; wir hören nicht die Gebete unserer Lunge, Adern, Blutmonaden etc. um vor sie deutlich zu sorgen.« Diese Ausführungen verraten den großen Einfluß, den Shaftesbury von früh an auf Herder gehabt hat.JS Den Vergleich zwischen der menschlichen Seele und ihrer Sorge für den Körper und dem göttlichen Geist und seiner Sorge für das Ganze der Welt entnimmt Herder dem dritten Teil der >>Moralisten>Versuch über das Sein« zugleich die sinnlichsten B egriffe sind, damit in Beziehung. Offen­ sichtlich ist hierfür insbesondere der Gedanke des vorkritischen Kant, daß die B e­ griffe Raum, Zeit und Kraft die Begriffe des nexus der Dinge sind, d.h. die B egriffe, durch die das Verbundensein von Dingen zu einer Welt zu denken ist,53 von Bedeutung. Indem Herder diese Begriffe des nexus zu Vorstellungsweisen der Sinne erklärt, werden diese B egriffe subj ektiviert. Sie bezeichnen nicht mehr, zu­ mindest nicht in dieser Schrift, wie bei Kant die von Gott gesetzte Ordnung der Dinge, sondern die den Menschen eigentümliche Art, den Zusammenhang der Dinge vorzustellen. Sofern aber, wie noch genauer zu zeigen ist, durch diese Be­ griffe erst die Vorstellung einer von dem Selbst verschiedenen Welt ermöglicht wird, ist damit im Prinzip der Gedanke einer durch die Subj ektivität konstituierten Obj ektivität formuliert. Indem Herder die unzergliederlichen Begriffe des nexus der Dinge den einzelnen Sinnen als Vorstellungsmodi entsprechen läßt, gewinnt er 5 1 Das früheste Zeugnis für Herders Bekanntschaft mit Condillacs »Essai« findet sich in dem

Aufsatz über Hamann »Dithyrambische Rhapsodie über die Rhapsodie Kabbalistischer Prose« von 1 765; vgl. DKV I, S. 3 1 , Stellenkommentar S. 8 9 1. Ob bzw. wann Herder die auf Veranlassung von Diderots Kritik an Condillacs »Essai« geschriebene »Abhandlung über die Empfindungen« ( 1 754) gelesen hat, ist m.W. bisher nicht untersucht. Die Forschung hat sich bisher auf die Untersuchung des Einflusses von Condillacs Sprachphilosophie konzentriert; für Herders Theorie der Sinne steht eine gründliche Untersuchung noch aus. Vgl. H. Aarsleff: The Tradition of Condillac: The problern of the origin of langnage in the eighteenth cenrury and the debate in the Berlin Academy before Herder. In: H.A.: From Locke to Saussure. Essays on the srudy of langnage and intellectual history. London 1 982, S. 1 46 ff.; siehe auch HA.: Condillac's speechless statue. In: ebd., S. 2 1 0 ff. 52 Mendelssohn, Jub.A. 1 , S. 325; vgl. auch Baumgarten: Metaphysica, § 74 1 : »Ergo Anima Humana est vis repraesentativa universi pro positu corporis in eodem. «; vgl. Wolff: Psychologia Rationalis, § 66. 53 Vgl. Kant AA 1 7, Refl. Nr. 3 7 1 6, 3 7 1 7; siehe auch die Anmerkung Adickes ebd., S. 257.

Kategoriale Bestimmung der Sinnlichkeit

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einen posltlven Begriff von der Einschränkung der menschlichen Vorstellungs­ kraft, so daß Sinnlichkeit nicht mehr nur wie im »Versuch über das Sein« als die Grenze der Analysierbarkeit bestimmt ist. Raum, Zeit und Kraft sind nicht mehr subj ektiv gewisse B egriffe, mit denen die >>Mutter Natur« den Menschen ausge­ stattet hat, sondern sie sind die Strukturen, in denen sich die Vorstellungskraft des Menschen äußert in dem doppelten Sinne, daß ihre Bildung als Wirkung der Vor­ stellungskraft zu verstehen ist und daß sich alle ihre Inhalte in diesen Strukturen darstellen. Damit gelingt es Herder, eine Konzeption vorzustellen, in der Seele und Sinne ein funktionales und integriertes Ganzes bilden. Herder entwickelt zwar nicht wie der kritische Kant den Gedanken der qualita­ tiven Differenz zwischen Anschauung und Begriff, aber er stellt eine Theorie der Sinnlichkeit auf, in der Sinnlichkeit kategorial durch Raum, Zeit und Kraft bestimmt ist, 54 und versucht, diese Kategorien der Sinnlichkeit aus dem Begriff des Seins systematisch herzuleiten. Die entscheidenden Passagen lauten: >> 1 . So wie unsre Sensationen in unserer Erkenntnis vereinigen: so in unsern Sin­ nen die ganze Weh. Alle Begriffe, die wir von ihr haben sind Entwicklungen unserer Gedanken nach den Schranken unserer Sinne. So viel Sinne, so viel Hauptwissenschaften: (a) a) a) b) c) (a)

Gefühlslehre) Gesicht am deutlichsten hat auch die meisten Wissenschaften hier Theile neben einander: also deutlich bleiben bei einander, also immer dieselben Zeichen der Schrift die besten Geometrie, Mechanik) Mathematik ganz sinnlich wemge Gegenstände noch [?] b) Gehör hier ist Rede als Musik der Seele etc. etc. etc. etc. etc. c) Gefühl: 2. Wenn das Seyn unsere Welt ist: so ist Raum, Zeit, Kraft (die Grenze) das Feld unserer Sinne: 54 Weder in Herders Vorlesungsnachschriften noch in den veröffentlichten Schriften Kants findet sich der Gedanke des kategorialen Bestimmtseins der Sinne durch Raum, Zeit und Kraft. Wohl aber zeigen einige Reflexionen aus der Phase um 1 769 zwischen der Schrift »Über den U met­ schied der Gegenden im Raum« von 1 768 und der Inauguraldissertation Kants 1 770, daß Kam diese Möglichkeit erwogen hat. In Reflexion 265 heißt es: »Durch Gesicht der Raum (man kan beym sehen von allen Farben abstrahiren); durch das Gehör die Zeit (man zählt in Gedanken, wenn man successionen schätzen will); durch Gefühl die substantz. Weil aber substantz nicht ohne accidentia ist, diese aber modificationes des Raumes und der Zeit seyn, so enthält das Gefühl alles; aber die Formen werden durch Gesicht und Gehör besser unterschieden. « (AA 15, S. 1 00) Ob Herder Kenntnis von diesen Überlegungen Kants hatte oder ob er denselben Gedanken von ganz anderen Voraussetzungen her, nämlich von seiner auf Hume basierenden Theorie subjektiver Begriffe, also unabhängig von Kam, j edoch ungefähr zeitgleich mit Kant entwickelte, ist vor der Hand nicht zu entscheiden. Übereinstimmung und Differenz beider Lehrstücke müßten in einer Spezialunter­ suchung geklärt werden.

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Kapitel III Plato sagte: daß unser Lernen bloß Erinnerung sei ·

das Nebeneinander gibt den Sinn des Gesichts das Nacheinander gibt den Sinn des Gehörs das Ineinander gibt den Sinn des Gefühls«

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lauter Modificationen der einen Vorstellung

Im ersten Unterpunkt ist zunächst von einer zweifachen Vereinigung die Rede: Die Sensationen vereinigen sich in unserer Erkenntnis; das kann heißen: sie werden zur Einheit des B egriffs gebracht oder sie werden in der Erkenntnis, die wir von uns selbst haben, vereinigt, d.h. sie werden als Vorstellungen des Ich vorgestellt. Die zweite Lesart läßt die Pointe des Vergleichs erkennen: Unsere Gedanken wer­ den zu Vorstellungen von Welt, d.h. zur Totalität des außer uns Seienden, wenn sie in unseren Sinnen vereinigt werden, d.h. wenn die mannigfaltigen Vorstellungen nicht mehr nur als zur Einheit des Ich gehörig, sondern nach den durch die Sinne gegebenen Gesetzen der Vereinigung vorgestellt werden.55 Der zweite Unterpunkt geht von der im ersten Abschnitt dargestellten Prämisse aus, die Seele verfüge zunächst nur über den einen Gedanken des Seins, der ihre Welt sei (vgl. I, 1 ) . Hier ist also die Frage, wie sich diese Einheit in eine Vielheit differenziert. Charakteristisch für Herders Ansatz ist, daß die ersten Differenzie­ rungen des B egriffs Sein sowohl subj ektive als auch obj ektive B edeutung haben: modi cogitandi sind zugleich modi essendi. Den Vorstellungsweisen des Sehens, Hörens und Fühlens entspricht das Nebeneinander-, Nacheinander- und lneinan­ dersein . Raum ist der Begriff von etwas, das »Mehr, als Eins>Mehr, als Einmal« ist, d.h. B egriff von solchem, das in einer Folge existiert. Kraft schließlich ist Begriff von etwas, das >>Mehr, als auf einerlei Art« ist, d.h. von etwas, das sich verschieden äußert, in verschiedenen Zuständen existiert. Zu beachten ist, daß Herder Raum, Zeit und Kraft als verschiedene Arten, einen B egriff zu setzen, erläutert: der Begriff ist mehr als Eins, mehr als Einmal, mehr als auf einerlei Art. D.h. Raum, Zeit und Kraft sind Begriffe der Verbindung von B egriffen, die zusammengenommen den Begriff des Außer-uns-Seins ausmachen. Man sieht hieran, wie eng Herder auch noch in diesem Stück an Crusius orientiert ist: B egriff als solcher ist als cogitabile zugleich das possibile. Wie Crusius denkt Herder Raum, Zeit und Kraft als dasj enige, was zu der im Begriff gedachten Mög­ lichkeit hinzukommen muß, um diesen Begriff nicht als Prädikat der Seele, d.h. als bloßen Gedanken, sondern als außerhalb der Seele seiend vorzustellen. Aber Herder setzt insofern anders als Crusius an, als er nicht den Inhalt des Begriffs der Existenz als Sein außerhalb des Bewußtseins zergliedert und so zu den B egriffen Raum, Zeit, Kraft kommt, sondern von dem Begriff des Seins ausgeht und fragt, wie muß ein Begriff vorgestellt werden, damit er als außer uns seiend gedacht ist. D .h. Herder geht nicht analytisch, sondern synthetisch vor. Die Ableitung der Kategorien der Sinnlichkeit aus der Vorstellung des Seins als ihre logische Genese ergänzt Herder im dritten Punkt durch die Darstellung ihrer 55 Vgl. SWS IV, S. 7 f.

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Kategoriale Bestimmung der Sinnlichkeit

faktischen Genese. Faktisch entstehen diese Begriffe nach Herder - analog zu Humes Genealogie des Begriffs der Kausalität5 6 - aus wiederbalter Wahrneh­ mungs?. Herder kombiniert also Leibniz und Hume, indem er die Kategorien der Sinnlichkeit sowohl als Modifikationen des Begriffs Sein, der ja zunächst das Sein der Seele bezeichnet, als auch sensualistisch als hervorgehend aus Wahrnehmung faßt. »3. Ein Kind lernt (die) sich von der Welt, die in ihm liegt unterscheiden. da ist Gesicht subj ektiv Raum obj ektiv Es tappt nach Licht etc. da ist Gehör subjektiv Folge obj ektiv Es hört und hört wieder etc. Es fühlt und fühlt verschieden da ist Gefühl subj ektiv Kraft obj ektiv Dort ist der Begriff Mehr, als Eins zweitens ist der B efriff Mehr, als Einmal drittens ist der Begriff Mehr, als auf einerlei Art«

}

alles ist Begriff a uß er ihm

Sofern mit der Bildung der Sinne die B egriffe Raum, Zeit und Kraft entstehen, ist erst damit prinzipiell die Möglichkeit gegeben, Vorstellungen in äußere Rela­ tionen zu setzen und damit als etwas von dem Ich oder von der Seele Verschie­ denes zu erfahren. Herder denkt die Entstehung der Sinne und die Bildung der Vorstellung von außer uns Seiendem als komplementäre Seiten desselben Vor­ gangs. Die erste Differenzierung innerhalb des völlig unterschiedslosen Gefühls von Sein ist die Modifikation dieses Gefühls in die verschiedenen Sinne und zugleich die Proj ektion von Inhalten in ein Außer-uns-Sein, das durch Raum-, Zeit-, Kraftverhältnisse gebildet wird. Damit treten Wahrnehmendes, d.i. Subj ekt, und Wahrgenommenes, d.i. Obj ekt, auseinander. Herder beschreibt die Bildung der Sinnlichkeit als einen Entwicklungsvorgang zunehmender Ausdifferenzierung; diese Ausdifferenzierung betrifft sowohl das wahrnehmende Subj ekt als auch die wahrgenommenen Obj ekte: >>Außer ihm: so lernt es das in ihm allmälich unterscheiden - sich in einer Welt fühlen d.i. seine Sinne gebrauchen und seine Fähigkeiten entwickeln.« (II, 4) Das aber hieß für Rousseau Leben: >>Vivre, ce n ' est pas respirer, c' est agir; c' est faire usage de nos organes, de nos sens, de nos facultes, de toutes !es parties de nous-memes qui nous donnent le Sentiment de notre existence.,,s s Die Ausdifferenzierung geht einher damit, daß die Seele immer mehr >>außer sich gerückt« wird: >>aus ihrem dunkeln, ewigen lebhaften Traum wird immer eine mehrere Anerinnerung, wie in der Mor­ genröthe, wenn wir zu uns selbst kommen. Das ist noch Dämmer: alles noch Gefühl: selbst Gesicht, und Gehör mischt sich zum Gefühl: alles noch nicht den Grad der Deutlichkeit -«. (II, 6)

56 Vgl. Hume: Enquiry concerning human understanding, S. 47 ff. 57 Vgl. SWS IV, S. 29. 58 Rousseau: E mile, S. 253.

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Kapitel III Plato sagte: daß unser Lernen bloß Erinnerung sei ·

Das Bild der Morgenröte verwendet Baumgarten, um sensitive Erkenntnis hin­ sichtlich ihrer Position zwischen dunklen und deutlichen Vorstellungen und um den Gedanken des kontinuierlichen Übergangs von j enen zu diesen zu veran­ schaulichen.s9 Herder gibt dem Bild einen anderen Akzent: Das Bewußtwerden der Seele geht einher mit dem Sichtbarwerden der äußeren Gegenstände; Verdeut­ lichung vollzieht sich nicht linear, sondern in der dynamischen Polarität von Außersichgerücktwerden und Anerinnerung.6o Die Ausbildung der einzelnen Sinne markiert verschiedene Stufen in der seeli­ schen Entwicklung. Das Gefühl (der Tastsinn) ist der erste Sinn, der am meisten Gemeinsamkeit mit dem inneren Gefühl des Seins hat: wie dieses ist es dunkel bzw. undeutlich, aber auch stark und lebhaft; es faßt am meisten in sich und vari­ iert individuell am stärksten. Das Gesicht ist der deutlichste Sinn, der darum auch dem inneren Gefühl des Seins gewissermaßen am fernsten liegt. Das Gehör steht hinsichtlich Deutlichkeit und Intensität zwischen Gesicht und Gefühl. Herder ordnet die Sinne damit nach klassischen Gesichtspunkten: Die feineren Sinne geben allgemeine und deutliche Vorstellungen, die gröberen Sinne sind individuell unterschiedlicher und vermitteln bloß dunkle Vorstellungen. ••Je dunkler, allge­ meiner der Sinn; je näher mit dem ersten Gefühl verwandt z.E. Gefühl; desto un­ erklärlicher - und auch desto individueller. Hier die größesten Sonderbarkeiten und Eigenheiten: Je mehr deutlich desto gemeiner und mit andern conformer, vielleicht auch desto mehr Wahrheit. Die grobem Sinne lassen ihre qualitates sen­ sibiles blos im Sinn; und da fühle ich nie die Sache, sondern den Eindruck: nie was die Sache ist, sondern wie sie mir vorkommt. Die feinem zwar auch so, aber sie sind doch schon das Sehrohr, dadurch die Empfindung nicht im Auge unmittelbar sondern in der Seele gefühlt wird; also scheint hier das Medium reiner.« (111, 9) Die unmittelbare Quelle für Herders Anordnung der Sinne war mit aller Wahr­ scheinlichkeit Sulzers »Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen>Diej enigen [Sinne], welche die schwächsten Ein­ drücke auf die Seele machen, sind eben die, die sich dem Geistigen am meisten nähern.>Man erkennt hieraus, wie sich die Sinne nach und nach gleichsam erhe­ ben, um sich dem Geistigen, so viel als möglich zu nähern.Zergliederung des Begriffs der Vernunft>Unterschied (der) mancher sinnlicher Affekten (Freuden) Vergnügenvielleicht nur in der Folge« auch den der ab­ straktesten Ideen hierin begründet sieht (vgl. II, 8). Der Akzent liegt j edoch bei Herder nicht auf einer für alle Menschen gleichermaßen zutreffenden genealogi­ schen Rekonstruktion abstrakter Ideen aus sinnlichen, sondern darauf, daß den ersten Ideen individualisierende Bedeutung zukommt. Wie ist es genauer zu ver­ stehen, daß sie die ersten sehr merklichen Begrenzungen unserer Seele durch äußere Gegenstände sind ? In welcher Weise kann die Seele durch äußere Gegen­ stände überhaupt begrenzt werden ? Das dunkle Gefühl des Seins, in dem alle ln­ halte, j edoch völlig unterschiedslos, gegeben sind, wird durch die ersten Wahrneh­ mungen verdeutlicht, d .h. die Seele verfügt über bestimmte Vorstellungen und wird insofern selbst bestimmt. Daraus ist allerdings keineswegs verständlich, warum den ersten Bestimmungen ein solches Gewicht beigemessen wird, Deter­ mination auf unser ganzes Leben darzustellen. Um dies begreiflich zu machen, ist daran zu erinnern, daß die Wahrnehmungen als Modifikationen der einen Vor­ stellung Sein aufgefaßt werden, d.h. es sind bestimmte Weisen, die eine Vorstellung Sein vorzustellen. Sofern die seelische Entwicklung ausgeht von einem Zustand der Ununterschiedenheit von Selbst und Welt, von Subj ekt und Obj ekt, betreffen die ersten Ideen in viel stärkerem Maße als nach der Ausbildung dieses Unterschieds das, was dann das verkörperte oder im Körper anwesende Selbst oder Ich genannt wird.92 Daß gerade die verschwommenen und vagen Eindrücke der frühesten Kindheit in entscheidender Weise die eigene Gestimmtheit und Haltung zur Welt prägen, ist in der heutigen Entwicklungspsychologie unumstritten.93 In diesen wenigen Bemerkungen hat man den Anfang von der im >>Reisej our­ nal>das Zeugnis der innern und äusserlichen Sinne selbst vor seinem Richterstuhle zu fordern, und das Wahre von dem Falschen, das Gewisse von dem Ungewissen zu unterscheiden [ . . . ] « 105 Die Metaphysik hat sich also mit dem Skeptizismus in bezug auf die Sinne auseinanderzusetzen. Im Anschluß an Leibniz führt Mendelssohn aus, daß die sinnlichen Vorstellungen nur Erscheinungen zu erkennen geben. Erscheinung definiert Mendelssohn so: >>So oft wir einen Gegen­ stand anders wahrnehmen, als er würklich ist, so sagen wir, es scheine uns nur so, und nennen unsere Vorstellung eine Erscheinung (Phaenomenon, apparentia). « 106 Die Erscheinungen werden in beständige und unbeständige unterschieden: >>Jene haben ihren Grund in der innern Beschaffenheit der menschlichen Sinne überhaupt; diese aber in gewissen äussern Zufälligkeiten.>Eine Erscheinung ist nichts anders, als ein Begrif, dessen Beschaffenheit zum Theil aus dem Unvermögen unserer Erkenntnis erkläret werden muß. Es sind zusammen­ gesetzte Vorstellungen, die wir nicht aus einander setzen können, und daher anders wahrnehmen, als sie würklich sind.« 1 os Mendelssohn stützt sich auf Leibniz' Lehre, daß das wahrhaft Wirkliche die einfachen mit Vorstellungskraft b egabten Substanzen sind, die durch die Einschränkung der Vorstellungskraft, d.h. durch die notwendige Verworrenheit eines Teils der Vorstellungen als ausgedehnte Kör­ per erscheinen.l 09 Der Gegenbegriff zu Erscheinung ist bei Mendelssohn der Begriff der Reali­ tät. llO In der Schulphilosophie bedeutet realitas wahrhaft positives Prädikat;m die 104 V gl. Mendelssohn: Abhandlung über die Evidenz, Jub.A. 2, S. 284 ff. Die Interpretation von

Moses Mendelssohns Erscheinungsbegriff stützt sich auf A. Altmann: Mendelssohns Frühschriften zur Metaphysik, S. 296 ff., S. 324 ff. 10 5 Mendelssohn: Abhandlung über die Evidenz, Jub.A. 2, S. 293. 10 6 Ebd., S. 285. 107 Ebd., S. 3 1 0. 10 8 Ebd., S. 3 1 0. 109 Zu Leibniz vgl. z.B.: Discours de metaphysique, Kap. 12; vgl. hierzu W. Janke: Leibniz, S. 96 ff.; zu Mendelssohn vgl.: Abhandlung über die Evidenz, S. 3 1 1 . Altmann nennt zwei Stellen bei Leibniz, die sich in der von Maizeaux herausgegebenen Sa"mmlung »Recueil de diverses pieces sur philosophie« finden, auf die sich Mendelssohn aller Wahrscheinlichkeit nach bezieht. Vgl. Leibniz: Die philosophischen Schriften, Bd. 6, S. 586, S. 590; siehe A. Altmann: Mendelssohns Frühschriften, S. 326. 1 10 V gl. Mendelssohn: Abhandlung über die Evidenz, Jub.A. 2, S. 309 ff.

