Selbstbeobachtung und die Evolution des Kunstsystems: Literaturwissenschaftliche Analysen zu Laurence Sternes »Tristram Shandy« und den frühen Romanen Flann O'Briens [1. Aufl.] 9783839404027

Häufig wird die zunehmende »Verspieltheit« moderner Kunst in selbstreflexiven Formen durch den Schwanengesang vom »Ende

136 24 46MB

German Pages 154 [153] Year 2015

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Selbstbeobachtung und die Evolution des Kunstsystems: Literaturwissenschaftliche Analysen zu Laurence Sternes »Tristram Shandy« und den frühen Romanen Flann O'Briens [1. Aufl.]
 9783839404027

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1. Systemtheorie: Die Kunst der Kommunikation
1.1 Kunst als soziales System
1.2 Metafiktion: Reflexion und Innovation
2. Laurence Sterne: Tristram Shandy
2.1 Sattelzeit Ausdifferenzierung des Kunstsystems
2.2 Tristram Shandy I: Kommunikationsprobleme im Dialog mit dem Leser
2.3 Tristram Shandy II: Selbstbeobachtung und metafiktionale Interferenzen
3. Evolution des Kunstsystems 1: Autonomisierung durch Problemlösung
3.1 Romantik und 19. Jahrhundert: Das Kunstsystem macht sich selbstständig
3.2 Grand Recit: Lösung des Tristram-Shandy- Erzählproblems
4. Evolution des Kunstsystems II: Autonomisierung durch Selbstreflexion
4.1 Beobachtung zweiter Ordnung: Postmoderne Autonomie der Kunst
4.2 Postmoderne Metafiktion: Dekonstruktion von "Realität"
5. Flann O'Brien: At Swim-Two-Birds und The Third Policeman
5.1 Flann O'Brien und das Kunstsystem im Irland des 20. Jahrhunderts
5.2 At Swim-Two-Birds: Offen-polyphone Dekonstruktion des Grand Recit
5.3 The Third Policeman: Verdeckte Metafiktion und diskursive Zirkularität
6. Anschlusskommunikationen: Tristram Shandy und die Romane O'Briens
Schluss: Metafiktion als Motor der Kunst-Evolution
Abkürzungen und Literaturliste

Citation preview

Selbstbeobachtung und die Evolution des Kunstsystems

In memoriam Dietrich Schwanitz (1940-2004)

Christian Schuldt studierte Anglistik, Germanistik und Soziologie. Heute lebt er als Redakteur und Autor in Berlin. Bisherige Publikationen: »Systemtheorie« (2003), >>Der Code des Herzens« (zoos).

CHRISTIAN SCHULDT

Selbstbeobachtung und die Evolution des Kunstsystems Literaturwissenschaftliche Analysen zu Laurence Sternes »Tristram Shandy« und den frühen Romanen Flann O'Briens

[transcript]

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:j jdnb.ddb.de abrufbar.

© 2005 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfaltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat und Satz: Christian Schuldt Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-402-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: http:jj www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort 1. 1.1 1.2

Systemtheorie: Die Kunst der Kommunikation Kunst als soziales System Metafiktion: Reflexion und Innovation

2. 2.1 2.2

Laurence Sterne: Tristram Shandy Sattelzeit Ausdifferenzierung des Kunstsystems Tristram Shandy I: Kommunikationsprobleme im Dialog mit dem Leser Tristram Shandy II: Selbstbeobachtung und metafiktionale Interferenzen

2.3

3.

3.1 3.2

4. 4.1 4.2

Evolution des Kunstsystems 1: Autonomisierung durch Problemlösung Romantik und 19. Jahrhundert: Das Kunstsystem macht sich selbstständig Grand Recit: Lösung des Tristram-ShandyErzählproblems Evolution des Kunstsystems II: Autonomisierung durch Selbstreflexion Beobachtung zweiter Ordnung: Postmoderne Autonomie der Kunst Postmoderne Metafiktion: Dekonstruktion von "Realität"

7

11 20

27 32 43

53 56

61 67

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

5.

5.1 5.2 5.3

6.

Flann O'Brien: At Swim-Two-Birds und The Third Policeman Flann O' Brien und das Kunstsystem im Irland des 20. Jahrhunderts At Swim-Two-Birds: Offen-polyphone Dekonstruktion des Grand Recit The Third Policeman: Verdeckte Metafiktion und diskursive Zirkularität Anschlusskommunikationen: Tristram Shandy und die Romane O'Briens

73

80 98

125

Schluss: Metafiktion als Motor der Kunst-Evolution

137

Abkürzungen und Literaturliste

141

Vorwort

Was ist Kunst? Aus Sicht der Systemtheorie zunächst einmal etwas, das grundsätzlich verwandt ist mit Politik, Wissenschaft oder Wirtschaft, nämlich ein eigenständiger Kommunikationsbereich der modernen Gesellschaft. Kunst bildet ein selbstreferenziellgeschlossenes Kommunikationssystem, das eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt. Für die Analyse von Kunst lässt sich Luhmanns Systemtheorie daher als Vergleichsoptik benutzen, die Kunstkommunikation mit anderen Kommunikationstypen vergleichbar macht. Entscheidend für eine systemtheoretische Kunst- bzw. Literaturanalyse ist dabei die Beobachtung eines Kunstwerks in seinem historischen Kontext, also die Frage: Welche Funktion erfüllt eine Kunstkommunikation hinsichtlich der Ausdifferenzierung des Kunstsystems bzw. der Gesellschaft? Der jeweilige Stand der Ausdifferenzierung lässt sich daran ablesen, wie frei das Kunstsystem selbst entscheiden kann, wie autonom es gegenüber gesellschaftlichen Vorgaben ist, etwa hinsichtlich des Verhältnisses von Ästhetik und Moral. Besonders aufschlussreich bei einer solchen Betrachtung sind selbstreflexive bzw. metafiktionale Kunstwerke, also Kunst, die sich selbst thematisiert. Als eine Form von selbstbeobachtender Kunst liefert Metafiktion wichtige Erkenntnisse über die Ausdifferenzierung und Autonomisierung des Kunstsystems - so wie jedes Kunstwerk jeweils auch auf andere Funktionssysteme verweist: Ein Liebesroman aus einem früheren Jahrhundert verrät ja nicht nur etwas über den Ausdifferenzierungsstand der Liebe,

7

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

sondern auch über die Entwicklungen in Recht, Wirtschaft, Politik, Bildung etc. Diese systemtheoretische Perspektive führt auch bei der vergleichenden Analyse von Laurence Sternes und Flann O'Briens metafiktionalen Romanen zu interessanten Ergebnissen: Die ähnlichen Erzähltechniken, die Sterne im Tristram Shandy (1759-1767) und O'Brien in At Swim-Two-Birds (1939) und The Third Policeman (1940) anwenden, liefern deutliche Hinweise auf die Ausdifferenzierung des Kunstsystems. Das zeigt sich vor allem daran, dass die metafiktionalen Selbstbeobachtungen der Romane Kommunikationsprobleme der jeweiligen soziokulturellen Kontexte sichtbar machen: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts betrifft dies vor allem den Umbruch des Gesellschaftssystems zur funktionalen Differenzierung und Beobachtung zweiter Ordnung; im 20. Jahrhundert führt die vollkommene Autonomie des Kunstsystems zu einer Fokussierung von Selbstreferenz. Zugleich zeigt die Analyse, dass Sternes Tristram Shandy narrative Probleme offen legt, die die folgende Romanentwicklung "löst" und die von "postmoderner" Kunst (in diesem Fall den Romanen O'Briens) erneut thematisiert werden- allerdings unter ganz anderen Vorzeichen. Um die systemtheoretisch-literaturwissenschaftliche Sicht zu explizieren, die diesem Buch zu Grunde liegt, wird im ersten Teil zunächst die Systemtheorie vorgestellt, insbesondere die Übertragung ihrer kommunikationstheoretischen Erkenntnisse auf die Beschreibung des Kunstsystems (1.1). Anschließend werden die theoretischen Grundlagen der Metafiktion betrachtet (1.2), also jene literarische Form, für die Sternes und O'Briens Romane repräsentative Beispiele sind. Im zweiten Teil wird zunächst die Situation des Kunstsystems zur so genannten "Sattelzeit" geschildert (2.1). Bei der anschließenden Analyse von Sternes Roman Tristram Shandy wird zuerst die interaktionsähnliche Beziehung des Erzählers Tristram zu den fiktiven Lesern untersucht (2.2). Diese bildet die Basis für die metafiktionalen Interferenzen zwischen Erzählen und Erzähltem, die eine Formulierung der von Sterne thematisierten Erzählprobleme ermöglichen (2.3). Im dritten Teil folgt dann einer Schilderung der weiteren Ausdifferenzierung des Kunstsystems in der Romantik und im 19. Jahrhundert (3.1) ein Abriss der "Lösung" dieses Erzählproblems im Grand Recit, der "großen Erzählung" des personalen Romans (3.2).

8

VORWORT

Im vierten Teil wird wird zunächst die Situation des autonomen Kunstsystems in der Moderne bzw. "Postmoderne" umrissen (4.1), anschließend wird der besondere Bezug von metafiktionaler Literatur zur Postmoderne dargestellt (4.2). Der fünfte Teil ist dann der Analyse von Flann O'Briens Romanen gewidmet. Nach einem Blick auf den Stand der Ausdifferenzierung des Kunstsystems im Irland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, also dem soziokulturellen Kontext für das Schaffen Flann O'Briens (5.1), werden dessen postmodern-metafiktionale Romane At Swim-TwoBirds (5.2) und The Third Policeman (5.3) im Hinblick auf kunstkommunikative Problematiken betrachtet. Der abschließende sechste Teil dient einer vergleichenden Gegenüberstellung von Sternes und O'Briens Romanen. Dabei lassen die Gemeinsamkeiten sowie die Unterschiede innerhalb dieser Gemeinsamkeiten auf die fortschreitende Autonomisierung des Kunstsystems rückschließen.

9

1. Systemtheorie: Die Kunst der Kommunikation

1.1 Kunst als soziales System Ausschlaggebend für eine systemtheoretische Interpretation von Kunst ist die Betrachtung eines Kunstwerks als "Kompaktkommunikation"1 in einem spezifischen soziahistorischen Kontext. Für die systemtheoretische Analyse der Romane von Laurence Sterne und Flann O'Brien ist daher zunächst einmal der systemtheoretische Kommunikationsbegriff zu klären. Er bildet die Basis, um ein Kunstwerk als kommunikatives Ereignis im Rahmen der kunstsystemischen Evolution beschreiben zu können. Traditionellerweise - etwa in der Sprechakttheorie oder in Habermas' Theorie des kommunikativen Handeins - wird Kommunikation gleichgesetzt mit Handlung. Kommunikationsvorgänge erscheinen dann als gelingende oder misslingende Informationsübertragungen vom Sender zum Empfänger. Demgegenüber ist das systemtheoretische Verständnis von Kommunikation komplexer: Niklas Luhmann betrachtet Kommunikation als vollständig geschlossenes, autopoietisches System, das die Elemente, aus denen es besteht, fortlaufend selbst erzeugt und zu Strukturen verbindet2. Damit ist Kommunikation ein Sachverhalt sui generis, bei Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, S. 63. Zum Begriff "Kompaktkommunikation" vgl. auch Georg Stanitzek, "Was ist Kommunikation?", ln: Jürgen Fohrmann & Harro Müller (Hg.), Systemtheorie der Literatur, München 1996, S. 21-55 2 Zum Begriff "Autopoiesis" vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984, S. 60 ff.,

11

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

dem nichts übertragen wird. Dementsprechend hat die Kommunikation auch "keinen Zweck": "Sie geschieht, oder geschieht nicht - das ist alles, was man dazu sagen kann."3 Wie und warum sie aber geschieht, darüber sagt die Systemtheorie eine Menge. Luhmann definiert Kommunikation als eine Art 3-in-1-Paket: Jede Kommunikation besteht aus den drei Komponenten Information, Mitteilung und Verstehen4 . Da soziale Systeme mit dem Medium Sinn operieren, ist jede der drei Komponenten eine Auswahl aus einem Bereich von Möglichkeiten: Eine Information wird ausgewählt, eine Mitteilungsform dieser Information wird ausgewählt, und das Verstehen dieser mitgeteilten Information wird ausgewählt. Jede Information ist also eine Auswahl, an deren Stelle auch eine andere Information kommuniziert werden könnte, und zwar mit einer anderen Mitteilungsweise, die auf unterschiedliche Weise verstanden werden kann. In diesem Sinne lassen sich auch Kunstwerke verstehen als Mitteilung von Information. Der Mitteilungsaspekt ergibt sich aus der "Künstlichkeit" eines Kunstwerks: An der internen Unterscheidungsstruktur des Kunstwerks erkennt der Betrachter, dass "so etwas nicht von selbst entstanden sein kann, sondern sich der Absicht auf Information verdankt"s, also Kommunikation provozieren soll. Das gilt auch - und gerade -, wenn es sich um objets trouvees wie etwa das legendäre Pissoir von Marcel Duchamps oder Beuys'sche Fettecken handelt. Kunst ist also, wie Sprache, eine Art Vermittlung zwischen Beobachtungen: Der Künstler beobachtet beim Herstellen des Kunstwerks, was ein anderer Beobachter beobachten wird, wenn er das Kunstwerk sieht. Eben deshalb lässt sich auch ein Großteil neuerer Kunst nur verstehen, wenn man die Beobachtungsweise erkennt, mit der ein Künstler das Kunstwerk produziert hat. Der Knackpunkt ist das Verstandenwerdenwollen: Kunstwerke erzeugen Irritationen und regen zur Sinnsuche an. Die Differenz von Information und Mitteilung soll verstanden werden.

sowie ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 65 ff. Zur allg. Einführung in Luhmanns Theorie vgl. Christian Schuldt, Systemtheorie, Hamburg 2003 3 Niklas Luhmann, "Was ist Kommunikation?", in: Information Philosophie 1(1987), S. 4-16; ZitatS. 10 4 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., S. 191 ff. 5 Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.a.O., S. 70

12

SYSTEMTHEORIE: DIE KUNST DER KOMMUNIKATION

Diese hochkomplexen Kommunikationsbedingungen - eine Information muss nicht nur mitgeteilt, sondern auch verstanden werden - machen erfolgreiche Kommunikation schon ganz generell zu einem hochgradig unwahrscheinlichen Unterfangen.6 Das zeigt sich bereits im persönlichen Gespräch: Weil Menschen füreinander komplett undurchschaubar sind, wird schon das schlichte Einander-Verstehen zur diffizilen Angelegenheit. Wie können unter solch "widrigen" Umständen Kommunikationen aneinander anschließen, sodass sich kommunikative Prozesse und Strukturen bilden? Indem sich die Kommunikation als Handlung tarnt: Sie tut so, als sei sie nicht die Einheit von Information, Mitteilung und Verstehen, sondern einfach nur Mitteilung pur.7 Diese Maskerade als Mitteilung macht es möglich, eine Kommunikation einer Person zuzuschreiben, so als ob ein Sender einem Empfänger etwas mitteilen könnte, ohne dass diese Mitteilung erst verstanden werden müsste. Erst diese Selbstbeschreibung als Handlung lässt Kommunikationen zu Ereignissen werden, die zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfinden und dann angenommen oder abgelehnt werden können. Zudem stellt eine solche Handlungszurechnung eine "Asymmetrisierung" der selbstreferenziellen Kommunikationszusammenhänge sozialer Systeme dar.S Systeme benötigen eine asymmetrische Differenz zu ihrer jeweiligen Umwelt, um ihre autopoietische Reproduktion zu sichern. Mittels Asymmetrisierung und interner Differenzierung ist das System dann weniger komplex als seine Umwelt, und zugleich beugt die asymmetrische System/Umwelt-Differenz Zuschreibungsparadoxien vor. Die Zuschreibung als Handlung ist jedoch nicht die einzige Selbstbeschreibung der Kommunikation. Eine weitere ist die Zuschreibung als Erleben. Während Handeln eine Zurechnung zum System selbst ist, bedeutet Erleben eine Zurechnung zur Umwelt. Die gesellschaftlichen Zentralinstanzen, die diese Zurechnungsweisen 6 Vgl. Niklas Luhmann, "Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation", ln: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 3, Opladen 1981, S. 25-34 7 Vgl. Niklas Luhmann, "Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien", ln: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 2, Opladen 1975, S. 170-192, sowie ders., "Erleben und Handeln", ln: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 3, a.a.O., S. 67-80 8 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., S. 225 ff.

13

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

kompatibel machen, um Kommunikation gelingen zu lassen, nennt Luhmann "symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien"9. Symbolisch generalisierte Kommunikationmedien wirken wie eine Risikominimierungsmaschinerie: Sie nutzen kommunikative Zuschreibungen als Handlung und Erleben en masse und situationsübergreifend, um unwahrscheinliche Kommunikation wahrscheinlich zu machen. Kommunikationmedien wie Geld (im Funktionssystem Wirtschaft), Wahrheit (in der Wissenschaft), Macht (in der Politik und im Recht) oder die Formenspiele der Kunstwerke (im Kunstsystem) schaffen es, die Erwartungen aller beteiligten Systeme so zu bündeln, dass eine Art "Commonsense" in der Gesellschaft entsteht. So kann etwa in Bezug auf die Kunst durchaus erwartet werden, dass ein Kunstwerk keine beliebigen Formen vorführt, sondern auf irgendeine Weise "kunstvoll" ist. Diese wundersame Wahrscheinlichmachung erfolgreicher Kommunikation läuft über verschiedene Zuschreibungen als Handeln und Erleben1ll. Während zum Beispiel in der Wissenschaft das Kommunikationsmedium Wahrheit dafür sorgt, dass man das eigene Erleben am Erleben anderer orientiert, orientiert sich in der Kunst das eigene Erleben an den Handlungen anderer. Das heißt: Kunstwerke sind Handlungen, die den Anspruch haben, Erleben zu fesseln und nach ihren Vorgaben zu leiten. Um diesen ErlebnisEffekt zu erzielen, muss die Kunstkommunikation allerdings ihre Kontingenz, ihr Hergestelltsein verdecken. Dafür bedient sie sich, ähnlich wie die Lieben, eines Paradoxierungs-Tricks: Sie macht ihre Selbstbeschreibung als Handlung rückgängig und tarnt sich als Erleben. Nur so kann das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium Kunst sicherstellen, dass künstlerisches Handeln erlebend wahrgenommen wird. Mit anderen Worten: Kunst macht etwas sichtbar, indem sie ihre eigenen Unterscheidungen, ihre Form, unsichtbar macht. 9 Vgl. Luhmann, "Einführende Bemerkungen ... ", a.a.O., sowie ders., Soziale Systeme, a.a.O., S. 222 ff. 10 Vgl. Luhmann, "Einführende Bemerkungen ... ", a.a.O., ders., "Erleben und Handeln", a.a.O., sowie ders., "Schematismen der Interaktion", ln: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 3, a.a.O., S. 67-80 11 Vgl. Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a.M. 1982, sowie Christian Schuldt, Der Code des Herzens. Liebe und Sex in den Zeiten maximaler Möglichkeiten, Frankfurt a.M. 2005

14

SYSTEMTHEORIE: DIE KUNST DER KOMMUNIKATION

Diese Umattributionierung von Handeln auf Erleben liefert einen weiteren wichtigen Bezugspunkt für eine Literaturanalyse unter systemtheoretischen Gesichtspunkten. Wie bereits angeführt, zielen Kunstwerke darauf ab, den Rezipienten zu einem erlebenden Nachvollziehen motivieren. Jedes Kunstwerk hat daher den "Anspruch, [... ] Erleben zu führen und in eine vorgezeichnete Selektivität zu zwingen" 12. Zum Bezugsproblem einer systemtheoretischen Literaturanalyse wird deshalb auch die Differenz zwischen Handeln und Erleben als Resultat kommunikativer Attributionen bzw. die Frage, "[...] wie ein Kunstwerk als alternativenlos und notwendig erscheinen kann, wenn es doch nur ein kontingent gemachtes Produkt der Kommunikation ist, das auch anders denkbar wäre und das auf die Mitteilungsinteressen des Künstlers relativierbar ist." 13 Im Detail läuft diese Tarnung darauf hinaus, dass der Mitteilungsaspekt der Kommunikation versteckt werden muss: Der Künstler muss sich "unsichtbar" machen. Im personalen Roman geschieht das zum Beispiel durch die "Invisibilisierung" der Erzählsituation in der Erlebten Rede (mehr dazu in Kapitel 3.2: "Grand Recit: Lösung des Tristram-Shandy-Erzählproblems"). Besonders spannend wird damit auch die Frage, mit welchen erzählerischen Tricks es metafiktionalen Romanen, die ihr Hergestelltsein explizit thematisieren, dennoch gelingt, ein erlebendes Beobachten herbeizuführen. Die kunstspezifische "Erlebnisfixiertheit" verweist auch auf eine weitere entscheidende Besonderheit von Kunstkommunikation: Sie ermöglicht es, "[...] etwas prinzipiell Inkommunikables, nämlich Wahrnehmung, in den Kommunikationszusammenhang der Gesellschaft miteinzubeziehen. [...] Anders als die sprachliche Kommunikation, die allzu direkt auf eine Ja/Nein-Bifurkation zustrebt, lockert die über Wahrnehmung ge-

12 Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.a.O., S. 247 13 Dietrich Schwanitz, "Systemtheoretischer Handlungsbegriff, literarische Kommunikation und Polyvalenzpostulat", ln: A. Barsch, G. Rusch & R. Viehoff (Hg.), SPIEL 12, Heft 1, Frankfurt a.M. 1993, S. 72-80; ZitatS. 74. Vgl. dazu ausführlicher Punkt 3.2 dieser Arbeit.

15

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

leitete Kommunikation die strukturelle Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation."14 Kunstwerke suchen d eshalb ein Verhältnis von Wahrnehmung und Kommunikation, d as - anders als "normale", alltägliche Kommunikation - Irritation erzeu gt. Wie bereits erw ähnt, provozieren Kunstwerke den Rezipienten damit zu einer Sinnsuche nach der Differenz von Information und Mitteilung und erzeugen ein soziales Verstehensproblem. Kunstkommunikation erzwingt also ein Beobachten der kunstw erkimmanenten Unterscheidungen, also die Beobachtung von Beobachtungen bzw. d ie Beobachtung zweiter Ordnung:ls "Die Herstellung eines Kunstwerks hat [...] den Sinn, spezifische Formen für ein Beobachten von Beobachtungen in die Welt zu setzen. Nur dafür wird das Werk ,hergestellt'. Das Kunstwerk selbst leistet [... ] die strukturelle Kopplung des Beobachtens erster und zweiter Ordnung für den Bereich der Kunst."16 Die besondere Funktion des gesellschaftlichen Teilsystems Kunst ist es daher, Formen zu produzieren, deren interne Verweisungszusammenhänge die Beobachtung zweiter Ordnung motivieren und damit verdeutlichen, d ass auch bei hoher Unerwartetheil von Inform ation Beliebigkeil u nm öglich bzw. Ordnung möglich ist. Dies erreichen Kunstw erke durch Hinweise auf die Kontingen z d er "normalen" Realitätssicht Mit ihrer eigenen fiktiven Realität spalten sie die Weltrealität in d ie Differenz real/ fiktional und schaffen eine " Position, von der aus etwas anderes als Realität bestimmt werden kann"17. Die " Konfrontierung einer Gedermann geläufigen) Realität mit einer anderen Version derselben Realität"

14 Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.a.O., S. 227. Vgl. auch Dirk Baecker, "Die Adresse der Kunst", ln: Systemtheorie der Literatur, a.a.O., S. 82-105: "ln der Kunst ,wendet' sich die Kommunikation an die Wahrnehmung." (S. 96) 15 Zur Theorie der Beobachtung erster und zweiter Ordnung vgl. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.a.O. , S. 92 ff., sowie ders. , Die Gesellschaft der Gesellschaft, a.a.O. , S. 766 ff. Vgl. auch Schuldt, Systemtheorie, a.a.O. , S. 50 ff. 16 Luhmann, Die Kunstder Gesellschaft, a.a.O., S. 115 17 Ebd., S. 229

16

SYSTEMTHEORIE: DIE KUNST DER KOMMUNIKATION

lässt die "festsitzende Alltagsversion [... ] zu einer polykontexturalen, auch anders lesbaren Wirklichkeit"ls werden. Diese Fiktionalität regt den Rezipienten zur Beobachtung zweiter Ordnung an und führt letztlich zu einer "gegenstandsunabhängige[n] Universalität des kunstmäßigen Beobachtens" 19. Die kunstbezogene Kommunikation ist dabei auch nicht auf Übereinstimmungen angewiesen, weil die "innerpsychische Verkapselung der Wahrnehmung verhindert, dass man das Wahrgenommene einem Konsenstest unterwerfen kann"zo. Auf Basis dieser durch Formenfixierung ausgelösten Anregungen zum Beobachten und Kommunizieren entfaltet sich das Kunstsystem dann als "ein geschlossenes System der Selbstreproduktion", ein "soziale[s] System des Herstellensund Erlebens von Kunstwerken" 21 • Die Ausdifferenzierung dieses Systems erfolgt durch die Notwendigkeit, die Operationen des Herstellens und Betrachtens sequenziell zu prozessieren: Die operative Schließung des autopoietischen Kunstsystems erfordert für den Fortgang von Operationen Information in Form von künstlerischen Neuerungen22. Die Ordnung und Strukturierung dieses permanenten Neuheitsgebots steuert die selbstreferenzielle Evolution des Kunstsystems und lässt sich näher beschreiben mit dem Begriff des Stils. Luhmann definiert Stil als die "Formebene, auf der evolutionäre Strukturselektion stattfindet" 23. Das künstlerische Auswechseln und Ausprobieren von Formenkombinationen resultiert in einer 18 Niklas Luhmann, "Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst", ln: H.U. Gumbrecht & K.L. Pfeiffer (Hg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt a.M. 1987, S. 620-672; ZitateS. 624 f. 19 Niklas Luhmann, "Weltkunst", ln: ders., F.D. Bunsen & D. Baecker (Hg.), Unbeobachtbare Welt: Über Kunst und Architektur, Sielefeld 1990, S. 7-45; ZitatS. 25 20 Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.a.O., S. 227. Zur Autopoiesis des psychischen Systems vgl. Niklas Luhmann, "Die Autopoiesis des Bewusstseins", ln: Soziale Welt 36 (1985), S. 402-446, sowie ders., "Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?", ln: Hans Ulrich Gumbrecht & Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt a.M. 1988, S. 884-905 21 Luhmann, "Das Kunstwerk ... ", a.a.O., S. 622 22 Vgl. zur Evolution des modernen Romans unter diesen Bedingungen auch Niels Werber, Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation, München 2003 23 Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.a.O., S. 371

17

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

Vielzahl von Stilen und ähnelt insofern der Darwin' sehen Auffassung von Evolution als Prozess der Selektion, Variation und Stabilisierung in Richtung einer Vielzahl von Arten. Die Zuordnung zu bestimmten Stilmerkmalen belässt einzelnen Kunstwerken dabei einerseits ihre Einmaligkeit, zugleich werden aber auch Verbindungen zu anderen Kunstwerken hergestellt.24 Damit erfüllt Stil die Funktion, den "Beitrag des Kunstwerks zur Autopoiesis der Kunst zu organisieren"2s. Bezüglich der gesellschaftlichen Umwelt des Kunstsystems dient Stil als eine Kontaktebene, auf der das Kunstsystem "die Geschlossenheit seiner Reproduktion und die Autonomie seiner Strukturwahl"26 durchsetzen muss. Die Reflexion der eigenen System/Umwelt-Differenz verdeutlicht dem Kunstsystem die eigene "Arbeitslogik", die dann zur Selbstdeterminierung benutzt wird: "Die entscheidende Einsicht ist: dass durch solche Hermeneutik der Autonomie nicht Beliebigkeit geschaffen und nicht ,künstlerische Freiheit' verteidigt wird, sondern dass dieses Erfordernis der Definierung von Autonomie wichtige Merkmale von Stilen determiniert, also dem Belieben entzieht." 27

Der jeweilige Stand der Ausdifferenzierung des Kunstsystems lässt sich dann ablesen an dem Ausmaß seiner Selbstbestimmung gegenüber gesellschaftlichen Maßstäben, etwa dem Verhältnis von Ästhetik und Moral. Strukturiert wird diese zunehmende Autonomisierung, wie in jedem Funktionssystem der Gesellschaft, durch einen binären Code, um den herum sich die subsystemspezifischen Semantiken und strukturellen Vorgaben für Kommunikationen bilden. Die Bezeichnung der Kunstcodierung mit der Dichotomie "schön/ hässlich" ist seit dem Obsoletwerden einer traditionellen Ästhetik umstritten28 . Zwar herrscht Einigkeit darüber, dass "Codierbarkeit 24 Hier lässt sich auch das literaturwissenschaftliche Schlagwort der "lntertextualität" systemtheoretisch verorten: Die Bezüge, die Kunstwerke untereinander aufnehmen, bilden systemspezifische Anschlusskommunikationen (mehr zu diesem Thema im Folgenden bei der Analyse der Romane Sternes und O'Briens). 25 Luhmann, "Das Kunstwerk ... ", a.a.O., S. 632 26 Ebd., S. 646 27 Ebd. 28 Vgl. Niklas Luhmann, "Ist Kunst codierbar?", ln: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 3, a.a.O., S. 245-266, sowie ders. , Oie Kunst der

18

SYSTEMTHEORIE: DIE KUNST DER KOMMUNIKATION

der Kunst durch einen unverwechselbaren Schematismus Bedingung ihrer Autonomie als gesellschaftliches Handlungssystem"29 ist, doch die Definition der Code-Zweiwertigkeit variiert.3ll Entscheidend ist jedoch, dass das Kunstsystem mittels binärer Codierung nur noch nach systemeigenen Regeln beeinflussbar wird. Durch die Verwendung der Sinnebene Stil zur Begründung dieser Differenz und der damit erreichten "Volltemporalisierung der Komplexität des Systems"31 läuft das Kunstsystem allerdings Gefahr, dass "der Zeitstellenwert der Stile und sogar der Objekte die Sachkriterien der Schönheit (die man, wenn überhaupt, nur noch in Selbstreferenz bestimmen könnte) zu verdrängen droht" .32 Die Befürchtung eines möglichen "Todesurteils"33 für Kunst in Folge eines gesellschaftlichen Funktionsverlusts durch gesteigerte Selbstbezüglichkeit eröffnet erneut eine Verbindung von Kunst im Allgemeinen zur gesteigerten Selbstreferenzialität metafiktionaler Literatur. Vor der Analyse von Sternes und O'Briens Romanen als repräsentativen Beispielen metafiktionaler Literatur lohnt es sich daher, zunächst einen genaueren Blick auf die literarische Form der Metafiktion zu werfen. Dabei zeigt sich bereits, dass die komplexen und "provozierenden" Beobachtungsverhältnisse, die metafiktionale Kunstwerke kennzeichnen, wichtige Beiträge zur Selbstreflexion und Autonomisierung des Kunstsystems leisten.

29 30

31 32

33

Gesellschaft, a.a.O., S. 309 ff. "Nach dem Scheitern der Suche nach ,objektiven' Kriterien des Schönen konnte man die Objektivität des Schönen nur noch als Tautologie[... ] auffassen." (S. 313) Luhmann, "Ist Kunst codierbar?", a.a.O., S. 259 So existieren etwa Vorschläge wie "interessant/uninteressant" (vgl. Gerhard Plumpe & Niels Werber (Hg.), Beobachtungen der Literatur. Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft, Opladen 1995) oder "unverständlich/verständlich" (vgl. die dekonstruktivistischen Betrachtungen von Rembert Hüser, "Frauenforschung", ln: Systemtheorie der Literatur, a.a.O., S. 238-275) Luhmann, "Das Kunstwerk... ", a.a.O., S. 660 Ebd. Luhmann verweist damit auf die Frage, ob das Kunstsystem derartige Ausmaße von Ausdifferenzierung und Autonomie überhaupt bewältigen könne bzw. ob dies nicht die autopoietische Selbstreproduktion des Systems gefährde. H.U. Gumbrecht, "Pathologien im Literatursystem", ln: Dirk Baecker u.a. (Hg.), Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1987, S. 137-180. Gumbrecht geht davon aus, dass aufgrund einer im Literatursystem nicht erfolgten Differenzierung zwischen Codierung und Programmierung eine "Paralyse" im Gebrauch des Codes "schön/hässlich" entstanden sei.

19

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

1.2 Metafiktion: Reflexion und Innovation Als Metafiktion lässt sich generell jene Form von Literatur bezeichnen, die auf sich selbst reflektiert und ihre Beschaffenheit als Fiktionales, als Text, thematisiert: ,"Metafiction' [... ] is fiction about fiction - that is, fiction that includes within itself a commentary on its own narrative and/ or linguistic identity."34 Linda Hutcheon hat ausgehend von dieser Differenzierung in narrative und linguistic eine Typologie entworfen, die über die Kategorien diegeticj/.inguistic und overtjcovert eine thematische und historische Klassifizierung metafiktionaler Texte ermöglicht35 . Kreuztabellarisch angeordnet, ergibt sich danach folgende Einteilung:

diegetic linguistic

overt (thematized > freedom of reader) power of storytelling to create worlds power and Iimits of fictivelanguage

covert (actualized > freedom of reading) models of detective, fantasy, game & erotic models of riddle/ joke and anagramjpun

Generell grenzen sich metafiktionale Romane gegenüber einem auf mimesis bedachten Realismus ab, um den Anspruch "realistischer" Kunst, die Wirklichkeit zu spiegeln, als unangemessen bloßzulegen.36 Metafiktionale Texte erzwingen damit im Bewusstsein des Rezipienten eine Negation der Beziehung zwischen Kunst und Realität und eine Unterscheidung zwischen mimesis und diegesis. Gegenüber traditionellen Romankonventionen, die auf Realitätsnachahmung zielen, streben sie einen imaginativen, selbstre-

34 Linda Hutcheon, Narcissistic Narrative. The Metafictional Paradox, New York/London 1984, S. 1. Vgl. zur Metafiktion allg . auch Mare Currie, Metafiction, New York 1995 35 Vgl. Hutcheon, Narcissistic Narrative, a.a.O., S. 154. Allerdings hängt die Dichotomie offen/verdeckt von dem pragmatischen Kontext eines Leserbewusstseins ab. Vgl. Helga Schwalm, Dekonstruktion im Roman: Erzähltechnische Verfahren und Selbstreflexion in den Romanen von Vladimir Nabokov und Samuel Beckett, Diss., Heidelberg 1991, S. 97 f. Schwalm geht zudem aus von einer "Kombination intra- und extratextueller Bezüge" (S. 94). Huteheans Tabellarisierung lässt sich aber ein heuristischer Wert zugestehen, auf den auch im Verlauf dieser Arbeit zurückgegriffen wird. 36 Vgl. etwa Rüdiger lmhof, Contemporary Metafiction. A Poetical Study of Metafiction in English since 1939, Heidelberg 1986

20

SYSTEMTHEORIE: DIE KUNST DER KOMMUNIKATION

ferenziellen Diskurs an, der den Zweifel daran thematisiert, dass Kunst Realität "realitätsadäquat" wiedergeben könne. Anstelle einer Imitation der Natur werden imaginäre Welten entworfen, die das Konzept der Fiktionalität erforschen und hinterfragen. Diese selbstreflexive Grenzziehung gegenüber einer realistisch-mimetischen Tradition kann auch als Variante eines "AntiRealismus" betrachtet werden: "Realism pretends to be what it is not. Realism is a form of bad faith [... ] If the realist pretends that fiction is life, the antirealist knows that life is a fiction [...]"37 Metafiktion scheint also einem realistischen Mimesiskonzept im Allgemeinen zu widersprechen. Linda Hutcheon betrachtet das Prosagenre zwar übergreifend als mimetische Gattung und spricht damit auch metafiktionaler Literatur einen mimetischen Charakter zu: Anstelle einer "mimesis of product", wie sie traditionelle realistische Romane praktizierten, seien metafiktionale Romane gekennzeichnet durch eine "mimesis of process"3s. Abgesehen von dieser vor allem definitorischen Verschiedenheit hinsichtlich des (anti-)m imetischen Charakters von Metafiktion herrscht jedoch Konsens bezüglich der meisten weiteren Annahmen, die metafiktionale Literatur betreffen. Dazu zählt auch die Auffassung, dass der Roman bereits von Anfang an selbstreferenzielle Züge aufgewiesen hat bzw. dass Selbstbezüglichkeit ein allgemeines Merkmal von Fiktionalität ist: "Metafiction is a tendency inherent in all novels [...] the language of fiction is always, if often covertly, selfconscious."39 Ebenso lässt sich metafiktionaler Literatur und ihrem systematisch-selbstreflexiven Hinweisen auf die eigene Künstlichkeil auch eine ontologische Relevanz attestieren. Michael Boyd zufolge veranschaulichen selbstreflexive Romane damit den generellen Konflikt zwischen Kunst und Leben bzw. die Schwierigkeit, die Korn37 Michael Boyd, The Reflexive Novel: Fielion as Critique, London 1983, S. 18 38 Vgl. Hutcheon, Narcissistic Narrative, a.a.O.: "[ ... )I would not argue that in metafiction the life-art connection has been either severed completely or resolutely denied. lnstead, I would say that this ,vital' link is reforged on a new Ievei - on that of the imaginative process (of storytelling), instead on that of the product {the story told)." (S. 3), "Autorepresentation is still representation." (S. 6) 39 Patricia Waugh, Metafiction. The Theory and Practice of SelfConscious Fiction, New York/London 1984, S. 9 f., S. 5. Als Romanbeispiele werden in diesem Zusammenhang üblicherweise Don Quixote und Tristram Shandy angeführt.

21

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

plexität des Lebens erzählerisch zu strukturieren. 4o Mit dem Hinterfragen der Beziehung zwischen Literatur und Leben unterstellen die Autoren metafiktionaler Texte auch d er Realität eine poten zielle Konstruiertheit: "In providing a critique of their own methods of construction such writers not only examine the fundamental structures of narrative fiction, they also explore the possible fictionality of the world outside the literary fictional text."41 Insofern verfügt d as metafiktionale Anzweifeln von Referenzialität und Repräsentation auch über eine erkenntnistheoretische und quasi-dekonstruktivistische Ader: " In showing us how literary fiction creates its imaginary w orlds, metafiction helps us to understand how the reality we live day by is similarly constructed, similarly ,written'."42 Dieses Projizieren einer autokritischen Selbstreflexivität auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge weist bereits hin auf eine besondere Affinität von Metafiktion und d er Moderne bzw. "Postmoderne" des 20. Jahrhunderts. 43 Die literarischen Techniken, mit denen metafiktionale Texte diese Zweifel thematisieren, basieren auf Methoden der Verfremdung, dem Paradigma der Sprachlichkeit, d er expliziten Fiktionalisierung von Figuren und einem generell performativen Charakter. 44 Ähnlich der grundlegenden Selbstreferen zialität d es Romangenres, die von metafik tionalen Texten nur ins Extrem gesteigert wird, sind auch diese metafiktionalen Techniken der Roman-Gattung wesentlich inhärent: "Metafiction [... ] operates through exaggerration of the tensions and oppositions inherent in all novels: of frame and frame-break, of tech40 Vgl. Boyd, The Reflexive Novel, a.a.O. , S. 15. Das klassische Beispiel dafür ist natürlich Sternes Tristram Shandy. Vgl. Teil 2.2 und 2.3 dieser Arbeit 41 Waugh, Metafiction, a.a.O., S. 2 42 Ebd., S. 18 43 Zum Begriff "Postmoderne" sowie zur Beziehung zwischen Postmoderne und Metafiktion vgl. ausführlicher die Punkte 4.1 und 4.2 dieser Arbeit sowie Schwalm, Dekonstruktion im Roman, a.a.O. , S. 100105. 44 Vgl. Boyd , The Reflexive Novel, a.a.O., S. 98, sowie die detailliertere Auflistung typischer metafiktionaler Techniken in Metafiction, a.a.O., S. 21 f.

22

SYSTEMTHEORIE: DIE KUNST DER KOMMUNIKATION

nique and counter-technique, of construction and deconstruction of illusion."45

Von zentraler Bed eutung ist d ie m etafiktionale Technik der narrative metalepsis, also die " intrusion by the extradiegetic narrator or narratee into the diegetic universe (or by diegetic characters into a metadiegetic universe [.. .]" 46 • Diese Grenzüberschreitung verschiedener er zählerischer Ebenen verletzt tradierte narrative Rahmungen und trägt in Form eines "taking hold of (telling) by changing level" 47 dazu bei, die unentrinnbare Konstruiertheit von " Realität" bewusst zu machen: "The most troubling thing about metalepsis indeed lies in this unacceptable and insistent hypothesis, that the extradiegehe is perhaps always diegetic, and that the narrator and his narratees - you and I - perhaps belong to some narrative."48 Metafiktionale Romane weisen deshalb auch der Rolle des Lesers eine besondere Bedeutung zu. Dies spiegelt sich in den rezeptionsästhetischen N eigungen der theoretischen Untersuchungen zur Metafiktion.49 Die metafiktionale Verletzung der kategorialen Unterscheidung von fiktionalem und literaturkritischem Diskurs macht d en Leseakt bewusst und kommuniziert d em Leser damit au ch, d ass er gewisserm aßen selbst Autor des rezipierten Textes

45 Waugh, Metafiction, a.a.O. , S. 13 46 Gerard Genette, Narrative Discourse, Oxford 1980, S. 234 f. Vgl. zur Technik der Metalepsis auch John Pier & Jean-Marie Schaeffer (Hg .), Metalepses. Entorses au Pacte de Representation, Paris 2005; David Herman, "Towards a Formal Description of Narrative Metalepsis", ln: Journal of Literary Semanlies 26:2 (1997), S. 132152; sowie Werner Wolf, "Metalepsis as a Transgeneric and Transmedial Phenomenon", ln: Jan Christoph Meister, Tom Kindt & Wilhelm Sehemus (Hg.), Narratology Beyond Literary Criticism, Berlin/New York 2005, S. 83-107 47 Genette, Narrative Discourse , a.a.O., S. 235 48 Ebd , S. 236 49 So etwa Boyd, The Reflexive Novel, a.a.O., und Hutcheon, Narcissistic Narrative, a.a.O. Vgl. auch Huteheans typologische Einteilung zu Beginn dieses Abschnittes, die im metafiktionalen Erzählen eine "Befreiung" des Lesers/Lesens sieht.

23

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

ist: "Das Werk ist das Konstituiertsein des Textes im Bewusstsein des Lesers."so Diese Einbeziehung des Lesers lässt metafiktionale Texte im Sinne Roland Barthes' als "writerly" - im Gegensatz zu realistischen "readerly" Texten- erscheinen. 51 Anders als konventionelle Romane zwingen metafiktionale Texte den Leser dazu, die Richtigkeit seiner gängigen Unterscheidung von Kunst und Leben zu überprüfen und jegliche Leseerfahrung in Bezug auf den Akt des Schreibens und Lesens wahrzunehmen. Der Leser wird gleichsam "entfremdet" von dem Text, der ihn konventionellerweise einbezieht, er sieht sich in quasi-didaktischer Weise "drawn into yet out of the text"52. Dieses ambivalente Verhältnis kennzeichnet das " metafiktionale Paradox": "[W]hile he reads, the reader lives in a world which he is forced to acknowledge as fictional. However, paradoxically the text also demands that he participate, that he engage hirnself intellectually, imaginatively, and affectively in its co-creation. This two-way pull is the paradox of the reader. The text's own paradox is that it is both narcissistically selfreflexive and yet focused outward, orientated toward the reader." 53 Systemtheoretisch betrachtet, lässt sich diese paradoxale Simultaneität von Konstruktion und Dekonstruktion einer fiktionalen Illusion als Vermengung von Beobachtungsebenen beschreiben: Die asymmetrische Trennung der Ebenen des Erzählens und des Erzählten, die realistische Romane kennzeichnet, wird aufgehobens4. Der Leser wird dazu animiert, neben den evozierten Beobachtungsverhältnissen des literarischen Textes auch die gleichzeitig stattfindende metafiktionale Selbstbeobachtung zweiter Ordnung zu beobachten. Die Leserbeobachtungen oszillieren damit zwischen den Beobachtungsebenen zweiter und dritter Ordnung, pa-

50 Wolfgang lser, zitiert nach lmhof, Contemporary Metafiction, a.a.O., S. 271 51 Vgl. Boyd, The Reflexive Novel, a.a.O., S. 175 f. 52 Hutcheon, Narcissistic Narrative, a.a.O., S. 36 53 Ebd., S. 7 54 Insofern ist der Terminus "metafiktionales Paradox" selbst paradox, da das metafiktionale Paradox gleichsam eine Entparadoxierung der paradoxalen Umattributionierung von Handeln auf Erleben bedeutet, die klassisch realistische Romanen kennzeichnet (vgl. dazu auch Punkt 3.2 dieser Arbeit).

