(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft: Über postkoloniale Mobilitäten junger Erwachsener 9783839460795

Der inklusive Freiwilligendienst weltwärts ist eine privilegierte Form der räumlichen Bewegung, die jedoch migrationsges

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft: Über postkoloniale Mobilitäten junger Erwachsener
 9783839460795

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Manuel Peters (Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Bildungsforschung  | Band 12

Manuel Peters (Dr. phil.), geb. 1980, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Interkulturalität/UNESCO Chair in Heritage Studies an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Cultural Studies, Heritage Studies, Bildungstheorie und Bildungsforschung, Migrations-, Rassismus- und Zugehörigkeitsforschung, Postkolonialen und Postsozialistischen Ansätzen sowie Qualitativen Forschungsmethoden.

Manuel Peters

(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft Über postkoloniale Mobilitäten junger Erwachsener

Dissertation 2021, Universität Bielefeld (AG10 – Migrationspädagogik und Rassismuskritik)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6079-1 PDF-ISBN 978-3-8394-6079-5 https://doi.org/10.14361/9783839460795 Buchreihen-ISSN: 2699-7681 Buchreihen-eISSN: 2747-3864 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Einleitung .......................................................................... 9

Teil I: Theoretische Perspektiven 1 1.1 1.2 1.3 1.4

Ein erster Kontext: Bildungs(-prozess-)forschung ........................... 27 Bildungstheorie und Bildungsforschung – der Versuch eines kurzen historischen Rückblicks ......................................... 27 Die Perspektive der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse ............ 34 Kritische Diskussion des Ansatzes der Theorie  transformatorischer Bildungsprozesse ........................................ 40 Zusammenfassung und Folgerungen .......................................... 48

2

Kontextualisierung der untersuchten weltwärts-Mobilität im Spektrum weiterer Formen räumlicher Bewegung ...................................... 53 2.1 Mobilität und/versus Migration ................................................ 54 2.2 Die gesellschaftliche Bewertung räumlicher Mobilität in Artikulation mit weiteren Kategorien sozialer Ungleichheit ................................. 56 2.3 Eine erste Kontextualisierung der weltwärts-Mobilität.......................... 65 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Kontextualisierung der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität in postkolonialen Diskursen ................................................. Die entwicklungspolitische Selbstbeschreibung des weltwärts-Programms ..... Koloniale Diskurse ............................................................ Deutschland als Kolonialmacht................................................ Aspekte kolonialer (Dis-)Kontinuitäten im Entwicklungsdiskurs ................ Deutsche Entwicklungspolitik in kolonialer Kontinuität?........................

67 68 70 75 78 82

3.6 Genealogische Aspekte in der Subjektposition  der entwicklungspolitischen Mobilität ......................................... 84 3.7 Folgerungen für die weitere Betrachtung ...................................... 89 Subjekt- und Sozialtheoretische Perspektive ................................. 91 Kurze Einführung: Stuart Halls Verständnis von (kultureller) Identität als artikuliert ................................................................. 93 4.2 Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes diskurstheoretische Perspektive ......... 98 4.2.1 Strukturalismus/Poststrukturalismus .................................. 99 4.2.2 Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes nicht-essenzialistisches Diskursverständnis........................... 102 4.2.3 Das Subjekt bei Laclau und Mouffe ..................................... 111 4.2.4 Kritische Einwände und mögliche Erweiterungen der Konzeption des Subjektes .......................................... 116 4.3 Stuart Halls Verständnis des Subjektes ....................................... 120 4 4.1

5

Anmerkungen zum Bildungsverständnis in dieser Arbeit ..................... 131

Teil II: Empirische Perspektiven Methodologische Perspektiven.............................................. 145 Zur Rekonstruktion von Positionierung und Anrufungen bzw. Aneignungsweisen von Diskursen in Erzählungen ........................ 146 6.2 Zum Vorgehen in der Erhebung und Analyse der Interviews ................... 152 6 6.1

7 7.1

7.2

Die Interviewsituation, Text- und thematische Feldanalysen sowie Anfangssequenzen ................................................... 163 Ann ......................................................................... 163 7.1.1 Interviewsituation .................................................... 163 7.1.2 Text- und thematische Feldanalyse.................................... 164 7.1.3 Anfangssequenz: Hintergründe und Ressourcen für die Beschäftigung mit Rassifizierung ...............................170 Kai ........................................................................... 174 7.2.1 Interviewsituation ..................................................... 174 7.2.2 Text- und thematische Feldanalyse.....................................175 7.2.3 Anfangssequenz: Etwas Besonderes erleben – Entscheidung für weltwärts ............................................ 179

8

Aneignungsweisen von Diskursen der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität ...................................................... 185 8.1 Bilder/Imaginationen von Zugehörigkeitskontexten der Mobilität (Kai) ......... 185 8.1.1 Eine besondere Mobilität als Ausdruck der Imagination globaler Geografie? ................................................... 185 8.1.2 Theoretisierender Einschub: Imaginationen von Regionen des Globalen Südens .................................................. 187 8.1.3 Anschluss an und Bruch mit vorherrschenden Diskursen  über Armut ........................................................... 190 8.1.4 Theoretisierender Einschub: Die Konzepte des Globalen Nordens und Globalen Südens als Beispiel der Kritik an eurozentristischen Beschreibungen der Welt ............. 193 8.1.5 Ambivalente Aneignung der Theorie des »Kulturschocks« ............. 195 8.1.6 Kultur als Erklärung für Nicht-Passungen zwischen eigener Positionierung in Zugehörigkeit zu und Anrufung in Distanz durch die Gastbrüder ......................... 202 8.2 Aspekte der spezifischen Position der Freiwilligen-Mobilität (Ann & Kai) ....... 204 8.2.1 Positionierung in Abgrenzung vom Feld (professioneller) entwicklungspolitischer Mobilität ..................... 204 8.2.2 Theoretisierender Einschub: »Expert*innen«-Wissen und/vs. lokales Wissen................................................ 207 8.2.3 Unangemessene, verschwenderische Praktiken der professionellen Entwicklungszusammenarbeiter*innen ............ 209 8.2.4 Ambivalentes Verhältnis zur eigenen privilegierten Position.............210 8.2.5 Freiwillige als Expert*innen und Freiwillige als Erfahrungskonkurrent*innen (Kai) ..................................216 8.3 Kurze Zwischenbetrachtung .................................................. 219

9 9.1

Aneignungsweisen rassifizierter Zugehörigkeitskategorien der Mobilität ... 225 Vom Vergleich mit anderen Freiwilligen zur komplexeren Erfahrung von rassifizierter Zugehörigkeit (Ann) ........................................ 225 9.1.1 Die Anrufung anderer Freiwilliger als »Weiß«  und die eigene Stellung ............................................... 225 9.1.2 Biografische Spuren rassifizierender Anrufung  in der Grundschule ................................................... 229 9.1.3 Biografische Spuren: Vom Vergleich mit Freunden zur Bedeutung der geografischen Herkunft des Vaters ................. 232

9.1.4 Theoretisierender Einschub: (Süd-)Asiatisch-deutsche Rassismuserfahrungen ...................... 234 9.2 Aneignungsweisen der Anrufung als »Weiß« (Kai) ............................ 238 9.2.1 Die Anrufung als »Mzungu« als »Schlag ins Gesicht« .................. 239 9.2.2 Strategien des Umgangs mit der Anrufung als »Mzungu« ...............241 9.2.3 Interaktive Konsequenzen der Anrufung als »Mzungu«................. 244 9.2.4 Theoretisierender Einschub: Aspekte der Einschreibung von Rassismus in die Zugehörigkeitskontexte der Mobilität............. 248 9.3 Zwischenbetrachtung: Rassifizierte, kontextbedingte und kontextrelationale Zugehörigkeitsordnungen ............................. 254 10 Aneignungsweisen von Bildung im Kontext der Erzählungen der Mobilität....261 10.1 (Re-)Positionierung gegenüber Rassismus (Ann) .............................. 262 10.1.1 Gesteigerte Emotionalität gegenüber rassistischen Repräsentationen .. 262 10.1.2 Reflexion: Freunde und Rassifizierung ................................. 263 10.1.3 Bewusstsein und Bedürfnis: Die Bedeutung Südasiens ................. 264 10.1.4 Bildungstheoretisch orientierte Lesart der Positionierung Anns ........ 266 10.2 (Re-)Positionierung gegenüber (antimuslimischem) Rassismus (Kai) ........... 269 10.2.1 Offensichtlich und weniger offensichtlich »Mitgebrachtes« ............. 271 10.2.2 Identifikation mit der Gastfamilie und Problematisierung von Pauschalisierungen............................................... 272 10.2.3 Bildungstheoretisch orientierte Lesart der Positionierung Kais ......... 275 Schlussbetrachtung ........................................................ 279 Weitere ausgewählte, bildungstheoretisch relevante Aspekte der Aneignungsweisen der entwicklungspolitischen Mobilität ................. 281 11.2 Aspekte des Nexus zwischen Emotion und Rationalität als Bildungsund als Herrschaftsmoment.................................................. 285 11.3 Bildung als Identifikationsprozess, Solidarisierung »beyond« natio-ethno-kultureller Migrationsgesellschaft ..................... 289 11.4 Ein grundloser Schluss....................................................... 293 11 11.1

Danksagung ...................................................................... 301 Literaturverzeichnis.............................................................. 303

Einleitung

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Subjektivierungsprozessen junger Erwachsener in Form von Zugehörigkeitserfahrungen und Bildungsprozessen innerhalb ihrer entwicklungspolitischen Mobilität. Sie sieht sich in der kritischen Migrations- und Rassismusforschung sowie der Migrationspädagogik verortet. Diesen Forschungsrichtungen geht es darum, diejenigen gesellschaftlichen Bedingungen zu erkunden, die unterschiedlich natio-ethnokulturell (rassifiziert) positionierte migrationsgesellschaftliche Subjekte hervorbringen und sie dazu bringen, »(sich) als migrationsgesellschaftliche spezifische Subjekte zu denken, als solche zu handeln und sich auf gesellschaftliche Bedingungen zu beziehen« (Mecheril, Thomas-Olalde, Melter, Arens, Romaner 2013: 17). Die fokussierte weltwärts-Mobilität begreife ich in der Folge als bedeutsamen – postkolonialen – Zugehörigkeitskontext, in dem sich vorherrschende Differenzordnungen der Migrationsgesellschaft aktualisieren. Die Welt, so zeigt ein historisch kontextualisierender Blick, war schon immer und ist auch weiterhin, sogar in gesteigertem Maße, von grenzüberschreitenden Bewegungen der Menschen geprägt (vgl. etwa Hoerder 2002). In diesem Zusammenhang ist es bedeutsam, daran zu erinnern, dass Nationalstaaten, welche die gegenwärtige globale Ordnung prägen, eine relativ junge, nur etwa dreihundertjährige Historie haben und »Sesshaftigkeit und Nationalstaatlichkeit« in der Geschichte eher die Ausnahme darstellen (vgl. Trzeciak 2020: 16). Dies ist aus Perspektive der kritischen Migrations- und Rassismusforschung bedeutsam. Wenn es keine »natürlich« gegebenen nationalstaatlichen und andere Grenzen gibt, können diese als erst durch Diskurse hervorgebracht begriffen werden. Diskurse, die als »Wissens- und Aussagesysteme […] politisch, wissenschaftlich, künstlerisch, pädagogisch, alltagsweltlich« verschieden beurteilte Formen der räumlichen Bewegung und Grenzüberschreitung produzieren (Mecheril 2016:10). Erst dadurch werden diese beispielsweise »als Flucht, als Mobilität oder als Migration« (ebd.) be-

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

schreibbare Kategorien, die sich in ihrer Definition darüber hinaus auch verändern (vgl. Amelina 2020). Die in modernen Nationalstaaten hervorgebrachten Zugehörigkeitsordnungen sind aus migrationspädagogischer Perspektive »natio-ethnokulturell codiert«. D.h., dass die »Konzepte der Nation, Ethnie/Ethnizität (und Rassekonstruktionen) sowie Kultur (und Religion)« (Mecheril 2016: 15) in häufig verschwommener Art und Weise der Herstellung von mehr und weniger Zugehörigkeit sowie mehr und weniger Möglichkeit der gesellschaftlich unproblematisierten grenzüberschreitenden und nicht-grenzüberschreitenden Bewegung dienen. Nationalstaaten kennzeichnen in diesem Verständnis spezifische Dominanzverhältnisse bzw. Ressourcenverteilungen, die nach ethnischen und kulturellen (rassifizierten) Kriterien strukturiert sind (vgl. Mecheril 2003: 25, Foucault 2014: 88ff). Auf diese Konzepte wird auch rekurriert, weil die Dominanzverhältnisse, zumindest in sich als demokratisch verstehenden Kontexten, nicht allzu offen zutage treten dürfen, basieren diese doch auf den allgemeinen Menschenrechten und ist daher territoriale Begrenzung und ungleiche Verteilung von Bürgerrechten eigentlich nicht legitimiert und nicht legitimierbar (vgl. auch Mouffe 2008: 25, Benhabib 2008). Die Dominanzverhältnisse haben zudem eine Geschichte, auf die in der Verteilung von natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsressourcen zurückgegriffen wird, um die gerungen wird und die sich dabei auch aktualisiert. Amelina (2020) weist im Zusammenhang mit der Hervorbringung von Zugehörigkeitsordnungen auf die Bedeutung routinierter institutioneller, organisationaler und interaktiver Praktiken hin. Auch um diese dominanten Praktiken zu verändern, hat Mecheril (2010: 9) den Begriff der »Migrationsgesellschaft« eingeführt. Er soll ermöglichen, Migration, anders als dies etwa die Begriffe der »Zuwanderungsgesellschaft« oder der »Einwanderungsgesellschaft« tun, als ein für die Gesellschaft konstitutives Phänomen zu begreifen. Migration problematisiert Grenzziehungen, indem sie die Legitimität von natio-ethno-kulturell codierten Zugehörigkeitsordnungen auf individueller, sozialer und gesellschaftlicher Ebene herausfordert und infrage stellt. Migrationspädagogik beschäftigt sich mit diesen Zugehörigkeiten und den »Bedingungen und Konsequenzen ihrer Herstellung« (ebd.: 13). Für die vorliegende Arbeit von besonderer Bedeutung erscheinen die Geschichte und Gegenwart der Rassifizierung1 von Menschen und Gesell1

Die Begriffe der Rassifizierung (Attia 2017) oder auch der Rassialisierung (Leiprecht 2016: 228) werden synonym verwandt. Sie weisen auf die »soziale Konstruktion von

Einleitung

schaften (im Kolonialismus), die, wie Harrison (2002: 149) zeigt, eng mit der Geschichte und Gegenwart des globalen Kapitalismus verbunden sind. Darauf dass diese Geschichte für die Beurteilung von Migration und die Verteilung von Zugehörigkeit im Rahmen natio-ethno-kulturell codierter Zugehörigkeitsordnungen von besonderer Bedeutung ist, haben etwa Balibar (1991) und Hall (2008) hingewiesen und auf die Rassifizierung der Migration in Deutschland wird in der kritischen Migrationsforschung immer wieder verwiesen (vgl. etwa Leiprecht 2016, Kourabas 2021, Rose 2012, Scharathow 2014, Spies 2010). Balibar und Hall haben darüber hinaus verdeutlicht, dass Rassismus verschiedene Formen annehmen kann, sich sowohl in ethnischem, kulturellem, religiösem usw. Gewand zeigt und wesentlich in kolonialen Kontinuitäten verortet ist (vgl. Harrison 2002: 153). Aus migrationspädagogischer Perspektive ist bedeutend, darauf weist Mecheril (2016: 23) hin, dass der*die Einzelne sich erst über soziale Zusammenhänge vermittelt selbst erfahren kann und dass er*sie seine*ihre »migrationsgesellschaftliche Position« innerhalb einer Diversität natioethno-kulturell codierter Zugehörigkeitskontexte wie Schule, Jugendzentrum usw. erfährt. Ein solcher Zugehörigkeitskontext findet sich auch in der weltwärts-Mobilität, die ich im Rahmen der vorliegenden Arbeit fokussiere und die eine spezifische migrationsgesellschaftliche Position einnimmt, die ich in dieser Arbeit noch diskutieren werde. In diesen Kontexten jedenfalls lernen die Individuen innerhalb vorstrukturierter Ordnungen, bestimmte Subjekte zu sein, und konstituieren sich jeweils als Subjekt (Selbstbildungsprozesse). Sie haben, da sich aus dieser Perspektive Ordnung und Subjekt im ›Rassen‹« sowie auf die »Prozesse und Ideengebäude« hin, die Rassismen hervorbringen. Denn wie Leiprecht (ebd.) argumentiert, lässt sich der wissenschaftliche »Gebrauch des Begriffs Rassismus« nur rechtfertigen, wenn auf dessen soziale Konstruiertheit verwiesen und diese untersucht wird. Ich werde in dieser Arbeit meist Rassifizierung/Rassifiziertheit/Rassifiziert verwenden. Anstelle des soeben in Rekurs auf Leiprecht eingeführten Begriffs der »Rasse« werde ich in dieser Arbeit i.d.R. von »Race« schreiben, da, wie Khakpour, Niggemann, Pohn-Lauggas, Räthzel und Diaz in ihrem Vorwort zur Übersetzung von Stuart Halls (2020) biographischer Schrift »Vertrauter Fremder« argumentieren, die Bezeichnung »Rasse« »im Deutschen durch ihre besondere historische Definition im deutschen Faschismus bis heute belastet ist«, während »Race« demgegenüber im »angelsächsischen Raum widersprüchlicher besetzt« sei. »Race« könne demnach einerseits als Bestandteil rassistischer Ideologien und andererseits als Teil der Selbstdefinition emanzipatorischer Bewegungen verstanden werden. Im deutschen Wort »Rasse« so argumentieren die Autor*innen würde die Konnotation mitschwingen, dass es »Rassen« tatsächlich gäbe.

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

praktischen Vollzug konstituieren, durchaus Gestaltungsspielräume. Sowohl die individuellen Subjektkonstitutionen als auch die natio-ethno-kultuell codierten Zugehörigkeitskontexte, in denen sie diese ausbilden, sind wandelbar, sich wandelnd und damit, das ist mir an dieser Stelle wichtig zu betonen, potenziell Gegenstand von Bildungsprozessen (vgl. auch Peters 2013b, 2015a).2 Diese können, und das wird auch Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein, in migrationspädagogischer Perspektive konzeptualisiert werden, bspw.: als Irritationen des bisherigen Selbst- und Weltverhältnisses; als Auseinandersetzungen mit den vorherrschenden Ordnungen; als »In-Beziehung-Setzen« zu aktuellen weltgesellschaftlichen Rahmenbedingungen; zu »globaler Not und Ungleichheit und ihrer Wirkung auf Migrationsbewegungen und -diskurse«; zur »relativen Privilegierung europäischer Kontexte; der Situation von geflüchteten Menschen; der historischen, politischen, ökonomischen und ökologischen Bedingungen globaler Ungleichheit; den daraus resultierenden Umständen (…)« (Mecheril 2016.: 24). Vor diesem Hintergrund, der Ausbildung von Subjekt- und Weltverständnissen innerhalb natio-ethno-kulturell codierter Zugehörigkeitsordnungen und der Frage nach Bildungsprozessen in Auseinandersetzung mit ebendiesen Ordnungen, wende ich mich in meiner Arbeit in empirischer Hinsicht einer spezifischen Form räumlicher Bewegung zu. Einer Bewegung, die als Mobilität gekennzeichnet und seit 2008 unter dem Label weltwärts institutionell vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit gefördert wird. Es handelt sich dabei um das weltweit größte Programm dieser Art. Junge Erwachsene zwischen 18 und 28 Jahren gehen innerhalb dieses Rahmens zur Verfolgung entwicklungspolitischer Ziele und der Ausbildung interkultureller Kompetenzen für sechs bis vierundzwanzig Monate in Länder des Globalen Südens. Die »Freiwilligen«, so werden die Teilnehmenden des weltwärts-Programms bezeichnet, sind dabei aus Perspektive der kritischen Migrationsforschung, wie die eingangs stehenden Erörterungen 2

Ich habe hier die Begriffe Selbstbildungsprozesse und Bildungsprozesse eingefügt bzw. hervorgehoben, um auf die Verwendung der im Titel verwandten Wortkonstruktion (Selbst)Bildung hinzuweisen. Einerseits konstituieren sich Individuen erst innerhalb vorstrukturierter Ordnung »Selbst« (Selbstbildung), d.h. als bestimmte Subjekte, und andererseits sind die vorstrukturierten Ordnungen und mit ihnen die Subjekte auch wandelbar und sich wandelnd und potenziell Gegenstand von Bildungsprozessen. Da, wie noch deutlich gemacht werden wird, in der gewählten sozialtheoretischen Perspektive beides untrennbar miteinander verbunden ist, habe ich die Begriffskonstruktion (Selbst)Bildungsprozesse im Titel verwandt.

Einleitung

zeigen, in diskursive Praktiken der Herstellung von Zugehörigkeitsordnungen eingebunden und sie sind in diese involviert. Sie befinden sich dabei in einer spezifischen (und kontextvariablen) Position, indem sie – offiziell gewünscht und gefördert – natio-ethno-kulturelle Grenzen überschreiten und sich aufgefordert sehen, in diesem Rahmen den Menschen des Globalen Südens zu »helfen« und etwas über die Welt zu lernen. Die Position ist kontextvariabel auch insofern, als sie »dort« als Expert*innen helfen sollen und ihnen »hier« noch geholfen werden muss, weil sie »hier« noch eher wenig Expertise besitzen (vgl. Kontzi 2015: 216). In diesem Sinne stellt sich die Frage, wie die Mobilität die natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnung Deutschland mit hervorbringt. In diesen kurzen Erläuterungen zeigt sich bereits ein bestimmtes Verständnis desjenigen Raumes, innerhalb dessen die Mobilität stattfindet. Eines Raumes, der aufgeteilt ist in jene Regionen des Globalen Südens, in denen entwicklungspolitische Mobilität stattfindet, und jene des Globalen Norden, die »Freiwillige« suchen und fördern, die sich im Sinne einer »Samariter-Identität« (Ziai 2006: 37) institutionell gefördert und motiviert bereit erklären, zu unterstützen und zu lernen. Wie sich zeigen lässt, knüpfen diese hier nur holzschnittartig angerissenen Vorstellungen von der Relation der Kontexte in vielfacher Art und Weise an koloniale Diskurse und Mobilitäten an (vgl. Bendix 2018; Kontzi 2015; Heron 2007; Eriksson Baaz 2005). Das gilt, wie Kontzi (2015: 231) aufzeigt, auch für die sogenannte Süd-Nord-Komponente des weltwärts-Programms, die 2014 eingeführt wurde, jedoch die entwicklungspolitische Komponente, die für die Nord-Süd-Mobilität wesentlich ist, vermissen lässt. Ich interessiere mich im vorliegenden Dissertationsvorhaben für Aneignungsweisen postkolonial geprägter und natio-ethno-kulturell codierter Zugehörigkeitsordnungen innerhalb dieser von mir fokussierten entwicklungspolitischen Mobilität. Forschungsleitend sind für mich die Fragen: 1. Von was für Erfahrungen von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit erzählen unterschiedlich angerufene und sich unterschiedlich positionierende Akteur*innen der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität3 ?

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Ich setze die Klammern, weil ich in dieser Arbeit nicht immer trennscharf zwischen freiwilliger und professioneller entwicklungspolitischer Mobilität unterscheide, sondern verorte die Freiwilligenmobilität zunächst als Teil entwicklungspolitischer Mobi-

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

2. Was lässt sich aus den Erzählungen der jungen Erwachsenen über die Konstitution der Zugehörigkeitsordnungen der Mobilität lernen/rekonstruieren bzw. wie spiegeln sich diese in den Erzählungen? 3. Lassen sich in den Erzählungen der jungen Erwachsenen Bildungsprozesse rekonstruieren bzw. (wie) lässt sich hier überhaupt von Bildung sprechen?

Bevor ich zu einer skizzenhaften Darstellung des Vorgehens und einer Übersicht der Inhalte der einzelnen Kapitel der vorliegenden Arbeit komme, gehe ich zunächst kurz auf ausgewählte vorliegende Forschungsarbeiten im deutschen Wissenschaftskontext ein, die sich der weltwärts-Mobilität bzw. Freiwilligendiensten aus kritischer und postkolonialer Perspektive gewidmet haben. Mittlerweile liegen in dieser Hinsicht einige Forschungsarbeiten vor, von denen sich für diese Arbeit lernen lässt und welche gleichzeitig die Besonderheit der von mir in dieser Arbeit eingenommenen Perspektive verdeutlichen mögen.

Verortung im Forschungsstand zu weltwärts Mangold (2013) untersucht in einer ethnografischen Studie junge Erwachsene und Prozesse der Selbst- und Fremdverortung während ihres internationalen Freiwilligendienstes (nicht im Kontext von weltwärts) in einem südafrikanischen Land und setzt diese in Bezug zu Diskussionen um »Transnationalität« und sogenannte »Transprozesse«. Sie zeigt dabei vielfältige Praktiken der Herstellung von Differenzen innerhalb der Mobilität auf, wobei sie auf »Hautfarbe/Rasse« (ebd. 311) als prägende Kategorie hinweist. Mangold identifiziert gleichzeitig Uneindeutigkeiten, Brüche und Ambivalenzen, die es ermöglichen, statt Differenzen Gemeinsamkeiten zu betonen und damit vorherrschende Differenzkonstruktionen zu umgehen. Diese »transnationalen Erfahrungsräume« (ebd. 10), argumentiert Mangold, sind jedoch i.d.R. nur von kurzer Dauer und nur für spezifische »Gesellungsformen« der Mobilität bedeutsame Phänomene, weil sie nur selten darüber hinauswirken (vgl. ebd.: 310ff.). Krüger (2016, vgl. Peters 2017) beschäftigt sich in ihrer Dissertationsschrift mit einem schulischen Handlungsfeld in Tansania, das im Kontext des weltwärts-Programms verortet ist, möchte ihre Studie aber nicht auf dieses Programm und dieses Handlungsfeld beschränkt litäten. Einige wichtige Unterschiede bemerke ich aber dennoch und diskutiere sie vor allem im Kontext der empirischen Betrachtungen.