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in einem Wesen vereinigte Realität macht die Vollkommenheit aus . 1 1 2 Ebenso ver­ wendet Mendelssohn den Begriff, wenn er sagt: »Wir wissen von den Eigen­ schaften der Dinge ausser uns niemals mit überzeugender Gewißheit, ob sie Reali­ täten, oder blasse Erscheinungen sind, und im Grunde sich auf Negationen stüt­ zen [ . . . ) >Alle (Kör} qualitates sensibiles, alle Gegenstände der Sinne, sind also eigentlich wohl nicht Negationen, oder Folgen davon, sondern wenn ich mir den Gedanken als Lichtstrahl denke: so ist j eder Sinn ein Fernglas ihn aufzu­ fangen, zu brechen, und die Erscheinung die daraus kommt ist sinnlicher Gegen­ stand. Jedes Ph[ä]nomenon ist also Produkt von Licht und Schatten, von Realität und Einschränkung, von Seyn und (nicht Seyn} mittelbarer Grenze.« (1, 4) Eindeutiger als es bei Mendelssohn der Fall war, identifiziert Herder also Er­ scheinung und sinnlichen Gegenstand. Wenn Herder Phänomen als Produkt von Realität und Einschränkung, von Sein und mittelbarer Grenze definiert, so handelt es sich dabei um eine genetische, erkenntnispsychologische Erklärung. Gemeint ist, Erscheinung sei das Resultat einer Vorstellungskraft, die ihrerseits nur einen bestimmten Grad der Realität aufweist, d.h. Schranken hat. 1 1 5 Soweit sagt Herder 1 1 1 Vgl. Baumgarten: Metaphysica, § 36: »Quae determinando ponuntur in aliquo (notae et praedicata) sunt Determinationes, altera positiva, et affirmativa, § 34,10. quae si vere sit, est Reali­ tas, altera negativa, § 34, 1 0. quae si vere sit, est Negatio. « Vgl. hierzu A. Maier: Kants Qualitäts­ kategorien, S. 15 ff. 1 1 2 Zum Zusammenhang von realitas und perfectio vgl. Baumgarten: Metaphysica, §§ 94-1 00; vgl. auch A. Maier: Kants Qualitätskategorien, S. 23, Anm. 1 . 1 1 3 Mendelssohn: Abhandlung über die Evidenz, Jub.A. 2 , S . 309. 1 1 4 V gl. ebd., S. 3 1 1 . Altmann weist zu Recht darauf hin, daß Mendelssohn »mit der Einführung des Leibnizschen Begriffs des Phaenomenon einen Schritt getan [hat], der dann später von Kant vollzogen und zur weittragenden Unterscheidung von phaenomenon und noumenon benutzt wer­ den sollte.« (A. Altmann: Mendelssohns Frühschriften, S. 327.) Vorbereitet ist die Kamische Lehre von Mendelssohn in zwei Punkten: Erstens. Der Begriff des Phänomens rückt in »nächste Nähe zum B egriff des in der Sinneswahrnehmung Gegebenen, und wenn man mit Leibniz, dem Mendels­ sohn folgt, auch Ausdehnung und Bewegung zu den Phänomenen zählt, in Begriffsunion mit dem in der Anschauung Gegebenen« (ebd.). Zweitens. Die Prädikate der Dinge als Erscheinung sind nicht ihre wahren Prädikate, sondern solche, die ihnen nur aufgrund der Beschaffenheit unseres Vorstellungsvermögens beigelegt werden. 1 1 5 Den Begriff Schranke (Iimes) definiert Baumgarten durch zwei Momente: Limitation ist einerseits Negation, sofern einem beschränkten Seienden nicht alle Realitäten zukommen, und be-

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Kapitel 111 Plato sagte: daß unser Lernen bloß Erinnerung sei ·

nichts anderes als Mendelssohn, der erklärt, daß alle Phänomena ihren Grund in den Einschränkungen unserer Vorstellungskraft haben. Wenn Herder seine Aus­ führungen als Korrektur an Mendelssohns Bestimmung des Begriffs der Erschei­ nung durch den Begriff der Negation versteht, so zeigt dies, daß Herder Mendels­ sohns Verwendung der Begriffe Realität und Negation hier nicht korrekt aufge­ nommen hat, denn Mendelssohn hatte den Begriff der Negation nicht in bezug auf das vorstellende Subjekt, sondern in bezug auf die vorgestellten Inhalte der Er­ scheinungen verwendet. Was Herder sagen will, ist indessen klar: Die Sinnlichkeit als Schranke der menschlichen Erkenntnis ist nicht als Negation zu begreifen, son­ dern als eine positiv zu bestimmende Grenze analog zu den Grenzen der mathe­ matischen Figuren. t t 6 An anderer Stelle gebraucht Herder Mendelssohns Gedanken einer begrifflichen Kennzeichnung von Phänomenen durch die Begriffe Realität und Negation. >>So bald der Sinn gebildet war, so hatte die Seele ein Fernglas zu sinnlichen Gegen­ ständen. Was sinnlich ist, ist Trug, Schein, Ph[ä]nomenon; blos das Vehikulum des Gedanken - die Gedanken Realität und Wahrheit. Also z.E. bei Gesicht, ist Raum, Figur, Weite, etc. Vorstellungsart der äußern Möglichkeit eines Dinges, nichts mehr. Ich verwickle mich in unendliche Schwürigkeiten (ein Ich) wenn ich das, was blos Privation ist, als einen Reellen Begriff ansehe, definieren will.« (111, 2) Wenn hier die Gedanken als Realität und Wahrheit bezeichnet und dem Sinnli­ chen gegenübergestellt werden, das als Trug und Schein bestimmt ist, so greift Herder Mendelssohns Erscheinungsbegriff in einem weiteren zentralen Punkt auf, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Schließt sich Mendelssohn Leibniz' Ontologie an, indem er als das wahrhaft Wirkliche eine Vielzahl von mit Vorstellungskraft begabten Substanzen ansieht und die Körper mit allen ihren Prädikaten zu Phänomenen erklärt, so nähert sich Herders Standpunkt dem des subj ektiven Idealismus von Berkeley. Herder konzipiert hier gewissermaßen als Pendant zum göttlichen Egoismus aus dem »Versuch über das Sein« den Gedan­ ken eines menschlichen Egoismus. Das Wahre oder die Wahrheit ist hier der Gedanke des Seins der Seele selbst, und solange die Seele vermittelst der Sinne als Vehikulum andere Vorstellungen lediglich als von ihr selbst verschiedene Vorstel­ lungen erkennt, gilt auch dies als Wahrheit; sofern sie aber im Raum nebeneinan­ der und in der Zeit nacheinander gesehen werden, handelt es sich um Erscheinun­ gen: »Der Gedanke im Sinn ist ein reiner Lichtstral, im Glase gebrochen, und repräsentiert sich farbig - So sieht er andre Dinge außer sich, die er alle als außer sich erkennt, d.i. Wahrheit. Er sieht sie im Raum neben einander, nacheinander: Figur u.s.w. das ist Erscheinung. Es bleibt also nichts, als Andres außer uns.« Herder bedient sich hier der Doppeldeutigkeit des Begriffs »außer« als praeter und extra, deren Kenntnis ihm durch Lamberts »Neues Organon« vermittelt sein inhaltet andererseits »Grad•, nämlich den bestimmten Grad einer Realität, die höhere Grade zu­ läßt. Vgl. Baumgarten: Metaphysica, § 248; siehe A. Maier: Kants Qualitätskategorien, S. 3 7 f. 1 16 Vgl. Punkt I, 9: Die Sinnlichkeit ist die verwirrendste Grenze. »Allein so wie in der Mathe­ matik die Anschauung der Grenzen Figur gibt und eben damit anschauende Begriffe: so ist auch hier die Kenntnis der Grenzen, der Sinnlichkeit das fruchtbarste Erfindungsmittel der Wahrheit.«

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mag, 1 1 7 um seinen idealistischen und zugleich sensualistischen Standpunkt klarzu­ machen. Trügerisch sind demnach nicht die sinnlichen Prädikate als solche, die Ausdehnung, die Farbigkeit etc., sondern die Suggestion der Sinne, es gebe Gegen­ stände außerhalb dieser sinnlichen Vorstellungen. Scheinhaft ist bloß die Proj ek­ tion der Gedanken in eine real existierende Außenwelt, die mit der Sinnlichkeit der Vorstellungen notwendig einhergeht. 1 18 Hieran wird deutlich, daß Herder den Erscheinungsbegriff aus der universa­ lontologischen Perspektive, in der er bei Leibniz steht, stärker noch als Mendels­ sohn, der diesen Aspekt aufgrund seiner Thematik nicht zu behandeln hatte, in eine subj ektiv-anthropologische Perspektive transferiert. Der Gegensatz von wah­ rer und phänomenaler Welt ist hier nicht angesetzt als Entscheidung über den Rang von zwei Arten von Gegenständen, sondern als Entscheidung über den Unterschied der Gewißheit zwischen Vorstellungsweisen des Subj ekts. Das onto­ logische und das erkenntnistheoretische Moment im Begriff der Erscheinung wer­ den in Herders Entwurf neu kombiniert und interpretiert. Ansatzpunkt hierfür ist Herders B estimmung der Sinnlichkeit. Sinnlichkeit wird nicht mehr nur qua ver­ worrene Vorstellungsweise quantitativ, graduell definiert, sondern wird qualitativ bestimmt als Vorstellungsweise von etwas in Raum-Zeit-Kraft-Verhältnissen. Bil­ dung der Sinne ist aber gleichgesetzt mit der Bildung eines Körpers. 1 1 9 Die Sinn­ lichkeit ist somit nicht primär angesetzt als Grund der Erscheinung von anderen Körpern, sondern als körperhaft ist sie selbst schon Erscheinung der endlich­ menschlichen Seele. Hier hat Erscheinung allerdings nicht den Sinn von bloßem Schein, sondern der Körper ist als Produkt oder Wirkung der endlichen Kraft der Seele das, worin sie sich offenbart, wie Herder auch sagt. I20 Die Erscheinungen als sinnlich vorgestellte Gegenstände setzen also Sinne als »erste« Erscheinung der Seele selbst voraus. Hinsichtlich der Erscheinungen im zweiten Sinne ist es ohne 1 1 7 Lambert macht auf den doppeldeutigen Sinn dieses Ausdrucks in Wolffs Ontologie auf­ merksam. Vgl. Lambert: Neues Organon, Werke Bd. I, § 50, S. 485; vgl. Wolff: Ontologia, §§ 544, 548. 1 1 8 Vgl. die Parallelstelle im »vierten kritischen Wäldchen«, SWS IV, 7 ff. : »Unmittelbar, durch ein inners Gefühl bin ich eigentlich von nichts in der Welt überzeugt, als daß ich bin, daß ich mich fühle [ . . ] Die Überzeugung davon, daß Etwas Außer uns sei, ist von andrer Art, deren Unter­ schied so schwer zu charakterisiren ist, als der Unterschied zwischen Innen und Außen; indessen noch Überzeugung und Gefühl. Der Streit mit dem Idealisten ist, recht erklärt, nur immer Wort­ streit, daß das Außer uns, kein In uns sey, und wenn also auch die Vorstellungsarten von Körpern, nichts mehr als Vorstellungsarten, und bequemere Formeln unsrer Charakteristik wären: so haben sie so fern, als unentbehrliche Hypothesen, äußere Gewißheit. « 1 1 9 Vgl. 1,2; IV,3. 1 20 Vgl. z.B. »Zum Sinn des Gefühls«, S. 2 87; s. »Plastik« von 1 770, SWS VIII, S. 1 5 1 f.: »Ich betrachte den Körper, als ein Phänomenen, als eine sinnlichgemachte Vorstellung der Seele, und suche also auch, um mir die Schönheit des Körpers in fühlbaren Formen zu erklären, in dem den­ kenden Wesen Grund, was sich diese Formen gebildet, was so viel Materie zu seiner Hülle um sich nahm, als nöthig war, in einem beschränkten Gesichtskreise Ideen von der Welt zu sammlen, und andern dieselbe zu offenbahren. « Verkörperung ist auch die Voraussetzung für die Möglichkeit von Offenbarung im Sinne der Mitteilung von Welt, sofern diese an sinnliche Zeichen gebunden ist. Vgl. SWS XXXII, S. 226. .

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Kapitel III Plato sagte: daß unser Lernen bloß Erinnerung sei ·

weiteres möglich, zwischen >>Schein und Wesen« (III, 1 2) zu unterscheiden, weil klar ist, worin der Anteil der Sinnlichkeit besteht. Wie grenzt Herder die Phänomene von bloßen Einbildungen ab ? Da auf die Annahme äußerer Gegenstände als Ursachen der Wahrnehmungen ebenso verzich­ tet wird wie auf eine universalontologische Derivation der Erscheinungen, bleibt als einzige Möglichkeit, Unterscheidungskriterien in bezug auf die Vorstellungen selbst auszumachen. Herder nennt zwei Kriterien: Konstanz und Intersubj ektivi­ tät. Der letzte Punkt wird nur erwähnt, ohne ausgeführt oder begründet zu werden. >>Da unsere Seele sich diese immerwährende bestimmte Sensation gegeben: so ist sie auf einer Welt voll Träume, wo alles ihr gleich träumt, und sie sich in Absicht der Erinnerung doch auch immer gleich träumt, dies ist ihr statt äußerer Gewiß­ heit.« (III, 5 ) 1 2 1 Das Zustandekommen konstanter Erinnerungen erklärt Herder letztlich durch das Gewohnheitsprinzip: »Es ist also die Erinnerung des Gehabten Einerlei, die uns obj ektive äußerliche Gewißheit gibt, und wie entsteht die ? blos durch Ver­ gleich des Gehabten mit dem Jetzt, also durch Verbindung der Ideen, durch Ur­ theil. Dies Urtheil ist das erste des Kindes, und das Kind machts so oft, bis es kör­ perliche B egriffe lernt. So bekommen wir von allem von [was ?] außer uns ist, habituelle Gewohnheit daß wir immer Einerlei empfinden, es als Einerlei beurt­ heilen und so werden wir des körperlichen Gefühls außer uns gewohnt.« (III, 6) Zweifellos verdanken sich diese Ü berlegungen im wesentlichen Humes Philo­ sophie, und zwar erstaunlicherweise der nur im >>Treatise [ . . . ] « ausgeführten Theo­ rie über die Existenz der Außenwelt und über die Identität des Ich. 1 22 Wenn Herder sagt, die Seele sei auf einer Welt voll Träume, wo alles ihr gleich träume und sich die Seele in Absicht der Erinnerung auch immer gleich träume, so ist dies eine Verbindung beider Lehrstücke Humes. Die Annahme der Existenz der Außenwelt kann Herder einen Traum nennen, sofern es sich bei dieser Annahme nach Hume um eine Fiktion der Einbildungskraft handelt. Sofern aber die Pro­ duktion dieser Fiktion in der menschlichen Natu r als solcher begründet ist, träu­ men alle Menschen gleich. Diese Erklärung bezüglich des Glaubens an die Exi­ stenz der Außenwelt verbindet Herder mit einer Erklärung der Identität des Ich: daß sich die Seele in Absicht der Erinnerung gleich träume, nimmt Humes Lehre auf, die Annahme eines identischen Selbst sei ebenso wie die konstanter bewußt1 2 1 Vgl. hierzu Leibniz: Neue Abhandlung über den me:1schlichen Verstand, S. 437: »Allerdings

muß man zugeben, daß diese ganze Gewißheit [Tatsachen-·Wahrheiten betreffend;] nicht eine sol­ che vom höchsten Grade ist [ . . . ] Denn es ist, metaphysiseh gesprochen, nicht unmöglich, daß es einen so zusammenhängenden und langdauernden Traum geben kann, wie das Leben eines Men­ schen; doch ist dies etwas so Vernunftwidriges, wie es etwa die Fiktion eines Buches wäre, das durch Zufall entstände, indem man die Drucklettern bunt durcheinanderwirft.« 1 22 Vgl. Hume: A treatise of human nature. Ed by L.A. Selby-Bigge. Second Edition with text revised and variant readings by P.H. Nidditch. Oxford 1 978; vgl. Buch I, Teil IV, Kap. li und Kap. VI; Humes »Treatise« wurde erst 1 790 -1 792 in deutscher Übersetzung publiziert: »Über die menschliche Natur. A.d.E. mit kritischen Versuchen von L.H. Jacob I-III, Halle 1 790 -92«; zitiert nach M.B. Price I L.M. Price: The publication of English humaniora in Germany in the XVIII•h century. Berkeley 1 955, S. 98.

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seinsunabhängiger Gegenstände eine bloße Fiktion, die sich im wesentlichen der Erinnerung verdankt. l23 Wie die zitierten Ausführungen in 111, 6 klarmachen, meint Herder, daß das Ich oder die Seele über konstante, gleichförmige Erinnerun­ gen verfügt. Konstanz und Kohärenz sind nach Hume die Kriterien von Vorstel­ lungen, die äußere Gegenstände repräsentieren. 1 24 Wie Hume erklärt Herder das Zustandekommen solcher Vorstellungen durch Wiederholung, die schließlich zur Gewohnheit wird , 1 2 5

1 2 3 Vgl. Hume: Treatise, S. 260 ff. 1 2 4 V gl. ebd., S. 1 95 ff. 1 2 5 V gl. ebd., S. 1 99. Der Punkt III, 7 des Herdersehen Manuskripts verrät den Einfluß Berke­

leys. Nicht nur die behandelten Begriffe Figur, Weite (Entfernung), Größe verweisen auf Berkeleys »Neue Theorie des Sehens«, sondern auch die Erklärung ihrer Genese. Vgl. Berkeley: Versuch über eine neue Theorie des Sehens, und: Die Theorie des Sehens oder der visuellen Sprache [ . . ], vertei­ digt und erklärt. Übersetzt und hrsg. v. W. Breidert unter Mitwirkung v. H. Zehe. Harnburg 1 987, Nr. 1 7, 2 1 , 26, 43, 45, 57, 77. .

KAPITEL IV

Grundsätze der Philosophie ( 1 769) und Zum Sinn des Gefühls ( 1 769)

1. Grundsätze der Philosophie Die Skizzen »Zum Sinn des Gefühls« und »Grundsätze der Philosophie«, die beide 1 769 verfaßt wurden,! enthalten einen in beiden Schriften im wesentlichen über­ einstimmenden Systementwurf,2 mit dessen Analyse sich dieses Kapitel beschäf­ tigt. Die Abhandlung »Grundsätze der Philosophie« ist in vier Punkte gegliedert: Der erste Punkt bestimmt das Wesen der unendlichen Gedenkkraft (Gott) im Unterschied zur endlichen. Der zweite Punkt handelt nur von dem Wesen des menschlichen Denkens bzw. gerrauer von dem Verhältnis der menschlichen Seele zu ihrem Körper und zur Weh. Der dritte Punkt thematisiert das Verhältnis der Menschen zueinander. D er vierte Punkt schließlich handelt von den Veränderun­ gen der Welt als dem Körper Gottes.

a) Unendliche und endliche Gedankenkraft Die Skizze >> Grundsätze der PhilosophieAlles>Da es keine unendliche Linie gibt -so ist alles in ihr 1 4 ein Gedanke: der ist Alles: der ist ein Punkt, das ist Gott.>kenkai pan>Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels« das Verhältnis von Gott und Welt zu verdeutlichen. >>Dieser Eine Punkt wird von nichts angezogen, daß die Propension beträchtlich seyn sollte. Aber Er zi'e ht alles an, was da ist: es wird ein unendlicher Kreis der Schöpfung: alles senkt sich in Radien zu Gott. Er ist der Mittelpunkt des Universum: die Sonne der Welt.>Propension beträchtlichAllgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels< und das moderne Weltbild. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2 (1 954), S. 1 8-42; zur wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung dieser Schrift siehe F. Krafft: Analogie - Theodizee - Aktualismus. Wissenschaftshistorische Einführung in Kants Kosmogonie. In: Kant: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels. Hrsg. v. F. Krafft. München 1 9 7 1 , S. 1 79195; vgl. auch H.J. Waschkies: Physik und Physikotheologie des jungen Kant. Die Vorgeschichte seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels. Amsterdam 1 987. 1 7 Vgl. ANTH, AA 1, S. 263 ff. Genau genommen setzt Kant vor der Entstehung solcher Zen­ tralkörper (Sonnen) noch eine Phase der Bildung von Zentralpunkten an, das sind Raumpunkte, »wo die Anziehung der daselbst befindlichen Elemente stärker als allenthalben um sich wirkt.« (S. 265) Die erste Wirkung solcher Zentren mit vergleichsweise größerer Anziehungskraft ist die Bildung eines Zentralkörpers. Vgl. S. 265 f. 1 8 Vgl. ANTH, AA 1, S. 266.