24

SYSTEMTHEORIE: DIE KUNST DER KOMMUNIKATION

rallel zur metafiktionalen Ebenenvermengung von literarischem und literaturkritischem Diskurs.ss Dieseparadoxale Beobachtungskonstellation "befreit" den Leser von den Konventionen traditionell-realistischer Romane. Versuchen Autoren realistischer Romane, ihre Fiktion als "Realität" zu vermitteln, verkünden Autoren metafiktionaler Literatur ihr Wissen um den arbiträren Kunstcharakter auf der Beobachtungsebene zweiter Ordnung: "[T]hey know that they cannot know."S6 Anhand des metafiktionalen Paradoxes zeigt sich, dass gerade die Thematisierung des literarischen Lese- und Schreibprozesses zur Autonomie des Romans und damit auch des Kunstsystems beiträgt. Selbstreflexive Texte sind verstärkt dazu genötigt, eigene, von der gesellschaftlichen Umwelt unabhängige Regeln zu entwerfen. Mit dieser "Autoproduktion des literarischen Codes" 57 liefern sie deshalb wesentliche Beiträge zur Stabilisierung und Destabilisierung der Autopoiesis des Kunstsystems. Die für die Selbstreproduktion des Kunstsystems unerlässliche Gebundenheit metafiktionaler Texte an literarische Traditionen wird dabei gesichert durch parodistisch-verfremdende Bezüge auf Prätexte: "Metafictional texts use the devices of traditional fiction as its building blocks, showing how life is a series of reference points, frames and contexts [... ] It all depends on a system of difference."ss Das durch Abgrenzung und Wiederverwertung gekennzeichnete Verhältnis von Metafiktion zu traditionellen literarischen Formen kennzeichnet Letztere gleichsam als Bestandteil der metafiktional-selbstreferenziellen Semantik. Die eigene Historizität wird damit erkennbar und auf der Strukturebene des Stils verortbars9. Mittels dieser Ebenenvermischung und den parodistischen Verfremdungen traditioneller Vortexte scheint Metafiktion besonders geeignet zu sein, der alltäglichen Realität eine alternative Va55 Metafiktionale Texte neigen demnach auch zu vexierbildhaften Figuren: "The reflexive mode tends toward infinite regress, a series of Chinese boxes or diminishing mirror-images." (Boyd, The Reflexive Novel, a.a.O., S. 146) 56 Ebd., S. 18 57 Schwalm, Dekonstruktion im Roman, a.a.O., S. 94 58 Keith Hopper, Flann O'Brien: A Portrait of the Artist as a Young Postmodernist, Cork 1995, S. 144 (im Folgenden: O'Brien: A Portrait) 59 Vgl. Hutcheon, Narcissistic Narrative, a.a.O., S. 48-53; Waugh, Metafiction, a.a.O., S. 68-78; Schwalm, Dekonstruktion im Roman, a.a.O., S. 94

25

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

riante ihrer selbst entgegenzustellen und damit die subsystemspezifische Funktion von Kunst zu erfüllen. So spricht etwa Boyd von der Aufgabe des reflexiven Romans als "representing the multiplicity of reality"6o. Für eine systemtheoretische Literaturanalyse ist jedoch vor allem interessant, dass metafiktionale Texte mit ihrer Offenlegung klassischer Fiktionalisierungsformen die "klassische" Kunstkommunikation auf die Probe stellen: Die Tatsache, dass der Leser metafiktionaler Texte sich "drawn into yet out of the text" sieht, scheint das Zustandekommen erfolgreicher Kunstkommunikation zunächst eher unwahrscheinlich zu machen. Schließlich stehen Texte, die ihr willkürliches Hergestelltsein nicht als Erleben zu tarnen versuchen, sondern ihre Artifizialität explizit thematisieren, also ihren Mitteilungsaspekt in den Vordergrund stellen, einem erlebenden Nachvollzug von Seiten des Rezipienten entgegen. Auch diese Problematik soll im Folgenden am Beispiel der metafiktionalen Romane Laurence Sternes und Flann O'Briens überprüft werden. Von besonderer Bedeutung bei dieser Betrachtung von Literatur als Kommunikation ist dabei das jeweilige historische Verständnis von Kommunikation bzw. der Stand der Ausdifferenzierung des Kunstsystems, den metafiktional-selbstbeobachtende Texte besonders deutlich reflektieren. Zur systemtheoretischen Analyse von Laurence Sternes Roman Tristram Shandy soll daher zunächst die Ausdifferenzierung des Kunstsystems näher beleuchtet werden, die sich im 18. Jahrhundert vollzog.

60 Boyd, The Reflexive Novel, a.a.O., S. 9

26

2. Laurence Sterne: Tristram Shandy

2.1

Sattelzeit: Ausdifferenzierung des Kunstsystems

Um Laurence Sternes Iristram Shandy als metafiktionale Kunstkommunikation interpretieren und voll würdigen zu können, muss man sich zunächst den soziahistorischen Kontext vor Augen führen, in dem der Roman geschrieben wurde. Iristram Shandy entstand während der so genannten "Sattelzeit", die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Übergang des Gesellschaftssystems zu funktionaler Differenzierung und damit auch den Beginn der Ausdifferenzierung des Kunstsystems markierte.1 Im Gegensatz zu dieser entstehenden modernen Gesellschaft war in der traditionellen Gesellschaftsform "die Beziehung des Einzelnen zur Gesellschaft[ ... ] durch soziale Inklusion bestimmt" 2 • Die ständisch geordnete Gesellschaft wurde als statisch gedacht, und die dazugehörige Vorstellung einer hierarchischen Weltarchitektur ermöglichte es noch im 17. Jahrhundert, die Einheit einer politischen Ordnung im Zeremoniell darzustellen. Die Differenz zwischen Bezeichnetem und Objekt war noch nicht etabliert, alle Zeichen bezeichneten die Ordnung der Zeichen. Die für den Bereich der Kunst relevanten Programme erschienen deshalb in Form von Rezepten oder Regeln, die sich auch in der Narrativik offenbarten: Vgl. dazu allg. Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, 4 Bde., Frankfurt a.M. 1980, 1981, 1989, 1995, sowie ders., Die Kunst der Gesellschaft, a.a.O. 2 Dietrich Schwanitz, Englische Kulturgeschichte von 1500 bis 1914, Frankfurt a.M. 1996, S. 236

27

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

"Sie [die Geschichten] stellen die Wiederholung typischer Abläufe dar, die aus einem Fundus moralischer und empirischer Regeln gewonnen werden: Sie sind Illustrationen, Exempla und Casus [... ] Entsprechend ist die Geschichte auch Lehrmeisterin des Lebens, und die Erfahrung stützt die Erwartung."3 Erst die in der europäischen Frühmoderne erfolgenden Umbrüche in Richtung funktionale Differenzierung ermöglichten es der Kunst, ein eigenes, selbstbestimmtes Terrain zu sondieren. Ausgehend von der Bewunderung künstlerischer Vollendung konnte das Kunstsystem "[...]mehr Gelegenheiten zur Variation nutzen und die eigenen Selektionskriterien ausweiten [...] So kann die Kunst Anschauung, Fantasie, Imagination, Übertreibung, Täuschung, Dunkelheit, Ambivalenz pflegen- und mitalldem immer auf sich selbst verweisen." 4 Damit grenzte sich das Kunstsystem zugleich ab gegenüber der rationalistischen Wissenschaft und der Bindung an religiöse Vorschriften. Die Verabschiedung moralischer Verpflichtungen und regelpoetischer Formalien bedeutete eine allgemeine Abwertung des Schematischen. Behinderungen beim Erwecken von Interesse und Anteilnahme des Rezipienten wurden abgebaut, und das Gewicht wurde von der Standardisierung allegorischer Formen auf die Kreativität des Künstlers verlagert. Vor allem der Wissenschaft stellte die Kunst mit einer Verschärfung der Differenz von Realem und Möglichem eine Welt des Scheins und der Täuschung entgegen: "Die entscheidende Differenz, die die Kunst in die Autonomie verstößt, scheint[ ... ] die zum Rationalismus der neuen Wissenschaft gewesen zu sein. Die Religion gibt diese Differenzierung von Kunst und Wissenschaft frei, und nimmt eben damit die Differenzierung beider Bereiche gegen Religion in Kauf."5 Das Kunstsystem gewann damit die Möglichkeit einer fiktionalen Konstruktion von Welt unter Streichung religiöser, moralischer und didaktischer Bestimmungen. Dieser Wegfall von Repräsenta3 Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.a.O., S. 237 4 Ebd., S. 383 5 Ebd., S. 432

28

LAURENCE STERNE: TR!STRAM SHANDY

tions- und Imitationsannahmen, der das Kunstsystem in die Ausdifferenzierung drängte, verlagerte zugleich die Orientierung von der Sach- in die Zeitdimension, die als Beobachtungsschema benutzt werden konnte. Seit dem 17. Jahrhundert konnte nur noch Neues Gefallen erregen, nur über Neues konnte kommuniziert werden. Dies galt verstärkt im 18. Jahrhundert, als Kunstwerke für einen Kunstmarkt produziert werden konnten und die Imitation anderer Kunstwerke zu Gunsten der Möglichkeit zur Naturimitation abgelehnt wurde. Das Neuigkeitsgebot ist damit gleichsam "die Programm gewordene Autopoiesis der Kunst, die Verpflichtung zur Fortsetzung"6. Im Übergang zum 18. Jahrhundert wurde diese Variationsmaxime mit Konzepten wie "Originalität" und "Authentizität" umschrieben. Diese Begriffe dokumentieren das unerwartete und unerklärliche Entstehen des künstlerisch Neuen als ein Konstrukt der Beobachtung zweiter Ordnung und bilden zugleich eine spontane, unwillkürliche Reaktion auf den Authentizitätsverlust, den die Umstellung auf den Modus der Beobachtung zweiter Ordnung mit sich brachte. Kunstwerke mussten nun "interessant" sein, d.h. die Beobachtung zweiter Ordnung für den Leser inszenieren. Der Betrachter sollte das eigene Beobachten beobachten. Die Umstellung von der Darstellung des Exemplarischen auf Leser-Selbsterfahrung erfolgte als Verlagerung der Zeichenreferenz in den Bereich latenter Motive, die mittels Beobachtung zweiter Ordnung wieder sichtbar gemacht werden konnten. Der Leser konnte dann beobachten, was die Figuren nicht beobachten können: "Schicksal wird zum Problem der Perspektive, und Perspektive wird dargestellt als etwas, das nur für die Romanfigur zwingend, für den Beobachter ihrer Beobachtungen dagegen kontingent ist. Der Roman entdeckt das Problem der Latenz, des ,Unbewussten', der ,Lebenslüge', der Inkommunikabilität." 7

Dem Leser wurde also der Rückschluss auf die Unbeobachtbarkeit der eigenen Beobachtungen ermöglicht. Diese Verpflichtung von Kunst auf Informationsproduktion in Form von Neuheiten zwang das entstehende Kunstsystem auch zu einer Neubestimmung sei6 Luhmann, "Weltkunst", a.a.O., S. 31 7 Ebd., S. 33

29

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

ner Selektionskriterien. Diese wurden über die Begriffe "Geschmack" und "Genuss" bestimmt, die besagten, dass die Kunst im Herstellen und Betrachten von Kunstwerken auf sich selbst zurückgreifen muss. Der Positivwert des Genusses lag gemäß der Beobachtung zweiter Ordnung "in einer kunstvoll geschaffenen Verdichtung von Beobachtungsverhältnissen"B, womit der Anspruch auf Neuheit als eine Art Selbstwert temporalisiert wurde. Der Prüfstein des Genusses verknüpfte damit nicht nur kunstsystemintern die Beobachtung erster und zweiter Ordnung, sondern ermöglichte zugleich die evolutionäre Trennung von Variation und Selektion, "indem er deren strikte Kopplung durch Vorstellungen wie naturale Perfektion oder erfolgversprechende Regeln bricht, ohne die Selektion der Willkür zu überlassen"9. Als "kriterienloses Pseudo-Kriterium" 1 0 standen Genuss und Geschmack auch stellvertretend für die Ablösung der Kunst von Moral und Auftraggebern. Wichtiger erschien es jetzt, mittels Geschmack die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen zu beweisen. Deshalb erfolgte die "Ausdifferenzierung eines Sozialsystems für Kunst [... ] als Ausdifferenzierung der Differenz von Profis und Publikum"n. Auf der Stilebene stand die Betonung der Unerklärlichkeit von Originalität einem traditionellen, auf Perfektion und Imitation zielenden Stilbegriff entgegen. Wenngleich dieser als "Regelablehnungskompensationsbegriff"12 zunächst erhalten blieb, erfolgte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Übergang zu einer bewusst historisierten Stilpolitik Ausschlaggebend wurde die Temporalstruktur des Stils auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung: "Wer jetzt Kunst adäquat erleben oder herstellen, also unter Stilgesichtspunkten beobachten will, muss polykontextural sehen lernen, also wissen, wovon abhängt, was er jeweils sieht." 13 Von weiterer Bedeutung war die Tatsache, dass mit dem Umstellen auf die Unergründlichkeit des Geschmackskriteriums die Reflexion der Systemeinheit erstmals zum Problem w urde. Dies

8 Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.a.O. , S. 117

9 Ebd., S. 387 10 Ebd., S. 388 11 Luhmann, "Das Kunstwerk ... ", a.a.O., S. 639 12 Ebd., S. 635 13 Ebd., S. 645

30

LAURENCE STERNE: TR!STRAM SHANDY

stand im Zusammenhang mit einem allgemeinen Ausbau des "Innen" im Gegensatz zum "Außen", in dessen Folge Emotionen, Imagination, psychologische Assoziationen etc. aufgewertet wurden. Die Kunst erhielt deshalb die Aufgabe, das Gefühlskonzept der Empfindsamkeit zu reflektieren, also die paradoxale Funktion, öffentlich über Intimität zu kommunizieren. Mit der Molivierung des Rezipienten zum Rückschluss auf die eigene Erfahrungswelt wurde das Individuum als Subjekt und Konstrukteur seiner eigenen Geschichte thematisiert. Der credibility code der Sentimentalität, die Beglaubigung durch Emotionalität und Unwillkürlichkeit, führte dann mit der Entstehung des Unbewussten zur Umbuchung von Handeln auf Erleben in der Körpersprache - und zu den Paradoxien, die Sterne im Tristram Shandy inszeniert (vgl. 2.2 und 2.3). Spätestens seit der Sattelzeit behauptete sich Kunst also als eigenständige Kommunikationsform, die auf Realitätsneuschaffung statt auf Rhetorik setzt. Fremdreferenzen durften nicht mehr auf die Formen durchschlagen, die die Kunst nun frei wählen können musste, um als System operative Geschlossenheit zu erhalten. Vielmehr wurden systemeigene Programme erforderlich, deren variable Differenz zur stabil bleibenden Codierung vom Neuheitsgebot geregelt wurde. Die Ästhetik etablierte sich als reflexionstheoretische Selbstbeschreibung des Systems auf der Ebene der Beobachtung dritter Ordnung - und beobachtete sich dabei selbst als Resultat des alt/neu-Schemas: " [S]ie [die ästhetische Theorie] muss ein ,autologisches' Moment aufnehmen, sie erkennt sich als Moment ihres Gegenstandes, sie muss sich als selbstreferenzielle Theorie formulieren."14 Diese selbstinklusionistischen Zusammenhänge weisen bereits hin auf den Vorrat an Paradoxiemöglichkeiten, mit denen ein metafiktionaler Roman wie Tristram Shandy Kommunkationsprobleme auch im Bereich der Literatur thematisieren konnte. Eine systemtheoretische Untersuchung des Tristram Shandy hat deshalb ebenfalls im Kontext jener Problematisierungen stattzufinden, die mit der Umstellung auf die Beobachtung zweiter Ordnung eintra14 Luhmann, "Weltkunst", a.a.O., S. 32. Das 18. Jahrhundert wurde damit zum "Jahrhundert der beginnenden Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft": Niklas Luhmann, "Ich sehe was, was Du nicht siehst", ln: Soziologische Aufklärung, Bd. 5, Opladen 1995, S. 228-234; Zitat S. 230

31

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

ten. Da das Komplexerwerden des Kommunikationsbegriffs dabei von besonderer Bedeutung ist, sind auch hinsichtlich der Romananalyse vor allem die kommunikationsbedingten Ursachen zu betrachten, die den inszenierten Erzählproblematiken - etwa den Interferenzen von Erzählen und Erzähltem - zugrunde liegen. Im Folgenden werden daher die metafiktionalen Paradoxien im Tristram Shandy unter zwei Gesichtspunkten beleuchtet. Zunächst wird die Selbstthematisierung des Erzählers im Zusammenhang mit der kommunikativ-dialogischen Haltung untersucht, die er gegenüber dem Leser einnimmt. Anschließend wird die daraus resultierende, ins Paradoxe gesteigerte Selbstbeobachtung des Erzählers analysiert - und die Interferenzen von Erzählen und Erzähltem, die sich daraus ergeben.

2.2

Tristram Shandy I: Kommunikationsprobleme im Dialog mit dem Leser

WRITING,

when properly managed, (as you may be sure I think mine is) is but a different name for conversation (Tristram Shandy)

Das Verständnis von Kommunikation, das sich im 18. Jahrhundert zu etablieren begann, orientierte sich an der neuen Dimension des Verslehens und erzeugte zugleich Zweifel an der Sprache als Mittel der Verständigung. Eine wichtige Voraussetzung für das Zustandekommen der im Tristram Shandy vorgeführten Paradoxien bzw. metafiktionalen Interferenzen zwischen Erzählen und Erzähltem ist deshalb die Darstellung des Erzählakts in Form einer Kommunkation mit fiktiven Lesern, die die Schwierigkeiten von Kommunikation und Verständigung sichtbar macht.1s Der Abbau künstlerischer Verpflichtung auf Moral und Regelformalien im 18. Jahrhundert zu Gunsten der Molivierung von Leserbeobachtungen erschloss einen künstlerischen Freiraum für semantische Experimente, den Sterne im Tristram Shandy nutzt. So kann sich der Erzähler Tristram bei seiner Thematisierung des Er15 Vgl. dazu auch Wiebke Falckenthal, Kommunikation in Laurence Sternes Tristram Shandy. Zur systemtheoretischen Rekonstruktion eines Problems, Magisterarbeit, Universität Harnburg 1990

32

LAURENCE STERNE: TR!STRAM SHANDY

zählvorgangs einer Darstellungsweise bedienen, die auf Normen und Konventionen verzichtet16: "I shall confine myself neither to his [Horace's] rules not to any man's rules that ever lived." (TS: I, 4, 38)17 Tristram kann sich so die Freiheit herausnehmen, sein Erzählen allein seinen subjektiven Impulsen folgen zu lassen: "I have a strong propensity in me to begin this chapter very nonsensically, and I will not baulk my fancy." (TS: I, 23, 96) "I begin with writing the first sentence - and trusting to Almighty God for the second." (TS: VII, 2, 516) Die Möglichkeit, auf die Erfüllung von Vorgaben zu verzichten, bildet auch die Voraussetzung für die kommunikative Integration des Lesers in den Erzählakt Sterne erzeugt damit eine pseudointeraktive Situation zwischen fiktivem Leser und Erzähler, in der das Präsens als Erzähltempus den erzählenden Konversateur Tristram gegenüber dem realen Leser öffnet, der dadurch zum Zuhörer wird. 1S Der fiktive Leser erfüllt also die kommunikative Funktion, dem Erzähler Einflussmöglichkeiten auf die Reaktionen des realen Lesers zu gewährleisten und dessen Aufmerksamkeit zu steuern.19 Das spielt sich großenteils im Bereich sexueller Andeutungen ab: "My uncle Toby's opinion, Madam, ,that there could be no harm in Cornelius Gallus, the Roman praetor's lying with his wife;' - or rather 16 Zu den notwendigerweise dennoch erfolgenden Anschlüssen an vorherige Kunstkommunikationen vgl. Wayne C. Booth , "The SelfConscious Narrator in Comic Fiction Before Tristram Shandy", ln: PMLA, Vol. 6 (1952), S. 163-185 17 Zitiert nach Laurence Sterne, The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, Penguin-Ciassics-Ausgabe, Harmondsworth 1985 (Erstauflage 1967). Die Angaben in Klammern beziehen sich auf Buch, Kapitel und Seite. 18 Vgl. Jean-Jaques Mayoux, "Laurence Sterne", ln: John Traugott (Hg.), Laurence Sterne. A Collection of Critical Essays (im Folgenden: Sterne: Collection), Englewood Cliffs 1968, S. 108-112, sowie Michael Gassenmeier, "Der Typus des ,man of feeling': Studien zum sentimentalen Roman des 18. Jahrhunderts in England", ln: GerdRohmann (Hg.), Laurence Sterne, Darmstadt 1980, S. 218248 19 Vgl. Dieter A. Berger, "Das gezielte Missverständnis", ln: Poetica 5, 1972, S. 329-347, v.a. S. 340 ff. , sowie J. Paul Hunter, "Response and Reformation: Tristram Shandy and the Art of Interruption", ln: Rohmann (Hg.), Laurence Sterne, a.a.O., S. 178-197

33

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

the last word of that opinion, - (for it was all my mother heard of it) caught hold of her by the weak part of the whole sex: - You shall not mistake me,- I mean her curiosity [.. .]" (TS: V, 12, 362) In parodistischer Manier evoziert Tristram Doppeldeutigkeiten, die er durch betontes Von-Sich-Weisen gerade verfestigt- so etwa hinsichtlich der "perplexities", denen Uncle Toby aufgrundseiner "wound in his groin" ausgesetzt ist: "What these perplexities of my uncle Toby were, - 'tis impossible for you to guess; - if you could, -I should blush; not as a relation, -not as a man, - nor even as a woman, - but I should blush as an author; inasmuch as I set no small store by myself upon this very account, that my reader has never yet been able to guess at any thing." (TS: I, 25, 101)20 Sterne löst also das Problem der Darstellung von Anzüglichem und Anrüchigem, indem er die Konkretisierung der Andeutungen dem Leser überlässt. Häufig geschieht das auch mittels Leerstellen in Form von Asterisken, die den beabsichtigten Effekt auf die Leserimagination klar herausstellen21 : "The chamber-maid had left no ******* *** under the bed: - Cannot you contrive, master, quoth Susannah, [...] for a single time, to **** *** ** *** ******?" (TS: V, 17, 369) "For my own part, if ever I swore a whole oath into a vacancy in my life, I think it was into that- *** **** **, said I [.. .]" (TS: VII, 37, 504) Mit solchen manipulativen Anspielungen und Auslassungen legt Sterne zugleich die interne Logik der Empfindsamkeit bloß: Durch das Aufzeigen der verdrängten Sexualität verweist er auf die Funktion des Unbewussten, die Beziehung zwischen Körper und Geist zu verschleiern, um damit kommunikative Umattributionen zu gewährleisten. Sterne drückt seine Zweifel gegenüber dem 20 Vgl. auch die zahlreichen Beispiele, die Arno Schmidt aufführt in seiner Übersetzungs-Rezension "Aias, Poor Yorick", ln: ders., Zur Angelsächsischen Literatur, Bd. 1, Zürich 1994, S. 15-22. "Sterne's [sie!] Weit ist im tiefsten Grunde ein pornographisches Lachkabinett!" (S. 18) 21 Vgl. dazu auch Michael Schulze, ",Do you know the meaning of ****?' Die markierte Aussparung als Kompositionsprinzip des Tristram Shandy", ln: Rohmann (Hg.), Laurence Sterne, a.a.O., S. 394-436

34

LAURENCE STERNE: TR!STRAM SHANDY

Kommunikationsmedium Sprache aus22, indem er Tristram die interne Grenze der Kommunikation, die Differenz zw ischen Information und Mitteilung, verdeutlichen lässt. Infolgedessen legt Tristram die Betonung bewusst auf indirekte Kommunikation "REASON is, half of it, SENSE" (TS: VII, 13, 472) - und demonstriert die kommunikationsbezogenen Zw eifel damit gleichsam im Kontrast zur neu entstandenen Körpersprache, die die Ausdifferenzierung von Kommunikations- und Bewusstseinssystem markiert23: Die Körpersprache kompensierte gewissermaßen die nun bewusst w erdende Tatsache, dass das Bewusstsein ein selbstreferenziellgeschlossenes System bildet. 24 Im Tristram Shandy findet diese Konjunktur des Körpersprachlichen extradiegetischer Ebene eine Fortsetzung im Umschalten vom Signifikat auf den Signifikanten.25 Und auch auf diegetischer Ebene stellt Körpersprache die einzige Form gelingender Kommunikation dar. Die Missverständnisse der Charaktere resultieren zumeist d araus, dass die Figuren aufgrund ihrer Eingeschlossenheit im jeweiligen Hobby Horse nicht zwischen Selbst- und Frem dreferenz unterscheiden können: Verschiedene Umweltauffassungen prallen dann aufeinander unter der Voraussetzung, dass die

22 "Sterne's point is precisely that words do control our minds": Sigurd Burckhardt, "Tristram Shandy's Law of Gravity", ln: Rohmann (Hg.), Laurence Sterne, a.a.O., S. 137-154; ZitatS. 153 23 Vgl. Dietrich Schwanitz, "Rhetorik, Roman und die internen Grenzen der Kommunikation: Zur systemtheoretischen Beschreibung einer Problemkonstellation der ,sensibility"', ln: J. Dyck u.a. (Hg.), Jahrbuch für Rhetorik 9, Tübingen 1990, S. 52-67, sowie ders., ,.Kommunikation und Bewusstsein. Zur systemtheoretischen Rekonstruktion einer literarischen Bestätigung der Systemtheorie", ln: Henk de Berg & Mathias Prangel (Hg.), Kommunikation und Differenz. Systemtheoretische Ansätze in der Literatur- und Kunstwissenschaft, Opladen 1993, S. 101-113 24 Vgl. Luhmann , "Die Autopoiesis des Bewusstseins", a.a.O. Psychische und soziale Systeme befinden sich in einem Verhältnis der lnterpenetration: Die Kommunikation muss sich nach den Bewusstseinsinhalten psychischer Systeme richten, während das Bewusstsein die Erfahrung macht, dass es sich nicht voll in die Kommunikation einbringen und somit missverstanden werden kann . 25 Etwa bei der "black page" (TS: I, 12, 61 f.), die den Tod Yoricks symbolisiert, oder bei typografischen Spielen wie der Abbildung des "flourish", den Trims Stock beschreibt (TS: IX, 4, 576) sowie den zahlreichen asterisks und dashes.

35

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

Figuren sich selbst als Attributionsreferenzen ausschließen. 26 Die einzige Möglichkeit, Kommunikationsunfälle zu umgehen, besteht dann im körpersprachlichen Paradox der Gleichzeitigkeit von Kommunikationsabbruch und -steigerung.27 Die Reaktionen des Lesers können auch gesteuert werden, ind em die Betonung des Mitteilungsasp ektes durch den kommunizierenden Erzähler die Information unter Verdacht bringt, etwa in der eindeutig-zw eideutigen Definition des Wortes " N ase" : "I define a nose as follows - entreating only beforehand, and beseeching my readers, both male and female, of what age, complexion, and condition soever, for the Iove of God and their own souls, to guard against the temptations and suggestions of the devil, and suffer him by no art or wile to put any other ideas into their minds, than what I put into my definition. - For by the word N ase, throughout all this long chapter of noses, andin every other part of my work, where the word N ase occurs, - I declare, by that word I mean a Nose, and nothing more, or less." (TS: III, 31, 225)28 Die Tatsache, dass gerade das Insistieren auf Eindeutigkeit Zweideutigkeit produziert, parodiert außerdem die Vorstellung John Lockes, die Eindeutigkeit einer Aussage könne durch Festsetzung des Informationsaspekts gesichert werden: "[T]o define- is to distrust." (TS: III, 31, 225) Sterne attestiert Locke ein Defizit bezü glich eines kontextuellen Verständnisses von Kom m unikation, indem er dessen Hypothese einem "test of d escription in dramatic situati-

26 Vgl. zu den Ursachen der Unfälle auf diegetischer Ebene auch Dietrich Schwanitz, "Zeit und Geschichte im Roman - Interaktion und Gesellschaft im Drama: Zur wechselseitigen Erhellung von Systemtheorie und Literatur", ln: Dirk Baecker u.a. (Hg.), Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1987, S. 181-213. Die kommunikativen Unfälle unter den Figuren äußern sich hauptsächlich im Missverstehen von Wortbedeutungen, z.B. "curtins/curtains" (TS: II, 12, 129), "train of ideas/train of artillery" (TS: 111, 18, 201 ), "lashes" (TS: IV, 3, 276); oft auch mit sexuellem Hintergrund, etwa "ass" (TS: VIII, 31, 557), oder aufgrunddes Missverstehens rhetorischen oder metaphorischen Sprachgebrauchs (etwa TS: VIII , 33, 560). 27 So zum Beispiel Tobys Pfeiferauchen (TS: 111, 24, 219) und Lillabullero-Pfeifen (z.B. TS: II I, 10, 182) oder Trims Tränen der Dankbarkeit (TS: IV, 4, 277) bzw. seine Verbeugung , die potenzielle Zweifel ausräumen soll (TS: IV, 18, 293) 28 Ähnlich bezüglich "Whiskers" (TS: V, 1, S. 339 ff.)

36

LAURENCE STERNE: TR!STRAM SHANDY

ons" 29 unterw irft und damit die Differenz von Wahrheit und Wahrhaftigkeit veranschaulicht, die mit dem neuen Kommunikationsverständnis entstand. Zugleich verweist er auf die Bedeutung körpersprachlich er Kommunikation als kompensatorische Möglichkeit, Authentizitä t zu produzieren: "As a rhetorician, Sterne had to subvert the reason so that he could persuade the reader of the moral substance of that ultimate sympathy which reconciles the eccentric egos of the Shandy world."Jo Um die Bedeutung von sympathy und benevolence zu verdeutlichen, stellt Sterne die Locke'sche Rationalität also zunächst als "weakness and imbecility of human reason" (TS: VIII, 5, 519) dar und reduziert sie zur kommunikativen Konfusion. So zum Beispiel bei einem weiteren " Nasen"-Missverständnis, das sich auf d iegetischer Eben e zw ischenWalter und Toby absp ielt: "Had the same great reasoner [Locke] looked on, as my father illustrated his systems of noses, and observed my uncle Toby's deportment, - what great attention he gave to every word,- [... ] he would have concluded my uncle Toby had got hold of the medius terrninus; and was syllogizing and measuring with it the truth of every hypothesis of long noses, in order as my father laid them before him. [...] My uncle Toby, as you will read in the next chapter did neither the one nor the other." [Ende des Kapitels und Beginn des nächsten:] "[ ...] 'Tis a pity, said my father, that truth can only be on one side, brother Toby,- considering what ingenuity these learned men have all shewn in their solutions of noses. - Can noses be dissolved? replied my uncle Toby." (TS: III, 40 f., 242 f.) Auf d er Eben e d es interaktiven Erzähler-Leser-Verhä ltnisses bewirken die prov ozierten Missverständnisse einerseits eine Distanzierung des realen Lesers gegenüber dem unreliable erscheinenden Erzähler.Jl Andererseits erhält der fiktive Leser damit auch Frei29 John Traugott, "The Shandean Comic Vision of Locke", ln: ders. (Hg.), Sterne: Collection, a.a.O., S. 126-147; ZitatS. 127 30 Ebd , S. 140 31 Der unreliable narrator ist allgemein gekennzeichnet durch "limited knowledge, his personal involvement and his problematic valuescheme": Shlomith Rimmon-Keenan , Narrative Fiction: Conternporary Poetics, London/New York 1983, S. 100

37

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

räume, die er zu Einwänden gegenüber dem Erzähler nutzen kann, um beispielsweise seine Skepsis gegenüber der Glaubwürdigkeit des Erzählten zu artikulieren: "Pray, what was your father saying?- Nothing." [Ende des Kapitels und Beginn des nächsten:] "- Then, positively, there is nothing in the question, that I can see, either good or bad." (TS: I, 1 f., 36) Gegenüber derart kritisch mitdenkenden Lesern beschleicht Tristram dann das Gefühl, "dass er aufgerieben w erd en könnte zwischen den verschiedenen Interessen seiner Leser"32. Er sieht sich getäuscht in den Lesern, die seine Geschichte nur nach ihren eigenen Interessen verstehen.33 Für die Nicht-Würdigung seiner eigenwilligen Erzählweise maßregelt Tristram deshalb die fiktiven Leser: "How could you, Madam, be so inattentive in reading the last chapter? [...] [A]s a punishment for it, I do insist upon it, that you immediately turn back, that is, as soon as you get to the next full stop, and read the whole chapter over again." (TS: I, 20, 82) Die Skepsis der fiktiven Leser wird durch Tristrams idiosynkratisches Mitteilungsverhalten, d as sich ins Zentrum der Leseraufmerksamkeit drängt, und den rein subjektiven Gehalt d er autobiografischen Geschichte aber nur verstärkt: Der Leser kann den Erzähler für das Erzählte verantwortlich machen. Kommunikationstheoretisch beruht das darauf, dass Erzähler und Leser einander in einem interaktionsähnlichen Verhältnis doppelter Kontingenz gegenüberstehen: Beide können das Verhalten ihres Gegenübers nicht prognostizieren und beobachten sich gegenseitig anhand der Unterscheidung Information/Mitteilung. Scheinbar versucht Tristram deshalb Verständigungsprobleme zu vermeiden, indem er die Wahrnehmungen und Reaktionen des Lesers in den fiktiven Dialogen vorwegnimmt. Er kennzeichnet dabei auch den den Erzähl- bzw. Schreibakt als kommunikativen Prozess: 32 Gassenmeier, "Der Typus des ,man of feeling'", a.a.O., S. 239 33 "[E]very equivocal word threatens a gallop on the reader's patient hobby-horse": Mary S. Wagoner, "Satire of the Reader in Tristram Shandy", ln: Rohmann (Hg.), Laurence Sterne, a.a.O., S. 155-163; ZitatS. 160

38

LAURENCE STERNE: TR!STRAM SHANDY

"WRITING, when properly managed, (as you may be sure I think mine is) is but a different name for conversation: [...] The truest respect which you can pay to the reader' s understanding is to halve this matter amicably, and leave him something to imagine [.. .]" (TS: II, 11, 127) Zudem versucht Tristram Verständigungsschwierigkeiten dadurch zu beseitigen, dass er Appelle an den Leser richtet, in denen er um Nachsicht bittet bezüglich der von ihm offerierten Informationsselektionen: "Therefore, my dear friend and companion, if you should think me somewhat sparing of my narrative on my first setting out, - bear with me, - and Iet me go on, and tell my story my own way: - or, if I should seem now and then to trifle upon the road, - or should sometimes put on a fool' s cap with a bell to it, for a moment or two as we pass along, don't fly off,- but rather courteously give me credit [...] in short do any thing,- only keep your temper." (TS: I, 6, 41) Der Leser wird also von Tristram zunächst vertraulich in ein d ialogisches Verhältnis einbezogen- aber nur, um die damit aufgebauten Erwartungen anschließend wieder zu enttäuschen. Dies geschieht dann zum Beispiel in Form von mäeutischen Scheindialogen (vgl. TS: I, 18, 76) oder dem Abbruch der Kommunikation (vgl. TS: VII, 6, 465 f.). W enngleich Tristram also vorgibt, ein unbelangbares Opfer seiner spontan-authentischen Impulse zu sein "[ ...] Sir, I can no more help it than my destiny: - A suddenimpulse comes across me - drop the curtain, Shandy - I drop it - Strike a line here across the paper, Tristram - I strike it - and hey for a new chapter! [...] isaman to follow rules- or rules to follow him?" (TS: IV, 10, 282) "I declare, I do not recollect any one opinion or passage of my life, where my understanding was more at a loss to make ends meet [...] than in the present case: one would think I took a pleasure in running into difficulties of this kind [.. .]" (TS: VIII, 6, 520) "[W]hy do I mention it?- Ask my pen, - it governs me, - I govern not it." (TS: VI, 6, 403) - ist die vermeintliche Planlosigkeit nur Teil von Sternes Plan, d en Leser dazu zu bringen, " to acknowle d ge hirnself as fool"34 . So führen auch die Erklärungen, die Tristram dem beobachtenden Leser34 Traugott, "The Shandean Comic Vision of Locke", a.a.O., S. 141

39

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

Zuhörer zur Plausibilisierung seiner Geschichte liefern will, eher zu einer Verstärkung der Verworrenheit, die sie eigentlich beseitigen sollen. Tristram lässt seine subjektiven Digressionen - "they are the life, the soul of reading" (TS: I, 22, 95) - dem Prinzip der Kausalität folgen: "My way is ever to pointout to the curious, different tracts of investigation, to come at the first springs of the events I teil[ .. .)" (TS: I, 21, 89) "I am able to go on tracing every thing in it [the history of myself], as Horace says, ab Ovo." (TS: I, 4, 38) Dadurch vermengt er auf der Ebene des Erzählens mehrere Zeitebenen des Erzählten miteinander35 und erzeugt die bekannte "shandyeske" Erzähltechnik der dynamischen Kombination von Progression und Digression: "[F]rom the beginning of this, you see, I have constructed the main work and the adventitous parts of it with such intersections, and have so complicated and involved the digressive and progressive movements, one wheel within another, that the whole machine, in general, has been kept a-going [...]" (TS: I, 22, 95) Eine solche Form des Erzählens erzeugt in ihrer Informationsanhäufung eine nicht mehr zu bewältigende Komplexität des zu Erzählenden. Im Fall Tristrams wird das verstärkt durch die Gleichsetzung von Leben und Schreiben, womit Tristram Shandy ein "Paradigma für die Gebundenheit des Ich-Erzählers an seine Leiblichkeit"36 darstellt: "[A]s long as I live or write (which in my case means the same thing) [...)" (TS: III, 4, 175) "[S]peaking of my book as a machine [... ] -I swore it should be kept agoing at that rate these forty years, if it pleased but the fountain of life to bless me so long with health and good spirits." (TS: VII, 1, 459)

35 Zur Diskrepanz zwischen subjektiver und objektiver Zeit bzw. chronologischer und psychologischer Dauer vgl. A.A. Mendilow, "The Revolt of Sterne", ln: Traugott (Hg.), Sterne: Collection, a.a.O., S. 90-107, v.a. S. 94 f. 36 Franz K. Stanzel, Theorie des Erzäh/ens, 5.A., Göttingen 1991, S. 128

40

LAURENCE STERNE: TR!STRAM SHANDY

In Folge dieser Angleichung muss Tristram die Erfahrung machen, dass das Leben stets schneller voranschreitet als das Schreiben bzw. dass das Schreiben über das Leben das Leben nicht einholen kann: "I am this month one whole year older than I was this time twelvemonth; and having got, as you perceive, almost into the middle of my fourth volume- and no farther than to my first day's life- 'tis demonstrative that I have three hundred and sixty-four days more life to write just now, than when I first set out. [... ) It must follow [... ) that the more I write I shall have to write [...)" (TS: IV, 13, 286)37

Tristrams autobiografische Selbstfixierung im Kontext zeitlicher Unendlichkeit ist also schon wegen Zeitmangels zum Scheitern verurteilt38. In seiner Selbstthematisierung bleibt Tristram daher als Figur, vor allem im Gegensatz zum restlichen Figureninventar, eher verschwommen gezeichnet: Tristram "can only see out of himself, can never see round himself"39. Er kann sein Erzählen nicht gleichzeitig beobachten bzw. erzählen. Die Selbstbeobachtung ist ihm erst in der nachträglichen Reflexion auf das Erzählte möglich, etwa im Beobachten und erneuten Wiederanfangen eines missglückten Kapitels (vgl. TS: VI, 33 f., 444 f.). Die Thematisierung des scheinbar "jetzt" stattfindenden Schreibprozesses gibt Tristram aber die Möglichkeit, in der kommunikativen Situation zwischen Erzähler und fiktivem Leser die Nachträglichkeit der Beobachtung zweiter Ordnung im Akt des realen Lesens zu verschleiern und damit eine Identifikation des Lesers mit dem Erzähler zu motivieren. Die suggerierte Gleichzeitigkeit von Schreiben und Lesen schafft eine Illusion der Unmittelbarkeit, die ähnlich einem unmittelbaren Erleben in mündlicher Kommunikation scheinbare Authentizität erzeugt. Auch das 37 Die Digressionen sind somit auch als Digressionen vom Tod des Erzählers anzusehen (vgl. TS: VII), da das Lebensende durch Erzählen hinauszögerbar scheint. Die Geschichte Tobys im Anschluss an Vol. VII bedeutet damit auch einen Triumph über die Zerstörerische Zeit. Vgl. Jean-Jaques Mayoux, "Erlebte und erzählte Zeit in Tristram Shandy", ln: Rohmann (Hg.), Laurence Sterne, a.a.O., S. 375-393 38 Das Problem der Nicht-Synchronisierbarkeit von Leben und Überdas-Leben-Schreiben ähnelt der Paradoxie, durch die Walter Shandys Tristra-paedia charakterisiert ist. Vgl. TS: V, 16, 368 f. 39 Vgl. Benjamin H. Lehmann, "Of Personality, Time, and the Author", ln: Traugott (Hg.), Sterne: Col/ection, a.a.O., S. 21-33; ZitatS. 28

41

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

Tempus des Leserbewusstseins wird dann das Präsens4o, in dem der Dichter bei der Arbeit beobachtet wird: "[T]his very day, in which I am now writing this book for the edification of the world, which is March 9, 1759 [.. .]" (TS: I, 18, 72) "And here I am sitting, this 12th day of August, 1766, in a purple jerkin and yellow pairs of slippers, without either wig or cap [... ]" (TS: IX, 1, 572) Mit der Thematisierung der internen Grenzen eines neuen Kornmunikationsverständnisses im dialogischen Erzähler-Leser-Verhältnis erfüllt Tristram Shandy die im 18. Jahrhundert neue künstlerische Funktion, Beobachtungen für Beobachtungen zu produzieren. Die Dialoge Tristrams mit den fiktiven Lesern beziehen stellvertretend auch den realen Leser mit in die Erzählsituation ein und bewirken, dass dieser "himself, not the book" 41 liest. Tristram Shandy ist insofern ein repräsentativ metafiktionaler Roman, der dem Leser erhöhte Relevanz beimisst. Der Autor Sterne bzw. sein Erzähler Tristram fordern den Leser dazu auf, am erzählerischen Prozess teilzuhaben und die selbstreflexive Entwicklung des Romans zu bezeugen: "[T]he illusions of realism have been replaced by a one-to-one relationship, a dialogue between narrator and reader [... ] story and dialogue become one."42 Der Leser kann dann an Tristram das zentrale Problem literarischer Selbstbeobachtung beobachten: die Nichterzählbarkeit d es eigenen Erzählens. Diese Problematik und die damit zusammenhängenden Paradoxien sollen im folgenden Abschnitt näher bestimmt werden. Dafür bietet sich das systemtheoretische Modell der Autopoiesis des Bewusstseins an.