Einleitung

wissen. Im Fokus stehen – aus mikrosoziologischer Perspektive – konkrete Interaktions- und Handlungsprozesse zwischen Akteur*innen der Mobilität. Auch Krüger stellt fest, dass Kultur, Ethnizität und »Race« als (kontingente) Strukturkategorien ins Spiel kommen, die den Akteur*innen interaktiv dabei helfen, Komplexität zu reduzieren. Insgesamt, so stellt sie fest, entstehen recht stabile Differenzlinien zwischen »wir« und »die Anderen« in Form von »Freiwillige/MitarbeiterInnen mit untrennbaren Zuschreibungen: Weiße/ Schwarze, Deutsche/Tansanier, EuropäerInnen/AfrikanerInnen, jung/alt und auch männlich/weiblich« (2016: 226). Diese sind nach Krüger nur mit dem Einbezug der kolonialen Vergangenheit in die Analyse wirklich zu verstehen. Bökle (2017) beschäftigt sich in ihrer*seiner Studie aus der Perspektive der Queer Studies mit Gender, Sexualität, Sexismus und Begehren im Kontext der rahmenden Strukturen des weltwärts-Programms wie auch im Spiegel der Erfahrungen Freiwillige*r. Er*sie geht dabei »(post)kolonialen Verschränkungen von ›Sexualität‹, ›Geschlecht‹, ›Klasse‹ und ›race‹« nach (ebd.: 9). Es zeigt sich dann die zentrale Bedeutung von »Herkunft« und »weiß-Sein«, die einerseits als Machtposition sichtbar wird, indem die Freiwilligen vor diesem Hintergrund Freiräume und Begehren beanspruchen und sich zunutze machen, und die andererseits einem von Bökle nicht genauer spezifizierten Wunsch nach »going-native, dem Begehren in der Kultur aufzugehen« (ebd.: 168) entgegensteht. Gender, so zeigt Bökle (ebd.), beeinflusst ebenfalls »massiv, welche Räume zugänglich erscheinen, welche Tätigkeiten ausgeübt werden können/sollen und welche Rollenbildanforderungen an die weltwärtsFreiwilligen gestellt werden«. Die Positionierungen als männlich und/oder weiblich werden allerdings von den Freiwilligen wenig beleuchtet (ebd.). Kontzi (2015, vgl. Peters 2015b) analysiert aus postkolonial feministischer Perspektive Subjektivationen im weltwärts-Programm. Aus dieser Perspektive stellt sie (ebd. 24ff.) fest, dass ein eher unreflektierter Blick auf den Nutzen des Freiwilligendienstes weltwärts für die »Anderen« vorherrscht. So sind die Freiwilligen des weltwärts-Programms als Entwicklungshelfer*innen, Lernende, Lehrende, Botschafter*innen zwischen den Welten und/oder Völkerverständigende angerufen. Diese Anrufung findet sie in den institutionellen Rahmen von weltwärts eingeschrieben, mit konkreten, teils diskriminierenden und bestimmte Hierarchien fördernden Auswirkungen auf die Akteur*innen im Programm. Kontzi zeigt bspw., dass und wie der

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Topos »Entwicklung«4 in einer defizitorientierten Art und Weise leitend für weltwärts ist. Eine »Entwicklung«, die »dort« erreicht werden soll, wobei nur die »Mängel der jeweiligen Länder benannt und ihre Bedürftigkeit« (ebd.: 117) betont werde. Kontzi identifiziert allerdings auch »Brüche im Diskurs« (ebd.: 206), sodass sie es als durchaus möglich erachtet, dass gegenseitige Erwartungen und Bilder nicht erfüllt werden und machtkritische Lernerfahrungen möglich werden. Diese sieht sie vor allem bei den jeweiligen »Entsendeorganisationen« – allesamt entwicklungspolitische NGOs –, die sich durchaus auch kritisch gegenüber vorherrschenden Diskursen positionieren können. Weitere Arbeiten, von Brigitte Schwinge (2011) und Benjamin Haas (2012), haben sich mit dem Verhältnis der Erfahrungen von Freiwilligen, Mitarbeiter*innen und Partnerorganisationen beschäftigt (Schwinge) und/oder strukturelle Ambivalenzen des Programms aus postkolonialer Perspektive (Haas) untersucht. Hannah Maria Kühn (2015) ist bisher eine der wenigen Forscher*innen, die sich empirisch mit individuellen Lernprozessen im entwicklungspolitischen Freiwilligendienst weltwärts befasst. Das ist auch insofern interessant, als weltwärts neben der Ausrichtung als »entwicklungspolitisch« explizit auch als Lerndienst ausgewiesen ist, in dem die Freiwilligen interkulturelle und soziale Kompetenzen entwickeln und sich persönlich bilden sollen. Kühn fragt dann nach speziellen Lernprozessen und spezifischem, mit diesen Lernprozessen verbundenem Kompetenzerwerb, der mit den weltwärts-Mobilitäten einhergeht. Insbesondere die Frage danach, ob sich im Rahmen der Mobilität »nachhaltigkeitsbewusste Handlungskompetenz« (ebd.: 17) erwerben lässt, steht dabei im Fokus. Kühn stellt fest, dass den Freiwilligen i.d.R. ihre Involviertheit in Machtverhältnisse erst vor dem Hintergrund ihrer weltwärts-Zeit verständlicher werde und dieses Strukturbewusstsein durchaus zu Veränderungen im Verhältnis zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden beitragen könne. Es findet sich, so wird deutlich, eine zunehmend lebendige Forschungslandschaft, die über die »programmatische Logik« (Gille/Haas/Richter/Wenzel 2020: 9) hinausgeht, der frühere Arbeiten noch stärker verpflichtet waren. Diese neueren Arbeiten werden vornehmlich von Nachwuchsforscher*innen durchgeführt (vgl. ebd.).

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Ich setze den Begriff der »Entwicklung« in Anführungszeichen, um auf die Problematik hinzuweisen, die mit der Bezeichnung von geographischen Räumen als der »Entwicklung« bedürftig verbunden ist. Sie ist darüber hinaus, wie ich in Kap. 3 zeige, in einer kolonialen (Dis-)Kontinuität verortet.

Einleitung

Die bisher erschienenen Studien sind für die vorliegende Forschungsarbeit sehr relevant, zeigen sie doch die Wirkmächtigkeit vorherrschender postkolonialer Diskurse und mit diesen korrespondierende Herstellung von Differenzen und Zugehörigkeiten innerhalb der weltwärts-Mobilität ebenso auf, wie die Bedeutung, die Rassifizierungsprozessen und der Geschichte des Kolonialismus, in Verwobenheit mit weiteren Kategorien sozialer Ungleichheit (Geschlecht, Klasse, Raum usw.), sowohl in der Programmstruktur als auch in Praktiken und Erfahrungen der mobilen Subjekte zukommt. Es wird deutlich, dass die Akteur*innen vor diesem Hintergrund in vielfältige Praktiken der Herstellung von Differenz involviert sind. Interessanterweise liegt der Fokus der vorliegenden Studien vornehmlich auf der Herstellung einer Differenz in den Ländern des Globalen Südens und die Praktiken werden nicht auch für die Befragung der Konstitution der deutschen Zugehörigkeitsordnung sowie der Relationen der Zugehörigkeitsordnungen zueinander herangezogen (vgl. etwa Kontzi 2015: 165). Zudem muss angemerkt werden, dass die Forschungen keine migrationspädagogische Perspektive einnehmen und daher die Kontexte auch nicht als natio-ethno-kulturell codierte Zugehörigkeitsordnungen in Erscheinung treten. Dementsprechend wird auch die weltwärts-Mobilität nicht in einem Rahmen verortet, der diese als nur eine, spezifisch verortete Mobilität unter vielen möglichen Formen räumlicher Bewegung kennzeichnet. Darüber hinaus werden in den Studien die Freiwilligen des Globalen Nordens auf der einen Seite und die Menschen der Partnerländer des Globalen Südens auf der anderen Seite in den Fokus genommen, ohne differenzielle Positioniertheit etwa innerhalb der Gruppe der weltwärtsFreiwilligen oder der Menschen in den »Partnerländern« zu berücksichtigen. Weiterhin finden sich zwar vielfältige Möglichkeiten und Praktiken der Befragung von vorherrschenden Diskursen der Differenz. Diese werden aber bisher nicht als Bildungsprozesse thematisiert bzw. mit Bildungsforschung in Verbindung gebracht, mit Ausnahme der Studie von Kühn (2015), die allerdings nicht auf Bildung, sondern auf Kompetenzerwerb, wenn auch durchaus in kritischer Perspektive, fokussiert. Kurz gesagt: Aus meiner Sicht fehlt es den bisherigen Arbeiten an Tiefgang der Analyse individueller Subjektivierung innerhalb der Differenzordnungen der Migrationsgesellschaft und der weltwärts-Mobilität als migrationsgesellschaftlichem Zugehörigkeitskontext wie auch der bildungstheoretischen Reflexion. Dies mag damit zu tun haben, dass sich der Großteil der Forscher*innen eher im sozial- und politikwissenschaftlichen Raum verortet sieht, vielleicht aber auch mit einer vorherrschenden Betonung von Kompetenz im Wissenschaftsdiskurs und einer nur geringen

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Prominenz empirisch angebundener Reflexionen zu den Möglichkeiten von Bildung. Auch im Ansinnen, nicht nur über diejenigen Zugehörigkeitskontexte, in denen sich die von mir empirisch fokussierten Akteur*innen in ihrer weltwärts-Zeit bewegen, sondern – darüber vermittelt – auch über die Konstitution der Zugehörigkeitsordnung Deutschland bzw. deren natio-ethnokulturelle Codierung und ihre Konsequenzen für die Einzelnen etwas zu lernen, geht die hier vorliegende Arbeit über die bestehenden Arbeiten hinaus.

Aufbau der vorliegenden Arbeit In Teil I der vorliegenden Arbeit wende ich mich den theoretischen Rahmungen meiner Untersuchung zu. Diese Rahmungen dienen vornehmlich dazu, eine theoretische Sensibilität für den Umgang mit dem erhobenen Material zu entwickeln. Sie sind Ergebnis eines Prozesses, in dem Theorie und Material gewissermaßen wechselseitig als konstitutiv begriffen werden müssen. Auch wenn sie also hier vorangestellt sind, so ist der Prozess der Entstehung in Wirklichkeit weit zirkulärer, als es den Anschein haben mag, weil die Verschriftlichung einer Arbeit einer gewissen Logik folgt, die nicht dem Entstehungsprozess entspricht. Kapitel 1 beginnt mit der Frage danach, was »Bildung« eigentlich ist bzw. sein soll und ob und wie sie empirisch in den Blick genommen werden kann. Ich stelle fest, dass die Antwort auf diese Frage Gegenstand von vielfältigen Auseinandersetzungen ist und keine einfache Antwort gegeben werden kann. Nun mag es vielleicht zunächst etwas verwirrend erscheinen, dass die empirische Anschlussfähigkeit von bildungstheoretischer Forschung überhaupt der Diskussion bedarf. Jedoch, so zeigt sich, haben sich Bildungsforschung und Bildungstheorie in der Nachkriegszeit vornehmlich als getrennte und um Abgrenzung bemühte Bereiche herausgebildet. Deshalb stelle ich in einem ersten Schritt diese Geschichte in gebotener Kürze dar, um sodann neuere Ansätze, die den Möglichkeiten empirisch anschlussfähiger Bildungstheorie nachgehen, zu diskutieren. Insbesondere den Ansatz (bzw. die Ansätze) der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse stelle ich in den Mittelpunkt der Diskussion (vgl. u.a. Koller 2012, 2016; Fuchs 2011, 2014). Eine kritische Diskussion dieses Ansatzes aus diskurs- bzw. subjektivierungstheoretischer Perspektive führt mich dann zu einem Verständnis von Bildung, das sich nur schwerlich von Subjektivierung abgrenzen lässt und das als jeweils spezifische historische Formation kenntlich wird. Auch ein Fokus auf Transformation erscheint vor diesem Hintergrund als nur eine mögliche Variante von

Einleitung

Subjektivierungsweisen. Stattdessen begreife ich in der Folge Bildungsprozesse mit Rucker und Anhalt (2017: 45) als »Prozesse der Ordnungsbildung«, in denen es um die »Entstehung, Aufrechterhaltung und Veränderung von Ordnungen« geht. Dadurch wird eine Bildungsperspektive nun mit meinem migrationspädagogischen Interesse an der weltwärts Mobilität als migrationsgesellschaftlichem Zugehörigkeitskontext kombinierbar. Die Verwendung von (Selbst-)Bildung im Titel dieser Arbeit geht auf die Schwierigkeit Subjektivierung und Bildung voneinander abzugrenzen zurück. Entsprechend dem Interesse dieser Arbeit an einer spezifischen Mobilitätsform der Migrationsgesellschaft – der entwicklungspolitischen weltwärtsMobilität – wende ich mich in Kapitel 2 zunächst der Frage nach der spezifischen Mobilitätsposition zu, in der die weltwärts-Mobilität im Verhältnis zu anderen Formen räumlicher Bewegung verortet werden kann. Dabei gehe ich auf die soziale Konstruiertheit der Kategorien der Mobilität und der Migration ein. Ich argumentiere, dass ihre gesellschaftliche Anerkennung mit Bezug auf weitere Kategorien sozialer Ungleichheit, etwa »Race«, Klasse, Geschlecht, Raum produziert wird. Wie bereits einleitend angedeutet, kommt aus migrationspädagogischer Perspektive Rassifizierung eine wesentliche Bedeutung bei der ungleichen Verteilung der Möglichkeiten der räumlichen Bewegung zu. Dieses Verständnis wird der Rahmung des weltwärts-Programms als unproblematische und nicht-rassifizierte Mobilität gegenübergestellt. Anschließend betrachte ich in Kapitel 3 die entwicklungspolitische Komponente der Mobilität, als welche sich die weltwärts-Mobilität versteht, unter Zuhilfenahme einer postkolonialen und rassismuskritischen Analysebrille genauer. Die entwicklungspolitische Verortung kontextualisiere ich dabei historisch vor dem Hintergrund des Kolonialismus. Als »Macht-Wissen-Komplex« muss der Kolonialismus nicht nur als eine extrem gewaltvolle Praxis begriffen werden, sondern zudem als eine, die zu ihrer Rechtfertigung auf Rassifizierungsprozesse zurückgreift und in die Produktion von Wissen über mehr und weniger »entwickelte« »Andere« investierte. Diese Wissensproduktion, die u.a. im Rahmen anthropologischer Studien vonstattenging, verortete die Menschen der Welt auf einer Entwicklungsstufenskala, die es erlaubte in »rationale« und »zivilisierte«, der Selbstregierung fähige »Subjekte« auf der einen und »irrationale«, weniger »zivilisierte« und der »Hilfe« bedürftige »Objekte« auf der anderen Seite zu unterscheiden. Insbesondere die bürgerliche Subjektform, die auch die weltwärts Mobilität zu prägen scheint, sowie ihre Distinktionspraktiken zeigen sich zudem wesensmäßig mit dem Kolonialismus verbunden. Vor diesem Hintergrund zeige ich Parallelen, aber auch Un-

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

terschiede, zwischen historischen kolonialen Diskursen und aktuellen Diskursen über Entwicklung auf und verorte innerhalb dieser Betrachtungen jeweils auch die deutsche Geschichte bzw. Positionierung gegenüber dieser Geschichte. In Kapitel 4 nehme ich in Anlehnung an Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (u.a. 2006) sowie an Stuart Hall (u.a. 2004) eine subjekt- und sozialtheoretische Bestimmung meines Verständnisses der bildungstheoretisch bedeutsamen Kategorien der Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse vor. Laclau und Mouffe entwerfen eine »minimale Anthropologie« des Subjektes, die in einer Konzeption des Subjektes als »Mangel« kumuliert, eines Subjektes, das nur deshalb möglich wird, weil gesellschaftliche Verhältnisse als prinzipiell grundlos verstanden werden und daher sowohl die diskursive Struktur als auch das Subjekt nie vollständig werden können, sondern andauernd durch Dislokationen unterlaufen werden. Das Subjekt generiert in Laclaus und Mouffes Verständnis erst vor diesem Hintergrund seine – bedingte – Handlungsfähigkeit. Laclau formuliert dies wie folgt: »Ich bin dazu verdammt, frei zu sein, nicht, weil ich eine strukturale Identität besitze, wie die Existenzialisten behaupten, sondern weil ich die strukturale Identität verfehlt habe« (Laclau 1999: 128f.). Wesentlich ist darüber hinaus ein Verständnis diskursiver Verhältnisse als Gegenstand von Auseinandersetzung um die Gründung von Gesellschaft, Auseinandersetzungen, in denen in einer Logik der Äquivalenz und Differenz, der Ein- und der Abgrenzung unaufhörlich um Hegemonie gerungen wird und in denen es Akteur*innen mehr oder weniger gut gelingt, ihre Konzeptionen gesellschaftlicher Verhältnisse durchzusetzen. Während Laclau und Mouffe auf einer abstrakten Ebene bleiben, konkretisiert und erweitert Stuart Hall deren Ansatz und berücksichtigt die historischen Beziehungen (insbesondere des Rassismus), die sich in aktuelle Machtverhältnisse einschreiben und zu einer unterschiedlichen Anrufung der Akteur*innen führt. Dadurch wird die Perspektive um die Bedeutung der Anrufung durch andere, des Hereinrufens in soziale Positionen, und um ein Verständnis des »Subjektes-im-Werdegang« erweitert, eines Subjektes, das sich vor dem Hintergrund von Anrufungen und Möglichkeiten der eigenen Positionierung in jeweils spezifischer Weise mit Diskursen »vernäht«, um sprechbar zu werden. In Kapitel 5 gehe ich vor dem Hintergrund der bisherigen Betrachtung noch einmal, gewissermaßen zusammenfassend, auf Bildung ein. Ich verstehe das Subjekt dann zunächst als verflochten mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, die sich durch eine spezifische Geschichte der Unter- und Über-

Einleitung

ordnung, der Macht und Gewalt auszeichnen, eine Geschichte, die sich in den Diskursen und damit der jeweiligen Möglichkeit der subjektiven »Vernähung mit der Welt« nachzeichnet. Bildungsverständnisse werden zudem als mit Vorstellungen von Gesellschaft in Verbindung stehend kenntlich gemacht und es wird argumentiert, dass aus diesem Grund der politische Anspruch, der mit der Verwendung von »Bildung« verbunden wird, deutlich gemacht werden sollte. Bildungsforschung, so argumentiere ich in Anlehnung an Gottuck und Mecheril (2014: 104), kann sich aus der in dieser Arbeit verfolgten migrationspädagogischen Perspektive für die Analyse konkreter Wirkungen von rassifizierenden Diskursen der Mobilität, ihre kontextbedingten Ausgestaltungen und je spezifischen subjektiven Ins-Verhältnis-Setzungen (als potenzielle Bildungsmomente) interessieren. Insbesondere Problematisierungen der Gewaltförmigkeit von rassifizierten Diskursen sowie diesen Diskursen korrespondierenden Anrufungen setze ich dabei ins Zentrum der Perspektive auf Bildung. Im Anschluss an die im ersten Teil der Arbeit vorgenommenen theoretischen Klärungen, wende ich mich in Teil II empirischen Perspektiven zu. Dabei geht es entsprechend den die Forschung leitenden Fragen darum, Zugehörigkeitsordnungen und -erfahrungen der Mobilität zu rekonstruieren und eine bildungstheoretische Lesart derselben vorzuschlagen. In Kapitel 6 erläutere ich zunächst allgemein mein methodisches Vorgehen in Anlehnung an Ansätze der rekonstruktiven Sozialforschung. Vor allem eine Orientierung an positionierungsanalytischen Ansätzen und an der Grounded Theory Methodologie sind für diese Arbeit zentral. Ich erläutere sodann genauer, wie ich bei der Erhebung der Daten und anschließenden Analyse des Materials (Transkripte der Interviews mit Ann und Kai) vorgegangen bin. Kapitel 7 stellt zunächst den diskursiven Kontext der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität analytisch etwas zurück und legt den Fokus stattdessen auf die Interviewsituationen, auf die Rekonstruktion von Textund thematischen Schwerpunkten und vorherrschenden Präsentationsinteressen in den Auftakterzählungen. Es entsteht dabei ein erstes Bild davon, was besonders bedeutsame Positionierungen und Anrufungen sein könnten sowie welche Diskurse es sein mögen, an die sie dabei anschließen bzw. an denen sie sich orientieren. Begonnen habe ich jeweils mit der Anfangssequenz, weil »empirisches Wissen darüber besteht, dass die beim Erzähleinstieg ausgewählten Themen bereits Hinweise auf die Fallstruktur geben« (Schulze 2010: 577) und da sonst die Gefahr besteht, dass »Verstehensvoraussetzungen«

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

(Lucius-Hoehne/Deppermann 2002: 319) aus dem Blick geraten. Der Fokus auf die Selbstpräsentationen dient daher der ersten Orientierung, ermöglicht die thematische Schwerpunktsetzung in den folgenden Rekonstruktionen und dient mitunter als Kontrastfolie, indem das Präsentationsinteresse in Bezug zur Rekonstruktion gesetzt werden kann. In Kapitel 8 beginne ich mit der Rekonstruktion der Erzählungen vor dem Hintergrund der theoretischen Sensibilisierungen, die sich aus dem ersten Teil der Arbeit ableiten lassen. Ich fokussiere diskursive Rahmungen der Mobilität bzw. die spezifische Stellung der Mobilität, etwa gegenüber anderen Mobilitätsformen. Den Rahmungen gehe ich so nach, wie sie Ann und Kai in ihren Erzählungen präsentieren, indem sie sich positionieren und die Rahmung spezifisch aneignen. Diese Rahmungen werden vornehmlich in spezifischen Bezügen auf andere, etwa in Abgrenzung, und durch erläuternde Rekurse auf die Bedeutung von Kultur und kulturelle Differenz deutlich. Ich rekonstruiere in diesem Zuge vorherrschende Imaginationen der kulturellen und materiellen Differenz der Kontexte der Mobilität, die etwa in Begründungen für die Auswahl der weltwärts Destination oder in Erwartungen an die weltwärts Zeit, etwas Besonderes erleben zu können, zum Ausdruck kommen. Daneben fokussiere ich die Stellung der Freiwilligen-Mobilität gegenüber anderer, etwa professioneller, entwicklungspolitischer Mobilität, und dabei auch die Art und Weise, in der die weltwärts-Mobilität imaginiert wird. In der Rekonstruktion versuche ich, Facetten der Diskurse und des Diskursbezuges mithilfe der Unterschiede und Gemeinsamkeiten sowie Ambivalenzen in den Positionierungen der von mir Interviewten herauszuarbeiten. Kapitel 9 rekonstruiert die Bedeutung von Anrufungen und Positionierungen in rassifizierten Identitätskategorien in den Erzählungen Anns und Kais. Dabei zeichne ich das Bild einer rassifizierten Mobilität nach, die nicht nur durch Imaginationen von kultureller Differenz der Kontexte geprägt ist, sondern auch von rassifizierter Anrufung, die sich in der Rassifizierung der Interaktionspraxis dieser Kontexte äußert und die Erzählung der Interviews wesentlich mitstrukturiert. Die rekonstruierten Aneignungsweisen von rassifizierten Identitätskategorien durch Ann und Kai kontextualisiere ich vor dem Hintergrund von Ansätzen der rassismuskritischen Forschung. Abschließend diskutiere ich die Ergebnisse in Hinsicht auf Aussagen, die sich über die Konstitution der Zugehörigkeitsordnungen der Mobilität und ihre Zugehörigkeitskontexte, Deutschland, Mosambik, Tansania usw., treffen lassen, insbesondere ihre Kontextbedingtheit und Relationalität.

Einleitung

In Kapitel 10 nähere ich mich »Bildung« als einem Topos meiner Arbeit. Ich gehe dazu zunächst Kais und Anns Antworten auf die Frage nach, die ich am Ende jedes Interviews gestellt habe, was sie denken, aus ihrer Zeit »mitgenommen« zu haben. Die Frage greift auf die Vorstellung der Möglichkeit von Bildung zurück und trifft, wie sich zeigt, auf Resonanz. Im Kontext »solch« einer Zeit muss sich vielleicht sogar etwas »lernen« lassen. Nicht zuletzt ist der Anspruch eines Lerndienstes auch in die institutionelle Rahmung von weltwärts eingeschrieben. Ich rekonstruiere dabei sich verändernde Emotionen und Bewusstheit, Gefühle des Angenommen-Seins und des Sich-mit-einerGruppe-identifizieren-Könnens als Ankerpunkte der Bildungserzählung Anns und Kais, denen ich in Kapitel 11 weiter theoretisierend nachgehe. An dieser Stelle schlage ich eine erste bildungstheoretisch orientierte Lesart der Positionierungen Anns und Kais vor, die sich auf die Problematisierung von rassifizierten Zugehörigkeitsordnungen bezieht und dabei den bisher rekonstruierten Erklärungsmodellen folgt. In Kapitel 11 beleuchte ich die von mir rekonstruierten Aneignungsweisen von rassifizierten Diskursen der Migrationsgesellschaft bzw. der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität durch Ann und Kai auch neben den expliziten Äußerungen zu Bildung mit Fokus auf potenzielle Bildungsprozesse. Das bedeutet, dass ich einerseits die Rekonstruktionen noch einmal daraufhin betrachte, wie sich Ann und Kai jeweils gegenüber vorherrschenden Diskursen und Anrufungen positionieren und wo bzw. wann sie aus diesen Positionierungen, neben einer generellen Handlungsfähigkeit den Anrufungen gegenüber, in der hier angelegten Lesart so etwas wie Bildungsprozesse als Problematisierungen der migrationsgesellschaftlichen Differenzordnung generieren. Die Möglichkeit zu einer solchen Problematisierung scheint einerseits vielerorts angelegt zu sein, aber nur an wenigen Stellen kommt es auch (in der Erzählung) dazu. Deshalb gehe ich andererseits theoretisierend insbesondere auf die Momente der gesteigerten Emotionalität und der Vergemeinschaftung mit anderen ein, die Ann und Kai wesentlich mit Problematisierungen in Verbindung bringen. Von besonderer Bedeutung waren dabei – in bildungstheoretischer Lesart – solche Interaktionen mit anderen, in denen sich die Erzähler*innen verstanden, wertgeschätzt und gewürdigt fühlten und die sie (daher) als Ressourcen für kritische Positionierungen gegenüber vorherrschenden Zugehörigkeitsordnungen nutzten. Abschließend stelle ich zusammenfassende Überlegungen an, die sich aus dieser Arbeit für die Perspektive Bildung ergeben.

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Teil I: Theoretische Perspektiven

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Ein erster Kontext: Bildungs(-prozess-)forschung

Im Folgenden möchte ich ein erstes Verständnis der Möglichkeit entwickeln, mit meiner Arbeit an Bildungsforschung anzuschließen. Zu diesem Zweck werde ich zunächst einen kurzen historischen Rückblick auf die erziehungswissenschaftliche Diskussion von Bildung im Kontext von Bildungstheorie und Bildungsforschung vornehmen. Dieser Rückblick verdeutlicht einerseits die kategoriale Unbestimmtheit von Bildung, insofern eine Vielzahl an Verständnissen parallel existiert, und andererseits, dass und wie sich Bildungsforschung und Bildungstheorie bis in die späten 1980er-Jahre vornehmlich als voneinander getrennte Bereiche entwickelt haben. Vor diesem Hintergrund erfolgt die Referenz auf die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, welche versucht, die Differenz zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung zu überbrücken. Diese wird durch eine kritische Diskussion derselben ergänzt, um im Anschluss mit der Formulierung von Konsequenzen und Anforderungen an die eigene bildungstheoretisch informierte Forschung zu enden.