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Kapitel IV Grundsätze der Philosophie Zum Sinn des Gefühls ·

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ihrerseits als » Keime«, 1 9 die durch die Anziehung weniger dichter Partikel zu den Planetenkörpern anwachsen. 20 Analog zur Entstehung des Planetensystems erklärt Kant die Entstehung des Systems aller Welten2 1 , und darauf bezieht sich Herder. Wenn er sagt, Gott sei der Mittelpunkt des Universums, die Sonne der Welt, so schließt dies insofern an Kant an, als Kant analog zu der Sonne als Mittelpunkt unserer Welt einen » allgemeinen Mittelpunkt der Senkung der ganzen Natur« 22 annimmt, den er auch als den ersten »Bildungspunkt>das Centrum der SchöpfungAn original theory or new hypothesis of the universe>zerstreutes Gewimmel, sondern als ein System anzusehen>so ist höchst wahrscheinlich, daß sich allda ein Kör­ per entweder von der Sternen Art, oder von einer irdischen Beschaffenheit befinde, wo die göttliche Gegenwart, oder ein körperliches wirkendes Wesen voll aller Tugenden und Vollkornrnenheiten, weit unmittelbarer über die Geschöpfe präsi­ dire. Und hier mag etwas dieses prirnurn agens des allmächtigen und ewigen Wesens auf seinem Throne sitzen, und als das prirnurn mobile der Natur in Ü ber­ einstimmung mit dem ewigen Willen wirken. Zu diesem allgerneinen Mittelpuncte der Gravitation, wovon man sich vorstellen kann, daß er alle Tugenden an sich ziehet und alle Laster zurücktreibet, mögen alle Dinge als zur Vollkommenheit zueilen. Von hieraus können alle Körper den ersten Ursprung ihrer B ewegung herleiten und von hieraus bekommen sie in ihren verschiedenen B ewegungen ihre Richtung.« (Rez. 2 1 0) Herder scheint sich noch wesentlich weiter von der christlichen Gottesvorstel­ lung zu entfernen, wenn er Gott selbst zum Mittelpunkt des Universums macht und damit Gott als dem Universum immanent versteht. Wie Durharn spricht Herder dem im Mittelpunkt des Universums wirkenden göttlichen Wesen bzw. Gott geistige und körperliche Kräfte zu, denn nach Herder hat Gott die Welt durch Anziehungs- und Zurückstoßungskraft gebildet (vgl. XXXII, 229). Auch die Ausweitung des Gravitationsbegriffs auf geistige Verhältnisse ist für Herder von Bedeutung gewesen. Nicht zuletzt wird Herder die Sicht Durharns gefallen haben, daß die Anwesenheit des Göttlichen in der Natur der Naturordnung nicht wider2 7 Die genauen Angaben lauten: »Freie Urtheile und Nachrichten zum Aufnehmen der Wis­ senschaften und Historie überhaupt. Achtes Jahr. Harnburg bey Georg Christian Grund 1 75 1 I.111. Stück«; die Rezension ist abgedruckt in der von F. Krafft herausgegebenen Ausgabe der »All­ gemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels«, S. 200 -2 1 1 . 2 8 Vgl. Herder: Anfangsgründe der Astronomie ( 1 765). Ediert von R . Baasner. In: Lias 1 3 (1986), S. 69-97, hier bes. S. 85. 2 9 ANTH, AA 1, S. 23 1 .

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Kapitel I V Grundsätze d e r Philosophie Zum Sinn d e s Gefühls ·

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streitet, sondern sich geradezu als Konsequenz naturwissenschaftlicher Erkenntnis ergibt. In der Rezension von Durharns Werk heißt es dazu: »Solchergestalt wollte ich gerne in dem Foco, oder dem Mittelpuncte der Schöpfung eine ursprüngliche Quelle finden, die beständig von göttlicher Gnade überfliesset, und von welcher alle Gesetze der Natur ihren Ursprung haben. Dieses würde, meinen Gedanken nach, das ganze Universum in eine regelmäßige Ordnung und gehörige Ueberein­ stimmung bringen, und zu gleicher Zeit unsere Begriffe von dem göttlichen Wesen erweitern, und die Schönheit der Natur auf das angenehmste entdecken, und uns das weite Feld unsrer künftigen Hoffnung eröffnen. « (Rez. 2 1 0 f.) Denkt man an die skeptischen Eingangssätze der »Grundsätze [ . . . ] «, so leuchtet ein, daß eine solche auf der Basis wissenschaftlich erkennbarer Naturordnung ent­ worfene Aussicht in die Universalharmonie von Gott, Natur und Mensch für Herder Attraktion haben konnte. Es wäre j edoch voreilig, Herders Position ohne weiteres mit der Durharns zu identifizieren - allenfalls kann von Anregungen gesprochen werden. Herders Ansatz formiert sich in Auseinandersetzung mit Leibniz, Spinoza und Kant, so daß man es mit einem metaphysischen Systempro­ gramm zu tun hat und nicht mit einer der Kosmologie angehängten theologischen Spekulation. Wenn Herder Gott einerseits als unendliche Gedankenkraft, in der Alles ist oder die Alles umfaßt, und andererseits als durch Attraktions- und Repul­ sionskraft wirkende Ursache vorstellt, so kann dies ebensogut als eine Uminter­ pretation der spinozistischen Lehre von Gott als der einen Substanz, der die Attri­ bute Denken und Ausdehnung zukommen, im Horizont der Leibnizschen Mona­ denlehre einerseits und unter Rückgriff auf Kants Materiekonzeption andererseits gedeutet werden. Entsprechend dem Bild von Gott als dem durch Attraktions­ und Repulsionskraft wirkenden Mittelpunkt des Universums muß Herders Got­ tesvorstellung dahingehend verstanden werden, daß Gott nicht Schöpfer der Mate­ rie ist; er ordnet lediglich, »was da ist«, zu einem Kreis der Schöpfung. Herder will durch das physikalische Gleichnis offenbar den anthropomorphen Begriff von Gott als Baumeister3 0 vermeiden und zum anderen die ständige Anwesenheit Gottes in der Welt zum Ausdruck bringen. Der Wechsel von dem geometrischen Bildbereich in den physikalischen symbolisiert zugleich zwei verschiedene Hin­ sichten der B etrachtung: einmal wird die unendliche Gedankenkraft hinsichtlich ihrer Gedanken, das andere Mal wird sie hinsichtlich ihres Verhältnisses zu Wirk­ lichem gekennzeichnet. Nicht nur die Vereinigung materieller und immaterieller »EigenschaftenAbgrund< hervorzog und mit der zwar umstrittenen aber mit einer Gloriole um­ gebenen Gestalt Leibniz' verband. Die Sicht, die er damals vollzog, war eine Lei­ stung, die erst in den achtziger Jahren des Jahrhunderts wirksam werden sollte.«35 Herder bezieht sich auf das zweite Gespräch, in dem es um Leibniz' und Spi­ nozas Auffassung des Verhältnisses von Gott und Welt geht. B ereits im ersten Gespräch hatte »Neophil« erläutert, auf welche Weise Spinozas Philosophie zu retten ist: »Spinosens Meinungen sind nach dem Geständnisse aller Welt sehr unge­ reimt. Eigentlich aber sind sie es nur in so weit, als er sie auf diese ausser uns sicht­ bare Welt hat anwenden wollen. In Betrachtung derj enigen Welt hingegen, die mit Leibnitzen zu reden, vor dem Rathschlusse Gottes, (antecedenter ad decretum) als ein möglicher Zusammenhang verschiedener Dinge, in seinem Verstande existirt hat; kann vieles von Spinasens Meinungen mit der wahren Weltweisheit, ja sogar mit der Religion bestehen.«36 Die Strategie der »Rettung« besteht also darin zu zeigen, daß Spinozas Philoso­ phie in wesentlichen Stücken mit der Essenz von Leibniz ' Philosophie überein­ stimmt, die für Mendelssohn die »wahre Weltweisheit« darstellt, von der Spinoza nur einen kleinen Schritt entfernt war.J7 Den Nachweis, daß die Lehre von der prästabilierten Harmonie sich bereits in Grundzügen bei Spinoza finde, versucht das erste Gespräch zu führen; das zweite Gespräch soll die These belegen, Spi­ nozas Lehre von Gott und Welt sei identisch mit Leibniz' Lehre von der archety3 2 Vgl. D. Bell: Spinoza in Germany, S. 46. Diesen Vorwurf hatte bereits Wolff in seiner Theologia naturalis erhoben. 33 Vgl. Mendelssohn: Jub.A. 1, S. 1 -4 1 ; eine ausführliche Interpretation dieser Schrift bietet A. Altmann: »Moses Mendelssohns Frühschriften zur Metaphysik«, S. 1 -84. 34 Vgl. ebd., S. 6. 35 Ebd., S. 7. 36 Vgl. Mendelssohn: Jub.A. 1, S. 10. 37 Vgl. ebd., S. 1 8; vgl. A. Altmann: Moses Mendelssohns Frühschriften zur Metaphysik, S. 7.

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pischen Welt als Gedanke Gottes. Hierzu führt Neophil aus: »Sie wissen, die Leib­ nitzianer legen der Welt gleichsam ein zweyfaches Daseyn bey. Sie hat, mit ihnen zu reden, vor dem Rathschlusse Gottes, unter möglichen Welten in dem göttlichen Verstande, existirt. Gott hat ihr, weil sie die beste war, vor allen möglichen Welten den Vorzug gegeben und hat sie außer sich wirklich seyn lassen. Nun blieb Spinosa bey der ersten Existenz stehen. Er glaubte, es wäre niemals eine Welt außer Gott wirklich geworden, und alle sichtbare Dinge wären bis auf diese Stunde bloß in dem göttlichen Verstande anzutreffen. Was nun die Leibnitzianer von dem Plane der Welt behaupten, so wie er in dem göttlichen Verstande (antecedenter ad decre­ tum) existirt hat, das glaubte Spinosa von der sichtbaren behaupten zu können.«3 8 Um welche Behauptungen handelt es sich ? Erstens, die einzelnen oder zufälli­ gen Dinge sind als Einschränkungen der göttlichen Vollkommenheiten bzw. Eigenschaften zu begreifen. Zweitens, die einzelnen bzw. zufälligen Dinge sind Gegenstände göttlichen Wissens, das sie als durch eine unendliche Reihe von Ursa­ chen determiniert denkt.39 Zu Recht konstatiert Altmann, daß Mendelssohns These4 0 über die Ü bereinstimmung der Systeme nicht haltbar ist. >>In der Welt, die Leibniz im Verstande Gottes erblickte, waren die notwendigen von den zufälligen Dingen scharf geschieden. In Spinozas Welt gibt es nur die Notwendigkeit. Die Entfernung zwischen beiden Denkern war demnach nicht so unbedeutend, wie Mendelssohn annahm.Ehe der Ueber­ gang von der Cartesianischen bis zur Leibnitzianischen Weltweisheit geschehen konnte, mußte j emand in den dazwischen liegenden ungeheuern Abgrund stürzen. Dieses unglückliche Loos traf Spinosen. Wie sehr ist sein Schicksal zu betauren ! Er war ein Opfer für den menschlichen Verstand; allein ein Opfer, das mit B lumen gezieret zu werden verdient. Ohne ihn hätte die Weltweisheit ihre Grenzen nim­ mermehr so weit ausdehnen können. «43 Worin also besteht nach Mendelssohn der produktive Irrtum Spinozas ? Er besteht darin, daß Spinozas Aussagen über die Welt sich auf die wirkliche Welt außer Gott beziehen. Damit wird Spinoza zunächst vor dem groben Vorwurf des 3 8 Mendelssohn: Jub.A. 1 , S. 1 7. 39 Vgl. ebd.; vgl. A. Altmann: Moses Mendelssohns Frühschriften zur Metaphysik, S. 33 . 4 0 Ei ne gründliche Analyse der Quellen, auf d i e sich Mendelssohns Thesen stützen, hat Alt-

mann vorgelegt. Darauf braucht daher hier nicht näher eingegangen zu werden. Vgl. ebd., S. 33 -37. 4 1 Vgl. ebd., S. 38. 42 Vgl. Mendelssohn: Jub.A. 1 , S. 1 8. 43 Ebd., S. 14.

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Akosmismos in Schutz genommen und der differenzierteren Kritik unterworfen, nicht zwischen dem Dasein der Welt im göttlichen Verstand und außerhalb des göttlichen Verstandes unterschieden zu haben. Erst daraus folgt für Mendelssohn die Spinozistische Lehre von der einen Substanz, bzw. deshalb konnte Spinoza nach ihm unmöglich eine Vielzahl von Substanzen zulassen. Zu dieser Konsequenz wäre nach Mendelssohn unter den gleichen Prämissen auch Leibniz gekommen: >>Ueberlegen Sie nunmehr, wie Leibnitz sein System in Ansehung der verständ­ lichen Welt (so wollen wir diej enige, die vor dem Rathschlusse Gottes in seinem Verstande existirt hat, der Kürze halber nennen) hätte einschränken müssen. Er konnte dem Begrif, der in Gott die menschliche Seele vorstellt, unmöglich eine be­ sondere Kraft zuschreiben, und dennoch blieb noch immer sein System von dem System der veranlassenden Ursachen himmelweit unterschieden, und zwar da­ durch, daß sich nach seinem System die folgenden Vorstellungen in dem Begriffe, der unsere Seele ausdrückt, aus den vorhergehenden verständlich erklären lassen, welches aber nach dem System der veranlassenden Ursachen nicht geschiehet. «44 Das heißt, unter diesen Voraussetzungen hätte auch Leibniz keine Monadologie entwickeln können; denn, so lautet die Begründung: Er hätte nicht dem Begriff der menschlichen Seele als Begriff im göttlichen Verstand eine besondere, d.h. von Gottes Kraft verschiedene Kraft zuschreiben können und das heißt, sie nicht als Substanz konzipieren können.45 Denn als Begriff in Gott ist die menschliche Seele gerade vorgestellt als Gedachtes und nicht als selbst denkende oder vorstellende für sich existierende Einheit. Auf Spinozas Position in der Geschichte der Weltweisheit spielt indirekt der letzte Teilsatz des Zitats an, der sich auf die Ü berlegungen des ersten Gesprächs stützt: Spinozas Philosophie stellte einen Fortschritt gegenüber dem Cartesianis­ mus dar, sofern er den Okkasionalismus durch den Gedanken der prästabilierten Harmonie ersetzte.46 Spinozas Irrtum, bloß eine Welt im göttlichen Verstand zu­ zulassen, war auf dem Weg der Überwindung des Cartesianismus insofern ein wichtiger Schritt, als hiermit nach Mendelssohn der Dualismus von ausgedehnter und denkender Substanz grundsätzlich in einen Idealismus überführt war - alles ist Gedanke Gottes - damit war eine Theorie über die Weltbegebenheiten sowie über den Zusammenhang von Leib und Seele möglich, die auf den Gedanken göttlichen Eingreifens verzichten konnte. Leibniz konnte also wesentliche Teile von Spinozas System einfach übernehmen, und es bedurfte nur der Erkenntnis von Spinozas Irrtum bezüglich des Daseins der Welt, um den Substanzmonismus durch einen Pluralismus gleichartiger Seelenmonaden zu ersetzen. Spinoza, der massiv dem Vorwurf des Materialismus ausgesetzt war, wird also von Mendelssohn zum Idea­ listen stilisiert. 44 Ebd., S. 1 8 . 4 5 Vgl. ebd., S. 1 8. 46 Das erste Gespräch versucht nachzuweisen, daß Leibniz den Gedanken der prästabilierten

Harmonie von Spinoza übernommen habe, der der »erste Erfinder« dieser Lehre gewesen sei. Vgl. Mendelssohn: Jub.A. 1, S. 3 - 1 2 ; siehe hierzu A. Altmann: Moses Mendelssohns Frühschriften zur Metaphysik, S. 8-29.

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Es liegt auf der Hand, daß Herder in den wesentlichen Punkten Mendelssohns Spinoza-Bild übernimmt. Wenn es heißt, Spinoza »leugnete also alle Radien, alle Planeten: er nahm nur Einen Mittelpunkt an, den nannte er Gott und Welt« (XXXII, 228), und wenn Spinoza ein Idealist und nicht ein Egoist genannt wird (XXXII, 228), dann ist klar, daß Herder wie Mendelssohn sagen will: Für Spinoza existierte die Welt, aber nicht außer Gott, er war insofern Idealist, als er die Welt bloß als Gedanke Gottes auffaßte. Ebensowenig wie Mendelssohn erhebt Herder den Materialismus- oder Atheismusvorwurf. Mendelssohns Spinozakritik zielt auf den Substanzmonismus und bemißt damit Spinoza am Maßstab von Leibniz. Die Nachkonstruktion der spinozistischen Philosophie durch die Idee der Welt ante­ cedenter ad decretum dient zur Erklärung des Substanzmonismus. Herders Spino­ zakritik setzt anders an; sie greift direkt die Lehre von der Welt im göttlichen Ver­ stand an und zwar auf der Grundlage des Begriffs des endlichen Wesens . Spinozas Lehre kann nach Herder nur widerlegt werden, >>wenn man es beweiset, daß außer dem vollkommenen Wesen, das sich selbst ein Gedanke ist, andre nothwendig sind, die so von andern denken, als sie sich selbst denken.« (XXXII, 228) Anstelle von Substanzen redet Herder unbestimmt von Wesen. Nicht voll­ kommene Wesen denken von anderen endlichen Wesen ebensowenig, diese seien bloß ihre eigenen Gedanken, als sie von sich denken, sie seien bloß Gedan­ ken anderer endlicher Wesen. Für endliche Wesen ist das in oder von ihnen Vorgestellte nicht Produkt oder Teil ihres Ich, und ihr Ich ist nicht nur das Vorgestellte eines anderen Ich. Sie begreifen sich selbst vielmehr als Teil einer Welt, außer dem es andere Teile der Welt gibt. Inwiefern ist damit die Auffas­ sung, die Welt sei nichts anderes als göttlicher Gedanke, unmöglich geworden? Für endliche Geister ist die Welt nicht das, was sie für Gott ist. Während Gott die Welt durch sein Ich und in seinem Ich erkennt, ist für endliche Wesen die Welt außerhalb ihres Ich. Das wäre aber unmöglich, wenn die Welt nur Gedanke Gottes wäre. Entweder erkennen andere Wesen die Welt wie Gott, d.h. aber, sie wären selbst Gott, oder die Welt ist nicht bloß in Gott. In gewisser Weise macht Herder Gottes Denken selbst zu einer bestimmten Perspektive auf die Welt: für Gott ist die Welt sein Inneres, endlichen Wesen aber ist sie nur von außen erkenn­ bar. Herders Spinozakritik ist also zugleich eine Kritik an Leibniz, denn die endlichen Monaden sind ja darin Gott gleich, daß sie das ganze Universum in sich haben. Daß nicht vollkommene Wesen notwendig sind, begründet Herder aus dem Notwendigkeitscharakter des göttlichen Denkens, zufolge dessen alles Mögliche, alles von Gott Gedachte, und damit auch die endlichen Wesen, wirklich sind, da Gott sich selbst nur als diejenige Gesamtheit des Möglichen denken kann, die zugleich wirklich ist. Dieser Gedanke ist die »Urzelle« von Herders » Gott>von außen« in der Wahrnehmung äußerer Gegenstände als existierender Gedanken Gottes ist dann unter Gegenwart Gottes »von innen« offensichtlich zu verstehen, daß die endlichen Wesen eine nicht über ihre Außenseite, den Körper, vermittelte Beziehung zu Gottes Innerem haben. Daß die endlichen Geister von der unendlichen Gedankenkraft angezogen werden, kann so interpretiert werden, daß sie eine Tendenz haben, sich mit Gott zu vereinigen. In der wirklichen Vereinigung mit Gott wären sie aber als selbstän­ dig existierende Wesen vernichtet. 62 Wie der nachfolgend zitierte Abschnitt klar macht, besteht die Vervollkommnung der endlichen Wesen Herder zufolge nicht in mystischer Vereinigung mit Gott, sondern darin, daß sie zum Universum stre­ ben, d.h. daß sie sich selbst als Kräfte, die Gedanken des Universums »an sich bin­ den«, d.h. Sichzueigenmachen durch Erkenntnis, maximal entfalten. Darin liegt die entgegengesetzte Tendenz, daß sich endliche Wesen zu Göttern machen könnten. Wird die erstgenannte Tendenz dadurch aufgehalten, daß endliche Wesen als Kraft im Zusammenhang mit Kräften anderer endlicher Wesen stehen, so wird die Ver­ göttlichungstendenz dadurch vereitelt, daß die endlichen Wesen in ihrer Möglich­ keit der Vervollkommnung prinzipiell beschränkt sind durch die Abhängigkeit ihrer >>B ahn« von dem vollkommensten Wesen. Die >>Aneignung« von Gedanken 60 Die Welt außer Gott wird auch als Gottes Körper bezeichnet. V gl. SWS VIII, S. 230. 61 Vgl. ANTH, AA 1, S. 308 f. 62 Daß Herder bereits zu diesem Zeitpunkt sich gegen das in der Geniezeit kultivierte Ideal einer ekstatischen Einswerdung mit Gott wendet, weil damit die Euthanasie der Ichheit als der Grundlage endlicher Existenz und Welthabe verbunden ist, korrigiert die Auffassung Timms, der diesen Revisionsvorgang erst an den Schriften Herders von 1 776 an nachweist. Vgl. dazu unten s. 222 ff.