40 Vgl. Mayoux, "Erlebte und erzählte Zeit", a.a.O., v.a. S. 385 f. 41 Wagoner, "Satire of the Reader'', a.a.O., S. 155. "Sterne has lured him [the reader] into laughing at a parody of the conversation to which he has been party." (ebd.) 42 Waugh, Metafiction, a.a.O., S. 33

42

LAURENCE STERNE: TR!STRAM SHANDY

2.3

Tristram Shandy II: Selbstbeobachtung und metafiktionale Interferenzen Of all the perplexities a mortal author was ever seen in, - this certainly is the greatest (Tristram Shandy)

Die Selbstkonstitution des Bewusstseins erfolgt über Selbstbeobachtung anhand temporaler, asymmetrischer Differenzen43: So wie die Systemelemente in sozialen Systemen in beobachtende Kommunikationen und beobachtete Handlungen differenziert werden, arbeitet das psychische System mit der Differenz zwischen beobachtenden Gedanken und beobachteten Vorstellungen. Damit wird eine Unterscheidung erzeugt zwischen der Selbstreferenz des Beobachtungsaktes und der beobachteten Einheit von Selbst- und Fremdreferenz in der nachträglich erfolgenden Vorstellung. Übertragen auf den Akt des Erzählens lässt sich daraus folgern, dass das Erzählen das Erzählte als Einheit der Differenz von "Erzählen" und "Erzähltem" konstituiert, und das Erzählte demzufolge die Einheit der Differenz zwischen Fremdreferenz (Story) und Selbstreferenz (Erzählerkommentar) bildet.44 Das Modell veranschaulicht die Unaufhebbarkeit der temporalen Differenz zwischen Erzählen und Erzähltem, zwischen enunciation und enounced: Der Erzähl- oder Schreibakt ist nicht zugleich erzählbar, d er Erzähler ist partiell blind bezüglich der eigenen Textproduktion, da er nicht gleichzeitig subject of enunciation und subject of the enounced sein kann. Mit anderen Worten: Die Einheit der Differenz ist unbeobachtbar. Selbstbeobachtung oder -beschreibung, auch im literarischen Sinne, ist deshalb ein grundlegend paradoxer Vorgang: "[...] Beobachten und Beschreiben setzt eine Differenz voraus zwischen dem Beobachter/ Beschreiber und seinem Gegenstand; aber die Absicht der Selbstbeschreibung negiert gerrau diese Differenz [... ] Von Anfang

43 Vgl. Luhmann, "Die Autopoiesis des Bewusstseins", a.a.O. 44 Vgl. Schwanitz, "Zeit und Geschichte im Roman ...", a.a.O, sowie ders., Systemtheorie und Literatur. Ein neues Paradigma , Opladen 1990, v.a. S. 167 ff.

43

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

bis Ende hat die Selbstbeschreibung es mit diesem nur als Paradoxie beobachtbaren [... ]Problem zu tun."45

Im Iristram Shandy legt Sterne diese Paradoxie bloß. Er bedient sich bei der Thematisierung der Selbstreferenzialität des Erzählens einer Kombination von Autobiografie und Metafiktion: Der Erzähler Tristram will nicht nur sein Leben erzählen, sondern auch sein Erzählen selbst. Diese offen gelegte Selbstinklusion der Erzählsituation in der autobiografischen Ich-Erzählsituation verdeutlicht die Nicht-Darstellharkeil des Bewusstseins bzw. die Unmöglichkeit totaler Selbstbeobachtung. Die Differenz zwischen Erzählen und Erzähltem ist nicht in Richtung "reine" Selbstreferenz auflösbar, da diese Unterscheidung auf der Unterscheidung innen/ außen beruht. Der Beobachter kann nicht zugleich innerhalb und außerhalb der Grenze stehen, die mit der Operation der Selbstbeschreibung im System errichtet wird: Tristram kann nicht gleichzeitig Erzähler und erzählte Figur sein. Da er es aber trotzdem versucht, muss er die Erfahrung machen, dass seine Bemühungen im infiniten Regress enden, weil sich die Systemoperationen eben nicht zugleich auf sich selbst beziehen können. In Folge seiner paradoxen Doppelung als Subjekt/ "I" und Objekt/ "me" muss der Erzähler erkennen, dass "the attempt to fix subjectivity in writing erases that subjectivity, constructs a new subject [...] To write about one self is implicitely to posit one self as ,other"'46. Die Folge ist ein Oszillieren zwischen Innen und Außen, zwischen der Eigengesetzlichkeit des Erzählens (Opinions ) und der Kausalität des Erzählten (Life), das zu temporalen und logischen Paradoxien in Form von Interferenzen beider Ebenen führt: "[T]he seperate worlds of art and nature collide in carefully planned confusion."47 Die ebenenübergreifende Simultaneität kann sich dann in der Vermischung von Vergangenheit und Zukunft äußern: "Now this is the most puzzled skein of all- for in this last chapter [...] I have been getting forwards in two different journeys together, and with the same dash of the pen [...] I have brought myself into such a situa45 Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.a.O., S. 487 f . 46 Waugh, Metafiction, a.a.O., S. 135 47 William J. Farrell, "Nature versus Art as a Comic Pattern in Tristram Shandy", ln: Rohmann (Hg.), Laurence Sterne, a.a.O., S. 356-374; ZitatS. 356

44

LAURENCE STERNE: TR!STRAM SHANDY

tion, as no traveller ever stood before me; for I am this moment walking across the market-place of Auxerre [...]- and I am this momentalso entering Lyons [...] - and I am moreover this moment in a handsome pavillon built by Pringello [...] where I now sit rhapsodizing all these affairs." (TS: VII, 28, 492) Die kommunikative Situation zwischen Erzähler und fiktivem Leser begünstigt die Differenzen auflösende Überlagerung von Erzählen und Erzähltem. So kann Tristram den fiktiven Leser (den extradiegetic narratee) zum Beispiel von der extradiegetischen auf die diegetische Ebene befördern: "I beg the readerwill assist me here, to wheel off my uncle Toby's ordnance behind the scenes, - to remove his sentry-box, and clear the theatre, if possible, of horn-works and half moons, and get the rest of the military apparatus out of the way [.. .]" (TS: VI, 29, 438) "So then, friend! you have got my father and my uncle Toby off the stairs, and seen them to bed? - And how did you manage it? - You dropped a curtain at the stairs foot - I thought you had no other way for it- Here' s a crown for your trouble." (TS: IV, 13, 287) Die Interferenzen können auch in Form von Zuschreibungsparadoxien auftreten, die darauf beruhen, dass Tristram die unterschiedlichen Logiken der Kausalität des Erzählten und der Eigengesetzlichkeit des Erzählens vermischt4B bzw. Erzählzeit mit erzählter Zeit gleichsetzt. 49 So erhält etwa das Verweilen Walter Shandys auf dem Bett (vgl. TS: II, 30, 223 f. bis IV, 2, 275) eine Doppelbegründung: einerseits auf diegetischer Ebene durch die Trauer Walters über die Demolierung von Tristrams Nase, andererseits auf extradiegetischer Ebene dadurch, dass Tristram Zeit benötigt, um dem Leser die besondere Bedeutung des Nasenorgans zu erklären. Ähnlich sind die folgenden Beispiele organisiert:

48 Vgl. dazu auch Dietrich Schwanitz, "Laurence Sternes Tristram Shandy und der Wettlauf zwischen Achilles und der Schildkröte", ln: Paul Geyer & Roland Hagenbüchle (Hg.), Das Paradox: Signatur der Krise. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens, Tübingen 1992, S. 409-430 49 Vgl. Mayoux, "Erlebte und erzählte Zeit", a.a.O.

45

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

"In this attitude I am determined to Iet her [Mrs. Shandy] stand for five minutes: till I bring up the affairs of the kitchen [...] to the same period." (TS: V, 5, 353) "All my heroes are off my hands; - 'tis the firsttime I have had a moment to spare, - and I'll make use of it, and write my preface." (TS: III, 20, 202) Innerhalb des kommunikativen Verhältnisses mit dem Leser kann Tristram so auch die Illusion der Erzählgegenwart, der Gleichzeitigkeit von Schreib- und Leseakt, bekräftigen: "It is about an hour and a half's tolerable good reading since my uncle Toby rung the bell, when Obadiah was ordered to saddle a horse, and go for Dr. Slop, the man-midwife; - so that no one can say, with reason, that I have not allowed Obadiah time enough [.. .]" (TS: II, 8, 122) Andererseits führt diese Umgehung asymmetrischer Differenzen auch zu direkten wechselseitigen Unterbrechungen, zumal im Zusammenhang mit Tristrams Gleichsetzung von Leben und Schreiben, die ihn erzählerisch überfordert: "My mother, you must know, - but I have fifty things more necessary to Iet you know first, I have a hundred difficulties which I have promised to clear up, and a thousand distresses and domestic misadventures crowding in upon me thick and threefold [...] [T]here is no time to be lost in exclamations [...] Of all the perplexities a mortal author was ever seen in, - this certainly is the greatest [.. .]" (TS: III, 38, 240) Tristrams Entdeckung, dass er sein Erzählen schreibend nicht einholen kann bzw. das Enden dieses Unterfangens im unendlichen Regress ist damit gleichsam eine metaleptische Technik, die die artifizielle Beschaffenheit der vorgeblichen Chronologie realistischer Romane enthüllt. Diese Brüche fiktionaler Rahmurrgen geschehen zumeist, indem das Erzählen das Erzählte unterbricht, etwa im Verlauf der Geschichte von Le Fever: "Nature instantly ebbed again, - the film returned to its place, - the pulse fluttered - stopped - went on - throbbed - stopped again moved - stopped - shall I go on? - No." [Kapitelende und Beginn des folgenden:]

46

LAURENCE STERNE: TR!STRAM SHANDY

"I am so impatient to return to my own story, that what remains of young Le Fever's [...] shall be told in in a very few words in the next chapter." (TS: VI, 10 f., 413)50 Das erzählerische Intervenieren kann auch in Verbindung zu der durch Leerstellen geleiteten Einflussnahme auf die Lesererwartungen geschehen: "My sister, I dare say, added he, does not care to Iet a man come so near her ****. I will not say whether my uncle Toby had completed the sentence or not; - ' tis for his advantage to suppose he had,- as I think, he could have added no Ü NE W ORD which would have improved it." (TS: II, 6, 119) Weitere Interferenzen zwischen Erzählen und Erzähltem ergeben sich, wenn die Differenz zwischen Erzähler und Autor bewusst verwischt - und dadurch zu gleich herausgestellt - w ird. So zum Beispiel, wenn das Vorwort zum neunten Buch unterzeichnet ist mit "I am The Author" (TS: 570) oder in einer Fußnote behauptet wird: "The author is here twice mistaken." (TS: II, 19, 164) Die exzessive Vermengung von literarischem und literaturtheoretischem Diskurs macht Tristram Shandy damit zu einem Musterbeispiel für das Thematisieren der Konstruiertheit von Fiktionalität. Mit dem für Metafiktion spezifischen subversiven Hinterfragen d er Grenze zwischen "Fiktion" und "Nicht-Fiktion" legt d er Roman narrative Konventionen w ie die Relation fabulajsujet (Shklovsky)51 bzw. histoire/discours (Genette) bloß: " Tristram Shandy is [... ] a novel about the transformation of its ,story' into ,plot' ."s2 Zum Thema d es Romans w ird aufgrund Tristrams ungehemmter Subjektivität d er Konflikt zwischen der Dauer des chronologischen "Schreibens" und den Ereignissen in der "Geschich te" bzw. der Konflikt zwischen diesen Zeiten und der realen und implizierten chronologischen Dauer des Lesens. Die digressiona50 Ebenso TS: II, 3 f., 111 51 Vgl. auch Viktor Shklovsky, "A Parodying Novel: Sterne's Tristram Shandy' , ln: Traugott (Hg.), Sterne: Collection, a.a.O., S. 66-89. Aus formalistischer Sicht betrachtet Shklovsky Tristram Shandy als "the most typical novel of the world literature" (S. 89), da sein Inhalt in der Wahrnehmung seiner Form bestehe. 52 Waugh, Metafiction, a.a.O., S. 70

47

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

len Umkehrungen des Ursache-Wirkung-Schemas53 mit der konstanten Unterbrechung der Basis-Erzählung bewirken eine polyphone Fragmentarisierung des linearen Textes und unterminieren damit auch Konventionen fiktionaler Zeitlichkeit: "When there is explicitely no point of origin or reference, then digression becomes progression, and identity escapes. When the events which are looked forward to on the Ievel of the hisfaire have already been narrated by the discours, then ,history' becomes a non-category [...]"54 Sterne verlagert das Gewicht völlig von histoire auf selbstreflexiven discours, um dem Leser "the inevitable artificiality of all representation"Ss aufzuzeigen. Insofern erfüllt der Roman durchaus den metafiktionalen Anspruch, den Rezipienten von traditionsgebundenen Beschränkungen zu "befreien", indem er ihn als kritischen Mitdenker am narrativen Geschehen beteiligt. Der Erzähler Tristram fungiert als "[... ] selbst noch fragender Regisseur, der dem Publikum die Fragwürdigkeit des in Mode gekommenen Typus einer bewusst offenen und verfremdeten Inszenierung transparent zu machen versucht" 56. Dies erfolgt anhand metaleptischer Techniken, die dem Leser das arbiträre Ordnen der Weltkomplexität in konventionelle, methodologische Kategorien verdeutlichen. So verwischen etwa Tristrams "lines" (vgl. TS: VI, 40, 453 f.), die den Verlauf seiner Geschichte typografisch reflektieren sollen, narrative Differenzen: Dadurch, dass Tristram zwei unterschiedliche Diskurs- oder Rhetoriktypen innerhalb des gleichen textuellen Raumes miteinander konfrontiert, überschreitet er die Grenzen jedes einzelnen - und dekonstruiert damit beide gleichzeitig.s7 Wie bei der Verwendung einer alphabetischen Liste zur Defininition von "Love" (vgl. TS: VIII, 13, 526 f.) wird der Leser in eine polykontexturalisierende "Verräumlichung" des Fiktionalen verwickelt. Nach ähnlichem 53 Etwa beim sash-window-Unfall. Vgl. TS: V, 17, 369 f. 54 Waugh, Metafiction, a.a.O., S. 71 55 John Traugott, "lntroduction", ln. ders. (Hg.), Sterne: Col/ection, a.a.O. , S. 1-21; ZitatS. 3 56 Gassenmeier, "Der Typus des ,man of feeling"', a.a.O., S. 236. Vgl. auch Traugott, "lntroduction", a.a.O., S. 18: "[W]e are always conscious of the author's will to make us see how all meaning is made." 57 Ebenso die Abbildung der Linie, die Trim mit seinem Stock zeichnet, vgl. TS: IX, 4, 576

48

LAURENCE STERNE: TR!STRAM SHANDY

Muster funktionieren die Fußnoten, die den Leser zum "RahmenDurchbrecher" werden lassen, weil er die primäre Erzählebene zu Gunsten einer anderen verlässt. Solch ein diskursiver Bruch findet auch statt, wenn Tristram beim Versuch, seinen "parish" zu beschreiben, aufgrund unüberschaubarer Detail-Anhäufung den Einbau einer Karte ankündigt: "[ ...]I must here, once and for all, inform you, that all this will be more exactly delineated and explained in a map, now in the hands of the engraver, which [... ]will be added to the the end of the twentieth volume [...]" (TS: I, 13, 63 f.) Abgesehen davon, dass nur neun Bücher existieren, bewirkt Tristrams Mitteilung eine Spaltung zwischen "Karte" als Diskurs und "Karte" als Objekt, verdeutlicht also die Differenz zwischen Signifikant und Signifikat. Die tatsächlich eingebauten "Fremdtexte", etwa der sennon von Yorick (vgl. TS: II, 17, 141-155) oder die Geschichte von Le Fever (vgl. TS: VI, 6 ff., 403-418), führen dann als vermeintlich "autonome" Segmente zu expliziten Unterbrechungen der Primärerzählung. Das Hinweisen des Erzählers auf die ontologische Differenz zwischen projizierten und "realen" Welten macht dem Leser also die Realitivität von Bezugs- und Ordnungssystemen transparent. Dadurch zeigt sich auch im Tristram Shandy das "metafiktionale Paradox": Einerseits nimmt der Leser quasi-erlebend Teil an Tristrams gesteigert subjektivem Erzählakt, andererseits wird ihm die Artifizialität des Erzählten ständig vor Augen gehalten. Dass sich diese paradoxe Metafiktionalität traditionellen Vorgaben widersetzt, stellt keinen Widerspruch zur Autopoiesis des Kunstsystems dar. Vielmehr machen Kunstwerke wie Tristram Shandy, die scheinbar versuchen, die Voraussetzung der Anschlussfähigkeit zu vermeiden, "umso deutlicher, dass es um Autopoiesis geht"ss. In der Parodie der rationalistischen Kommunikationsvorstellungen Lockes und der alternativen Akzentuierung von sympathy und benevolence veranschaulicht Tristram Shandy zudem die Abgrenzung des Kunstsystems gegenüber dem System der Wissenschaft. Gerade die Möglichkeit des persiflierenden Einbezugs wissenschaftlicher Theorien in fiktionale Texte macht deutlich, dass sich das Kunstsystem im 18. Jahrhundert gegenüber 58 Luhmann, "Das Kunstwerk... ", a.a.O., S. 623

49

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

seiner Umwelt ausdifferenziert und eigenständige Kriterien zu entwerfen beginnt. Trotz und wegen Tristrams idiosynkratischer Erzählweise und der Verkündung, sich nicht durch "any man's rules that ever lived" beschränken zu lassen, weist Tristram Shandy also als kommunikatives Ereignis im Kunstsystem selektive Anschlüsse an vorherige Kunstkommunikationen auf. Dabei verdeutlicht sich vor allem das parodistische Verhältnis zu den realistischen Romanen Samuel Richardsons und Henry Fieldings: "Tristram Shandy is a deep laid criticism of the novels of Richardson and Fielding."59 Dass Sterne der Imagination des Lesers so große Spielräume einräumt, steht in kritischer Relation zu den autoritär-auktorialen Erzähleranweisungen in den Romanen Fieldings. Für Tristrams erzählerische Originalität ist Sterne zugleich dem Witz der Fielding'schen allwissenden Erzähler verschuldet. 60 Von Richardsons Briefromanen erbte Sterne dagegen die Erzähltechnik des writing to the moment sowie die ganze Bandbreite der sensibility-Semantik und die Techniken der Werberituale, die er in der Liebesgeschichte von Uncle Toby und Widow Wadman parodiert.61 Generell gesehen, lässt sich das Erzählchaos des Tristram Shandy also auch betrachten als eine Satire auf die chronologische Ordnung des traditionellen realistischen Romans. So steht auch das selbstreflexive Ende des Romans im Kontrast zum konventionellen Abenteurroman, dessen Ende üblicherweise durch das Zustandekommen einer Heirat gekennzeichnet war. 62 Sterne weist damit herkömmliche Erzähltechniken als unadäquat zurück: Tristrams "collapsed art is a devastating parody of the shapeless ,true account' that served for fiction in the eighteenth century"63. Die Tatsache, dass die Parodie in einer reductio ad absurdum der "circumstantial method" erfolgt, verweist erneut auf den metafiktionalen Charakter des Romans, da metafiktionale Texte, wie be59 Lehmann, "Of Time, Personality, and the Author", a.a.O., S. 27 60 Vgl. Alan Dugald McKillop, "Laurence Sterne", ln: Traugott (Hg.), Sterne: Collection, a.a.O., S. 34-65 61 Vgl. William Park, "Tristrarn Shandy and the new ,Novel of Sensibility'", ln: Rohmann (Hg.), Laurence Sterne, a.a.O., S. 122-134. Zudem steht der Roman in der Tradition des ,Learned Wit', wie sie von Rabelais, Donne, Jonson, Shakespeare und Swift etabliert wurde. Vgl. Traugott, "lntroduction", ln: ders. (Hg.), Sterne: Collection, a.a.O., S. 18 62 Vgl. Shklovsky, "A Parodying Novel", a.a.O., S. 76 63 Farrell, "Nature versus Art ... ", a.a.O., S. 373

50

LAURENCE STERNE: TR!STRAM SHANDY

schrieben, generell das ins Paradoxe gesteigerte Ausreizen traditioneller Vorgaben praktizieren. Vor allem lassen die Paradoxierungen von Kommunikationsproblemen im Tristram Shandy aber erkennen, dass das Erzählte sich in der Abhängigkeit vom Erzähler nicht als autonome, geschlossene Geschichte plausibilisieren kann. Durch die literarische Darstellung der Kommunikationsgrenze zwischen bewusst und unbewusst, die aufzeigt, dass eine Mitteilung sich nicht selbst beglaubigen kann, verweist Sterne auf die Grenzen literarischer Kommunikation. Er verdeutlicht dabei, dass das Erzählen, wenn es sich als Sprechakt präsentiert, als Handlung zurechenbar wird. Die Betonung des Mitteilungsaspektes, etwa in der expliziten Thematisierung der Fiktionalitätskonstruktion gegenüber dem Leser, lässt das Erzähltekontingent erscheinen. 64 Tristram Shandy veranschaulicht damit, dass das Fehlen einer Asymmetrisierung des Erzählens gegenüber dem Erzählten einen kunstspezifischen Nachvollzug im Erleben unwahrscheinlicher macht. Mit dem Kollabierenlassen der Ebenentrennung zwischen Erzählen und Erzähltem durch das permanente Intervenieren des Erzählers stellt Tristram Shandy deshalb ein Erzählproblem für den Roman dar: "[Der Roman] verabschiedet die Rhetorik und liefert die Möglichkeit, die spätere Romanentwicklung als Lösung von Problemen zu verstehen, die sich in Form von Paradoxien in Tristram Shandy gestellt haben."65 Sterne verdeutlicht, dass bei einem neuen Verständnis von Kommunikation als selbstreferenzielles System auch das Erzählen, als Form literarischer Kommunikation, über asymmetrische Differenzen organisiert werden muss, dass Erzählungen also für einen plausiblen Zusammenhang von Selbst- und Fremdreferenz zu sorgen haben. Die Art und Weise, in der diese Problemlösung im weiteren Verlauf der Entwicklung des Romans geschieht, wird unter Punkt 3.2 dargestellt. Zuvor wird jedoch das weitere Fortschreiten der Ausdifferenzierung und Autonomisierung des Kunstsystems im 18. und 19. Jahrhundert betrachtet. 64 Kontingenz bildet deshalb das dominante Erzählprinzip des Tristram Shandy: ,.For Sterne, the world is contingency incarnate." (Lehmann, ,.Of Time, Personality, and the Author", a.a.O., S. 24) .. [Tristram Shandy's] content [ ...) was concerned with the process of writing and living - that is, with contingency." (Hutcheon, Narcissistic Narrative, a.a.O., S. 52) 65 Schwanitz, Englische Kulturgeschichte, a.a.O., S. 272

51

3. Evolution des Kunstsystems I: Autonomisierung durch Problemlösung

3.1

Romantik und 19. Jahrhundert: Das Kunstsystem macht sich selbstständig

Nachdem sich das Kunstsystem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gegenüber seiner gesellschaftlichen Umwelt ausdifferenzierte, wurde der Umfang der Selbstorganisation zum Ende des 18. Jahrhunderts weiter ausgebaut. Das neue historische Stilverständnis motivierte die Reflexion der jeweiligen gesellschaftlichen Situation der Kunst, und die Selbstbeobachtung der Kunstgeschichte als Stilgeschichte trieb das Kunstsystem verstärkt in Richtung Eigenständigkeit. Die damit verbundenen Problempotenziale verdeutlichte Sterne im Tristram Shandy. Und der erste Kunststil, der sich auf die neue Situation der Autonomie einließ, war die Romantik. Die Epoche der Romantik war gekennzeichnet durch entscheidende soziokulturelle Veränderungen, die im Zuge der Industrialisierung auftraten. Die Unterminierung traditioneller Sinnsysteme, vor allem der Religion, und eine Beschleunigung des sozialen Wandels, die Rückschlüsse von der Vergangenheit auf die Zukunft nicht mehr möglich machte, führten zu einer allgemeinen Verzeitlichung und Historisierung des Realitätsverständnisses. Das Resultat war eine Erhöhung des Subjekts zur einzigen sinnstiftenden Instanz:

53

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

"[N]ach der hochriskanten Ablehnung aller religiösen oder metaphysisch-kosmischen Instituierung von Erkenntnis konnte man nicht sogleich den nächsten Schritt tun und jeden Gedanken an eine letztgewisse Außenfundierung fahren lassen. Man kam diesem Schritt so weit wie möglich entgegen und verlegte das, was die Funktion einer Außenfundierung hatte, in das Bewusstsein[ ...] So konnte die Selbstreferenzialität des Bewusstseins, Subjekt genannt, als Quelle der Erkenntnis und als Quelle der Erkenntnis der Bedingungen der Erkenntnis zugleich in Anspruch genommen werden."1 Das Problem romantischer Kunst war d emnach nicht mehr die Seinsanalogie, sondern das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst. Das Individuum, das durch den Ausfall kommunikativer Außenbestätigung zur Endlosreflexion auf sich selbst motiviert wurde, sollte deshalb beim Rezipieren von Kunstwerken die Möglichkeit erhalten, sich in dargestellten Entscheidungssituationen selbst zu individualisieren. Das heißt: Beim Rezipieren von Kunst wurde die Beobachtung der kunstwerkeigenen Unterscheidungen noch ausschlaggebender, und das Kunstsystem zog sich zunehmend auf die eigenen Vorgaben zurück. Kunstwerke sollten ihre eigene Kontingenz demonstrieren bzw. ihren selbstprogrammierenden Charakter beobachtbar machen. Romantische Kunstwerke rechneten deshalb bereits mit Beobachtern, die die Kulissen durchschauen und Kunstwerke als bewusst inszeniert beobachten: "Auf eigentümliche Weise fasziniert jetzt eine neue Differenz- die von Beobachten- und Nichtbeobachtenkönnen [...]Autor und Leser können [... ] gegen die Charaktere konspirieren und sich im Sehen des Nichtsehenkönnens verbünden; und genau darin liegt das Prinzip der Ausdifferenzierung einer spezifischen Perspektive moderner Literatur." 2 Der "Übergang von hierarchisch fixierten, als Natur beschriebenen Positionsanordnungen zu einem Primat der Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz"3 führte also wegen der Unsicherheit hinsichtlich feststehender Informationen (Fremdreferenz) auch zu einer zunehmenden Gewichtsverlagerung auf den 1 Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., S. 649 2 Luhmann, "Weltkunst", a.a.O., S. 36 3 Niklas Luhmann, "Eine Redeskription ,romantischer Kunst"', ln: Fahrmann & Müller (Hg.), Systemtheorie der Literatur, a.a.O., S. 325-344; ZitatS. 332

54

EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

1: PROBLEMLÖSUNG

Mitteilungsaspekt (Selbstreferenz). Die Textkunst verwies verstärkt auf ihre eigene Literalität, und die schon formal selbstreferenzielle Gattung der Lyrik, die geradezu für die Perspektivierung von Subjektivität prädestiniert ist, avancierte zum dominanten Genre der Romantik. Der Überschuss an internen Kommunikationsmöglichkeiten, der in Folge der Autonomiereflexion des Kunstsystems entstand, wurde über die Kunstkritik gelöst, die nun erstmals als Selbstbeschreibung des Systems im System voll anerkannt wurde. Zudem bewirkte die Selbstreflexion des Kunstsystems den Wiedereinbezug der System/Umwelt-Differenz ins System bzw. einen re-entry der Differenz reale/ fiktionale Realität auf der Seite der fiktionalen Realität. Selbst das, was für reale Realität gehalten werden konnte, wurde dann fiktionalisiert. Das hatte auch zur Folge, dass die Originalitätsanforderungen an Künstler weiter anstiegen. So wurde die Diskussion über Codierungskriterien des "guten Geschmacks" im späten 18. Jahrhundert durch das Bild des gottähnlichen Genies überboten, in dem das künstlerisch-kreative Unerklärlichkeitsmoment seine höchste Ausformung erhielt. Die Selbstbezüglichkeit des Kunstsystems in der Romantik resultierte jedoch noch nicht in einer Trennung von der Vorstellung referierender Zeichen. Trotz des Ebenenkollapses, den Sterne paradigmatisch im Tristram Shandy inszenierte, blieb der EbenenBegriff selbst an die Unterscheidbarkeit der Ebenen gebunden, also an die Referenz der Zeichen und darauf bezogene Arrangements.4 Dies zeigte sich auch daran, dass die führende Gattung des 19. Jahrhunderts der große realistische Roman w urde, der in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft die Spiegelung soziokultureller Probleme ermöglichte, vor allem den Verlust sozialer Integration in der industrialisierten Massengesellschaft. Für ein systemtheoretisches Verständnis von Kunst als Kommunikation ist daher entscheidend, dass für die Weiterentwicklung des Romans im Anschluss an die Erzählparadoxien des Tristram Shandy neue Techniken literarischer Kommunikation ge-

4

Die Reflexion darauf führte im Symbolismus des späten 19. Jahrhunderts einen neuen Symbolbegriff ein, der die Zeichenfunktion reflektierte und auch die Ebenenparadoxie des Tristram Shandy operationsfähig machte, indem er sich an ihre Stelle setzte. Vgl. Luhmann, Oie Kunst der Gesellschaft, a.a.O., S. 287

55

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

fundenwerden konnten, welche die Shandyesken Paradoxien entfalteten. Diese werden im folgenden Abschnitt beschrieben.

3.2

Grand Recit: Lösung des Tristram-Shandy-Erzäh I problems

Die im Tristram Shandy inszenierten Ebenenvermischungen verdeutlichten, dass die Auflösung asymmetrischer, temporaler Differenzen zu infiniten Regressen und Paradoxien führt, die sich in Form von Interferenzen zwischen Erzählen und Erzähltem offenbaren. Das permanente Intervenieren des Erzählers ins Erzählte lässt das Erzählte kontingent erscheinen und erschwert damit einen erlebenden Nachvollzug des Lesers. Vor dem historischen Hintergrund der Sattelzeit lässt sich Tristram Shandy deshalb betrachten als Thematisierung von Kommunikationsproblemen, die auch den Bereich literarischer Kommunikation betrafen und die für die weitere Romanentwicklung "Lösungen" erforderlich machten. Als ins Paradoxe gesteigerte metafiktionale Selbstbeobachtung des Kunstsystems verweist Tristram Shandy auf die Tatsache, dass die kunstspezifische Kommunikation "über nichts anderes als den Wiedereinschluss der ausgeschlossenen Wahrnehmung in die Kommunikation"s im Paradox resultiert: Sie zeigt, dass die Operation der Selbstbeobachtung nur als Paradoxie beobachtbar ist- und deshalb verdeckt werden musste. Diese Verdeckung geschah im weiteren Verlauf der Romanentwicklung dadurch, dass "die sichtbar gewordene Kontingenz durch Mechanismen der Überzeugungsbildung kompensiert"6 wurde. Literarische Kommunikation operiert dabei mit Paradoxierungen zur Umattribution, die ein Kontingentwerden verhindern. Ähnlich dem Liebescode, der durch Paradoxierungen eine Rückverwandlung von Handeln in Erleben ermöglicht - etwa durch Stilisierung als Passion7 -, kann sich auch literarische Kommunikation durch Opakisierungstechniken als Erleben tarnen. Das heißt vor allem, dass sie ihren Mitteilungsaspekt verbergen

5 Baecker, "Die Adresse der Kunst", a.a.O., S. 98 6 Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.a.O., S. 247 7 Vgl. Luhmann, Liebe als Passion, a.a.O., sowie Schuld!, Der Code des Herzens, a.a.O.

56

EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

1: PROBLEMLÖSUNG

muss, um sich nicht als kontingentes Handeln zu erkennen zu geben.S Dies wurde ermöglicht durch Erzähltechniken, die eine Ununterscheidbarkeit von Kommunikation und Bewusstsein erzeugen bzw. die Erzählsituation invisibilisieren.9 Dafür wurde eine temporale Selbstreferenzunterbrechung geschaffen: Das Erzählen macht sich unsichtbar durch das Einschalten einer Differenz, die die Relation zwischen Erzählen und Erzähltem atemporalisiert. Die Ebenendifferenz zwischen der autopoietischen Selbstkonstitution der Geschichte (der Differenz Erzählen/Erzähltes) und ihrer Selbstbeschreibung (als Einheit dieser Differenz) wird verschleiert, und die Geschichte wird zur Entfaltung der SelbstreferenzParadoxie. Die erzählte Welt trennt sich von der besprochenen Welt des Erzählens, und es entsteht eine Ebenendifferenz zwischen beobachtenden und beobachteten Elementen. So ermöglicht es die invisibilisierte (personale) Erzählsituation den RomanKunstwerken, die als Mitteilung von Information erscheinen, auf diese Mitteilungsabsicht zu verzichten. Insofern spiegelt sich die kompensatorische Lösung, die im Anschluss an die Trennung von Kommunikation und Bewusstsein und die daraufhin entstandenen Kommunikationsprobleme in Form der Körpersprache gefunden wurde, im Bereich literarischer Kommunikation in einer "Körpersprache des Romans"lo. Die entfaltete Paradoxie des als Erleben getarnten Mitteilens wurde- exemplarisch in den Romanen Jane Austens- organisiert über das Schema der selbstaufklärerischen Liebesgeschichte, in 8

Dies gilt besonders für die Gattung des Romans. Im Bereich der Lyrik, die schon durch formale Selbstreferenzialität gekennzeichnet ist, wird dagegen durch eine Betonung des Mitteilungsaspektes das Erscheinen der Differenz Erzählen/Erzähltes als Einheit eher unterstützt denn unterminiert. Vgl. Peter Hühn, "Lyrik und Systemtheorie", ln: de Berg & Prangel (Hg.), Kommunikation und Differenz, a.a.O., S. 114-136. Vgl. auch David E. Wellbery, "Das Gedicht: zwischen Literatursemiotik und Systemtheorie", ln: Fahrmann & Müller (Hg.), Systemtheorie der Literatur, a.a.O., S. 366-383: "Das Gedicht zitiert sich selber [... ) Sein Gegenstandsbezug besteht darin, keinen zu haben, nicht mal sich selber." (S. 383) 9 Vgl. dazu und zum Folgenden Schwanitz, "Kommunikation und Bewusstsein", a.a.O., ders., "Systemtheoretischer Handlungsbegriff', a.a.O., ders., "Laurence Sternes Tristram Shandy und der Wettlauf... ", a.a.O., ders., Systemtheorie und Literatur, a.a.O., S. 167 ff., sowie ders., Englische Kulturgeschichte, a.a.O., S. 316 ff. 10 Schwanitz, "Systemtheoretischer Handlungsbegriff', a.a.O., S. 76

57

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

der die Geschichte die verdrängte Differenz bzw. die Selbstreferenz am Ende wieder aufdeckt.n Liebe ist als autopoietisches System autokatalytisch und gründet sich auf wechselseitige, zufällige Emergenz. Zur Verringerung der Unwahrscheinlichkeit des Entstehens von "Liebessystemen" unter den Voraussetzungen der doppelten Kontingenz wird der Vorgang der Liebesanbahnung deshalb zeitlich auseinandergezogen und die Gleichzeitigkeit sequenziert. Dies wird organisiert über Ambivalenzen, Verdrängungen und Projektionen.12 Übertragen auf den Akt des Erzählens bedeutet das, dass die Zukunft als temporaler Ort des Erzählers abgeschnitten wird und die Geschichte mittels einer fortlaufenden Vermittlung von Vergangenheit und Zukunft als Einheit des sich scheinbar selbst hervorbringenden Erzählens erscheint. Die Aufklärung der verdrängenden Heidin wird dabei gleichsam zur Aufklärung des Lesers, dessen Rezeption über die jeweilige Selektivität des Erlebens und Handeins der Figur(en) gesteuert wird. Die Zeithorizonte von Leser, Erzähler und Erzähltem verschmelzen13, und die Frage, wem das erzählte Geschehen zurechenbar ist - der Kommunikation des Erzählers oder dem Erleben der Figur -, wird unentscheidbar gemacht. Der Mitteilungsaspekt verschwindet in Zuschreibungsoszillationen, die eine Kontingentsetzung auflösen, und einer Temporalisierung der Differenz Kommunikation/Handeln, die den Rezipienten zum Miterleben motiviert. Der somit invisibilisierte 11 Vgl. auch Dietrich Schwanitz, Literaturwissenschaft für Anglisten, lsmaning 1985, S. 182 ff. 12 Die Reduzierung von Moral auf Sexualmoral im Zuge der sensibilityBewegung bedeutete für die Frau die Verdrängung eigener erotischer Wünsche und deren Projektion auf den Mann, der mit den ambivalenten Zügen eines "Byronic Hero" ausgestattet wurde. Insofern ist die weibliche Figurenperspektive von entscheidender Bedeutung für das Handlungsgerüst des realistischen Liebesromans, das auf unbewusster Verdrängung und bewusst werdender Erkenntnis basiert. 13 Symptomatisch dafür ist die von Jane Austen erfundene Erzähltechnik der Erlebten Rede, die die Differenz von Vergangenheit und Zukunft, ebenso wie die Differenz von Erzählerdarstellung und Figurenbewusstsein, als Einheit erscheinen lässt. Vgl. Schwanitz, Systemtheorie und Literatur, a.a.O., S. 174 f. Dass Austens Errungenschaft gleichsam eine Kombination der Erzähltechniken Richardsons (dramatische Erzählgegenwart) und Fieldings (ironisch-distanziertes Gesellschaftspanorama) darstellt, verdeutlicht erneut die Bedeutung kunstkommunikativer Anschlussselektionen im autopoietisch organisierten Kunstsystem.

58

EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

1: PROBLEMLÖSUNG

Erzähler lässt dann den kontingenten Horizont der verdrängten Zukunft progressiv erfahrbar werden, bis am Ende das Erzählte das Erzählen eingeholt hat und die Zukunftsorientiertheil in rückblickende Aufklärung umschlägt. Diese Erzähltechnik ermöglicht dem Rezipienten im miterlebenden Beobachten der Geschichte auch die Selbstbeobachtung als selbstbeobachtendes Individuum: "Die Verlaufsstruktur des Romans ist die Entfaltung von Individualität in der Zeit [... ] Das Individuum konstituiert sich dann selbst über die retrospektive Selbsterkenntnis seiner eigenen Geschichte."14 Das sich selbst invisibilisierende Erzählen reagiert in seiner Paradoxieentfaltung auf die Problemstellung des Tristram Shandy: Die Erzählung unterscheidet sich von ihrem Erzähltwerden bzw. errichtet eine asymmetrische Differenz zwischen sich selbst und der realen Realität. Um shandyeske Zuschreibungsparadoxien zu vermeiden, muss"[... ] der intervenierende Erzähler vom Erzähler der Intervention des Erzählers, in der bekannten Darstellung dieses Problems also Tristram Shandy von Laurence Sterne, unterscheidbar sein."lS Bei der "Invisibilisierung des Paradoxes durch hinreichend plausible Identitäten und Unterscheidungen" 16 bleibt das dahinterstehende Paradox jedoch weiter intakt: "Von Anfang bis Ende hat die Selbstbeschreibung des Kunstsystems es mit diesem nur als Paradoxie beobachtbaren (und daher zu verdeckenden) Problem zu tun [...] Die Analyse endet nicht mit dem Ergebnis, alles sei beliebig, alles sei sinnlos. Sie zeigt vielmehr, dass und wie die Differenz von Paradox und Entfaltung[ ... ] dazu dient, das Kunstsystem dem ,Gang der Geschichte' oder, soziologisch gesehen, den jeweiligen Resultaten der gesellschaftlichen Evolution bei Bewahrung seiner autopoietischen Autonomie einzupassen." 17

Diesen Sachverhalt verdeutlichen die metafiktional-selbstbeobachtenden Texte der Moderne und vor allem der "Postmoderne", indem sie die versteckte Selbstreferenzialität erkenntnisproduzierender Handlungsmuster wieder freilegen. Die Totalautonomie

14 15 16 17

Schwanitz, Englische Kulturgeschichte, a.a.O., S. 239 Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.a.O., S. 57 f. (Fußnote 74) Ebd., S. 488 Ebd., S. 487 f.

59

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

des Kunstsystems seit dem Ende des 19. Jahrhunderts führte zu einer weiteren Steigerung des Ausmaßes der Selbstprovokation, die mit der Selbstreflexion der Romantik begonnen hatte. Im Gefolge dieses neuen Selbstreferenz-Primats wurden narrative Konventionen hinfällig, und es begann die Zersetzung der selbstaufklärerischen "Großen Erzählungen", der Grand Recits. Flann O'Briens Romane At Swim-Two-Birds und The Third Policeman bieten zwei markante Beispiele dieser selbstreferenzielldekonstruktivistischen Tendenz des modernen Kunstsystems. Vor der Analyse der Texte soll deshalb zunächst die Situation des autonomisierten Kunstsystems in der Moderne und "Postmoderne" sowie die besondere Affinität von metafiktionaler Literatur und "Postmoderne" beschrieben werden.