1.1

Bildungstheorie und Bildungsforschung – der Versuch eines kurzen historischen Rückblicks

Die folgende Chronologie ist notwendigerweise von Auslassungen geprägt und daher längst nicht so chronologisch und vor allem linear, wie sie hier präsentiert wird. Einzelne Stränge der jeweiligen Diskussion und Forschungspraxis existieren weiterhin nebeneinander und finden sich darüber hinaus auch intern differenziert. Mein Anliegen liegt daher vornehmlich darin, die im Anschluss diskutierten Perspektiven der empirisch anschlussfähigen Bildungstheorie zu kontextualisieren. Dieser Rückblick scheint wichtig,

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

denn wie Fuchs (2011: 12) unter Rekurs auf Ruhloff (1983: 419) anmerkt, ist mit dem Verhältnis von »Theorie und Erfahrung in der Pädagogik« etwas nicht in Ordnung. Bildungstheorie und Bildungsforschung haben sich in der disziplinären Entwicklung der Erziehungswissenschaft der Nachkriegszeit als zwei voneinander getrennte und um Abgrenzung bemühte Bereiche herausgebildet. Darüber hinaus lässt sich bis in die 1980er-Jahre hinein eine »Deszendenz von Bildungsbegriff und Bildungstheorie [feststellen], die mit dem Aufkommen der Bildungsforschung und der Ausbreitung empirischpädagogischer Forschung einsetzte« (Fuchs 2011: 16). Der Bildungsbegriff gewinnt allerdings seitdem wieder an Bedeutung und scheint, trotz aller Versuche seiner Umgehung durch die Bildungsforschung, »als zentrale Orientierungskategorie für die pädagogische Reflexion doch in bestimmter Weise unverzichtbar zu sein« (ebd.). Die Idee der Bildung wird häufig mit einer langen Geschichte in Verbindung gebracht, so wie es bspw. Hastedt (2012: 15) tut, wenn er in Anlehnung an Foucault Praktiken der »Selbstvervollkommnung« als Arten und Weisen der Selbstbildung interpretiert, die er bereits im antiken Griechenland verortet. Prüwer (2009: 14) argumentiert ebenfalls, dass die Geschichte des Bildungsbegriffs ins antike Griechenland führt, genauer ins 5. Jahrhundert B. C., und weist auf den Zusammenhang des Auftauchens von Bildung und einer gesellschaftlichen Krise hin, welcher ein Verlust von Gewissheiten, Traditionen und Sitten korrespondierte. Ohne hier darauf weiter einzugehen, findet sich dieser Zusammenhang auch in späteren1 Thematisierungen immer wieder (bspw. Koller 2012). Auch wenn Autoren wie Hastedt und Prüwer die Idee der Bildung in einer weit zurückreichenden und globalen Tradition sehen, so ist der Bildungsbegriff deutlich in einer deutschsprachigen Tradition verortet. Das kommt etwa darin zum Ausdruck, dass sich in anderen natio-ethno-kulturellen Kontexten i.d.R. keine entsprechende Begrifflichkeit finden lässt.

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Freilich ist anzumerken, dass der Zusammenhang den Prüwer benennt, ein von ihm aktuell, im Hier und Jetzt hergestellter Zusammenhang und nicht unbedingt auch ein historisch immer so gedeuteter Zusammenhang ist. In dieser Hinsicht kann der Verweis auf ein Später und Früher der Thematisierungsweisen durchaus problematisiert werden. Auch die Vereinnahmung der griechischen Antike als europäische Geschichte und ihre Positionierung in einer Linearität zur europäischen Gegenwart kann kritisiert werden.

1 Ein erster Kontext: Bildungs(-prozess-)forschung

Die aktuelle, vornehmlich deutsche Verwendung des Begriffes der Bildung lässt sich Prüwer (2009: 14) folgend auf zwei Traditionslinien zurückführen. Dies ist zum einen eine spätmittelalterliche »mystisch-religiöse Tradition«, die sich durch eine Vorstellung der Vervollkommnung des Menschen bzw. der »menschlichen Seele« als »Spiegel Gottes« auszeichnet. Das ist zum anderen eine »naturphilosophisch-alchemistische Traditionslinie« (ebd.: 15), in deren Verständnis Bildung als ein »organische[r] Prozess der Entfaltung innerer Anlagen im Menschen« verstanden wird. Daher finde sich im Bildungsbegriff heute zum einen eine universelle Bestimmung angelegt und zum anderen die Vorstellung von Bildung als eine Selbstverwirklichung des Menschen, die sich vor allem auf ein dem Menschen Inneres bezieht und frei von »äußeren Zwängen« zu verstehen ist. Beide Vorstellungen seien in unterschiedlichen Variationen in den vielfältigen existierenden Bezugnahmen auf den Bildungsbegriff wiederzufinden. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts, im Kontext der sogenannten Aufklärung, gewinnt der Begriff der Bildung immens an Bedeutung und es verschmelzen stärker religiöse und stärker säkulare Bedeutungselemente zunehmend im »Ideal des sich selbst vervollkommnenden Menschen« (Prüwer 2009: 14) miteinander. Bildung wird in der Folge verschieden mit Bedeutung versehen. Sie wird – etwa bei Rousseau, hier allerdings im Kontext von Erziehung, – moralisch aufgeladen als ein Prozess, der sich »zweckfrei und selbstbestimmt vollziehe[…], weder von außen gesetzt, noch gefordert, sondern von innen, ohne Zwang heraus« oder – etwa durch die sogenannten »Aufklärungspädagogen« – an den »Erfordernissen der bürgerlichen Gesellschaft ausgerichtet« (ebd.: 16). In neuhumanistischer Ausrichtung (prominent bei Herder und Humboldt) wiederum wird der Bildungsbegriff zweckungebunden verstanden und der Sprache eine wichtige Rolle zugewiesen. So versteht etwa Humboldt unter Bildung »die Persönlichkeitsbildung des Menschen […] als Entfaltung seiner individuellen Anlagen« (ebd.: 17). Bildung wird in der Folge allerdings auch »zum Medium der Ab- und Ausgrenzung des (Bildungs-)Bürgertums« (ebd.) und ist damit nicht für alle zugänglich. Ähnlich wie Prüwer versteht auch Heron (2007, vgl. Kap. 3) das bürgerliche Bildungsideal und seine bildungskulturelle Praxis als ein wesentliches Moment der Abgrenzung von anderen Klassen. Sie weist aus rassismuskritischer und postkolonialer Perspektive zudem darauf hin, dass die sich in dieser Zeit herausbildende Vorstellung von Bürgerlichkeit ein wesentliches Moment der Legitimation des Projektes des Kolonialismus war, für welches ein kulturelles Überlegenheitsdenken und eine kulturelle Praxis der mo-

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

ralischen Bildung wesentlich gewesen sei. Diese zweckgebundene und zwischen gebildeten und ungebildeten Menschen differenzierende Fassung des Bildungsbegriffs erfuhr vor allem im Anschluss an die Zeit des Nationalsozialismus vielfältige Kritik, ist aber dennoch bis heute wirksam. Vor allem erscheint in der Nachkriegszeit das Bildungskonzept veraltet und ungeeignet, da es den Nationalsozialismus nicht aufhalten konnte bzw. aufgrund seiner inhärenten kulturellen Distinktionspraxis und damit elitären Ausrichtung sogar (indirekt) mit diesem kooperierte (vgl. Fuchs 2011: 37ff.). Konkretere auf die Konzeptualisierung des Bildungsbegriffs ausgerichtete Kritik wird seit einiger Zeit zudem von »historisch-systematischen Studien« vorgebracht, welche Bildung als moderne Idee erkennbar machen, die bei der Betonung von Selbstmächtigkeit und Autonomie »die Angewiesenheit der menschlichen Existenz auf die Welt und die anderen in ihr übergeht« (Thompson 2009: 8). Machtanalytische Studien beschreiben Bildung zudem als eine Subjektivierungsform, »welche die Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Denkweisen des Menschen im Sinne einer ›Führung der Führungen‹ (Foucault) figuriert« (ebd.). Bildung ist dann nicht mehr als universelle, sondern als eine spezifische »anthropologische Formation« (ebd.) unter anderen möglichen Formationen zu verstehen, als eine Formation, die »das Verhältnis des Selbst zu sich selbst im Rahmen einer unendlichen Entwicklung und Transformation« (ebd.) konzipiert. In dieser spezifischen Formation der Bildung wird dann ein Individualitätsverständnis nahegelegt, welches »Selbstverantwortlichkeit« und »beständige Weiterentwicklung des Gegenwärtigen« hervorhebt (ebd., vgl. auch Pongratz/Wimmer/Nieke/Maschelein 2004, Ricken 2006). Gesellschaftstheoretische Ansätze beschreiben darüber hinaus »Anspruch und Idee der Bildung im Kontrast zu den realen gesellschaftlichen Verhältnissen, im Rahmen derer die Individuen sehr unterschiedliche Ausgangslagen in Hinblick auf Bildung haben« (ebd.: 9) (vgl. Rieger-Ladich/Grabau 2017). Rose (2012: 69-70) argumentiert, dass zum Problem des Bildungsbegriffs seine kategoriale Unbestimmtheit gehöre und dieser folglich in bestimmte Referenzkontexte gesetzt werden müsse, um präziser zu werden. In allgemeiner Perspektive lasse sich Bildung jedoch von Sozialisation oder Erziehung abgrenzen, insofern damit Entwicklungsprozesse eines Individuums bezeichnet würden, die an dessen »Eigenaktivität« gekoppelt seien. Weil mit der Perspektive Bildung pädagogische Einflussnahme be- und hinterfragt werde, sei sie eine kritische Perspektive. Bildung verfolge aber gleichzeitig den Anspruch, pädagogisches Handeln anzuleiten und also eine »Orientierungsfunktion« (ebd.: 69) einzunehmen. Der Bildungsbegriff könne

1 Ein erster Kontext: Bildungs(-prozess-)forschung

daher in doppelter Hinsicht als kritische Perspektive verstanden werden: zum einen als gegen eine überzogene Vorstellung der Formbarkeit des Menschen und zum anderen als gegen eine Überhöhung des Einflusses von Sozialisation gerichtet. So ergebe sich im Rekurs auf das Bildungskonzept eine »Interpretationsperspektive, in der das Subjekt im Spannungsfeld zwischen Befolgen gesellschaftlicher Imperative und deren Überschreitung betrachtet werden kann« (ebd.: 70), von einer Selbstbildung frei von äußeren Zwängen könne dann nicht mehr gesprochen werden. Orientierungsfunktion komme dem Bildungsbegriff zu, insofern es immer um Möglichkeitsdenken geht, das den »status quo überschreiten solle« (ebd.). Im Fokus stehe daher die Transformation von bestehenden kulturellen Lebensformen in normativer Art und Weise. Neben diesen Aspekten ist es nach Fuchs (2011: 31-84) vornehmlich die Skepsis gegenüber dem Politischen nach 1945, die – neben den Bemühungen um eine grundlegende Bildungsreform in den 1960er-Jahren – zur Entstehung einer empirisch-pädagogischen Bildungsforschung in der Nachkriegszeit beiträgt, einer Bildungsforschung, die sich von der klassischen Bildungstheorie abgrenzt und mit dieser konkurriert. Bildungstheoretische Positionen bestehen allerdings auch in der Nachkriegszeit fort, sodass sich sowohl eine Öffnung der Erziehungswissenschaften hin zu den empirisch ausgerichteten Sozialwissenschaften als auch der Anschluss an bildungstheoretische Positionen vor 1933 finden lässt. Im Laufe der 1960er-Jahre verhärten sich die Gegensätze und finden im »pädagogischen Positivismusstreit« (Fuchs 2011: 49) ihren Höhepunkt. Der Begriff der Bildung wird in diesem Zusammenhang durch Konzepte wie Qualifikation, Lernen oder Kompetenz ersetzt und bildungstheoretische Perspektiven zunehmend an den Rand gedrängt. Letztendlich setzen sich weder Bildungstheorie noch Bildungsforschung als je einziges Paradigma durch. Die Bildungstheorie geht jedoch geschwächt aus dem »pädagogischen Positivismusstreit« hervor, mit »entwertetem Bildungsbegriff und zerredeter Bildungstheorie« (ebd.: 52). Die Bildungsforschung hingegen orientiert sich in der Folge an »radikalen Optimierungs- und Steuerungsphantasmen« (ebd.). Bildungstheorie und Bildungsforschung entwickeln sich vor diesem Hintergrund als zwei deutlich voneinander getrennte und um Abgrenzung bemühte Bereiche, mit der Folge, dass beide heute jeweils einen bedeutenden Platz in den Erziehungswissenschaften einnehmen. Die Bildungstheorie interessiert sich dabei für das Subjekt und dessen Reflexivität und die Bildungsforschung für die gesellschaftliche Bedeutung bzw. Funktion von Bildung. Thompson (2009: 10) hebt in diesem Zusammenhang für die bildungs-

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

theoretische Perspektive beispielhaft etwa Benners (1988, 2001) Konzept der »nicht-affirmativen Bildung« und Ruhloffs (etwa 1994) Konzept des »problematisierenden Vernunftgebrauchs« hervor. In diesen Konzeptionen steht kein konkreter Inhalt, sondern die Geltungsprüfung von Wissen von Seiten sich bildender Subjekte im Vordergrund. Thompson (2009:10) führt aus, dass »Bildung […] etwas mit der Reflexion unthematisch fungierender Voraussetzungen und Bedingungen zu tun« habe. Bildungstheorie und Bildungsbegriff gewinnen ab Ende der 1970er-Jahre erneut an Bedeutung, vor allem in emanzipatorischer Perspektive gegenüber einer »Totalität des Vergesellschaftungsprozesses« (Prüwer 2009: 19). Prominent und in Abgrenzung von positivistischen Positionen betont etwa Klafki (1996), dass sich Bildung an einem Konzept der Allgemeinbildung ausrichten solle, das sich an drei Grundfähigkeiten orientiert: an »Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität« (Prüwer 2009: 19). Das Konzept der Bildung erfährt nun eine deutliche Politisierung, indem es über eine Orientierung an Bildung ermöglicht werden soll, »ein geschichtlich vermitteltes Bewußtsein von zentralen Problemen der Gegenwart und – soweit voraussehbar – der Zukunft zu gewinnen, Einsicht in die Mitverantwortlichkeit aller angesichts solcher Probleme und Bereitschaft, an ihrer Bewältigung mitzuwirken« (Klafki 1996: 56). In Folge einer zunehmenden Rezeption postmoderner Theoretiker wird Bildung zunehmend ohne den Rekurs auf eine »allseitig entfaltete Persönlichkeit« (Fuchs 2011: 74) sowie ohne ein Verständnis des »Subjekt[es] der ›Bildung‹ […] als Bewusstseinssubjekt« (ebd.) bestimmt. Im Laufe der 1980er-Jahre nähert sich die Bildungsforschung wieder klassischeren Fragestellungen der Bildung an, indem versucht wird, aktuelle pädagogische Wirklichkeit über detaillierte Analysen zu verändern. Dabei bezieht sie sich jedoch nicht auf bildungstheoretische Positionen sondern versucht stattdessen, sich Bildungsprozessen als empirisch messbar, fassbar und beurteilbar zu nähern. Demgegenüber betont die Bildungstheorie gerade die grundsätzliche Unverfügbarkeit und Unabschließbarkeit von Bildung und somit die Unmöglichkeit, in einer empirisch messbaren, fassbaren und beurteilbaren Art und Weise über Bildung zu forschen (vgl. Wimmer 2014: 400f.; Schäfer 2011a; Thompson 2009), sodass ein struktureller Bruch bestehen bleibt: Auf der einen Seite stehen bildungstheoretische Positionen, die das, was die empirische Bildungsforschung unter Bildung versteht, als »Lern- oder Qualifikationsforschung« (Fuchs 2011: 55) bezeichnet. Auf der anderen Seite kann der Bildungstheorie aus Perspektive der Bildungsforschung ein fehlender Praxisbezug zum Vorwurf gemacht werden, der sie für die

1 Ein erster Kontext: Bildungs(-prozess-)forschung

pädagogische Praxis und pädagogische Weichenstellungen »nutzlos« macht. An dieser Situation hat sich bis heute wenig geändert, auch wenn Bestrebungen der Vermittlung zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung zunehmend an Bedeutung gewinnen. Diese Bestrebungen zeigten sich beispielsweise an der breit akzeptierten Forderung einer bildungstheoretischen Untersetzung der PISA-Studie, ohne welche es unklar bleibe, wie Bildung eigentlich gemessen werden könne und ob überhaupt Wichtiges gemessen werde (vgl. ebd.). Ebenso wie im Bereich der Bildungsforschung entstehen nun auch Ansätze, die die an der Bildungstheorie vorgebrachte Kritik der Praxisferne ernst nehmen und sich deshalb auf »faktische Bildungsprozesse« (ebd.: 77) konzentrieren. Diese Ansätze kennzeichnet es, dass sie die Frage, »wie Menschen selbst Wirklichkeit erleben und in ihr agieren« (ebd.: 78), in den Vordergrund rücken. Aus dieser Perspektive, die sich auch weiterhin von der klassischen Bildungsforschung abgrenzt, sind Bildungsprozesse nicht quantitativ erhebbar, sondern können nur interpretativ, rekonstruktiv erschlossen werden, weshalb vornehmlich auf qualitative Forschungsmethoden des interpretativen Paradigmas zurückgegriffen wird. Im Fokus dieser Forschungen stehen zunächst hauptsächlich Lern- und/oder identitätsbildende Prozesse. Im auch durch gesellschaftliche Transformationsprozesse ausgelösten Bestreben, sich von der vormaligen Normativität des Bildungsdenkens zu lösen, wird nun auch bildungstheoretisch stärker an Bildungsforschung angeschlossen. Seit den 1980er-Jahren gibt es mehrere Versuche der Verbindung von Bildungstheorie und Forschung. Dominant setzt sich eine »[…] bildungstheoretische Position [durch], die auf Rainer Kokemohr (1989; 2007) zurückgeht, von Winfried Marotzki (1990) systematisiert und von Autoren wie Hans-Christoph Koller (1999) und Arnd-Michael Nohl (2006) weiter ausdifferenziert worden ist. Koller bezeichnet diese Position als Theorie transformatorischer Bildungsprozesse (Koller 2012)« (Rucker & Anhalt 2017: 50). Für ihre Ansätze steht die Frage im Vordergrund, »wie Menschen sich in einer multi-optionalen Welt orientieren, ihren Lebensweg beschreiten und eine bildende Transformation ihres Selbst- und Weltverhältnisses vollziehen« (Fuchs 2011: 83). So argumentiert etwa Marotzki (1990), dass die Ausbildung von reflexiven Einstellungen vor dem Hintergrund zunehmender gesellschaftlicher Individualisierungs- und Flexibilisierungsprozesse und korrespondierender Kontingenzsteigerung notwendig ist, um tragfähige individuelle Selbst- und

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Weltreferenzsysteme zu konstruieren und aufrechtzuerhalten. Durch diese Perspektive lassen sich Veränderungen der subjektiven Selbst- und Weltbezüge, die »Lockerung sozial validierter oder auch lebensgeschichtlich eingespielter Selbst-Welt-Verhältnisse« (Fuchs: 2011: 81) als Bildungsprozesse fassen, wenn sie mit der Ausbildung reflexiver Einstellungen einhergehen. Der hier nur kurz angerissene Ansatz der bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung Marotzkis kommt also erst durch seine Ausrichtung an der Gesellschaftsdiagnose »Reflexive Moderne« zu dem dann als bildungstheoretisch bedeutsam gedeuteten Schluss, Individuen müssten sich heute zu ihrem Leben und ihren Lebensperspektiven aufgrund einer gegebenen Unübersichtlichkeit reflexiv verhalten, sodass reflexive Einstellungen zu Selbstbezügen in den bildungsforschenden Blick rücken. Dieser Ansatz wird von verschiedenen Autoren aufgegriffen und anhand unterschiedlicher Referenztheorien und Problemlagen (weiter) ausgearbeitet u.a. existenziell-phänomenologisch (Marotzki 1990), diskurstheoretisch (Koller 1999, 2012; Rose 2012; Felden 2003), pragmatistisch-wissenssoziologisch (Nohl 2006) und habitustheoretisch (Geimer 2010; Rosenberg 2011). Dabei lassen sich nach Rosenberg (2011: 53) grob zwei Diskurslinien benennen: die eine Linie betone demnach die Vorgängigkeit der Sprache und die andere Linie stärker »a-theoretisch und routiniert verlaufende Wissensbestände«.

1.2

Die Perspektive der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse

Im Ansinnen eine generelle »Theorie transformatorischer Bildungsprozesse« zu formulieren, erläutert Koller (2016: 149ff.) die Gemeinsamkeiten der bisherigen Perspektiven der bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung auf Bildungsprozesse genauer. Demzufolge zeichnet es diese Perspektiven gemeinsam aus, (1) Bildungsprozesse als grundlegende Transformationen der »Muster oder Figuren« des Verhältnisses eines Menschen zu sich selbst, zu anderen und der Welt zu verstehen. Sie kennzeichnet (2) ein Bildungsverständnis, das davon ausgeht, dass Bildungsprozesse in Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemlagen stattfinden und nicht einfach nur »einem inneren Drang der Entfaltung menschlicher Potentiale [sic!] entspringen« (ebd.: 150). Bildungsprozesse finden demnach statt, weil die bisherigen zur Verfügung stehenden Muster oder Figuren des Selbst-, Fremd- und Weltbezuges zur Bewältigung soziokultureller Herausforderungen nicht ausreichen.

1 Ein erster Kontext: Bildungs(-prozess-)forschung

Sie verstehen (3) die Transformations- bzw. Bildungsprozesse als »emergentes Geschehen« (ebd.), bei dem es nicht nur zu Umstrukturierungen besagter Muster oder Figuren kommt, sondern auch neue entstehen. In dieser Konzeption von Bildungsprozessen sind »nicht nur einzelne Aspekte des Wissens und Könnens einer Person betroffen«, wie Koller (2016: 149) wohl in Abgrenzung von anderen Zugängen argumentiert, die sich beispielsweise auf Bildung als Ausbildung spezifischer Kompetenzen und Fähigkeiten beziehen würden und/oder in den Bereich des Lernens fallen würden (vgl. Jörissen/Marotzki 2009: 22-24). Vielmehr geht es bei Bildung umfassender um die Beziehung eines Subjektes zur Welt, zu anderen und zu sich selbst: Denn Bildung im Sinne des hier vorzustellenden Konzepts kann ebenfalls als ein Prozess der Erfahrung beschrieben werden, aus dem ein Subjekt ›verändert hervorgeht‹ – mit dem Unterschied, dass dieser Prozess nicht nur das Denken, sondern das gesamte Verhältnis des Subjekts zur Welt, zu anderen und zu sich selber betrifft. (Koller 2012: 9) In Abgrenzung von anderen Ansätzen wird somit zum einen eine umfassende Veränderung betont und diese mit spezifischen Problemlagen in Verbindung gebracht, die Subjekte zu Änderungen ihrer grundlegenden Muster und Figuren »zwingen«. Die gesellschaftstheoretische Ausrichtung, die den Ansätzen der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse zugrunde liegt, führt außerdem zu einem postsouveränen2 Subjektverständnis. Bspw. argumentiert Pierre Bourdieu, dass es gerade das Kennzeichen grundlegender Muster und Figuren – bei Bourdieu (1989) Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen – ist, dass sie den Subjekten nicht bzw. nur zum Teil bewusst zur Verfügung stehen. So verstanden, besteht eine Schwierigkeit bzw. Unwahrschein-

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Wie Meyer-Drawe (1996: 56) aufzeigt, sind moderne pädagogische Theorien eng verknüpft mit typisch aufklärerischen Konzeptionen von Subjektivität. So sei das Bildungskonzept in neuhumanistischer Variante an der Vorstellung einer allgemeinen Menschenbildung ohne gesellschaftliche Verwertung ausgerichtet gewesen, an der Vorherrschaft des Subjekts. Ein postsouveränes Subjektverständnis, von Meyer-Drawe plakativ mit dem »Tod des Subjekts« bezeichnet, hat Zweifel an dessen Autonomie: »Die Zerrissenheit menschlicher Verhältnisse geht mitten hindurch, durch die vernünftige Selbstbestimmung des Menschen« (ebd.). Es gehe darum, so Meyer-Drawe (ebd.: 57), sich von den Gegensätzen Individuum – Gesellschaft, Autonomie – Heteronomie usw. zu verabschieden. Diese seien zwar historisch verständlich, aber zur Deutung heutiger Problemlagen untauglich, denn sowohl »[r]eine Selbstbestimmung und bloße Fremdbestimmung sind Chimären […]« (ebd.).