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des Universums oder die Verinnerlichung von Äußerem durch Erkenntnis ist also die endlichen Geistern allein offenstehende Möglichkeit einer freilich begrenzten Vergöttlichung, denn das Universum ist seinerseits existierender Gedanke Gottes.

c) Seele und Leib »Alle Wesen von mindrer Realität gravitiren so gegen einander, wie Gott von un­ endlicher Gravitation gegen alle Wesen, ohne von andern etc. So wie sich Planetenkörper im Universum durch die Anziehungs- und Zurück­ stoßungskraft gebildet: so auch unsre Seele den Körper: und so Gott die Weh. Unsre Seele denkt: das ist ihre Centralkraft: - Wenn sie nicht von einer andern angezogen würde: so würde sie unendlich fallen: das is t Wiederspruch. Satane sind also nicht möglich: das ist Geister, die sich von Gott losrissen, sich selbst zur Sonne machen wollten und als Planeten-Sonnen exsistiren. - Sonne und Planet, endlich und unendlich seyn ist Wiederspruch. Aber die obersten Wesen der Schöpfung sind so vollkommen, daß sie vieles tra­ gen, und von der Sonne weniger gezogen werden: Das sind Saturn und Kometen: aber das sind keine Teufel. Wir sind gleichsam in der Mitte, wie unsre Erde. Unsre Seele dachte, das ist ihre Centralkraft: nach dieser nahm sie einen Raum im Universum ein. Weniger Cen­ tralkraft, näher an Gott: mehrere, weiter etc.« (XXXII, 229) Dieser Entwurf eines systematischen Zusammenhangs der Geister ist eine eigen­ tümliche Kombination von Leibniz' Monadologie und von Kants Naturphiloso­ phie. Daß die endlichen Wesen Geister oder Seelen sind, deren Zentralkraft das Denken ist, ist von Leibniz übernommen. Daß diesen Monaden die Fähigkeit zu­ gesprochen wird, sich durch Anziehungs- und Zurückstoßungskraft einen Körper zu bilden, ist eine Anleihe an Kants dynamische Materie-Konzeption. Auch Kants Gedanke einer Analogie der Vollkommenheit der Planetenbewohner nach dem Verhältnis der Entfernung der Planeten zur Sonne wird aufgegriffen. 63 Herder ordnet diese Elemente zu einem neuen Systementwurf. Originell ist die Ü bertragung der mechanischen Verhältnisse der Körperwelt auf die Verhältnisse der endlichen Geister untereinander und zu Gott. An die Stelle der prästabilierten Harmonie tritt damit der Gedanke einer natürlichen Ordnung und Entwicklung von Seelen in Raum und Zeit und durch wechselseiti­ gen Einfluß sowie in Abhängigkeit von Gott. Eine kritische Auseinandersetzung mit Leibniz' Lehre von der prästabilierten Harmonie bietet die Skizze »Ueber Leibnitzens Grundsätze von der Natur und Gnade« ( 1 769). Herders Kritik schließt an Kants kritische Einwände in der »Nova dilucidatio [ . . . ]« an, wenn Herder eine »Vielheit der Modifikationen in einer simpeln Substanz, die ganz für sich betrachtet wird>Diese Kraft war eingeschränkt. Also nicht Alles unmittel-

66 Vgl. hierzu W. Janke: Leibniz, S. 1 3 1 ff. 6 7 Vgl. ANTH, AA 1 , S. 355: »Des unendlichen Abstandes ungeachtet, welcher zwischen der

Kraft, zu denken, und der Bewegung der Materie, zwischen dem vernünftigen Geiste und dem Körper anzutreffen ist, so ist es doch gewiß, daß der Mensch, der alle seine Begriffe und Vorstel­ lungen von den Eindrücken her hat, die das Universum vermittelst des Körpers in seiner Seele er­ regt, sowohl in Ansehung der Deutlichkeit derselben, als auch der Fertigkeit, dieselbe zu verbinden und zu vergleichen, welche man das Vermögen zu denken nennt, von der Beschaffenheit dieser Materie völlig abhängt, an die der Schöpfer ihn gebunden hat. «

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bar wie Gott, Einiges mittelbar, das ward Körper: wie bei unsrer Erde ihre Masse: so bildete sie sich etc. [ . . . ] >Wir fühlen von allen nur Beziehungen auf uns, auf andre, auf Welt: nie was eine Sache sei.« (VIII, 98) Wenn Herder aus der Mittelbarkeit unseres Erkennens das Werden des Körpers erklärt und nicht umgekehrt aus der Leibgebundenheit die Mittelbarkeit der Er­ kenntnis, so folgt er darin, zumindest teilweise, Leibniz, der die Eingeschränktheit der menschlichen Seele dahingehend deutet, daß ein Teil ihrer Gedanken notwen­ dig verworren ist und daraus das Entstehen der Vorstellung von Materie aufweist. Die Seele erfährt in den verworrenen Vorstellungen Widerstand gegen ihre Kraft des Aufklärens und Verdeutlichens. 68 Dieses für endliche Seelen notwendige Lei­ den interpretiert Leibniz als die für j ede Monade gegebene materia prima. Wie stimmen die Behauptungen Herders, die Seele bilde sich durch Anziehung und Zurückstoßung einen Leib und das zufolge ihrer Eingeschränktheit nur mit­ telbar zu Erkennende werde Körper, zusammen? Bezüglich der ersten B ehauptung ist an die zeitgenössische Biologie als Quelle zu denken. Insbesondere kommt Kaspar Friedrich Wolffs >>Theoria Generationis« in Betracht, denn Wolff führte nicht nur gegen die herrschende Präformationstheorie den Entwicklungsgedanken in die Biologie ein, er bezeichnete auch die vis essentialis, auf der die Bildung des organischen Körpers beruht, als anziehende Kraft, deren Wirkung zugleich die Ausdünstung, eine Art von Abstoßung, sein soll.69 Sicher nachzuweisen ist Herders Lektüre von W olffs Schrift erst für Winter 1 784/85; vermittelt durch Haller wurde Herder j edoch berei ts Anfang der 70er Jahre mit den Grundzügen von Wolffs Theorie bekanntJO Versucht man, Herders Gedanken nachzuzeichnen, so ergibt sich folgendes: Erfährt sich nach Leibniz die menschliche Seele darin als leidend, daß sie nicht alle Vorstellungen durch die Anwendung ihrer Kraft zur Deutlichkeit bringen kann, und ist dies der erste Begriff von Materie, so erfährt sich die menschliche Seele nach Herder als Kraft, die gegen das Universum hinstrebt. Darin liegt eine Ver­ schränkung von Aktivität und Passivität, die ganz anders gelagert ist als bei Leib­ niz. Herder kontrastiert das menschliche Denken auf diese Weise mit dem göttli­ chen, das alle Dinge in sich, in dem Gedanken seiner selbst und in ihren inneren Gründen erkennt. Das eingeschränkte, mittelbare Erkennen des Menschen muß demgegenüber zu den wirklich existierenden Dingen außer ihm, die an sich Gedanken Gottes sind oder aus ihnen resultieren, streben und kann sie nur aus ihrer B eziehung, Wirkung auf es selbst als Existierendes erkennen. In der Endlichkeit in diesem Sinne liegt für Herder der Grund zur Bildung eines Leibes. Wenn gesagt wird: »Ich strebe Gedanken zu haben: das wird Gefühl [ . . . ] « 6 8 Vgl. W. Janke: Leibniz, S. 136. 6 9 Vgl. C. Wolff: Theoria Generationis. Übers. und hrsg. v. P. Samassa. Leipzig 1 896, 1 . Theil,

Cap. I, § 2, S. 1 1 . 70 Vgl. H.B. Nisbet: Herder and the philosophy and history of science, S . 204.

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so ist Gefühl noch nicht als tactus zu verstehen, denn einige Zeilen später heißt es: >> Gefühl, das wird Nervenbau ( . . . ] «, aus dem Gefühl entwickelt sich also erst die leibliche Organisation, das Fühlen der Organe. Hiermit ist also der Dualismus der Arten von Monaden zugunsten einer Gleichartigkeit von Bildungskräften aufgege­ ben. Gefühl ist die passive, leidende Seite der Seele selbst, während das Streben zum Universum ihre Aktivität bezeichnet. Gefühl meint das in diesem Streben zugleich gegebene lnnesein der Tatsache der Beeindruckbarkeit, Empfänglichkeit oder Sensibilität der menschlichen Seele. Die »prima materia« der menschlichen Seele besteht also nach Herder nicht wie bei Leibniz in der Erfahrung des Wider­ standes gegen ihre Kraft der Verdeutlichung, sondern in dem Bewußtsein der wesenhaften Rezeptivität oder des Ausgerichtetseins auf die außerhalb des endli­ chen B ewußtseins seiende Welt. Menschliche Erkenntnis und göttliche werden also von Herder als strukturell und nicht nur als graduell verschieden gedacht. Zu­ dem verbürgt das göttliche Denken den menschlichen Gedanken die Realität, sie und die Weltwesen sind Gedanke Gottes. Zugespitzt ließe sich sagen, die mensch­ liche Seele ist nach Herder als Seele schon sinnlich, oder sie enthält als Seele schon den Aspekt von Körperlichkeit. Die Bildung von Organen denkt Herder als Aus­ wirkung dieser Seelenkraft, so daß man auch sagen kann, der organische Körper ist die im Universum wirklich gewordene Seele. Dabei ist im Auge zu behalten, daß Herder unter Organen hier Vorstellungsweisen versteht: Gesicht ist Vorstellen im Nebeneinander des Raumes, Gehör Vorstellen im Nacheinander der Zeit. Wenn Herder die These vertritt, die Seele bilde sich durch Anziehung und Zurücksto­ ßung einen Körper, dann verläßt Herder nicht den idealistischen Boden, denn unter Körper ist hier nicht der materielle Körper zu verstehen, sondern die Sphäre der Wirksamkeit, die sich die Seele als Kraft im Konflikt mit anderen Kräften des Universums gebildet hat. Was Irmscher in bezug auf den Leibbegriff in »Zum Sinn des Gefühls Grundsätze der Philosophie« ernst, so ist die Substanz des Seienden für uns unerkennbar. Den durch Locke und Hume vermittelten Skepti­ zismus aufgreifend vermeidet Herder in dieser Schrift den Begriff Substanz, auch der Begriff Monaden kommt nicht vor, statt dessen verwendet Herder die B egriffe Kraft, Seele oder den unbestimmten Begriff Wesen. Nach diesem Konzept ist j edes Seiende, das unendliche sowohl wie die endlichen, durch zwei Arten von Kräften bestimmt: durch Vorstellungskraft und durch Attraktions- und Repulsionskraft. Die in Kants Philosophie auf materielle und immaterielle Monaden verteilten Kräfte vereinigt Herder in einem Seienden, was auch nach Kant widerspruchsfrei denkbar ist, sofern sie dem Seienden in unterschiedlichem respectus zugesprochen werden: durch Vorstellungskraft ist das Seiende hinsichtlich seiner inneren Deter­ minationen charakterisiert, durch Attraktions- und Repulsionskraft hinsichtlich seiner äußeren Determinationen. Diesen Gedanken greift Herder auf. Gott ist die unendliche Gedankenkraft, sofern darauf gesehen wird, daß die Welt in Gott als Gedanke seiner selbst ist. Gott ist das Zentrum der Gravitation, sofern seine Beziehung zu außer ihm seien­ den Wesen charakterisiert wird. Es liegt auf der Hand, daß Herder die physikali­ schen Begriffe in üb ertragener Bedeutung verwendet. Daß Gott der Mittelpunkt der Welt ist, heißt: Gott ist die nicht durch Einwirkung anderer Kräfte gebildete, der Welt immanente Ursache der Bildung und Bewegung (Entwicklung) aller end­ lichen Seienden. Die Ü bertragung von Kants Kosmologie auf das Verhältnis Got­ tes zu den endlichen Wesen hat auch den Sinn, die Schöpfung nicht als Tat eines

72 Den Begriff Monas verwendet Herder in der Skizze »Zum Sinn des Gefühls«.

Grundzüge des Systemprogramms von 1 769

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Augenblicks73, sondern als unabsehbare Entwicklung in der Zeit darzustellen. Ein weiterer B erührungspunkt besteht in folgendem: Physikalisch gesehen ergibt sich erst aus der äußeren B eziehung der aufeinander wirkenden Kräfte der Materie Masse und Gestalt der Körper. Nun sagt Herder in bezug auf Gott, das ganze Universum sei sein Körper. Hier wird sichtbar, daß Herder zwei Perspektiven zu vereinigen versucht: Die Art der Relation Gottes zu den endlichen Wesen wird in Beziehung gesetzt zu Gottes Innerem, seiner Gedankenkraft. Gott steht in äußeren Relationen zu anderem Seienden, sofern dieses aber existierender Gedanke Gottes ist, empfindet oder weiß sich Gott in allem Seienden, so wie die menschliche Seele überall da ist, wo sie sich empfindet/4 In der Skizze »Zum Sinn des Gefühls« ( 1 769) heißt es dazu: »So fühlt Gott und tastet gleichsam in der ganzen Welt: so hört er in der ganzen Welt: so denkt er die ganze Welt, die ein Gedanke von ihm ist, der würklich existiert.« (Zum Sinn des Gefühls, 288) Einerseits wird also Gott als Mittelpunkt der Welt so gedacht, daß anderes außer ihm ist, andererseits ist aber das gesamte Universum Gottes Körper, d.h. es gibt keine anderen Seienden außer Gott; alles Seiende ist Teil von Gottes Gedanke und Teil von Gottes Körper. Folgt man der physikalischen Analogie, ergibt sich folgende Schwierigkeit: Soll die Beziehung Gottes zu den endlichen Wesen in Analogie zu den materiellen Verhältnissen durch Rekurs auf Attraktions- und Repulsionskraft gedeutet werden, dann müßte sich der Körper Gottes im Konflikt mit den Attraktions- und Repulsionskräften der endlichen Wesen bilden, d.h. die Inanspruchnahme dieses »Modells« setzt voraus, daß mehrere materielle Seiende körperlich durch dieselben Kräfte aufeinander wirken und dadurch Körper bilden. Indem Herder die Gesamtheit der endlichen Seienden als Körper Gottes denkt, entfällt diese Voraussetzung. Unvereinbar mit den physikalischen Verhältnissen ist es ferner, das Verhältnis der Seele zu ihrem Körper durch Attraktions- und Repul­ sionskraft zu bestimmen, denn diese sind per definitionem Kräfte des äußeren Wirkens von Körpern aufeinander.75 Herder scheint aber gerade zwei Weisen von äußerer Wirksamkeit, die der Seele in bezug auf ihren Körper und die verschiede­ ner Seiender aufeinander miteinander in Beziehung setzen zu wollen. Das Motiv hierfür ist durchsichtig: Wenn Gottes äußere Beziehung zu anderem Seienden nach der Vorstellung Shaftesburys als Beziehung der Seele zu ihrem Körper gedacht wird, dann ist die Mendelssohnsche idealistische Version des Spinozismus wider­ legt und doch sind Gott und Welt nicht getrennt. Offenbar intendiert Herder auch, durch die universale Anwendung von zwei Arten von Kräften das endliche Seiende als gleichartig mit dem göttlichen und doch nur als endliches, als Teil des göttlichen Ganzen begreifbar zu machen. Wenn Herders Denken tatsächlich eine solche Systemidee zugrunde liegt, müßte ein tertium comparationis zwischen bei­ den Arten äußerer Wirksamkeit gefunden werden oder eine Identität feststellbar sein, wodurch man zugleich in die Lage versetzt würde, Gleichheit und Unter73 Vgl. ANTH, AA 1, S. 3 14. Kant spricht auch von der »successiven« Vollendung der Schöp­ fung. Vgl. ebd., S. 3 1 2 . 74 Vg l . Kant A A 2, S. 324. 75 Vgl. Kam AA 2, S. 327 f.

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schied des endlichen und unendlichen Seienden zu bestimmen. Der Gesichtspunkt, der die genannten Schwierigkeiten beseitigt und die Systemidee plausibel macht, ist der, die Seele hinsichtlich ihrer äußeren Wirksamkeit allgemein als >>forming power«76 zu verstehen, und zwar so, daß sie durch Attraktion und Repulsion bil­ dend wirkt. Das physikalische Modell wäre also durch ein organologisches zu ersetzen oder zu ergänzen, in dem die Seele als Prinzip des Lebendigen sich Teile der Welt anverwandelt, wodurch sie ihren Körper bildet. Das heißt allerdings, daß Vorstellungskraft und Attraktions- und Repulsionskraft nicht nebeneinander­ geordnet werden, sondern Attraktions- und Repulsionskraft als >>Eigenschaften« oder Modifikationen der Vorstellungskraft gedacht werden. Nach diesem Modell interpretiert, ist Gottes Seele uneingeschränkt formend, organisierend, so daß alles Seiende als der von Gottes Seele beherrschte Körper er­ scheint. Wie verhält es sich mit den endlichen Seelen ? Im Unterschied zu Gott, von dem es heißt, er sei der Mittelpunkt der Attraktion, der von nichts so angezo­ gen wird, daß die Propension beträchtlich sei, stehen die endlichen Kräfte im Konflikt miteinander, so daß sich ihre j eweilige Sphäre der Wirksamkeit aus dem Verhältnis zu anderen Kräften bestimmt. Der Grad von Kraft, den eine Seele im Verhältnis zu einer anderen hat, drückt sich für Herder darin aus, wie weit sie sich erstreckt oder ausdehnt, d.h. wieviel Raum sie als sich zugehörig gleichsam be­ wohnen kannJ7 Wenn der Leib der Ort der Seele ist, sind die Grenzen des Leibes gewissermaßen die äußere Vorstellung dessen, wieweit die Kraft der Seele sich gegen andere Kräfte zu behaupten vermag. Im Unterschied zu Gott wird also die Sphäre der Wirksamkeit endlicher Seelen von außen beschränkt; ihre Attraktions­ kraft reicht nicht hin, um die Kohäsion aller Teile der Welt zu einem ganzen Kör­ per zu bewirken. Dieser Gedanke ist in Herders Lehre vom Gefühl näher ausgeführt. Das Gefühl ist als Organ für Kraft gleichsam doppelt gewendet. In der Skizze »Zum Sinn des Gefühls« stellt Herder die Hypothese auf, daß es dem Blinden, >>der so Metaphy­ siker wäre, als Saunderson Mathematiker« möglich wäre, zu fühlen, >>wie sein Gedanke sich im Universum offenbare, d.i. wie er ein Körper geworden ist.«78 Das Gefühl, das - wie es in einer anderen Skizze heißt - über die gesamte Körperober­ fläche ausgebreitet ist und so die Seele gleichsam umschließt,79 ist so vorgestellt als Organ der Wahrnehmung der inneren Kraft der Seele. Entscheidend ist, daß das Gefühl gedacht wird als die durch das Wirken der Vorstellungskraft im Zusam­ menhang mit anderen Vorstellungskräften gebildete Grenze, durch die die Sphäre der einen Kraft von der der anderen getrennt ist. Das Gefühl ist daher zugleich nach außen gewendet Erfahrung des Widerstandes und damit Erfahrung des Nicht-Ich. 76 Vgl. Shaftesbury: The moralists. Standard Edition, Bd. II, 1 , S. 333. 77 Vgl. Herder: Zum Sinn des Gefühls, S. 288: »je größere Kraft eines denkenden Wesens: desto

mehr würkt es ins Universum: desto weiter fühlts: desto mehr hörts. « 78 Ebd., S. 287. 79 Vgl. SWS VIII, S. 1 04; vgl. auch ebd., S. 1 02, 1 06, 238.

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Wie ist die These, die Art der Beziehung der Seele auf den eigenen Leib sei von Herder als prinzipiell gleichartig mit der Art der Beziehung der Seele auf äußere Gegenstände konzipiert, in bezug auf endliche Wesen klarzumachen ? Irmscher stellt zu Recht heraus, daß der Leib für den Menschen das einzige Körperding ist, >>das ihm aus seinem Ursprung her verständlich ist, insofern nämlich er selbst sowohl die Kraft ist, die ihn erfüllt und bewegt, als auch die Bewegung und Wir­ kung, in der sich die Kraft bricht und zu sich selbst kommt - beides ist der leib­ liche Mensch in unmittelbar verstandener, weil ständig praktizierter Einheit. bilden«. Hier herrscht also gewissermaßen die fremde Seele vermittelst ihres körperlichen Ausdrucks über die sich das Fremde zugänglich machende Seele. Hier ist Erkenntnis nicht wie später als Assimilation des Fremden vorgestellt, sondern als Anpassung des eigenen Inneren an das fremde Äußere.

Herders >>Systemidee« bezüglich des Verhältnisses von Gott und Mensch läßt sich j etzt präziser fassen: Gottes Gedankenkraft ist unendlich, d.h. sie begreift alles als Teil ihres Ich. Gleichwohl existiert Seiendes außer Gott selbst oder seinem Ver­ stand. In Hinsicht auf das Seiende außer ihm selbst ist Gottes Seele uneinge­ schränkte Bildungskraft, die alles Seiende gemäß den Ideen im göttlichen Verstand gestaltet und zur Ganzheit seines Körpers vereinigt. In Hinsicht auf Gott fällt die B eziehung zu außer ihm Seienden mit der Beziehung der Seele zum Körper zu­ sammen, weil Gottes Seele sich in allen Teilen selbst weiß und weil alles Seiende Gottes »forming p ower« unterliegt. Die endlichen Wesen sind als Vorstellungskräfte dadurch von Gott unterschie­ den, daß sie das Gedachte nicht als Produkt ihres Ich denken, sondern als außer­ halb des Ich Wirkliches und so sich selbst nur als Teil der Welt und nicht als das Ganze der Welt begreifen. Diese Art von Vorstellungskraft realisiert sich so, daß sie im Konflikt mit anderen endlichen Seienden sich einen Leib zuorganisieren kann. Der Leib ist zwar Wirkung ihrer Kraft, aber sie erkennt diese Kraft nur aus der Wirkung. Weil die endlichen Seelen sich selbst in einer durch anderes beschränkten Sphäre fühlen, fällt für sie die Beziehung zu ihrem Leib nicht mit der Gesamtheit ihrer B eziehungen zu außer ihnen Seienden zusammen. Das außer ihnen Seiende wird erfahrbar durch die Wirkung von dessen veräußerlichter, mate­ rialisierter Kraft auf den eigenen Leib als sinnliche Darstellung der Seele. Während Gott das außer ihm Seiende von innen erkennt, erkennt es die menschliche Seele von außen. Die Aneignung dieses Seienden geschieht so, daß sich die Seele in dieses Äußere einfühlt, d.h. sich ihm anverwandelt.

Grundzüge des Systemprogramms von 1 769

107

Durch diese erkenntnispsychologischen Ü berlegungen wird der zu Anfang der » Grundsätze der Philosophie« formulierte Skeptizismus untermauert. An Stelle der Erkennbarkeit des Inneren der Dinge glaubt Herder, ein einheitliches Gesetz, das die Bildung aller Körper beschreibt, aufstellen zu können. »Blos so kann ich die Welt erklären: wie hat sich mein Körper gebildet. >klassischen« Herder an einem Einheitsideal des >>Sturm und Drang«, demgemäß die bruchlose Einheit von Ich und All zu erstreben sei, 8 3 ent­ ziehen diese Schriften den Boden. Indem Herder die endlichen Wesen von dem unendlichen Wesen dadurch unterscheidet, daß j ene die Gegenstände ihres Wis­ sens außer sich haben, und indem er schon hier einen transzendenten Gott und ein transzendentes Gottesreich aufhebt, wird zugleich die Bestimmung des Menschen in die Aneignung von Welt gesetzt. Nicht im Absehen von Endlichkeit und parti­ kularisierender Sinnlichkeit liegt das Ideal, sondern in möglichst umfassender Anreicherung des Selbst mit Welt. Einzig der These, in Herders Theologie sei bis zur Weimarer Spinoza-Diskus­ sion Kontrarietät auf das geschöpfliehe Sein beschränkt84 und nicht in den Gottes­ begriff selbst hineingetragen worden, ist ein gewisses Recht zuzusprechen. Zwar ist Gott auch in den »Grundsätzen der Philosophie« und in »Zum Sinn des Gefühls Gott« nicht so gravierend, wie es nach Timms Darstellung erscheint. Auch schon in den Skizzen des Jahres 1 769 wird Gott so gedacht, daß er sich selbst, sein Inneres, in der Bildung des Uni­ versums, in der Vielheit individueller Gestalten ausdrückt.