60

4. Evolution des Kunstsystems II: Autonomisierung durch Selbstreflexion

4.1

Beobachtung zweiter Ordnung: Postmoderne Autonomie der Kunst

Die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft ist gekennzeichnet durch eine gemeinsame Tiefenstruktur. Die funktionalen Teilsysteme praktizieren ihre autopoietische Autonomie mittels Beobachtung zweiter Ordnung als "systemtragende Normaloperation"1: "Das Gesamtsystem Gesellschaft kann bei einem an Funktionen orientierten Differenzierungsmuster die Welt nur noch polykontextmal schematisieren [... ] Deshalb ist das Beobachten von Beobachtungen die Operationsweise, die diesem Gesellschaftstypus entspricht."2 Das Primat der funktionalen Differenzierung bedeutet daher einen Verzicht auf jegliche Positionen, die die Welt oder die Einheit der Gesellschaft repräsentieren köm1ten. Die in Funktionssysteme differenzierte Gesellschaft muss auf Konzepte wie Autorität und Repräsentation verzichten. Damit drückt die Etablierung der Beobachtung zweiter Ordnung auch den Verlust einer beobachterunabhängig vorgegebenen Realität aus: "Das, was als Realität Niklas Luhmann, "Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft", ln: ders. , Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 93-128; ZitatS. 125 2 Luhmann, "Weltkunst", a.a.O., S. 38

61

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

konstruiert wird, ist letztlich also nur durch die Beobachtbarkeit von Beobachtungen garantiert."3 Die Erkenntnis, dass jedes Beobachten sich auf einen blinden Fleck einzulassen hat, führt dazu, dass in der modernen Gesellschaft die "Eigenwerte" nicht mehr unmittelbar beobachtbar sind und deshalb in der Modalform der Kontingenz erscheinen. Eine Welt, die darauf angewiesen ist, sich selbst zu beobachten, zieht sich in die Unbeobachtbarkeit hinter die System/Umwelt-Differenz zurück: " [A]lle Unterscheidungen können dann nur noch dazu dienen, den Verlust zu symbolisieren und das Beobachten als operative Bewegung in Gang zu halten." 4 Der Kunst kommt dann die Aufgabe zu, diesen Referenz- oder Erfahrungsverlust darzustellen, indem sie - im Gegensatz zur mimetischen Nachahmung der Welt- die Unsichtbarkeit der Welt nachahmt und durch Sichtbarmachung anderer Möglichkeiten, also durch Veranschaulichung von Kontingenz, überzeugt. Damit zeigt die Kunst, dass der Verzicht auf Repräsentation nicht gleichzeitig den Verzicht auf Ordnung bedeuten muss. Der Betrachter eines Kunstwerks soll deshalb dazu angeleitet werden, eine Ordnung zu sehen, hinter der sich die Welt in ihrem unmarked state verbirgt: "Es gelingt ihm [dem Kunstwerk] nicht, die Welt, wie sie ist, sichtbar zu machen; denn die Welt ist kein ontologischer Sachverhalt. Es ka1m aber gelingen, das Kreuzen der Grenze innerhalb von Unterscheidungen, das Unterscheiden von Unterscheidungen und schließlich sogar die Paradoxie des Sichtbarmachens durch Unsichtbarmachen im Werk zu installieren." 5

Damit wird auch der Status des Individuums als Selbstbeobachter erneut hervorgehoben, denn die Herstellung eines Kontingenzbewusstseins bedeutet zugleich die Rückrechnung des Beobachteten auf den jeweiligen Beobachter. Von besonderer Bedeutung ist für Kunstwerke deshalb die Konstruktion von Polykontexturalität, die Ermöglichung eines "Sehen[s] des prämissenabhängigen Sehens"6. Damit erfährt auch das Kriterium der Neuheit bzw. die 3 Niklas Luhmann, "Das Moderne der modernen Gesellschaft", ln: ders., Beobachtungen der Moderne , a.a.O., S. 11-49; ZitatS. 45 4 Luhmann, "Weltkunst", a.a.O., S. 41 f. 5 Ebd., S. 43 6 Luhmann, "Das Kunstwerk... ", a.a.O., S. 645

62

EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

II: SELBSTREFLEXION

Notwendigkeit künstlerischer Überraschungseffekte einen reentry: Die polykontextmale Schaffung lokaler Beobachtungspositionen im Kunstwerk, von denen aus Anderes jeweils anders aussieht, bedeutet einen Wiedereintritt der Überraschung in das allgemein überraschende Kunstwerk. Die Figur des re-entry verweist zudem darauf, dass die moderne Gesellschaft nach dem Ende einer ontologischen Metaphysik auf Selbstreferenzialität angewiesen ist: "Wenn es auf der Ebene der Operationen keinen Umweltkontakt mehr gibt, und wenn kein Zeichen eine Dingreferenz leistet, dann kann doch intern diese Situation durch ein re-entry simuliert werden - nämlich durch die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz. Das System copiert die Differenz von System und Umwelt in sich hinein und verwendet sie so als Prämisse eigener Operationen."7 Die künstlerische Avantgarde praktiziert diese Grenzüberschreitung bewusst und benutzt den re-entry der Unterscheidung von System (Selbstreferenz) und Umwelt (Fremdreferenz) ins System zur Selbstbestimmung. Besondere Bedeutung erlangt dann der kunstsysteminterne geschichtliche Bezug der autopoietischen altjneu-Anschlussvoraussetzung. Diesen Sachverhalt verdeutlicht besonders die so genannte "postmoderne" Kunst. Der Terminus "Postmoderne" bezeichnet im Allgemeinen das Abhandenkommen außerdiskursiver Legitimationsmöglichkeiten, die Absenz eines Zentrums und ein Gefühl ontologischer Unsicherheit, das aus dem Verlust fixierter Referenzen resultiert.S Ausgehend von Saussures Erkenntnis, dass Sprache arbiträr und differenziell strukturiert ist, gerät das Konzept sprachlicher Referenzialität in eine Krise, und Selbstreferenzialität wird zum dominanten Paradigma. Jean-Francois Lyotard zufolge werden die "Wahrheitsansprüche" des Wissens reguliert von Kriterien, die von kontextuellen, nicht-absoluten Regeln oder Standards abhängig sind.9 So legitiNiklas Luhmann, "Ökologie des Nichtwissens", ln: ders., Beobachtungen der Moderne, a.a.O., S. 149-220; ZitatS. 216 8 Vgl. Schwalm, Dekonstruktion im Roman, a.a.O., S. 100 ff., sowie Raman Seiden & Peter Widdowson (Hg.), A Reader's Guide Ta Contemporary Literary Theory, Hertfordshire 1993, S. 174 ff. 9 Vgl. Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Peter Engelmann (Hg.), Wien 1994, sowie ders., "Answering the

7

63

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

mierte sich die Wissenschaft in ihrer "modernen" Phase durch die narrativen Verlaufstypen der Aufklärung und der Geschichtsphilosophie. Vor allem die Hegel' sehe Geschichtsphilosophie zeigt dabei Parallelen zu den Erzähltechniken des realistischen Romans: Hegels Vorstellung von Geschichte als einem dialektischen, sich selbst vorantreibenden und aufklärenden Prozess ähnelt dem Organisationsprinzip, das es dem Erzählen im realistischen Roman ermöglicht, seine eigene Erzählbarkeil zu produzieren (vgl. 3.2).10 In der Postmoderne erscheinen diese einheitsstiftenden Metaerzählungen nur noch als sprachlich konstruierter Überbau. Konzepte wie das der Emanzipation der Menschheit, des vernünftigen Subjekts, der Dialektik d es Geistes oder einer Hermeneutik des Sinns werden enttarnt als "Sprachspiele". Der Grand Recit der Moderne büßt seinen repräsentativen Charakter ein und repräsentiert lediglich noch "die Ursprungslosigkeit und Nicht-Referenz des Diskurses"n: "Sie [die Welt] kann sich nicht mehr auf einen Abschlussgedanken, auf eine referenzfähige Einheit, auf eine Metaerzählung (Lyotard) beziehen, die ihr Form und Maß vorschreibt. Und in genau diesem Sinne ist die Semantik der Moderne gescheitert."12 Das herausragende Merkmal der Postmoderne ist also der Glaubwürdigkeitsverlust der Grand Recits, die die Moderne kennzeichneten. Dieser direkte Bezug der Postmoderne auf die Moderne ist, wie schon der Begriff expliziert, offensichtlich, und auch die verschiedenen Theorien der Postmoderne basieren ihrerseits auf verschiedenen Definitionen der Moderne. Insofern umschreibt der Terminus " Postmoderne" weniger einen temporalen Bruch mit der Moderne - "this idea of a linear chronology is itself perfectly

Question: What is Postmodernism?", ln: Thomas Docherty (Hg.), Postmodernism. A Reader, Cambridge 1993, S. 38-46 10 Zum besonderen Zusammenhang zwischen dem Erzählschema der Geschichtsphilosophie Hegels und der selbstaufklärerischen Erzähltechnik der Romane Jane Austens vgl. Dietrich Schwanitz, "Jane Austen und Hegel", ln: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Jg. 18 (1988), Heft 72, S. 101-107, sowie ders., Systemtheorie und Literatur, a.a.O., S. 181 ff. 11 Schwalm, Dekonstruktion im Roman, a.a.O., S. 95 12 Luhmann, "Das Moderne der modernen Gesellschaft", a.a.O., S. 30

64

EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

II: SELBSTREFLEXION

modern"13 -, und das "Post-" der Postmoderne bedeutet weniger ein "Nach" als eine Entgrenzung der Semantik des Modernismus und eine Reaktion darauf: "Modernismus und Postmodernismus sind nicht sinnvoll voneinander trennbar [... ) Postmoderne ist die Moderne in der Phase ihrer Selbstkritik und -Überschreitung. Der Begriff ist nicht eigenständig, weil ohne Moderne nicht denkbar."14 "Mit der kritischen Reflexion auf die eigenen Grundlagen bindet sich der postmoderne Diskurs zugleich wieder an die Grundlagen der Moderne an." 15 Das für die Postmoderne typische Unglaubwürdigwerden des "weltgeistigen" Subjektivismus der Moderne bzw . das Verschwinden der modernistischen Subjektivität in einem zentrumlosen Netz von Diskursen lässt sich systemtheoretisch reformulieren. Luhmann hält den Begriff "postmodern" für "unglücklich" und bezeichnet die Idee eines "postmodernen Zeitalters" als "absurde These"16, weil damit gerade jene Epistemologie bezeichnet werde, die die moderne Gesellschaft zur Selbstbeschreibung befähige. Luhmann zufolge bildet die Postmoderne vielmehr einen Diskurs ohne Zukunft, in dem Selbstbeobachtungsprobleme über Pluralismus abgearbeitet werden - im Gegensatz zur "klassischen Moderne", die Erwartungen in die Zukunft auslagerte, um die Gesellschaft von Problemen der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung freizuhalten. Ein "Bruch" entsteht demzufolge weniger mit den Strukturen der Moderne an sich als mit den aufklärerischen Modellen, die eine Beobachtung dieser Strukturen verhinderten: "Was abgeschlossen ist, scheint eher eine Übergangssemantik zu sein, die die alte Welt der Adelsgesellschaften hinter sich lassen musste, aber die moderne Gesellschaft noch nicht beobachten und beschreiben konnte, sondern aus dieser Unfähigkeit ein Zukunftsprojekt machen musste. Ich meine die Semantik der Aufklärung." 17 13 Jean-Francois Lyotard , "Note on the Meaning of ,Post-'", ln: Docherty (Hg .), Postmodernism. A Reader, a.a.O., S. 47-50; ZitatS. 48 14 Schwalm, Dekonstruktion im Roman, a.a.O., S. 251 15 Ebd., S. 109 16 Luhmann, "Ich sehe was, was du nicht siehst", a.a.O. , S. 230 17 Ebd., S. 233

65

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

Insofern sind Moderne und Postmoderne auch nicht als einander widersprechende Diskurse kontrastierbar. Vielmehr handelt es sich um ein Anwachsen der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft in Größenordnungen, die diese Differenzierung selbst zum Thema machen müssen, weil eine Legitimation von Seiten einer einheitlich-gesicherten Weltsicht nicht länger als gegeben betrachtet werden kann: "Wenn man unter Postmoderne das Fehlen einer einheitlichen W eltbeschreibung, einer für alle verbindlichen Vernunit oder auch nur einer gemeinsam-richtigen Einstellung zur Welt und zur Gesellschaft versteht, dann ist genau dies das Resultat der strukturellen Bedingungen, denen die moderne Gesellschaft sich selbst ausliefert."18

Die puristische und essenzialistische Emphase der Moderne lässt sich dann als Einheit betrachten, die von der postmodernen Reflexion als Einheit unterschiedlicher Unterscheidungen bloßgelegt wird. Anstelle eines unmöglichen Durchgriffs auf eine letzte Einheit operiert die funktional differenzierte Gesellschaft mit der Unterscheidung zwischen Referenz (Differenz Selbst-/ Fremdreferenz) und Codierung (Differenz positiver/negativer Codewert). Unter der Bedingung der Unmöglichkeit einer referierenden Einheit sind dann beide Seiten der Referenzunterscheidung für beide Codewerte erreichbar. 19 Die Ablehnung der Grand Recits und die damit korrelierende Selbstreferenzialisierung der Literatur im 20. Jahrhundert führt auch zu einer verstärkten Gewichtung metafiktionaler Literatur. Diese Affinität von Metafiktion und Postmoderne wird im folgenden Abschnitt untersucht.

18 Luhmann, "Das Moderne der modernen Gesellschaft", a.a.O. , S. 42 19 Vgl. Luhmann, "Das Moderne der modernen Gesellschaft", S. 30. Ein differenztheoretisches Verständnis der Postmoderne lässt zudem die teleologischen Vorstellungen rationaler Kommunikation, wie sie Habermas' Theorie des kommunikativen Handeins mit der Unterscheidung affirmativ/kritisch behauptet, als "spezifischen Fall von Blindheit" erscheinen: "Das, was für Jürgen Habermas Philosophie der Moderne ist, hat sich !rotz seines lnsistierens auf ,Nachmetaphysischem Denken' von jenen Prämissen noch nicht gelöst. Es hat sie nur prozeduralisiert." (Luhmann, "Ich sehe was, was du nicht siehst", a.a.O., S. 233)

66

EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

4.2

II: SELBSTREFLEXION

Postmoderne Metafiktion: Dekonstruktion von "Realität"

Seit dem 19. Jahrhundert operierte das Kunstsystem mit Unterscheidungen, ohne dabei die Frage nach der Einheit der Unterscheidung selbst zu stellen. Im realistischen Roman geschah dies durch die Selbstopakisierung des Erzählers gegenüber der von ihm erzählten Erzählung (vgl. 3.2). Die postmoderne Krise des Repräsentationsmodells des Grand Recit und der Referenzialität von Sprache führen dazu, dass derartige Erzählkonventionen ihre Plausibilität verlieren und höchstens noch zitathafte Verwendung finden können, etwa indem aus alten Materialien neue Pastiches entstehen.zo Die metafiktionale Ablehnung realistischer Kunst fällt also in den Zusammenhang einer postmodernen Problematisierung des Realitätskonzepts. Die writtenness jeglicher "Realität" lässt die Welt nicht mehr als gegeben erscheinen, sondern als konstruiert, als kontingent hinsichtlich diskursiver Signifikantensysteme. Diese subjektive Perspektivierung von Realitätserfahrung erzeugt ein Kontingenzbewusstsein, das sich auch in der Literatur äußert. So thematisiert postmoderne Metafiktion die Fiktionalität und Arbitrarität des Erzählten. Der selbstreflexive Roman lässt sich also als paradigmatisch für den epistemologischen Skeptizismus der Postmoderne auffassen: "When language loses its transparency, its ability to represent things, then Iiterature [...] will be seen to offer itself as a kind of model in the process of questioning the representational qualities of language."21 Um den Überraschungseffekt des Neuen weiterhin garantieren zu können, müssen die sich selbst hervorbringenden Handlungsmuster mit ihrem Lösungsprinzip der Wiedererkennbarkeil negiert bzw. die Handlung zur "Anti-Handlung" umfunktioniert werden:

20 Dies bedeutet jedoch nicht, dass solche Kunstwerke der Tradition entgegenstünden oder sie etwa "verlassen" könnten. Der autopoietische Charakter des Kunstsystems gibt vielmehr vor, dass auch jene Kunstwerke, die nicht mehr Spiegel der Realität, sondern Spiegel dieser Realitätsspiegelung selbst sind, anschlussfähig an traditionelle Vorgaben bleiben. Die Bezeichnung "Anti-Roman" für metafiktionale Romane ist insofern unglücklich gewählt. 21 Boyd, The Reflexive Novel, a.a.O., S. 170

67

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

"Postmodernism is the rejection of representation in favour of selfreference - the willing rejection of the work as an organic whole and the myth of the author; the rejection of character narrative and plot as meaningful or artistically defensible concepts or conventions; even the rejection of ,meaning' itself as a hopeless delusion."22 Der narrative Master Plot der Liebesgeschichte und seine Verwandten des Bildungsromans und der Detektivgeschichte können also höchstens noch als dekonstruierte Versionen ihrer selbst in Erscheinung treten. Dieses Phrasenhaft-Werden des Grand Recit in Folge der postmodernen Diskurs-Reflexivität findet demnach in der postmodernen Metafiktion seinen paradigmatischen Ausdruck: "[T]he formal and thematic self-consciousness of metafiction today is paradigmatic for most of the cultural forms of what Jean-Francois Lyotard calls our ,postmodern' world."23 Gegenüber der Kunst der "klassischen" Moderne, die Kohärenz und Form als zentral betrachtete, operiert die Metafiktion der Postmoderne in Richtung Fragmentarisierung und Unbestimmtheit. Moderne Literatur behielt, trotz aller radikalen Innovationen, die realistische Konvention des "Autor-Gottes" bei, der, etwa für Joyce, stets eingebettet in das literarische Werk war- und dahinter versteckt, "like the God of creation [... ] within or behind or beyond or above his handiwork, invisible, refined out of existence, paring his fingernails"24 • Entgegen dieser Vorstellung vom Autor als letztem Richter über die Bedeutung eines Textes macht die postmoderne Zurückweisung des Autor-Mythos' und aller Techniken, die auf Vereinheitlichung zielen, das Prinzip der Polyphonie zu einem Hauptmerkmal postmoderner Metafiktion. Damit wird der einheitlich-lineare Charakter realistischer Romane, die diese Komponente zu unterdrücken suchten, aufgebrochen: "Instead of resisting centrifugal tendencies, post-modernist fiction seeks to enhance them [... ] [by] breaking up the unified projected world in a polyphony of worlds of discourse."2s Zwar weisen auch moderne Romane polyphon-pluralistische Ansätze auf, doch diese bestehen nur innerhalb einer vereinheitli22 lhab Hassan, zitiert nach Hopper, F/ann O'Brien: A Porlrait, a.a.O., S. 17 f. 23 Hutcheon, Narcissistic Narrative, a.a.O., S. XII 24 James Joyce, A Porlrait of the Arlist as a Young Man (1916), London 1983, S. 194 f. 25 Brian McHale, Postmodernist Fiction, New York 1991 , S. 167

68

EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

II: SELBSTREFLEXION

chenden, monologischen Perspektive, also quasi als ein Nebeneffekt der Präsentation mehrerer points of view in einem Text. Die literarische Moderne gehört auch insofern noch einer realistischen Tradition an, als dass die Welt des subjektiven Bewusstseins als eine Art "wahre" Realität angesehen wurde: "Impressionism and Expressionism are disguised forms of mimesis."26 Metafiktionale Texte hingegen, insbesondere "postmoderne", benutzen Polyphonie vorsätzlich, um hinzuweisen auf die Schwierigkeit, einem Text eine einzige festgelegte Bedeutung zuzumuten - und machen damit zugleich dem Leser seinen Beitrag zur Rezeption des Textes bewusst: "Modernist self-consciousness [...], though it may draw attention to the aesthetic construction of the text, does not systematically flaunt its own conditions of artifice in the manner of contemporary metafiction." 27 "While modernism persued impersonality (,showing'), [...] contemporary metafictional texts persue Personality, the ironic flaunting of the Teller." 28 Die Zersetzung des romantischen Konzepts vom Autor als Schöpfer, das sich in einer authentischen Originalität des Geschriebenen manifestierte, zu Gunsten einer Reflexion der Tatsache, dass Selbstreferenzialität keine Totalität mehr produzieren kann, erfolgt d ann unter anderem durch das "Nachschreiben" vorheriger Texte bzw. eine parodierende Form von Intertextualität. Systemtheoretisch betrachtet, ist die postmoderne Intertextualität die letzte Konsequenz der Ausdifferenzierung des Kunstsystems. Da Kunstbeobachtungen nur noch im autopoietischen Netzwerk des Kunstsystems stattfinden können, also nur noch die Reflexion der Systemoperationen systembildend wirkt, müssen Unterscheidungen verwendet werden, die selbst aus dem Formenmaterial stammen, das als Kunst verfügbar ist. Das Kunstsystem muss über ein "Gedächtnis" verfügen, insbesondere bei einer autonomen Selbstprogrammierung von Kunstwerken, die eine Spezifikation der Verweisungszusammenhänge erforderlich macht. Die vergan-

26 Boyd, The Reflexive Novel, a.a.O., S. 20 27 Waugh, Metafiction, a.a.O., S. 21 f. 28 Ebd., S. 131

69

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

gene Kunst dient dann als "Möglichkeit einer externen Referenz, die

mit der Autonomie des Systems nicht interferiert"29. Der Versuch, die differenzierte, pluralistische Umwelt ins System hineinzukopieren, erfordert ein "Zitieren", das die moderne Einheitsvision ablöst durch die unterscheidende Reflexion von "Einheit". Vergangene Stile können dann als frei verfügbares Formenmaterial verwendet und Redundanz als Selbstsuggestion im eigenen System realisiert werden. Der postmoderne Stil der Stilmischung ist somit eine Letztform stilistischer Selbstreflexion. Doch auch als solche hat er sich kunstspezifischen Codierungskriterien auszusetzen: "[D]ie Kombination diverser Stilzitate ist nicht als solche schon Programm. Sie kann gelingen oder misslingen. Sie muss sich dem Code der Kunst stellen. Denn anders wäre sie nicht als Kunst erkennbar."3o So wie postmoderne Metafiktion alle Texte als Intertexte betrachtet, verkündet sie auch, dass jegliche Sprache eine Metasprache ist, zusammengesetzt aus einer Reihe von Diskursen innerhalb eines relativen Universums. Postmoderne Metafiktion verweist deshalb auf die ontologisch relevante linguistische Strukturiertheit der Realität - im Gegensatz zur erkenntnistheoretischen Orientiertheit moderner Kunst, die die Realität als subjektiv stukturiert begriff: "The dominant of modernist fiction is epistemological [... ], the dominant of post-modernism is ontological."31 Konkret äußert sich das vor allem in der Entlarvung der Realität als sprachliches Konstrukt, als ein Netz, das aus interdependenten semiotischen Systemen besteht und mit materiellen Gegebenheiten nicht korrespondiert: "Metafiction teaches, as does contemporary theory, that discourse is language as enonciation, involving [...] the contextualized production and reception of meaning." "[I]dentity itself- be it the reader's own orthat of the characters in fiction- is always an artistic construct." 32 In postmodern-metafiktionalen Texten wird der fiktionale Inhalt der Geschichte permanent gespiegelt von seiner formalen Existenz 29 30 31 32

70

Vgl. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.a.O., S. 489 Ebd., S. 340 McHale, Postmodemist Fiction, a.a.O., S. 9 f. Hutcheon, Narcissistic Narrative, a.a.O., S. 48, 51

EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

II: SELBSTREFLEXION

als Text und der Existenz dieses Textes innerhalb einer Welt, die als "textualisiert" wahrgenommen wird. Damit reflektiert postmoderne Metafiktion "a greater awareness within contemporary culture of the function of language in constructing and maintaining our sense of everyday ,reality"' 33. Im Zuge dieser Bloßlegung rückt vor allem das Problem der "Rahmung" in den Vordergrund. Im Gegensatz zur Kunst der Moderne weist postmoderne Metafiktion darauf hin, dass die Welt, wie wir sie sehen, ebenso wie Kunst, durch Rahmungen konstruiert wird. Die Brechung solcher Rahmungen lässt sich als eine fiktionale Form von Dekonstruktion verstehen: "The alternation of frame and frame-break (or the construction of an illusion through the constant exposure of the frame) provides the essential deconstructive method of metafiction."34 Indem postmoderne Metafiktion also die Paradoxiepotenziale wiederoffenlegt, die durch das Erzählmuster des Grand Recit verborgen wurden, reflektiert sie die "multiplicity of reality" 35 und erfüllt zugleich die Kunstfunktion, eine alternative, polykontexturale Version von Realität zu schaffen. Auch die damit erfolgenden radikalisierten re-entrys müssen aber - trotzdes Verzichts auf vereinheitlichende narrative Konventionen - auf das kunstcharakteristische Sichtbarmachen von Nicht-Beliebigkeit hinauslaufen: "Was in der Kunst sichtbar wird, ist nur die Unvermeidlichkeil von Ordnung schlechthin. Dass hierbei transhierarchische Strukturen, selbstreferenzielle Zirkel, transklassische Logiken und alles in allem größere Freiheitsgrade in Anspruch genommen werden, entspricht den gesellschaftlichen Bedingungen der Moderne und zeigt an, dass eine in Funktionssysteme differenzierte Gesellschaft auf Autorität und Repräsentation verzichten muss."36

Anhand welcher Techniken dies in Flann O' Briens metafiktionalen Romanen At Swim-Two-Birds und The Third Policeman geschieht, wird im Folgenden untersucht. Dafür lohnt sich zunächst ein Blick auf den soziokulturellen Kontext, in dem O' Brien seine

33 34 35 36

Waugh, Metafiction, a.a.O., S. 3 Ebd., S. 31 Boyd, The Reflexive Novel, a.a.O., S. 9. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.a.O., S. 241

71

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

Romane schrieb: das irische Gesellschafts- bzw. Kunstsystem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

72

5.

Flann O'Brien: At Swim-Two-Birds und

The Third Policeman

5.1

Flann O'Brien und das Kunstsystem im Irland des 20. Jahrhunderts

Um den postmodernen Charakter der metafiktionalen Romane At Swim-Two-Birds (1939) und The Third Policeman (1940) voll würdigen zu können, ist der historische Kontext zu berücksichtigen, in dem der irische Schriftsteller Flann O'Brien (1911-1966) lebte und schrieb. Dabei wird deutlich, dass sich ein System für Kunst in Irland erst deutlich später ausdifferenzieren konnte als dies auf dem europäischen Kontinent und in England der Fall war. Die Umstellung auf funktionale Differenzierung setzte in der irischen Gesellschaft verzögert ein: "Modern industrial society had not really come to Ireland before the Sixties [of the twentieth century]." 1 Die Gründe dafür liegen vor allem in einer Politik der kulturellen De-Anglisierung und damit auch De-Europäisierung, die Irland im Gefolge der "Horne Rule" -Forderung kennzeichnete. Der unerfüllte Wunsch nach politischer Selbstbestimmung fand eine Kompensation in der so genannten Irish Renaissance, die sich zeitlich etwa von 1890 bis 1920 erstreckte.z Diese Bewegung wollte Fintan O'Toole: .,lsland of Saints and Silicon: Literature and Society in Contemporary lreland", ln: Michael Kenneally (Hg.), Cultural Gontexts and Literary Idioms in Contemporary lrish Literature, Gerrards Cross 1988, S. 11-35; Zitat S. 13 2 Vgl. Heinz Kosok, Geschichte der anglo-irischen Literatur, Berlin 1990, S. 148

73

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

das "irische Irland", das "authentic life of a nation long subjected to alien suppression"3 durch den Rückgriff auf eine ältere, identitätsstiftende Kultur zelebrieren. Das äußerte sich in einem Wiederaufleben der gälischen Sprache und keltischer Brauchtümer und brachte auch einen Okkultismus hervor, der dem englischviktorianischen Materialismus kontrastiv entgegenstand.4 Es formierten sich eine Reihe nationalistisch gesinnter Bewegungen wie die Gaelic League oder die Sinn Fein, die das Ziel einer unabhängigen Republik Irland verfolgte. Von Bedeutung für den Bereich der Kunst und Literatur war vor allem das Irish Literary Movement mit seinen Schlüsselgestalten William Butler Yeats und George William Russell (alias "A.E."). Mit der 1921 erfolgten Anerkennung Irlands als Freistaat innerhalb des britischen Empires hatte die Irish Renaissance zwar das Ziel der Unabhängigkeit erreicht, doch die "Frage nach der nationalen Identität stellte sich jetzt um vieles schärfer als zuvor, weil sie nicht mehr mit der bloßen Ablehnung der britischen Herrschaft zu beantworten war"s. Die Folge war eine umso drastischere Nationalisierung und Moralisierung, die auch den Bereich der Kunst umfasste. In den 20er und 30er Jahren hatte deshalb nahezu jeder irische Schriftsteller mit der öffentlichen Meinung zu kämpfen, was die meisten von ihnen in die Provinzialisierung trieb. 6 Die katholische Kirche tat ein übriges, um diese repressiven Tendenzen zu verstärken. Sie verlangte von der Literatur ein "[...] entschiedenes Eintreten für katholische Vorstellungen im Gesamtbereich von Moral und gesellschaftlichem Verhalten und häufig sogar aktive Propaganda. Soweit sich die Literaten dem nicht beugten, wusste die Kirche hart durchzugreifen, indem sie ihnen die Reputation und die Existenzgrundlage entzog." 7 So trug die Kirche auch maßgeblich dazu bei, dass 1929 mit dem "Censorship of Publications Act" eine offizielle staatliche Zensur3 Terence Brown, "Yeats, Joyce and the Current lrish Critical Debate", ln: Kenneally (Hg.), Cultural Contexts, a.a.O., S. 113-123; ZitatS. 113 4 Schwanitz, Englische Kulturgeschichte, a.a.O., S. 426 5 Kosok, Geschichte der anglo-irischen Literatur, a.a.O. , S. 157 6 Vgl. Richard Fallis, The lrish Renaissance. An lntroduction to Anglolrish Literature, Dublin 1978, S. 171 7 Kosok, Geschichte der anglo-irischen Literatur, a.a.O., S. 159

74

FLANN O'BRIEN: AT SW!M-TW0-8/RDS UND THE TH!RD POLICEMAN

behörde etabliert wurde. Die Literatur, die im Irland der 20er und 30er Jahre entstand, tendierte also zu einem nationalistischen Provinzialismus, sie war großenteils "unkritisch, moralisch, engstirnig und fremdenfeindlich"S und reflektierte damit die Situation eines Staates, der seine nationale Identität noch nicht gefunden hatte und seine gegenwärtigen Probleme über eine "Rückkehr zu pseudo-historischen Verhältnissen"9 lösen wollte. Ein System für Kunst konnte sich in dieser Gebundenheit an Religion und Staat nur schwierig ausdifferenzieren. Auch einer Selbstbeschreibung der Kunst in Form einer kunstkritischen Theorie war kaum Platz eingeräumt: "They [the writers] suffered also from the Iack of criticism. There were no resident critics of real ability; because of the friendly smallness of the community, most observers of their work tempered criticism with kindness, at least in print." 1o In diesem kulturellen Klima dominierte im Bereich der Literatur eine neoromantische Mystik a la Yeats, zu der Joyces europäische Ambitionen keine tiefergreifende Alternative darstellten. Joyces Reaktion "auf die selbstverordnete nationale Enge und irische Agrarromantik mit einem Bekenntnis zur Internationalität" 11 im Ulysses (1922) wirkte sich stärker auf das restliche Europa aus als auf Irland, wo man eher zu "a kind of revolt against his greatness"12 neigte: "To many, in a decade of aggressive nationalism Joyce's literary aspirations must have seemed an affront."13 Joyces Leistung wurde also eher als europäisches Phänomen identifiziert, was wiederum den Kontrast zwischen der irischen Provinzialität und der kulturellen Hegemonie Englands und Europas veranschaulicht. Die Verfassung von 1937 und die Aufkündigung des Handelsabkommens mit Großbritannien verschärften die für Literaten ungünstige Situation weiter. Einen Höhepunkt der kulturellen Isolation bedeutete die irische Kriegsneutralität im 2. Weltkrieg: 8 Ebd., S. 160 9 Ebd. 10 Maurice Harmon, "The Era of lnhibitions: lrish Literature 1920-1960", ln: Masaru Sekine (Hg.), lrish Writers and Society at Large, New Jersey 1985, S. 31-41; Zitat S. 36 11 Schwanitz, Englische Kulturgeschichte, a.a.O., S. 428 12 Kate O'Brien, "Imaginative Prose by the lrish, 1820-1970", ln: Joseph Ronsley (Hg.), Myth and Reality in lrish Literature, Waterloo 1977, S. 305-315; ZitatS. 312 13 Brown, "Yeats, Joyce ... ", a.a.O. , S. 116

75

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

"Die internationale Kulturentwicklung, die schon vorher wegen ihrer (angeblichen oder tatsächlichen) Religionsfeindlichkeit, politischen Gefährlichkeit und sexuellen Freizügigkeit weitgehend aus Irland herausgehalten worden war, erreichte das Land nun kaum noch. Die Phasenverschiebung zwischen der anglo-irischen und der kontinentalen Literatur[ ...] hat hier ihren Hintergrund."I4 Viele Schriftsteller flohen daher wie Joyce vor der Romantisierung des Bäuerlichen und der Glorifizierung irischer Traditionen ins Exil. Diejenigen, die wie Flann O'Brien im Lande blieben, waren aber dennoch nicht vollkommen isoliert von den künstlerischen Entwicklungen der europäischen Moderne: "He [the writer] badly needed to counter the intellectual and technical disadvantages of being madeinsular by his country's isolationist policies and trends. Europe [...] affered rich and varied examples of how writers related to particular environments and almost every Irish writer learned by European example." 15 Auch Flann O'Brien konnte also zurückgreifen auf die Errungenschaften der literarischen Moderne. Sein Verhältnis zur literarischen Situation im freistaatliehen Irland ist aber vor allem durch Ambivalenz gekennzeichnet - sowohl gegenüber der gälischagrarischen Nationalliteratur als auch gegenüber d er kosmopolitischen literarischen Moderne. Bezüglich d er "Irishness", die in Irland zu Beginn des Jahrhunderts in Mode kam, empfand Flann O'Brien durchaus eine Affinität. Er wuchs zweisprachig auf, und in seiner Familie wurde hauptsächlich Gälisch gesprochen. In seiner Jugend unternahm er Ausflüge in die irisch-sprachige Gegend Donegals (Gaeltacht), um die irische Sprache und Kultur besser kennenzulernen, und studierte schließlich Gälisch (und Deutsch) am Dubliner University College. Andererseits hegte O'Brien auf ästhetischer Ebene eine dezidierte Abneigung gegenüber dem Trend nativistischer Schriftstellerei, der einer postkolonialen Rückwendung zu gälischen Traditionen folgte, und der ihm typisiert erschien in John Millington Synges Playboy of the Western World (1907) . In seiner Cruiskeen Lawn-Kolumne, die er unter dem Pseudonym Myles na Gopa14 Kosok, Geschichte deranglo-irischen Literatur, a.a.O., S. 161 15 Harmon, "The Era of lnhibitions .. .", a.a.O., S. 36 f.

76

FLANN O'BRIEN: AT SW!M-TW0-8/RDS UND THE TH!RD POLICEMAN

leen16 in der Irish Times schrieb, artikulierte er seine Abneigung gegen Synges Werk und dessen Folgen: "[I]n Synge we have the virus isolated and recognisable [...] [H]e brought forward with the utmost solemnity amusing clowns talking a sub-language of their own and bade us take them very seriously [...] That comic ghoul with his wakes and mugs of porter should be destroyed finally and forever." 17

Eine satirische Dekonstruktion dieser Form des "Irishness" -Mythos' lieferte Flann O'Brien mit dem Roman An Beal Bocht (1941, in englischer Sprache 1973 unter dem Titel The Poor Mouth), einem "hilarious send-up of the autobiography of the Gaelic-speaking innocent" 18. Dass Flann O'Brien sich überhaupt der gälischen Sprache zuwandte, mag auch an der Erfolglosigkeit der Erstauflage von At Swim-Two-Birds gelegen haben sowie an der Tatsache, dass The Third Policeman vom Longmans-Verlag abgelehnt wurde mit dem Hinweis, sein Verfasser "should become less fantastic" 19 (das Buch erschien erstmals posturn 1967). Nach An Beal Bocht verfasste O'Brien knapp zwanzig Jahre lang keinen Roman. Erst nach der erfolgreichen Wiederveröffentlichung von At Swim-Two-Birds Anfang der 60er Jahre widmete er sich wieder der Schriftstellerei. Seine beiden späten Romane, The Hard Life (1961) und The Dalkey Archive (1964), fallen jedoch deutlich hinter den künstlerischen Anspruch seines Frühwerks zurück.2D Ebenso wenig wie einem Yeats' schen "Celtic Revival"21 konnte sich O'Brien allerdings einem Modernismus a la Joyce verschreiben. Seine Ablehnung eines modernistischen Ethos', wie es ihm 16 Auch der Name Flann O'Brien ist ein Pseudonym. O'Briens Geburtsname lautet Brian O'Nolan; ir. Briain O'Nuallain. 17 Zitiert nach J.C.C. Mays, "Brian O'Nolan: Literalist of the Imagination", ln: Timothy O'Keeffe (Hg.), My/es: Portraits of Brian O'Nolan, London 1973, S. 77-119; ZitatS. 78 18 Fallis, The lrish Renaissance, a.a.O., S. 219 19 Zitiert nach Hopper, O'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 58. Vgl. auch Colbert Kearney, "The Treasure of Hungry Hili: The lrish Writer and the lrish Language", ln: Kenneally (Hg.), Cultural Contexts, a.a.O., S. 124-135, v.a. S. 124 f. 20 Vgl. etwa Hopper, O'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 49 ff. 21 Den von Yeats geprägten Begriff des "Celtic Twilight" veralberte O'Brien als "Celtic Toilet", vgl. Myles na Gopaleen, The Hair of the Dogma. A Further Se/ection from "Cruiskeen Lawn", Kevin O'Nolan (Hg.), London 1987, S. 166

77

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

Joyce paradigmatisch verkörperte, formulierte er zum Beispiel in dem Essay A Bash in the Tunnel (1951), in dem er Joyce porträtiert und kritisiert als einen Schriftsteller, der noch immer einem traditionell-realistischen Konzept vom Autor-Gott anhängt. Joyces CEuvre beschreibt O'Brien als "a garden in which some of us may play"22. O'Brien bewunderte zwar Joyces literarische Artistik, warf dem literarischen Übervater aber vor, seine Kunst wäre "stepped beyond its prerogatives and lost its hold on reality" n . O'Brien zufolge bestand Joyces Hauptanliegen darin, sich mit einer unzugänglich-esoterischen Aura zu umgeben: Joyces "original simple and pure aim had been, not to be understood, certainly not to be misunderstood, but to be un-understood."24 Dass auch O'Briens Romane einen "hit at Joyce's overweening pretensions as an artist and his God-rivalling ,tourdeforcity"' 25 darstellen, wird vor allem die Analyse von At Swim-Two-Birds zeigen. Die Ablehnung eines modernistischen Autor-Kults drückte Flann O'Brien auch dadurch aus, dass er selbst unter verschiedenen Pseudonymen schrieb, sich also schon formal von seinem Werk distanzierte: "Compartmentation of personality for the purpose of literary utterance ensures that the fundamental individual will not be credited with a certain way of thinking, fixed attitudes, irreversible technique of expres22 Flann O'Brien, "A Bash in the Tunnel", ln: ders., Stories and Plays, London 1991, S. 167-175; ZitatS. 175. O'Briens Skepsis erstreckte sich auch auf andere Autoren der literarischen Moderne wie Kafka, Eliot und Pound, die er charakterisierte als "layabouts from the slums of Europe, poking araund in their sickly little psyches": Myles na Gopaleen, zitiert nach Anthony Cronin, No Laughing Matter. The Life and Times of Flann O'Brien, London 1989, S. 166 23 Mays, "Brian O'Nolan: Literalist of the Imagination", a.a.O., S. 80. Zu den Resultaten der Hassliebe O'Briens gegenüber Joyce auf literarischer Ebene vgl. auch ders., "Brian O'Nolan and James Joyce on Life and Art", ln: James Joyce Quarterly 11 (Spring 1974), S. 238256. Eine besondere Stellungnahme gegenüber Joyce ist natürlich Joyces Fiktionalisierung als Figur in The Dalkey Archive: ln einer Art "druidic revenge" (Hopper, O'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 32) lässt O'Brien Joyce auftreten als einen unterwürfigen Möchtegern-Jesuiten, der die Autorschaft seiner Romane von sich weist. 24 Myles na Gopaleen, zitiert nach David Powell, "An Annotated Bibliography of Myles na Gopaleen's ,Cruiskeen Lawn' Commentaries on James Joyce", ln: James Joyce Quarterly 9 (Fall 1971 ), S. 50-62; ZitatS. 56 25 Ebd., S. 78

78

FLANN O'BRIEN: AT SW!M-TW0-8/RDS UND THE TH!RD POLICEMAN

sion. No author should write under his own name nor under one permanent pen-name."2fi Der Kontrast zwischen Verfasser und Werk bildet auch eine Basis für die Metafiktionalität der Romane At Swim-Two-Birds und The Third Policeman. Dass Flann O'Brien mit diesen Werken das Genre der postmodernen Metafiktion mitbegründete, steht also im Zusammenhang mit der Alternativenlosigkeit, der er sich ausgesetzt sah angesichts der Wahlalternative zwischen provinziellem Nationalismus und elitärem Modernismus. In einer Zeit, die durch künstlerische Unfreiheit und "little of an intellectual tradition to refer to"27 geprägt war, wählte O'Brien den Ausweg metafiktionaler Selbstbezüglichkeit: "Given O'Brien' s revulsion at Irish realism and his reservations toward international modernism, metafiction becomes the paraliterary path he chooses [...] O'Brien attempts to forge a new synthesis; harnessing the energy of most modernist experimentation in order to re-vitalise the subdued fire of the Irish comic tradition."28 So konnte sich das Paradox entfalten, dass in einem Land, dessen Literatur unter einer Isolierung von internationalen Entwicklungen litt, und das "compared to other countries [...] pretty devoid of artistic experimentating" 29 war, wesentliche Grundzüge post26 Myles na Gopaleen, zitiert nach Hopper, O'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 29 f. 27 Harmon, "The Era of lnhibitions", a.a.O., S. 36 28 O'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 40 f. O'Briens Lösung ist damit Teil der generellen Tendenz, fremdreferenzielle Probleme über Selbstreferenzialisierung abzuarbeiten. Diese bereits aus der Romantik bekannte Problematik (vgl. 3.1) zeigt sich jedoch im 20. Jahrhundert besonders deutlich - "Contemporary fiction clearly reflects this dissatisfaction with, and breakdown of, traditional values" (Waugh, Metafiction, a.a.O., S. 6). Vgl. zur Selbstreflexivität als Lösung zeitgenössischer Romanprobleme auch Ernst-Uirich Klein , Die frühen Romane Flann O'Briens: At Swim-Two-Birds und The Third Policeman, Diss. , Münster 1971, v.a. S. 3 ff. Eine ähnliche Situation unmoderner Umweltbedingungen als Zündstoff für gesteigerte Kreativität lässt sich am Beispiel der Wiener Moderne beobachten. Vgl. Allan Janik, "Kreative Milieus: Der Fall Wien", ln: Peter Berner u.a. (Hg.), Wien um 1900. Aufbruch in die Moderne, München 1986, S. 45-55, v.a. S. 54 29 Rüdiger lmhof, "lntroduction", ln: ders. (Hg.), lreland: Literature, Cu/ture, Politics, Heidelberg 1994, S. 7-16; ZitatS. 10

79

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

moderner Metafiktion gelegt wurden. Die Tatsache, dass Flann O'Brien zu einer Blütezeit der kulturellen Selbstisolierung Irlands eine literarische Ausnahmeerscheinung darstellte - "In the postrevolutionary period, only Flann O'Brien could be regarded as an experimental novelist" 30 -, beweist zugleich, "dass eine solche Abschottung nie vollständig sein kann"31. In der folgenden Analyse von Flann O'Briens Romanen At Swim-Two-Birds und The Third Policeman sollen vor allem deren spezifisch postmoderne Charakteristika aufgezeigt werden. Die Metafiktionalität, die in At Swim-Two-Birds offen, im Third Policeman verdeckt in Erscheinung tritt, bildet dabei einen kunstkommunikativen Kontrapunkt sowohl gegenüber dem Grand Recit, der die im Tristram Shandy bloßgelegten Paradoxiepotenziale verdeckte, als auch gegenüber den Implikationen der literarischen Moderne.

5.2

At Swim-Two-Birds: Offen-polyphone Dekonstruktion des Grand Recit A satisfactory novel should be a self-evident sham

(At Swim-Two-Birds) Mit At Swim-Two-Birds (1939) schuf Flann O'Brien einen metafiktionalen Roman, der sich selbst auf mehreren Ebenen, als Roman im Roman im Roman, offen thematisiert. Dieses Chinese-boxKonstruktionsprinzip beginnt bei dem namenlosen Ich-Erzähler32, ein bei seinem Onkel lebender Dubliner Student, der an einem Manuskript arbeitet und deshalb oft und ausgiebig über seine "spare-time literary activities" (AS2B: 9, passim) sinniert. Bereits der Anfang des Buches veranschaulicht dieses autokritischselbstreflexive Moment: "Having placed in my mouth sufficient bread for three minutes' chewing, I withdrew my powers of sensual perception and retired into the 30 Harmon, "The Era of lnhibitions", a.a.O., S. 40 f. 31 Kosok, Geschichte deranglo-irischen Literatur, a.a.O., S. 212 32 Die Namenlosigkeit des Erzählers (auch der Erzähler des Third Policeman bleibt unbenannt) mag im Zusammenhang stehen mit O'Briens Vorliebe für Pseudonyme und Spiele mit der eigenen Identität. Vgl. Sue Asbee, Flann O'Brien, Boston 1991, S. 24

80

FLANN O'BRIEN: AT SW!M-TW0-8/RDS UND THE TH!RD POLICEMAN

privacy of my mind [...] I reflected on the subject of my spare-time literary activities. One beginning and one ending for a book was a thing I did not agree with. A good book may have three operrings entirely dissimilar and inter-related only in the prescience of the author, or for that matter one hundred times as many endings." (AS2B: 9) 33 Konsequenterweise präsentiert der Autor-Erzähler anschließend seine (explizit numerierten) "Examples of three separate openings" (AS2B: 9), die bereits eine polykontextmale Mischung dreier heterogener Stile - Folklore, zeitgenössische Prosa und historische Legende - darstellen und am Ende ebenso offen selbstreflexiv durch drei "Conclusions"34 beschlossen werden. Auch die ebenenverschachtelnde Struktur von At Swim-TwoBirds gründet auf drei Haupt-Plots: Als zweite Erzählebene neben der autobiografischen Geschichte des Ich-Erzählers fungiert die Handlung seines Manuskriptes, in der ein weiterer Autor, Dermot Trellis, ebenfalls einen Roman verfasst. Daraus eröffnet sich später eine dritte Erzählebene, auf der das Grundmotiv des literarischen Schaffensprozesses umgekehrt wird, indem sich Trellis' Romancharaktere gegen ihren Schöpfer auflehnen und sich an ihm rächen: "In At Swim-Two-Birds the snake of fiction curls up and swallows its own tail."3s Das diesem selbstdekonstruktiven Muster zu Grunde liegende Gestaltungsprinzip formuliert der Erzähler selbst in einer Art Romantheorie: "The novel, in the hands of an unscrupulous writer, could be despotic [...] [A] satisfactory novel should be a self-evident sham to which the reader could regulate at will the degree of his credulity. It was undemocratic to compel characters to be uniformly good or bad or poor or rich.