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lichkeit von Bildungsprozessen, die von einem Subjekt intendiert ausgehen, weil dieses Subjekt über seine Orientierungsmuster zu einem großen Teil keine Aussage treffen kann, zu ihnen keinen oder nur begrenzten Zugriff hat und sich nur dann, wenn es darauf Zugriff hätte, bewusst selbst »bilden« könnte. Insofern sind dann Bildungsprozesse dort anzutreffen, wo die etablierten Muster und Figuren des Bezuges zur Welt, zu anderen und sich selbst herausgefordert werden. In allen unterschiedlichen Varianten der Ansätze der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse sind daher »›Fremdheitserfahrungen‹ Anlass für Bildungsprozesse« (Rose 2012: 75), insofern Fremdheitserfahrungen als Erfahrungen verstanden werden, die nicht in den bestehenden Orientierungsrahmen aufgehen und durch die Selbige deshalb infrage gestellt werden können. Koller (2012: 11ff.) verdeutlicht dieses Verständnis von Bildung stellvertretend für die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse am Beispiel des humboldtschen Bildungskonzeptes genauer. Für Humboldt stehe die »weitreichendste und möglichst ausgewogene Entfaltung aller menschlichen Anlagen« im Zentrum des Nachdenkens über Bildung. Zu dieser Entfaltung bedürfe es bei Humboldt einer möglichst umfassenden Auseinandersetzung mit der den einzelnen Menschen umgebenden Welt. Diese umgebende Welt umfasse für ihn materielle und ideelle Gegenstände sowie andere Menschen. In dieser Konzeption, so argumentiert Koller, stehe Bildung nicht für etwas Spezifisches, sondern für eine »allgemeine Bildung« oder eine »Bildung für alle«. Es handelt sich dabei nach Koller um bekannte Grundgedanken des humboldtschen Bildungskonzeptes. Weniger bekannt sei jedoch, dass Humboldts Bildungsdenken sprachtheoretisch gefasst ist. Koller (ebd.: 12) folgend ist Sprache bei Humboldt das »entscheidende Medium«, über welches Auseinandersetzungen des Menschen mit der Welt stattfinde und zwar sowohl in Bezug auf andere Menschen – Sprache in kommunikativer Funktion – als auch in Bezug auf Dinge – Sprache als Mittel der Welterschließung. So verstehe Humboldt Sprache nicht »repräsentationistisch« als Abbild von etwas, das außerhalb der Sprache existiert, sondern »konstitutionistisch, d.h. als Medium der Hervorbringung bzw. der Konstitution von Gegenständen und Gedanken« (ebd.). In diesem Verständnis konstituiere Sprache »Weltansicht«, sie »stellt eine eigene Sichtweise der Welt« dar, die die »Vorstellungs- und Empfindungswelt ihrer Sprecher nachhaltig prägt« (ebd.: 13). Entscheidend ist für Koller, dass Humboldt nicht einfach von der Sprache, sondern »von den Sprachen im Plural« (ebd.) ausgehe. Da jede Sprache Weltansicht bedeute, gehe mit der Vielfalt an Sprachen auch die andauernde Möglichkeit

1 Ein erster Kontext: Bildungs(-prozess-)forschung

der Erweiterung von Weltansicht in Auseinandersetzung mit anderen Sprachen einher. Dazu führt Koller (ebd.) aus: »Vor diesem Hintergrund stellt das Erlernen fremder Sprachen für ihn [Humboldt] einen, wenn nicht sogar den Grundmodus von Bildung dar«. Bildung, so Koller, lasse sich also bereits bei Humboldt als die bisherige »Weltsicht eines Individuums« (ebd.: 14) erweiternde bzw. transformierende Auseinandersetzung mit anderen Sprachen verstehen. Dies, da bei Humboldt die möglichst weitgehende Entfaltung der menschlichen Kräfte und die Erweiterung der eigenen Weltsicht aufeinander verwiesen seien. Wichtig ist es nach Koller auch zu berücksichtigen, dass Humboldt Sprache nicht nur als Nationalsprache verstehe, sondern alle möglichen Variationen einbeziehe, sodass letztendlich jeder Mensch seine eigene Sprache und damit auch Weltansicht besitze. Sprachen seien demnach ubiquitär und demnach auch potenzielle Bildungsanlässe. Einschub: Die Gefahr kulturalistischer Kurzschlüsse   Bereits bei Humboldt sind also »›Fremdheitserfahrungen‹ Anlass für Bildungsprozesse«, die dem Moment der Überschreitung zugerechnet werden können. In vereinfachtem Verständnis stehen Fremdheitserfahrung nach Rose (2012: 75) für die Welt, mit der ein Ich in steter Wechselwirkung stehe und aus der »die bildende Erfahrung des ›Ich‹ erwächst«, so dass sich das Ich aufgrund des Bezugs zur Welt verändere. Es verwundere dann wenig, dass häufig Auslandsreisen (vgl. Schäfer 2011a) oder Migration (vgl. Kokemohr 2007) mit Erfahrungen von Neuem und Unbekanntem, d.h. mit solchen Fremdheitserfahrungen in Bezug gesetzt würden. Das gelte, wie Rose argumentiert, auch für die Arbeit Kokemohrs zu Fremdheitserfahrungen und Bildungsprozessen, die für die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse bedeutsam sei. Für Kokemohr seien Welt und Selbst immer nur sprachlich bzw. textuell vermittelt zu denken. Bildungsprozesse, bzw. deren Anlässe lägen für ihn in Erfahrungen, die nicht in den bestehenden Weltund Selbstverhältnissen bzw. ihren Entwürfen aufgehen und durch die diese in Frage gestellt würden. Um sich diesem Verständnis genauer zu nähern, bediene sich Kokemohr Waldenfels Reflexionen zu Fremdheit, weil dieser »den Begriff des Fremden mit dem der Ordnungen verbindet« (Rose 2012: 77). Für Waldenfels sei das Fremde das, was sich dem Zugriff der Ordnung entziehe und unzugänglich sei, eben weil es sich entziehe. Bildungsprozesse seien nur dann bestimmbar, wenn die »textuellen Spuren rekonstruiert [werden], die der An-

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spruch des Fremden beim Eigenen hinterlasse, also die Be- und Verarbeitung einer Erfahrung, die nicht innerhalb der eigenen Ordnung liegt« (ebd.: 78). Rose findet nun weniger ein solches Verständnis von (sich entziehenden) Bildungsprozessen problematisch, sondern vielmehr die Art und Weise, wie Kokemohr sodann kulturalisierend mit dem Begriff des Fremden umgeht. Dieses von Rose als problematisch markierte kulturalisierende Verständnis geht ihr zufolge auf eine theoretische Unsauberkeit zurück, die bereits bei Waldenfels und auch bei Husserl angelegt sei. So werde jeweils das abstrakte Fremde (philosophische Reflexion) mit Beispielen des konkreten Fremden unterlegt (dem empirisch angenommenen kulturell Differenten). Dadurch werde nun fremdkultureller Kontakt zum Archetyp der Bildungserfahrung, weil sich hier etwas der eigenen kulturellen Ordnung völlig Entgegengesetztes zu zeigen scheint. Es sei allerdings nicht einleuchtend, so Rose, warum der Begriff der Fremdheit und nicht der Begriff des »Anderen« verwandt werde. Tue man dies, so zeige sich die bereits zuvor angesprochene Unschärfe der Verwendung des Begriffs des Fremden deutlich. So differenziere etwa Benner (1999) den Begriff des »Anderen« in personale Andersheit (von Ich und Du) und sachliche Andersheit (von Ich und Welt). Kokemohr gehe es eigentlich um sachliche Andersheit (Fremdheit), um das, was sich nicht in die eigene Ordnung fügt. In der empirischen Konkretisierung behandele er dann aber in kulturalisierender Weise personale Fremdheit (Deutsche – Kameruner*innen). Damit vermische er relationale (konkrete) und sachliche Fremdheit in einer Art und Weise, wie sie typisch für symbolische Zugehörigkeitsordnungen sei. Das sei problematisch und stattdessen müssten in einer Forschung, die nach relationaler (konkreter) Fremdheit fragt, relationale (konkrete) Fremdheit und Macht- und Herrschaftsverhältnisse zusammengedacht oder stattdessen sachliche Andersheit thematisiert werden. Auf die Überlegungen Humboldts aufbauend formuliert Koller jedenfalls Anforderungen an Ansätze der empirisch anschlussfähigen Bildungsforschung. Er übernimmt Humboldts Verständnis einer Vielfalt an Sprachen und Weltansichten ebenso wie dessen Verständnis von Bildung als eine die bestehende Weltsicht transformierende Auseinandersetzung mit anderen Sprachen bzw. Weltansichten. Während Humboldt von einem harmonischen Verhältnis verschiedener Sprachen zueinander ausgeht, zweifelt Koller an diesem Verständnis. Er argumentiert deshalb, dass das Verhältnis verschiedener Sprachen und Weltsichten zueinander geklärt werden müsse. Es stelle sich die Frage, ob allein eine »Konfrontation mit einer fremden Sprache, sei es nun eine fremde Nationalsprache, die Fachsprache einer bisher unbekannten Wissenschaft

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oder der Idiolekt eines anderen Individuums« (Koller 2012: 14) ausreiche, um Bildungsprozesse anzustoßen. Denn nicht immer, so argumentiert er, lassen sich Menschen auch auf andere Sprachen ein. Aus diesem Grund stellt sich für ihn auch die Frage nach den spezifischen Anlässen für Bildungsprozesse. Weiterhin sei zu klären, wie empirische Bildungsprozesse genau erforscht werden können, denn Humboldts Bildungsbegriff stehe eher für ein »idealistisches Bildungsverständnis« (ebd.: 15), dem klassischerweise Orientierungsfunktion für pädagogisches Handeln zukomme, das aber zur Erforschung empirischer Bildungsprozesse eher weniger geeignet sei. Koller (ebd.: 17-19), bemüht um Theoriebildung, formuliert grundlegende Ansprüche, die eine »Theorie transformatorischer Bildungsprozesse«, die Bildung in dieser Art als einen Transformationsprozess »grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses angesichts der Konfrontation mit neuen Problemlagen« begreift, seiner Ansicht nach erfüllen solle. Zu diesem Zweck stellt er vier Dimensionen auf: •





Es sollte eine »Theorie der Struktur jener Selbst- und Weltverhältnisse enthalten [sein], die den Gegenstand transformatorischer Bildungsprozesse darstellen« (kursiv im Original). Dabei trifft Koller (2012: 23-68) keine Festlegung zur Art des theoretischen Zugangs, stellt aber in Rekurs auf Paul Ricœur, Pierre Bourdieu, Judith Butler und Jacque Lacan ausgewählte und in bisherigen Arbeiten verwandte soziologische, philosophische und psychologische Zugänge vor, die sowohl die »Struktur und Genese individueller Handlungen zur Welt und sich selber theoretisch zu erfassen sowie die Bedeutung symbolischer Ordnungen in diesem Kontext reflektieren« würden. Um eine genauere Vorstellung von Anlässen für Bildungsprozesse zu gewinnen, sollte ein bildungstheoretischer Ansatz darüber hinaus ein Verständnis von denjenigen »Problemlagen oder Krisenerfahrungen« (ebd.) diskutieren, die den Hintergrund für transformatorische Bildungsprozesse abgeben bzw. diese anregen. Die »Transformationsprozesse selber« (ebd.: 18) in ihren »Verlaufsformen und Prozessstrukturen« sollten nachvollzogen und die »Bedingungen« des Zustandekommens von Bildungsprozessen geklärt werden. Es bedürfe darüber hinaus Antworten auf die Frage, wie neue Figuren und Muster des Welt-, Fremd- und Selbstbezuges entstehen, die »nicht einfach aus den bisherigen Selbst- und Weltverhältnissen ableitbar sind« (ebd.).

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Zuletzt bedürfe es der Antwort(en) auf die Frage danach, wie ein empirischer Zugang zu solchen theoretisch konzipierten Transformationsprozessen gewonnen werden kann.

Die hier im Anschluss an Koller dargestellten Dimensionen sind wie bereits angemerkt als Ausdruck eines Bemühens um Theoriebildung zu verstehen und bewegen sich auf einem hohen Niveau der Verallgemeinerung. Dementsprechend sind die jeweils theoretisch (und empirisch) zu bestimmenden Antworten auf die von Koller formulierten Fragen an Ansätze einer Theorie transformatorischer Bildung je nach gewählten Referenztheorien notwendigerweise unterschiedlich. Es ist somit eher keine einheitliche Theoriekonzeption zu erwarten und es geht vielmehr um die Formulierung einer minimalen Gemeinsamkeit, welche Perspektiven miteinander teilen, die Koller als Teil der Theorie(n) transformatorischer Bildungsprozesse fassen möchte bzw. die sich selbst so verstehen. Im Folgenden möchte ich auf wesentliche kritische Fragen an die Vertreter*innen der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse eingehen, da sich einerseits dieser Theoretisierungs- und Forschungsstand an Popularität erfreut, sich ihre Konzeption von Bildung andererseits aber auch einiger Kritik ausgesetzt sieht.

1.3

Kritische Diskussion des Ansatzes der Theorie  transformatorischer Bildungsprozesse

Prominent ist Kritik an der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse vor allem von Fuchs (2011, 2014), Rieger-Ladich (2014) und Stojanow (2006) sowie Rucker und Anhalt (2017) vorgebracht worden. Im Folgenden möchte ich diese Kritik in angebrachter Kürze vorstellen und diskutieren. Die hier vorgebrachte Kritik bezieht sich vor allem auf die Vernachlässigung normativer Referenzen, auf die Betonung von Transformation, auf die Voraussetzungen von bildenden Transformationen sowie auf die Vernachlässigung von existierenden bildungstheoretischen Fragestellungen, ergo spezifischen Bildungstopoi. Vor dem Hintergrund dieser Kritiken werden zudem Einwände aus kulturwissenschaftlich-poststrukturalistischer Perspektive auf Bildungsprozesse vorgestellt. Diese problematisieren etwa den für die Theorie transformatorischer Bildung wichtigen Begriff der (bildenden/transformierenden)

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Erfahrung sowie die Möglichkeiten, von der Erfahrung zu berichten und über sie zu forschen. Stojanow (2006: 74) würdigt einerseits die paradigmatische Neuerung der von Koller und anderen vertretenen biografischen Bildungsforschung, die für ihn darin besteht, mit einem »praxisrekonstruktiven, d.h. nicht-präskriptiven Bildungsbegriff [zu] operieren«. Sie habe den Vorteil, durch den Fokus auf »alltäglich stattfindende Suchbewegungen und Wandlungsprozesse der Individuen« den Bildungsbegriff aus dem »hochkulturellen Kanon« zu lösen. Für Stojanow (ebd.: 76) stellt sich aber die Frage, ob es ausreichend sei, Bildung als »jede innovative Artikulation von Diskurssträngen und -verkettungen« zu verstehen. Während er einerseits zustimmt, dass diese Artikulationen notwendige Bedingung für Bildungsprozesse sind, so stellt sich ihm die Frage, ob sie auch »als hinreichende Bedingung für Bildungsprozesse zu verstehen« seien, ob also jede Artikulation immer auch gleich Bildung bedeute oder ob es nicht weiterer normativer Qualifikationskriterien bedürfe, z.B., so schlägt er vor, die Ausrichtung »auf eine universelle Idee der Menschlichkeit«, um nicht Gefahr zu laufen, auch menschenverachtende Transformationsprozesse als Bildungsprozesse begreifen zu müssen. Stojanow (ebd.: 77f.) führt einen weiteren Aspekt an, indem er danach fragt, ob eine solche Bildungsforschung auch die »Voraussetzungen für Bildungsprozesse« genauer bestimmen könne. Er argumentiert, dass es sicher Unterschiede in Hinsicht auf die individuellen Möglichkeiten von Neuartikulation geben würde, etwa vor dem Hintergrund verschieden ausgestalteter sozialer Teilhabe. Das sei wichtig zu berücksichtigen, ebenso wie die Nähe des Verständnisses von Bildung als Transformationen, die in neuen Selbstbeziehungsformen münden, zum bekannteren Konzept der Biografisierung. Im Konzept der Biografisierung geht es Stojanow zufolge nämlich ebenfalls darum, »die äußeren Ereignisse des Lebenslaufs« mit subjektivem Sinn zu versehen und sie in »dynamischen Zusammenhang mit den Erfahrungen der eigenen Vergangenheit und mit dem Möglichkeitshorizont der eigenen Zukunft zu setzen« (ebd.: 78). In diesem Rekurs zeigt sich für Stojanow, dass nicht jede Transformation als Bildungsprozess verstanden werden könne, sondern dass sich nur dann von Bildung sprechen lasse, »wenn die neu gewonnenen Wirklichkeitsreferenzen so ›subjektiviert‹ werden, dass sie ein Moment der biographischen [sic!] Kohärenz der Person werden und erst dadurch neue Selbst-Entwürfe dieser Person in die Welt ermöglichen« (ebd.). Möglich sei aber auch, dass Transformationen zu »Verlaufskurven des Erleidens« führen und »die äußeren Veränderungen im Lebenslauf nicht biographisiert [sic!]

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werden können und deshalb die Handlungsfähigkeit des Einzelnen blockieren«. Dann, so Stojanow, ließe sich nicht sinnvollerweise von Bildung sprechen. Fuchs (2011) nimmt eine umfassende Betrachtung der Ansätze bildungstheoretischer Biografieforschung3 vor.4 Zwar würden die Ansätze je unterschiedliche Referenztheorien verwenden, genauer existenziell-phänomenologische, diskurstheoretische und pragmatistisch-wissenssoziologische (vgl. Rosenberg 2011: 18), gemein sei ihnen jedoch das allgemeine Verständnis von und der Fokus auf biografische Bildungsprozesse, welche sehr allgemein als Transformationen oder Wandlungen von Selbst- und Weltverhältnissen begriffen werden. Fuchs (2011: 181ff.) kritisiert, dass die Ansätze das Konzept der Bildung als Referenzpunkt entweder völlig außer Acht ließen oder aber zwar Bildungsgeschichten rekonstruieren würden, sich dabei aber nicht auf bildungstheoretische Ansätze, sondern auf solche der Identitätskonstruktion und/oder -transformation bezögen. Aus bildungstheoretischer Perspektive ist ihm zufolge daran zu kritisieren, dass in den Konzepten Weltverhältnisse zwar als Herausforderungen an die »Subjekte« herantreten, dass sodann aber der Fokus auf dem Wandel oder der Transformation von Selbstverhältnissen, d.h. der individuellen Bezüge zu sich selbst und der Welt liege. Nicht nur fehle es insofern an einer weiteren Untersuchung von Weltverhältnissen, sondern es werde vielmehr auch nicht zwischen Fremd- und Weltverhältnissen unterschieden, obwohl dies eine bildungstheoretisch bedeutsame Differenzierung sei. Ähnlich wie Stojanow kritisiert er darüber hinaus, dass Wandlungs- und Transformationsprozesse von Selbstverhältnissen »an sich« als Bildungsprozesse verstanden würden, ohne dass diese inhaltlich und nach Bildungsbedeutsamkeit differenziert würden. Nicht alle Transformations- und Wandlungsprozesse, so Fuchs weiter, könnten auch als Bildungsprozesse verstanden werden. Eine solche Differenzierung sei allerdings wichtig, möchte eine Perspektive als bildungstheoretisch gelten. Wo eine solche Differenzierung nicht stattfinde, werde ein bildungstheoretisches Verständnis von Bildung gerade verabschiedet und es stelle sich die Frage, wo eigentlich der selbst pos-

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Fuchs (2011: 181) benutzt die Umschreibung Ansätze bildungstheoretischer Biografieforschung und Theorie transformatorischer Bildungsprozesse synonym, da sich die Ansätze der Theorie zurechnen lassen und die Autoren*innen meist auch ein Interesse an (Bildungs-)Theoriebildung verfolgen. Eine genauere Betrachtung von Fuchs Analyse habe ich in einer Rezension vorgenommen (Peters 2013a).

1 Ein erster Kontext: Bildungs(-prozess-)forschung

tulierte Anspruch der »Vermittlung« zwischen Bildungsforschung und Bildungstheorie zu finden sei. Ein weiterer wichtiger Aspekt, den er vor dem Hintergrund seiner eigenen Forschung vorbringt, ist, dass Bildung nicht immer Wandlung bedeuten müsse bzw. sich die Frage stelle, was eigentlich unter Wandel verstanden werden könne (vgl. ebd.: 387). Es sind also methodische, (bildungs-)begriffliche und (bildungs-)theoretische Verkürzungen, die in der Kritik von Fuchs zum Tragen kommen. Vor allem auch der durchgängig fehlende Einbezug ausgearbeiteter Bildungstheorien in die bildungstheoretisch orientierte Biografieforschung zeigt sich für Fuchs als zentrales Problem. Dementsprechend schlägt er einige Aspekte der Erweiterung der bestehenden Ansätze vor. Bildungstheoretisch ausgerichtete Biografieforschung sollte nach Fuchs (ebd.: 193) • •



Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse in ihrer Bildungsbedeutsamkeit berücksichtigen. Differenzierungen von Bildungsprozessen herausarbeiten können und zwar in Bezug auf »inhaltliche Dimensionen und gegenstandsspezifische Auslegungen«. Die methodische Ausrüstung erweitern, da die klassische Referenz der Biografieforschung, Fritz Schütze, es den Forscher*innen vor allem erlaube, den Wandlungsprozess von Selbstverhältnissen ins Zentrum zu rücken. Dies sei nicht ausreichend, hier bestehe weiterer Theorie-/ Reflexionsbedarf.

Vor allem eine weitere Kritik, die sich auf eine fehlenden Normativität in den Ansätzen der bildungstheoretischen Biografieforschung bezieht, nimmt Koller (2016: 150) auf und stimmt ihr zu. Es stimme, so argumentiert er, dass die normativen Implikationen des Bildungsverständnisses eher implizit bleiben und selten expliziert werden. Es ist nach Koller auch eine bedeutende wissenschaftstheoretische Frage, ob es sich um »ein rein deskriptives Konzept [handele], das auf Wertungen bewusst verzichte« oder ob es doch »normativ aufgeladen« verstanden werde. Hier geht Koller noch auf eine weitere, bisher nicht diskutierte Kritik Rieger-Ladichs (2014: 27, Koller 2016: 160) ein, die aber in eine ähnliche Richtung weist, wie jene von Stojanow und Fuchs. Rieger-Ladich erhebt den Vorwurf, die Ansätze der bildungstheoretischen Biografieforschung würden Transformationsprozesse nur formal qualifizieren und könnten daher nicht zwischen der einen und der anderen Transformation unterscheiden. Koller argumentiert darauf antwortend,

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dass sich in allen existierenden Arbeiten sehr wohl normative und ethische Dimensionen der Qualifizierung von Bildungsprozessen finden ließen. Diese seien allerdings je nach (gewählter Problemlage und) sozialtheoretischer Referenz unterschiedlich und es fehle i.d.R. an der Begründung der jeweiligen normativen Orientierung. Koller (ebd.: 156) führt zur Verdeutlichung beispielhaft Marotzki an, dessen Konzept der Transformation normativ aufgeladen sei, weil es am Ziel eines mehr an Reflexivität ausgerichtet ist. Dabei verzichte dieser aber auf eine Begründung dieses normativen Zieles. Was für das Beispiel Marotzkis gelte, sei auch für die anderen Arbeiten geltend zu machen. Sie alle haben, wie Koller überzeugend argumentiert, »ein klares Kriterium zur normativen Qualifizierung von Transformationsprozessen«, sodass nicht jede Transformation als Bildungsprozess verstanden werde (ebd.: 160). Er sieht es ebenso als Kennzeichen der Ansätze an, dass sie mit einem »Minimum an ethischen Kategorien« auskämen. Koller erspart sich damit eine genauere Antwort auf die Nachfragen von Stojanow und Fuchs in Hinsicht auf eine stärkere bildungstheoretische Ausrichtung anstelle einer »schlichten« normativen Qualifizierung von Transformationsprozessen, die sich aus dem je gewählten sozialtheoretischen Zugang herleitet, nimmt die Anmerkung Stojanows in Bezug auf eine fehlende Normativität aber auf. Die Perspektive der Theorie transformatorischer Bildung findet sich allerdings auch mit noch weitergehenden Einwänden konfrontiert. So kritisieren Rucker und Anhalt (2017: 52), dass die Vorstellung von Bildung als »Transformation von Figuren des Selbst- und Weltverhältnisses infolge von Krisenerfahrungen« zu einer »bildungstheoretischen Konsensformel« geworden sei. Vor diesem Hintergrund werde nur selten die Frage gestellt, ob nicht auch andere bildungstheoretische Positionen zur Orientierung dienen könnten. Dies scheint mir ein bedeutender Einwand, denn wie Lipkina (2017: 140) bemerkt, werde die faktische Normativität, die sich in der Ausrichtung an nur einem möglichen Subjektverständnis findet, welches sich selbst transformieren müsse, sonst verschleiert. In diesem Sinne wendet auch Ricken (2019: 109) ein, dass durch den Fokus auf Transformationsprozesse des Welt- und Selbstverhältnisses die »weniger ›reine Seite‹ der Bildung, also ihr Macht-, Unterwerfungs- und insofern Formationscharakter […], eher abgeblendet« werde. Es sei aber wichtig, Bildung »als historisch, kulturell etc. spezifisches Muster solcher Wandlungs- und Konstituierungsprozesse« sichtbar zu machen, um diese Aspekte einzufangen. Auch scheint sonst nicht konsequent ein postsouveränes Subjektverständnis angewandt zu werden. In dieser Lesart muss Bildung nicht notwendigerweise als Transformation konzipiert wer-

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den, sondern die Ausrichtung an Transformation kann als spezifische historische Formation gedeutet werden, an der sich Individuen in ihren Subjektivierungsprozessen ausrichten. In diesem Sinne lässt sich mit Rucker und Anhalt (2017: 45), die sich an Theodor Litt anlehnen, auch von Bildung als einem Prozess sprechen, in dem es darum gehe, »[…] sowohl sich selbst als auch seine Beziehungen zur Welt in Ordnung zu bringen« (Litt, 1963, S. 11). Von »Ordnung« ist nach Litt dann zu sprechen, wenn das Verhältnis eines Menschen zu sich selbst und zur Welt »in angemessener Weise geregelt« ist (ebd.). Mit dieser Bestimmung bringt Litt »Bildung« und »Ordnung« explizit in einen Zusammenhang. Bildungsprozesse sind – so ließe sich die Aussage Litts im Lichte der Theorie dynamischer Systeme deuten – Prozesse der Ordnungsbildung. Eine Bestimmung dieser Prozesse hätte im Lichte des erläuterten Begriffs von Dynamik Auskunft über die Entstehung, Aufrechterhaltung und Veränderung von Ordnungen zu geben. Eine subjektivierungstheoretische Perspektive auf Bildung, für die Norbert Ricken steht, führt dementsprechend zu weitreichenden Verschiebungen in Hinsicht auf das Interesse an Bildung. Nicht mehr nur eine Transformation, sondern die Frage nach der Gestaltung des Verhältnisses eines Menschen zu sich selbst und zur Welt vor dem Hintergrund historisch spezifischer und daher kontingenter Ordnungen rückt in den Fokus. Diese Frage führt auch zu einer weitergehenden Problematisierung des Konzepts der Fremdheitserfahrung, bspw. in Bezug auf die Möglichkeit von dieser zu berichten. Denn das Subjekt der Erfahrung ist als postsouveränes Subjekt nun nicht mehr als den Verhältnissen vorgängiges Subjekt konzipierbar, sondern gestaltet sich jeweils in Auseinandersetzung mit historisch spezifischen Verständnissen von Selbst- und Weltverhältnissen. So argumentiert Schäfer (2011a), dass klassischerweise davon ausgegangen werde, dass Fremdheitserfahrungen aufgrund ihrer Unzugänglichkeit ideale Möglichkeiten bieten, Bildungsprozesse anzuregen, das heißt Verhältnisse eines Individuums sowohl zur Welt als auch zu sich selbst zu verändern. Zur Begründung heiße es meist, dass in solchen Situationen »Orientierungen, Klassifikationsmuster und die Möglichkeit einer souveränen Situationskontrolle versagen« (ebd.: 9) und sich dort, wo die eigenen Möglichkeiten erschöpft sind, die »Möglichkeit einer Selbstveränderung« (ebd.) bietet. Bei genauerer Hinsicht stelle sich dieses Anders-Werden aber als paradox dar und zwar, weil das Selbst dabei nur als »abwesendes an-