83 84 85 86

V gl. ebd., S. 280 ff. Vgl. ebd., S. 289. Herder: Zum Sinn des Gefühls, S. 289 ff. H. Timm: Gott und die Freiheit, S. 301 .

KAPITEL V Vom Erkennen und Empfinden

der menschlichen Seele {1 774, 1 775, 1 778)

1. Einleitung Herders Abhandlung »Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele«! entstand aus Anlaß einer Preisfrage der Berliner Akademie im Jahre 1 773 . 2 Die­ selbe Frage wurde wegen der Unzufriedenheit der Akademie mit den eingesandten Arbeiten 1 775 erneut ausgeschrieben. Ohne viel Hoffnung auf Erfolg beteiligte sich Herder mit einer veränderten Fassung3 zum zweiten Mal. Nüchtern und über die Konstellation in der Akademie gut informiert äußert sich Herder zu diesem zweiten Versuch in einem Brief an Johann Georg Zimmermann vom 28. 1 2 . 75 : »Ich kann den Preis nicht erhalten, denn ich habe das Gegentheil von dem bewie­ sen, was die Akademie will; so sehr ich eingelenkt und gewuchert habe, daß Gott und Menschen gräuelt. Eben dazu wünschte ich zu wißen, wenn Sulzer wieder käme: er ist der Frage Urheber und Eckstein.«4 Herders Einschätzung war zutreffend; er erhielt weder den Preis noch das Akzessit.s Den Preis erhielt Johann August Eberhard, dessen Abhandlung 1 776 unter dem Titel >>Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens« erschien. In mokantem Ton bemerkt Herder in einem Brief an Hamann (24. 8 . 1 776) hierzu: »Eberhards Preisschrift ist übers Denken u. Empfinden, als 2 seynsollende, von einander wesentlich unterschiedene Urkräfte der Menschlichen Seele nach Sulzers 1 Alle drei Fassungen der Schrift sind überliefert und abgedruckt in SWS VIII, S. 1 65-333. Zur handschriftlichen Überlieferung und deren Behandlung durch den Herausgeber der Suphan-Aus­ gabe vgl. H.D. Irmscher: Probleme der Herder-Forschung, S. 274 ff. Bedauerlicherweise wurden die von Irmscher registrierten Fehler in der neuen, von W. Proß besorgten Ausgabe der Schrift nicht korrigiert. Vgl. Herder: Werke, Band 2 {1 987): Herder und die Anthropologie der Aufklä­ rung, S. 543 -724. 2 V gl. R. Haym: Herder, Bd. I, S. 699 f. 3 Die erste Fassung trägt den Titel: »Uebers Erkennen und Empfinden der Menschlichen See­ le«; der genaue Titel der zweiten Fassung lautet: »Vom Erkennen und Empfinden, den zwo Haupt­ kräften der Menschlichen Seele«. Die dritte Fassung schließlich ist betitelt: »Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume«. Sicherlich ist der Untertitel eine Anspielung auf Kants »Träume eines Geistersehers«. Der Einfachheit halber wird hier für alle Fas­ sungen der Haupttitel von 1 778 gesetzt. Zu den Mottos der ersten und dritten Fassung vgl. den Kommentar von W. Proß in: Werke, Bd. 2, S. 1 01 0, 1 02 1 . 4 Herder: Briefe 3 , S . 239. Sulzer, Lehrer für Mathematik a m Joachimsthalschen Gymnasium in B erlin, war seit 1 750 Mitglied der Akademie, von 1 776 bis zu seinem Tod ( 1 779) leitete er die philosophische Klasse; er war der Führer der Wolffianer in der Akademie. Vgl. hierzu A. v. Har­ nack: Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin 1 900, Bd. ! . 1 , S. 451 ff.; M. Wundt: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. Tübingen 1 945. Nachdruck Hildesheim 1 964, S. 320. 5 Vgl. R. Haym: Herder, Bd. I, S. 704.

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Kapitel V Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele ·

Hyp othese. Da ist nun gefragt, wie beide sich in Länge, Breite, Höhe u. Vermi­ schung zu einander verhalten. «6 Diese Unterstellung einer Anbequemung Eberhards an die Sulzersehe Hypo­ these ist nicht berechtigt: Eberhard verteidigt den Leibnizschen Standpunkt gegen Sulzer, und darin stimmt er durchaus mit Herder überein.7 Herder fühlt sich überlegen, weil ihm die schulmäßige Behandlungsart Eberhards, die die Akademie gerade wegen ihrer >>Solidität« zur günstigen Beurteilung bewogen haben mag, antiquiert erscheint. Daß Herder die eigene Abhandlung nicht nur im Vergleich zu Eberhard hoch schätzte, bezeugt der Brief an Gleim vom 6. 1 2 . 1 778: >>Durch einen Zufall ists ge­ schehen, daß ich Ihnen die Plastik weder geschickt noch genannt habe; zu gleicher Zeit habe ich einige andre Bogen >vom Erkennen u. Empfinden< drucken laßen, die ich für mich noch mehr achte. Es ist unschwer zu errathen, daß sie aus der Preisaufgabe von B erlin vor 2. Jahren entstanden ist u. wo Eberhard so scheußlich gekrönt u. gelobt worden ist - Diese Schrift winkt nur von fern auf die ganze Welt von Ideen u. Sachen, die er mit keinem Finger berührt hat.Anmerkungen über den verschiedenen Zu­ stand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des

6 Herder: Briefe 3, S. 295. 7 Vgl. z.B. Eberhard: Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens. Berlin 1 776. Nach­

druck Frankfurt 1 972, S. 66: Wenn der Unterschied von Erkennen und Empfinden » [ . ] überhaupt in der Menge auf der einen Seite, und der Klarheit der Vorstellungen auf der andern bestehet; so folget, daß beyde Kräfte in etwas gemeinschaftlichen müssen zusammen kommen, und durch ihre Besonderheiten von einander abweichen, und daß sowohl das, was sie gemein, als was sie besonders haben, seine Folgen haben muß.« Wie weiter unten klarer wird, geht diese B estimmung des Ver­ hältnisses von Denken und Empfinden an Sulzers neuartiger Unterscheidung vorbei und setzt den Leibnizschen Standpunkt ins Recht. 8 Herder: Briefe 4, S. 72. 9 Vgl. R. Haym: Herder, Bd. I, S. 704 ff. 1 0 Ebd. . .

Einleitung

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Vermögens, sich etwas vorzustellen und des Vermögens zu empfinden, b efindet>Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unange­ nehmen Empfindungen« ( 1 75 1 /52)2 8 bewegte sich Sulzer weitgehend im Horizont der Wolffschen Philosophie, indem er Lust und Unlust, angenehme und unange­ nehme Empfindungen auf die Eigenschaften der Vorstellungskraft einerseits zurückführt und als bedingt durch den Inhalt der Vorstellungen andererseits erklärt. Die Vorstellungskraft als die Kraft, Ideen hervorzubringen, zu vergleichen, in Urteilen und Schlüssen zu verbinden, ist in ihrem Streben nach Ideen dahinge­ hend bestimmt, »daß sie die klaren Ideen lieber als die dunklen, und die deutlichen lieber als die bloß klaren hat. « (1, 1 0) Dieses Streben zur Klarheit wird zur Quelle des Vergnügens und Mißvergnügens: Findet die Vorstellungskraft in den Ideen ein »Hinderniß>Der Unterschied der an sich selbst angenehmen oder unangenehmen Gegen­ stände, kann nur in der Verbindung des Mannichfaltigen liegen, das sie in sich schließen. Ist Ordnung in dieser Verbindung, so kann die Seele den Gegen­ stand ihrem Geschmacke gemäß bearbeiten, und er wird also angenehm seyn: ist aber keine darin, so ist er unangenehm.« (1, 22)

Vor allem hinsichtlich des letzten Punktes zeigt sich deutlich die Abhängigkeit Sulzers von Wolff, der Lust (voluptas) definiert hatte als >>intuitus, seu cognitio intuitiva perfectionis cuiuscunque, sive verae, sive apparentis«29 und für den per­ fectio definiert ist als >>Consensus in varietate, seu plurium a se invicem differen­ tium in uno«.J O Sind in der Schrift über den >>Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen« die intellektuellen Fähigkeiten und Vorstellungen die B asis der Gefühle, so stellt Sulzer in der Schrift »Erklärung eines psychologischen parado­ xen Satzes: Daß der Mensch zuweilen nicht nur ohne Antrieb und ohne sichtbare Gründe sondern selbst gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe hanspricht ihm aber das Verdienst zu, zuerst die rationalistische Psychologie durch eine Phänomeno­ logie des Gefühls« überwunden zu haben. Vgl. A. Baeumler: Das lrrationalitätsproblem, S. 1 34. 28 Vgl. I, S. 1 - 1 2 1 . 2 9 Wolff: Psychologia Empirica, § 5 1 1 . 3 0 Wolff: Ontologie, § 503. Zur Abhängigkeit Sulzers von Wolff vgl. A . Altmann: Moses Mendelssohns F rühschriften, S. 92 ff. »

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Kapitel V Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele ·

delt und urtheilet« { 1 75 9)3 1 zuerst eine neue Theorie des Gefühls3 2 vor, die nach Palmes Einschätzung seine >>bedeutendste Leistung ist, und wodurch die rein intellektualistische Gefühlstheorie überwunden wirdSo läßt sich keine Empfindung ganz ohne Erkennung d.i. wenigstens ohne dunkle Vorstellung der Vollkommenheit und zwar fortrückender Vollkommenheit denken: selbst das Wort Empfindung sagts . Man muß mit sich und seinem Zustande beschäftigt seyn, sich also und seinen Zustand fühlen, im Wohlstande und in der Fortdauer oder im Gegentheil fühlen d.i. dunkel erkennen, in der sanften Fortdauer eine Art Wachs­ thum, Zunahme, Genuß mehrerer, längerer Vollkommenheit ahnden, d.i. dunkel voraussehn, oder es ist kein Zustand der Empfindung. Selbst, wenn wir uns eine Pflanze empfindend denken: so ists, wie der tieffste Grad von Empfindung, so auch der dunkelste Zustand der Selbsterkenntniß und dessen, was in dies Selbst einfließt.ZU bestimmen und in ihren Grundgesetzen zu entwickeln« (VIII, 237), schlägt Herder folgenden Weg ein. Zunächst schränkt er den Gegenstand der Untersuchung auf den Men­ schen ein: >>Vom Gefühl der Pflanze wißen wir nichts, und vom Phänomen des Triebes der Bewegung im Steine noch minder; laßt uns also vom untersten Grad unsrer thierischen Empfindung anfangen.« (VIII, 237) In den Ausführungen zu diesem Punkt (VIII, 237-239) werden bereits die ursprünglichen Bestimmungen beider Fähigkeiten gewonnen. In einem zweiten Schritt werden diese B estimmun­ gen bewährt; es soll dargetan werden, daß sie sich »in der Entwicklung aller merk­ baren Fälle und Zustände« aufweisen lassen (VIII, 239). Bestätigungen oder B elege werden im Feld der Sinnlichkeit im engeren Verstande gesucht. Da Herder den Körper wie Leibniz als Aggregat von Monaden denkt, wäre es an sich möglich, das Verhältnis von Erkennen und Empfinden im Bezug auf den ganzen Körper auch in Hinsicht auf alle vitalen Prozesse zu untersuchen. Mit der Begründung, das B ild des ganzen Körpers mit all seinen Empfindungen sei »ein zu dunkles vielartiges Bild>der oberste endliche Geist« mit dem Menschen in dieser Hinsicht ein Los hat, »so sehr er uns an Größe und Umfang dieses Looses übertreffe.« (VIII, 247) Soweit stimmt Herder ganz mit Leibniz überein, nach dessen Lehre ebenfalls alle endlichen Seelen zufolge ihrer Eingeschränktheit notwendig an einen Leib gebunden sind.5t So heißt es z.B . in der »Theodizee«: >>Was täte eine intelligente Kreatur, wenn es keine vernunftlosen 5 0 Vgl. SWS VIII, S. 242, 245, 247, 252. 5 1 Vgl. Leibniz: Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade. § 6, S. 1 3 .

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Kapitel V Vo m Erkennen und Empfinden de r menschlichen Seele ·

Dinge gäb e ? an was dächte sie, gäbe es keine Bewegung, keine Materie, keine Sinne? Hätte sie nur deutliche Gedanken, dann wäre sie ein Gott, und ihre Weis­ heit hätte keine Grenzen; das geht aus meinen Erwägungen hervor. Sobald es eine Mischung verworrener Gedanken gibt, gibt es Sinne, gibt es Materie. Denn diese verworrenen Gedanken entstammen dem Zusammenhang der Dinge unter sich nach Dauer und Ausdehnung. Daher gibt es in meiner Philosophie keine vernünf­ tige Kreatur ohne einen organisierten Körper und keinen geschaffenen Geist, der völlig frei wäre von Materie.widrig>angenehm>Zuschauerinkörperlich>dolce piccante« (VIII, 240) etc. des Geschmacks. 76 V gl. SWS VIII, S. 246. 77 Mendelssohn charakterisiert in der »Rhapsodie« seine in den »Briefen über die Empfindun­

gen« dargestellte Theorie der sinnlichen Lust dahingehend, daß er die Bewegungen im Körper als den Gegenstand, die Seele aber bloß als eine Zuschauerin betrachtet habe. Vgl. Mendelssohn: Jub.A. 1, S. 392.

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Kapitel V Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele ·

Die Schemata, Bilder oder Gegenstände der Sinne sind also nicht einfach passiv aufgenommen, sondern verdanken sich hinsichtlich ihres Einheitscharakters bereits dem Wirken der Seele. Herder entwickelt also den Gedanken eines empiri­ schen Schematismus, durch den aus dem Chaos der Eindrücke Wahrgenommenes erst gebildet wird. Wie sich dieses Schematisieren vollzieht, wird an Herders Erläuterungen zum Hören am klarsten: »In der Tonkunst löst die Seele immer auf, nur dunkel, weil sie sonst das Mannichfaltige verlöre. Der Rameausche Erfah­ rungssatz zeigt, daß j eder Ton die aufsteigenden harmonischen Töne mit enthalte, und der Erfahrungssatz des grossen Tartini zeiget, daß auch der Gang der Melodie als ein Resultat zweier gegebener Töne schon mechanisch vorausgefühlt werden könne; aus welchen beiden Grundsätzen zusammengenommen sich der ganze Mechanismus der Tonkunst erkläret. In Harmonie und Melodie übet sich die Seele also an Formeln des Erkennens, der Reduktion vieles zu Einem auf die angenehm­ ste Weise.>Das Gesetz Gottes ist schon mit Flammenschrift in ihr [der Seele] Herz geschrieben: in ihr glühen Kräfte, lebendige Funken, alles in ihr Wesen zu verwandeln, was sie kann, das Bild der Gottheit in Allem anzuerkennen und als ein Theil ihres Selbst zu geniessen. Und das sind nun die angebohrnen, allgemeinen Ideen, das Recht und Unrecht, die Wahrheit und Güte, die sie in Allem zu finden strebt: sie sind ihr Bild und Wesen selbst.« (VIII, 248) Auch mit diesem Gedanken steht Herder in der Nachfolge Shaftesburys. Nach Shaftesbury ist unser Selbst »drawn out and copied from another principal and original self (the Great One of the world)«, 82 wie das »große Eine der Welt« ist auch unser Selbst >>ein Ordnung und Harmonie und Proportion stiftendes Prin­ zip « . 83 Das hat aber zur Voraussetzung, daß die Seele in ihrem Wirken schon 80 81 82 83

Vgl. z.B. Leibniz: Monadologie, §§ 53-55. Vgl. Shaftesbury: The Moralists. Standard Edition, Bd. II, 1 , S. 256. Ebd. W. Schrader: Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung, S. 30.

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Kapitel V Vom Erkennen und Empfinden d e r menschlichen Seele ·

ursprünglich »hingeordnet« 84 ist auf das Gute, Schöne und Wahre. Diese der Seele einwohnende Gesetzmäßigkeit ihres Tätigseins faßt Shaftesbury als von der Natur mitgegebenes proleptisches Wissen oder als »instinct« . 8 5 Daß die Seele in ihrem Tätigsein schon durch ihr eingeborene Begriffe geleitet sein muß, macht Herder gegen Lockes Vorstellung der Seele als >>tabula rasa« geltend. Andernfalls »wäre ihr [der Seele] ja Alles gleich viel: so wäre sie für j ede äußere Empfindung taub. Ein Atom, eine glatte Tafel müste auch immer eine glatte Tafel, d.i. ein völliges Unding bleiben.« (VIII, 248) Gegen Leibniz wendet Herder ein, daß nicht alle Vorstellungen der Seele ange­ boren sind 86 : »Einzelne Empfindungen aber sind ihr nicht angebohren und noch weniger kann und soll sie historische Fakta, Symbole u. dgl. in sich studiren. « (VIII, 2 4 8 ) Weil nicht alle Vorstellungen schon in der Seele liegen, i s t das Erken­ nen wesentlich ein Vereinigen im Sinne des Verbindens der Vorstellungen mit dem Ich. Diese Vereinigung der Vorstellungen mit dem Ich wird durch den Begriff Assimilieren gekennzeichnetP D .h. das Erkennen wird als Aneignung, die zugleich eine Transformation des Gegenstandes in Teile des Selbst, d.h. in solches, was von gleicher Art wie das Selbst ist, gefaßt. Indem die Seele als Bild Gottes die verworrenen Vorstellungen der Sinne verdeutlicht, verwandelt sich das, was sich den Sinnen als schön, angenehm oder nützlich darstellt, in Gedanken, die vom Verstand als wahr und gut eingesehen werden. Wenn dies gelingt, erkennt und genießt sich zugleich die Seele selbst als Bild Gottes.S 8 Die Empfindungen sind also das sinnliche Schema der Vernunft in einem drei­ fachen Sinne: sie sind obj ektiv Abbilder der göttlichen Gedanken; sie sind für den Menschen subj ektiv die Erscheinungen, in denen wie in einem >>Regenbogen« die göttliche Vollkommenheit der Welt verworren repräsentiert ist, und schließlich erkennt sich in deren Verdeutlichung die menschliche Seele als tätiges Bild Got­ tes. 8 9 In einem Brief an Hahn vom 24. 1 2 . 1 774 hat Herder diesen Zusammenhang als seinen Hauptgedanken bezeichnet: >>Es ist eine allweite herrliche Frage [die Preisfrage von 1 773] . Hätte ich die höhere Mathematik inne, so ahndets mich, hätte ich für mein unerschöpfliches Meer vom Hauptgedanken: Sinnlichkeit ist nur Phänomenon, Bild, Formel von Gedanken, obj ektiv und subj ektiv betrachtet, vor84 Ebd. 8 5 Vgl. Shaftesbury: The Moralists. Standard Edition, Bd. li, 1, S. 340 f. 86 In der Vorrede zu den »Nouveaux Essais« bequemt sich Leibniz dem Standpunkt Lockes

mit der Behauptung an, daß nur die Inhalte des Bewußtseins eingeboren seien, die die allgemeinen Wahrheiten betreffen, wozu E. Cassirer zutreffend bemerkt: >>Aber diese Entscheidung, die der scharfen Alternative mit einem bloßen •sowohl - als auch< auszuweichen sucht, ist für Leibniz selbst nicht die letzte und endgültige. Nach der Strenge der monadologischen Grundanschauung ist j edwede Rede von der Einwirkung des Äußeren auf das Innere überhaupt zu beseitigen.« Einlei­ tung zu Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, S. XXIV. 8 7 Vgl. SWS VIII, S. 248: »Nun aber kann sie doch nichts thun, als ihr Ich, was ihr angebohren ist, mit diesem und mit allen ihr vorkommenden Symbolen zu verbinden: nur das, was ihrer Natur ist, mit sich zu assimiliren; an allen Erscheinungen und Begebenheiten übt sie nur, als an Symbolen, das, was ihr angebohren ist.« Vgl. auch ebd., S. 246, 247 u.ö. 88 Vgl. SWS VIII, S. 242, 248. 8 9 Vgl. SWS VIII, S. 255.