33 Zitiert wird nach der Penguin-Twentieth-Century-Ciassics-Ausgabe, Harmondsworth 1967 34 "Conclusion of the book antepenultimate" (AS2B: 208), "Conclusion of the book, penultimate" (AS2B: 215), "Conclusion of the book, ultimate" (AS2B: 216) 35 Richard Kearney, "A Crisis of Imagination", ln: The Crane Bag 111, 1 (1979), S. 58-70; ZitatS. 64. Die Thematik der gegen ihren Autor rebellierenden Charaktere hatte O'Brien unter dem Pseudonym "Brother Barnabas" bereits 1934 in der Kurzgeschichte "Scenes in a Novel" aufgegriffen. Vgl. Brother Barnabas, Scenes in a Novel, repr. Journal of lrish Literature, Vol. 3, No. 1 (January 1974), California. Zu O'Briens literarischen Anfängen vgl. auch Thomas F. Shea, Flann O'Brien's Exorbitant Novels, Lewisburg (Pa.) 1992, S. 17-49

81

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

Each should be allowed a private life, self-determination and a decent standard of living." (AS2B: 25) Entscheidend ist, dass At Swim-Two-Birds damit von seinem Erzähler selbst als unverhüllte Metafiktion- "a self-evident sham" charakterisiert wird, die den Grand Recit des traditionellen, potenzieii "despotischen" realistischen Romans und das damit verbundene Konzept des gottgleichen, allwissenden Erzählers bewusst auseinandernimmt. Diese konventionellen Werte verkörpert in At Swim-Two-Birds Dermot Treiiis, der schriftsteilemde Hauptcharakter des Erzähler-Manuskripts: "Trellis [...] is writing a book on sin and the wages attaching thereto. He is a philosopher and a moralist. [...]He realizes that a purely moralizing tract would not reach the public. Therefore he is putting plenty of smut into his book. There will be no less than seven indecent assaults on young girls and any amount of bad language." (AS2B: 35) "It appeared to him [Trellis] that a great and a daring book - a green book - was the crying need of the hour - a book that would show the terrible cancer of sin in its true light and act as a clarion-bell to torn humanity [...] In his book he would present two examples of humanity - a man of great depravity and a woman of unprecedented virtue. They meet. The woman is corrupted, eventually ravished and done to death in a back lane. Presented in its own milieu, in the timeless conflict of grime and beauty, gold and black, sin and grace, the tale would be a moving and a salutary one [...] How well he knew that the beetle was of the dunghill, the butterfly of the flower!" (AS2B: 36) Trellis' Ästhetik ist also verankert in der soziorealistischen Tradition des europäischen Romans und kennzeichnet ihn als einen "moralisierenden Tendenzschriftsteller"36. Damit bildet er eine kontrastive Spiegelung jener poetologischen Vorstellungen, die der Erzähler auf der ersten Erzählebene propagiert.37 Während Letzterer einen "demokratischen" Roman fordert, der klar als Artefakt erkennbar sein müsse, unterdrückt Trellis seine Charaktere und versucht seine Geschichte durch ein fiktives " Extract from 36 Klein, Die frühen Romane ... , a.a.O., S. 49 37 Dieser Kontrast wird parallelisiert durch Brinsley, einen Freund des Ich-Erzählers, der dessen Manuskript-Auszügen mit einer traditionellen Kritik begegnet, indem er behauptet, die einzelnen Charaktere seien nicht deutlich genug individualisiert. Vgl. AS2B: 160 f.

82

FLANN O'BRIEN: AT SW!M-TW0-8/RDS UND THE TH!RD POLICEMAN

Press" (AS2B: 40) zu objektivieren und plausibilisieren. Die schriftstellerische Beschränktheit, die Trellis damit unterstellt wird, präsentiert sich auch in absurden Anomalien wie seinem auf grüne Bücher reduzierten Rezeptionshabitus:3S "All colours except green he regarded as symbols of evil and he confined his readings to books attired in green covers [... ] [T]his arbitrary rule caused serious chasms in his erudition. The Bible, for instance, was unknown to him [... ]" (AS2B: 99) Die Möglichkeit zur despotischen Unterdrückung seiner Figuren erhält Trellis durch die Methode der "Aestho-autogamy" (AS2B: 40), die den Begriff des literarischen Schaffens wörtlich nimmt. Der Autor kann damit "fertige" Personen ins Leben rufen und über sie verfügen: "Aestho-autogamy, with one unknown quantity on the male side [... ] has long been commonplace [... ] It is a very familiar phenomenon in literature." (AS2B: 40). 39 Bei der Kreation von John Furriskey, der die Rolle des geplanten Bösewichts in seinem moralischen Roman besetzen soll, erscheint Trellis diesem als ein übermächtiges Gewölk, "a supernatural cloud or aura resembling steam" (AS2B: 49) - ein gottähnlicher Schöpfer also im wahrsten Sinne: "A voice came from the interior of the cloud. Are you there, Furriskey? it asked. Furriskey experienced the emotion of fear which distorted foratime the character of his face [... ] Yes Sir, he answered." (AS2B: 50)40 Der Autor-Gott programmiert seine Kreation anschließend auf die ihr zukommende Funktion innerhalb seines Werkes: "It was pointed out to him by the voice that he was by vocation a voluptuary concerned only with the ravishing and destruction of the fair sex.

38 Dass es sich gerade um die irische Nationalfarbe grün handelt, ist natürlich auch ein Seitenhieb in Richtung lrish Renaissance. 39 O'Brien schuf damit für den Roman das, was Pirandello im Drama erbrachte, v.a. in seinem Stück Six Persans in Search of an Author (1921 ). Vgl. auch Ninian Mellamphy, "Aestho-Autogamy and the Anarchy of Imagination: Flann O'Brien's Theory of Fiction", ln: Rüdiger lmhof (Hg.), Alive Alive 0!: Flann O'Brien's At Swim-Two-Birds, Dublin 1985, S. 140-160. Mit der Schaffensmethode der "aestho-autogamy" erhält auch der dem Roman vorangestellte, konventionelle Hinweis "All characters represented in this book, including the first person singular, are entirely ficticious" eine metafiktional-satirische Färbung. 40 Diese Szene ist zugleich eine Anspielung auf die Schaffung Adams durch Gott, die eine weitere ironische Brechung dadurch erhält, dass Trellis die Bibel gar nicht kennt (s.o.)

83

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

Hishabitsand physical attributes were explained to him in some detail [... ] At the conclusion of the interview, the voice administered a number of stern warnings as to the penalties which would befall him should he deviate, even in the secrecy of his own thought, from his mission of debauchery." (AS2B: 51 f.) O'Brien porträtiert den idealtypischen allmächtigen Autor des traditionellen Romans also als einen autoritären Tyrannen, der gebieterisch über seine Figuren verfügen kann. Um sie unter Kontrolle zu halten, zwingt Trellis seine Charaktere "to live with him in the Red Swan Hotel so that he can keep an eye on them and see that there is no boozing" (AS2B: 35). Die herkömmliche, hierarchische Relation zwischen Autor und Romanfigur wird weiter ins Groteske gesteigert durch die Tatsache, dass den Figuren - in unterschiedlichem Maße - ein Selbstbewusstsein zugestanden wird. Furriskey etwa entpuppt sich dabei als ein im Grunde friedliebender Humanist, womit eine satirische Diskrepanz zwischen Wesen und Funktion der Figuren eröffnet wird. Zudem antizipiert Trellis selbst die Rolle des Unholds, die er Furriskey zugedachte, in dem er sich an der vorgesehenen Opfer-Figur, der ebenfalls von ihm geschaffenen Sheila Lamont, persönlich vergeht. In dieser leibhaftigen Vergewaltigung erhält das Unterdrückerische Verhältnis des allwissenden Autoren gegenüber seinen Figuren seinen prägnantesten Ausdruck: "Trellis, in order to show how an evil man can debase the highest and lowest in the same story, creates a very beautiful and refined girl called Sheila Lamont [... ] Trellis creates Miss Lamont in his own bedroom and he is so blinded by her beauty (which is naturally the type of beauty nearest to his heart), that he so far forgets hirnself as to assault her himself." (AS2B: 61) Diese Form der Ebenenvermischung von Erzählen und Erzähltem dient aber nicht nur dazu, die asymmetrische Autor-FigurenRelation im konventionellen Roman zu verdeutlichen. Auf der dritten Erzählebene erhalten die Charaktere nämlich die Möglichkeit, eine Autonomie gegenüber ihrem Diktator zu verwirklichen und sich an ihm zu rächen. Diese Rache erfolgt über Orlick Trellis, den Sohn, den Dermot Trellis bei der Vergewaltigung Sheila Lamonts zeugte.

84

FLANN O'BRIEN: AT SW!M-TW0-8/RDS UND THE TH!RD POLICEMAN

Orlick hat das schriftstellerische Talent seines Vaters geerbt und kann diese Gabe stellvertretend für das gesamte Figureninventar nutzen, "to turn the tables (as it were) and compose a story on the subject of [Dermot] Trellis, a fitting punishment indeed for the usage he has given others" (AS2B: 164).41 In dieser quasiödipalen Gegenerzählung wird Dermot Trellis nicht nur einer Reihe körperlicher Qualen ausgeliefert, sondern schließlich auch einer Gerichtsverhandlung, in der die Figuren- "twelve kings on the throne" (AS2B: 194) - als zugleich Richter und Zeugen dem angeklagten Romantraditionalisten Trellis gegenüberstehen. Die dort gegen ihn erhobenen Vorwürfe führen das Motiv der Anklage des Autor-Despoten fort und weiten die Gerichtsverhandlung zudem zu einem Strafprozess gegen den Schriftsteller im allgemeinen, da Trellis als "a member of the author-class" (AS2B: 99) eingestuft wird. So wird er etwa beschuldigt, Paul Shanahan unterhalb dessen Fähigkeiten und unter miserablen Bedingungen angestellt zu haben: "[H]is [Shanahan's] talents, however, were ignored, and he was compelled to spend his time directing and arranging the activities of others, many of whom were of inferior ability as compared with himself. He was forced to live in a dark closet in the Red Swan Hotel and was allowed little or no liberty." (AS2B: 202) Diese Zurückweisung des omniscient narrator auf diegetischer Ebene korreliert in At Swim-Two-Birds mit metafiktionalen Techniken, die den Grand Recit des realistischen Romans auch auf formaler Ebene dekonstruieren. Dazu zählt eine offensichtliche Betonung von Intertextualität, die darauf hinweist, dass postmoderne Selbstreferenzialität auf autoritäre Weltentwürfe verzichten muss, sich also nicht wie der traditionelle Roman als eine erzählerische Einheit sui generis plausibilisieren kann. Angesichts des Verlusts gültiger Repräsentationsmodelle können Texte nicht mehr als selbstgenügsame, hermeneutische Ganzheiten auftreten, sondern haben sich im Gegenteil durch die Darstellung von Kontingenz zu bewähren. Autor und Text werden in einem solchen Kontext re41 Klein bezeichnet die Bezüge der drei Erzählebenen aufeinander als "dialektische Triade": Die dritte Erzählebene negiert die zweite, welche wiederum die poetologischen Vorstellungen des Ich-Erzählers der ersten Ebene negiert. Vgl. Klein, Die frühen Romane ... , a.a.O., S.27

85

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

duziert zu einer Art Schnittstelle, an der sich Zitate, Echos und Referenzen kreuzen: "[A] text is not a line of words releasing a single ,theological' meaning (the message of the author-God) but a multi-dimensional space in which a variety of writings, none of them original, blend and crash. The text is a tissue of quotations drawn from the innumerable centers of culture [...] The writer can only imitate a gesture that is always anterior, never original. His only power is to mix his writings, to counter the ones with the others, in such a way as tonever rest on any one of them." 42 Einen ähnlich poststrukturalistischen Standpunkt wie Roland Barthes vertritt auch der Erzähler aus At Swirn-Two-Birds in seiner Romantheorie. Dort wird die Intertextualität sogar zum Plagiatismus ausgeweitet: "Characters should be interchangeable between one book and another. The entire corpus of existing Iiterature should be regarded as a limbo from which discerning authors could draw their characters as required, creating only when they failed to find a suitable existing puppet. The modern novel should be largely a work of reference." (AS2B: 25) Auf diegetischer Ebene wirkt sich diese Forderung satirisch gesteigert dadurch aus, dass der Traditionalist Dermot Trellis sich fiktional-reale Charaktere aus fremden Werken "ausleiht" oder "mietet". Doch auch Trellis selbst ist einem Fremdtext nachempfunden, wie der Erzähler mitteilt: "I[...] reached a hand to the mantelpiece and took down the twenty-first volume of my Conspectus of the Arts and Natural Sciences. Opening it, I read a passage which I subsequently embodied in my manuscript as being suitable for my purpose. The passage had in fact reference to Doctor Beatty (now with God) but boldly I took it for my own." [Neuer Absatz:]

42 Roland Barthes, "The Death of the Author" (1977), ln: David Lodge (Hg.), Modern Criticism and Theory. A Reader, London 1988, S. 167-172; ZitatS. 170. Vgl. auch Waugh, Metafiction, a.a.O., S. 16: .,[Metafictionalists] reject the traditional figure of the author as a Iranscendental imagination [... ] They show [ ...] that the ,author' is a concept produced through previous and existing literary and social texts."

86

FLANN O'BRIEN: AT SW!M-TW0-8/RDS UND THE TH!RD POLICEMAN

"Extract from ,A Conspectus of the Artsand Natural Sciences', being a further description ofTrellis' person [.. .]" (AS2B: 30)

Darüberhinaus weist die Chinese-box-artige Gesamtkonzeption von At Swim-Two-Birds nicht nur deutliche Parallelen auf zu James Branch Cabells Roman The Cream of the fest (1917) und Andre Gides Les faux-monnayeurs (1925), sondern bezieht ihre Inspiration offensichtlich auch aus eine Passage aus Aldous Huxleys Roman Point Counter Point (1928): "[W]hy draw a line at one novelist inside your novel? Why not a second inside this? And a third inside the novel of the second? And so on to infinity [...)" 43 Dieser intertextuelle Impetus des Erzählers führt zudem zu einer Versammlung heterogener, scheinbar kontingent selegierter Fremdtexte44, der sich auf diegetischer Ebene eine eklektizistischpolyphone Stilmischung hinzugesellt: "Pub-talk, legend, poetry and pastiche all co-exist and interact dynamically."4s O'Brien demonstriert in dieser Aneinanderreihung und Gegenüberstellung, dass jeder dargestellte Stil seine eigene Konvention, sein eigenes Rezept hat: Die autobiografische Geschichte des Ich-Erzählers ist modelliert nach dem Schema des realistischen Bildungsromans46; die Cowboy-Story wird repräsentiert durch die Figuren Slug Willard und Shorty Andrews, die Dermot Trellis den Cowboyroma43 Aldous Huxley, Point Counter Point, zitiert nach Shea, O'Brien's Exorbitant Novels, a.a.O., S. 57 f. 44 So etwa die Passagen aus dem "Athenian Oracfe" (AS2B: 102), der "Extract from Literary Reader, the Higher C/ass, by the lrish Christian Brothers" (AS2B: 21 ), die zwei "tipster's Ieiters" (AS2B: 12 f., 36), kopierte "Safety-First-Rules" (AS2B: 207), "wise sayings of the son of Sirach" (AS2B: 96 f.) und diverse "Extracts from ,A Conspectus of the Artsand Natural Sciences "' (AS2B: 30 f., 149, 209 ff.) 45 Hopper, O'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 44. Vgl. auch Anne Clissman, Flann O'Brien: A Critical lntroduction to his Writings, Dublin 1975, S. 86: "[B]y the time the book has ended it has presented thirty-six different styles and forty-two extracts." Das Prinzip des geplanten Zufalls realisierte O'Brien auch dadurch, dass er seinem Freund Niall Sheridan das Manuskript von At Swim-Two-Birds zur selbstständigen Bearbeitung überließ. Vgl. Niall Sheridan, "Brian, Flann and Myles", ln: Timothy O'Keeffe (Hg.), My/es: Portraits of Brian O'Nolan, London 1973, S. 32-53 46 Vgl. Rüdiger lmhof: "lntroduction", ln: ders. (Hg .), Alive Alive 0!, a.a.O., S. 7-33. Die erste Erzählebene ist dabei aufgespalten in zehn "Biographical Reminiscences" (AS2B: 20 ff., 33 ff., 44 ff., 50 ff., 59 ff., 91 ff., 132 ff. , 148 ff., 160 ff. , 208 ff.), wobei die erzählte Zeit das Examensjahr des Erzählers umfasst.

87

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

nen William Tracys entlieh47; die Helden-Sage wird in den Erzählungen des irischen Sagenhelden Finn MacCool dargestellt, die ihrerseits das mittelirische Buile Suibhne-Epos beinhalten und zudem direkt kontrastiert werden mit dem zeitgenössischen "Workman's Friend" -" pome" des Arbeiter-Dichters und "hard-working wellmade block of a man" (AS2B: 72 ff.) Jem Casey. Einen weiteren wichtigen Baustein in diesem Mosaik heterogener Stilelemente bildet das folk tale oder fairy tale, das durch den Pooka MacPhellimey, einem " member of the devil-class" (AS2B: 9), und die Good Fairy repräsentiert wird. Eine Konzentration dieser verschiedenen Stile und Charaktere ergibt sich bei der gemeinsamen Wanderung, die die Figuren zum Haus von Dermot Trellis unternehmen, um die Geburt von Trellis' Sohn Orlick zu feiern. Das damit angeschnittene Motiv der Pilgerfahrt bezieht sich nicht nur intertextuell auf den paradigmatischen Pilger-Prätext der Canterbury Tales (ca. 1387) und keltische Legenden im allgemeinen, sondern bildet in seiner antiquierten Traditionalität auch einen intratextuellen Kontrast zu der "Hollywood contemporeinity" 48 der nachfolgenden Gerichtsverhandlung gegen Trellis. Indem O'Brien die vorgeführte Stilvielfalt somit gleichzeitig kontrastierend relativiert und parodiert, lässt sich At Swim-Two-Birds auch als postmodern-metafiktionaler Roman beschreiben, der die Realität als linguistisches Konstrukt entlarvt: "Collisions arnong quite different forrns of discourse share a cornrnon purpose - to dernonstrate that our cultures are so thoroughly discoursebased that we cannot even hope to encounter ,reallife' unless we investigate the ways discourses fundarnentally shape our experience." 49 47 O'Brien transferiert dabei das Cowboy-Genre ins zeitgenössische Dublin: "Do you know what it is, says Slug. Tracy is writing another book too and has a crowd of Red Indians up in the Phoenix Park, squaws and wigwams and warpaint an' all [.. .]" (AS2B: 57) Aufgrund der zensarischen Kulturpolitik war die irische Literaturszene tatsächlich stark geprägt von amerikanischen Cowboy-Romanen, die als moralisch unbedenklich galten und die Verhinderung einer massentauglichen irischen Nationalliteratur kompensierten. Insofern sind Slug und Shorty "legitimate inhabitants of the lrish cultural world in the years after independance" (O'Toole, "lsland of Saints and Silicon", a.a.O., S. 13) 48 Stephen Knight, "Forms of Gloom: The Novels of Flann O'Brien", ln: lmhof (Hg.), Alive Alive 0!, a.a.O., S. 86-101; ZitatS. 98 49 Jim Collins, Uncommon Cultures: Popular Cu/lure and Post-Modemism, London 1989, S. 60. Vgl. auch Shea, O'Brien's Exorbitant Nov-

88

FLANN O'BRIEN: AT SW!M-TW0-8/RDS UND THE TH!RD POLICEMAN

Jegliche Konkretisierung einer potenziellen Bedeutung wird damit vereitelt. Die dadurch sichtbar gemachte Kontingenz wird zudem verstärkt durch scheinbar sinnlose Modifikationen - in einem Auszug aus dem "Athenian Oracle" etwa wird jedes lange "s" durch ein "f" ersetzt (AS2B: 102) - und ausdrückliche Hinweise auf ein Auch-anders-möglich-Sein des Erzählten, etwa wenn der Erzähler der Beschreibung seines typischen Tagesablaufs eine "Comparable description of how a day may be spent, being an extract from ,A Conspectus of Artsand Natural Sciences', from the hand of Mr. Cowper" (AS2B: 149) hinzufügt.so In der polyphonen Stilmixtur äußert sich zudem O'Briens Kritik an der Ästhetik der literarischen Moderne und dem "modernist belief that art could be a substitute for religion"sl: Der akzidenzielle Einbezug disparater Fremdtexte veralbert literaturkritische Ansätze, die ein Werk als Ganzes verstehen wollen, und das durch Kursivierung explizierte Zitieren macht die Zitiertechnik der literarischen Moderne lächerlich, die nach mythologischer Einheitlichkeit strebte. Die somit auch typografische Fragmentarisierung des Romans52 drückt also gerade die Zweifel gegenüber einer modernistischen Zersplitterung aus, die noch innerhalb eines Zusammenhangs stattfand, der auf ästhetische Ordnung und Zusammenhalt zielte. Das Resultat ist daher gerade das Gegenteil der Eliot'schen "fragments I have shored against my ruins"s3. Diesen Sachverhalt drückt auch das dem Roman vorangestellte griechische Motto aus, das aus Euripides' Hercules Furens (ca. 415-412

50

51 52

53

e/s, a.a.O., S. 56: "[At Swim-Two-Birds] subject is discourse itself, varieties of style, and the way any style shapes, distorts, permits, and obviates possible thoughts and statements." ln diesen bedeutungsdekonstruierenden Rahmen fällt auch die Tatsache, dass der Roman zwar mit "CHAPTER 1" (AS2B: 9) beginnt, aber keine weitere Kapitelbezeichnung enthält. Asbee, Flann O'Brien, a.a.O., S. IX Dazu zählt auch das sich selbst ständig selbstreflexiv unterbrechende Erzählen, etwa: "What are they going to do? asked Brinsley." [Neuer Absatz:] "Nature of his tone: Without intent, tired, formal" (AS2B: 35), oder "1 denied this." [Neuer Absatz:] "Nature of denial: lnarticulate, of gesture" (AS2B: 11 ). Dies kann auch in Verbindung mit Formen der Kontingentsetzung erfolgen, die in ihrer reduzierten Verständlichkeit eine Bedeutungsgebung explizit verhindern: "1 here expressed my doubts [... ] by the means of a noise." [Neuer Absatz:] "Title of the Noise, the Greek version: ;rop07J" (AS2B: 38) T.S. Eliot, The Waste Land (1922), ln: ders., Goileeted Poems 19091962, London, 1974, S. 61-86; ZitatS. 79 (V, 430)

89

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

v. Chr.) stammt und bedeutet: "For all things go out and give place to one another."s4 All das befreit den erzählerischen Diskurs von einer sequenziellen und kausalen Ordnung, sodass "language itself is the hero or villain" 55. Sprache kann dann unabhängig von ihrer Referenzialität und ihrer Existenz als ein System von Zeichen betrachtet werden. So spaltet O'Brien Signifikat und Signifikant ausdrücklich, wenn er die "two decadent Creek scullions, Timothy Danaos and Dona Ferentes" (AS2B: 101) auftreten lässt und damit eine Passage aus Vergils Aeneis (30-19 v. Chr.) phonetisch verballhornt.56 In anti-modernistischer Hinsicht liefert Flann O'Brien mit At Swim-Two-Birds vor allem eine intertextuelle Parodie auf die Romane James Joyces. Schon die Bibliothek des Erzählers enthält "works ranging from those of Mr. Joyce to the widely read books of Mr. A. Huxley" (AS2B: 11).57 Dieser parodistische Bezug äußert sich besonders in den Parallelen zu Joyces quasi-autobiografischem Künstler- und Bildungsroman A Portait of the Artist as a Young Man (1916). Die Erzähler beider Romane verbindet eine Reihe von Gemeinsamkeiten: Wie Stephen Dedalus im Portrait kennzeichnet auch den Ich-Erzähler aus At-Swim-Two-Birds eine komische Diskrepanz zwischen den Mediokritäten des Alltags und der Fülle der Imagination.ss Im Gegensatz zu der hehren Kunstauffassung Stephens betrachtet der Erzähler in At Swim-Two-Birds seine literarischen Projekte aber lediglich als "spare-time literary activities", also bestenfalls als eine Ablenkung von der Langeweile des

54 John Garvin, "Sweetscented Manuscripts", ln: O'Keeffe (Hg.), My/es: Portraits of Brian O'Nolan, a.a.O., S. 54-61; ZitatS. 58 55 R.M. Adams, Afterjoyce, New York 1977, S. 188 56 Bei Vergil heißt es "timeo Danaas et dona ferentes". Vgl. Shea, O'Brien 's Exorbitant Novels, a.a.O., S. 85 57 Die Erwähnung Huxleys liefert zudem einen expliziten Beleg für O'Briens intertextuellen Rückgriff auf Huxleys Roman Point Counter Point. 58 Vgl. Anne Clissman, "The Story-Teller's Book-Web", ln: lmhof (Hg.), Alive Alive 0!, a.a.O., S. 118-140; Zitat 8.132. Die Bezüge lassen sich bis in Einzelheiten des Handlungsgeschehens verfolgen: Stephens Spaziergänge durch Dublin mit dem Verlangen "to sin with the other kind" (zitiert nach Clissman, "The Story-Teller's Book-Web", S. 132) spiegeln sich so etwa in der Freizeitgestaltung von O'Briens Erzähler: "Purpose of walk: Discovery and embracing of virgins" (AS2B: 48)

90

FLANN O'BRIEN: AT SW!M-TW0-8/RDS UND THE TH!RD POLICEMAN

sonstigen Lebens.59 So bildet seine Theorie des demokratischen Romans auch einen parodistischen Kontrast zu Stephens prätentiösen Prinzipien bzw. Joyces quasi-autokratischem Autor-Konzept. O'Briens Erzähler erscheint daher als eine "transmogrified Version of Stephen Dedalus" 60 und At Swim-Two-Birds als ein "portrait of several artists" 61. Aufschlussreich sind auch die Unterschiede der beiden Erzähler in ihrer Auseinandersetzung mit den jeweiligen familiären Verhältnissen. O'Briens Erzähler beschreibt seinen Onkel zu Beginn des Buches ablehnend: " Description of my uncle: Red-faced, bead-eyed, ball-bellied. Fleshy about the shoulders with long swinging arms giving ape-like effect to gait. Large moustache. Holder of Guinness clerkship the third dass." (AS2B: 10) Auch Stephens Vater Sirnon Dedalus ist "something in Guinness"62 und darüberhinaus Mitglied der Gaelic League sowie der Kirche verbunden. Im Gegensatz zu Stephen, der diesen Irish way of life am Ende des Portrait ablehnt und sich (wie Joyce selbst) entschließt, nach Paris zu exilieren, versöhnt sich O'Briens Erzähler am Ende von At Swim-Two-Birds aber mit seinem Onkel, der ähnlich konservative Werte wie Sirnon Dedalus vertritt. Nach bestandenem Examen erhält der Erzähler von seinem Onkel ein Geschenk und beschreibt ihn wesentlich positiver: "Description of my uncle: Simple, well-intentioned; pathetic in humility; responsible member of !arge commercial concern." (AS2B: 215) Dieser epische Bogen zum Beginn des Romans bildet nicht nur einen parodistischen Gegensatz zum Handlungsverlauf von Joyces Portrait, sondern auch generell einen Kontrast zum typischen Schluss des zeitgenössischen Künstlerromans: der Emanzipation des sich selbst gefunden habenden Künstlers von den beengenden 59 O'Briens Erzähler definiert sich also gerade nicht, wie Stephen, über seine schriftstellernde Kunst, wie es Jose Lanters behauptet in "Fiction Within Fiction: The Role of the Author in Flann O'Brien's At Swim-Two-Birds and The Third Policeman", ln: Dutch Quarterly Review, Vol. 13 (1983), S. 267-281; S. 268 60 lmhof, "lntroduction", a.a.O., S. 15. Vgl. auch Darcy O'Brien, "ln Ireland after A Portrait of the Artist as a Young Man", ln : Thomas F. Staley & Bernard Benstock (Hg.), Approaches to Joyce's ,Portrait', Pittsburgh 1976, S. 213-237: "Stephen Dedalus appears a pretentious ass." (S. 222) 61 lvan del Janik, "Fiann O'Brien: The Novelist as Critic", ln: Eire-Ireland IV, 4 (Winter 1969), S. 64-72; ZitatS. 65 62 Zitiert nach Clissman, "The Story-Teller's Book-Web", a.a.O., S. 131

91

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

Verhältnissen seiner Umwelt. O'Briens Erzähler entscheidet sich bewusst für Versöhnung und Akzeptanz anstelle von Verwürfnis und Exil. Auch der zirkuläre Grand Recit des Künstler- und Bildungsromans (die Künstlerbiografie bringt das Kunstwerk hervor, das wiederum das Leben des Künstlers reflektiert) wird damit in At Swim-Two-Birds unterlaufen. Am prägnantesten zeigt sich O' Briens Inversion des Joyce' sehen Ansatzes anhand eines direkten intertextuellen Bezuges auf das Portrait. Hatte Joyce dort formuliert "Ireland is the old sow that eats her farrow"63, beschreibt O'Brien einen Umkehrschluss: "Was Harnlet mad? Was Trellis mad? It is extremely hard to say. Was he a victim of hard-to-explain hallucinations? Nobody knows [...]Professor Unternehmer, the eminent German neurologist, points to Claudius as a lunatic but allows Trellis an inverted sow-neurosis in which the farrow eat their dan." (AS2B: 217)64 Auch hinsichtlich Joyces Roman Ulysses (1922) finden sich zahlreiche intertextuell-parodistische Referenzen. So weist das das Verhältnis zwischen Leopold Bloom und seinem spirituellen Sohn Stephen Dedalus Parallelen auf zu der Beziehung zwischen Trellis und seinem "aestho-autogamischen", also quasi-spirituellen Sohn Orlick, der erscheint als "a Stephen Dedalus-like character who is a fully grown man when he becomes Trellis' son"65 . Und die schriftstellerische Rache der Figuren an Trellis, in deren Verlauf Letzterer unter anderem in eine Ratte verwandelt wird, reflektiert

63 Ebd., S. 139 64 Der erste Bezug auf Shakespeares Harnlet (ca. 1600/1601) erfolgt bereits zuvor, als der Onkel dem Erzähler mitteilt: "The old boys know a thing or two. There are more things in life and death than you ever dreamt of, Horatio." (AS2B: 214) Das unrichtige Zitieren der Stelle - im Original heißt es: "There are more things in heaven and earth, Horatio, than are dreamt of in your philosophy" (Hamlet: I, 4, 166-167) - , verdeutlich nur, dass die "old boys" die Weisheit eben nicht gepachtet haben. Das selbstreflexive Ende von At Swim-TwoBirds - ein auf die Drei-Ebenen-Struktur verweisendes "good-bye, good-bye, good-bye" (AS2B: 218)- spielt zudem an auf die Verabschiedung Ophelias mit "Good-night, ladies; good-night, sweet ladies; good-night, good-night" (Hamlet: IV, 5, 72-74). Auch zum King Lear (ca. 1605) besteht eine Parallele: Die Odyssee des verrückten Sweeny ähnelt der des wahnsinnigen Lears in den Sturmszenen. 65 Dei Janik, "O'Brien: The Novelist as Critic", a.a.O., S. 65

92

FLANN O'BRIEN: AT SW!M-TW0-8/RDS UND THE TH!RD POLICEMAN

die "Circe" -Episode des Ulysses, in der Bloom albtraumartig zu einem Schwein mutiert. Vor allem aber wird die klassisch-mythologische Substruktur von Joyces Ulysses in A t Swim-Two-Birds mehrfach parodiert. So werden Trellis in der gegen ihn geführten Gerichtsverhandlung als Verteidiger zwei stumme Griechen zugeteilt (vgl. AS2B: 195). Auch das bereits erwähnte, dem Roman vorangestellte griechische Motto sowie die Referenz auf Homers Odyssee in dem scheinbar bezugslos zitierten "Shipwreck" -Gedicht (vgl. AS2B: 210 f.) stehen in diesem Zusammenhang. Besonders O'Briens Wahl der irischen Heldensage um Finn MacCool und der von diesem nacherzählten mittelirischen Romanze Buile Suibhne stellt einen signifikanten Kontrast zu Joyces klassischem Erzählmuster dar.66 Abgesehen davon, dass die erzählerische Beschreibung Finn MacCools den "Citizen" der "Cyclops" -Episode parodiert67, ist einer autokritischen Äußerung Finns selbst der kritische Bezug zum Ulysses deutlich zu entnehmen: "I am an Ulsterman, a Connachtman, a Creek, said Firm[ ...] I am my own father and my son. I am every hero from the crack of time [...] Firm that is twisted and trampled and tortured for the weaving of a storyteller's book-web." (AS2B: 19)

Der in Finn personifizierte mythische Strukturbezug thematisiert sich also selbst als missbraucht zu Gunsten erzählerischer Ansprüche. Aufgrund dieser parodistischen Referenzen erscheint O'Brien als "post-, if not propter-Joycean writer" 6S, der den traditionellen Kern von Joyces moderner Ästhetik in postmodernmetafiktionaler Weise bloßlegt.69 Zudem kritisiert O' Brien damit Joyces Entscheidung für ein klassisches Modell als mythologische 66 Finn MacCool wird auch im U/ysses explizit erwähnt. Vgl. James Joyce, U/ysses, London 1992 (Penguin- Twentieth-Century ClassicsAusgabe ), S. 411 67 Vgl. ebd., S. 378 ff. ln dieser Sequenz finden sich auch die Worte "cruiskeen lawn" (S. 381 ), die O'Brien als Titel für seine lrish TimesKolumne wählte. 68 Adams, Afterjoyce, a.a.O., S. 190 69 Vgl. Anthony Cronin, "An Extraordinary Achievement", ln: lmhof (Hg.), Alive Alive 0!, a.a.O., S. 107-112: "ln Ulysses the novel as form was spared the ultimate indignity of being exhibited as the product of one of his characters [ ... ] O'Brien wen! one better" (S. 109)

93

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

Erzähl-Basis gegenüber einer ebenfalls möglichen irischen Variante.70 Mit dem Rückgriff auf die irische Sage von Firm MacCool und d ie Buile Suibhne-Roman ze sowie auf die keltisch-folkloristischen Figuren des Pooka MacPhellimey und der Good Fairy w endet sich O' Brien also bewusst einer nationalen Tradition zu.n Zusammen mit der kontemporären Beschreibung des kleinbürgerlich-patriotischen Onkels liefert O'Brien in A t Swim-Two-Birds d amit gleichsam eine " total description of Ireland" als "a small, drab orderly, modern country, haunted by an heroic past, dwarfed by an averarehing im aginative vision" 72 . Da das literarische Recycling der alten irischen Stoffe meist parodistisch erfolgt, ist der Roman w eit davon entfernt, dem Nationalismus eines "Irish Revival" anheimzufallen. Andererseits erfolgt die "humourous or quasi-humurous incursion into ancient mythology" (AS2B: 13) auch nicht als bloße Persiflage, sondern vielmehr mit einem "sense of proportion"73.

70 Vgl. Clissman, "The Story-Teller's Book-Web", a.a.O., S. 139. Zu weiteren generellen Oppositionen zwischen Joyce und O'Brien vgl. Mays, "Brian O'Nolan and James Joyce on Life and Art", a.a.O. Die meisten O'Brien-Kritiker konstatieren eher eine Affinität O'Briens zum Werk Becketts als zu dem Joyces. Kearney zufolge teilt O'Brien "Beckett's attitude to the novel as a questioning of its own impossibility [ ... ] As with Beckett's trilogy, the novel here [in At Swim-TwoBirds] becomes its own self-representation" ("The Treasure of Hungry Hili", a.a.O., S. 63). Mays meint sogar, O'Briens frühe Werke "achieve Beckett's stated ideal more completely than anything Beckett hirnself has ever written" ("Literalist of the Imagination", a.a.O., S. 81). Vgl. auch Hopper, O'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 263 ff. sowie Sighle Kennedy, ",The Devil and Holy Water': Samuel Beckett's Murphy and Flann O'Brien's At Swim-Two-Birds", ln: R.J. Porter & W.Y. Tindal (Hg.), Modern lrish Litera/ure, New York 1972, S. 251-260 71 Vgl. dazu ausführlicher Eva Wäppling , Four lrish Legendary Figures in At Swim-Two-Birds, Uppsala 1984, sowie Shea, O'Brien's Exorbitant Novels, a.a.O., S. 101. Der Rückgriff auf die Form des Mythos ist zudem eine generelle Form der Distanzierung, die dem IchErzähler bei seiner literarischen Selbstbeobachtung hilft, Selbstblockaden zu verhindern. 72 John Wain, ",To Write For My Own Race"', ln: Encounter XXIX, 1 (July 1967), S. 71-85; ZitatS. 80 73 Dei Janik, "O'Brien: The Novelist as Critic", a.a.O., S. 70. Vgl. ebd., S. 98: "O'Brien is not so much making fun of what was once a heroic tradition as he is making fun with the conventional verbal possibilities he is ,re-creating'."

94

FLANN O'BRIEN: AT SW!M-TW0-8/RDS UND THE TH!RD POLICEMAN

Inmitten eines andauernden Verschiebensund Parallelisierens ermöglichen die mythischen Bezüge zudem die Bildung interner Referenzkonstellationen. So erfährt etwa die von Firm erzählte Buile Suibhne-Geschichte über Sweeny, der d en Heiligen St. Ronan beleidigte und von diesem daraufhin verdammt wurde, als Verrückter vogelgleich über die Bäume Irlands zu ziehen (vgl. AS2B: 62 ff.), eine modifizierte Wiederkehr, indem auch Trellis im Manuskript Orlicks von einem Heiligen zu einer Baum-Odyssee verurteilt wird (vgl. AS2B: 183 ff.) .74 Auch Finns antiquiert-redundanter Erzählstil wird in diesem veränderten Kontext von Orlick wied er aufgegriffen. Sweenys Von-Baum-zu-Baum-Hüpfen erfährt zudem ein banales Echo in der Geschichte vom Weitsprung des Sgt. Craddock (vgl. AS2B: 85 ff.), die Lamont seinen Freunden Shanahan und Furriskey in direktem Kontrast zu Finns SweenyGeschichte erzählt: "Sergeant Craddock keeps his mouth shut, takes a little run and jumps twenty-four feet six. [...]Go to Russia, said Shanahan, go to China, go to France. Everywhere and all the time it is hats off and gra-ma-cree to the Jumping Irishman [...] It's a thing, said Furriskey, that will always stand to us- jumping." (AS2B: 87 f.) Das mythologische Muster erfährt damit eine triviale Reinkarnation im Kleinbürgerlich-Beschränkten, die erneut die modernistische Ästhetik in Frage stellt. Zudem sind die im Roman verwendeten Erzählstile frei flottierend und nicht an die Figuren gebunden, die sie zunächst einbrachten. So nimmt Trellis etwa das Cowboy-Idiom von Shorty Andrews an - "Keep away, you crump, you, he roared. Oh, by God, I'll kick your guts around the room" (AS2B: 175) -,und die Unterhaltung von Trellis und dem Pooka (vgl. AS2B: 174) gleicht den gestelzten Dialogen zwischen 74 Die Produktion des Orlick-Manuskripts veranschaulicht zudem den autokritischen Charakter auch des Romans im Roman: Orlicks kleinbürgerlich-proletarische Zuhörer Shanahan, Lamont und Furriskey sind v.a. auf eine Blutrache gegenüber Trellis aus und verlangen "A nice simple story with plenty of the razor" (AS2B: 169). Auf Orlicks Eröffnung "1 have devised a plot that will Iift our tale to the highest plane of great literature" (AS2B: 183) regieren sie deshalb skeptisch: "As lang as the fancy stuft is kept down, said Shanahan, weil and good [.. .)" (AS2B: 183) Das Mythische, potenziell Weltliterarische wird also direkt polykontexturalisiert und kontingent gesetzt: "[Y]ou have to remember the man in the street." (AS2B: 169)

95

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

Letzterem und der Good Fairy (vgl. AS2B: 104 ff.). Trellis fungiert damit als Medium für verschiedene Stilformen, die ihm von verschiedenen Erzählern zugeschrieben werden75, womit O'Brien den Ansatz des traditionellen Romans dekonstruiert, individualisierte Charaktere zu präsentieren.76 Darüber hinaus bildet das beständige Kontrapunktieren auch einen Kontrapunkt zu der essenzialistischen Einheitsvorstellung der literarischen Moderne: 77 Gegenüber dem modernistischen Anspruch auf Geschlossenheit wird dem postmodernistischen Polyphonieprinzip in ironischer Form ein höherer "Wahrheits" -Gehalt zugestanden: Die Good Fairy behauptet nicht nur "Truth is an odd number" (AS2B: 106), sondern auch "Counterpoint is an odd number" (AS2B: 110). Der dezidiert autokritische Charakter des Romans äußert sich also auch darin, dass die verschiedenen Erzählebenen einander direkt beeinflussen, wie bereits die ödipale Rache Orlicks an Trellis veranschaulichte. Davon ist auch die erste Erzählebene betroffen. So kann die erzählerische Rückkehr von der diegetischen auf die extradiegetische Ebene motiviert werden durch Geschehnisse auf extradiegetischer Ebene, etwa wenn der Erzähler im Anschluss an die gedankliche Beschäftigung mit seinen "spare-time literary activities" berichtet: "I hurt a tooth in the corner of my jaw with a lump of the crust I was eating. This recalled me to the perception of my surroundings." (AS2B: 10) Ähnlich wie im Tristram Shandy werden für Unterbrechungen auf diegetischer Ebene Begründungen auf extradiegetischer Ebene herbeigezogen, zum Bei-

75 Als Orlick die Geschichte unterbricht und den Raum verlässt, führen Shanahan, Lamont und Furriskey das Manuskript jeweils selbstständig weiter und prägen Trellis somit auch ihre erzählerischen Stempel auf (vgl. AS2B: 180 ff.). Ähnliche Verschiebungen finden statt, wenn sich die Good Fairy so zu Sweeny verhält wie Shanahan , Lamont und Furriskey gegenüber Finn (vgl. AS2B: 62 ff., 129), oder wenn Shanahans Äußerung "1 prefer the question to the answer" (AS2B: 190) ein Echo aus dem Mund der Good Fairy erhält: "Answers do not matter so much as questions." (AS2B: 201) Auch die somnambulen Neigungen des Ich-Erzählers finden eine Reflektion in Trellis, der sich ebenfalls als "great bed-bug" (AS2B: 99) entpuppt. 76 Vgl. Kearney, "The Treasure of Hungry Hili", a.a.O., S. 64 77 Vgl. Mays, "Literalist of the Imagination", a.a.O., S. 87: "The Counterpoint method is such that any connection between the parts of the book frustrates another at the sametimethat it establishes itself."