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wesend« (ebd.: 10) sei. Da Bildungsprozesse in diesem Sinne gerade die fehlende Verfügungsgewalt über sich und das eigene Verhältnis zur Welt kennzeichne – »Die es bisher konstituierenden Ordnungsmuster und Schematisierungen greifen nicht, und neue sind noch nicht gegeben […]« (ebd.: 11), so muss gefolgert werden, »[…] Bildungsprozesse haben kein Subjekt« (ebd.). Daraus ergeben sich vielfältige kritische Fragen, etwa danach, wie es überhaupt möglich sei, von einer bildenden Erfahrung zu berichten und welchen Status ein solcher Bericht eigentlich haben könne? Zwar bestehe die Möglichkeit Erfahrungen nachträglich mit Sinn und Bedeutung zu versehen, dies sei aber nur von einer anderen Position aus möglich. Schäfer (ebd.: 11) bringt dies wie folgt auf den Punkt: »Er [der*die Erzähler*in] erzählt die Geschichte seiner [*ihrer] Selbstveränderung als seine [*ihre], was sie eben gerade auch nicht ist«. Zudem ergibt sich nach Schäfer (ebd.: 10) die Schwierigkeit, dass Bildungsprozesse durch qualitative Forschung nicht direkt zugänglich sind, da sich immer nur »das ›Ich‹ im Text, nicht aber das ›Ich‹ hinter dem Text« analysieren lasse. Insofern, folgert Schäfer, ist Bildungsforschung, auch jene, die sich bildungstheoretisch ausrichtet, immer spekulativ – der Rückschluss von Text auf Autor ist spekulativ ebenso wie derjenige des*r Autors*in auf sich und seinen*ihren Veränderungsprozess. Daher sollte das Verhältnis in Richtung Interpretation verschoben werden und »Erzählfiguren, Dramatisierungsweisen, Deutungsmuster oder konjunktive Rituale identifizieren« (ebd.: 12), die allgemeine Bedeutung besitzen. In diesem Verständnis verorte sich Bildungsforschung sozialwissenschaftlich, sodass Individuen allgemeine Deutungs- und Interpretationsmuster auf je besondere Weise hervorbringen. Schäfer präferiert jedoch noch weitergehend ein Verständnis sozialer Wirklichkeiten als symbolische Wirklichkeiten. In dieser Lesart von Wirklichkeit bestehe eine »Differenz zwischen Sprache und Wirklichkeit, die nicht geschlossen werden kann, sondern die (mithilfe der Sprache) nur immer wieder neu bestimmt werden kann« (ebd.: 12-13). Subjektivität sei dann nur unter Referenz auf die Ordnung des Symbolischen möglich und damit sei auch das Verhältnis zu sich selbst eben gerade kein Selbstverhältnis. So müssen Artikulationen von Individuen als Ausprägungen eines Allgemeinen und als Selbst-Inszenierung verstanden werden, als »produktive Hervorbringungen des Selbst im Kontext signifikanter, aber nicht determinierender Repräsentationen« (ebd.: 13). Bildungsprozesse, so Schäfer, sind daher nur in ihrer Unbestimmbarkeit bestimmbar, es entspricht ihnen keine identifizierbare Wirklichkeit. In der Konsequenz könne nun empirisch danach gefragt

1 Ein erster Kontext: Bildungs(-prozess-)forschung

werden, wie bestimmte Gegenstände, bspw. der Bildung, hervorgebracht und bestimmte Ordnungen gestiftet werden. Dafür dürfe nun gerade kein vorgefasstes Begriffsraster angelegt werden und an den Gegenstand getragen werden. Thompson (2009: 19) führt in dem von Schäfer diskutierten Sinne anhand des Konzepts der Erfahrung aus, dass »[d]ie Linie zwischen Selbstermächtigung und Selbstentzug in der Erfahrung […] nicht gezogen werden [könne]. Dies hat in einer grundlegenden Weise die Kontingenz von Subjektivität zur Folge«. Es gehe darum, »bildende Erfahrung unter der Perspektive ihrer konstitutiven Grenzen« (ebd.) zu betrachten und nicht in einer einfachen Bestimmbarkeit von Bildung verhaftet zu bleiben. Die Bildungskategorie zeichnet eine »innere Widerständigkeit« (ebd.) aus. »Identifikation, Rekonstruktion oder Repräsentation dessen, was den Namen ›Bildung‹ verdient« (ebd.: 20), werden daher problematisch und zwar auf theoretischer wie empirischer Ebene. Thompson (2009: 11) hebt hervor, dass Schwierigkeiten in der Konzeptualisierung von Bildung auch vor dem Hintergrund einer Vieldeutigkeit ihrer »argumentativen Funktion« bestehen. So lassen sich, in Rieger-Ladichs (2020: 17) Worten, bildungstheoretische Interventionen auch »als strategische Spielzüge im fortwährenden Ringen um Deutungshoheit eines disziplinären Diskurses« lesen. Diese würden sichtbar in den unterschiedlichen normativen Vorstellungen, die unterschiedlichen Bildungsverständnissen zugrunde liegen: Ob Friedrich Schleiermacher Bildung als eine besondere Form der Geselligkeit zurückbindet oder Wilhelm von Humboldt sie als Geschehen der individuellen Selbstvervollkommnung beschreibt, ob Theodor W. Adorno auf ihre Verstrickung in Schuldzusammenhänge hinweist oder Pierre Bourdieu die Instrumentalisierung des Bildungswesens durch gesellschaftliche Eliten freilegt – in allen Fällen wird deutlich, dass die Beiträge zur Rede von Bildung den herrschenden Verhältnissen gegenüber nie indifferent sind. (Rieger-Ladich 2020: 17) Dies sind wichtige und grundsätzliche Einwände, die insbesondere vor dem Hintergrund, dass Bildung klassischerweise als »Selbstbildung« verstanden wurde, »als ein Prozess, in dem das Ich als zentrale Steuerungsinstanz und als Subjekt der Erfahrung in seinem Verhältnis zur Welt agiert« (Wimmer 2014: 391-392), bedeutsam sind. Diese Traditionslinie, die »Bildung als Autonomisierung und Selbstermächtigung« (Thompson 2009: 15) versteht und/oder Bildungsprozesse als Transformationsprozesse identifizieren möchte, wird

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

durch ein hier vorgestelltes Verständnis einer »grundsätzliche[n] Entzogenheit von Selbst (und Welt), die Bildung als ›Problemtitel‹ erscheinen« (ebd.) lässt, herausgefordert. Auch für Wimmer (2014: 415) hat dieses Verständnis weitreichende Konsequenzen. So müsse man bei der Bildungsforschung von einer »Empirie des Unmöglichen« sprechen. Dieser könne es nicht darum gehen, […] das Unmögliche sichtbar zu machen und unumwunden als etwas Gegebenes ontologisch auszuweisen, sondern allenfalls als etwas anders mögliches denkbar zu machen bzw. an dem, was erfahrbar und darstellbar ist, die Spur einer Abwesenheit, von etwas Nicht-Identifizierbarem, Unbestimmten, Nicht-Fixierbaren und also Undarstellbarem weniger zu erkennen als vielmehr durch vorschnelle Benennungen oder sprachlich eindeutige Fassungen nicht zu verwischen oder zu verkennen.

1.4

Zusammenfassung und Folgerungen

Die bis hierher vorgenommene Betrachtung der Geschichte und Gegenwart der Konzeptualisierung von Bildung wie der Möglichkeiten einer bildungstheoretisch informierten Bildungsforschung möchte ich abschließend für meine eigene Arbeit fruchtbar machen. Als bedeutendster und etabliertester Ansatz dieser Forschungsrichtung gilt derzeit die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Diese, so zeigte die Kritik, lässt allerdings explizite bildungstheoretische bzw. normative Bezugnahmen vermissen und reflektiert also eher nicht die (implizite) Normativität, die sich im Fokus auf Transformationsprozesse finden lässt. Diese Leerstelle ließe sich ebenfalls historisch kontextualisieren und dann etwa in Zusammenhang mit der Vorstellung des »Ende[s] der Geschichte« (Fukuyama 1992) der frühen 1990er Jahre setzen, eine Zeit, in welche die Entwicklung der bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung fällt. Wichtig scheint mir auch zu beachten, dass die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse versucht, Verbindungen zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung zu ermöglichen und eine Vielzahl an Arbeiten zu subsumieren. Kollers Verzicht auf mehr als nur ein »Minimum an ethischen Kategorien« macht es einer Vielzahl an sozialtheoretischen Ansätzen möglich, an die Perspektive der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse anzuschließen sowie die bildungstheoretische Forschung für sozialwissenschaft-

1 Ein erster Kontext: Bildungs(-prozess-)forschung

liche Subjekt- und Sozialtheorien zu öffnen. So formuliert Koller (2012) anstelle eines festen Theoriekanons eine Art Katalog von Ansprüchen, denen bildungstheoretisch ausgerichtete empirische Forschungen im Sinne der Theoriebildung gerecht werden sollten. Durch den von Koller (2012: 17) formulierten Anspruch an sich bildungstheoretisch ausrichtende Ansätze der Bildungsforschung, dass sie eine »Theorie der Struktur jener Selbst- und Weltverhältnisse enthalten [sollten], die den Gegenstand transformatorischer Bildungsprozesse darstellen« und in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung symbolischer Ordnungen für die Subjektkonstitution klären sollten, werden diese theoretischen Bezüge allerdings auch nicht beliebig. Es handelt sich entsprechend um solche theoretischen Bezüge, die es ermöglichen, die Kontingenz von Selbst- und Weltordnungen in je spezifischer Art und Weise zu theoretisieren, eine Kontingenz, die, wie insbesondere die kritischen Anfragen zeigen, wesentlich für die Möglichkeit von Bildungsprozessen zu sein scheint. Folgerichtig – da kein einheitlicher Theoriekanon besteht – stellt sich dann jeweils spezifisch die Frage nach Transformationen bzw. nach ihren Ursachen und Anstößen und der Entstehung von Neuem. Die Antworten auf diese Fragen variieren also notwendigerweise je nach angelegtem subjekt- und sozialtheoretischem Verständnis und sie müssen daher zunächst offenbleiben. Vor dem Hintergrund der kritischen Einwände scheint in mehrfacher Hinsicht Vorsicht geboten. Einerseits kann der Fokus auf Transformation als eine historisch spezifische Vorstellung von Subjektverhältnissen kenntlich gemacht werden, d.h. als nur eine Variante möglicher Subjektivierungsweisen. Mit Mollenhauer (1983: 168-169) lässt sich dies beispielhaft anhand unterschiedlicher vorherrschender Identitätsverständnisse bei Sokrates und Brecht verdeutlichen. Während Sokrates ausführe, dass er stets derselbe bleiben werde, finde sich in Brechts »Geschichten vom Herrn Keuner« eine Vorstellung von Identität, für die Transformation bedeutsam sei. Dies werde deutlich, wenn Herr K., der Protagonist der Geschichte, erbleiche, als er einem Bekannten begegnet, der ihn mit dem Kommentar begrüßt, sich seit dem letzten Treffen nicht verändert zu haben. Vor diesem Hintergrund scheint mir die Bildungskonzeption von Rucker und Anhalt (2017: 45) besonders vielversprechend, da sie Bildungsprozesse als »Prozesse der Ordnungsbildung« begreifen. In einem solchen Verständnis kann nicht nur Transformation in den Fokus rücken, sondern es muss vielmehr die »Entstehung, Aufrechterhaltung und Veränderung von Ordnungen« thematisiert werden. Zudem scheint es wichtig, Bildung nicht in einem iden-

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tifizierenden, vorschnell benennenden, vereindeutigenden und damit die Unbestimmtheit von Bildungsprozessen verwischenden Sinne auszulegen. Dies wurde zuvor als eine Problematik markiert, die sich in den Versuch der Bestimmung von Bildungsprozessen als Transformationsprozesse äußert leicht einschreiben kann. Wenn Fuchs argumentiert, dass es darum gehen müsse, Selbst-, Fremdund Weltverhältnisse in ihrer Bildungsbedeutsamkeit zu berücksichtigen, so folgere ich daraus, dass es vor allem darum gehen sollte, die normative Dimension des Bildungsverständnisses dieser Arbeit genauer zu erläutern und zu diskutieren. Dadurch sollte es zudem möglich werden, auch Differenzierungen inhaltlicher und gegenstandsspezifischer Art bearbeiten zu können. Beachtet werden sollte dabei m.E., dass es vor dem Hintergrund der soeben geführten Diskussion wohl ebenso wenig »die« Bildungsbedeutsamkeit wie »die« Bildung oder »die« normative Dimension von Bildung geben kann, sondern dass diese von der gewählten theoretischen und empirischen Perspektive mit abhängig sind und daher immer nur konkret, nicht aber generell angegeben werden können. Die Perspektive Bildung ist dann eine spezifische Lesart eines Materials, die nur vor dem Hintergrund von dessen Textförmigkeit und der Unzugänglichkeit von Erfahrung sowie in Abhängigkeit von der gewählten normativen Theorieperspektive Bildungsprozesse thematisieren kann. Wenn im Titel dieser Arbeit von (Selbst-)Bildungsprozessen die Rede ist, dann in diesem Sinne. Selbstbildung kann nicht als frei von gesellschaftlichen Zwängen verstanden werden, sondern nur als spezifische historische Formation des Verständnisses von Selbstbildung. Bildung ist gleichzeitig nicht bestimmbar und daher nur in Relation zu gesellschaftlichen Tatbeständen, Ausprägungen des Allgemeinen, wie Schäfer es nennt, thematisierbar. Gesellschaftliches Allgemeines, so führe ich in dieser Arbeit weiter aus, wird allerdings von Seiten der Subjekte mit hervorgebracht, die sich dabei in bestimmter Weise erst selbst hervorbringen und gewissermaßen bilden. Bildung geht in der hier eingenommenen Perspektive allerdings über dieses Verständnis von Selbstbildung hinaus und sollte Macht nicht nur in genereller Hinsicht, sondern auch spezifische Machtungleichheiten thematisieren können, was insbesondere für die migrationspädagogische und rassismuskritische Perspektive wichtig scheint. So kennzeichnet die migrationspädagogische Perspektive eine besondere Aufmerksamkeit für die Rassifierung von Zugehörigkeit, z.B. für rassismusrelevante Diskriminierungen, die aus natio-ethnokulturellen Zugehörigkeitsordnungen ihre Legitimation beziehen (vgl. Rose 2012: 73). Rose argumentiert, dass vor einer Bestätigung symbolisch legiti-

1 Ein erster Kontext: Bildungs(-prozess-)forschung

mierter Kulturalisierungen, deren Befragung besondere Bedeutung für die migrationspädagogische Perspektive besitzt, auch eine ansonsten kritische subjektivierungstheoretische Konzeptionalisierung von Bildung nicht gefeit zu sein scheint. Wie das Beispiel der Fremdheitserfahrung zeigt, ist vielmehr die Gefahr der Kulturalisierung häufig geradezu nahegelegt. Den hier diskutierten Ansätzen und Kritiken folgend, möchte ich also nun meine eigene Arbeit, die sich für entwicklungspolitische Mobilitäten junger Erwachsener, ihre Erfahrungen von Zugehörigkeit und die diese Erfahrungen strukturierenden Ordnungen interessiert, auch in bildungstheoretischer Hinsicht versuchen zu verorten. Zu diesem Zweck werde ich im Folgenden zunächst den Gegenstand der Mobilität in postkolonialer und rassismuskritischer Einstellung als Schlüsselproblematik dieser Arbeit vorstellen und diskutieren. Dies geschieht auch im Ansinnen, mehr über die spezifischen, historischen, kulturellen usw. Muster der Mobilität und ihrer Erfahrungserwartungen herauszuarbeiten und mein Bildungsverständnis damit spezifisch normativ auszurichten. Daran anschließend und darauf aufbauend werde ich sodann das Subjekt- und Weltverständnis genauer explizieren und auch in Hinsicht auf ein Verständnis von Bildungsprozessen diskutieren.

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2 Kontextualisierung der untersuchten weltwärts-Mobilität im Spektrum weiterer Formen räumlicher Bewegung

Bevor ich in Referenz auf Ernesto Laclau und Chantal Mouffe sowie Stuart Hall zur genaueren subjekt- und sozialtheoretischen Bestimmung dessen komme, wie ich Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse in dieser Arbeit begreifen möchte und was dies für ein Verständnis von Bildungsprozessen bedeuten mag, erscheint es mir zunächst notwendig, die von mir untersuchte Mobilität etwas genauer zu betrachten. Durch die im Folgenden vorgenommene Kontextualisierung der weltwärts-Mobilität im weiteren Spektrum möglicher Kategorien räumlicher Bewegung, vor allem durch den Vergleich mit der Kategorie der Migration, wird deutlich, dass es sich bei dieser Form der räumlichen Bewegung um einen privilegierten Ausschnitt aus einem ganzen Spektrum möglicher Kategorien der räumlichen Bewegung handelt. Besonders die üblicherweise vorgenommene Unterscheidung zwischen Migration und Mobilität kann die Bedeutung dieser unterschiedlichen Positioniertheit verdeutlichen und auch die Veränderlichkeit der Benennung und Bewertung von räumlicher Bewegung hervorheben. Diese Kontingenz der Definition von Migration und Mobilität führt zu der Notwendigkeit, sogenannte Zugehörigkeitsordnungen als sozial konstruiert zu begreifen. Darüber hinaus wird deutlich, dass die verschiedenen Typen der Bewertung von räumlicher Bewegung auch Ergebnis der Artikulation von Kategorien der räumlichen Bewegung mit (weiteren) diskursiven Kategorien sozialer Ungleichheit sind. Prominent von Bedeutung erscheint in diesem Zusammenhang die Rassifizierung von Mobilitätskategorien. Durch die hier vorgenommene Kontextualisierung wird die weltwärts-Mobilität auch als dominanzkulturelle, vornehmlich Weiß positionierte und damit ihrer Rassifizierung unkenntlich gemachte Mobilität

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

erkennbar. Dies ist für die Untersuchung bedeutsam, denn so wird hier bereits deutlich: Die entwicklungspolitische Mobilität, zu der sich auch die weltwärts-Mobilität zählt, ist in der Geschichte (des Rassismus) verortet und ohne Einbezug ihrer Geschichtlichkeit wären auch die Erzählungen derjenigen Menschen, die ich zu ihren Zugehörigkeitserfahrungen interviewt habe, nur unzureichend kontextualisiert. Aus diesem Grund beschäftigt sich dieses Kapitel auch mit der Genealogie der entwicklungspolitischen Mobilität.

2.1

Mobilität und/versus Migration

Migration und Mobilität werden in der wissenschaftlichen Literatur häufig getrennt voneinander behandelt. So ist, wie Katharina Manderscheid (2012: 551) nachweist, in der Soziologie vor allem dann von Mobilität die Rede, wenn es um soziale Mobilität innerhalb einer Gesellschaft geht. Selten ist damit »räumliche Bewegung und geographische Distanzüberwindung« (ebd.) gemeint. Manderscheid (ebd.) schließt daraus, dass Sesshaftigkeit und territoriale Verwurzelung hier implizit als die Norm angesehen werden. Das zeigt sich für sie auch in der Art der Beschäftigung mit »residenzieller Mobilität und Migration«, bei der vor allem Prozesse der Akkulturation und der Assimilation im Vordergrund stünden, und zwar hinsichtlich der »Wiederherstellung stabiler sozial-territorialer Einheiten«. In dieser Lesart erscheinen die Konzepte der Migration und der Mobilität strikt getrennt. Das eine Konzept findet für sozialen Auf- und/oder Abstieg Verwendung, während das andere den Wechsel eines Wohnortes bezeichnet. In ähnlicher Weise stellen Lehnert und Lemberger (2014: 46) die klassische Konzeption von Migration als eine vor, die sich i.d.R. auf »die [dauerhafte] Veränderung des Wohnsitzes und eine Grenzüberschreitung […], deren genaue Bestimmung jedoch unterschiedlich ausfällt«, bezieht. Migration wird in diesem klassischen Verständnis zum einen auf die Überschreitung von, i.d.R. nationalstaatlichen, Grenzen bezogen und zum anderen als »Sonderfall« bzw. »Randphänomen« definiert, das mit »Abweichung von gesellschaftlicher ›Normalität‹« (ebd.) einhergeht. Allerdings stellen sich die Konzepte der Mobilität und Migration bei genauerer Hinsicht weniger als getrennte Prozesse, sondern vielmehr als zwei Seiten einer Medaille dar. Nach Manderscheid (2012: 551) ist das obige Verständnis der Differenzierung von Migration und Mobilität veraltet, weil zum einen »ökonomische, politische und gesellschaftliche Verflechtungen über immer länger werdende Distanzen […] auf die signifikante Rolle von

2 Kontextualisierung der untersuchten weltwärts-Mobilität

räumlicher Mobilität in gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaften« (ebd.) verweisen. Zum anderen kritisiert sie, dass Raum in einer solchen Differenzierung vorgesellschaftlich verstanden und mit nationalstaatlichen Territorien gleichgesetzt werde. Im Kontext heutiger ökonomischer, politischer und gesellschaftlicher Verflechtungen ist dieses Verständnis nicht mehr haltbar, sondern räumliche Mobilität wird nach Manderscheid (ebd.: 558) nun zu einem Kapital, das es zu besitzen gilt, zu »Motilität«. Sie verliert damit ihren Status als Sonderfall, Randphänomen und Abweichung von der Normalität, Aspekte, die zuvor der Definition bzw. Abgrenzung von räumlicher Bewegung dienten, die als Migration kategorisiert wird. Als Motilität, d.h. als Kapital verstanden, ist räumliche Mobilität ein Distinktionsmittel, etwas, das es zu besitzen gilt, das aber nicht jede*r gleich gut zu besitzen imstande ist. Diesem Befund stimmt auch Bauman (1998: 83ff.) zu und argumentiert, dass Mobilität zur vorherrschenden Subjektivierungsform im neoliberalen Kapitalismus geworden ist. Zu einer Anforderung, der sich keine*r entziehen kann (vgl. auch Creswell 2010, Fraser 2003). Er verdeutlicht die Konsequenz dieser Lesart von Mobilität als Kapital anhand seiner Unterscheidung zwischen »Tourists«, die global mobil sind bzw. sein können, und »Vagabonds«, die lokal gebunden sind und/oder, so sie mobil sind, über ihre Mobilität nicht entscheiden können. Wenn wir ein bourdieusches Verständnis von Kapital (1989, 2018) zurate ziehen, sind es die individuellen Klassenpositionen, welche die Verfügbarkeit und Wirksamkeit von Mobilität innerhalb spezifischer gesellschaftlicher Kontexte und Felder des Handelns und Lebens bestimmen. Creswell (2010: 29) argumentiert in diesem Sinne, dass von »constellations of movements, representation and practices« gesprochen werden sollte, Konstellationen, die historisch spezifisch sind und gleichzeitig eine spezifische Geschichte haben. Erst vor diesem Hintergrund sei es verständlich, warum die eine Form der räumlichen Bewegung, obwohl es sich bspw. um die gleiche Distanzüberwindung handelt, anderes bewertet werde als die andere. Er verweist dazu beispielhaft auf den Unterschied zwischen dem »Globetrotter« und dem »Hobo«: »The globetrotter sits in plush velvet seats and chooses from extensive wine lists while the hobo travels close to death on a wooden plank precariously balanced on the same carriage’s axels« (Creswell 2010: 22). Räumliche Bewegung, so zeigt dieser erste Hinblick, wird höchst unterschiedlich bewertet und die Möglichkeit ihrer freie(re)n Ausübung ist an die Verfügbarkeit des richtigen symbolischen, materiellen, kulturellen etc. Kapitals bzw. der (global-)gesellschaftlichen Positionierung gebunden. Es spielt

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also eine Rolle, wer aus welcher Position und mit welchem Mitteln und Intentionen mobil ist. Darüber hinaus erscheint Mobilität als eine vorherrschende Subjektivierungsform in der kapitalistischen Globalisierung und als eine gesellschaftliche Anforderung, ja Kapital, und deshalb auf den ersten Blick zunächst grundsätzlich unproblematisch und wünschenswert. D.h., dass ein Kreuz-und-Quer, ein Hin-und-Her oder Woandershin eine wünschenswerte und geforderte und geförderte »Kompetenz« ist (vgl. Gerhards/Hans/Carlson 2014). In dieser Interpretation hat Mobilität auch Eingang in die Rahmung des weltwärts-Programms gefunden. Dort heißt es, dass die Freiwilligen »wichtige Kompetenzen der interkulturellen Kommunikation, der sozio-kulturellen Kooperation und sozialen Verantwortung […], die insbesondere in einer zunehmend globalisierten Gesellschaft von großem Wert sind« (BMZ 2016), erwerben sollen. Wie Seukwa (2007) schreibt, ist die Anerkennung des mit der Mobilität verknüpften Kompetenzerwerbs allerdings ebenfalls von der jeweiligen Mobilitätsposition abhängig und hat nicht unbedingt mit tatsächlichen Kompetenzen zu tun. So sei der »Besitz« transnationalen Humankapitals bei Geflüchteten und Migrant*innen tendenziell weit ausgeprägter und doch weit weniger anerkannt, als dies bei gesellschaftlich meist besser positionierten Mobilen »ohne Migrationshintergrund« der Fall sei, deren – in dieser Hinsicht häufig weit weniger ausgeprägte – Kompetenzen also eher anerkannt würden.