Die erste Fassung von 1 774

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trefliche Data und Gleichniße finden müßen. Ich besitze sie aber leider! nicht, nur bin ich noch von meinem Thema, wie la Fontaine vom Buch Baruch so voll, daß ich glaube, die ganze Philosophie ruhet in ihm.« (Briefe 3, S. 1 39) Durch diese Obj ektivierung des Erscheinungsbegriffs kann Herder seine Er­ kenntnislehre auf dem Grundsatz »Gleiches wird durch Gleiches erkannt« b egrün­ den. Herder stellt das menschliche Erkennen einerseits als Nachahmung Gottes, andererseits als Nachahmung der Natur dar. Sofern die menschliche Seele aus den ihr von den Sinnen dargebotenen Materialien eine vorgestellte Welt nach den ihr eingeborenen Gesetzen von Wahrheit und Güte schafft,90 ahmt die Seele den Schöpfungsakt nach. Nicht nur der Künstler, sondern j ede menschliche Seele ist gewissermaßen ein »second Maker« .9 1 Erkennen ist also für Herder einerseits ein Bearbeiten im Sinne des Verdeutlichens und Zusammenfügens von Empfindungen, das diese in ihrer Geistnatur hervortreten läßt, wodurch sich zugleich die mensch­ liche Seele selbst als gottähnliche Kraft verwirklicht, vervollkommnet und erkennt. Erkennen ist zugleich Nachbildung und Anerkennung der Schöpfung.92 Anderer­ seits ist das Erkennen als Höherläutern des Dunklen und Verworrenen zum Kla­ ren und Deutlichen ein Nachahmen der Natur, die selbst durch das Gesetz der Progression vom Dunklen zum Hellen bestimmt ist.93

d) Die wechselseitige Abhängigkeit von Erkennen und Empfinden Die eingeschränkte menschliche Seele hat Empfindungen nötig, die ihr das Weltall vorspiegeln. (Vgl. VIII, 249) Die Empfindungen liefern der Seele rohe Materialien, die im Erkennen bearbeitet werden. (Vgl. VIII, 252) Die menschliche Seele ist nicht nur überhaupt auf das Gegebensein von Vorstellungen angewiesen, sie ist überdies abhängig davon, welche besonderen Empfindungen ihr durch die körper­ liche Konstitution und die Versetztheit in eine bestimmte räumliche und zeitliche Situation zuteil werden. Nach Herder nimmt die Seele selbst eine verschiedene Gestalt an, je nachdem in welchen natürlichen und künstlichen, d.h. durch Men­ schen hergestellten Umständen sie ihre Wirksamkeit entfaltet. Künste, Handwerk und Denkarten zeigen nach Herder, daß der Mensch immer nur nach seiner Emp­ findung erkennt. »Er stellt sich das Weltall nur nach den Formeln vor, die ihm sein Körper zubrachte.« (VIII, 2 5 1 ) Indem Herder die Seele als verzäunt in den Hori­ zont ihrer Sinnlichkeit denkt, wird das Erkennen scheinbar subj ektiviert und sen­ sualistisch als von äußeren Umständen abhängig vorgestellt. Durch die ontologi­ sche Umwertung der Empfindung zum Bild Gottes ist die Prägung des D enkens durch Empfindungen aber keine Subj ektivierung, die der Erkenntnis des Ansich­ seins der Dinge im Wege steht, sondern nur eine Konkretisierung und Beschrän90 Vgl. SWS VIII, S. 242, 245, 252. 9 1 Vgl. Shaftesbury: Advice to an author. In: Characteristics of men, manners, opinions, times.

Ed. by J.M. Robertson, with an introduction by St. Grean. ( 1 7 1 1 ) Indianapolis 1 964, Vol. I, S. 1 3 5 . 92 Vgl. SWS VIII, S. 243, 248. 93 Vgl. SWS VIII, S. 247.

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Kapitel V Vom Erkennen und Empfinden d e r menschlichen Seele ·

kung ihres Erkenntnisvermögens und eine Realisierung ihrer Möglichkeiten zu erkennen. D .h. es wird lediglich fixiert, welche Seiten oder Aspekte des Univer­ sums die Seele aneignen kann. B ei eingeschränkten Seelen bestimmt demnach die Welt, in die sie versetzt sind, die Art und Weise ihrer Aneignung von Welt. Bei den meisten Menschen verhält es sich sogar so, daß sie »im Traum des Lebens so Mechanisch« fortgehen, »als das Salz Krystalle anschießt. Ihre Denkart ist durch Empfindungen des Zufalls gebil­ det, wie ein Stück Florentinischer Marmor. commanding part«94 vor, dessen Herrschaft über die Körpermonaden nicht nur im Sinne Leib­ niz ' als die überlegene, weil deutliche Weise des V orstellens angesehen wird, son­ dern als ein Formen der Empfindungen.95 Auffällig ist, daß in der genaueren B eschreibung der Art und Weise des Rückwirkens der Seele auf die Empfindungen lediglich der Aspekt, daß sich die Individualität der Seele Geltung verschafft, be­ rücksichtigt ist, wohingegen die Beurteilung der Empfindungen an allgemeinen Maßstäben keinerlei Rolle spielt. Wie Leibniz denkt Herder die Seele als Individuum, das eine bestimmte Stelle im Geisterreich einnimmt. Die Assimilation der Empfindungen bedeutet daher zugleich, daß sie der individuellen Seele gemäß transformiert werden. »Nach der Stelle also, die die Seele im Geisterreiche hat, gibt sie auch auf das, was ihr von 94 Vgl. Shaftesbury: The life. Unpublished letters, and philosophical regimen. Hrsg. v. B . Rand. London 1 900, S. 1 71 ; »commanding part« ist die Übersetzung des stoischen Begriffs �YEIJ.O VLXOV; vgl. Shaftesbury: The life. Unpublished letters, and philosophical regimen, S. 168. Das Verhältnis von »moral sense« und »commanding part« hat W. Sehrader überzeugend dargelegt. Vgl. W. Schrader: Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung, S. 31 ff. 95 Sowohl Leibniz als auch Shaftesbury vergleichen den Menschen mit einem Baumeister. Für Leibniz ist der »Mensch gleichsam eine kleine Gottheit in seinem Bereich« (Monadologie, § 83), denn indem die menschliche Seele »die Wissenschaften entdeckt, denen gemäß Gott die Dinge ein­ gerichtet hat (nach Gewicht, Maß, Zahl etc.), ahmt sie innerhalb ihres Bereiches und ihrer kleinen Welt, in der sie sich betätigen darf, das nach, was Gott in der großen tut. « (Vernunftprinzipien der Natur und Gnade, § 1 4) D.h. sie bildet das Erkannte in eigener Systembaukunst nach (vgl. Mona­ dologie, § 83). Bei Shaftesbury hingegen ist der Mensch als Architekt gesehen in Hinsicht darauf, daß er seine eigene Seele und sein eigenes Leben bildet, wozu wesentlich die Beschäftigung mit der inneren, geistigen Schönheit gehört: »He (He only) is the wise and able Man, who with a slight regard to these Things [der äußeren Schönheit], applys hirnself to cultivate another Soil, builds in a different Matter from that of Stone or Marble; and having righter Models in his Eye, becomes in truth the Architect of his own Life and Fortune: by laying within hirnself the Iasting and sure Foundations of Order, Peace and Concorde.« Shaftesbury: The moralists. Standard Edition, Bd. 11, 1, s. 363.

Die erste Fassung von 1 774

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außen vorgestellt wird, j edesmal Druck, d.i. sie analysirts in die Gestalt ihres Wesens. Die innere Kraft gibt dem ganzen Symbol von Empfindung, von sich selbst aus Richtung, Dauer, Zweck, Fortleitung [ . . ] Wie sich also die Gestalt der Seele formt, so fängt sie auch an über die äußern Vorstellungen zu herrschen, gibt der Aufmerksamkeit Richtung, diesem Bilde ihrer Natur gemäß Innigkeit und Tiefe, j enem Ausbreitung, Dauer, Fülle. Sie und was sie zu Sich rechnet, Leiden­ schaft oder Vernunft gibt dem ganzen Horizonte unsrer Empfindungen nach ihrem Augpunkte Farbe, Umkreis und Höhe. Wir leben immer in einer Welt, die wir uns selbst bilden.« (VIII, 252) In Herders Sicht verwirklicht sich die Individualität der Seele, die schon an sich bestehen mag, in dieser Welt, indem sich ihre Kraft an dem ihr Vorgegebenen aus­ wirkt. Wenn Herder sagt, die Seele gewinne Gestalt (vgl. VIII, 25 1 ), dann ist das so zu verstehen, daß sie durch die Betätigung ihrer inneren Kraft erst für sich selbst und für andere als diese individuelle Seele wahrnehmbar wird. Wie der Künstler sich in seinem Produkt erkennt, so erkennt sich die Seele in der Welt von Vorstel­ lungen, die sie sich gebildet hat. .

e) Zusammenfassende Darstellung des Herdersehen Systemansatzes in Abgrenzung gegen Sulz er Auffällig ist, daß sich Herder viel stärker an Sulzers früherer Schrift über den »Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen« ( 1 75 1 /52) orien­ tiert als an den der Aufgabenstellung der Akademie zugrunde liegenden Schriften, in denen Sulzer die Eigenständigkeit des Empfindungs- bzw. Gefühlsvermögens erstmals entwickelt. Was Sulzer bezüglich der angenehmen Empfindungen ausge­ führt hat, daß sie lebhaft und reizend sind,96 indem sie die Begierde der Seele zu erkennen dadurch erwecken, daß sie ihr »Nahrung für ihren ursprünglichen Geschmack«97 darbieten, gilt nach Herder für die Empfindung überhaupt: »Jede Empfindung endlich liefert die Kenntniß auf die fruchtbarste und leichteste Weise: das ist das Kriterium der Empfindung. Viel ist in ihr zusammengehüllt, das auf einmal in die Seele kommt, dadurch sie zur Entwicklung gelockt wird.Emporläutern« der Phäno­ mene, das deren wahre geistige Natur zum Vorschein bringt. Zufolge dessen, daß in der Erkenntnis des Gegenstandes obj ektiv Identität des Wesens der Seele und der geistigen Natur des Gegenstands vorliegt, muß auch der Selbstgenuß der Seele

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Kapitel V · Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele

in der Erkenntnis des Gegenstandes deren wahre Natur repräsentieren, also eine Art von Erkennen, eine Selbstanschauung sein. An die Stelle einer Theorie des Gefühls im Sinne Sulzers oder der Theorie des Vergnügens im Sinne Mendelssohns tritt bei Herder die Theorie des Genusses.99 Es wurde bereits gesagt, daß Herder das Dasein endlicher Seelen als Genießen be­ greift. In Herders Begriff von Genuß kommt es vor allem auf die Bedeutung >>sich aneignen«, »gebrauchen« an. Das Dasein endlicher Wesen wird damit als ein Wir­ ken, als ein Gebrauchmachen von ihren Kräften zum Zweck der Aneignung oder B emächtigung des Vorgegebenen, der Gegenstände und des eigenen Seins, verstan­ den. IOO Herder denkt das Genießen offensichtlich im Anschluß an Hemsterhuis als ein Vereinigen des Subj ekts mit dem Gegenstand. 101 Die Aneignung des Gegen­ standes qua Assimilation durch das Subj ekt bedeutet keine Subj ektivierung in dem Sinne, daß der Gegenstand bloß subj ektiven Bedingungen unterworfen würde, sondern bedeutet gerade seine Obj ektivierung, d.h. die Transformation der Erscheinung in das Ansichsein seiner Geistnatur. Weil das Subjekt eine höhere Stufe von Geist repräsentiert, ist die Assimilation durch das Subj ekt Vergeistigung des Gegenstandes. Das Genießen ist nicht nur Vervollkommnung des Gegenstan­ des, sondern ebenso Vervollkommnung des Subj ekts . »Die Seele muß fühlen daß, indem sie erkennet, sie Wahrheit sehe, mithin sich geniesse, ihre Kräfte des Erken­ nens wohl angewandt, sich also fortstrebend, sich vollkommner wisse: je inniger und unaufgehalten sie das gewahr wird, desto inniger empfindet sie Wohllust. « (VIII, 236) Im Anschluß an Mendelssohn 102 denkt Herder den Zuwachs subj ektiver Voll­ kommenheit als Entfaltung von Fähigkeiten im Sinne der Ausdifferenzierung vieler und der Steigerung einzelner. Je mehr Welt sich die Seele aneignet, desto mehr bildet sie sich selbst aus. tOJ Auf der subj ektiven Vervollkommnung beruht nach Herder die Freude oder Wohllust. Ist nach der Leibniz-W olffschen Theorie die Freude in erster Linie eine Folge oder Begleiterscheinung der Einsicht in die metaphysische Vollkommenheit der Welt derart, daß der Mensch aufgrund der Erkenntnis, in der besten aller möglichen Welten zu leben, sich mit Ruhe (tran­ quillite) in das Sein der Welt fügt, d.h. gewährt nach dieser Theorie die Kontern99 Zu Herders Theorie des Genusses im »Reisejournal«, in »Liebe und Selbstheit« und im » Gott« vgl. W. Binder: »Genuss« in Dichtung und Philosophie des 1 7. und 1 8 . Jahrhunderts, s. 83 ff. 100 Die von Binder herausgestellte Identität von Dasein und Genuß in Herders »Gott« derart, daß das Wesen des Daseins im Genuß liegt, Ge nuß mithin als eine transzendentale »Genußstru ktur des Daseins « bestimmt ist, »welche diesem erst erlaubt, sich de facto Wirklichkeit anschauend oder denkend anzueignen« (Binder, S. 85), ist in der Schrift »Vom Erkennen und Empfinden [ . . . ]« schon weitgehend vorgeprägt. 101 Vgl. Hemsterhuis: Über das Verlangen. In: Philosophische Schriften. Hrsg. v. J. Hilß. Karlsruhe 1 9 1 2. Bd. 1, S. 49-70. 102 Vgl. Mendelssohn: Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele, Jub.A. 3 , 1 , 3. Gespräch. 103 Vgl. SWS VIII, S. 246: »Sie [die Seele] umfaßt mit j edem Schritte ein größer Theil des Welt­ alls und wird immer mehr geübt, das Bild Gottes, Wahrheit und Güte in Allem zu entwickeln, immer mehr in wenigerer Zeit auf leichtere Weise in ihr Wesen zu assimiliren, das eben das Eins der Wahrheit und Güte ist, das sie in allem findet. «

Die erste Fassung von 1 774

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plation Freude, t04 so ist nach Herder die Freude eine Folge der wesensgemäßen Wirksamkeit, durch die der Mensch seinen Zweck, als Einzelner am Ganzen tätig teilzunehmen und sich zu vervollkommnen, erfüllt. Das Entscheidende an Herders Theorie des Genusses ist die Einheit von Selbst-, Weh- und Gottesgenuß. Weil Erkenntnis des Gegenstandes Resultat der Anwendung der Kraft der Seele ist, wodurch die Seele ihr Wesen verwirklicht und das wirkliche, geistige Sein des Gegenstandes realisiert wird, so daß die ontologische Gleichartigkeit von Subjekt und Obj ekt herauskommt, kann sich die Seele im Genießen des Gegenstandes selbst genießen. Und weil Subjekt und Obj ekt darin gleich sind, daß sie Bilder Gottes sind, ist Genuß zugleich Genuß Gottes. Abschließend soll das Herdersehe System, das in seinen einzelnen Zügen erläu­ tert worden ist, im Überblick vorgestellt werden. Als Ausgangspunkt kann die Charakterisierung Hayms dienen, Herders Theorie sei geprägt durch die Doppel­ struktur von Naturalisierung des Geistigen und Vergeistigung der Natur.tos Unter Geist ist in erster Linie der Geist Gottes zu verstehen. Grundlegende Prämisse Herders ist, daß sich der göttliche Geist naturalisiert in dem Sinne, daß er Ursache und Original der Erscheinungen ist, die insgesamt die Natur ausmachen. Obwohl in der ersten Fassung der Name Spinozas nicht genannt wird, ist der Formulie­ rung, die Natur sei nichts anderes als der allwirksame Gott, klar zu entnehmen, daß Herder der spinozistischen Auffassung von Gott als natura naturans und von Natur als natura naturata beipflichtet. Dieser Spinozismus wird durch die Appli­ kation des Leibnizschen Erscheinungsbegriffs in die Richtung Hamanns gelenkt. Leibniz' Erscheinungsbegrifftob hat eine subj ektive und eine objektive Kompo­ nente. Der subj ektive Anteil besteht darin, daß zufolge der Eingeschränktheit der nichtgöttlichen Monaden ein Teil der Vorstellungen notwendig verworren bleibt. Verworrenheit ist der Grund dafür, daß das Sein der Dinge anders erscheint, als es ist. Gleichwohl handelt es sich bei den Erscheinungen nicht um bloßen täuschen­ den Schein, sondern um eine subj ektiv notwendige und geregelte Weise des Zum­ Vorschein-Kommens der Dinge. Indem Herder die Natur als Erscheinung Gottes denkt, eliminiert er zunächst den subj ektiven Faktor, die Gegenstände sind nicht für den Menschen oder für endliche Wesen, sondern an sich Erscheinung Gottes. Das kann dann nur heißen, daß die Natur selbst Geist im Zustand der Verworren­ heit ist. Diese Verbindung von spinozistischer Auffassung des Verhältnisses von Gott und Natur mit Leibniz ' Erscheinungsbegriff ist eine philosophische Nach­ konstruktion von Hamanns Version christlicher Theologie, nach der Gott durch die Kreatur zur Kreatur spricht, I07 D.h. die Natur ist Sprache, Äußerung Gottes,

1 04 Vgl. z.B. Leibniz: Die Theodizee, § 254, S. 294 f. 1 05 Vgl. R. Haym: Herder, Bd. I, S. 706; vgl. auch S. 7 1 0. I06 Zu Leibniz vgl. W. Janke: Leibniz, S. 96 ff.; Herders Erscheinungsbegriff verdankt sich, wie

in Kap. 3 ausgeführt wurde, Mendelssohns Darstellung und Umdeutung des Leibnizschen B egriffs. 1 07 Vgl. Hamann: Aesthetica in nuce, S. 75 ff. Vgl. auch: Sokratische Denkwürdigkeiten, S. 29, wo Hamann ausführt, ebenso wie der Mensch nach der Gleichheit Gottes geschaffen worden sei, sei der Körper Bild der Seele.

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die den Menschen zum Adressaten hat, für ihn verstehbar sein muß.tos Dieses theologische Motiv tritt bei Herder in philosophischer Gestalt auf: Die Natur ist Erscheinung Gottes und zugleich durch die Sinne Erscheinung für den Menschen, die er zu >>entziffern>Allgemeiner Naturgeschichte und Theorie des Himmels>Die Seelenlehre muß in Absicht j eder einzelnen Kraft ganz Naturlehre werden, als obs keine andre Kraft als sie gebe.« (VIII, 265) 11 4 Diese Forderung beruht auf einem Vorblick auf die Sache, beinhaltet zugleich eine Kritik der traditionellen Seelenlehre seit Descartes als unangemessene Erkenntnis des Seelischen. (V gl. VIII, 266) Ihr wird vorgeworfen, die seelischen Kräfte nicht in ihrer eigenen B estimmtheit zu erfassen, sondern so in ein System zu bringen, daß die unteren Kräfte, Empfindungen, Affekte, Triebe nur negativ, d.h. in ihrem Unterschied zu den oberen Kräften des Denkens und W ollens definiert werden, womit diese un­ geprüft zum Maßstab gesetzt sind. 1 1s Das Defizit der Theorie sieht Herder letzt­ lich in einem Defizit der Lebensführung begründet: Die einseitige Ausrichtung auf Abstraktion und Zergliederung hat sie schon von aller lebendigen Erfahrung des Seelischen abgeschnitten. >>Der Mensch von gesunden Sinnen; der Dichter, der Geschichtsschreiber, der Politiker, der Philosoph des Lebens kennens nicht und habens nie gesehen, haßen daher oft (sehr unbillig!) alle Psychologie, daß sie uns ein Dunstgerippe als wahren, ganzen, lebenden Menschen darstellt. « (VIII, 267) Aus diesem Grund kann die Seelenlehre auch nicht für das Leben sein, was sie nach Herders Meinung sein sollte: »Spiegel der menschlichen Natur, der allge­ meine Schlüssel zur Bildung menschlicher Seelen«. (VIII, 268) Gelingt es der Psy1 14

Vgl. SWS VIII, S. 263 f.