96

FLANN O'BRIEN: AT SW!M-TW0-8/RDS UND THE TH!RD POLICEMAN

spiel wenn der Erzähler plötzlich die Beschreibung der Geburt Orlicks unterbricht: "The task of rendering and describing the birth of Mr. Trellis's illegitimate offspring I found one fraught with obstacles and difficulties of a technical, constructional, or literary character - so much so, in fact, that I found it entirely beyond my powers. This latter statement follows my decision to abandon a passage extending over the Iength of eleven pages." (AS2B: 144)78 In einem selbstreflexiven Paradox verkündet der Erzähler dem Leser daraufhin: "It will be observed that the omission of several pages [... ] does not materially disturb the continuity of the story." (AS2B: 145) Obgleich solche Leseransprachen einem in konventionellem Sinne überzeugenden Erzählvorgang entgegenwirken, nutzt der Erzähler von At Swim-Two-Birds jede Gelegenheit, sich dem Leser bewusst zu machen. Das beginnt schon bei der typografischen Aufsplittung des Textes in eine Vielzahl von Fragmenten, die jeweils mit kursivierten Überschriften und abschließenden "Conclusion[s] of the foregoing" (AS2B: 20, passim) versehen sind und neben der unverhüllt-vorsätzlichen Intertextualisierung eine Anzahl autokritischer Reflexionen enthalten.79 Insbesondere die 78 Ähnlich beim Abbruch der Schilderung von der Schöpfung Furriskeys: "lt happens that a portion of my manuscript containing an account [ ... ) of the words that passed between Furriskey and the voice is lost beyond retrieval." (AS2B: 50) Daneben finden aber auch Geschehnisse der ersten Erzählebene eine Wiederkehr auf der zweiten. So etwa das "Workman's Friend"-Poem von Jem Casey mit der rekurrierenden Zeile "A PINT OF PLAIN IS YOUR ONLY MAN" (AS28: 77), die der Erzähler einer Kneipenweisheit seines Bekannten Kelly verdankt: "Do you know what I am going to tel I you, he said with his wry mouth, a pint of plain is your only man." (AS2B: 22) 79 Etwa "Extract from Manuscript, being description of a social evening at the Furriskey household: the direct style" (AS2B: 150) oder das bereits angeführte "Extract from my typescript descriptive of Finn Mac Cool and his people, being humurous or quasi-humourous incursion into ancient mythology'' (AS2B: 13). Die Künstlichkeit des Dargestellten wird auch sichtbar gemacht, wenn Brinsley - als explizit impliziter Leser - das Manuskript des Ich-Erzählers kritisiert und seine "inability to distinguish between Furriskey, Lamont and Shanahan" (AS2B: 160) artikuliert, woraufhin der Erzähler ein tabellarisch aufgelistetes "Memorandum of the respective diacritical traits or qualities of Messrs Furriskey, Lamont and Shanahan" (AS2B: 161) einfügt.

97

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

direkten Leseransprachen führen dem Leser immer wieder die Existenz des Dargestellten als kontingent erstelltes Artefakt vor Augen, so etwa die wiederholt erscheinende "Synopsis, being a summanJ of what has gone before, for the benefit of new readers" (AS2B: 60, 150, 164) oder die Aufforderung: "Note to the reader before proceeding further: Before proceeding further, the reader is respectfully advidsed to refer to the Synopsis or Summary of the Argument on Page 60." (AS2B: 103) Dadurch, dass der Erzähler - wie Tristram im Tristram Shandy -den Leser als Vertrauten behandelt, bleibt er ihm auf der zweiten Erzählebene ständig bewusst. Das Handlungsgeschehen wird damit vom Erzählten zum Leser transferiert, der Leser wird zum " Co-Autor", während der Autor in den inkorporierten Intertexten "liest"so. Die dahinterstehende metafiktionale Intention des Aufzeigens von Artifizialität distanziert den Leser vom Erzählten: "[O]ur tendency as readers to enter into an orderly world [... ] is defeated at every page."81 Unter konventionellen Kriterien kann das als "sinnloser" Affront gegen den "eigentlichen" Charakter des Romangenres erscheinen, in dem der Leser über plausibilisierende Täuschungsmanöver vereinnahmt werden soll: "Artifice [...] should not be flatly ,self-evident' but cunningly revealed [... ] Flann O'Brien produces a hodgepodge of fictions where nothing seems particularly credible and where everything finally becomes tedious through the sheer proliferation of directionsless narrative invention [...] [F]iction is everywhere and there is no Ionger any quixotic tension between what is fictional and what is real."82

Dabei ist es aber gerade die metafiktionale Thematisierung des Lese- und Schreibprozesses, gerade das Aufzeigen der "fiktionalen Realität" als Teil der "realen Realität", das eine Spannung erzeugt gegenüber einer "realen Realität", deren sprachliche Konstruiertheit sichtbar gemacht wird - und die damit auch dem Fiktionalen nähergebracht wird. Die metafiktionale Distanzierung des Lesers vom Erzählten durch seine Annäherung an den Akt 80 Vgl. Mellamphy, "Aestho-Autogamy and the Anarchy of Imagination", a.a.O., S. 147, 160; sowie Hopper, O'Brien: A Porlrait, a.a.O., S. 20 81 Myles Orvell, "Entirely Ficticious: The Fiction of Flann O'Brien", in: lmhof (Hg.), Alive Alive 0!, a.a.O., S. 101-106; ZitatS. 103 82 Robert Alter, Parlial Magie. The Novel as a Self-Conscious Genre, London 1975, S. 224

98

FLANN O'BRIEN: AT SW!M-TW0-8/RDS UND THE TH!RD POLICEMAN

des Erzählens lässt die Leser-Beobachtungen oszillieren: zwischen der Beobachtung der Selbstbeobachtung des Erzählens und der Selbstbeobachtung des eigenen "Erzählens" der Realität. At SwimTwo-Birds wird damit zu einer "attack on the reader's epistemological certainties"s3. Die formale Aufspaltung des Textes steht dabei durchweg in engem Zusammenhang mit dem Erzählerbewusstsein, das die Fragmente assoziativ verknüpft. Die Quasi-Struktur der zehn "Biographical Reminiscences" bildet einen Erzählrahmen, der "realistischer" ist als die von ihm gerahmten Erzählungen in den Erzählungen: " [The] ,self-evident sham' is contained within a narrative about a particular character in a particular time and place, and, as readers, we believe in this existence."S4 Die darin verschachtelten Spiegelungen, Parallelisierungen und intertextuellen Referenzen bilden ein internes Verweisungsgeflecht, in dem sich die Möglichkeit, das Erzählte dem Erzähler als kontingente Handlung zuzuschreiben, verflüchtigt:85 Es zeigt sich nie "the real author' s hand"86, und die Kombination von Selbstreflexivität und dem Zitieren von Fremdtexten lässt die Leser-Beobachtung oszillieren zwischen Überraschung und Wiedererkennen. Auch auf einer selbstreferenziellen Metaebene entsteht somit eine selbstselektive "immanente Stimmigkeit des Kunstwerks", die die "Aufhebung der [... ] Kontingenz des Handelnsund zugleich die Führung des Erlebens", also "die Motivation zur Übernahme kontingenter Selektionen"87 ermöglicht. Und auch in der offenen Thematisierung der Fiktionalität des Erzählten verliert sich der Mitteilungsaspekt des Erzählens "in einer selbstreferenziellen mise-en-abime, im Spiegelkabinett der Multiperspektivität, in Selbstinklusions- und Vexierbildstafetten"ss - und motiviert damit einen erlebenden Nachvollzug des Rezipienten. 83 Knight, "Forms of Gloom", a.a.O., S. 27 84 Clissman, O 'Brien: A Critica/ lntroduction, a.a.O., S. 96. Vgl. Asbee, Flann O'Brien, a.a.O., S. 34 85 Mellamphy zufolge befindet sich der Leser gegenüber dem Erzählten in einer ähnlichen Situation wie der Ich-Erzähler gegenüber dem Billardspiel: "The craft of billiards was unfamiliar to me but in politeness I watched the quick darting of the balls, endeavouring to deduce from the results of a strake the intentions which preceded it." (AS2B: 51) Vgl. Mellamphy, "Aestho-Autogamy... ", a.a.O., S. 144 86 Ebd. 87 Luhmann, "Ist Kunst codierbar?", a.a.O. , S. 248 88 Schwanitz, "Systemtheoretischer Handlungsbegriff... ", a.a.O., S. 76

99

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

Mit At Swim-Two-Birds schuf Flann O'Brien einen metafiktionalen Roman, der in seiner offenen Selbstreflexivität sowohl den Grand Recit des traditionellen realistischen Romans als auch die Ästhetik der literarischen Moderne dekonstruiert. Dabei antizipiert der Roman als "Prototext d er literarischen Postmoderne" 89 Thematiken, die erst die poststrukturalistische Theorie bew u sst beobachten sollte. Als abschließendes Beleg dafür mag die Beschreibung des Spiegels dienen, in dem sich der Erzähler beim Rasieren beobachtet: "The mirror at which I shaved every second day [... ] bore brief letterpress in reference to a propriety brand of ale between the words of which I had aquired considerable skill in inserting the reflection of my countenance." (AS2B: 11) In postmoderner Weise wird (Selbst-)Beobachtung erfahren als etwas, d as nur möglich ist innerhalb d iskursiver Rahmungen: "The message is [... ] that language intrudes upon, and to some extent distorts, our perception of reality."90

5.3

The Third Po/iceman: Verdeckte Metafiktion und postmoderne Zirkularität The whole world seemed to have no purpose at all save to frame it so I could [...] pretend to myself that I understood it (The Third Policeman)

Wie At Swim-Two-Birds stellt auch O'Briens zweiter Roman, The Third Policeman (1940), einen m etafiktionalen Angriff auf die große Metaerzählung d er realistischen Romantradition dar.n Die in At 89 Kindlers Neues Literatur Lexikon. Hauptwerke der englischen Literatur, München 1995, S. 134 90 Lanters, "Fiction Within Fiction", a.a.O., S. 272. Vgl. auch Knight, "Forms of Gloom", a.a.O., S. 99 f. , sowie Shea, O'Brien 's Exorbitant Novels, a.a.O., S. 59: "lf the novel centers on anything, it is ,verbal performance' which, according to Michel Foucault, dramatizes the struggle of an inquiring mind to realize the hidden ,rules of formation' which influence every act of speaking and writing. " 91 "ln both texts the problem of authorship is fictionalised by foregrounding the gap between what is real and what is illusory." (Hopper, O'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 114)

100

FLANN O'BRIEN: AT SW!M-TW0-8/RDS UND THE TH!RD POLICEMAN

Swim-Two-Birds offen zelebrierte Dekonstruktion des Grand Recit, die nur locker an die parodistisch gefärbte BildungsromanGeschichte des Erzählers gekoppelt war, weicht im Third Policeman jedoch einer verdeckten, dem traditionell-selbstaufklärerischen Erzählmuster inkorporierten Technik metafiktionaler Selbstthematisierung.n Die metaleptischen Strategien ähneln sich zwar, sind aber im Third Policeman weniger offensichtlich präsentiert und tiefer im Handlungsgeschehen verankert: "[W]here metalepsis is apparent in At Swim-Two-Birds it is encoded within the pages of The Third Policeman."93 Das hat vor allem Konsequenzen für den Akt des Lesens, weil die durchweg aufrecht erhaltene Ambivalenz zwischen Tradition und Metafiktion den Leser latent verunsichert: "The Third Policeman is a novel in a constant state of internal contradiction."94 Dies verdeutlicht schon das erste Kapitel, das im konventionellen Gewand des Bildungsromans erscheint. Nach der dramatischen Enthüllung des (wiederum namenlosen)95 Ich-Erzählers über seinen Mord am alten Mathers- "Not everybody knows how I killed old Philip Mathers, smashing his jaw in with my spade" (3P: 7)96- erklärt er in einer zwölfseitigen shandyesken Digression die Beteiligung seines Freundes John Divney an diesem Mord. Die Begründung weitet sich zu einer generellen Schilderung seiner Lebensgeschichte, in der Motive des traditio-nellen Bildungsrom ans evoziert werden, etwa "I was born a long time ago" (3P: 7). Dabei wird bereits die konventionelle Weltsicht des Erzählers ersichtlich, etwa wenn er in realistischer Manier annimmt, Autor seiner Geschichte- "the story I am going to teil" (3P: 9)- und sei92 Gemäß Linda Huteheans Metafiktions-Kategorisierung (vgl. 1.2) sind The Third Policeman und At Swim-Two-Birds damit den Sparten covert bzw. overt narcissism zuzuordnen. 93 Hopper, O'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 127. Vgl. auch Mays, "Literalist of the Imagination", a.a.O., S. 90: "[L]oosely related plots of dif-

ferent kinds are now stacked within one another snugly, like a nest of tables." J.M. Silverthorne beschreibt das Verhältnis beider Romane zueinander als die Differenz zwischen unerwarteter Form und unerwartetem Inhalt, vgl. ders. "Time, Literature, and Failure: Flann O'Brien's At Swim-Two-Birds and The Third Policeman", ln: EireIreland IX, 4 (1976), S. 66-83; ZitatS. 66. 94 Hopper, O'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 170 95 Die Namenlosigkeit parodiert wie in At Swim-Two-Birds die modernistische Orthodoxie des absentierten Autors und "helps to prevent overly simple reader sympathy" (Asbee, Flann O'Brien, a.a.O., S. 59) 96 Zitiert nach der Flamingo-Modern-Ciassic-Ausgabe, London 1993

101

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

nes Schicksals zu sein: "I had long since got to know how I was situated in the world." (ebd.) Indem das scheinbar Konventionelle aber zugleich subtil verfremdet wird, wird zudem schon eine metafiktionale Lesart motiviert. So weist etwa die Äußerung des Erzählers "I broke my left leg (or, if you like, it was broken forme)" (3P: 10) darauf hin, dass alle im Roman erwähnt werdenden Körper und Körperteile als artifiziell zu betrachten sind97, so wie das gesamte Handlungsgeschehen eine verdeckte Allegorie auf den Schreib- und Leseprozess darstellt. Auch die wiederholte willkürliche Erwähnung von Wochentagen (vgl. 3P: 10, 11, 12, 19) und der Vokabel "queer"98 baut bereits im ersten Kapitel eine Spannung auf zwischen einer beschränkt-empirischen Sichtweise des Erzählers und den Erwartungen des Lesers: "[T]he novel operates on the margins between [the narrator's] erdering of the world in a realist fashion, and the reader' s awareness of the metarealist modes of discourse at play elsewhere." 99

Der Leser sieht sich damit einem klassischen unreliable narrator ausgesetzt und beginnt an der "Wahrheit" des Erzählten zu zweifeln.l00 Dazu trägt auch die Besessenheit des Erzählers von dem "idiot savant" de Selby bei.lOl Obwohl der Erzähler mit de Selbys Namenstheorie vertraut ist - de Selby zufolge ist jeder Name onomatopoetisch verknüpft mit der Erscheinung der benannten 97 Später fühlt der Erzähler die "woodenness" seines linken Holzbeines "slowly extending through my whole body" (3P: 119). Zudem äußert er durchweg passivierte Handlungsbeschreibungen wie "1 went torward mechanically" (3P: 17), "1 heard myself give a hollow laugh"(3P: 164), "1 feit a click inside me" (3P: 31) oder "Words spilled out of me as if produced by machinery" (3P: 27), die verdeckte metafiktionale Hinweise auf seine Konstruiertheil als fiktionaler Charakter darstellen. 98 Vgl. 3P: 7, 8, 13, 19. Auch im weiteren Verlauf des Romans findet das Wort auffällig häufig Erwähnung (vgl. 3P: 30, 46, 47, 50, 69, 71, 75, 80,110, 115,117,161,171, 201). 99 Hopper, O'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 202 100 Sue Asbee spricht von einem "unstable narrative contract" (F/ann O'Brien, a.a.O., S. 57) 101 So beging der Erzähler den Mord an Mathers, um mit dem Geld aus dessen "black cash-box" (3P: 15) seinen "De Selby Index" (3P: 14) veröffentlichen zu können, in dem er alle Kommentare der Exegeten de Selbys versammelt hat: "II was for him [de Selby] I committed my greatest sin." (3P: 9)

102

FLANN O'BRIEN: AT SW!M-TW0-8/RDS UND THE TH!RD POLICEMAN

Person (vgl. 3P: 42) -, erkennt er die Signifikanz des Namens de Selby selbst nicht_1D2 So baut sich bereits im Verlauf des ersten Kapitels eine polyphone Ambivalenz zwischen realistischer und fantastischer Darstellungsweise auf. Die das erste Kapitel abschließende Äußerung des Erzählers, "the next time I was asked my name [...] I did not know" (3P: 21), weist dann darauf hin, dass in der Welt der drei Polizisten, in der sich die folgende Handlung abspielen wird, ein Bezeichnungssystem herrscht, das keinerlei Verbindung hat zu dem des traditionell-materialistischen Erzählers. Am Ende des Romans stellt sich dieser surreale Polizeibezirk heraus als die Hölle, in die der Erzähler dadurch gelangte, dass Divney ihn ermordete, nachdem er ihn in Mathers' Haus geschickt hatte, um die dort versteckte Geldkassette zu bergen. Dass der Erzähler folglich während seines Erzählvorgangs tot warlo3, erkennt am Ende jedoch nur der Leser und nicht der Erzähler selbst, der seine Geschichte von neuem zu erzählen beginnt und somit in einer selbstreferenziellen Schleife gefangen ist: "Hell goes round and round. In shape it is circular and by nature it is interminable, repetitive and very nearly unbearable."1D4 Zur Darstellung dieser metafiktionalen Höllenfahrt des Erzählers und seiner Suche nach Erklärungen für die ihm unverständlichen Geschehnisse bedient sich O'Brien einer weiteren Form des

102 Die Unwahrscheinlichkeit, dass die selbstreferenzielle Bedeutung von "de Selby" als das deutsche "derSelbe" (vgl. Mays, "Literalist of the Imagination", a.a.O., S. 91) dem Erzähler nicht aufgeht, wird unterstrichen durch die Tatsache, dass er der deutschen Sprache durchaus mächtig ist: "I had [ ...] embarked upon the task of learning French and German thoroughly in order to read the works of other cornmentators in those languages." (3P: 11) Oe Selby liefert dem Erzähler also gerade nicht die "guidance on many of the major perplexities of existence" (3P: 149), die dieser ihm zuschreibt. 103 Dieser Umstand lässt sich auch betrachten als direkte Fiktionalisierung bzw. Metafiktionalisierung von Roland Barthes' Aufsatz "The Death of the Author", a.a.O. 104 Flann O'Brien in der "Publisher's Note" zum Third Policeman, S. 207. Dort beschreibt O'Brien auch diese schließliehe Diskrepanz von Erzähler- und Leserperspektive: "When you get to the end of this book you realize that my hero [...] has been dead throughout the book [...]lt is made clear that this sort ofthing goes on for ever." Die Hölle des Erzählers besteht also gerade darin, dass er nicht weiß, dass er sich bereits in ihr befindet.

103

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

Grand Recit: dem klassischen Detektivroman.10s Dieses Genre weist ein besonderes metafiktionales Potenzial auf, da der Leser im hermeneutischen Leseakt wie der Detektiv in der Aufklärung des Verbrechens Signifikanten mit verschiedenen Signifikaten zu kombinieren hat:

"Detective Fiction [... ] thematizes narrativity itself as a problem, a procedure, and an achievement [...] [T]he point of a classical detective novel typically consists in reconstructing a hidden story (that is, the crime); and the process of reconstruction (that is, the detection), in its turn, is also usually hidden in essential respects from the reader [... ] The stories that are narrated in detective fiction can profitably be described as stories of writing and reading insofar as they are concerned with authoring and deciphering ,plots' ."lOh Von metafiktionaler Bedeutung ist zudem die "narrowly defined plot-structure" 107 dieses Genres. Detektivgeschichten sind geprägt von festen Konventionen bezüglich Ordnung und Logik, die der Leser erwartet und zum decodierenden Akt des Lesens benötigt. In postmodern-metafiktionalen Detektivromanen w ird das Bild vom Detektiv als "Beobachter par excellence" 108 aber umgekehrt, und der Detektivroman wird zum "Anti-Detektivroman" , in dem die klassischen Elemente metafiktional rekombiniert werden. Die Geschlossenh eit der Geschichte wird dabei gesprengt und Lesererwartungen hinsichtlich einer genreüblichen Auflösung werden enttäuscht: "[The anti-detective novel] frustrates the expectations of the reader, transforms a mass-media gerne into a sophisticated expression of avantgarde sensibility, and substitutes for the detective as central and order-

105 Dies entspricht ebenfalls der Einteilung Linda Hutcheons, die der Form des covert narcissism u.a. das "diegetic model" des Detektivromans zuordnet. Vgl. Punkt 1.2 106 Peter Hühn, "The Detective as Reader: Narrativity and Reading Concepts in Detective Fiction", ln: Modem Fielion Studies, Vol. 3, No. 3, Autumn 1987, S. 451-465; Zitat S. 451. Vgl. auch Waugh, Metafiction, a.a.O., S. 72: " [T]he detective story is almost by definition intensely self-aware." 107 Hühn, "The Detective as Reader'', a.a.O., S. 453 108 Schwanitz, Englische Kulturgeschichte , a.a.O., S. 425. Der Detektiv "betrachtet die Weit durch einen Scanner, der durch die Differenz Relevanz/Irrelevanz codiert ist" (ebd.).

104

FLANN O'BRIEN: AT SW!M-TW0-8/RDS UND THE TH!RD POLICEMAN

ing character the de-centering and chaotic admission of mystery, of nonsolution." 109 Die Operation des Recherchierensund Dechiffrierens erfährt also eine metafiktionale Verschiebung in Richtung der Relation AutorLeser: "By now, the detective is the reader who has to make sense out of an unfinished fiction that has been distorted or cut short by a playful and perverse ,criminal', the writer. Thus detective, criminal, and detection are no Ionger within the fiction, but outside of it." 11 0 So wird der Leser auch im Third Policeman zum Detektiv, der dem Erzähler-Detektiv (der hier selbst ein Mörder ist) misstraut und selbst die "richtige" (metafiktionale) Interpretation für das polyphone Handlungsgeschehen herausfinden muss. Die zentralen Elemente des klassischen Detektivromans bleiben dabei erhaltenm. Die Detektivgeschichte dient aber nicht mehr - wie noch in der Moderne - dazu, menschliche Vernunft zu zelebrieren, sondern wird postmodernistisch benutzt "to express not order but the irrationality of both the surface of the world and its deep structures"m. So triumphiert im Third Policeman am Ende eine antithetische Unlogik, und der anfängliche Mörder stellt sich selbst als Mordopfer heraus. Ein typisch selbstreferenziell-metafiktionaler Verweis auf die dekonstruierende Inanspruchnahme des Detektiv-Genres erfolgt, nachdem der Erzähler Sergeant Pluck beim Aufspüren eines gestohlenen Fahrrads begleitet hat: 109 Stefano Tani, The Ooomed Oetective, Garbondale 1982, S. 40. Vgl. auch das Kapitel "The Metafictional Anti-Detective Novel", S. 134147 110 Ebd., S. 113 111 Den klassischen Vertrauten des Erzähler-Leser-Detektivs bildet Joe (die Seele des Erzählers, mit der der Erzähler ab dem Eintritt in das Reich der drei Polizisten, also seit seinem Tod, kommunizieren kann); die Polizisten tragen Züge einer genreüblichen stereotypen Beschränktheit, die sich in fixierten Ideen und einer bizarren Sprache äußert; das Ende enthüllt Divney als Mörder und löst das "Haupträtsel" um den Aufenthaltsort des Erzählers; und die klassischen falschen Fährten sind gegeben durch die metaleptischen Techniken, die den Text als Text in den Vordergrund stellen und damit von der primären Erzählung ablenken. Vgl. Hopper, O'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 260 f. 112 Waugh, Metafiction, a.a.O., S. 82 f.

105

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

",I have never heard of detective-work as good as that being clone before. Not only did you find the lost bicycle but you found all the clues as well [...] What is the secret of your constabulary virtuosity?' [... ] ,It was an easy thing', he said. [...] ,Even without the clues I would have succeeded in ultimately finding the bicycle.' ,Did you know where the bicycle was?' ,I did.' ,How?' ,Because I put it there."' (3P: 84 f.) Der Bezirk der drei Polizistenm, dem der Erzähler ab dem zweiten Kapitel ausgeliefert ist, stellt eine bis ins Detail durchgeformte Metafiktionalisierung literarischer Prozesse dar. Der Leser wird darauf aufmerksam gemacht, indem ihm die Möglichkeit geboten wird, die nicht stattfindende Selbstbeobachtung des Erzählers zu beobachten bzw. zu sehen, dass der Erzähler nicht dazu fähig ist, von der Beobachtung seiner artifiziellen Umwelt auf die eigene fiktionale Existenz zurückzuschließen. So lassen sich den zahlreichen Naturbeschreibungen des Erzählers deutliche Hinweise auf deren künstliche Konstruiertheit entnehmen, die der Erzähler nicht wahrnimmt: "[T]rees [... ] had been arranged by wise h ands for the pleasing picture" (3P: 39), "Everything seemed almost too pleasant, too perfect, too finely made" (3P: 41), "trees and boulders were put pleasingly to make it true" (3P: 124).114 Die Polizeiwache selbst wirkt "[...] as if it were painted like an advertisement on a board on the roadside and indeed very poorly painted. It looked completely false and unconvincing [...] I had never seen with my eyes ever in my life before anything so unnatural and appaling and my gaze faltered about the thing uncomprehendingly [.. .]" (3P: 55)

113 Bis zum vorletzten Kapitel bekommt der Erzähler (und der Leser) nur die Polizisten Pluck und MacCruiskeen zu sehen; der .,dritte Polizist", Policeman Fox, ist .,never seen or heard" (3P: 79, 157). Der kurze Auftritt von lnspector O'Corky im siebten Kapitel (vgl. 3P: 99 f.) ist somit auch eine falsche Fährte für den Leser, der den im Titel angeführten dritten Polizisten erwartet. 114 Vgl. auch .,lt was a queer country we were in" (3P: 80), "They [the cows] gave us to understand !hat they knew us personally and thought a Iot of our families" (3P: 81 ), "The earth was agog with invisible industry [ ...] Patterns very difficult to imagine were made together [... ] merging into a supernatural harmony" (3P: 129), .,the world in front of me was beautifully given a shape of sharpness or roundness !hat was faultlessly suitable to its nature" (3P: 166).

106

FLANN O'BRIEN: AT SW!M-TW0-8/RDS UND THE TH!RD POLICEMAN

Ebensowenig wird dem Erzähler bewusst, dass alle Charaktere, denen er begegnet, artifiziell gebaut sind -und damit auch Reflektionen seiner selbst bilden: Divney "was made" (3P: 10), Mathers gibt einen "supernatural coughing-sound" (3P: 24) von sich und hat als Augen "mechanical dummies animated by electricity" (3P: 26), und sowohl Martin Finnucane als auch O'Feersa haben wie der Erzähler ein linkes Holzbein - "It echoed hollowly" (3P: 154) -, Finnucane dazu noch "unusual eyes [... ] they seemed tobe incapable of giving a direct glance at anything that was straight [... ]I could not meet his eyes" (3P: 45). Vor allem die Polizisten erscheinen als mechanisch betriebene Marionetten: Der "enormous policeman" (3P: 56) Pluck bietet "a very disquieting appearance of unnaturalness, amounting almost to what was horrible and monstrous" (ebd.), mit einem Gesicht "sitting squarely on the neck of his tunic" (ebd.). Als Pluck sich an den Kopf tippt, hört der Erzähler einen "booming hollow sound [... ] as if he had tapped an empty watering can" (3P: 159) und sein "lower jaw hang loosely as if it were a mechanical jaw of a toy man" (3P: 169).115 Auch sein Kollege MacCruiskeen trägt roboterartige Züge, "his eyes popping and dancing and his face like an empty bag with no blood in it" (3P: 69), sein Lächeln wirkt "inhuman" (3P: 74), und Pluck beschreibt ihn als "a menace to the mind" (3P: 78), "a walking emporium, you' d think he was on wires and worked with steam" (ebd.). Fox, der dritte Polizist, den der Erzähler erst zu Gesicht bekommt, als er am Ende des Buches ein zweites Mal zu Mathers' Haus gelangt, hat ebenfalls künstliche "cheeks [... ] bulging out like two ruddy globes marked here and there with straggles of discoloration" (3P: 189). Er beeindruckt den Erzähler durch seine "overbearing policemanship [...], his domination and his unimpeachable reality" (3P: 186) - eine Beschreibung, die (zusätzlich zum Titel des Romans) auf die besondere Position verweist, die Fox in der metafiktionalen Polizistenwelt einnimmt. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass Fox das Gesicht des ermorde115 ln ähnlicher Weise beschreibt der Erzähler Plucks Atmen als "an unusual brand of music like wind in the chimney" (3P: 83), und von Pluck gesprochene Worte wirken "like a string of bubbles" (3P: 163), "no more significant than the clear sounds that infest the air" (3P: 164).

107

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

ten Mathers annehmen kann, woraufhin seine Augen "charged with unnatural life" (3P: 189) erscheinen. Damit erfolgt ein Bezug auf den ersten Aufenthalt des Erzählers in Mathers' Haus, bei dem die Beschreibung von Mathers' Augen mit dem Motiv des infiniten Regresses verknüpft wurde: "[T]he eyes were horrible. Looking at them I got the feeling that they were not genuine eyes at all [...] with a tiny pinhole in the centre of the ,pupil' through which the real eye gazed out secretively and with great coldness. Such a conception [...] gave rise in my mind to interminable sp eculations [... ] as to whether, indeed, it w as real at all or merely another d ummy with its pinhole on the same plane as the first one so that the real eye, p ossibly behind thousands of these absurd disguises, gazed out through a barre! of serried peep-holes." (3P: 26)116

Das dominierende Motiv des infiniten Regresses ist im Third Policeman generell gekoppelt sow ohl an die grotesken Theorien de Selbysn 7, nach denen auch der surreal-metafiktionale Polizeibezirk operiert, als auch an das Thema des Herstellens von Kunst.118 Der Erzähler wird jedoch nicht der Konsequenz gewahr, dass Fox damit eine besondere metafiktionale Rolle spielt. Im Unterschied zu Pluck und MacCruiskeen, die bereits über ein gewisses Maß an

116 Das häufige Rekurrieren des Erzählers auf die Augen der von ihm beschriebenen Figuren verdeutlicht aufgrund der phonetischen Äquivalenz der Signifikanten "eye"/.,1" zudem den selbstreferenziellen Bezug des gesamten Handlungsgeschehens. 117 So etwa de Selbys zeitmaschinenartige Konstruktion einander reflektierender Spiegel, mit der er sich selbst als "a beardless boy of twelve" (3P: 67) beobachten kann, oder seine Auffassung, .,journeys" seien .,hallucinations", da jede Bewegung aus einer Reihe unendlich kurzer momentaner Ruhezustände bestehe (vgl. 3P: 52 f. ). 118 V.a. die Erfindungen des .,comical artist of a man" (3P: 157) MacCruiskeen, die .,an instance of /'art pour /'art in the extreme" (Lanters, "Fiction Within Fiction", a.a.O., S. 280) bzw. "true art" (3P: 72) darstellen. So zum Beispiel die Lupe, die unendlich vergrößert (vgl. 3P: 141 ), die unsichtbar dünn werdende Speerspitze (vgl. 3P: 69 ff.) und die ineinander verschachtelten Kästchen , die ebenfalls in Unsichtbarkeit enden - "the smallest of all being nearly half a size smaller than ordinary invisibility" (3P: 72)- und damit eine selbstreflexive Metapher für die metafiktionale Chinese-box-Technik bilden. Als Künstlerfigur wird MacCruiskeen zudem zu einer weiteren personifizierten "falschen Fährte", denn der Leser ist geneigt, in ihm auch den Architekten des gesamten Polizeibezirkes zu sehen.

108

FLANN O'BRIEN: AT SW!M-TW0-8/RDS UND THE TH!RD POLICEMAN

"aestho-autogamischen" Fähigkeiten verfügen - und damit dem Erzähler überlegen sind -, verfügt Fox tatsächlich über gottähnliche Schöpferkräfte. Das deutet bereits die Beschreibung an, die Pluck von ihm abgibt: ,"[W]e never see him or hear tel! of him at all because he is always on his beat and never off it and he signs the book in the middle of the night when even a badger is asleep [...] he never interrogates the public and he is always taking notes."' (3P: 79). ",He is down there beyant somewhere [...] but we have never seen him there."' (3P: 157) Fox repräsentiert in dieser Absenz den "Joycean ,invisible author'" 11 9, der sich opakisiert gegenüber dem Leser, um seine Kreation zu kontrollieren. Als Inspector O'Corky von dem Mord an Mathers berichtet und Pluck daraufhin den Erzähler verhaftetJ20, macht Pluck ihm zugleich klar, dass keinerlei Fluchtmöglichkeit besteht: "Policeman Fox would be sure to apprehend you single-handed on the outskirts" (3P: 102). Als allwissender AutorGott kontrolliert Fox die Grenzen des Polizeibezirks, ebenso wie die Rahmungen des Textes. Dies ist ihm möglich, da er im Besitz von "omnium" ist, einem Material über das in geringerem Ausmaß auch MacCruiskeen verfügt, und das dieser dem Erzähler so erklärt: ",Omnium is the essential inherent interior essence which is hidden inside the root of the kerne! of everything and it is always the same [...] [I]t shows itself in a million ways [... ]'" (3P: 113) ",Some people call it God [... ] If you had [... ] even the half-full of a small matchbox of it, you could do anything and even do what could not be described by that name."' (3P: 114) Omnium verleiht also die omniscience eines allwissenden Erzählers, als der sich Fox am Ende dem Erzähler gegenüber heraus119 Hopper, O 'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 134 120 Jedoch nicht aufgrund seiner tatsächlichen Schuld, sondern weil gerade niemand anderes anwesend ist, den man des Mordes bezichtigen könnte: "lt was your personal misfortune to be present adjacently at the time but it was likewise my personal good fortune and good luck." (3P: 101) Dabei zeigt sich bereits das Prinzip der Kontingenz, das den Polizeibezirk beherrscht.

109

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

stellt. 121 Der Erzähler erkennt dabei zwar, dass sich Fox auf einer ontologisch h öher gelegenen Ebene als die anderen Polizisten befindet:122 "[H]e had been [... ] calmly making ribbons of the natural order, inventing intricate and unheard of machinery to delude the other policemen, interfering drastically with time to make them think they had been leading their magicallives for years, bewildering, horrifying and enchanting the whole countryside." (3P: 195)123 Da Fox ihm aber erzählt, dass sich in d er " black box", nach d er d er Erzähler nun wied er zu suchen beginnt, eben solches Omnium befände, ist dieser so geblendet v on den sich ihm bietenden Möglichkeiten, dass er sich selbst nicht in diese allumfassende Fiktionalisierung einbezieht: "[A] wild excitement gripped me [... ) Formless speculations crowded in upon me [...] intoxicating foreshadowing of creations, changes, annihilations and god-like interferences. Sitting at home with my box of omnium I could do anything, see anything and know anything with no Iimit to my powers save that of my imagination [...] I could destroy, alter and improve the universe at will." (3P 195)124 121 Dabei wird seine auktoriale Gottähnlichkeit vom Erzähler deutlich thematisiert: Seine durchs Gras streifenden Schritte sind "soft and rhythmical like a well-wielded scythe" (3P: 187), und ein Blick in seine Augen wirkt "as if I had accidentally glanced at the sun" (3P: 192). 122 Fox ist damit gleichsam der "final uncontained colossus", den der Erzähler imaginiert, als er in einem weiteren infiniten Regress über die mögliche Leiblichkeit seiner Seele Joe reflektiert und dabei auch einen Anflug von "self-awareness" hat: "What if he [Joe] had a body? A body with another body inside it in turn, thousands of such bodies within each other [... ] receding to some unimaginable ultimaturn? Was I in turn merely a link in a vast sequence of imponderable beings, the world I knew merely the interior of the being whose inner voice I myself was? Who or what was the core and what monster in what world was the final uncontained colossus? God? Nothing?" (3P: 123) 123 Mit dieser subversiven Verwendung seiner Allmacht bietet Fox auch eine Darstellung des "metafictionalist personified; a literary saboteur challenging the normative reading codes and writing practices expected in a ,realist' text" (Hopper, O'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 138) 124 Der ebenfall geäußerte Wunsch "1 would bring de Selby hirnself back to life" (3P: 196) erhält durch das Bereits-gestorben-Sein des

110

FLANN O'BRIEN: AT SW!M-TW0-8/RDS UND THE TH!RD POLICEMAN

In traditionell-materialistischer Weise ergötzt sich der Erzähler an den Machtmöglichkeiten, die er als Autor-Gott ausüben könnte. Dennoch kann er sich dabei nicht lösen von der konventionellen Codierung seiner "realen" Realität, wie der Wunsch "Every Tuesday I would make myself invisible" (3P: 196) zeigt. Anders als in At Swim-Two-Birds wird das Konzept des Autor-Gottes also nicht vom Erzähler expliziert, sondern ist diesem und seiner Umwelt implizit eingeschrieben. Als "conventional construction lifted out of realist tradition and thrown into a metafictional world"12S ist der Erzähler dieser Metafiktionalität hilflos ausgeliefert. Auch der Leser erhält keine "Gebrauchsanweisung" (wie etwa die Romantheorie in At Swim-Two-Birds), sondern muss sich eine Orientierung progressiv erarbeiten, indem er die Beobachtungsunfähigkeit des Erzählers beobachtet. Die Wiederholung bestimmter Symbole kann in diesem "retroaktiven" Leseprozess126 deren metafiktionale Bedeutung enthüllen. Den Ansatzpunkt für die Entschlüsselung dieser eng miteinander verwobenen selbstreflexiven Metaphern liefern die Theorien de Selbys, so auch bei der zentralen Metapher des Hauses als metafiktionales Substitut für "Text": "[de Selby] defines a house as ,a large coffin', ,a warren' and ,a box'" (3P: 22). 127 Neben der Tatsache, dass das Haus des alten Mathers für den Erzähler zu einem Sarg wurde, weil Divney ihn ermordete, als er sich zum ersten Mal darin aufhieltJ 28, erfolgen vor allem bei seiner zweiten Visite dieses Hauses gegen Ende des Buches deutliche Hinweise auf die metafiktionale Bedeutung. Vor Mathers' Haus stehend sieht der Erzähler sich zunächst wieder einem übermächtigen Einfluss ausgesetzt: "[S]ome influence came upon my eyes and dragged them round till they were [... ] resting upon the house. They opened

Erzählers und die implizite Gleichung "de Selby = der Selbe" eine zusätzliche metafiktionale Bedeutung. 125 Hopper, O'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 211 126 "Autor und Leser müssen die lineare Struktur des Textes verlassen und ihn zirkulär begreifen, ja in vielseitig vernetzte Zirkel zerlegen können" (Luhrnann, Oie Kunst der Gesellschaft, a.a.O., S. 201) 127 Die Aussage des Erzählers "(A)II that remains of de Selby's work [ ...) is his house" (3P: 153) wird damit zu einer selbstreferenziellen Tautologie- die aber metafiktional signifikant ist. 128 Als Divney den Erzähler in Mathers' Haus schickt, teilt er ihm mit: "lf you meet anybody, you don't know [ ... ] in whose house you are." (3P: 21)

111

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

widely in surprise and once more my startled cry jumped out fromme." (3P: 181) Das Fenster, das von außen einen erleuchteten Raum erkennen lässt- "as if there was somebody [...] reading a book" (3P: 184) -, ist im Inneren des Hauses nicht zu finden. Dort spürt der Erzähler jedoch eine unbestimmbare Präsenz: "I feit I was standing within three yards of something unspeakingly inhuman and diabolical which was using its trick of light to lure me on to something still more horrible." (3P: 184) Die Unheimlichkeit lässt ihn "[stop] thinking, closing my mind up as if it were a box or a book" (3P: 184), und Mathers' Haus erscheint ihm als "evil house" (ebd.) und "hideous house" (3P: 191). Wieder außerhalb des Hauses schmeißt er einen Stein in das Fenster, woraufhin der Schatten "of a large being or presence" (3P: 186) erscheint. Das ist der metafiktionale Auftritt von Fox, dem invisibilisierten Erzähler, der sich "at the side of the window" (ebd.) ebenso wie hinter den Rahmungen des Textes versteckt. Kurz darauf erscheint Fox in persona, und der Erzähler folgt ihm in das Hausinnere - "I found my feet obeying him without question" (3P: 187) -, diesmal durch einen geheimen Seiteneingang, der zu Fox' "tiny police station" (3P: 188) führt:129 "I knew that I was standing, not in Mathers' house, but inside the walls of it." (ebd.) Damit wird das Motiv des infiniten Regresses erneut aufgegriffen, und das Haus erweist sich im Einklang mit den Thesen de Selbys auch als " warren", als Labyrinth. 130 Fox' folgende, an den Erzähler gerichtete Frage wendet sich dann über die Metapher des Hauses (genauer der Polizeiwache) als Text auch direkt an den Leser: ",I am Policeman Fox[ ... ] and this is my own private 129 Der Eingang besteht aus einem kleinen Fenster, durch das der "enormous policeman" (3P: 186) mit Leichtigkeit schlüpft: "1 do not know how he accomplished what did not Iook possible at all. But he accomplished it quickly." (3P: 187) Damit wird eine Parallele zum Anfang gezogen, wo der Erzähler sich ebenfalls durch das Fenster in Mathers' Haus begab: "[T]he open window seemed very far away and much too small to have admitted me." (3P: 23) Die ungewöhnliche Eintrittsweise, die gleichsam einen Eintritt in eine andere Realität bedeutet, öffnet auch einen Bezug zu Lewis Carrolls Werken A/ice 's Adventures in Wenderland (1865) und Through the LookingGiass (1871), in denen Alice die Nonsense-Wellen durch ein Kaninchenlech bzw. durch einen Spiegel betritt. 130 Die weitere Bedeutung von "warren", "Kaninchengehege", liefert ein zusätzliches Indiz für die intertextuelle A/ice-Referenz.

112

FLANN O'BRIEN: AT SW!M-TW0-8/RDS UND THE TH!RD POLICEMAN

police station and I would be glad to have your opinion on it because I have gone to great pains to make it spick and span."' (3P: 189)131 Auf die Frage des Erzählers, warum sich die Polizeiwache innerhalb der Mauern eines anderen Hauses befindet, antwortet Fox mit einer "direct critique of the realist tradition by a metafictional author":132 "It is fixed this way to save the rates because if it was constructed the same way as any other barracks it would be rated as a separate hereditament." (3P: 190) Die selbstreferenzielle Verortung des Hauses (Textes) innerhalb eines anderen Hauses (als metafiktionaler Text im Text) differenziert dieses gegenüber den vererbten Bauwerken (der realistischen Romantradition). Das Betreten der Fox' sehen Polizeiwache erinnert den Erzähler auch an seinen Aufenthalt in der unterirdischen "Betriebszentrale" des Polizeibezirks- genannt "Eternity", da dort die Zeit stillsteht133 (vgl. 3P: 187) -, die ebenfalls einem "little house" (3P: 132) ähnelt und einen Eingang wie eine "porch of a small country church" (ebd.) hat. Innerhalb dieses "Underground heaven" (3P: 187) finden ebenfalls zahlreiche selbstreflexive Metaphern Erwähnung. Die "box" -Metapher wird über die "light-boxes" (3P: 133) aufgegeriffen, und auch der Fahrstuhl wird als "iron box" (3P: 134) beschrieben. Unten angekommen, befindet sich der Erzähler in einer Halle, die, ebenso wie der Roman selbst, "completely circular" (3P: 136) ist.134 Explizitere metafiktionale Bezüge bilden die "two red articles like typewriter keys" (3P: 139), die MacCruiskeen an einer "Eternity" -Maschine betätigt (woraufhin "a rumbling noise as if thousands of full biscuit-boxes were falling down a stairs" (ebd.) erklingt). Zudem vernimmt der Erzähler wiederholt "the sound of hammering, [...] gentle and rhythmical" (3P: 137). Auch hier liefert 131 Dies lässt sich auch als eine Parodie der "Dear Reader"-Einmischungen der realistischen Erzähler des 19. Jahrhunderts lesen. 132 Hopper, O'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 147 133 Dies gilt jedoch auch für den üblichen Polizeibezirk. So heißt es in einer der Naturbeschreibungen des Erzählers "We were now in a country [... ] where it was always five o'clock in the afternoon" (3P: 83), und als der Erzähler am Ende, nach drei Tagen erzählter Zeit im metafiktionalen Polizeibezirk, wieder auf Divney trifft, sind sechzehn Jahre "realer fiktionaler" Zeit vergangen (vgl. 3P: 203). 134 Verstärkt wird dieser Bezug dadurch, dass die "Eternity" "no size at all" (3P: 138) hat bzw. jede der verschiedenen Hallen "in every respect an exact replica of the one we had just left" (ebd.) ist.