2.2

Die gesellschaftliche Bewertung räumlicher Mobilität in Artikulation mit weiteren Kategorien sozialer Ungleichheit

Auch Lehnert und Lemberger (2014: 57) argumentieren, dass eine Gleichzeitigkeit von (Im-)Mobilität und Migration existiere, sie ähnliche Praktiken seien, die jedoch gesellschaftlich höchst unterschiedlich gewertet würden. Der Unterschied zwischen den Konzepten von Mobilität und Migration ist ihrem Verständnis folgend weniger in der Art der räumlichen Bewegung und vielmehr in der Art der politischen Regulierung bzw. der »gesellschaftlichen Bearbeitung« (ebd.) von räumlicher Bewegung zu finden. Während es sich bei Mobilität um eine gesellschaftlich unproblematisierte Form der räumlichen Bewegung handele, werde Migration stärker problematisiert und, so fügen sie hinzu, mit Fragen der Identität verknüpft:

2 Kontextualisierung der untersuchten weltwärts-Mobilität

Während Mobilität prinzipiell immer und überall möglich ist, stellt Migration eine spezifische, weil politisch regulierte Form von Mobilität dar, die immer mit Grenzen rechnen muss. Migration wird außerdem im Gegensatz zu Mobilität stets mit identitären Fragen in Verbindung gebracht. (Lehnert/ Lemberger 2014: 57) Lehnert und Lemberger geben an dieser Stelle, am Beispiel der Unterscheidung zwischen Mobilität und Migration, einen ersten Hinweis darauf, dass die Unterscheidung zwischen Formen räumlicher Bewegung der Begründung bedarf und sich zu diesem Zweck auf Fragen der Identität berufen werde. Räumliche Bewegung und ihre Bewertung scheint damit alles andere als fest gefügt zu sein. Genau hier macht Amelina (2020: 2) das Problem klassischer Ansätze der Betrachtung von Migration und Mobilität fest. Das Problem liege darin, das Konzept der Migration zu naturalisieren, indem die Ansätze Prozesse der Migration als solche beschreiben würden, die innerhalb objektiv existierender Räume stattfinden. Dabei werde als gegeben angenommen, dass die Welt nationalstaatlich organisiert ist und die Bevölkerung von Staaten natürlicherweise in (nicht-zugehörige) Migrant*innen und (zugehörige) Nicht-Migrant*innen unterschieden werden könne. Ignoriert werde dann aber einerseits die historisch je spezifische Qualität von räumlichen Bewegungen und Migration und andererseits gerate in einer solchen Perspektive die soziale Konstruiertheit von Migration aus dem Blick. Demgegenüber sei aus konstruktivistischer Perspektive die Frage danach zu stellen, wie die soziale Praxis geografischer Bewegung zu Migration und wie (im-)mobile Subjekte in Migrant*innen transformiert werden. Amelina (ebd.) folgend ist eine Varietät von routinierten institutionellen, organisationalen und interaktiven Praktiken, die diskursives Wissen über Differenzen zwischen »›Us‹ and ›Them‹« inkorporieren, für die Transformation verantwortlich. Die je spezifischen Konfigurationen dieser Praktiken wiederum generieren die historisch spezifischen und daher veränderlichen sozialen Ordnungen der räumlichen Bewegung. Von besonderer Bedeutung erscheine aus dieser Perspektive historisch spezifisches diskursives Wissen über räumliche Bewegung und Zugehörigkeit, welches die Praktiken anleite bzw. legitimiere. So werde auf vorherrschendes Wissen über Differenzen zurückgegriffen. Hergestellt, so Amelina (ebd.: 3), werde ungleiche Verteilung von Zugehörigkeit dann unter Rückgriff auf »classifications with respect to gender (male/female/transgender), ethni-

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city/race (›Us‹/›Them‹), class (privileged/subordinated), space (mobile/immobile, global/local/national/transnational) and other categories of inequality.« Es erscheint mir vor diesem Hintergrund sinnvoll und naheliegend, eine intersektionale Perspektive auf räumliche Bewegung einzunehmen. Eine solche intersektionale Perspektive ermöglicht es dabei, die Verschränkungen verschiedener Achsen sozialer Ungleichheit in den Blick zu nehmen (vgl. Roth 2013: 2). Aus dieser Sicht ist jede Konstellation immer durch verschiedene Faktoren gekennzeichnet und darüber hinaus kontext- und zeitspezifisch und daher je nach Kontext different ausgeprägt: […] for example, [an intersectional persepective considers] race and racial hierarchization/racist exclusion as »always also« and »always already« defined by other dimensions of inequality such as gender, sexuality, social class, citizenship, religion and furthermore differing from locality to locality and from context to context. (Roth 2013: 2) Je nach historischer Situation, Kontext und in Hinsicht auf die bestimmten Personen, die Gegenstand der Untersuchung sind, darauf weist Roth (2013: 10) in Anlehnung an Yuval-Davis (2011) hin, zeigen sich manche sozialen Differenzen bedeutsamer als andere in der Herstellung von sozialer Ungleichheit. Während manche Differenzen, wie etwa Geschlecht, Lebensalter, Ethnizität und Klasse das Leben der meisten Menschen prägen, sind von anderen Differenzen, wie bspw. von Staatenlosigkeit, nur wenige betroffen. Dennoch, oder gerade deswegen, sind diese sozialen Differenzen extrem bedeutsam, insofern sie Menschen auf der anderen Seite der Norm positionieren und am Beispiel von Staatenlosigkeit den Zugang zu essenziellen Ressourcen unmöglich machen. Insbesondere die Kontextbedingtheit der Hierarchisierungen ist für die hier untersuchte weltwärts-Mobilität von besonderem Interesse, insofern die von mir fokussierten Akteur*innen der Mobilität sich innerhalb und zwischen verschiedenen Ordnungen der Zugehörigkeit bewegen, die einerseits, so wird sich zeigen, relational aufeinander verweisen, dabei aber gleichzeitig auch verschieden ausgestaltet sind (vgl. Kap. 10). Die Bedeutung der Betrachtung von räumlicher Bewegung aus einer intersektionalen Perspektive verdeutlicht Amelina (2020: 4) am Beispiel der Herausbildung neuer Formen der Definition des*der Migranten*in im Kontext der europäischen Erweiterung. Weil Mobilität innerhalb der Europäischen Union mittlerweile generell möglich ist, wird im Zusammenhang mit ihrer Erweiterung räumliche Bewegung von Menschen, die zuvor als Migration angesehen wurde, offiziell zu Mobilität. Dennoch bleiben Unter-

2 Kontextualisierung der untersuchten weltwärts-Mobilität

schiede insofern bestehen, als dass Amelina auf eine deutliche Differenz in Mobilitätsmustern und ihrer Bewertung hinweist, die es erlaubt, Mobilität innerhalb der Europäischen Union in Zentrum und Peripherie zu unterscheiden. Mobilität aus der »Peripherie« werde auch weiterhin auf vielen Ebenen problematisiert, auch wenn eine rechtliche Gleichstellung gegeben sei. Es ist dies ein Beispiel dafür, dass sich zwischen den beiden Polen der unproblematisierten Mobilität und der problematisierten Migration ein ganzes Spektrum unterschiedlich bewerteter räumlicher Bewegung von Menschen auftut. D.h., dass aus einer gleichen kategorialen Bewertung nicht unbedingt eine Gleichsetzung der Formen und Praxis räumlicher Bewegung folgt. Die Kategorie der Mobilität wird folglich einerseits von der Kategorie der Migration abgegrenzt, andererseits zeigt sie sich gleichzeitig auch innerlich hierarchisch differenziert. Lundström (2014), die Migrationsforschung und Critical-WhitenessForschung1 miteinander kombiniert, argumentiert, dass räumliche Bewegung i.d.R. rassifiziert werde und rekurriert aus diesem Grund auf das Konzept der »white migration«: The concept of white migration could be regarded as an oxymoron in that a migrant is rarely thought of as white, and white people tend not to be seen as »migrants«. Rather, white subjects »out of place« are more probably conflated with the position of a tourist, an expatriate, a mobile professional or just passing as a European or North American. (Ebd.: 1) Aus Perspektive der kritischen Weißseinsforschung zeigt sich Lundström folgend die Bedeutung der Artikulation von räumlicher Mobilität mit der Kategorie »Race«. Ein*e Migrant*in, so argumentiert sie, werde selten mit Weiß-Sein2 in Verbindung gebracht, vielmehr würden weiß- (bzw. 1

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Die Perspektive der kritischen Weißseinsforschung hebt, kurz gesagt, die Bedeutung hervor, die der Benennung der hegemonialen Position Weiß für ein Verständnis und eine Kritik der (historischen Kontinuitäten der) Rassifizierung von natio-ethnokulturellen Zugehörigkeitsordnungen und korrespondierender Möglichkeiten der Zugehörigkeit und Teilhabe lokal, regional und global zukommt. Prägendes Merkmal von Weißsein ist dabei seine nicht-Markierung als rassifizierte Kategorie, die aufgrund seines hegemonialen Status möglich wird und daher kenntlich gemacht und benannt werden sollte (vgl. auch Kap. 3 und Kap. 9). Die Begriffe Schwarz, People of Color (PoC) und Weiß verwende ich in dieser Arbeit in Großschreibung. Das weicht von der gängigen Schreibweise insofern ab, als in vielen Arbeiten der kritischen Weißseinsforschung »Schwarz« groß und »weiß« klein und

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

nicht-)3 markierte Menschen i.d.R. nicht als Migrant*innen angesehen. Diese werden vielmehr zumeist als Tourist*innen, Expatriates, mobile Professionelle oder einfach als ein*e Europäer*in oder ein*e Nordamerikaner*in gefasst. Dementsprechend weist Lundström auf die Differenz zwischen privilegierten Subjekten, die keine Diskriminierung erführen, und (Im-)Migrant*innen hin, die von Diskriminierung betroffen seien, mit der Konsequenz, dass letztere als Migrant*innen benannt werden, erstere aber erst noch definiert werden müssten (vgl. ebd.). Das diskursive Konzept des*r Migrant*in sei insofern auch als ein »marker of non-whiteness« zu verstehen und Migrant*innen begegneten aus diesem Grund negative Stereotype, Rassismus, Diskriminierung, Marginalisierung und Ausbeutung. Migration kann Lundström folgend dann als eine Kategorie verstanden werden, in der räumliche Bewegung mit der Kategorie »Race« artikuliert werde und die sich deshalb von anderen Kategorisierungen räumlicher Bewegung unterscheide und unterschieden werden könne. Lundström verdeutlicht dies auch am Beispiel von nicht-weiß markierten Körpern, die sozusagen »out of place« seien und die, obwohl keine Migrant*innen, sondern Staatsbürger*innen des respektiven Kontextes, dennoch als Migrant*innen gelesen würden: In this conceptual conflation, non-white bodies »out of place« tend to be (mis)read as being (first, second or even third generation) migrants, »illegal immigrants« or »asylum seekers«, despite their possible citizenship in the country in which they reside. (Lundström 2014: 2) Dieses Beispiel, (interaktiv, organisational und institutionell) als Migranten*innen zu gelten, obwohl dies auf der formalen Ebene der Mitgliedschaft

3

kursiv geschrieben wird (vgl. Eggers/Kilomba/Piesche/Arndt 2017). Ich benutze die Begriffe, um die Herrschaftsverhältnisse, die mit ihnen verbunden sind, überhaupt bezeichnen zu können (vgl. Wollrad 2010: 145). Wollrad (ebd.) argumentiert für mich nachvollziehbar, dass, wenn weiß kursiv gesetzt werde, der Kategorie im Lesen eine herausgehobene Stellung zukomme, was gegen diese Schreibweise spreche. Gleichzeitig könne an der Großschreibung aller drei Begriffe kritisiert werden, dass dabei der »politisch widerständige Begriff ›Schwarz‹« und People of Color mit der hegemonialen Position Weiß gleichgesetzt würden. Denn »›Schwarz‹, ›weiß‹ und ›People of Color‹ [bezeichnen] gesellschaftlich konstruierte Positionen. ›Schwarz‹ wird dabei als politische Selbstbezeichnung großgeschrieben« (vgl. Bernhard 2016: 102). Das »(nicht)« soll auf die spezifische Zugehörigkeitsposition Weiß hinweisen, die es als hegemoniale Position kennzeichnet, sich mit ihrer Rassifizierung nicht beschäftigen zu müssen.

2 Kontextualisierung der untersuchten weltwärts-Mobilität

gar nicht der Fall ist, lässt sich auch in der statistischen Kategorie »Mensch mit Migrationshintergrund« im »Zugehörigkeitskontext« (Mecheril 2003: 260) Deutschland wiederfinden (vgl. Peters 20204 ). So wurden der Kategorie »Menschen mit Migrationshintergrund« bis 2011 statistisch alle Menschen hinzugerechnet, die selbst oder deren Vorfahren seit 1949 nach Deutschland migriert sind. Dementsprechend wurden auch Menschen der dritten oder vierten Generation ohne eigene Zuwanderungserfahrung doch mit deutschem Pass als Menschen mit Migrationshintergrund erfasst. In offiziellen Statistiken wurde (und wird) Zugehörigkeit zum Kontext Deutschland trotz Staatsangehörigkeit demnach für eine Vielzahl von Menschen in besonderen Kategorien beschrieben, eine Besonderheit, die mit der Überquerung einer nationalstaatlichen Grenze begründet wird und über Generationen hinweg nicht ablegbar scheint. 2016 wurde die Definition von »mit Migrationshintergrund« geändert, sodass nur noch Menschen, die selbst oder von denen mindestens eines ihrer Elternteile bei Geburt eine andere Staatsbürgerschaft besaßen, in diese Kategorie fallen (Statistisches Bundesamt 2018). Der statistisch festgestellte Zugehörigkeitsunterschied ist also nun, wo er vorher unbegrenzt galt, auf eine bestimmte Zeit begrenzt. Dies ist ein Beispiel sowohl für die institutionelle Beständigkeit der Kategorisierung der Migration als auch für ihre Veränderlichkeit. Allerdings, so wird an dieser Stelle zudem deutlich, erfasst die Kategorie »Migrationshintergrund« nicht zwingend eigene Migrationserfahrung, d.h., dass eine Person, um in dieser Kategorie zu fallen, gar nicht selbst zugewandert sein muss. Zudem werden Personen, die eine Migrationsgeschichte haben, bspw. im Ausland als Deutsche geboren wurden, als Deutsche geborene Eltern haben und später nach Deutschland gezogen sind, nicht in die Kategorie aufgenommen. In den Erläuterungen des Statistischen Bundesamtes (2019: 4) heißt es dazu: »[…] andererseits sollten auch nur jene Menschen eingeschlossen werden, bei denen sich zumindest grundsätzlich ein Integrationsbedarf feststellen lässt«. Implizit wird dabei deutlich, dass die Kategorie Migrationshintergrund an ethnische bzw. kulturelle Kategorien gebunden wird, denn wieso sollte jemandem, der*die im Ausland geboren wurde, aber einen deutschen Pass besitzt, sonst weniger »Integrationsbedarf« zugeschrieben werden als einer Person, die ebenso einen deutschen Pass besitzt und in Deutschland geboren wurde, deren*dessen Eltern aber aus einem anderen Land nach Deutschland migriert sind? 4

Das folgende Beispiel habe ich in ähnlicher Weise bereits in Peters 2020 verwandt.

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Es lässt sich hier ein Beispiel für die Artikulation von Migration mit der Kategorie »Race« bzw. mit Ethnizität und Kultur finden. Wie Mecheril (2003: 136ff.) dementsprechend nachweist, sind es neben der institutionellen Ebene die Kategorien der »habituellen Wirksamkeit«, »biographischen Verbundenheit« und der »symbolischen Mitgliedschaft«, die Zugehörigkeit zu einem Kontext bestimmen.5 Dabei sei es wichtig, diese Kategorien als »unscharfe, mehrwertige, differenzierte Gebilde« zu begreifen, wobei gerade die Unschärfe ihre Wirksamkeit ausmache. Demnach ist formelle Mitgliedschaft nur eines der Kriterien, über die Zugehörigkeit zu einem Kontext bestimmt wird. Auch Mecheril (ebd.: 67ff.) argumentiert in diesem Zusammenhang, dass die Artikulation von Migration mit der Kategorie »Race« ein wesentliches Moment der Verteilung von Zugehörigkeit sei. Nationalstaaten, so Mecheril (2003: 25), haben einen »faktisch-imaginären« Charakter. Das bedeutet, dass Nationalstaaten keine essenzielle Gemeinschaftlichkeit besitzen. Diese ist vielmehr »imaginiert«. Wenn Gemeinschaftlichkeit aber keine gegebene Tatsache ist, muss sie erst hervorgebracht werden. Zu diesem Zweck, so erläutert Mecheril (2003: 25), werden in Staaten, Nationen und Ethnien produziert. Jedoch sind dabei […] Nationalstaaten auf der Ebene des ethnischen Selbstverständnisses ihrer Bevölkerung und hinsichtlich kultureller Praktiken und Traditionen nicht einheitlich […]. Charakteristisch für Nationalstaaten sind aber spezifische Dominanzverhältnisse […]. In diesen Verhältnissen, für die nach ethnischen und kulturellen Kriterien strukturierte Ressourcenverteilungen kennzeichnend sind, und die zugleich ein universalistisches Selbstverständnis formulieren, finden nun Auseinandersetzungen um die Beschaffenheit des natioethno-kulturellen Raumes statt, die verändernd wirken können.

5

Symbolische Mitgliedschaft, so erläutert Mecheril (2018: 30), setzt im »fraglos[en]« Fall voraus, dass Menschen »nach ihrem eigenen Verständnis und nach dem bedeutsamer Anderer Mitglied dieses Zusammenhangs sind«. Habituelle Wirksamkeit bezeichnet in fragloser Variante, dass »die zur Handlungswirklichkeit gewordene Vorstellung eines gelungenen Lebens mit sozialen, kulturellen und ökonomischen Effekten einhergeht, die eine befriedigende Lebensführung oder eine affirmierbare Gegenwart ermöglichen« (ebd.: 31). So spricht Mecheril (ebd.) auch von »Disponiertheit-KontextResonanz«. Biografische Verbundenheit wiederum »bringt zum Ausdruck, dass das im Begriff der Zugehörigkeit adressierte Verhältnis zwischen Individuum und Zugehörigkeitsraum nicht allein eine optionale Beziehung darstellt, sondern auch ein Verhältnis, das durch Bindungen ermöglicht wird und sich in Verbundenheiten konkretisiert«.

2 Kontextualisierung der untersuchten weltwärts-Mobilität

Wie Mecheril in obigem Zitat erläutert, ist es bedeutsam, Nationalstaaten als uneinheitlich zu begreifen. Anstelle der Produktion einheitlicher Gemeinschaftlichkeit steht vielmehr eine Ressourcenverteilung, die nach ethnischen und kulturellen Kriterien strukturiert ist. Dabei legitimiert der Verweis auf ethnische und kulturelle Kriterien diese ungleiche Ressourcenverteilung. Dadurch, dass – zumindest »moderne«– Nationalstaaten gleichzeitig ein universalistisches Selbstverständnis formulieren, z.B. durch Bezug auf die Menschenrechte, sieht sich die Einschränkung von Zugehörigkeit unter Verweis auf nationale, ethnische und/oder kulturelle Kategorien jedoch gleichzeitig vor Legitimationsprobleme gestellt. Nicht zuletzt aus diesem Grund finden auch andauernd Auseinandersetzungen um die Konstitution der nationalstaatlichen Zugehörigkeitsordnung statt. D.h., Zugehörigkeitsordnungen sind grundsätzlich umkämpft und im Wandel begriffen. Vor dem Hintergrund der Uneinheitlichkeit und der letzten Endes fehlenden Möglichkeit der Begründung der Einschränkung von Zugehörigkeit zu einem Nationalstaat auf ein bestimmtes eingegrenztes Territorium und für nur manche Menschen sind Zugehörigkeitszuschreibungen und Zugehörigkeitskontexte nun auch aufeinander verwiesen. So ist, Mecheril (2006: 317f.) folgend, die Positionierung von jemandem oder etwas als »fremd« ein Verweis auf eine Beziehung und nicht auf eine Eigenschaft: Das Verhältnis zwischen Fremden und Nicht-Fremden wird von dem Wissen der Beteiligten um ihre Position im Verhältnis zueinander hervorgebracht – da sie um ihr Verhältnis wissen, das sie hervorbringt, sind sich »Fremde« und »Nicht-Fremde« auch nicht fremd; in diesem Punkt kennen sie sich. Fremde und Nicht-Fremde, so argumentiert Mecheril, müssen sich in Hinsicht auf den Aspekt ihrer Fremdheit und der Perspektivität, aus der diese beurteilt wird, kennen (vgl. auch Eggers 2017: 61; Ahmed 2000). Sie sind sich in Hinsicht darauf bekannt und in Rekurs auf vorherrschendes, dominanzkulturelles Wissen über »Fremdheit« und »Nicht-Fremdheit« wird dieses Wissen in Subjektivierungsprozesse, und d.h. auch in die Selbstverständnisse und das habituelle Auftreten der betreffenden Menschen und Kontexte, übernommen und in und durch diese(s) hervorgebracht. Sutherland (2014: 118) macht diese Relationalität der Hervorbringung von Zugehörigkeit deutlich, wenn sie darauf verweist, dass das Konzept der »Nation« eng verbunden ist mit dem »migrant ›Other‹«. Das eine Konzept reflektiere dabei auf das jeweils andere, insofern »migrants and ethnic minorities,

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

by virtue of being perceived as at the margins of the ›imagined community‹, serve to define where the limits of national belonging lie« (ebd. 119). Die Produktion nationalstaatlicher (aber nicht nur dieser) Zugehörigkeitsordnungen, so wird aus dieser Perspektive deutlich, funktioniert durch den (bzw. die) relationalen Verweis(e) auf das konstitutive Außen, auf das das Innen zur Konstitution seiner Gemeinschaftlichkeit angewiesen ist. Besonders naheliegend ist dabei der Rekurs auf etablierte Konzepte des und der Anderen, wie sie etwa im Kontext des Kolonialismus entwickelt und durchgesetzt wurden. Eggers (2017: 61) argumentiert in diesem Sinne, dass, »da es sich bei Fremdheitskonstruktionen nicht um ›Fremde‹ handele, sondern ganz im Gegenteil um ›gute Bekannte‹ […], […] die hierarchisch komplementäre Positionierungspraxis markierte Subjekte eher ein- als ausschließt«. Meza Torres (2012: 217) erläutert aus postkolonialer Theorieperspektive, dass die Kategorie der Migration rassifiziert werde. Diejenigen, die in Deutschland/Europa als Immigrant*innen gelten und/oder bei denen »Migrationshintergrund« auch über mehrere Generationen aufrechterhalten wird, sind ihr zufolge die ehemaligen »colonial/racial subjects of empire«. So wird Meza Torres folgend an der Rassifizierung von Migration deutlich, dass die Vorherrschaft der »westlichen« Welt zur Zeit des Kolonialismus auf spezifischem Wissen über »die Anderen« basierte. Diese »Anderen« befänden sich nun im Inneren des ehemaligen Imperiums und ihre Zugehörigkeit zum natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitskontext Deutschland bzw. Europa werde in Artikulation mit dieser historisch etablierten Kategorie sozialer Ungleichheit, d.h. mit »Race«, hervorgebracht (vgl. auch Balibar 2005). In Rekurs auf Amelina (2020) habe ich zuvor argumentiert, dass Migration in Verbindung mit verschiedenen Kategorien sozialer Ungleichheit hervorgebracht wird, sodass Migration/Mobilität neben ihrer Rassifizierung auch mit Geschlecht, Klasse, Raum usw. artikuliert wird. Die Bedeutung dieser Herstellungspraxis lässt sich auch in Bezug auf Geschlecht und Klasse nachweisen. Wenk und Krebs (2011) etwa weisen darauf hin, dass, in der Repräsentation von Gastarbeit, Gastarbeit i.d.R. männlich typisiert sowie in Verbindung mit gesellschaftlicher Hospitalität des Zugehörigkeitskontextes Deutschland und den »Wirtschaftswunderjahren« gebracht werde, während weibliche Gastarbeit fast nicht, und wenn, dann eher dekorativ präsentiert werde. Spies (2010) zeigt auf, dass, in Hinsicht auf Migration und Männlichkeit, bestimmte assoziierte Herkunftskontexte mit devianter Männlichkeit artikuliert würden und dies insbesondere solche männlich

2 Kontextualisierung der untersuchten weltwärts-Mobilität

markierten Subjekte betreffe, die sozialstrukturell benachteiligt seien und migrantisch positioniert würden. Diese Beispiele verbleiben zunächst in der Perspektive des Nachdenkens über Migration und Mobilität aus der Perspektive des Globalen Nordens. Sie zeigen dabei allerdings das »Fortwirken von kolonialen Strukturen und asymmetrischen Machtbeziehungen« (Trzeciak 2020: 54) auf und die Reichweite, in der diese noch immer die »Klassifizierung und Hierarchisierung von sozialen Gruppen« reproduzieren. Wie Trzeciak (ebd.: 55) in Anlehnung an Boatća und Roth (2016) argumentiert, sind »Geschlecht und citizenship in Wechselwirkung mit der Dimension race/Rassifizierung« jedoch die »bedeutendsten Faktoren für soziale Ungleichheit zwischen Individuen in reichen und armen Ländern«. Über sie würden Menschen hierarchisch in Gruppen differenziert und mit unterschiedlichen Rechten und Ressourcen ausgestattet, mit der Konsequenz, eine Differenzierung zwischen Globalem Norden und Globalem Süden herzustellen und aufrechtzuerhalten. Es sei dies eine Differenzierung, die an die globale Geschichte des europäischen Kolonialismus anknüpft und globale Strukturen der »Ausbeutung von Ressourcen und Arbeitsvermögen« legitimiere.

2.3

Eine erste Kontextualisierung der weltwärts-Mobilität

Über die obigen Ausführungen wird deutlich, dass es die Kontextualisierung der weltwärts-Mobilität im größeren Zusammenhang der Bewertungen von räumlicher Bewegung notwendig macht, genauer über ihre spezifische Stellung nachzudenken. Ihre Bewertung als Mobilität und ihre institutionelle Förderung kennzeichnet sie als privilegierte Bewegung im Raum. Etwas, das Kontzi (2015: 113) unterstreicht, wenn sie aufführt, dass: der*die typische weltwärts-Freiwillige eine »junge Frau […,] Abiturientin, von Anfang 20 mit deutscher Staatsangehörigkeit und ohne anerkannte Behinderung […] aus einer Akademiker_innenfamilie, in der vorwiegend deutsch gesprochen wird, die ein hohes Erwerbseinkommen hat und im Westen Deutschlands lebt«, ist. Dementsprechend wird im weltwärts-Programm eine positive Artikulation von Mobilität mit Kompetenzerwerb vorgenommen, nach der die weltwärts-Mobilität mit einem Kompetenzerwerb einhergeht, der in Hinsicht auf persönliche Erfahrung und Ausbildung für die Welt im Allgemeinen und auch für Karriereplanungen im Spezifischen als bedeutsam erachtet wird (vgl. BMZ 2016). Die

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Mobilität wird insofern als unproblematisch und wünschenswert hervorgebracht. Wie Lundström erläutert, ist dies auch Ausdruck ihrer Rassifizierung: On the contrary, »white migrants« can inhabit the world as part of a global enterprise, tourists, expatriates, guests, development aid workers, and so on, representing humanity, whose presence remains undisputed or who are able to use their white ethnicity as a form of »symbolic ethnicity« (Waters, 1990). The question of migration is therefore intimately connected to the politics of mobility, its restrictions and possibilities. (Lundström 2014: 2) Diese Privilegierung muss vor dem Hintergrund der bisher vorgenommenen Betrachtung weniger als gegeben und vielmehr als sozial konstruiert verstanden werden. Eine Konstruktion, die mit der Hervorbringung von Zugehörigkeitsordnungen in Verbindung steht und die – in Verweis auf etablierte Machtverhältnisse und Auseinandersetzungen um diese – auch andauernd wieder hervorgebracht wird. Von daher finde ich es von Bedeutung, die spezifische Zugehörigkeitsposition der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität vor dem Hintergrund ihrer Geschichte genauer zu betrachten. Im Folgenden werde ich also zunächst genauer auf die spezifische Stellung der weltwärts-Moblität als Teil entwicklungspolitischer Mobilitäten eingehen und sie dabei auch in einer kolonialen Kontinuität verorten. An dieser Stelle ging es mir zunächst darum, zu zeigen, dass sich die weitestgehend positive Assoziation mit Mobilität (in der Moderne) bei näherem Hinsehen als »gesellschaftlich konstituierte, selektive und prinzipiell vermachtete diskursive Assoziation« (Manderscheid 2012: 558) erweist. Das unter ihr jeweils Verstandene muss damit als wandelbar begriffen werden. Gesellschaftliche Strukturen und Machtverhältnisse, die sich »ethnischer, sozialer und geschlechtlicher Differenzierungen« (ebd.) bedienen, reproduzieren ein bestimmtes Verständnis und eine bestimmte Bewertung von mehr oder weniger anerkannten Formen der räumlichen Bewegung. Diese stehen gleichzeitig mit der Hervorbringung von Zugehörigkeit im nationalstaatlichen Kontext (Deutschland) in Verbindung.