1 1 5 Herder steht mit dieser Intention im Kontext der neuen Bestrebungen der Psycholo g ie zu _

Beginn der 70er Jahre des 1 8. Jahrhunderts, die sich im Aufkommen der »philosophischen Arzte« manifestieren. An Stelle metaphysischer Konstruktionen über das Leib-Seele-Verhältnis soll die empirische Erforschung des physiologisch-psychologischen Wechselverhältnisses treten. Wichtige Schriften in diesem Zusammenhang sind: Platners Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Leipzig 1 772; J.G. Zimmermann: Von der Erfahrung in der Arzneykunst. Zürich 1 763/64; M.A. Weikard: Der philosophische Arzt. Frankfurt 1 773- 1 775. Vgl. hierzu: W. Riede!: Die Anthropo­ logie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der >philosophischen Briefe>Der empfindende Mensch fühlt in allem nur seine Empfindung, und je mehr er sie in allem was sich regt fühlet, desto reicher wird er auch für seine Empfindung, für die in ihm sich regende Natur, an Ähnlichkeit, Bildern, Sprache.« (VIII, 271 f.) Der Mensch fühlt sich in anderem, in der äußeren Natur, und fühlt das andere, die äußere Natur eben qua Empfindung in sich. Die Mittel der Beschreibung des Inneren sind also der Sache angemessen aus der äußeren Natur entlehnt. Die For­ mulierung »die in ihm sich regende Natur> Gebäude einer Philosophischen Einbildungskraft>die Geburt unserer Vernunft>fleugt [ . . . ] aus seiner Stäte, gleitet auf Lichtstral bis zum letzten der Sterne.« (VIII, 283) Das heißt, das Subj ekt ist nicht der statische passive Pol, auf den die Gegenstände wirken, sondern ist dynamisch gedacht, geht aus sich heraus, erweitert seine Sphäre. Nach diesen Ausführungen ist es konsequent, den Begriff Medium nur unter genetischem Aspekt zu verwenden; wie folgende Stelle zeigt, nimmt Herder den B egriff in anderer Hinsicht zurück: »Der Gegenstand ist also würklich in meinem Sinne: das Licht, der Schall, der Duft, hat soviel davon abgerißen und zu mir gebracht, als diesem Sinne werden konnte. Medium ist verschwunden und besiegt, denn es ward selbst Sinn. Zwischen Raub und Adler ist kein Zwischenstand mehr: sein Blick, sein Geruch ist da: Pfeilschnell schießt er hernieder. « (Ebd.) Sowie mit Blick und Geruch des Adlers der >>Zwischenstand« zum Raub aufgehoben ist, so hat die Wahrnehmung immer schon ihre Gegenstände, wenn die Organe gebildet sind. t 44 Das Medium ist für die Genese der Wahrnehmung nicht nur als Erzeuger, als »Vater«, sondern auch als »Lehrer>Vater und LehrerDie Sinne sind Pforten der Empfindungen von außen. So­ gleich wird, was sie empfangen, inwendig ein andres Wesen: sie verweben sich, die Sinne; es wird ein unsichtbarer, geistiger Mensch. Wir nennens Einbildung [ . . . }< (VIII, 285) Als Beleg für das Einswerden der Sinnesempfindungen führt Herder die erst­ mals von Berkeley in der »Neuen Theorie des Sehens « ausgeführte Theorie über die Notwendigkeit des Zusammenwirkens von Seh- und Tastsinn für das Zustan­ dekommen bestimmter, zuvor als rein visuell eingestufter Wahrnehmungen an, wie z.B . Weite, Entfernung, Größe. Diese Einheit der Sinne verdankt sich Herder zufolge einer Tätigkeit des Ich, die ihrerseits ein Medium voraussetzt. >>[ . . . ] die Seele dieser Empfindungen genießt unser inneres Ich lebend. Nicht müßig, als ein Zuschauer täte, sondern gegenwürkend, daß Alles zu Einem werde und der ganze Organische Körper beseelt sei.« (VIII, 285) Wie diese Rückwirkung genauer zu denken ist, wird aus dem Text nicht klar. Nur soviel ist deutlich, daß den Empfin­ dungen selbst schon »Seele« zugesprochen wird, sie also nicht totes Material, son­ dern lebendiges sind, das durch das lebendige Ich so geeint wird, daß >>der ganze Organische Körper beseelt sei« (VIII, 285), d.h. daß der Körper seinerseits durch die geeinte Empfindung die lebendige Einheit eines Empfindungszustands wird. Daß die Empfindungen - obj ektiv genommen - selbst seelisch sind, verdankt sich einem Prozeß der Läuterung, der über die Angleichung des Gegenstandes an das empfindende Organ noch hinausgeht, sich aber wie diese durch ein Medium vollzieht. Dieses Medium wird einerseits als Nervengebäude, andererseits als in­ nerer Geist, elektrischer Strom, innerer Äther bezeichnet (vgl. VIII, 285 f.). Die letzten Kennzeichnungen bringen zum Ausdruck, daß es Herder für unaus­ gemacht hält, wie die Funktion der Nerven physiologisch genau zu erklären ist. Dieser innere Äther wird als Medium im Verhältnis zu den äußeren Medien

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beschrieben: »Der innere Äther ist nicht Licht, nicht Schall, nicht Duft; er kann aber alle empfangen und in sich verwandeln.« (VIII, 286) Durch diese Verwand­ lung sollen die Medien der Sinne, durch die die Gegenstände bereits in gewisser Weise vergeistigt wurden, Seele werden und damit auch die durch sie b estimmten Gegenstände. Herder will damit sagen: Die Sinne und ihre Gegenstände unter­ liegen nicht nur einem Formungs- bzw. Bildungsprozeß durch die äußere Natur (Licht, Schall etc.), sondern werden auch durch unsere innere Natur bearbeitet; erst durch diese zweite B earbeitung werden sie seelenhaft, d.h. Einheiten von der Art unserer Einheit. Das Nervengebäude ist nicht nur die vermittelnde Einheit der verschiedenen Sinne, sondern ermöglicht auch die Einheit des Reizbaren und des Sinnlichen, des inneren und äußeren Menschen. »Siehe da die zarten Silberbande, dadurch Gott die äußere Welt, den Reiz des Herzens und die Idee des Gehirns knüpfte.Was der Seele zuströme und sie berühre ? wie sie darauf zurückwürke, daß der Gedanke werde? wozu sodann der Gedanke dasei, was sie mit ihm beginne ?>simple ideas«, die erst durch die Operationen des Verstandes zu komplexen Einheiten gemacht wer­ den, sondern immer schon geeinte Vielheiten. Auf j eder Stufe vollzieht sich aufein­ ander aufbauend eine spezifische Vereinheitlichung des Vielen, die zugleich als zu­ nehmende Vergeistigung, als Höherläutern beschrieben wurde. Das Entscheidende ist, daß diese Prozesse des Einigens und Höherläuterns als Lebensprozesse gedeu­ tet werden. Erinnern wir uns an die einzelnen Stufen: Durch die Reizaktivität wird >>immer eine gröbere« Materie in Teile des Organismus verwandelt, und der Reiz bildet eine Art Leben, Ich, sofern der ganze Organismus einheitlich fliehend oder

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hinwendend auf die Außenwelt reagiert; in den Sinnen wird durch die Medien der an sich unendliche Gegenstand in eine »Formel« gebracht, dem Sinn wird ein Schlüssel für seine Welt; in der Einbildungskraft schließlich werden die Sinnesein­ drücke vereinigt und die Einheit des inneren und äußeren Menschen hergestellt. Herders Lebensphilosophie richtet sich gegen den Ansatz des Empirismus, der einseitig von der Analyse des Subj ekts und seiner Vermögen ausgeht, um Erkennt­ nis und Moral zu begründen. Demgegenüber macht Herder geltend, daß das Innere nicht von dem Äußeren getrennt betrachtet werden kann. Das Seelische ist kein >>ApparatInput«, der nur als in spezifi­ scher Weise durch das Innere Modifiziertes und Gestaltetes faßbar ist. Nach Herder verhalten sich Inneres und Äußeres zueinander wie Teile eines Organis­ mus, das heißt sie stehen in lebendiger Wechselwirkung, dienen einem Zweck und sind als Teile von der Art des Ganzen und damit auch untereinander gleichartig. Hier wird der Mensch nicht so verstanden, daß er der Welt oder der Natur gegen­ übersteht und sich diese zum Obj ekt macht, sondern der Mensch und seine B ezie­ hung zu Gegenständen sind ein Teilausschnitt aus einem größeren lebendigen Ganzen (vgl. VIII, 298, 3 1 4). Die Endlichkeit des Menschen wird von Herder so interpretiert, daß der Mensch das Unendliche nicht übersieht, sondern als lebendi­ ger Teil im Austausch mit anderen Teilen in einem unendlichen lebendigen Gan­ zen, d.h. Organismus existiert. Das Wirken der Seele, wodurch aus Empfindung Gedanke werden soll, wird in derselben Weise beschrieben wie die vorhergehenden Stufen des Lebens: Hier gilt das gleiche Gesetz von Anziehung und Zurückstoßung, und auch dieses Wirken bedarf eines Mediums. Das Erkennen soll analog zu den vorigen Stufen ein Assi­ milieren sein, das durch die Momente Vereinigen und Höherläutern bestimmt ist. Worin sich die Einheit des Gedankens von den vorigen Einheiten unterscheidet, bleibt zunächst unklar. Nur soviel ist deutlich, daß das in den vorigen Stufen nicht als solches heraustretende Gesetz der Wahrheit und Güte explizit wird. Die Seele ist - wie in der ersten Fassung - als Bild Gottes verstanden, das sie >>thätig dar­ stellt Gedankenmedium« (VIII, 291) beinhaltet ein passives, rezepti­ ves Moment im Vermögen des Erkennens, denn sofern dieses Medium wie Licht und Schall die Funktion der Verbindung von Subj ekt und Obj ekt hat, beruht diese Verbindung eben - zumindest nicht allein - auf der Spontaneität des Subj ekts. Worin besteht nun dieses Gedankenmedium ? Es soll der »Schöpfer selbst« oder die >>wahre eigentliche Gottessprache« sein. (Vgl. VIII, 291) Wenn dieses Gedan­ kenmedium in Analogie zu dem Medium Licht analysiert wird, muß es sich so verhalten, daß durch dieses Medium zugleich die Erkennbarkeit des Gegenstandes und die Erkenntnisfähigkeit des Subj ekts hervorgerufen werden. (Das Licht son­ dert fühlbare Seiten des Gegenstandes und macht das Auge zum sehenden Organ.) So verhält es sich in der Tat. Herder gibt hier im Prinzip die gleiche Begründung der Möglichkeit von Erkenntnis wie in der ersten Fassung: >>Nur also dadurch, daß die Schöpfung Geist ist wie ihr Schöpfer und sein Nachbild, unsre Seele: nur da­ durch wird Erkenntniß möglich.« (VIII, 292) Der entscheidende Unterschied besteht darin, daß dieses Gleichheitsverhältnis in der zweiten Fassung als sprach­ lich vermitteltes gedeutet wird. Gottes Sprache ist das Medium, das die Erkenn­ barkeit der Natur und die Erkenntnisfähigkeit des Subj ekts gewährleistet. Offen­ sichtlich unterscheidet Herder drei Aspekte der Gottessprache: a) die Sprache der Natur, b) die menschliche Sprache und c) die Gottessprache selbst. Die Natur ist als Schöpfung Gottes zugleich dessen Offenbarung, aus und in der Natur spricht Gott. So sagt Herder zum Beispiel, das Licht sei einem >>höhern Sinn nur Sprache, nur Wort vom Munde des Schöpfers [ . . . ] >Schule der Gottheit«), sich und ihren Schöpfer zu verstehen gibt, wie eben zum B eispiel das Licht die Welt des Sichtbaren erschließt. In diesen Kontext gehört die Vorstellung, daß die Natur selbst eine Progression auf die Herausbil­ dung des Geistigen aufweist. (Vgl. z.B. VIII, 291 unten, 292 unten) Ob Herder noch eine von der in der Natur gegebenen Sprache Gottes unter­ schiedene Gottessprache, die als solche den Menschen anspricht, durch die sich Gott ohne die Natur dem Menschen offenbaren würde, annimmt, ist aus den wenigen Andeutungen nicht mit Sicherheit zu entnehmen. Dafür könnten folgende Sätze sprechen: >> [ . . . ] so braucht sie [die Seele] ein Medium, wie Ohr und Auge: der Schöpfer muß es selbst werden. Er kommt zu ihr und da sie sich gleichsam von einer Welt abkehrt, auf sie zu würken; so kehrt sie sich einer Welt zu, von der sie Stral und Kraft empfange. Es heißt Wort! Licht der Seele, dem Schall und Licht der Sinne nur Körper und Kleid sind. Hier öffnet sich ein Reich wahrer unsichtbarer

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Wesen und Kräfte, in denen der Schöpfer = Geist Eins ist und Alles. « (VIII, 2 9 1 ) Sowohl d i e Rede, d e r Schöpfer komme z u ihr und d i e Seele wende sich damit einer anderen Welt zu, als auch die Charakterisierung, » ein Reich wahrer unsichtbarer Wesen und Kräfte, in denen der Schöpfer = Geist Eins ist und Alles«, unterstützen die Annahme einer Gottessprache außerhalb der Naturoffenbarung. B emerkens­ wert ist in diesem Zusammenhang die Verwendung der spinozistischen Formel des »hen kai pan«, und zwar insofern, als diese Monismus und Immanenz anzeigende Formel hier so verwendet wird, daß sie nur auf die von der Körperwelt unter­ schiedene Geistwelt zutrifft. Ergänzt man aber Herders These, daß auch Körper nur Aggregate unsichtbarer Kräfte sind, muß Herders Ansatz als spiritualistischer Monismus gedeutet werden. Nur für den endlichen Menschenverstand, der not­ wendig an die verworrenen Vorstellungen der Sinnlichkeit gebunden bleibt, erscheint die Welt dualistisch. In dieselbe Richtung deutet Herders hypothetische Vorstellung eines Wesens, >>dem die Schöpfung Wort wäre«, [ . . . ] »das dies grosse Buch ganz verstünde ! Aus j edem Zuge, j edem Bild und Geschöpfe, j eder B egeben­ heit und That im Reiche des Allgeistes strömte ihm Geist zu, Gedanke und Herz Gottes ! [ . ] In j edem Erkennen und j edem Genuß der Schöpfung würde er Eins mit Ihm, Geist mit Geiste.Kreaturgepräge«, das heißt seine Bedürfnisse und seine Situation bestimmen, »als wasSie [die Seele] wird in diesem Betracht mit dem Gegenstande würklich Eins, der Gegenstand Eins mit ihr: sie erfaßet nichts in ihm als was ihrer Natur ist, das Charakteristische seines und ihres Wesens, Gottes unsichtbare Kraft und Weisheit. [ . . ] kann sie was sie selbst ist, als Nichts verkennen ? und erkannte sies, erfaßte sie darinn das Etwas, war sie nicht hinüber, oder der Gegenstand in ihr?« (VIII, 293) Daß das Erkennen als Vorgang des Vereinigens von Subj ekt und Obj ekt als Vollzug und Steigerung des Lebens gedacht ist, belegen folgende Sätze: »Der Begriff, das geistige Wesen des Gegenstandes gehöret zu mir: ich fühle, daß einge­ hend in ihn, mein B egriff, meine Seele vollkommener werde. Je tiefer, inniger ich dies fühle, desto strebiger dringt meine Kraft hinein: er ist meines Fleisches und Beins, ein fehlendes und gefundnes Glied vom Körper meiner Seele.>Liebe ist die höchste Erkenntnis und die Gottähnlichste Empfindung>aus sich Herausgehen« und »in sich Zurück­ kehren« beschrieben. »Ihre Ausbreitung [der Seele], ihr Durst zu erkennen, und zu lieben, ist Thätigkeit; die Anziehung selbst, die Stillung des Durstes, das Gefühl erkannt zu haben und zu geniessen, ist Ruhe, thätigste Ruhe, Belohnung. « (VIII, 290) »Sie [die Spekulation] setzt außer sich; das Fühlhorn ward aber hinaus­ gesandt zu tasten, daß es wiederkomme und bringe den Gegenstand mit sich.>Vom Erken­ nen und Empfinden [ . . . ]« von Herder nicht systematisch durchdacht worden, werden aber anknüpfend an Hemsterhuis in der Schrift >> Liebe und Selbstheit« und anknüpfend an Spinoza in der Schrift >> Gott« aufgegriffen.l52 Beide Schriften sind für die Frühzeit des Deutschen Idealismus von besonderer Bedeutung geworden. Die Erläuterung des Erkennens durch die Momente Tätigkeit und Ruhe, >>sich außer sich Setzen« und »in sich Zurückkehren>Untersuchst du, so muß freilich die brausende Empfindung schweigen: siehe klar.« (VIII, 2 1 3 ) Dieses Schweigen der Empfindung ist nach Herder nur vorübergehend zu dulden, im Prinzip aber verfehlt, sofern ohne die Empfindung der Gegenstand nicht lebendiger Teil des ganzen lebendigen Menschen sein kann. Die Empfindung definiert, wann das Erkennen dem ganzen Menschen wohltut, und darauf kommt es Herder an: Menschheit ist das Maß. (Vgl. VIII, 295) Nur das Erkennen ist sinnvoll, das den ganzen Menschen betrifft; die Unterdrückung der Empfindung, die einseitige Ausbildung der intellektuellen Fähigkeiten stört die Harmonie, trennt, was Gott verbunden hat. Nur die Erkenntnis, die den ganzen Menschen betrifft, ist sinnvoll, weil nur diese Erkenntnis auch auf die Empfindun­ gen zurückwirken kann, sie veredeln kann, damit Herz und Kopf in harmonischer Einheit sich entwickeln. (Vgl. VIII, 294) Um den von Herder nicht gerade präzise bestimmten Begriff der Apperzeption wenigstens ein Stück weit aufklären zu können, sind vorbereitend die verschie­ denen Verwendungsweisen des Begriffs anzugeben, die Begriffe und Metaphern, die ihn erläutern oder ersetzen, zu nennen und schließlich die wichtigsten Folge­ rungen, die aus dem Begriff gezogen werden, anzuführen. Erstens: Der Begriff Apperzeption wird synonym mit Gedanke verwendet: »Alle Empfindungen, wenn sie zu einer gewissen Helle steigen (ihr innerer Zustand ist unnennbar, unver­ gleichbar) werden Apperzeption, Gedanke: die Seele erkennet, daß sie empfinde.« (VIII, 287) Zweitens : Die wichtigste Funktion dieses Begriffs ist es, zur Charakterisierung der einen inneren Kraft der Seele zu dienen: Die innere Kraft der Seele ist nur eine: »Apperception ists, innere, sich selbst erblickende Thätigkeit, Göttliches Bewußt­ seyn.« (VIII, 290) Wie schon dieses Zitat belegt, dient der Begriff Bewußtsein zur Explikation des Begriffs der Apperzeption. (Vgl. dazu auch VIII, 294, 297.) Die Seele wird als »Gottes Lichtstral, der in sich selbst zurückblickt« (VIII, 300) be1 53 Vgl. Hamann: Aesthetica in nuce, S. 1 1 3, 1 1 7. Im Unterschied zu Herder richten sich

Hamanns Invektiven nicht gegen das Zerteilen, Analysieren, sondern Hamann klagt unter Beru­ fung auf Bacon den Hang zur Abstraktion an, die Natur zu schinden bzw. zu morden.

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schrieben. Schließlich spricht Herder von dem »allgegenwärtigen, innig lebendigen Ich als dem aus sich selbst rückwirkenden Bild Gottes .« (VIII, 3 1 5) Das heißt, der Begriff Apperzeption wird erläutert durch die Begriffe: Kraft, Tätigkeit, Insich­ blicken, B ewußtsein, Gedanke, Rückwirkung. Der Begriff Reflexion kommt nicht vor, wohl aber, wenn auch nicht an zentraler Stelle, der Begriff »innerer Sinn>Erkenntnisvermögen« ausübt, das nun seinerseits auf die Emp­ findungen zurückwirkt, um sie weiter zu verdeutlichen. Ein weiterer wichtiger Punkt für das Verhältnis von Empfinden und Erkennen ist die Rolle der Sprache als Medium der Erkenntnis. Sprache ist neben der Aus­ einandergesetztheit der Empfindungen die zweite Bedingung für die Tätigkeit der Seele als Erkenntniskraft. Hierbei scheint sich Herder ebenfalls auf Tetens, aber auch direkt auf Condillact56 zu beziehen, der auch für Tetens ein wichtiger Anre1 5 5 Vgl. Tetens: Über den Ursprung der Sprachen und der Schrift (1 772). In: Sprachphilosophi­ sche Versuche, S. 39 ff. Tetens steht erkenntnistheoretisch auf dem Standpunkt Humes: Jeder Ge­ danke »läßt sich auf eine äußere oder innere Empfindung reduzieren«. (S. 39) In erkenntnispsy­ chologischer Hinsicht enthält sich Tetens einer Aussage darüber, ob die Vernunft nur quantitativ von den tierischen Fähigkeiten zu unterscheiden ist oder ein besonderes eigenständiges Vermögen darstellt. Wie Sulzer kommt es auch Tetens nur darauf an, die Bedingungen zu bestimmen, unter denen die spezifisch vernünftigen Wirkungen wie z.B. das Schließen möglich sind (vgl. ebd., S. 39). Als entscheidende Bedingung nennt Tetens (ebenfalls im Anschluß an Sulzer) die Auseinanderset­ zung der Empfindungen: »Die Außerung unserer Vernunftfähigkeit erfordert eine gewisse A usein­ andersetzung unserer Empfindungen [ ] Werden diese auseinandergesetzt, feiner aufgelöst, und voneinander abgesondert [ . ] muß auch das höhere Vermögen des Verstandes in Wirksamkeit ge­ setzt werden.« (Ebd., S. 40; vgl. noch S. 49-5 1 .) 1 56 Vgl. Condillac: Essai sur l ' origine des connoissances humaines. Hrsg. v. J. Derrida. Paris 1 973. . . .