113

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

eine Aussage de Selbys - "hammering is anything but what it appears tobe" (3P: 149) - den Hinweis auf eine metafiktionale Lesart, die die Hammer-Geräusche als Schreibmaschine-Tippen des unsichtbaren Autor-Gottes decodieren kann.13S Die selbstreferenziellen "hammering" -Bezüge erfolgen auch in direktem Zusammenhang mit dem Bereits-verstorben-Sein des Erzählers bzw. der Metaphorisierung von Leben als Fiktion und vice versa. So bilden Plucks Hammer-Geräusche die Bausteine für den Albtraum des Erzählers von seinem eigenen Tod, in den auch die "coffin/box" -Motive verwoben sind: "Lying in my dark blanket-padded coffin I could hear the sharp blows of a hammer nailing down the lid." (3P: 124) Später wird der Erzähler durch Hammer-Geräusche vom Schlafen abgehalten: "Outside there was a man [... ] hammering a wooden framework he was erecting in the barrack yard." (3P: 154) Dabei handelt es sich um den holzbeinigen O'Feersa - ein Spiegelbild des holzbeinigen Erzählers -, der den Galgen zimmert, an dem der Erzähler hingerichtet werden soll. Die ins Extrem gesteigerte selbstreferenzielle Ironie solcher Szenen wird durch angsterfüllte Vorstellungen des Erzählers von seinem Tod noch unterstrichen, etwa wenn er albträumt "I was dead" (3P: 124) oder bemerkt "I am sure I was nearly dead." (3P: 169)136 Das für den Erzähler errichtete "wooden framework" verweist selbstreflexiv auf die Rahmungsprozesse fiktionaler Texte, die von metafiktionalen Roma135 Weitere metafiktionale Bezüge auf das Handwerkzeug des Schriftstellers erfolgen, wenn dem Erzähler eine Fahrradpumpe "like a Iarge fountain-pen" (3P: 81) erscheint- wobei zugleich Bezu darauf genommen wird, dass Divney Mathers mit einer "bicycle-pump" (3P: 7) niedergeschlug - oder wenn der Erzähler sich in der "Eternity" einen "fountain-pen and writing materials" (3P: 141) wünscht. 136 Ähnlich seine Äußerungen "I feit very ill and exhausted. I was about to shout [ ... ) that I was dying" (3P: 131 ), "Compared with this sleep, death is a reslive thing" (3P: 148) oder .. 1 knew that I would be dead if I lost consciousness" (3P: 189 f.). Zu der Zum-Tode-Verurteilung des Erzählers merkt Pluck metafiktio-nal an: "The particular death you die is not even a death [... ] only an insanitary abstraction in the backyard, a piece of negative nullity neutralized." (3P: 105) Die Ahnung des Erzählers "Perhaps I was dreaming or in the grip of some horrible hallucination. There was much that I [... ] possibly could never understand to my dying day" (3P: 191) zeigt zudem wieder den Bezug zu den Theorien de Selbys, der von der "permanent hallucination known conventionally as ,life"' (3P: 98) spricht und orakelt "death is nearly always present when the new direction is discovered" (ebd.).

114

FLANN O'BRIEN: AT SW!M-TW0-8/RDS UND THE TH!RD POLICEMAN

nen durchbrachen werden, um einen Text als Artefakt bloßzulegen.B7 Solche metaleptischen Techniken finden auch in der verdeckten Metafiktion des Third Policeman Verwendung. Ausgehend von der Basisstrategie des self-conscious narrator allegorisiert O'Brien den Rezeptionsprozess mit klassischen metafiktionalen Rahmenbrechungs-Techniken wie Fußnoten, Listen, Tabellen, Grafiken und der Verwendung verschiedener Schriftarten. Weniger offensichtlich ist die Methode der Dekonstruktion arbiträrer semiotischer Muster, etwa wenn sich der Erzähler, wie erwähnt, wünscht: "Every Tuesday I would make myself invisible" (3P: 196) - und damit zeigt, dass er auch als gottgleicher Schöpfer einer konventionellen temporalen Ordnung verhaftet bleibt. Die häufige Erwähnung von Wochentagen (besonders deutlich im ersten Kapitel) und Uhrzeiten erbringt keinen Informationsgewinn im herkömmlichen Sinne, sondern thematisiert eine Selbstreferenz, die eine metafiktionale Lesart anregt. Die auffällige Wiederholung der Zahl drei138, die bereits den Titel prägt, bedeutet in ihrem intertextuellen Rückgriff auf ein "magisches" Symbol aus Folklore und Märchen ebenfalls einen Hinweis auf die Artifizialität des Erzählten - und steht damit einem traditionell-realistischen Romankonzept entgegen: "The principle of verisimilitude underlying realist fiction would naturally tend to avoid such consciously textualised references, [...] because they suggest the shaping hand of an author."139 Das gilt auch für die typografischen Formen der metalepsis, etwa die "figures for a week' s readings" (3P: 106) der " Eternity"Maschinen:140 Das Lesen der Tabelle lenkt den Leser ab vom Lesen

137 Auch de Selby wird von einem seiner Kommentatoren metafiktional beschrieben als .,living in a world arbitrarily bounded by a wooden frame" (3P: 66). 138 Vgl. 3P: 15, 16, 45, 75, 88, 90, 93, 116, 125, 159, 182, 184, 190. Zudem zeigt sich darin eine Parallele zu der Drei-Ebenen-Struktur von At Swim-Two-Birds. 139 Hopper, O 'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 168 140 Die kryptischen Kategorien dieser Tabelle (.,Pilot Reading", "Reading on Beam", "Reading on Lever" und "Nature of Fall (if any) with Time") und die dazugehörigen Werte dechiffriert Hopper schlüssig als metafiktionale Synonyme für "Author", "Text", .,Reader" und den .,Fall as the story evolves" des Erzählers. Vgl. Hopper, O'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 172 ff. Ironischerweise erklärt der Erzähler selbst

115

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

des "eigentlichen" Textes. Eine derartige Beeinflussung erfolgt verstärkt in den zahlreichen Fußnoten, in denen der Erzähler die Theorien de Selbys und die verschiedenen Kommentare seiner Exegeten ausführt. Als Diskurs innerhalb eines Diskurses - eine weitere Form der Chinese-box-Technik- können die Fußnoten zuweilen sogar die Primärerzählung ausschalten. So vor allem die letzte Fußnote, die sich über fünf Seiten erstreckt (vgl. 3P: 172-176) und den Primärtext als Prätext verdrängt. Hopper zufolge stellen die Fußnoten in toto ein zusätzliches dreizehntes Kapitel des Romans dar, "a secret compartment which mirrors the Chinese-box motif pattern of the work itself"1 41. Zugleich bilden die Fußnoten bzw. die darin angeführten Theorien de Selbys aber auch die konstitutionelle Basis für die Beschaffenheit des Polizeibezirks. Sie ermöglichen es dem Leser damit, eine marginale Position einzunehmen, von der aus er die Organisationsprinzipien des Primärtextes beobachten kann. Indem die Fußnoten dem Leser also Hinweise bezüglich der Decodierbarkeit der Primärerzählung liefern, erfüllen sie paradoxerweise gleichzeitig ihre konventionelle Funktion. Der Erzähler wird als Herausgeber der Fußnoten und Autor des "De Selby Index", in dem er alle Kommentare zum Thema de Selby versammelt, zum Meta-Exegeten und damit zugleich gespalten zwischen Erzähler und Herausgeber.142 Dadurch wird ein weiteres autokritisches Moment geschaffen, denn der Erzähler kann sich als Herausgeber kritisch gegenüber den anderen Kommentatoren und auch gegenüber de Selby äußern.143 Der potenzu der Tabelle: .,For obvious reasons the figures themselves are ficticious." (3P: 106) 141 Hopper, O'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 185. Der Charakter der Fußnoten als separater Diskurs wird untermauert durch eine starke fußnoteninterne Selbstreferenzialität, die sich letztlich selbst ad absurdum führt. So kommentieren die Exegeten in der letzten Fußnote nur noch einander (inklusive diverser Sekundärliteratur-Angaben, etwa über den de Selby-Exegeten Hatchjaw) und stellen dabei sowohl die Existenz anderer Kritiker als auch de Selbys selbst in Frage (vgl. 3P: 174 ff.). 142 Diese Spaltung wird gedoppelt durch die Spaltung zwischen dem Erzähler und seiner Seele Joe, die auch typografisch vollzogen wird, da Joes wörtliche Rede in kursivierter Schrift erscheint. 143 So spricht der Erzähler etwa beständig von dem "shadowy" (3P: 150, passim) und "credulous Kraus" (3P: 120) oder dem "sardonic du Garbandier" (3P: 96) und äußert auch Kritik an den Theorien de Selbys: "[T]here can be no doubt that de Selby was much mistaken

116

FLANN O'BRIEN: AT SW!M-TW0-8/RDS UND THE TH!RD POLICEMAN

zielle Plausibilisierungseffekt wird aber schon dadurch zunichte gemacht, dass der Erzähler selbst zum Opfer kritischer Stellungnahmen wird, nämlich von Seiten Joes. Joe liefert dem Erzähler dann etwa einen "hint of the pretensions and vanity that you inwardly permit yourself" (3P: 44) oder fragt skeptisch: "You don' t mean to say that you believe in this eternity business?" (3P: 129) In solchen Momenten wird Joe zum personifizierten impliziten Leser, der - ähnlich wie die fiktiven Leser im Tristram Shandy - stellvertretend für den realen Leser Zweifel am Erzählten artikulieren kann. Mit der Positionierung Joes auf extradiegetischer Ebene wird also ein weiterer Rahmen offen gelegt, der erneut das inkorporierte Motiv des infiniten Regresses aufzeigt, das die Erzählung fragmentarisiert. So wie in den Fußnoten der Einbezug von Fremdtexten explizit praktiziert wird144, ist der Roman auch durchsetzt von einer Reihe realer intertextueller Referenzen. Als Metapher für diese Intertextualisierung, die auch den autopoietischen Charakter des Kunstsystems beschreibt, kann Plucks "Atomic Theory" angesehen werden: "Everything is composed of small particles of itself." (3P: 86) Das Muster des infiniten Regresses evoziert mit Huxleys Point Counter Point einen Prätext, der bereits als Vorlage für At Swim-Two-Birds diente, ebenso w ie sich auch erneut Motive aus Pirandellos Six Persans finden lassen.145 Das erste Kapitel des Third Policeman stellt zudem in seinem dekonstruktiven Rückgriff auf die Form des traditionellen Bildungsromans eine erneute Parodierung von Joyces Portrait dar. Ein klassischerer intertextueller Bezug erfolgt über die Faust-Legende: Wie bei Marlowes Faustus in The Tragical History of Doctor Faustus (1589) und Goethes Faust (1808) ist auch der Erzähler des Third Policeman ein Gelehrter, der

in these ideas" (3P: 23), "his minor failings" (3P: 95), "de Selby is rather vague" (3P: 98). Auch de Selbys "journey"-Theorie weist der Erzähler ironischerweise von sich: "Of my own journey to the policebarracks I need only say that it was no hallucination." (3P: 54) 144 Unterstrichen wird das durch die Nennung zahlreicher fiktiver Literaturangaben und das Zitieren fremdsprachlicher Textsequenzen (z.B. 3P: 33, 95). 145 MacCruiskeens wiederholte Phrase "unless I am a Dutchman" (z.B. 3P: 114 ff.) spiegelt die Äußerung der Produzenten-Figur aus Six Persons: "[...] or l'm a Dutchman". Zitiert nach Hopper, O'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 129 f.

117

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

sündigt (für de Selby = sich selbst), um Allwissenheit zu erlangen (die "black box" mit Omnium= omniscience)_146 Wie in At Swim-Two-Birds lassen sich auch im Third Policeman intertextuelle Referenzen auf die Dramen Shakespeares nachweisen. Diese Bezu gnahme w ird bereits dadurch expliziert, dass eines der beiden Mottos, die dem Roman vorangestellt sind, von Shakespeare stammt.1 47 So verkörpert der Erzähler einen Reisenden in der "undiscover' d country from whose bourn no traveller returns" (Hamlet: III, 1, 79-80), und seine Schilderung des SpatenMordes am alten Mathers ruft die Harnlet-Totengräberszene in Erinnerung:"[... ] knocked about the mazzard with a sexton's spade" (Hamlet: V, 1, 95-6), " [... ] knock him about the sconce w ith a dirty shovel" (Hamlet: V, 1, 108-9). Gloucesters Aussage im King Lear liest sich zudem wie eine Beschreibung der Beziehung de Selbys zum Erzähler im Third Policeman: "'Tis the times' plague, when madmen lead the blind." (King Lear: IV, 1, 46)148 Einen weiteren bedeutsamen Prätext des Third Policeman bildet au ch Joris-Karl Huysm ans ästhetizistischer Roman A Rebours (1884). O'Brien w ar "greatly taken with A Rebours [... ] especially with the protagonist, the eccentric aristocrat-philosopher-savant, Des Esseintes" 149. Dass de Selby einen ironischen Nachfahren von Des Esseintes darstellt, verdeutlicht bereits die Namensähnlichkeit. Viele der in A Rebours von Des Esseintes eingeführten Motive 146 Eine weitere Parallele zum Doctor Faustus bildet der Wunsch des Erzählers nach Unsichtbarkeit sowie sein amputiertes und durch ein hölzernes ersetztes Bein. Vgl. Hopper, O'Brien: A Portrait, S. 149, 213. 147 "Since the affairs of men rest still incertain, let's reason with the worst that may befall." (Ju/ius Caesar (1599): V, 1, 96 f. ). Dadurch, dass das zweite Motto einen Ausspruch de Selbys beinhaltet, erfolgt bereits vor dem Beginn der Erzählung ein fiktionaler Rahmenbruch. 148 Ebenso lassen sich die Worte Macbeths auf den Third Policeman beziehen: "Life's but a poor walking shadow, a poor player, that struts and frets his hour upon the stage and then is heard no more. lt is a tale told by an idiot, full of sound and fury, signifying nothing." (Macbeth (ca. 1606): V, 5, 24-28). Ein weiterer Ham/et-Bezug ergibt sich aus Harnlets Bemerkung gegenüber Polonius: "(Y]ou yourself, sir, should be as old as I am, if, like a crab, you could go backward" (Hamlet: II, 2, 208-10): de Selbys Spiegelungs-Verjüngungsmethode (vgl. 3P: 66 f.) ist eine Realisation dieses Rückwärtsgehens in der Zeit, und Fox besteigt die Treppen zu seiner Polizeiwache "fully sideways like a crab" (3P: 188). 149 Sheridan, "Brian , Flann and Myles", a.a.O., S. 51

118

FLANN O'BRIEN: AT SW!M-TW0-8/RDS UND THE TH!RD POLICEMAN

finden eine Wiederkehr im Third Policeman, etwa die Farbentheorie (3P: 33 ff.)1so oder die Synästhesie-Thematik.lSl Außerdem parodiert und kritisiert O'Brien im Third Policeman auch Synges Playboy of the Western World (vgl. 5.1.) bzw. Synges synkretischen Sprachgebrauch, indem er den Erzähler des Third Policeman zu einem "reincarnated playboy of a post-modernist western world"152 macht. Neben diversen weiteren intertextuellen Quellen153 stellen auch Lewis Carrolls Alice-Romane aufschlussreiche Referenzen des Third Policeman dar.154 Schon die Zwölf-Kapitel-Struktur ist den Romanen gemeinsam. Daneben herrschen im Polizeibezirk des Third Policeman wie im Wonderland neue Gesetze bezüglich Zeit, Raum und Sprache, worauf bereits Plucks Wonderlandartige Äußerung "This is not today, this is yesterday" (3P: 63) hinweist. Humpty Dumptys "un-birthday"lss findet eine Spiegelung in MacCruiskeens "no-bicycle" (3P: 70), und die Äußerung der White Queen: "The rule is, jam to-morrow and jam yesterday

150 Dieser Farbentheorie zufolge lässt sich aus der Anzahl übereinandergetragener "gowns" Uährlich gesellt sich ein weiteres dazu) bzw. der sich daraus ergebenden Dunkelheit der Farbe die Todesnähe der jeweiligen Person erlesen (schwarz = Tod). Dies wird im Third Policeman metafiktional weiterverwertet Die Polizisten "have been there for hundreds of years. They must be operating on a very rare colour" (3P: 37), und als der Erzähler sich entkleidet, erweist sich seine Bekleidung als "much more numerous than I had expected and my body was surprisingly white and thin" (3P: 119). 151 MacCruiskeens "light-mangle", die Licht in Geräusch umwandeln kann (3P: 109 f. ), bildet ein Äquivalent zu Des Esseintes' LikörSymphonie. Vgl. Mays, "Literalist of the Imagination", a.a.O., S. 92 152 Hopper, O'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 236 153 So beziehen sich etwa de Selbys Theorien über Häuser ohne Dächer bzw. Wände (3P: 22) auf die Akademie von Lagado in Swifts Gul/iver's Travels (1726), und die über de Selby dargestellte Wissenschaftssatire speist sich zu großen Teilen aus Büchern J.W. Dunnes. Vgl. Hopper, O'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 183 f., 191 f., 230 ff. 154 Vgl. dazu auch Wim Tigges, "lreland in Wonderland: Flann O'Brien's The Third Policeman as a Nonsense Novel", ln: C.C. Barfoot & Theo D'haen (Hg.), The Clash of lreland: Literary Contrasts and Connections, Amsterdarn 1989, S. 195-208 155 Lewis Carroll, Alice's Adventures in Wanderfand and Through the Looking-G/ass, London 1982 (Oxford-World's-Ciassics-Ausgabe ), S. 189

119

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

- but never jam to-day" 156 wird im Third Policeman aufgegriffen, indem Fox dem Erzähler (unter Verwendung der Haus/TextMetapher) die unbegrenzten Möglichkeiten des Omniums darlegt: "You could have a house packed full of strawberry jam, every room so full that you could not open the door." (3P: 192) Auch Humpty Dumptys Namenstheorie- "Of course [a name] must [mean something] [... ] my name means the shape I am" 157 findet ein Echo im Third Policeman in der lautmalerischen Namenstheorie de Selbys (vgl. 3P: 42). Und ebenso wie Alice im Looking-Glass-Wald verliert auch der Erzähler des Third Policeman im Polizeibezirk die Erinnerung an seinen Namen: "I did not know my name, did not remember who I was." (3P: 32) Das Hinweisen auf die Relation von Signifikant und Signifikat verweist, ebenso wie die anderen selbstreflexiven Beispiele, auf den postmodernen Charakter sowohl der A1ice-Romane158 als auch des Third Policeman. Das für die Postmoderne charakteristische Aufzeigen der Arbitrarität jeglicher Bezeichnungssysteme steht im Third Policeman oft in direktem Zusammenhang mit dem Namensverlust des Erzählers und der daraus resultierenden Kontingentsetzung von Identität: ",I can always get a name [... ] Doyle or Spaldman is a good name and so is O'Sweeny and Hardiman and O'Gara. I can take my choice. I am not tied down for life to one ward like most people."' (3P: 33) Die Darstellung der Kontingenz von Namensgebung kann dann auch über auflistende Namensvorschläge erfolgen, die eine typografische Fragmentarisierung des Textes bewirken (vgl. 3P: 43, 103 ff. ). 159 In jedem Fall verweist die Suche nach möglichen Signifikanten für ein Signifikat auf die generelle Arbitrarität von

156 Ebd., S. 174. Die Erklärung der White Queen für diesen Sachverhalt, "That's the effect of living backwards" (ebd., S. 175), bildet zu dem eine weitere Parallele zu de Selbys Spiegel-Experiment. 157 Ebd., S. 186 158 "Aiice in Wanderfand [nimmt] den linguistic turn der späteren Oxforder Philosophie vorweg und antizipiert die Textualisierungspraktiken des selbstreferenziellen Romans der Moderne und der Postmoderne [...) Through the Looking-Giass [... ) radikalisiert die Dimension der Paradoxie und der Selbstreflexivität [... )" (Schwanitz, Englische Kulturgeschichte, a.a.O., S. 395 f.) 159 Ähnlich Finnucanes Aufzählung der möglichen Berufe des Erzählers (vgl. 3P: 46 f.)

120

FLANN O'BRIEN: AT SW!M-TW0-8/RDS UND THE TH!RD POLICEMAN

Referenzsystemen.160 Der gesamte Roman ist durchzogen von dem Bestreben, die Kontingenz und Willkürlichkeit der "Realitäts" -Strukturierung bloßzulegen. Angefangen bei der scheinbar wahllos getroffenen Nennung bestimmmter Wochentage und Uhrzeiten über die arbiträre Inhaftierung und Zum-Tode-Verurteilung des Erzählers wird die gesamte "Realität" des Polizeibezirks durchweg als "a reality created by means of language" 161 herausgestellt, oder wie Pluck dem Erzähler mitteilt: " If you have no name [... ] you do not exist." (3P: 64) Zum Bezugsproblem wird damit die Befangenheit des Erzählers in den "reasonable mental procedures which he has learned to depend on as his means of knowledge" _162 Mit seinem traditionellen Wahrnehmungsraster ist er den metadeskriptiven Beschreibungen und der sich selbst thematisierenden Sprachlichkeit hilflos ausgeliefert: "I did not understand the significance of anything" (3P: 135), und Plucks Worte erscheinen ihm "no more significant than the clean sounds that infest the air" (3P: 164). Dem Erzähler ist es nicht möglich "to connect events in causal series", denn seine "primary means of making shape - of knowing - are dictated by chronological, linear arrangements" .163 Auf die Frage des Erzählers, wie groß die "Eternity" sei, antwortet Pluck: " It has no size at all [... ] because there is no difference anywhere in it." (3P: 138) Ohne binäre Oppositionen ist dem Erzähler keine Signifizierung möglich, er erkennt "no difference between any different things" (3P: 163). Bedeutungsgabe wird unmöglich in einer Welt, die rein selbstreferenziell gebaut ist, wie 160 Weitere Beispiele dafür sind die möglichen Bezeichnungen für die Geräusche, die MacCruiskeen mit seiner "light-mangle" produziert (vgl. 3P: 111 f.) oder - in Umkehrung des Schemas - die Suche nach einem passenden Signifikat für den Signifikanten "bulbul": "What would you say a bulbul is?" (3P: 67 f.). Auch im de SelbyFußnoten-Subtext wird diese Thematik reflektiert: De Selbys "Codex" - "a collection of some two thousand sheets of foolscap closely hand-written on both sides" - dient in seiner Unentzifferbarkeit ("not one word of the writing is legible") als Auslöser für disparate Interpretationen seiner Exegeten, die von "a penetrating treatise on old age" bis zu "a not unbeautiful description of lambing Operations on an unspecified farm" (3P: 150) reichen. 161 Tigges, "lreland in Wonderland", a.a.O., S. 195 162 Shea, O'Brien's Exorbitant Novels, a.a.O., S. 123 163 Ebd., S. 128. An anderer Stelle beschreibt der Erzähler sich deshalb selbst als "deprived of definition, position and magnitude and my significance was considerably diminished" (3P: 121)

121

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

der Erzähler in einer seiner metafiktionalen Reflektionen bemerkt: "The whole world seemed to have no purpose at all save to frame it." (3P: 56) Realität erscheint als Fiktion, die diskursiv gerahmt ist "so that I could [... ] pretend to myself that I understood it" (ebd.). Obwohl der Erzähler ahnt, dass er sein traditionelles Dechiffriersystem überdenken muss - "It was possible that I would have to forego the reality of all the simple things" (3P: 89 f.) -, bleibt sein "mind strangely empty [... ] occupied only with the mechanical task of finding a black box" (3P: 23), und er muss sich der allumfassenden Kontingenz fügen: "Anything can be said in this place and it will be true and will have to be believed." (3P: 88)164 Die Hölle des traditionell gepolten Erzählers besteht in ihrer postmodernen Kontingenz. Wie in At Swim-Two-Birds betreibt O'Brien damit auch im Third Policeman die metafiktionale Demontage jener traditionellselbstaufklärerischen Erzählmuster, die das metafiktionale Erzählproblem des Tristram Shandy verdeckten. Das Verschachtelungsprinzip und selbstreferenzielle mise-en-abyme des Third Policeman bewirkt, ebenso wie beim offen metafiktionalen At SwimTwo-Birds, dass der Leser in paradoxer Weise zugleich vom Text entfremdet und in ihn hineingezogen wird. Den metaleptischen Distanzierungstechniken steht das dichte Geflecht interner Parallelisierungen und die starke Verwobenheil der verschiedenen Erzählebenen und selbstreflexiven Metaphern entgegen: "Structure and style [... ] come to mirror a vision of infinite recession which appals, fascinates and amuses", "we are trapped within a selfspun web, imprisoned in an infinite hall of mirrors" 165. Die quasi-organische Einbettung der polyphonen Metafiktionalität im Third Policeman ist aber eine "evolution of the method [... ] from that of At Swim-Two-Birds"166, weil sowohl die bloßgelegte realistische mimesis als auch die latente metafiktionale diegesis Bedeutung erlangen. In The Third Policeman nutzt O'Brien damit in subtilerer Weise die "devices of traditional fiction as its building 164 Pluck reformuliert diesen Umstand folgendermaßen: "[l]f you lived here for a few days and gave full to your Observation and inspection, you would know how certain the sureness of certainty is." (3P: 89) 165 Mays, "Literalist of the Imagination", a.a.O., S. 91, 93 f. Vgl. auch Jerry McGuire, "Teasing after Death: Metatextuality in The Third Policeman", ln: Eire-lreland, XVI, 2, (1981), S. 107-121 166 Mays, "Literalist of the Imagination", a.a.O., S. 90

122

FLANN O'BRIEN: AT SW!M-TW0-8/RDS UND THE TH!RD POLICEMAN

blocks, showing how life is a series of reference points, frames and contexts"1&7. Der Erzähler ist bei seinem re-entry ins Erzählte selbst unbewusster Teil des metafiktionalen Geschehens und kann die Fiktionalität der Figuren somit nicht offen herausstellen. Daher kann der Leser dem Erzähler das Erzählte noch schwieriger als eine willkürliche Handlungs-Selektion zuschreiben. Durch die parodistische Verwendung des mit dem Grand Recit verbundenen Detektivroman-Schemas, dem Einheit, Geschlossenheit und Erkenntnis dekonstruktivistisch verweigert werden, muss der Leser (wie der Erzähler) selbst zum Detektiv werden, um anhand metaleptischer Indizien den metafiktionalen Subtext zu entschlüsseln. Das Ringen um Bedeutung von Seiten des Erzählers spiegelt die detektivische Bedeutungssuche des Lesers: "[The narrator] represents the ,reader' in conversation with the ,author"' 168 . Dieser "author" verleitet den Leser-Detektiv fortwährend zu Fehlinterpretationen: "[T]he reader [... ] has been constantIy tripped up by false Ievels of representation." 169 Damit wird eine unkonventionelle Lesart prämiert, so wie die Spurensuche des Detektivs im klassischen Detektivroman von Erfolg gekrönt wird aufgrund seiner "ability to question preconceived notions and break through automized modes of perception"17o. In seinem zirkulären Bau liefert der Roman zudem eine besonders komplexe Form überraschender Information bzw. "die Chance, auch bei wiederholtem Durchgang immer wieder etwas Neues zu entdecken", weil "die Beobachtungen des Betrachters nicht eindeutig festgelegt sind und von Durchgang zu Durchgang variieren können" :171 "[W]enn man amEnde-oder mit geschultem Blick sogleich- die Auflösung des Rätsels in der Hand hat, weiß man wieder nur, dass es keines war. Der Beobachter sieht sich selbst als irregeleitet [ ...] Er hat sich einer Korrektur seiner Erwartungen zu fügen." 1 72

167 Hopper, O'Brien: A Portrait, a.a.O. , S. 144 168 Ebd., S. 146 169 Ebd., S. 141. Der Leser wird (v.a. im ersten Kapitel) dazu angeregt, konventionelle Interpretationsmodelle anzuwenden, die dann vom Text unterminiert und als selbstreferenzielle Delusionen enthüllt werden. 170 Hühn, "The Detective as Reader", a.a.O., S. 455 171 Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.a.O., S. 85 172 Luhmann, "Weltkunst", a.a.O., S. 23

123

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

Die zirkuläre Plotstruktur des Third Policeman reflektiert mithin die selbstreferenzielle Zirkularität, die an Stelle überlieferter Repräsentations- und Referenzmodelle tritt und diese in ihrer Konstruiertheit bloßlegt: "This is the inescapable circularity of discourse that iniorms all works in the post-modernist Paradise Lost: after Adam there is no original, prelapsarian thought, merely a language that is culturally inherited."173

The Third Policeman erscheint damit als früher Meilenstein der literarischen Postmoderne: " [I]t is clear [... ] that The Third Policeman, alongside Joyces more elitist Finnegans Wake, ranks as the first great work of post-modernism."I74

173 Hopper, O'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 199 174 Ebd., S. 263

124

6.

Anschi usskom muni kationen: Tristram Shandy und die Romane O'Briens

By long journeys and much friction, it so happens that the body of the rider is at length filled as full of HOBBY-HORSICAL matteras it can hold (Tristram Shandy) Is it about a bicycle? (The Third Policeman)

Die Analyse von At Swim-Two-Birds und The Third Policeman zeigt, dass beide Romane postmodern-metafiktionale Dekonstruktionen des Grand Recits darstellen, indem sie (offen bzw. verdeckt) das selbstaufklärerische Erzählmuster wieder offen legen, das die von Sterne im Tristram Shandy thematisierten Erzählprobleme verdeckte. In diesem abschließenden Teil sollen in einem direkten Vergleich noch einmal die Ähnlichkeit der von Sterne und O'Brien verwendeten metaleptischen Techniken und die direkten Bezugnahmen O'Briens auf Sternes Tristram Shandy aufgezeigt werden. Die Ar t der Differenzen innerhalb dieser gleichartigen metafiktionalen Ansätze verdeutlicht den jeweiligen Bezug der Kunstkommunikationen Sternes und O'Briens zur fortgeschrittenen Ausdifferenzierung des Kunstsystems. Dass die Romane At Swim-Two-Birds und The Third Policeman direkte Anschlusskommunikationen an Sternes Tristram Shandy darstellen, offenbart sich anhand eines "enormous amount of

125

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

compositional and thematic correspondances" 1 . Dazu zählen schon die kritisch-parodistischen Anschlüsse an die jeweilige Romantradition. Sterne rebelliert gegen Erzählkonventionen hinsichtlich Plot, Handlungssequenzierung und Kausalitätsprinzip und legt diese als artifiziell bloß: "The dissatisfaction with the state of the novel led Sterne to parody, even pervert, established narrative conventions." 2 Die Realisierung von Tristrams Plan ,,I shall confine myself [not] [... ] to any man's rules that ever lived" (TS: I, 4, 38) führt zu einer durchgehenden Fragmentarisierung des Erzählten. Die offen metafiktionale Thematisierung erzählerischer Techniken und Methoden, etwa das "chapter upon chapters" (vgl. TS: IV, 10, 282 ff.) oder die grafische Abbildung des Handlungsgeschehens (vgl. TS: VI, 40, 453 f.), entlarvt die Künstlichkeil des quasi-biografischen "History Books" des 18. Jahrhunderts und konfrontiert als "history-book [... ] of what passes in a man's own mind" (TS: II, 2, 107) die Erzähltraditionen mit der Forderung: "[T]hat it may be a lesson to the world, ,to Iet people tell their stories their own way"' (TS: IX, 25, 602). Auch O'Briens Romane richten sich, wie beschrieben, gegen konventionelle Erzählmuster, genauer gegen die große Metaerzählung des realistischen Romans des 19. Jahrhunderts. Während At Swim-Two-Birds einen offenen ("demokratischen") Affront wider den melodramatisch-moralistischen Roman und den gottähnlich-auktorialen Erzähler darstellt, erfolgt die Dekonstruktion traditioneller Erzählstrategien im Third Policeman verdeckt. Das zirkulär-repetitive Ende des Third Policeman, das sich gegen herkömmliche, durch Tod oder Heirat markierte Enden realistischer Romane wendet, reflektiert dabei den Schluss des Tristram Shandy, der ebenfalls einen Kontrapunkt zum konventionellen (Abenteuer-)Roman bildet.3 Sterne und O' Brien gehen damit konform in ihrer Unkonformität gegenüber der jeweiligen Tradition: "Both authors manipulate, place, displace, and replace as it suits them [... ] This fragmentation makes nonsense out of traditional storytelling methods."4 Rüdiger lmhof, "Two Meta-Novelists: Sternesque Elements in Novels by Flann O'Brien", in: ders. (Hg.), Alive Alive 0!, a.a.O., S. 160-190;

ZitatS. 161 2 Ebd., S. 163 3 Vgl. Hopper, O'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 150 f. 4 Ebd., S. 220

126

ÄNSCHLUSSKOMMUNIKATIONEN: STERNE UND O'BRIEN

Die metafiktionalen Techniken, derer sich Sterne und O'Brien dabei bedienen, sind zum Großteil identisch. So verwenden beide Autoren unreliable narrators, deren idiosynkratische Erzählweisen digressionale Unterbrechungen zur Folge haben. Im Third Policeman erfolgt gleich zu Beginn, wie im Tristram Shandy, eine Umkehrung des konventionellen Ursache-Wirkung-Schemas: Der Anfangssatz - "Not everybody knows how I killed old Philip Mathers" (3P: 7) - erzeugt eine Spannung, die sofort durch eine Digression abgelöst wird: "[B]ut first it is better to speak of my friendship with John Divney." (ebd.) Die Lesererwartungen hinsichtlich des Mordgeschehens werden später zudem insofern enttäuscht, als dass sich dessen Bedeutung als nur zweitrangig entpuppt gegenüber der Quest des Erzählers im metafiktionalen Polizeibezirk Die Digressionen spalten die Erzählung und sind damit Teil der polyphonen Komposition, die alle drei Romane kennzeichnet und die sich in O'Briens Romanen wie im Tristram Shandy gegen traditionelle Erzählweisen richtet: "This concept of associative time-shifts parallels Tristram' s transgressing of conventional narrative schemes that report temporal events in chronological succession."s Im Tristram Shandy wird das dadurch betont, dass Tristram seine "hobby-horsical" Methode der Charakterdarstellung konventionellen Ansätzen ausdrücklich entgegenstellt (vgl. TS: I, 23, 97 f.). Als sein eigenes hobby-horse kennzeichnet er so auch seine eigenwillige Erzählstrategie: "[M]y hobby-horse [... ] [is] the sporting little filly-folly which carries you out for the present hour - a maggot, a butterfly, a picture, a fiddlestick - an uncle Toby's siege - or an any thing, which a man makes a shift to get a-stride on [...] 'Tis as useful a beast as is in the whole creation- nor do I really see how I could do without it [... ]" (TS: VIII, 31, 557 f.)

5

Ebd., S. 216. Der Zusammenhalt der disparaten Erzählsequenzen wird dabei in der offenen Metafiktion von At Swim- Two-Birds wie im Tristram Shandy gesichert durch die Verankerung des Erzählten im Bewusstsein des Erzählers: "Like Tristram Shandy's, his cluttered mind is the main unifying device of the book. All the digressions are interrelated in the prescience of the author." (Ciissman, O'Brien: A Critica/lntroduction, a.a.O., S. 87)

127

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

Damit reduziert Tristram sich gegenüber klassischen ErzählerHelden selbst zu einem "small HERO" (TS: I, 5, 40). Auch O'Briens Erzähler und Figuren sind von ihren hobby-horses geprägt. Direkte Parallelen zeigen sich dabei vor allem im Third Policeman: Der Erzähler ähnelt in seiner hoffnungslosen Verfallenheil bezüglich de Selbys Theorien Walter Shandy, dessen hobby-horse das permanente Erstellen philosophischer Hypothesen ist, die sich meist auf den - ebensov fiktiven - Gelehrten Slawkenbergius beziehen. Und so wie Uncle Toby, wenn er unerträglichen Situationen ausgesetzt ist, Lillabullero pfeift, fängt auch O'Briens Erzähler in solchen Momenten zu pfeifen an, etwa als MacCruiskeen ihm die unsichtbar kleinen Kästchen zeigt: "[F]or the purpose of pretending that I was not disturbed I whistled The Old Man Twangs His Braces" (3P: 74), und wenig später: "In order to reassure myself and make a loud human noise I whistled The Corncrake Plays the Bagpipes" (3P: 76). Zudem pflegt Pluck, indem er die Welt nur in fahrradtechnischen Begriffen wahrnimmt, ein selbstreferenzielles Drahteselhobby-horse. 6 Die hobby-horsical Erzählmethoden der jeweiligen Erzähler werden in den offen metafiktionalen Romanen direkt thematisiert. So wird Tristrams Reflexion über das Thema des Romananfangs "[O]f all the several ways of beginning a book [ ...] I arn confident rnine rny own way of doing it it is the best [ ... ] for I begin with writing the first sentence - and trusting to Alrnighty God for the second." (TS: VIII,

2, 516)

- von dem Erzähler in At Swim-Two-Birds wieder aufgegriffen: "A book may have three openings entirely dissimilar [... ]" (AS2B: 7) Alle drei Romane wirken einer herkömmlichen Vorstellung von Literatur als Wirklichkeitsspiegelung entgegen, indem sie ei6

Neben dieser Fahrrad-Pathologie bezieht Pluck sich ständig auf seine "teeth" (vgl. 3P: 56 ff., 61, 80 f.) und wiederholt die Vokabeln "pancake", "conundrum" und "County Council", während MacCruiskeens hobby-horse das Wiederholen der Phrase "unless l'm a Dutchman" (z.B. 3P: 69, 114 f.) ist. Die hobby-horses des At SwimTwo-Birds-Erzählers bestehen darin, sich im Bett aufzuhalten und "putting glasses of stout into the interior of [my body]" (AS2B: 38). Trellis ist ebenfalls eine "bed-bug" (AS2B: 99) mit einer Obsession für grüne Bücher (vgl. ebd.), und der Onkel des Erzählers wiederholt ständig den Satz: "Tell me this, do you ever open a book at all?" (AS2B: 10, passim)

128

ÄNSCHLUSSKOMMUNIKATIONEN: STERNE UND O'BRIEN

nen solchen "Realismus" wörtlich nehmen und damit ad absurdum führen: "The attempt to reach reality via fiction seems to constitute an infinite regress." 7 Tristrams ebenenvermischende Gebundenheit an seine Charaktere - "All my heroes are off my hands" (TS: III, 20, 202) - wird in At Swim-Two-Birds radikalisiert durch die Methode der "aestho-autogamy" (vgl. AS2B: 40 f.)Sund erfährt eine Thematisierung im Third Policeman durch die Unkenntnis des Erzählers von seiner eigenen Fiktionalität. Entgegen der realistischen Tradition werden die Charaktere also nicht für den Plot funktionalisiert, sondern erhalten eine Art Recht auf Selbstbestimmung innerhalb des Erzählten. Die sich aus dieser Ebenenvermengung ergebenden Erzählprobleme lassen Tristram klagen: " [T]hings have crowded in so thick upon me, that I have not been able to get into that part of my work, towards which, I have aii the way, looked forwards." (TS: IV, 32, 332)9 Auch der Erzähler aus At Swim-Two-Birds hat Probleme, sein Material unter Kontrolle zu bekommen - "his characters are no more tractable than Sterne's" 10 - und befindet es "entirely beyond my powers" (AS2B: 144), die Geburt Orlicks zu schildern. Ebenso gleicht Tristrams Eingeständnis "there is a whole chapter wanting here" (TS: IV, 25, 311) der Mitteilung des At Swim-Two-Birds-Erzählers "a portion of my manuscript [... ] is lost beyond retrieval" (AS2B: 50), und beide Erzähler machen aus dieser vermeintlichen Not eine Tugend: "[T]he book is more perfect and complete by wanting the chapter" (TS: IV, 25, 311); "the omission of several pages does not [...] disturb the continuity of the story" (AS2B: 145). Eine direkte Parailele bildet auch die Aufforderung des At Swim-Two-Birds-Erzählers an den Leser " to refer to the Synopsis or Summary [... ] on page 60" (AS2B: 103), denn in ähnlicher Weise veranlasst auch Tristram den Leser zum Zurück-

7

Kearney, "A Crisis of Imagination", a.a.O., S. 64

8 Eine weitere direkte Parallele ergibt sich aus Trellis' "aestho-autogamischer'' Schaffung von Orlick "ab ovo et initio" (AS2B: 35), da sich auch Tristram schon auf Horaz berief: "1 am able to go an tracing everything in it [the history of myself], as Horace says, ab Ovo." (TS: I, 4, 38) 9 Desgleichen seine Anrufung "0 ye PowERS! [... ] which enable mortal man to teil a story worth the hearing, - that kindly shew him, where he is to begin,- and what he is to leave out[ ...]." (TS: 111 , 23, 215) 10 Clissman, O 'Brien: A Critica/lntroduction, a.a.O., S. 124

129

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

blättern: "I do insist upon it, that you immediately turn back [... ] and read the whole chapter over again." (TS: I, 20, 82) Eine Gemeinsamkeit besteht auch in der Sichtbarmachung des Buches als Artefakt durch den Einbezug scheinbar wahllos selegierter Fremdtexte. Diese Technik veranschaulichen wiederum am deutlichsten die offen metafiktionalen Romane Tristram Shandy und At Swim-Two-Birds. Die in At Swim-Two-Birds gestellte Forderung "The novel should be largely a work of reference" (AS2B: 25) wird bereits im Tristram Shandy antizipiert: Tristram preist Slawkenbergius aufgrund dessen intertextueller Methode - "collating, collecting, and compiling, - begging, borrowing, and stealing [... ] all that had been wrote" (TS: III, 38, 237)- als "a prototype for all writers, of voluminous works at least" (ebd.). Und wie der Erzähler in At Swim-Two-Birds fügt auch Tristram eine Anzahl "fremder" Textsegmente in seine Erzählung ein, darunter etwa das "ninth tale" der "tenth decad" des Slawkenbergius'schen Nasen-Opus' (vgl. TS: IV, 249-273).11 Slawkenbergius' Philosopheme bilden im Tristram Shandy eine Basis für Walter Shandys Hypothesen und die "Learned Wit"Parodie im Allgemeinen.12 Walters Besessenheit von Slawkenbergius' Theoremen wird im Third Policeman reflektiert durch die Abhängigkeit des Erzählers von den Theorien de Selbys. O'Briens Wissenschafts-Satire, zu der auch die ausufernde Verwendung von Fußnoten zählt, wohnt jedoch eine stärkere ontologische Implikation inne, da "de Selby" ein metafiktionales Synonym für den Erzähler selbst ist und dieser nicht erkennt, dass seine Existenz bzw. Nichtexistenz nach de Selbys - also seinen eigenen - Gesetzen konstruiert ist. Die im Third Policeman angeführte Farbentheorie, die einen existentiellen Zusammenhang von Leben und Kleidung postuliert (vgl. 3P: 33 ff.), weist ebenfalls einen direkten intertextuellen Bezug zum Tristram Shandy auf. Dort behauptet Tristram: "A MAN's body and his mind [... ] are exactly like a jerkin, and a jerkin's lining; rumple the one - you rumple the other." (TS: III, 4, 174) Der 11 Weitere Beispiele sind z.B. die "MEMOIRE presente a Messieurs les Docteurs de SORBONNE" (TS: I, 20, 84 ff.) oder die "EXCOMMUNICATIO" des "Textus de Ecclesia Roffensi" (TS: II I, 11, 184). Vgl. auch die bereits unter 2.3 erwähnten Beispiele.

12 Vgl. etwa Walters Theorien über den Sitz der Seele (TS: II, 19, 159 ff.) oder über Flüche (TS: 111, 12, 192 ff.). Die Namenstheorie (TS: I, 19, 77 ff.) ähnelt zudem der Namenstheorie de Selbys (vgl. 3P: 42).