3 Kontextualisierung der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität1 in postkolonialen Diskursen

Wie zuvor erläutert, wende ich mich nun der spezifischen Position der weltwärts-Mobilität etwas genauer zu. Auch im Sinne theoretischer Sensibilisierung (vgl. Strübing 2014: 29) möchte ich Aspekte der spezifischen Geschichte der Machtverhältnisse innerhalb dieser Mobilität aufzeigen und es damit ermöglichen, eine kritische Perspektive auf die von mir untersuchte Mobilität einzunehmen und diese auch, in Hinsicht auf die folgende Rekonstruktion bzw. Analyse der von mir geführten Interviews, in die weitere Forschung einfließen lassen können. Ohne diese Sensibilisierung, so meine Vermutung vor dem Hintergrund der folgenden theoretischen Diskussion (vgl. Kap. 4), wäre es mir zudem nicht möglich, die von den Interviewten vorgenommenen »Vernähungen« mit Diskursen in Hinsicht auf ihre Bildungsrelevanz, die ich

1

Ich setze Freiwillige hier in Klammern, da ich stärker entwicklungspolitische Mobilität im Generellen fokussiere. Es ließe sich vor dem Hintergrund der Betrachtung allerdings auch argumentieren, dass »Freiwilligkeit« sozusagen den Archetypus entwicklungspolitischer Mobilität repräsentiert, insofern sich der Fokus gegenüber professioneller entwicklungspolitischer Mobilität eventuell expliziter in Richtung eines moralischen Impetus verschiebt, der die bürgerliche Subjektform charakterisiert(e) und der wesentliches Moment der Legitimierung des kolonialen Projektes war (und ist). Spezifische Aspekte der Position der Freiwilligen werden an anderen Stellen vor dem Hintergrund der Empirie diskutiert werden (vgl. etwa Kap. 8). Es ist aber nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit »freiwillige« und professionelle (aber meist auch freiwillige) entwicklungspolitische Mobilität voneinander abzugrenzen und miteinander zu vergleichen.

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

als in Verbindung mit der Thematisierung ihrer Gewaltverhältnisse stehend bestimme (vgl. Kap. 5, Kap. 10, Kap. 11), zu beurteilen. Wie bereits zuvor argumentiert, rückt mit dem Fokus auf Mobilitäten im weltwärts-Programm ein eher privilegierter Ausschnitt eines ganzen Spektrums von möglichen Mobilitätspositionen, für die sich eine Forschung zum Thema Identifikations- und Bildungsprozesse und Mobilität im Kontext globalisierter Migrationsgesellschaften interessieren könnte, in den Blick. Diese spezifische Mobilitätsposition sehe ich mir zunächst ein wenig genauer an und erläutere die Bedeutung, die einer postkolonial angeleiteten Erkenntnisbrille dabei zukommt. Zu diesem Zweck schaue ich zunächst auf die offizielle Selbstbeschreibung des weltwärts-Programms. Ich tue dies nicht sehr detailliert, da ich weniger daran interessiert bin, über die weltwärts-Mobilität zu forschen, als diese Mobilität in ihrer Positioniertheit zu verorten. Dabei zeigt sich eine eindeutig entwicklungspolitische Verortung, die ich im Folgenden mit postkolonialen Ansätzen historisch vor dem Hintergrund des Kolonialismus kontextualisiere. Dadurch lassen sich Parallelen, aber auch Unterschiede, zwischen historischen kolonialen Diskursen und aktuellen Diskursen über Entwicklung aufzeigen. Ich verorte innerhalb dieser Betrachtungen jeweils auch die deutsche Position bzw. Positionierung. Während diese Betrachtungen eher den Status genereller Betrachtungen mit einzelnen Konkretisierungen besitzen, wende ich mich im Anschluss noch einmal konkreter der Position der entwicklungspolitischen Mobilität in postkolonialer Perspektive zu.

3.1

Die entwicklungspolitische Selbstbeschreibung des weltwärts-Programms

Das weltwärts-Programm wurde 2008 ins Leben gerufen und wird vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gefördert. Es handelt sich in Hinsicht auf Förderumfang und Anzahl an Freiwilligen um das zweitgrößte Programm dieser Art im weltweiten Vergleich nach dem US Peace Corps. Seit seiner Einführung im Jahr 2008 waren ca. 35.000 Freiwillige Teil der weltwärts-Mobilität (vgl. Fuchs 2020: 119). Wie ein Blick in die Ziele zeigt, die in der Förderleitlinie zur Umsetzung des Entwicklungspolitischen Freiwilligendienstes weltwärts formuliert sind, geht es dem BMZ (2016: 3-4) mit der Einrichtung des weltwärts-Programms darum, »junge Menschen an entwicklungspolitische Fragestellungen heranzuführen, ihr entwicklungspolitisches Interesse und Engagement zu fördern

3 Kontextualisierung der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

und einen Freiwilligendienst auf hierfür geeigneten Einsatzplätzen zu ermöglichen«. Dies geschieht im Sinne der »Nachwuchsförderung im entwicklungspolitischen Berufsfeld«. Weltwärts soll seine*ihre Teilnehmer*innen darüber hinaus zu »Globalem Lernen« und zur entwicklungspolitischen »Informations- und Bildungsarbeit«, zur »transkulturellen Verständigung«, »Bewusstseinsbildung und Akzeptanz von entwicklungspolitischen Zukunftsfragen in unserer Gesellschaft« anregen. Die Freiwilligen sollen ferner »wichtige Kompetenzen der interkulturellen Kommunikation, der soziokulturellen Kooperation und sozialen Verantwortung erwerben, die insbesondere in einer zunehmend globalisierten Gesellschaft von großem Wert sind«. Sie sollen »zivilgesellschaftliche Strukturen in den Partnerländern wie auch in Deutschland« (ebd.) stärken und ihre Vernetzung voranbringen. Es wird davon ausgegangen, dass die Organisationen, die die Freiwilligen aufnehmen, sowie deren Zielgruppe von der »Unterstützung der Freiwilligen und dem damit verbundenen Austausch profitieren« (ebd.). In Hinsicht auf die Freiwilligen ist ein Engagement »vor, während und nach der Dienstzeit« ein wesentliches Moment des Programms und dieses soll zu einem weiteren entwicklungspolitischen Engagement führen. In diesem Sinne wird der Wunsch nach »Kooperation mit weiteren entwicklungspolitischen Akteuren« (ebd.) sowohl während als auch nach der weltwärts-Zeit betont. Zur Auswahl für den Freiwilligendienst stehen alle Länder, die auf der OECD/DAC2 Liste der Entwicklungsländer und Gebiete gelistet werden. In diesem kurzen Blick auf die institutionelle Rahmung des weltwärtsProgramms wird deutlich, dass diese Mobilität als eine entwicklungspolitische Mobilität konzeptualisiert ist, die junge Erwachsene für Interesse und Engagement in Hinsicht auf entwicklungspolitische Themen und entwicklungspolitische Arbeit auch im Anschluss an ihre weltwärts-Zeit gewinnen möchte. Daneben stehen Lernen im Kontext globaler Fragen und der Erwerb interkultureller Kompetenzen und sozialer Verantwortung im Zentrum des Programms. Programmatisch wird davon ausgegangen, dass die Aufnahmeorganisationen und die Zielgruppen innerhalb der Tätigkeiten der

2

Der Ausschuss für Entwicklungshilfe (DAC) ist eines der wichtigsten Organe der »Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung« (OECD). Ihm gehören 24 Mitgliedsstaaten an, die sich vornehmlich zu den »entwickelten« Ländern zählen und welche die Inhalte und Strategien der globalen Entwicklungszusammenarbeit abstimmen.

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Freiwilligen von deren Aktivitäten profitieren. Die dezidiert entwicklungspolitische Rahmung macht es sinnvoll und notwendig, sich etwas eingehender mit dem Topos »Entwicklung« sowie entwicklungspolitischer Mobilität in ihrer Geschichte und Gegenwart zu befassen.

3.2

Koloniale Diskurse

Im Folgenden möchte ich nun aus postkolonialer und rassismuskritischer Perspektive auf den Topos der »Entwicklung« eingehen und diesen zunächst geschichtlich vor dem Hintergrund des Kolonialismus (besser: der Kolonialismen3 ) verorten. In diesem Rahmen werde ich auch wiederholt auf die spezifische Kolonialgeschichte Deutschlands und seiner (bzw. ihrer, wenn die DDR auch berücksichtigt wird) kolonialen Kontinuitäten eingehen. Die Betrachtung endet sodann mit einem Blick auf die Geschichte und Gegenwart der Subjektposition der entwicklungspolitischen Mobilität. Bevor ich zur Diskussion des Konzepts der »Entwicklung« komme, folgt zunächst eine Kontextualisierung vor dem Hintergrund des Kolonialismus. Nach Tuider und Lutz (2018: 101) ist Kolonialismus – und damit eine postkoloniale Perspektive – heute aus mindestens zwei Gründen bedeutsam. Zum einen sei die »Beziehung zwischen ehemaligen Kolonialmächten und ›deren Kolonien‹« heute weiterhin relevant4 und zum anderen stelle sich die Frage, »wie die kulturellen Effekte der Kolonisierung über die kulturelle Hegemonie 3

4

Wie Clifford (2007: 19-23) m.E. überzeugend darlegt, hat Kolonialismus in unterschiedlichen Regionen der Welt unterschiedlich ausgesehen und Unterschiedliches bedeutet (vgl. auch Ashcroft/Griffiths/Tiffin 2013: 168ff.). Auch Eriksson Baaz (2005: 35) weist auf den »heterogenous character« des Kolonialismus hin. Insofern sind, wenn ich von Kolonialismus spreche, eigentlich Kolonialismen gemeint. Die Rede vom Kolonialismus ist jedoch insofern sinnvoll, als es hier um übergreifende, kolonial-rassistische Diskurse geht, die als grundlegende Rahmung der unterschiedlichen Kolonialismen eine große Gemeinsamkeit aufweisen. Castro Varela (2016: 152) bringt dies für das Beispiel postkolonialer Migration auf den Punkt, wenn sie an den Slogan »We are here, because you were there« erinnert, der in US-amerikanischen und britischen Debatten von migrantischen und diasporischen Kollektiven häufig geäußert werde. Dementsprechend seien »Richtungen und Orte […] immer historisch spezifisch, weswegen etwa postkoloniale Migrationen die Routen der Kolonialmächte in entgegengesetzter Richtung verfolgen«. In dieser Weise äußert sich auch Stuart Hall im Dokumentarfilm »The Stuart Hall Project« im Rahmen einer Diskussion von Migration in einer britischen Talkshow (Akomfrah 2013).

3 Kontextualisierung der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

der Zentren des globalen Nordens fortwirken und immer wieder sichergestellt werden«. Der Fokus auf beide Aspekte sei wichtig, da Kolonialismus einerseits als eine brutale Form der Macht, Herrschaft und Ausbeutung verstanden werden müsse und andererseits aber auch als ein »Macht-WissenKomplex« (ebd.: 102; vgl. Hall 2002: 85). Castro Varela (2016: 153) weist zudem darauf hin, dass »im Kontext der Postkolonialen Theorie eine Gewalt [untersucht werde], die direkt mit der Wissensproduktion und auch -vermittlung in Verbindung steht«, weshalb die Trennung in Gewalt auf der einen Seite und Wissen auf der anderen zurückzuweisen sei. Das »Post« in »Postkolonial« steht darüber hinaus nicht für ein einfaches »Nach« dem Kolonialismus oder eine einfache Kontinuität des Kolonialismus, sondern für Prozesse seines Nachwirkens und meint daher sowohl »continuance« als auch »after« (vgl. Eriksson Baaz 2005: 34). Als Macht-Wissen-Komplex muss der Kolonialismus begriffen werden, da dieser eng mit der Rassifizierung der Kolonisierten verbunden war, eine Rassifizierung, die seiner Legitimierung diente. Castro Varela (2016: 154) erläutert in diesem Sinne die Bedeutung, die der Analyse der kolonialen Diskurse des »Orientalismus« von Edward Said (2014) zukommt. Dieser habe gezeigt, »wie Wissen über die Kolonisierten produziert wurde […] und […] wie dieses Wissen der kolonialen Herrschaftssicherung diente« und auch wie dieses Wissen weiterwirkt. Vor allem die Verbindung zwischen »Herrschaft und der mission civilisatrice – der Zivilisierungsmission« zeige sich in diesem Zusammenhang bedeutsam (vgl. Castro Varela 2016: 155). Auch Mudimbe (1988) zeigt für das Beispiel Afrika, wie Kolonialismus und die Produktion von Wissen über die Differenz der kolonialen »Anderen« Hand in Hand gingen. Imperialismus und Anthropologie seien entsprechend eng aufeinander verwiesen, insofern mit der Produktion von Wissen über die »Anderen« imperiale Gewalt als theologische, biologische und anthropologische Bestimmung präsentiert werden konnte: The problem is that during this period both imperialism and anthropology took shape, allowing the reification of the »primitive« […]. Evolution, conquest, and difference become signs of a theological, biological, and anthropological destiny, and assign to things and beings both their natural slots and social mission. (Mudimbe 1988: 17) Piller (2011: 21) erläutert dementsprechend, dass und wie sich im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein Verständnis von linearer »Entwicklung« mit Europa an der Spitze durchsetzte bzw. durchgesetzt wurde, vor dessen

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Hintergrund die Welt in weniger und mehr »zivilisierte« Regionen aufgeteilt werden konnte. Diesem Verständnis einer linearen »Entwicklung« entsprechend habe dann ein sich selbst als »zivilisiert« markierendes Europa bzw. der »Westen« den »Rest« der Welt als unterlegen konzipiert (vgl. Hall 1992: 399ff., Mudimbe 1988: 15).5 Ziai (2006: 33) beschreibt die »Grundstruktur des kolonialen Diskurses« als eine, in der die Welt in »zivilisierte« »Völker« oder »Nationen« auf der einen und »unzivilisierte« »Stämme« oder »Menschenmassen« auf der anderen Seite aufgeteilt wurde. Diese Aufteilung der Welt habe dabei nicht nur das Projekt (die Projekte) des Kolonialismus legitimiert, sondern es konnte daraus auch eine Verpflichtung, denjenigen zu »helfen«, die dazu selbst nicht imstande zu sein schienen, abgeleitet werden. Diese legitimatorische Figur ist als »burden of the white man« (Piller 2011: 21) bekannt geworden. Das diskursive Muster, die Unterteilung in unterschiedlich »entwickelte« Menschen, in solche, die über das »Wissen« verfügen, und solche, die der »Hilfe« bedürftig seien und denen gegenüber deshalb auch so etwas wie eine Verpflichtung zu helfen bestehe, ist auch weiterhin von Bedeutung (vgl. ebd., Gille/Bonus 2020: 31). Diese Kontinuitäten möchte ich etwas weiter unten aufgreifen. Zunächst erscheint es mir wichtig, noch einmal zu bemerken, dass in die rassistische Unterscheidung zwischen »zivilisierte(re)n« und »unzivilisierte(re)n« Menschen investiert werden musste und investiert wurde. Bspw. durch die frühe Anthropologie, die auf diesem Verständnis der Unterschiedlichkeit von Menschen fundiert (vgl. Mudimbe 1988: 17). Piller bringt dies wie folgt auf den Punkt: It was the key assumption of early anthropology that cultures form a cline and that each culture was located somewhere on a specific point on a general path of human development from savagery to civilization. The comparative

5

Hall (1992: 314-316) zeigt am Beispiel von Marx und Weber auf, dass diese anderen, d.h. nicht europäischen, Gesellschaften im Sinne dieses kolonialrassistischen Diskurses thematisierten, indem sie Europa/den Westen an die Spitze einer linearen Entwicklungsbahn der Menschheit setzten, wie weitreichend dieser Diskurs im 19. Jahrhundert etabliert war. Wie Ziai (2011: 33) erläutert, ist ein genereller Eurozentrismus auch in der Art und Weise erkennbar, in der sich die Wissenschaft in Disziplinen gliederte. So ist bspw. die Soziologie zuvorderst mit »modernen« und »entwickelten« Gesellschaften Nordamerikas und Westeuropas befasst, während die Anthropologie/Ethnologie den »randständigen ›Wissenschaften vom Anderen‹« vorbehalten waren (vgl. auch Reuter 2002: 139-198).

3 Kontextualisierung der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

study of culture served the purpose to illustrate various points on this cline. (Piller 2011: 20) Ein wesentliches Moment in der Ausübung des Kolonialismus, so auch Rasool (2015: 653f.), liegt bzw. lag in der Produktion dehumanisierenden Wissens über die Kolonisierten. Zu diesem Zweck seien extensive Expeditionen, anthropologische, archäologische, sprachwissenschaftliche usw. Feldforschungen unternommen, Körper, Skelette und Artefakte gesammelt und über Kontinente hinweg transportiert worden. Expeditionen und Feldforschungen, die rassistisches Wissen über angenommene essenzielle Unterschiede zwischen den Kolonisierten und den Kolonisatoren produzierten und damit im Namen von Aufklärung und Wissenschaft die Überlegenheit der Kolonialisten gegenüber den Kolonisierten ideologisch absicherten. Diese Praxis ist als ein wesentliches Moment der Hervorbringung und Durchsetzung von »RasseEinteilung[en]« zu verstehen (vgl. Mecheril/Scherschel 2009: 42). In diesem Sinne überrascht es kaum, dass noch immer tausende menschliche Überreste (human remains) aus dieser Zeit in den Museen der ehemaligen Kolonialmächte, mitunter auch in deutschen Museen, lagern. Ungefähr 8.000 Schädel aus aller Welt lassen sich allein in Berliner Museumsdepots finden. Ähnliche Sammlungen finden sich auch in Leipzig, Marburg, Göttingen (vgl. Heller/ Peşmen 2020). Diese Praktiken der Wissensproduktion über die kolonialen Anderen waren und sind bisher nur wenig Thema und werden bisher hauptsächlich aus aktivistischer Perspektive zum Thema gemacht, wie etwa das Beispiel der Diskussion um das geplante Humboldt Forum in Berlin oder etwa Initiativen zur Umbenennung von Straßen mit Verweis auf den Kolonialismus und/oder Vertreter*innen kolonialer Wissensproduktion zeigen (vgl. Aikins/ Hoppe: 2011, Heller 2017; Trzeciak/Peters i. E. 2022, Zwischenraum Kollektiv 2018). Wie zuvor erläutert, folgt aus der für den Kolonialdiskurs wesentlichen Einteilung der Welt entlang einer als linear gedachten menschlichen Evolution die Identifikation »zivilisatorisch« unterschiedlich »entwickelter« Regionen und Menschen, wobei die europäischen Kolonialmächte auf der höchsten Stufe der Evolution positioniert wurden bzw. sich selbst dort positionierten. Und aus dieser Beurteilung heraus wurde der Kolonialismus im Sinne der »Entwicklung der rückständigen Gebiete« (Ziai 2006: 35) legitimiert (vgl. auch Hall 1992: 399ff.). Dabei ist es, Ziai (2006: 35) folgend, bedeutend zu berücksichtigen, dass sich »Entwicklung« hier nicht auf die Verbesserung des Lebensstandards bezieht, sondern zunächst »auf die Ausbeutung der wirt-

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

schaftlichen Ressourcen der Region und die ›Zivilisierung‹ der Kolonisierten«. Dementsprechend erläutern auch Harrison (2002: 149) und Mudimbe (1988: 16), dass Rassismus seine Ursprünge in der kolonialen Expansion des Westens und der damit verbundenen weltweiten Ausbreitung des Kapitalismus hat: »[R]acial categories ›mirror‹ the political processes that alienated populations of whole continents from their lands and transformed them into a supply of coerced labor« (Harrison 2002: 149). Insofern Harrison die rassistische Dehumanisierung von Menschen hier mit im Kolonialismus durchgesetzten und von da fortgeführten globalen Prozessen der Kapitalakkumulation in Verbindung bringt, ist Rassismus, das betont sie, nicht als ein transhistorisches Phänomen zu verstehen. Auch wenn es präkoloniale lokale Rassismen gegeben haben mag, so seien diese nicht von der Langlebigkeit und nachhaltigen rassistischen Strukturierung der Gesellschaften der Welt und ihrer Ökonomie(n) gekennzeichnet gewesen. Ich habe im Zusammenhang mit dem kolonialrassistischen Diskurs bisher hauptsächlich auf die Unterscheidung von Menschen anhand ihres angenommenen Grades der »Zivilisierung« rekurriert. Ziai (2006: 34) folgend haben wir es allerdings mit einem ganzen Ensemble von Differenzen zu tun, die durch Äquivalenzketten miteinander verknüpft waren, deren »Knotenpunkt« die Subjektposition des »weißen Mannes« ist, und um den herum die Identitäten des kolonialen Diskurses konstruiert wurden (vgl. auch Mecheril/ Scherchel 2009: 42): […] höherwertig/minderwertig, zivilisiert/unzivilisiert, rational/emotional, vernunftgeleitet/instinktgeleitet, fähig zur Herrschaft/unfähig zur Herrschaft, souverän/abhängig, kolonisierend/kolonisiert usw. […] Höherwertig sein bedeutet zivilisiert sein, zivilisiert sein bedeutet rational handeln, rational handeln bedeutet zur Herrschaft fähig sein, dies wiederum bedeutet höherwertig sein und so fort. Sie verweisen wechselseitig aufeinander. Der implizite Punkt, um den die Differenzen gruppiert sind, ist die Rassenzugehörigkeit, genauer: die Rassen- und Geschlechterzugehörigkeit. Die positiven Begriffe finden ihre Verkörperung im »weißen Mann«. (Ziai 2006: 34) Vor dem Hintergrund des Verständnisses von diskursiven Subjektpositionen, das ich im Folgenden im Anschluss an Laclau/Mouffe und Hall entwickele, muss dieses Ensemble von Differenzen als kontingent und wandelbar begriffen werden, ohne dass mit einem Wandel der Äquivalenzketten auch unbedingt ein existenzieller Wandel in den Machtverhältnissen korrespondieren

3 Kontextualisierung der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

muss. Der koloniale Diskurs ist demnach eurozentristisch organisiert und an Männlichkeit und Weißsein ausgerichtet, sodass die im kolonialen Diskurs hervorgebrachten »Eingeborenen«, »das ›Andere‹ des weißen Mannes« darstellen (Ziai 2006: 34). Ziai (ebd.) zufolge ist dabei eine Dynamik wesentlich, in der einerseits die Differenz in universalistischer Hinsicht geleugnet – als »Abbild der eigenen Norm menschlicher Existenz« – und andererseits essenzialistisch verfestigt wird: Trotz »Erziehung und ›Hebung‹ der Kolonisierten« bleiben diese immer »wesensmäßig minderwertig«, können nie das gleiche Niveau erreichen und bleiben daher von der Leitung der Kolonisatoren abhängig.

3.3

Deutschland als Kolonialmacht

Es ist wichtig zu betonen, dass, wie etwa Kössler (2005: 30ff.) zeigt, der Kolonialismus eine extrem gewaltsame Praxis war, die auf vielfachen Widerstand stieß, dem wiederum äußerst brutal begegnet wurde (vgl. auch Hamann 2015). Wie Kössler nachweist, ist allein der deutsche Kolonialismus im südlichen Afrika für mehrere hunderttausend Tote im ehemaligen DeutschOstafrika (größtenteils heutiges Tansania) und für den Völkermord an den Herero und Nama im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika (heutiges Namibia) verantwortlich. Im deutschen Kontext wird die eigene Involviertheit in den Kolonialismus immer wieder infrage gestellt. So wird etwa behauptet, Deutschland bzw. das deutsche Kaiserreich sei ja nur sehr kurz und darüber hinaus eher eine unbedeutende Kolonialmacht gewesen. Kolonialismus, so Bendix (2018: 36), »is either disremembered or remembered as having had little or positive effects on the colonized societies«. Dementsprechend findet sich Kolonialismus i.d.R. auch nur randständig als Thema des Schulunterrichtes – zumindest habe ich selbst erst deutlich später mehr über den deutschen Kolonialismus gelernt, habe noch in der Grundschule Lieder über Christoph Kolumbus gesungen und sind auch rassistische Begriffe häufig unproblematisierter Bestandteil von Kinderbüchern und Lehr- wie Lernmaterialien gewesen. Auch familiäre Bezüge Bekannter aus dem Umfeld, die es bspw. ins heutige Namibia gibt, Tourismus nach Tansania usw. sind von mir nicht mit dem deutschen Kolonialismus in Verbindung gebracht worden, obwohl diese Bezüge eigentlich deutlich zutage treten. Des Weiteren sind andere familiäre Geschichten – ein Großonkel väter-

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

licherseits hatte eine »Plantage« in Indonesien – immer randständig gewesen, niemand hat gefragt, was dort gemacht wurde und welche Geschichte(n) (der Dekolonialisierung) hinter einer Re-Lokalisierung des Großonkels nach Schweden im Laufe der 1960er-Jahre standen. Maximal wurde diese Biografie noch mit den Niederlanden, als Kolonialmacht in Indonesien, in Verbindung gebracht und dadurch gleichzeitig in ihrer Bedeutung für Deutschland entkräftet. Auch vor diesem Hintergrund erscheint es mir einleuchtend, wenn etwa Zimmerer (2013) oder Kössler (2005) von einer kolonialen Amnesie in Deutschland sprechen, insofern Kolonialgeschichte nicht als gesellschaftlich bedeutsam eingeordnet wird und eher nicht erinnert wird. Dabei scheint die Rede von einer Amnesie allerdings etwas problematisch, die Geschichten und Verbindungen sind ja an sich vorhanden und nicht wirklich vergessen oder unzugänglich. Dementsprechend bevorzugt auch Bendix (2018: 36) auf Prozesse des »disremembering« zu fokussieren, womit er auf aktive soziale und kulturelle Prozesse des Nicht-Erinnerns hinweisen möchte. Zwar gab es eine kritische Beschäftigung mit der kolonialen Vergangenheit in den 1950er-Jahren in der ehemaligen DDR und in den 1960er-Jahren in der ehemaligen BRD, in deren Zuge viele bis dato existierende Kolonialdenkmäler gestürzt wurden (die sogenannte Denkmalsturzbewegung), eine nachhaltige Beschäftigung und Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte fand dabei allerdings nicht statt (vgl. Schilling 2014: 202). Erst seit Beginn des 21. Jahrhunderts wird die Nicht-Erinnerung der deutschen Kolonialgeschichte zunehmend vonseiten aktivistischer und zivilgesellschaftlicher Gruppen in Deutschland wie in den ehemaligen Kolonien infrage gestellt. Nicht zuletzt haben die Hinterbliebenen des deutschen Völkermordes an den Herero und Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika gegen Deutschland vor einem US-amerikanischen Gericht geklagt, allerdings bisher erfolglos.6 Vor dem Hintergrund der aktiven Prozesse des Vergessen(machen)s der deutschen Kolonialgeschichte in Deutschland ist es bedeutsam, an diese zu erinnern. Denn entgegen der vorherrschenden Wahrnehmung war Deutschland nämlich eine äußerst brutal agierende Kolonialmacht und Menschen aus

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Hintergrund der Klage war, Deutschland zur Verhandlung mit den Hinterbliebenen der Herero und Nama zu bewegen. Bisher gibt es nur Verhandlungen mit dem Staat Namibia, in dem die Herero und Nama nicht die Mehrheit stellen und daher die Anerkennung des Völkermordes durch Deutschland nicht unbedingt als Priorität gesehen wird (Pelz 2019).