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ger war. Nach Condillac ist die Sprache als System willkürlicher Zeichen Voraus­ setzung für die höheren Verstehensleistungen Gedächtnis, Reflexion, Vergleichen usw. In Condillacs sensualistischer Genese der Leistungen des Verstandes markiert der Gebrauch willkürlicher Zeichen den entscheidenden Punkt, an dem sich tie­ risches und menschliches Vorstellen trennen. Erst durch das Verfügen über Spra­ che wird das willkürliche Verfügen über die Vorstellungen möglich. Ohne Sprache bleibt das Vorstellen Schauplatz assoziativer Vorstellungsverbindungen. Herder macht sich den Gedanken, daß das Erkennen als >>freies« energisches Wirken auf das Material der Empfindungen nur durch Sprache möglich ist, zu eigen. Zusammenfassend kann das Verhältnis von Empfinden und Erkennen in Herders zweiter Fassung j etzt wie folgt dargestellt werden: Herder vertritt einerseits den Standpunkt Leibnizens, wonach Erkennen und Empfinden bloß graduell unterschieden sind. Weil Herder aber anders als Leibniz die Empfindungen dem Körper und nicht der Seele zugehören läßt, muß er eine Wechselwirkung von Körper und Seele annehmen, die plausibel macht, wie aus Empfindungen Erkenntnisse werden. Die Auseinandergesetztheit der sinnlichen Empfindungen bewegt das Erkenntnisvermögen, dieses wirkt auf die Empfindun­ gen zurück, indem es sie im Medium der Sprache artikuliert und damit über sie verfügen kann. So repräsentiert das Verhältnis von Erkennen und Empfinden einen Grundzug des Lebens: durch Wirksamkeit zu kontinuierlicher Steigerung. Durch diese Erläuterungen wird der Begriff der Apperzeption klarer. Die ver­ schiedenen Explikationen Herders sind Benennungen der inneren Kraft der Seele von ihren verschiedenen Wirkungen her, die sich uno actu ergeben: Die Empfin­ dungen werden Apperzeption, Gedanke (VIII, 287), d.h. sie werden Begriff und damit bewußt, wenn Bewußtsein heißt, daß Wahrnehmungen nicht nur wie beim Tier unterschieden sind, sondern der Unterschied selber gewußt wird. Apperzep­ tion ist sich selbst erblickende Tätigkeit, sofern die Seele sich selbst als Kraft aus ihren Wirkungen erkennt, B ewußtsein ist zugleich Selbstbewußtsein im Sinne der Selbstanschauung der Seele in ihren Wirkungen. Auch daß die Seele sich nur durch Rückwirkung, Reaktion bewußt wird, leuchtet von daher ein. 5. Die dritte Fassung von 1 778 Versucht man den Unterschied zwischen der zweiten und dritten Fassung der Abhandlung »Vom Erkennen und Empfinden [ . . . ] « zusammenfassend zu kenn­ zeichnen, erscheint die Charakterisierung der letzten Fassung als naturalistisch am treffendsten. Der lebensphilosophische Ansatz, die Gesetze von Reiz, Sinnlichkeit und Denken sind erhalten geblieben, aber sowohl der Enthusiasmus des Vereini­ gungsdenkens als auch die damit einhergehende Berufung auf Gott sind weitge­ hend getilgt. Am augenfälligsten ist diese Naturalisierung im B ezug auf die Expli­ kation der Erkenntnis: Hier ist weder von Gottessprache noch von Einswerden mit Gott die Rede, sondern es werden schlicht Sprache und Erziehung bzw. die ge­ schichtliche Situation überhaupt (vgl. VIII, 1 97 f.) als die Bedingungen genannt, die

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Voraussetzung der Entwicklung des Erkenntnisvermögens sind. Generell streicht Herder die Abhängigkeit und das Gewordensein der Vernunft heraus: »Meistens ist diese >Geburt unsrer Vernunft< den Weisen unsrer Welt so unanständig, daß sie sie ganz verkennen und ihre Vernunft als ein eingewachsenes, ewiges, von allem unabhängiges, untrügliches Orakel verehren. Ohne Zweifel gingen diese Weisen nie im langen Kleide, lernten nie sprechen, wie ihre Wärterinnen sprachen, oder haben vielleicht gar keinen eingeschränkten >Empfindungskreiswas ich bin, bin ich ge­ worden. Wie ein B aum bin ich gewachsen: der Keim war da; aber Luft, Erde und alle Elemente, die ich nicht um mich satzte, musten beitragen, den Keim, die Frucht, den B aum zu bilden>Vom Erkennen und Empfinden [ . . . ]« stellt mit diesem Gedanken das Fundament für die Vertiefung des B egriffs der Liebe in »Liebe und Selbstheit« dar. 161 Die entscheidende Veränderung der dritten Fassung kann im Vergleich zu dem in der zweiten Fassung allenthalben durchscheinenden Ansatz von Hemsterhuis so zusammengefaßt werden: Während Hemsterhuis die B egrenztheit der endlichen Wesen nur negativ b ewertet als Hindernis ihres Verlangens nach Einheit, so daß aus dem permanenten Konflikt von Verlangen und realer Schranke tendenziell Ekel, Überdruß entstehen, deutet Herder seit 1 778 die Endlichkeit des Subj ekts positiv als Voraussetzung für die Erschließung von Welt. Liebe und Schmerz sind keine strikten Gegensätze mehr, zur wahren Liebe gehört der Schmerz der Ein­ sicht in die eigene Endlichkeit. Von hier aus ist es nur noch ein Schritt bis zu der in >>Liebe und Selbstheit« am B eispiel der Elternliebe aufgewiesenen Erkenntnis, daß 160 Die folgende Darstellung stützt sich auf Herders Ausführungen zum Verhältnis von Selbst­

gefühl und Mitgefühl. Vgl. SWS VIII, S. 200. 1 6 1 Vgl. SWS XV, S. 300 ff.

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wahre geistige Liebe nicht darauf aus ist, das Andere bruchlos in die Einheit des Selbst aufgehen zu lassen, sondern sich darin beweist, daß das Selbst und das Andere b ewahrt bleiben und doch in der Liebe und durch die Liebe geeint sind. Daß Herder damit nicht nur eine Phänomenologie der Liebe geliefert hat, sondern eine begriffliche Struktur an der Hand hatte, die ein fruchtbares Mittel zur B ewäl­ tigung der religionsphilosophischen Probleme der Goethezeit darstellte, hat H. Timm überzeugend nachgewiesen .t62

1 62 Vgl. H. Timm: Gott und die Freiheit, S. 296 ff.

ANHANG

]ohann Gott/ried Herder: Plato sagte: daß unser Lernen bloß Erinnerung sei XXVIII 2, Studienbuch 0, S. 29v-32r, 34r-34v, 3 7r, 3 8r Entwurf zu einer Metaphysik der Wahrnehmung, ca. 1 766 vgl. »Erinnerungen

3 . Ein Kind lernt (die) sich von der Welt, die in ihm liegt unterscheiden. Es tappt nach Licht etc. da ist Gesicht subj ektiv Raum obj ektiv da ist Gehör subjektiv Folge objektiv Es hört und hört wieder etc. Es fühlt und fühlt verschieden da ist Gefühl subj ektiv Kraft obj ektiv Dort ist der Begriff Mehr, als Eins alles ist Begriff zweitens ist der Befriff Mehr, als Einmal a uße r ihm drittens ist der Begriff Mehr, als auf einerlei Art«

}

4. Außer ihm: so lernt es das in ihm allmälich unterscheiden - sich in einer Welt fühlen d.i. seine Sinne gebrauchen und seine Fähigkeiten entwickeln. Durchs Gesicht am leichtesten: am ersten deutlich: es sieht immer Durchs Gehör (am) frappierend wenig deutlich: es wird wieder aufgeweckt Durchs Gefühl am stärksten, (im) lebhaft undeutlich es fühlt nur selten. 5. B ei j eder Sensation kommts aus dem Schlaf: Saite des Seyns wird berührt: also s eine Empfindlichkeit von außen entwickelt etc. Jede Sensation erinnert sie also an eine Modifikation ihres Gedankens, so samlen sich B egriffe - immer ein feiner Faden aus dem starken Knäuel mehr losgewickelt, der aber noch immer zusammenhängen bleibt.

1 78

6.

Anhang

Die Seele wird also immer mehr außer sich gerückt: aus ihrem dunkeln, ewigen lebhaften Traum wird immer eine mehrere Anerinnerung, wie in der Morgen­ röthe, wenn wir zu uns selbst kommen. Das ist noch Dämmer: alles noch Gefühl: selbst Gesicht, und Gehör mischt sich zum Gefühl: alles noch nicht den Grad der Deutlichkeit - Hier die ersten Ideen, die uns wecken, bleiben Material auf unsere Lebenszeit. Wir nennen sie so, weil wir in der Materie leben und für sie denken: sie sind die ersten, sehr merklichen B egrenzungen unserer Seele durch äußere Gegenstände. 7. Es ist an einem andern Ort gezeigt, was dieses Aufwachen für Würkung auf unsere ganze Lebenszeit, was wir so nennen, behalte. Unsere Seele wird Meta­ physisch von innen determiniert aber die determinationen von außen geben ihr Form: und da wir hier blos Erscheinungen sind: so sieht man das (wicht [ . . . ] ein) Gewicht, was diese erste Anstöße, da wir Erscheinungen wurden, auf uns für Macht etc. Hierinn liegt Determination auf unser ganzes Leben. 8. Hierinn liegt nicht blos der Unterschied (der) mancher sinnlicher Affekten (Freuden) Vergnügen begründet sondern vielleicht selbst (d . . . ) nur mehr in der Folge der abstraktesten Ideen wenn die Seele so weit ist, sich abstrakter Vorstellungen zu erinnern. Hier liegt die Richtung unserer Sinne, die Stim­ mung unserer Nerven des Gefühls, die Gewichte der Bestimmungskraft unse­ rer Seele 9. Hieraus also 2. Wißenschaften. Eine äußere, wie unsere Sinne müssen gereizt, unsere Nerven gestirnt, unsere B estimmungskraft gewogen werden, um voll­ kommen zu seyn. Das ist die Philosophische Erziehung vom ersten Augen­ blick des Lebens an. Welche Mathematik hier, diese Richtung, Stimmung, Gewucht zu b estimmen! Welche Physik um die rechten Qualitäten zu wählen und würken zu lassen - Man sieht neue, Wißenschaft, die man Philosophie (Mathematik, Physik) der ersten äußerlichen sinnlichen Entwicklungen nennen könnte. Hier wird durch Stoß und Rückstoß, Bestimmung der Kräfte, durch Beben und Wiederbeben B estimmung des Gefühls: durch Eins und Eins B estimmung der B egriffe d.i. auf welche Art die Linie unsere Begriffe fort­ geführt wird: so Figur der Seele auf welche Art die Saiten unserer Empfindung vermehrt werden: so (Fläche) tönende Fläche der Seele auf welche Art die Kräfte unserer B ewe­ gung aufgezogen werden: so Bewegung Körper der Seele 1 0 . Zweite Wißenschaft von innen: Wie viel Grad (k) Gedanken erfodert wird, sich diesen und j enen Sinn zu bilden, in dem und jenem Maas z.E. So viel innerliches Bestreben sich den Raum der Welt vorzustellen, oder den Gedanken zu entwickeln und es ward Gefühl in dem und dem Grad, lebhaft, schnell, nahe, weit etc. So viel Bestreben, sich die Zeit zu entwickeln und Gehör: so leise, schnell etc. So viel etc. um das Ineinander zu entwickeln und Gefühl, Geruch etc. so stark etc. Hiernach die Proportion Menschlicher Seelen: die immer in der Summe gleich sein mögen, aber in der Qualität ihrer innern Kraft und Bestreben unterschie-

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1 79

den daß sie individuell werden. Hiernach die Proportion der Menschlichen Sinne, die in der Sume gleich aber in der Qualität nach der bestimmten äußeren Kraft und Bestreben individuell unterschieden sind. Jede Menschliche Seele in ihrer Zeit, Ort, Kraft Metaphysisch die beste: ( . . . } Metaphysik. Jede Menschliche ( . . . } Seele in ihrer Zeit, Ort, Kraft sinnlich die beste, wenn sie gut entwickelt. 1 2 . Wie weit setzt sich eine Menschliche Seele selbst auf die Welt: bestirnt sich bei ihren Sinnen, an Zeit, Ort, - durch Anziehung und Wiederstreben durch Gefühl, durch Begriff Ists, daß wenn eine Menschliche Seele noch nicht auf der Linie so weit ist, als sie s ein soll in Gedanken; so erreicht sie noch nicht diesen und j enen Zustand etc. Ists, daß wenn eine Menschliche Seele (noch} nicht so viel und so viel Schwung des Gefühl hat, so nicht Zustand. Ists, daß wenn eine Menschliche Seele nicht so viel und so viel Anziehung hat so auch nicht etc. daß also ihr Zustand in der Welt, ihr Ausgang aus derselben, ihr Zwischen­ stand, ihr Eintritt in eine neue (h} Sinnlichkeit genau hieraus. Das wäre eine Lehre des stätigen und der Bewegung für die Menschliche Seele. Daraus große Aussichten (der M} auf (Zu} Leben, Tod, Zustand der Seele nach etc. Geburt etc. Hier große Achtsamkeit auf uns hier lebende, wenn wir aus Zustand in Zustand übergehen durch Beraubung etc. Mangel, Gefühl desselben etc. So bei Kette der Völker, so in unsern Lebensumständen etc. Affekten 3. obj ektive Gewißheit und Wahrheit 1.

2.

3.

Die Realität mit Mangel gepaart gab Sinne, wie der Hauch, den Seifenblasen [getilgt?] Einschränkung gibt, die schönfarbige Welt einer Blase macht. So entstand auch vielleicht die Welt, Materie lag da: (Seifenchaos.) Es kam Kraft und blies ! siehe da ward Welt. B ei einer einzelnen Blase ist eine mit Polen Nord und Süd: mit Farben etc. die am Hauch hängt. Bei vielen sind die Sternen und Sonnenwirbel, wie einer in den andern greift und würkt und durch Anziehung und Rückstoß so ein Blasenhaufen wird, wie im Universum Weltsysteme So bald der Sinn gebildet war, so hatte die Seele ein Fernglas zu sinnlichen Gegenständen. Was sinnlich ist, ist Trug, Schein, Phönomenon; blos das Vehi­ kulum des Gedanken - die Gedanken Realität und Wahrheit. Also z.E. bei Gesicht, ist Raum, Figur, Weite, etc. Vorstellungsart der äußern Möglichkeit eines Dinges, nichts mehr. Ich verwickle mich in unendliche Schwürigkeiten (ein Ich} wenn ich das, was blos Privation ist, als einen Reellen Begriff ansehe, definieren will. D i e Mathematik redet von Erscheinungen als Realitäten und sie braucht also den Raum die Kraft, die Zeit, die Figur, Weite, als Realitäten und rechnet

1 80

4.

5.

6.

7.

8.

9.

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damit sicher fort. Die Philosophie redet von Erscheinungen als Erscheinungen und von Wesen, als Wesen; wo komt sie hin, wenn sie eins, fürs andre nimmt. Also Hauptgesichtspunkt beide genau zu unterscheiden: j ene ganz hypothetisch; diese Absolut etc. Der Gedanke im Sinn ist ein reiner Lichtstral, im Glase gebrochen, und reprä­ sentiert sich farbig - So sieht er andre Dinge außer sich, die er alle als außer sich erkennt, d.i. Wahrheit. Er sieht sie im Raum neben einander, nacheinan­ der: Figur u.s.w. das ist Erscheinung. Es bleibt also nichts, als Andres außer uns. Aber sind nicht auch diese blos Vorstellungen, oder ist was Außer uns ? Das letzte kann nicht bewiesen werden: es wird aber geglaubt. Da unsere Seele sich diese immerwährende bestimmte Sensation gegeben: so ist sie auf einer Welt voll Träume, wo alles ihr gleich träumt, und sie sich in Absicht der Erinnerung doch auch immer gleich träumt, dies ist ihr statt äußerer Gewißheit. Es ist also die Erinnerung des Gehabten Einerlei, die uns obj ektive äußerliche Gewißheit gibt, und wie entsteht die ? blos durch Vergleich des Gehabten mit dem Jetzt, also durch Verbindung der Ideen, durch Urtheil. Dies Unheil ist das erste des Kindes, und das Kind machts so oft, bis es körperliche B egriffe lernt. So bekommen wir von allem von [was ?] außer uns ist, habituelle Gewohnheit daß wir immer Einerlei empfinden, es als Einerlei beurtheilen und so werden wir des körperlichen Gefühls außer uns gewohnt. Die gemeinsten Begriffe sind hier die compliciertesten z.E. Figur, Weite, Größe etc. j eder bildet sie nach seinem organ: sie sind nicht Empfindung, son­ dern die Folgen der zusammengesetzten Unheile und Schlüße. Sie sind gelernt. Jeder hat sie nach seinem Individuellen Sinn und Urtheilsart, und Vorstellungsart: so wie wir ab � r als Erscheinungen präter propter rechnen, so sind sie bei den Menschen gleich. B ei d e n Menschen gleich: aber wie gesagt, nur ungefähr. So wie j eder seinen Horizont hat: so ist die Weite schon unterschieden; so auch die Größe, die Farbe noch mehr, ob wir sie gleich immer so nennen: das Gehör noch mehr der Geruch; Geschmack noch mehr; endlich das Gefühl am verschiedensten, weil er am meisten in sich fasset. Die Menschliche Sprache kann völlig dunkle Ideen nicht ausdrücken: sie handelt blos mit Begriffen der Convention: so nennet sie also roth, bitter, süß, weich, zart u.s.w. ob aber j eder gleich dabei denke, ist nicht die Folge; so viele Beispiele zeigen das Gegentheil. Je dunkler, allgemeiner der Sinn; je näher mit dem ersten Gefühl verwandt z.E. Gefühl; desto unerklärlicher - und auch desto individueller. Hier die größesten Sonderbarkeiten und Eigenheiten: Je mehr deutlich desto gemeiner und mit andern conformer, vielleicht auch desto mehr Wahrheit. Die grobem Sinne lassen ihre qualitates sensibiles blos im Sinn; und da fühle ich nie die Sache, sondern den Eindruck: nie was die Sache ist, sondern wie sie mir vorkommt. Die feinem zwar auch so, aber sie sind doch schon das Sehrohr, dadurch die Empfindung nicht im Auge unmittelbar sondern in der Seele gefühlt wird; also scheint hier das Medium reiner.

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181

1 0. Wäre e s nicht möglich die Genesis unseres Körpers, als eine Folge von den Vorstellungskräften der Seele zu erklären, wie gesagt, aber in nichts, als in Dem [?], was minder grobe Erscheinung ist, sondern das Commercium [ ?] und Substanzielle der Sinne. z.E. Gesicht: Gehör insonderheit - Jenes aus Regeln der Optik, als ein Seheglas: dies aus Regeln der Akustik, als eine Posaune. Recht verstanden müsten daraus neue Regeln für beide folgen, nicht blos Instrumente anzugeb en, wie hieraus [?] die Natur sondern das Geheimniß des Hörens und Sehens vielleicht mehr zu verstehen. 1 1 . So wie aus einem Principium hier Gehör und Gesicht folgt, nur das eine als Vorstellungskraft im Raum, das andre in der Zeit: so könnte es möglich werden diese beiden mehr zu vergleichen: und den Unterschied auf ein weniges a) und b) zu bringen. Hieraus vielleicht viel Aussicht, Optik und Akustik gegen einander zu halten, diese aus jener deutlicher, j ene aus dieser andringender und würkender zu machen. Eine Mathematik fürs Gefühl wird schwerer: hier müste das Gesetz von einem andern Newton ausgefunden werden, wie der Gedanke, als Kraft, betrachtet in unserem Körper nach der und j ener Proportion von Entfernung, Dichtigkeit etc. würke. Was gehören dazu aber für körperliche Einsichten! Zergliederung etc. um end­ lich das ganze Empfinden des Körpers als die sichtbare Folge des Gedankens, der in einer Materie würkt und Grenzen seiner Macht hat, zu sehen. 1 2 . wäre dies: so auch das andre, was ist in den Empfindungen Schein und Wesen ? Da Raum blos Vorstellungsart des Gesichts; Zeit des Gehörs; Kraft des Gefühls ist: wie wenn diese Vorstellungsart etc. weggeräumt werden, was bleibt? lauter gedenkende Wesen ? Wie würken die ineinander ? durch einerlei Richtung und Gravitation ihrer Seele gegen einander, woraus einerlei Organe, einerlei Begriffe von Raum Zeit etc. einerlei Körper und Harmonie entsteht aus dieser Logik des Scheins und der Wahrheit thue man einen Blick auf die Sprachen. Was wäre eine Philosophie ? die Substanzen als Substanzen: Vor­ stellungsarten, als solche unterschiede und die nur wenig (,) Worte. Da Gesicht Vorstellungsart im Raum: da Weite, Größe, Höhe, Fläche Modificationen einer Vorstellungs Art: da nur wenig Hauptbegriffe viel (Neben) Folgen u.s.w. Hieraus einen Blick auf unsere Sprachen, was in ihnen wesentlich, proprie, und improprie ist - und so die ganze Metaphysik und Seelenlehre durch. Hieraus einen Blick auf die Aesthetik der Sinne, was für Begriffe einerlei und Modificationen des Einen sind, was nicht etc. ich will versuchen

4.

1.

Von den Empfindungen des Schönen Schön ist ein sinnlicher Begriff, er hat also einen Schein um und an sich: er gehört nicht in das Gebiet eines reinen unsinnlichen Geistes. Bei diesem ist nichts anders zu denken als daß ihm Vollkommenheit statt Schönheit sey;

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(und) er weiß also von keinen verworrenen Begriffen noch weniger, daß in ihnen Schönheit liege. 2 . Nun laßet ihn aber als endlichen Geist würken: so hat sein Wesen seine Kraft, seine Vorstellungskraft Schranken: er hat seine Sphäre der Würksamkeit und der Erkenntnis; in der gefällt er sich und daraus wird Schönheit. - Nicht die Schranken sind, was ihm gefällt, aber seine Würksamkeit, die die Schranken ausfüllt, und eben in der Ausfüllung ihm Vergnügen gibt. z.E. einer Seifenblase ihre Schranken machen ihre Schönheit. 3 . Die Seele bildet sich z.E. einen Körper: sie würkt sinnliche Ideen zu erwerben: sie erfüllt die Sphäre ihrer Würksamkeit, das wird Schönheit. Sie hat sich ein Antlitz gebildet in dem sie sich spiegelt, ein Auge, wodurch sie auf einen Kreis um sich sieht: ein Ohr etc. kurz ein empfindendes Organ für eine sinnliche Sphäre. Die Eigenliebe schläft nur zum Glück zu dunkel in uns: sie wird nicht deutlich gemacht: sie wird durch Geschlechtertriebe und noch mehr [durch?] Folgen unserer gesellschaftlichen Erziehung getheilt: sie wird in ihren Ausbrü­ chen unterdrückt; sonst würde es sich zeigen, daß die Seele auch die Gestalt ihres eignen Körpers am meisten liebe - so lange nehmlich diese Liebe zwi­ schen lntereße und Wohlgefallen schwebet. (Ich glaube j eder} Wir sehen dies an vielen datis: z.E. ein auch nicht von sich eingenommener Mensch, der aber Aufmerksamkeit auf sich hat, wird die Theile von sich am meisten lieben, die er glaubt, lieben zu können, und zu dörfen, z.E. dieser Auge, Fuß, Hand, B art, etc. daß er die andern nicht liebt, muß aus der zu offenbaren Concurrenz andrer beßerer kommen, daß er sich nicht im Ganzen, als ein Verliebter liebt, komt, weil er sich nicht von aussen gnug (be}sieht. Laßt aber ohne daß ers wüste einen Menschen, wie er, mit allen seinen Zügen, nur nicht als Rival kommen, und ers nicht wissen, daß das sein Dämonion [?] sei, dieses Bild von ihm wird sein bester Freund werden. Und laßt ein Frauenzimmer, mit alle den Zügen kommen, nur daß sie das als Frauenzimmer sei, was er als Mannsperson so muß sich die Anerkennung äußern. 4. Gnug! die Seele bildet sich einen Körper, indem sie sich, wenn er gesund und sie gesund ist gefällt. Von hieraus sieht sie auf die Welt um sich, und wenn , (diese) sie gesund ist, muß ihr diese gefallen wie der Spinne ihr Gewebe, der Biene ihr Korb und Gott seine Welt 5 . Das Gefallen ihres Körpers ist wie gezeigt, dunkel, e s ist aber eben dadurch der stärkste Instinkt: (ja) das körperliche Gefühl noch dunkel und also auch noch

ABKÜRZUNGEN

AA:

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LITERATURVERZEICHNis•

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