130

ANSCHLUSSKOMMUNIKATIONEN: STERNE UND O'BRIEN

Bezug auf den cartesianischen Dualismus von Körper und Seele lässt zudem die im Third Policeman vollzogene Spaltung zwischen dem Erzähler und Joe, seiner Seele, als einen weiteren direkten Rückgriff erscheinen. Eine intertextuelle Quelle, derer sich alle drei Romane bedienen, ist Shakespeares Harnlet (vgl. die erwähnten Referenzen in O'Briens Romanen unter 5.2 und 5.3). Dieses Drama scheint in seiner komplexen Selbstreferenzialität besonders geeignet als Quellentext für selbstreflexive Romane, und die Stück-im-StückSzene lässt sich als Urahn der metafiktionalen Chinese-boxVerschachtelungstechnik betrachten. Eine ausdrückliche Erwähnung Harnlets erfolgt im Tristram Shandy bei der Beschreibung Dr. Slops: "He stood like Hamlet's ghost [.. .]" (TS: II, 10, 126). In Sternes Roman ist der Harnlet-Bezug aber vor allem expliziert durch die Figur Yoricks, der als Fool im Harnlet einen Bezugspunkt für Harnlets gespielte Verrücktheit liefert. Als Selbstporträt Sternes13 eröffnet der Einbezug des intertextuellen Charakters Yorick damit eine Parallele zu Sternes Erzähler Tristram, dessen vorgeblich unkontrolliertes Erzählen Harnlets vorgetäuschter Verrücktheit ähnelt: "Though this be madness, yet there is method in' t." (Hamlet: II, 2, 211-212)14 Zu dieser Erzählmethode zählt auch die ungewöhnliche Darstellung von Charakteren in detailliert-grotesk beschriebenen Gesten und Posen: "My father lay stretched across the bed as still as if the hand of death had pushed him down, for a full hour and a half, before he began to play upon the floor with the toe of that foot which hung over the bedside [...] In a few moments, his left hand, the knuckles of which had all the time reclined upon the handle of the chamber-pot, came to its feeling [...]" (TS: IV, 2, 275)13

Wie vor allem die Analyse des Third Policeman zeigte, beobachten auch O'Briens Erzähler "people as if they were mechanical pup13 Vgl. Gassenmeier, "Der Typus des ,man of feeling"', a.a.O., S. 231 14 Als Beispiel für diese vorgebliche "erzählerische Verrücktheit" vgl. etwa TS: II, 2, 105 ff. Zudem bilden Walter Shandys Pläne, die sich in ihr Gegenteil verkehren, ein komisches Abbild von Harnlets tragischem Zögern und Scheitern. 15 Ähnlich die Darstellungen Wallers (TS: 111, 2, 172 f.) und Trims (TS: II, 17, 138).

131

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

pets or consciously posing for a stereotyped role" 16 . Auch in At Swim-Two-Birds liefert der Erzähler derartige Beschreibungen, etwa wenn er seinen Onkel schildert: "My uncle, his back to me, [...] moved his head authoritatively, exercising a roll of fat which he was accustomed to wear at the back of his collar, so that it paled and reddened in the beat of the music." (AS2B: 95)17 Der sich daraus ergebende Effekt einer bizarren Verzerrung ist in seiner Betonung des Trivialen stets eine Veralberung "realistischer" Beschreibungsansätze, die in den Romanen O'Briens - vor allem, wie beschrieben, im Third Policeman - noch eine weitere, metafiktionale Bedeutungsebene erhält. Im Tristram Shandy dient die Betonung des Körperlichen zudem der Umgehung sprachlicher Probleme mittels Körpersprache: " [T]he eye [... ] has the quiekest commerce with the soul." (TS: V, 7, 356) Auch dieser sentimentalistische, gegen Lockes Rationalismus gerichtete Zug erfährt ein Echo im Third Policeman, wenn Pluck dem Erzähler mitteilt: "[I]t is easier to show you than toteil you verbally." (3P: 126) Das Problem der Sprachlichkeit reflektiert auch die metafiktionale Technik der Präsentation von Listen, Tabellen und Zeichnungen. Diese "nicht-literarischen", polykontexturalisierenden Darstellungsweisen, die sich in allen drei Romanen finden1s, untermalen die Arbitrarität jeglicher Ordnung von Weltkomplexität in konventionelle, methodische Kategorien. Alphabetische Listen betonen die Artifizialität von Diskursen, indem sie geschriebene Sprache als ein System von Symbolen und Buchstaben offen legen: " [S]uch lists proclaim their own textuality."19 So vermengt die grafische Darstellung des Erzählverlaufs im Tristram Shandy (vgl. TS: VI, 40, 453 f.), ähnlich wie der Einbezug von Fußnoten, zwei verschiedene Diskursarten, die einander gegenseitig destabilisieren und dekonstruieren. Beim Leser bewirken diese verschiedenen Formen der metalepsis eine Bewusstmachung des Erzählens und damit eine Distanzierung vom Erzählten. Die Unterbrechungen des Leseaktes, die im Tristram Shandy explizit durch die sich ein16 Clissman, O'Brien: A Criticallntroduction, a.a.O., S. 117 17 Ein weiteres Beispiel aus At Swim-Two-Birds ist die Beschreibung Furriskeys (vgl. AS2B: 117) 18 Neben den unter 2.2, 2.3 und 5.3 bereits angeführten Beispielen typografischer Darstellungen im Tristram Shandy und Third Policeman vgl. in At Swim-Two-Birds die Abbildung dreier (!) "dials or clockfaces" (AS2B: 191) 19 Hopper, O'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 160

132

ÄNSCHLUSSKOMMUNIKATIONEN: STERNE UND O'BRIEN

mischenden fiktiven Leser erfolgen2o, wirken wie in At Swim-TwoBirds und im Third Policeman einem "vicious taste which has crept into thousands [... ] of reading straight forward" 21 entgegen. Während jedoch deutlich ist, dass O'Brien "very consciously steals key metaleptic devices from Sterne, as weil as borrowing certain stylistic idiosyncrasies"22, bestehen gravierende Unterschiede hinsichtlich der Art und des Ausmaßes der metafiktionalen Selbstbezüglichkeit: "Metafictions like At Swim-Two-Birds or The Third Policemanare the historical successors to the self-conscious tradition of Tristram Shandy which also questioned the primacy of the author, but never with such self-reflexive, thematic violence."23

Die unterschiedlichen soziokulturellen Hintergründe von Sternes und O'Briens Romanen weisen den jeweils angewandten metafiktionalen Techniken auch unterschiedliche kunstkommunikationstheoretische Implikationen zu. Sterne schrieb im Kontext der Sattelzeit, die den Umbruch des Gesellschaftssystems zur funktionalen Differenzierung bzw. zur Beobachtungsebene zweiter Ordnung markierte. Die mit dieser Umstellung auftretenden Beobachtungs- bzw. Kommunikationsprobleme werden im Tristram Shandy thematisiert mittels narrativer Paradoxien. Tristram erfährt durch den Versuch der expliziten autobiografischen Selbstthematisierung deren Unmöglichkeit, und die Auflösung asymmetrischer, temporaler Differenzen führt zu infiniten Regressen, die sich in Form von Interferenzen zw ischen Erzählen und Erzähltem äußern. Im sich zu autonomisieren beginnenden Kunstsystem stellt das kunstkommunikative Ereignis Tristram Shandy deshalb eine Mitteilung von Kommunikationsproblemen dar: Mit der Unterminierung konventioneller Narrativikformen und der Bloßlegung von Erzählproblemen verweist Sterne auf die Notwendigkeit plausibler Kombinationen von Selbst- und Fremdreferenz 20 Als weiteres Beispiel etwa "But pray, Sir, What was your father doing all December,- January, and February?" (TS: I, IV, 39 f.) Eine Parallele in At Swim-Two-Birds bildet Orlicks Erzählung , die immer wieder unterbrochen wird von seinen Zuhörern Furriskey, Shanahan und Lamont (vgl. AS2B: 164 ff.) 21 Shea, O'Brien 's Exorbitant Novels, a.a.O., S. 53 22 Hopper, O'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 159 23 Ebd., S. 16

133

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

und motiviert damit die Autopoiesis des Kunstsystems in Richtung vollständiger Autonomie. O'Brien schrieb dagegen im Kontext der Spätmoderne, in der die Grand Recits, die die Erzählprobleme des Tristram Shandy "lösten", ihre Legitimation eingebüßt haben. Das invisibilisierende Muster der großen Metaerzählung wird dabei parasitär wiederverwendet und in seiner Artifizialität offen gelegt. Zudem wird die Vorstellung referierender Zeichen, der noch die selbstreflexive Kunst der Romantik verhaftet blieb, im 20. Jahrhundert endgültig verabschiedet. Sternes Darstellung der Unbeobachtbarkeit des eigenen Erzählens weicht in O'Briens metafiktionalen Romanen einer Darstellung der Unbeobachtbarkeit der "realen Realität" in einer Wirklichkeit, die diskursiv konstruiert ist. In der (post-)modernen, funktional differenzierten Gesellschaft hat sich die Beobachtung zweiter Ordnung so weit generalisiert und etabliert, dass eine "Emanzipation der Kontingenz"24 stattgefunden hat. Im autonomisierten Kunstsystem dienen metaleptische, ebenenvermengende Techniken daher nicht mehr "nur" wie im Tristram Shandy - dazu, die Erzählerstimme zu unterminieren, erzähltechnische Paradoxien zu produzieren und auf Plausibilisierungsnotstände zu verweisen. Vielmehr werden die Techniken der metafiktionalen Mischung von Literatur und Literaturkritik, von Beobachtung zweiter und dritter Ordnung nun zu selbstreflexiven Metaphern dieser Metafiktion: Durch das Aufzeigen der arbiträren Relation zwischen Signifikat und Signifikant spiegeln sie die Selbstbezüglichkeit des Kunstsystems. Die im Tristram Shandy inszenierten Interferenzen zwischen Erzählen und Erzähltem erfahren eine Radikalisierung in der Mehrebenenstruktur und den erzählerischen re-entrys zweiter und dritter Ordnung in At Swim-Two-Birds. Tristrams Erfahrung der Unmöglichkeit, sich selbst zu beobachten, wird im Third Policeman postmodern reflektiert, indem der Erzähler die eigenen Textgrenzen nicht überschreiten kann bzw. dadurch, dass er nicht beobachten kann, dass er selbst Teil dieser artifiziellen " Realität" ist: "[F]ictional characters cannot escape the boundaries of the text, no more than real people can escape the boundaries of their world."25 Die Fülle intertextueller Bezüge in O'Briens Metafiktion reflektiert darüberhinaus den postmodernen Verlust außerdiskursiver Legi24 Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.a.O., S. 498 25 Hopper, O'Brien: A Portrait, a.a.O., S. 145

134

ÄNSCHLUSSKOMMUNIKATIONEN: STERNE UND O'BRIEN

timationsmöglichkeiten sowie die Totalautonomie des Kunstsystems, die zur Folge hat, das das System zur autopoietischen Selbstreproduktion auf sich selbst zurückgreifen muss. Während Sternes metafiktionale Beobachtung des Kunstsystems also kommunizierte, dass das Kunstsystem die Autonomie auf der Beobachtungsebene zweiter Ordnung beansprucht, zeigt O'Briens postmoderne Metafiktion, dass das Kunstsystem sich auf dieser Ebene fest etabliert hat. Neben At Swim-Two-Birds bildet deshalb auch The Third Policeman ein "example of how the constitutive narrative strategies ofthistype [Tristram Shandy] can be exploited to form another original instance of the meta-tradition" 26. Diese metafiktionale Evolution, die mit der Evolution des Gesellschafts- und Kunstsystems korreliert, lässt sich auch anhand Linda Hutcheons Metafiktions-Kategorisierung (vgl. 1.2) nachvollziehen, deren Aufteilung in die Grundkategorien overt und covert gleichsam eine Historisierung des Metafiktions-Genres darstellen soll. Tristram Shandy lässt sich dabei als repräsentativ betrachten für die "Novel's parodic origins and Romantic selfconsciousness", der die "Thematisierung" des overt narcissism folgt, für die At Swim-Two-Birds ein Beispiel darstellt. The Third Polieman schließlich vertritt die "Aktualisierung" des covert narcissism, der sich der offenen Zukunft der "Iimits of the novel genre" hinwendet.27 Auf die "Power of storytelling to create worlds", die offene Metafiktion zelebriert, folgt also die verdeckte Metafiktion, die sich der "diegetic models" des Grand Recit bedient, um diesen quasi von innen heraus zu dekonstruieren. Besonders die verdeckte Metafiktion erscheint deshalb prädestiniert, den postmodernen Referenz- und Erfahrungsverlust darzustellen: Indem sie selbst in verdeckender Weise die paradoxieverdeckende Funktion der großen Erzählung bloßlegt, weist sie traditionelle, referierende Vorstellungen von "Bedeutung" zurück und entfaltet gleichsam die Paradoxie des Sichtharrnachens durch Unsichtbarmachen. Die "Postmodernität" von O'Briens Anschlusskommunikationen an Sternes Tristram Shandy soll deshalb auch abschließend anhand eines Textbeispiels aus der verdeckten Metafiktion des Third Policeman belegt werden, das in seinem expliziten Bezug auf Sternes Roman die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen reflektiert, die zwischen beiden Umsetzungen des Motivs liegen. Im 26 lmhof, "Two Meta-Novelists", a.a.O. , S. 189 27 Hutcheon, Narcissistic Narrative, a.a.O., S. 154

135

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

Tristram Shandy beschreibt Tristram das hobby-horse folgendermaßen: "By long journeys and much friction, it so happens that the body of the rider is at length filled as full of HOBBY-HORSICAL matteras it can hold." (TS: I, 24, 99) Einen direkten Anschluss daran bildet Plucks "Atomic Theory", die im Third Policeman eine Metapher für die unauflösbare Eingebundenheit des Menschen in seinen diskursiven Kontext bildet: "[P]eople who spent their lives riding iron bicycles over the rocky roadsteads of this parish get their personalities mixed up with the personalities of their bicycle as a result of the interchanging of the atoms of each of them and you would be surprised at the number of people in these parts who nearly are half people and half bicycles." (3P: 88)

So wie Fahrradfahrer mit ihren Fahrrädern verschmelzen, ist die Wahrnehmung der "Realität" verschmolzen mit den Beobachtungs-Codierungen, die zu ihrer Betrachtung angelegt werden: "We are in-mixed with all our texts [... ] We become ,instruments', unconscious tools of the language around us."28 Der letzte Satz des Third Policeman ist damit auch eine direkte metafiktionale Abschlussfrage an den Leser und verdeutlicht erneut die metafiktionale Sichtbarmachung der Unsichtbarkeit diskursiver Kontexte als latentes Thema des Romans: "Is it about a bicycle?" (3P: 206)

28 McGuire, "Teasing after Death", a.a.O., S. 114

136

Schluss: Metafiktion als Motor der Kunst-Evolution

Die Analyse der Romane Tristram Shandy, At Swim-Two-Birds und The Third Policeman zeigt, wie sich die funktionale Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems bzw. die Autonomisierung des Kunstsystems an den veränderten Implikationen ähnlicher metaleptischer Erzähltechniken ablesen lässt. Gemäß dem autopoietischen Charakter des Kunstsystems bilden Flann O' Briens Romane direkte Anschlusskommunikationen an Laurence Sternes Tristram Shandy. Ebenso offerieren O'Briens Romane Anschlussselektionen für weitere kunstkommunikative Ereignisse: "Just as O'Nolan was undoubtedly indebted to Laurence Sterne, so many contemporary novelists are undoubtedly indebted to O' Nolan." 1 Im autonomen Kunstsystem verdeutlicht sich dieser Anschlusszwang, wie beschrieben, in einer verstärkten Bedeutung intertextueller Rückgriffe, die damit zugleich die perfektionierte Systemautonomie reflektieren. Der Zusammenbruch der internen Grenze zwischen theoretischer Selbstreflexion und den produktiven Operationen befähigt das Kunstsystem zudem in besonderer Weise,

lmhof, "lntroduction", a.a.O., S. 28 f. lmhof erwähnt als Beispiele die Romane Travelling People (1963) von B.S. Johnson, Mulligan Stew (1980) von Gilbert Sorrentino sowie Referenzen in den Werken von Anthony Burgess, Raymond Federman und Alasdair Gray. Vgl. ebd., S. 28 ff.

137

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

"[...] die Pluralität von Komplexitätsbeschreibungen zu akzeptieren. Mehr und vor allem deutlicher als in anderen Funktionssystemen kann in der Kunst vorgeführt werden, dass die moderne Gesellschaft und[ ...] die Welt nur noch polykontextural beschrieben werden kann. Die Kunst lässt insofern die ,Wahrheit' der Gesellschaft in der Gesellschaft erscheinen [... ]"2 Heute ist das Kunstsystem vollkommen autonom gegenüber seiner gesellschaftlichen Umwelt. So wie sich Liebe aus Liebe speist, beruft sich die Kunst nur noch auf die Kunst: "Die Autonomie der Kunst besteht dann darin, dass sie sich nur noch selbst limitiert. Das letzte Kriterium bleibt: ob es dem Beobachten gelingt, zum Beobachten zu verführen."3 Das Überbieten des ",l'art pour l' art' [... ] durch ein ,l'art sur l'art'" 4, das Verschwinden der Differenz zwischen Lesen und Schreiben, zwischen Realität und ihrer fiktionalen Repräsentation sowie zwischen Autor und Leser manövriert die Kunst aber auch in Bereiche gesteigerter Selbstreferenzialität, denen ein problematisches Potenzial attestiert werden kann: "Man nähert sich damit einer Grenze, an der Kunstkommunikation nicht mehr nur Information, sondern nur noch Mitteilung sein will; oder genauer: nur noch darüber informieren will, dass sie nur noch Mitteilung sein will."5 Es lässt sich fragen, ob mit dem Erreichen dieses "vorerst letzte[n] Stadium[s]" 6 der kunstsystemischen Evolution die "limits of the novel genre" 7 bereits erreicht sind bzw. ob die Autopoiesis des Kunstsystems sich mit einer ins Extrem gesteigerten Selbstreflexivität nicht letztlich selbst untergräbt.S Die Analyse der selbstreflexiven Romane von Sterne und O'Brien zeigte jedoch, dass literarische Selbstreferenzialität einem erlebenden Rezipieren keinesfalls entgegenstehen muss. Vielmehr wurde deutlich, dass im Kontext 2 3 4 5 6 7 8

Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.a.O., S. 494 Luhmann, "Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft", a.a.O., S. 121 Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.a.O., S. 482 Ebd. Schwanitz, Literaturwissenschaft für Anglisten, a.a.O., S. 239 Hutcheon, Narcissistic Narrative, a.a.O., S. 154 Vgl. Punkt 1.1 dieser Arbeit bzw. Luhmann, "Das Kunstwerk... ", a.a.O., S. 660 f., sowie Gumbrecht, "Pathologien im Literatursystem", a.a.O.

138

METAFIKTION ALS MOTOR DER KUNST-EVOLUTION

der "Postmoderne" das polykontexturalisierende Hinweisen auf die Kontingenz der "normalen" Realitätssicht die mögliche Beliebigkeit eines Kunstwerks eher reduziert und metafiktionale Selbstreflexivität "nicht, wie Traditionalisten befürchten könnten, auf einen Ordnungsverzicht hinausläuft" 9 . Zur" Wahrheit" der modernen Gesellschaft zählt deshalb auch die Tatsache, dass gerade die Darstellung von Kontingenz Plausibilität erzeugt bzw. dass ein selbstreflexiver unreliable narrator einen stärkeren Plausibilisierungseffekt erzielen kann als ein traditioneller, quasi-autobiografischer Ich-Erzähler, dessen Erzählung auf Selbsterkenntnis des Protagonisten und Erzählbarkeit der eigenen Geschichte hinausläuft. In ihrer metafiktionalen Selbstthematisierung machen die Romane Tristram Shandy, At Swim-TwoBirds und The Third Policeman daher in besonders deutlicher Weise eine grundlegende Funktion von Kunst sichtbar: "Kunst demonstriert [... ] immer die nichtbeliebige Erzeugung von Beliebigkeit oder die Zufallsentstehung von Ordnung."lO Zudem zeigt die Analyse von Sternes und O'Briens Romanen, dass die Evolution des Kunstsystems ganz entscheidend vorangetrieben wird von den "Provokationen" selbstreflexiver Kunstwerke: Die paradoxalen Erzählstrukturen metafiktionaler Romane formulieren Probleme, die zu Lösungen motivieren (Tristram Shandy) - und sie reflektieren die Systemautonomie, indem sie die erreichten Lösungen erneut in Frage stellen (At Swim-Two-Birds bzw. The Third Policeman). Die Variationen und Restabilisierungen der kunstsystemischen Evolution beruhen also nicht zuletzt auf einer literarischen Form, die gern als selbstgenügsam angesehen bzw. sogar für einen vermeintlichen Niedergang der Kunst verantwortlich gemacht wird: selbstreflexiver Metafiktion.

9 Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.a.O., S. 241 10 Ebd., S. 506

139

Abkürzungen und Litera tu rverzeichn is

Abkürzungen TS AS2B 3P

Tristram Shandy At Swim-Two-Birds The Third Policeman

Lite ratu rve rze ich n i s Primärliteratur O'Brien, Flann. At Swim-Two-Birds (1939), Harmondsworth: Penguin, 1967 ders., The Third Policeman (1940), London: Flamingo, 1993 ders., "A Bash in the Tunnel" (1951), In: ders., Stories and Plays, London: Paladin, 1991 Na Gopaleen, Myles (Fiann O'Brien), The Hair of the Dogma. A Further Selection from ,Cruiskeen Lawn', Kevin O'Nolan (Hg.), London: Grafton, 1987 Sterne, Laurence, The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman (1759-1767), Harmondsworth: Penguin, 1985 Sekundärliteratur Adams, R.M., Afterjoyce, New York 1977 Alter, Robert, Partial Magie. The Novel as a Self-Conscious Genre, Berkeley 1975

141

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

Asbee, Sue, Flann O'Brien, Boston 1991 Baecker, Dirk, "Die Adresse der Kunst", In: Fohrmann, Jürgen & Müller, Harro (Hg.), Systemtheorie der Literatur, München 1996, S. 82-105 ders. u.a. (Hg.), Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1987 Barthes, Roland, "The Death of the Author" (1977), In: Lodge, David (Hg.), Modern Criticism and Theory. A Reader, London 1988, S. 167-172 Berger, Dieter A., "Das gezielte Missverständnis - Kommunikationsprobleme in Laurence Sternes Tristram Shandy", In: Poetica 5,1972,5.329-347 Benstock, Bernard, "The Three Faces of Brian O'Nolan", In: Imhof, Rüdiger (Hg.), Alive Alive 0!: Flann O'Brien's ,At Swim-TwoBirds', Dublin 1985, S. 59-70 Booth, Wayne C., "The Self-Conscious Narrator in Comic Fiction Before Tristram Shandy", In: PMLA, Vol. 67 (1952), S. 163-185 Boyd, Michael, The Reflexive Novel: Fiction as Critique, London 1983 Boys, Richard C., "Tristram Shandy and the Conventional Novel", In: Rohmann, Gerd (Hg.), Laurence Sterne, Darmstadt 1980, S. 342-355 Brown, Terence, "Yeats, Joyce and the Current Irish Critical Debate", In: Kenneally, Michael (Hg.), Cultural Contexts and Literary Idioms in Contemporary Irish Literature, Gerrarcis Cross 1988 Burckhardt, Sigurd, "Tristram Shandy's Law of Gravity", In: Rohmann, Gerd (Hg.), Laurence Sterne, Darmstadt 1980, S. 137-154 Carroll, Lewis, Alice's Adventures in Wonderland and Through the Looking Glass (1865/1872), London 1982 Clissman, Anne, Flann O'Brien: A Critical Introduchon to his Writings, Dublin 1975 dies., "The Story-Teller's Book-Web", In: Imhof, Rüdiger (Hg.), A live Alive 0!: Flann O'Brien's ,At Swim-Two-Birds', Dublin 1985, S. 118-140 Clune, Arme & Hurson, Tess (Hg.), Conjuring Complexities: Essays on Flann O'Brien, Belfast 1997 Collins, Jim, Uncommon Cultures: Popular Culture and PostModernism, London 1989 Cronin, Anthony, No Laughing Matter: The Life and Times of Flann O'Brien, London 1989

142

LITERATURLISTE

ders. "An Extraordinary Achievement", In: Imhof, Rüdiger (Hg.), Alive Alive 0!: Flann O'Brien's ,At Swim-Two-Birds', Dublin 1985, S. 107-112 Currie, Mare, Metafiction, New York 1995 Dei Janik, Ivan, "Flann O'Brien: The Novelist as Critic", In: EireIreland IV, 4 (Winter 1969), S. 64-72 Eliot, Thomas Stearns, The Waste Land (1922), In: ders., Collected Poems 1909-1962, London 1974, S. 61-86 Falckenthal, Wiebke, Kommunikation in Laurence Sternes Tristram Shandy - Zur systemtheoretischen Rekonstruktion eines Problems, Magisterarbeit, Harnburg 1990 Fallis, Richard, The Irish Renaissance. An Introduction to Anglo-Irish Literature, Dublin 1978 Farrell, William J., "Nature versus Art as a Comic Pattern in Tristram Shandy", In: Rohmann, Gerd (Hg.), Laurence Sterne, Darmstadt 1980, S. 356-374 Garvin, John, "Sweetscented Manuscripts", In: O'Keeffe, Timothy (Hg.), Myles: Portraits ofBrian O'Nolan, London 1973, S. 54-61 Gassenmeier, Michael, "Der Typus des ,man of feeling': Studien zum sentimentalen Roman des 18. Jahrhunderts in England", In: Rohmann, Gerd (Hg.), Laurence Sterne, Darmstadt 1980, S. 218-248 Genette, Gerard, Narrative Discourse (1972), Oxford 1980 Gumbrecht, H.U., "Pathologien im Literatursystem", In: Baecker, Dirk u.a. (Hg.), Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1987, S. 137-180 Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1981 Harmon, Maurice, "The Era of Inhibitions: Irish Literature 19201960", In: Sekine, Masaru (Hg.), Irish Writers and Society at Large, New Jersey 1985, S. 31-41 Herman, David, "Towards a Formal Description of Narrative Metalepsis", In: Journal ofLiteran; Semantics 26:2 (1997), S. 132-152 Hopper, Keith, Flann O'Brien: A Portrait of the Artist as a Young Post-modernist, Cork 1995 Hühn, Peter, "The Detective as Reader: Narrativity and Reading Concepts in Detective Fiction", In: Modern Fiction Studies, Vol. 33, No. 3, Autumn 1987, S. 451-465 ders., "Lyrik und Systemtheorie", In: de Berg, Henk & Prange!, Matthias (Hg.), Kommunikation und Differenz. Systemtheoretische

143

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

Ansätze in Literatur- und Kunstwissenschaft, Opladen 1993, S. 114-136 Hüser, Rembert, "Frauenforschung", In: Fohrmann, Jürgen & Müller, Harro (Hg.), Systemtheorie der Literatur, München 1996, S. 238-275 Hunter, J. Paul, "Response as Reformation: Tristram Shandy and the Art of Interruption", In: Rohmann, Gerd (Hg.), Laurence Sterne, Darmstadt 1980, S. 178-197 Hutcheon, Linda, Narcissistic Narrative. The M etafictional Paradox, New York/London 1984 Imhof, Rüdiger, "Introduction", In: ders. (Hg.), Alive Alive 0 !: Flann O'Brien 's ,At Swim-Two-Birds', Dublin 1985, S. 7-33 ders., "Two Meta-Novelists: Sternesque Elements in Novels by Flann O'Brien", In: Anglo-Irish Studies IV (1979), S. 59-90 ders., Contemporary Metafiction. A Poetical Study of Metafletion in English since 1939, Heidelberg 1986 ders., "Introduction", In: ders. (Hg.), Ireland: Literature, Culture, Politics, Heidelberg 1994, S. 7-16 Janik, Allan, "Kreative Milieus: Der Fall Wien", In: Berner, Peter, Brix, Emil & Mantl, Wolfgang (Hg.), Wien um 1900. A ufbruch in die Moderne, München 1986, S. 45-55 Joyce, James, A Portrait of the A rtist as a Young Man (1916), London 1983 ders., Ulysses (1922), London 1992 Kearney, Colbert, "The Treasure of Hungry Hili: The Irish Writer and the Irish Language", In: Kenneally, Michael (Hg.), Cultural Contexts and Literary Idioms in Contemporary Irish Literature, Gerrards Cross 1988, S. 124-135 Kearney, Richard, "A Crisis of Imagination", In: The Crane Bag III, I (1979), S. 58-70 Kennedy, Sighle, ",The Devil and Holy Water' - Samuel Beckett's Murphy and Flann O'Brien's At Swim-Two-Birds" , In: Porter, R.J. & Tindal, W.Y. (Hg.), M odern Irish Literature, New York 1972, S. 251-260 KindZers N eues Literatur Lexikon. Hauptwerke der englischen Literatur 2 Bde., München 1995 Klein, Ernst-Ulrich, Die frühen Romane Flann O'Briens: ,At SwimTwo-Birds' und , The Third Policeman', Diss., Münster 1971

144

LITERATURLISTE

Knight, Stephen, "Forms of Gloom: The Novels of Flann O'Brien", In: Imhof, Rüdiger (Hg.), Alive Alive 0!: Flann O'Brien's ,At Swim-Two-Birds', Dublin 1985, S. 81-86 Kosok, Heinz, Geschichte der anglo-irischen Literatur, Berlin 1990 Lanters, Jose, "Fiction Within Fiction: The Role of the Author in Flann O'Brien's At Swim-Two-Birds and The Third Policeman", In: Dutch Quarterly Review, Vol. 13 (1983), S. 267-281 Lehmann, Benjamin H., "Of Time, Personality, and the Author",In: Traugott, John (Hg.), Laurence Sterne. A Collection of Critical Essays, Englewood Cliffs 1968, S. 21-33 Luhmann, Niklas, "Interaktion, Organisation, Gesellschaft", In: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 2, Opladen 1975, S. 9-20 ders., "Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien", In: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 2, Opladen 1975, S. 170-192 ders., "Gesellschaftsstruktur und Semantik", In: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1980, S. 9-71 ders., "Ist Kunst codierbar?", In: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 3, Opladen 1981, S. 245-266 ders., "Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation", In: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 3, Opladen 1981, S. 25-34 ders., "Erleben und Handeln", In: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 3, Opladen 1981, S. 67-80 ders., "Schematismen der Interaktion", In: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 3, Opladen 1981, S. 81-100 ders., "Veränderungen im System gesellschaftlicher Kommunikation und die Massenmedien", In: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 3, Opladen 1981, S. 309-320 ders., Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a.M. 1982 ders., Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M.1984 ders., "Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst", In: Gumbrecht, H.U. & Pfeiffer, K.L. (Hg.), Stil: Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt a.M. 1987, S. 620-672 ders., "Die Autopoiesis des Bewusstseins", In: Hahn, Alois & Kapp, Volker (Hg.), Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt a.M. 1987, S. 25-94

145

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

ders., "Was ist Kommunikation?", In: Information Philosophie 1 (1987), S. 4-16 ders., "Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?", In: Gumbrecht, H.U. & Pfeiffer, K.L. (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt a.M. 1988, S. 884-905 ders., "Individuum, Individualität, Individualismus", In: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1989, S. 149-258 ders., "Weltkunst", In: ders., Bunsen, F.D. & Baecker, D. (Hg.), Unbeobachtbare Welt: Über Kunst und Architektur, Sielefeld 1990, S. 7-45 d ers., "Das Moderne d er modernen Gesellschaft", In: ders., Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 11-49 ders., "Europäische Rationalität", In: ders., Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 51-91 ders., "Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft", In: ders., Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 93-128 ders., "Ökologie des N ichtwissens", In: ders., Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 149-220 ders., "Ich sehe was, was du nicht siehst", In: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 5, Opladen 1995, S. 228-234 ders., Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995 ders., Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996 d ers., "Eine Redeskription ,romantischer Kunst'", In: Fohrmann, Jürgen & Müller, Harro (Hg.), Systemtheorie der Literatur, München 1996, S. 325-344 ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997 Lyotard, Jean-Francois, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Engelmann, Peter (Hg.), Wien 1994 ders., "Answering the Question: What is Postmodernism?", In: Docherty, Thomas (Hg.), Postmodernism. A Reader, Cambridge 1993, S. 38-46 ders., "Note on the Meaning of ,Post-"', In: Docherty, Thomas (Hg.), Postmodernism. A Reader, Cambridge 1993, S. 47-50 Mays, J.C.C., " Brian O'Nolan: Literalist of the Imagination", In: O'Keeffe, Timothy (Hg.), Myles: Portraits of Brian O'Nolan, London 1973, S. 77-119 d ers., "Brian O'Nolan and James Joyce on Life and Art", In: James Joyce Quarterly 11 (Spring 1974), S. 238-256

146

LITERATURLISTE

Mayoux, Jean-Jaques, "Laurence Sterne", In: Traugott, John (Hg.), Laurence Sterne. A Collection of Critical Essays, Englewood Cliffs 1968, S. 108-125 ders., "Erlebte und erzählte Zeit in Tristram Shandy", In: Rohmann, Gerd (Hg.), Laurence Sterne, Darmstadt 1980, S. 375-393 McGuire, Jerry L., "Teasing after Death: Metatextuality in The Third Policeman", In: Eire-Ireland XVI, 2 (1981), S. 107-121 McHale, Brian, Postmodernist Fiction, New York 1987 McKillop, Alan Dugald, "Laurence Sterne", In: Traugott, John (Hg.), Laurence Sterne. A Collection ofCritical Essays, Englewood Cliffs 1968, S. 34-65 Mellamphy, Ninian, "Aestho-Autogamy and the Anarchy of Imagination: Flann O'Brien's Theory of Fiction", In: Imhof, Rüdiger (Hg.), Alive Alive 0!: Flann O'Brien's ,At Swim-Two-Birds', Dublin 1985, S. 140-160 Mendilow, A.A., Time and the Novel, London 1952 ders., "The Revolt of Sterne", In: Traugott, John (Hg.), Laurence Sterne. A Collection of Critical Essays, Englewood Cliffs 1968, S. 90-107 Nünning, Ansgar, "Metanarration als Lakune der Erzähltheorie: Definition, Typologie und Grundriss einer Funktionsgeschichte metanarrativer Erzähläußerungen", In: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 26 (2001), S. 125-164 O'Brien, Darcy, "In Ireland after A Portrait of the Artist as a Young Man", In: Staley, Thomas F. & Benstock, Bernard (Hg.), Approaches to ]oyce's ,Portrait', Pittsburgh, 1976, S. 213-237 O'Brien, Kate, "Imaginative Prose by the Irish, 1820-1970", In: Ronsley, Joseph (Hg.), Myth and Reality in Irish Literature, Waterloo 1977, S. 305-315 Orvell, Myles, "Entirely Ficticious: The Fiction of Flann O'Brien", In: Imhof, Rüdiger (Hg.), Alive Alive 0!: Flann O'Brien's ,At Swim-Two-Birds', Dublin 1985, S. 101-106 O'Toole, Fintan, "Islands of Saints and Silicon: Literature and Society in Contemporary Ireland", In: Kenneally, Michael (Hg.), Cultural Contexts and Literary Idioms in Contemporary Irish Literature, Gerrarcis Cross 1988, S. 11-35 Park, William, " Tristram Shandy and the new ,Novel of Sensibility"', In: Rohmann, Gerd (Hg.), Laurence Sterne, Darmstadt 1980, S. 122-134

147

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

Pier, John & Schaeffer, Jean-Marie (Hg.), Metalepses. Entorses au Pacte de Repn?sentation, Paris 2005 Plumpe, Gerhard & Werber, Niels (Hg.), Beobachtungen der Literatur. Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft, Opladen 1995 Powell, David, "An Annotated Bibliography of Myles na Gopaleen's ,Cruiskeen Lawn' Commentaries on James Joyce", In: James Joyce Quarterly 9 (Fall1971), S. 50-62 Rimmon-Keenan, Shlomith, Narrative Fiction: Contemporary Poetics, London/New York 1983 Schmidt, Arno, "Alas, Poor Yorick" (1963), In: ders.: Das Essayistische Werk. Zur Angelsächsischen Literatur, Bd. 1, Zürich 1994, S. 15-22 Schuldt, Christian, Systemtheorie, Harnburg 2003 ders., Der Code des Herzens. Liebe und Sex in den Zeiten maximaler Möglichkeiten, Frankfurt a.M. 2005 Schulze, Martin, ",Do you know the meaning of ****?' Die markierte Aussparung als Indiz für die planvolle Komposition des Tristram Shandy", In: Rohmann, Gerd (Hg.), Laurence Sterne, Darmstadt 1980, S. 394-436 Schwalm, Helga, Dekonstruktion im Roman. Erzähltechnische Verfahren und Selbstreflexion in den Romanen von Vladimir Nabokov und Samuel Beckett, Diss., Heidelberg 1991 Schwanitz, Dietrich, Literatunuissenschaft für Anglisten, Ismaning 1985 ders., "Zeit und Geschichte im Roman - Interaktion und Gesellschaft im Drama: Zur wechselseitigen Erhellung von Systemtheorie und Literatur", In: Baecker, Dirk u.a. (Hg.), Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1987, S. 181-213 ders., "Jane Austen und Hegel", In: Zeitschrift für Literatunuissenschaft und Linguistik, Jg. 18 (1988), Heft 72, S. 101-107 ders., "Rhetorik, Roman und die internen Grenzen der Kommunikation: Zur systemtheoretischen Beschreibung einer Problemkonstellation der ,sensibility"', In: Dyck, J. u.a. (Hg.), Jahrbuch für Rhetorik 9. Rhetorik und Strukturalismus, Tübingen 1990, S. 52-67 ders., Systemtheorie und Literatur. Ein neues Paradigma, Opladen 1990

148

LITERATURLISTE

ders., "Laurence Sternes Tristram Shandy und der Wettlauf zwischen Achilles und der Schildkröte", In: Geyer, Paul & Hagenbüchle, Roland (Hg.), Das Paradox: Signatur der Krise. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens, Tübingen 1992, S. 409-430 ders., "Kommunikation und Bewusstsein. Zur systemtheoretischen Rekonstruktion einer literarischen Bestätigung der Systemtheorie", In: de Berg, Henk & Prange!, Matthias (Hg.), Kommunikation und Differenz . Systemtheoretische Ansätze in Literatur- und Kunstwissenschaft, Opladen 1993, S. 101-113 ders., "Systemtheoretischer Handlungsbegriff, literarische Kommunikation und Polyvalenzpostulat", In: Barsch, A., Rusch, G. & Viehoff, R. (Hg.), Seminar empirische Literaturwissenschaft. SPIEL 12, Heft 1, Frankfurt a.M. 1993, S. 72-80 ders., Englische Kulturgeschichte von 1500 bis 1914, Frankfurt a.M. 1996 Seiden, Raman & Widdowson, Peter (Hg.), A Reader's Guide to Contemporary Literary Theory, Hertfordshire 1993 Shakespeare, William, Julius Caesar (1599), London 1991 ders., Harnlet (ca. 1600/1601), London 1991 ders., King Lear (ca. 1605), London 1991 ders., Macbeth (ca. 1606), London 1991 Shea, Thomas F., Flann O'Brien's Exorbitant Novels, Lewisburg (Pa.) 1992 Sheridan, Niall, "Brian, Flann and Myles", In: O'Keeffe, Timothy (Hg.), Myles: Portraits ofBrian O'Nolan, London 1973, S. 32-53 Shklovsky, Victor, "A Parodying Novel: Sterne's Tristram Shandy",In: Traugott, John (Hg.), Laurence Sterne. A Collection of Critical Essays, Englewood Cliffs 1968, S. 66-89 Silverthorne, J.M., "Time, Literature, and Failure: Flann O'Brien's At Swim-Two-Birds and The Third Policeman", In: Eire-Ireland XI, 4 (1976), S. 66-83 Stanitzek, Georg, "Was ist Kommunikation?", In: Fohrmann, Jürgen & Müller, Harro (Hg.), Systemtheorie der Literatur, München 1996, S. 21-55 Stanze!, Pranz K., Theorie des Erzählens (1979), 5.A., Göttingen 1991 Tani, Stefano, The Doomed Detective, Carbondale 1982 Tigges, Wim, "Ireland in Wonderland: Flann O'Brien's The Third Policeman as a Nonsense Novel", In: Barfoot, C.C. & D' haen,

149

SELBSTBEOBACHTUNG UND DIE EVOLUTION DES KUNSTSYSTEMS

Theo (Hg.), The Clash of Ireland: Literary Contrasts and Connections, Amsterdam 1989, S. 195-208 Traugott, John, ,,Introduction", In: ders. (Hg.), Laurence Sterne. A Collection of Critical Essays, Englewood Cliffs 1968, S. 1-21 ders., "The Shandean Comic Vision of Locke", In: ders. (Hg.), Laurence Sterne. A Collection of Critical Essays, Englewood Cliffs 1968, S. 126-147 Wäppling, Eva, Four Irish Legendary Figures in ,At Swim-Two-Birds', Uppsala 1984 Wagoner, Mary S., "Satire of the Reader in Tristram Shandy", In: Rohmann, Gerd (Hg.), Laurence Sterne, Darmstadt 1980, S. 155163 Wain, John, '"To Write for my own Race"', In: Encounter XXIX, 1 (July 1967), S. 71-85 Waugh, Patricia, Metafiction. The Theory and Practice of SelfConscious Fiction, New York/ London 1984 Wellbery, David E., "Das Gedicht: zwischen Literatursemiotik und Systemtheorie", In: Fohrmann, Jürgen & Müller, Harro (Hg.), Systemtheorie der Literatur, München 1996, S. 366-383 Werber, Niels, Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation, München 2003 Wolf, Werner, "Formen literarischer Selbstbezüglichkeit in der Erzählkunst: Versuch einer Typologie und ein Exkurs zur ,mise en cadre' und ,mise en refletjserie"', In: Helbig, Jörg (Hg.), Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger, Heidelberg 2001, S. 49-84 ders., "Metalepsis as a Transgeneric and Transmedial Phenomenon", In: Meister, Jan Christoph, Kindt, Tom & Schernus, Wilhelm (Hg.), Narratology Beyond Literary Criticism, Berlin/New York 2005, S. 83-107

150

Die Neuerscheinungen dieser Reihe:

Henry Keazor. Thor sten Wübben a Video Thrills the Radio Star Musikvideos: Geschichte, Themen, Analy sen

Andreas Beck er. Saskia Reither, ChristianSpies (Hg.) Reste Umgang mit einem Randphänomen

Oktober 2005. ca . 350 Seiten. kart., ca. 200 Abb., ca. 28,8o €, I SBN: 3-89942-383-6

Oktober 2005. ca. 300 Seit en. k art., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-307-0

Julia Glesn er Theater und Internet Zum Verhältnis von Kultur und Technologie im Übergang zum 21. Jahrhunde rt

Christoph Ernst Essayistische Medienreflexion Die Idee des Essayismus und die Frage nach den Medien

Oktober 2005. ca . 270 Seiten, kart .. ca. 26,8o €. ISBN: 3-89942-389-5

Oktober 2005. 506 Seiten, k art., 29.80 €. ISBN: 3-89942-376-3

Heide Volkening Am Rand der Autobiographie Ghostwriting - SignaturGeschlecht

Markus Buschhaus Über den Körper im Bilde sein Eine Medienarchäologie anatomischen Wissens

Oktober 2005. ca. 300 Seiten . kart.. ca. 27.80 €, ISBN : 3-89942-375-5

Joanna Barck. P etra Löffler u.a. Gesichter des Films Oktober 2005, ca . 350 Seiten, kart .. zahlr. Abb., ca. 27.80 € , ISBN: 3-89942-416-6

Christian Schuldt Selbstbeobachtung und die Evolution des Kunstsystems Literaturwissenschaftliche Analysen zu Laurence Sternes >>Tristram Shandy« und den frühen Roman en Flann O'Brien s

Se ptember 2005. 354 Seiten. k art.. zahlr. Abb., 28,8o € , ISBN: 3-89942-370-4

Natascha Adamowsky (Hg.) >>Die Vernunft ist mir noch nicht begegnet