3 Kontextualisierung der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

dem deutschen Sprachraum bereits seit Beginn des europäischen Kolonialismus ab dem 15. Jahrhundert in koloniale Unternehmungen involviert (vgl. Conrad 2008: 22ff.; Kössler 2005: 81; Bendix 2018: 16). Die erste unabhängige deutsche Besetzung fand 1683 in Afrika in der Gegend des heutigen Ghana statt: The Brandenburgisch-Africanische Compagnie established the trading colony »Groß-Friedrichsburg« and trafficked enslaved Africans across the Atlantic (Stelzer 1984). This was followed by conquests in what are now Benin, Mauritiania, the US Virgin Islands, Puerto Rico and the British Virgin Islands. (Bendix 2018: 16) Die Hochphase des deutschen Kolonialismus lag zwischen den 1880er-Jahren bis ca. 1920. Dabei lag der Fokus der deutschen kolonialen Unternehmungen auf Afrika: There, the German empire conquered and occupied »German East Africa« (present day Tansania as well as Rwanda, Burundi and parts of Kenya and Mozambique); »German South-West Africa« (present day Namibia and parts of Botswana); »Kamerun« (today Cameroon); and »Togoland« (present day Togo and parts of Ghana). (Bendix 2018: 16) Dieser Schwerpunkt des deutschen Kolonialismus auf Afrika führte nach Bendix dazu, dass der deutsche Kolonialismus mit der Kolonisierung Afrikas gleichgesetzt wurde. Allerdings besetzte Deutschland in dieser Zeit auch weitere Teile der Welt »and exploited people in the South Pacific (›German New Guinea‹ and ›German Samoa‹) and in China (›German Kiatschou‹ and Chefoo)« (ebd.). Die Geschichte des Kolonialismus ist also für die deutsche Geschichte ausgesprochen bedeutsam, auch wenn sie i.d.R. für weniger bedeutend erklärt wird. Unabhängig davon ist es ebenso wichtig, noch einmal an Harrisons Definition des Rassismus zu erinnern, die ich weiter oben ausgeführt habe. Rassismus, so argumentiert Harrison, ist mit der globalen Geschichte des Kapitalismus bzw. der globalen Kapitalakkumulation verwoben, als deren essenzieller Teil Deutschland als »Exportweltmeister« wohl notwendigerweise mitbeschrieben werden muss. Die Wissensformen des Kolonialismus, die die Ausbeutung der Kolonisierten ermöglichten, finden sich daher auch in solchen Kontexten wieder, die nur wenige, für eine kurze Zeit oder auch keine Kolonien besaßen, aber vom Kolonialismus profitierten.

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

3.4

Aspekte kolonialer (Dis-)Kontinuitäten im Entwicklungsdiskurs7

In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts findet sich der Kolonialismus und mit diesem der koloniale Diskurs vor dem Hintergrund globaler Entwicklungen und Kämpfe zunehmend diskreditiert und es finden entsprechende Diskursverschiebungen statt: The Russian revolution, the global economic crisis emerging in the 1920’s, Roosevelt’s New Deal policies of the 1930’s, the World Wars, and the global upsurge of anticolonial struggles, coupled with the idea that all human being are equal, laid the foundations for Cold War policies of »development aid«. (Ziai 2010: 45) Im Gegensatz zum kolonialen Diskurs finden sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg rassistische Weltsichten zunehmend diskreditiert und eine veränderte Weltordnung sowie der Widerstand gegen die Kolonialherrschaft, der sich auch auf die Vorstellung der Gleichheit aller Menschen beruft, führen dazu, dass sich ein Diskurs um »Entwicklung«8 etabliert.9 In die7

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Ich fokussiere an dieser Stelle auf den Diskurs der »Entwicklung« und lasse jenen der Globalisierung außen vor, in dem sich ebenfalls koloniale Kontinuitäten finden lassen, der im Laufe der 1980er und 1990er Jahre zunehmend jenen der »Entwicklung« ersetzt und der mit dem diskursiven Konzept des »freien Handels« operiert (vgl. Ziai 2010: 61). Ich bleibe bei »Entwicklung«, weil sich die Mobilität, die ich betrachte, so verortet. Aspekte des Globalisierungsdiskurses finden sich aber etwa im Fokus auf privatwirtschaftlichen Interessen und/oder spiegeln sich im »Marshallplan für Afrika« (vgl. Kap. 3.5). Wie Ziai erläutert, muss der Begriff der »Entwicklung«, auch weil dieser für höchst unterschiedliche und politisch verschieden verortete Projekte Verwendung findet, als leerer Signifikant verstanden werden. In diesem Sinne macht Ziai »Entwicklung« als hegemoniales Projekt erkennbar, welches es geschafft habe, partikulare Interessen als solche von universeller Gültigkeit zu präsentieren, sodass verschiedenste politische Akteur*innen auf diesen Signifikanten Bezug nehmen müssen (vgl. Ziai: 2009: 196). Klose (2009) erläutert die Rolle, die insbesondere der Zweite Weltkrieg und das hierbei formulierte Ziel der Alliierten, für die Menschenrechte zu kämpfen, bei den späteren Auseinandersetzungen um Dekolonisierung spielten. Anders als in Europa häufig erinnert, waren Menschen aus den damaligen Kolonien in vielfältiger Weise als Arbeitskräfte, Soldaten usw. in den Zweiten Weltkrieg involviert, wurden aber vielfach diskriminiert und ihnen wurden im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg Menschenrechte und Unabhängigkeit verweigert. Mit Konsequenzen: »Das moralische Rüstzeug der Alliierten im Kampf gegen die totalitäre Herrschaft wurde nun zum wichtigsten

3 Kontextualisierung der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

sem – uneinheitlichen – Diskurs konvergieren die Interessen verschiedener Akteur*innen: der Unabhängigkeitsbewegungen, die darauf aus waren, ihre Länder in »moderne« Nationalstaaten zu verwandeln (vgl. auch Fanon 2010), die Bevölkerungen der verschiedenen Länder, die die alten und neuen Formen der Unterdrückung abschaffen wollten, sowie die alten Kolonialmächte, die nach einem neuen System suchten, das die alte Dominanz wieder herstellen konnte (vgl. Ziai 2010: 45). Wesentlicher Bestandteil dieses neuen Diskurses war es, dass die vormals kolonialisierten Menschen »nicht mehr als unfähig, sich selbst zu regieren (und daher auf die wohlwollende Kolonialherrschaft angewiesen), dargestellt wurde[n]« (Ziai 2006: 36) und sich stattdessen eine auf »materielle Verbesserung« (ebd.) gerichtete Vorstellung von Entwicklung etablierte. Allerdings, so ist Escobar (1995: 4) folgend anzumerken, ist dies zwar als eine bedeutende diskursive Verschiebung zu verstehen, ihr Ergebnis war aber alles andere als materielle Entwicklung, sondern stattdessen »massive underdevelopment and impoverishment, untold exploitation and oppression«. Das ist insofern wenig verwunderlich, als der damalige US-Präsident Truman 1949 in seiner Antrittsrede, die meist als Beginn des Entwicklungsdiskurses markiert wird und auf die sich auch Escobar (ebd.: 3) als solchen bezieht, »sämtliche nicht-industrialisierten, nicht-westlichen Lebensweisen als ›unterentwickelt‹ bezeichnete, den Zustand der westlichen Industrienationen als universelles Ziel umriss und so eine allgemeingültige ›Entwicklungsbahn‹ skizzierte, an deren Spitze die USA stand« (Ziai 2006: 16). In Trumans Äußerungen spiegelt sich nun deutlich die diskursive Logik des kolonialen Diskurses, die in die Einteilung der Menschheit nach Graden ihrer »Entwicklung« investierte. Bendix (2018: 22) weist in diesem Sinne darauf hin, dass auch die häufig vorzufindende These eines klaren Unterschiedes/Bruchs zwischen Interventionen in der Kolonialzeit und Interventionen der »Entwicklung« nicht aufrechterhalten werden könne. Stattdessen seien Ideen und Praktiken der »Entwicklung« des Globalen Südens bereits in Kolonialzeiten erprobt worden und bspw. im damaligen Deutsch-Südostafrika im Anschluss an den Maji-Maji-Krieg ab ca. 1907 bedeutsamer geworden. Es kann insofern nicht von einem völlig neuen Diskurs gesprochen werden. Die »neuen« Politiken der »Entwicklung« stehen nach Bendix (ebd.: 23) zudem mit der Ökonomisierung der Kolonisierten in Verbindung, d.h. der Einbindung Referenzpunkt und zur moralischen Basis der Nationalbewegungen, um die Kolonialmächte anzugreifen« (ebd.: 45).

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in eine kapitalistische Produktionsweise und die Generierung von (low- oder non-)«wage labour« (ebd.: 23). Wie es Wallerstein (1987: 383) auf den Punkt bringt: »Race, and therefore Racism, is the expression, the promoter and the consequence of the geographical concentrations associated with the axial division of labour.« Wesentliche Aspekte der diskursiven Logik des kolonialen Diskurses tauchen also im Diskurs der »Entwicklung« wieder auf, insofern etwa auf eine lineare Entwicklungsbahn der Menschheit rekurriert wird, an deren Spitze die USA bzw. die alten Kolonialmächte stehen, und insofern kein struktureller Bruch mit der auf Rassismus basierenden Produktionsweise des Kolonialismus stattfindet. Ein wichtiger Unterschied findet sich allerdings darin, dass diskursiv nun nicht mehr auf »unzivilisierte« Völker oder Menschen rekurriert und biologisch argumentiert wird – auch wenn diese Diskurse nicht völlig verschwunden sind –, sondern stattdessen von »unterentwickelten Ländern oder Regionen« die Rede ist, sodass die diskursive Differenz nun in Bezug auf geografische Kontexte hergestellt wird (vgl. Ziai 2006: 37). Insofern finden sich einerseits bedeutende Diskursverschiebungen, die es wiederum andererseits ermöglichen, die Länder des Globalen Südens und die in ihnen lebenden Menschen, wie schon im kolonialen Diskurs, als »defizitär« gegenüber dem Globalen Norden zu klassifizieren und entsprechende Politik zu betreiben (vgl. auch Gorski 2008: 518). Es stehen nun identitäre Aspekte im Vordergrund, d.h. die Produktion einer »Identität der ›Unterentwickelten‹ als rückständig und Teil einer unterlegenen Kultur […], deren Defizite nur durch Übernahme der entsprechenden Ideale (Rationalität, Produktivität, Modernität) und ständiges Streben nach Angleichung an die Norm auszugleichen sind« (Ziai 2006: 37). Ziai (2011: 31) verdeutlicht die Prävalenz dieser Vorstellungen am Beispiel der »Good-Governance-Doktrin«, bei der angenommen werde, dass die Staaten der »Peripherie« keine gute Regierungsführung betreiben und dass dies andersherum in den Staaten des »Zentrums« der Fall sei. Diese Vorstellung führe dazu, »im Süden eine gute Regierungsführung auch mittels Sanktionen durchzusetzen« (ebd.). Nicht zu vergessen ist auch, dass der Entwicklungsdiskurs in der Zeit des Kalten Krieges prominent war und dabei in Systemkonkurrenz zur Sowjetunion formuliert wurde. »Entwicklungshilfe« war in diesem Zusammenhang Instrument der Erweiterung des kapitalistischen Einflussbereiches und der Sicherung von Rohstoffen (vgl. Ziai 2010: 45). Das Ensemble der Differenzen in der diskursiven Logik des Entwicklungsdiskurses präsentiert Ziai wie folgt:

3 Kontextualisierung der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

Die Zweiteilung »zivilisiert/unzivilisiert« wird durch den Dualismus »entwickelt/unterentwickelt« ersetzt. Das daran anknüpfende Ensemble der Differenzen lässt sich wie folgt skizzieren: industrieller und wissenschaftlicher Fortschritt/Stagnation, Wirtschaftswachstum/Stagnation, Technologie/Handarbeit, Modernität/Tradition, hohe Produktivität/niedrige Produktivität, materieller Wohlstand/Armut, besseres Leben/schlechteres Leben, Freihandel und Demokratie/alter Imperialismus, Entwicklungshilfe leistende Nationen/Entwicklungshilfe empfangende Nationen usw. (Ziai 2006: 37) In obigem Zitat wird zum einen die Dominanz wirtschaftlicher Interessen deutlich, die in der Orientierung an Begriffen von Wirtschaftswachstum, Produktivität, Freihandel usw. deutlich werden. In diesem Sinne argumentiert auch Gorski (2008: 517), dass ein wesentliches Moment des »Defizit«Theorems darin liegt, die »Massen« zu »Komplizen« unternehmerischer Interessen des Globalen Nordens zu machen. Bedeutsam sei andererseits auch, dass durch diese Hervorbringung des Globalen Südens als defizitär gegenüber dem Globalen Norden eine »Samariter-Identität« (Ziai 2006: 37) generiert werde, die sich darin ausdrücke, dass denjenigen »Entwicklungshilfe« gewährt werde, ja werden müsse, die auf der anderen Seite der Entwicklung positioniert würden. Ähnlich wie im kolonialrassistischen Diskurs wird daher in Diskursen um Entwicklung neben der Legitimation struktureller Ungleichheiten auch eine moralische Verantwortung zu »helfen« produziert. Es finden sich in diesen Diskursen neue Formen des Rassismus, die ohne den Rekurs auf biologische Vorstellungen von »Race« auskommen. Die Delegitimierung des kolonialrassistischen Diskurses hat, darauf verweist auch Harrison (2002), zu dessen Rekonfiguration geführt und weniger zu einem Bruch mit denjenigen Strukturen, die der Rassismus legitimiert hat. Insofern finden sich rassistische Muster nun mit den Konzepten der Kultur, der Ethnizität oder etwa der Nation verbunden, wenn diese dazu dienen, soziale und ökonomische Differenzen zu essenzialisieren oder zu naturalisieren: In these supposedly color-blind, raceless contexts, which are often difficult to interpret or decode, a concept of culture (whether linked to ethnicity or nation) and a broader, culture-centered idiom within which it is embedded serve as an ideological device that defines social differences as essential or natural and, hence, reconfigures racial boundaries. (Harrison 2002: 153, in Verweis auf Balibar 1991)

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

3.5

Deutsche Entwicklungspolitik in kolonialer Kontinuität?

Wie Bendix (2018: 24) erläutert, waren Kontinuitäten zum Kolonialismus in der ehemaligen BRD auch nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich vorhanden, insofern ehemalige Kolonialisten weiterhin die deutsche Politik beeinflussten. Entwicklungshilfe wurde in der ehemaligen BRD in den frühen 1950erJahren ins Leben gerufen und im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit angesiedelt, das nun um den Terminus »Entwicklung« ergänzt wurde. Bis in die 1970er-Jahre – der internationalen Anerkennung der DDR als souveränem Staat – war die westdeutsche Politik in Hinsicht auf Entwicklungshilfe allerdings vornehmlich außenpolitisch motiviert und an der sogenannten Hallstein-Doktrin ausgerichtet, die den Empfang von Entwicklungshilfe mit der Nicht-Anerkennung der ehemaligen DDR verband (vgl. Döring 2008: 27). Ab den 1980er-Jahren wurde ökonomische Unterstützung sodann an die Implementierung bestimmter Politiken und Praktiken gebunden (vgl. Bendix 2018: 24). In der neueren Zeit steht stärker die Kooperation mit dem privaten Sektor im Vordergrund. Dies findet im sogenannten Marshallplan mit Afrika seinen Ausdruck. Neben der Orientierung an privatwirtschaftlichen Interessen ist ein Ziel der Entwicklungspolitik, Migration nach Europa zu verhindern. Offiziell wurde in diesem Zusammenhang die Zeit der »Hilfe« für beendet erklärt, was Bendix (ebd.: 25) als einen der zentralen diskursiven Tricks der Entwicklungspolitik markiert, der darin bestehe, die Interessen der Investoren des Globalen Nordens als solche zu präsentieren, die mit den Interessen der Menschen des Globalen Südens kompatibel seien. Dabei zeige sich aber, dass bilaterale »Hilfe« einen signifikanten positiven Einfluss auf deutsche Exporte in die Partnerländer habe (vgl. ebd.: 26). Von Partnerschaft, so argumentiert Eriksson Baaz (2005), ließe sich nur schwer reden, wenn eine*r der beiden Partner*innen in Abhängigkeit stehe. Trotz ihrer ideologischen Ausrichtung an einer Politik antiimperialistischer Solidarität sind auch in der (Politik der) ehemaligen DDR kolonial(istisch)e Kontinuitäten zu erkennen (vgl. auch Tzceciak/Peters i.E. 2022). Das zeigt sich nicht zuletzt in den Vereinbarungen über Vertragsarbeit, wie sie mit Vietnam und Mosambik in den späten 1970er-Jahren getroffen wurden, deren Vertragsbedingungen im Vergleich zu jenen mit osteuropäischen Ländern deutlich schlechter waren und deren Widerstand gegen diese Bedingungen auch mit Verweis auf kolonialrassistische Figuren der weniger »entwickelten« Kenntnis des Sozialismus abgetan wurde (vgl. Mende 2013: 159; Schüle 2003). Aber auch der Austausch von Fachkräften und die Unterstüt-

3 Kontextualisierung der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

zung kolonialer Bewegungen, so ließe sich argumentieren, folgte kolonialen Epistemen, insofern die Rolle der Expert*innen durchweg aufseiten der DDR angesiedelt war. Die Handelsbeziehungen der DDR zu Ländern des Globalen Südens waren ebenfalls von diesen Epistemen geprägt und so wurden etwa mit Äthiopien, Mozambik and Angola »Expertise« gegen Steinkohle und Kaffee getauscht und mit Vietnam und Laos Entwicklungsprojekte zur »Modernisierung« der Kaffeeindustrie vorangetrieben, die den Bedarf der DDR decken sollten (vgl. Kloiber 2017: v; Döring 2008). Rabenschlag (2014) spricht aus diesem Grund auch von »Völkerfreundschaft nach Bedarf«. Die obige Betrachtung versucht – in Kürze – zu zeigen, dass und wie vielfältige Kontinuitäten, aber auch Brüche zwischen kolonialrassistischen Praktiken und Diskursen und entwicklungspolitischen Diskursen bestehen. Entgegen der immer noch vorherrschenden »Vergessenheit« Deutschlands in Hinsicht auf dessen Kolonialgeschichte wurde deutlich, dass diese Geschichte für aktuelle Beziehungen weiterhin von wichtiger Bedeutung ist, aber Diskursverschiebungen hin zu »Partnerschaft« in Hinsicht auf die »Entwicklung« von Ländern des Globalen Südens stattgefunden haben. Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass Kolonialismus in verschiedenen Kontexten Verschiedenes bedeutet(e) und sowohl die Praktiken der Kolonialisten als auch (die Widerstandspraktiken) der Kolonisierten in verschiedenen Kontexten verschieden waren (vgl. Hamann 2015: 219ff.). Darauf weist auch Kössler (2005: 33) in struktureller Hinsicht hin, wenn er über die Folgen des Unterschiedes zwischen Siedlungs- und Extraktionskolonie schreibt. In Anschluss an Ziai wurde zudem deutlich, dass in kolonialen Diskursen und Diskursen über Entwicklung spezifische Identitäten produziert werden, die diese ungleiche und vermachtete Relation zwischen den Kontexten des Globalen Nordens und des Globalen Südens legitimieren (vgl. auch Eriksson Baaz 2005: 9ff.). Aus diesem Grund, und weil ich mich in meiner Forschung für Identitäten als Vernähungen mit Diskursen interessiere, werfe ich nun einen Blick auf die (Identitäts- bzw. Subjekt-)Position der entwicklungspolitischen Mobilität, zunächst in genealogischer Hinsicht.

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

3.6

Genealogische Aspekte in der Subjektposition  der entwicklungspolitischen Mobilität10

Barbara Heron (2007: 29ff.) beschäftigt sich eingehend mit der Genealogie der Subjektposition des »development workers«, indem sie an Stolers (1995) Analyse der kolonialen »Ordnung der Dinge« anschließt. Sie verortet, Stoler folgend, die Subjektposition der entwicklungspolitischen Mobilität im 18. und 19. Jahrhundert und bringt sie mit der Herausbildung der europäischen bürgerlichen Subjektform in Zusammenhang. Für diese Zeit, so führt sie an, waren (nicht nur) in Europa die Bildung von Nationalstaaten, das Projekt der Aufklärung, Kolonialismus sowie die industrielle Revolution wesentlich. Die sich herausbildende bürgerliche Subjektform war demnach eng mit diesen Prozessen verwoben, ermöglichte sie und wurde durch sie ermöglicht. Stoler (ebd.: 108) argumentiert, dass die »Zivilisierungsmission« sowohl auf die Kolonisierten als auch auf die Kolonisierenden gerichtet und dass sie es mit ambiguen und widerspenstigen Teilnehmer*innen zu tun hatte: The civilizing mission of the nineteenth century was a bourgeois impulse directed not only at the colonized as often assumed, but at recalcitrant and ambiguous participants in imperial culture at home and abroad. But these bourgeois initiatives were as strongly directed at »reform of themselves«. (Ebd.) Das bourgeoise koloniale Projekt war in Stolers Lesart keineswegs gesichert und musste nur noch in die Kolonien »importiert« werden, sondern der Kolonialismus war wesentlich mit der Hervorbringung spezifischer kultureller Praktiken der bourgeoisen Klasse bzw. dem Bürgertum verbunden. Das 18. und 19. Jahrhundert ist zudem eine Zeitspanne, in der die bürgerliche Subjektform sowohl kulturell als auch ökonomisch zunehmend hegemonial wurde (vgl. auch Reckwitz 2006: 249). Zur Legitimierung ihrer Hegemonie diente vor allem ein »Gegensatz zwischen Moralischem und Amoralischem« (ebd.). So positioniert sich das bürgerliche Subjekt zunächst im 18. Jahrhundert in Abgrenzung gegenüber einer als verfälscht, unvernünftig und unnatürlich markierten Aristokratie. Im 19. Jahrhundert wurde »Zivilisiertheit« dann, so argumentiert Heron (2007: 29), zum moralischen Leitschema und bürgerliche Subjektivität im Gegensatz zu »that which was uncivilized, lower class, 10

Einige Ausführungen dieses Kapitels sind in ähnlicher Weise bereits in Peters (2020) erschienen.

3 Kontextualisierung der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

and non-European« (Stoler 2000: 151, zitiert nach Heron 2007: 29) artikuliert. Diese Differenz zwischen »Zivilisiertheit« und »Unzivilisiertheit« ist, wie bereits zuvor argumentiert, für den kolonialen Diskurs von zentraler Bedeutung und in starkem Maße hierarchisierend. In diesem Zuge werden Höher- und Minderwertigkeiten hervorgebracht, die durch spezifische kulturelle Kompetenzen, spezifisches Wissen, spezifische Werte und spezifische Sensibilitäten nach außen demonstriert werden müssen und in denen sich bürgerliche Subjekte in der Folge einübten (vgl. Reckwitz 2006: 242ff.). Diese Praktiken kultureller (und) »rassischer« Distinktion waren auf die Präsenz zivilisatorisch nicht gleichwertig konstruierter »Anderer« angewiesen. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal daran erinnern, dass Rassismus nicht nur als biologischer Rassismus zu verstehen ist, sondern – wie am Beispiel des »New Racism« deutlich wird, dem Kultur als Synonym für »Race« dient – als wandelbar und potenziell eine ganze Reihe kultureller, biologischer und/oder religiöser Referenzen als Marker rassifizierter Differenz heranziehend und miteinander artikulierend (Balibar/ Wallerstein 1991; Balibar 2005; Lentin 2008: 489). Diese »Anderen« jedenfalls waren unter anderem »the working classes, the colonized, women, gypsies, Jews, the Irish, and criminals« (Heron 2007: 29). Die enge Verbindung bourgeoiser Subjektivität mit der Einübung einer spezifischen Form moralischer Regulierung und kultureller Kompetenzen führte darüber hinaus zu der ebenfalls zuvor diskutierten Vorstellung, dass den verschiedenen als minderwertig konstruierten »Anderen« nicht zugetraut werden könne, sich selbst zu regieren. Sie wurden vielmehr als der »Zivilisierung« durch Regierung und der Erziehung in der »richtigen« Art zu leben bedürftig angesehen, ohne dabei jemals ganz so »kultiviert« werden zu können wie die bürgerlichen Subjekte selbst (vgl. Reckwitz 2006: 251; Heron 2007: 30). Dieses Verständnis bürgerlicher Subjektivität erklärt den Eingriff in die Leben anderer sozialer Gruppen also für notwendig und legitim, sogar zu einer Verantwortung, die zuvor in der Figur des »white man’s burden« (Piller 2011: 21) beschrieben geworden ist. Die oben stehenden Erläuterungen verdeutlichen, dass die bürgerliche Subjektform und Kolonialismus eng miteinander verbunden waren und dass sie sich gleichzeitig durch Praktiken kultureller Distinktion von anderen als rückständig imaginierten Klassen, Kulturen bzw. »Races« abgrenzte und in diese Praktiken der Abgrenzung investierte. In der bürgerlichen Subjektform kommt insofern eine spezifische Klasse zum Ausdruck, die zunächst zwischen Proletariat und Aristokratie angesiedelt war und zunehmend eine

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

hegemoniale Stellung innehatte. Darüber hinaus, darauf weisen Reckwitz (2006: 243) und Heron (2007: 31) hin, brachte bürgerliche Subjektivität auch spezifische Geschlechterverhältnisse hervor, und zwar zunächst »entlang der Codes von ›öffentlicher‹ Männlichkeit und ›familiärer‹ Weiblichkeit«. Wie Heron (ebd.) argumentiert, fiel die Rolle der Ausbildung erkennbar angemessener bürgerlicher kultureller Kompetenzen und Subjekte vornehmlich der weiblichen Position zu, während die Zivilisierung und Erziehung der »Anderen« zunächst eine männliche Domäne war. Weibliche Subjektposition bedeutete entsprechend, auf der einen Seite Hüterin und Erzieherin von Moral und Charakter zu sein. Auf der anderen Seite war Weiblichkeit aber auch durch »Emotionalität«, »Unvernunft« und »suspekte Sexualität« markiert und damit teilweise aufseiten der »Unkultiviertheit« positioniert. Das machte das Konzept bürgerlicher Weiblichkeit im Gegensatz zu bürgerlicher Männlichkeit zu einer ambiguen Position, da Zuschreibungen von Unvernunft und Unkontrolliertheit als Synonyme der Unzivilisiertheit auch aufseiten des*r »unkultivierten« und/oder rassifizierten »Anderen« verortet wurden (und werden). Diese ambigue Position konnte durch vorzeigbare und gute moralische Lebensweise und gute Sitten sowie intergenerationale Weitergabe von bürgerlicher Sensibilität und Moral ausgeglichen werden, »to the extent that the moral became the purview and domain of white womanhood« (ebd.).11 Folgende Kämpfe um mehr Partizipation im öffentlichen Raum führten Heron zufolge zu Verschiebungen der geschlechtlichen Zugehörigkeitskonzepte und zunächst dazu, dass öffentliche Sphären, in denen wohltätiges Engagement gefragt war, zunehmend weiblich besetzt waren, weil diese Bereiche mit vorherrschenden Vorstellungen bürgerlicher Weiblichkeit am Ehesten in Einklang zu bringen waren. Das Engagement von bürgerlichen Frauen in öffentlichen Bereichen galt zunehmend nicht mehr nur als angemessen, sondern wurde auch zu einer Verpflichtung, um in einem guten Lichte zu erscheinen. Gleiches galt für die missionarische Arbeit in den Kolonien. Weitere Kämpfe und korrespondierende Diskursverschiebungen führten dazu, dass in den

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Stoler (2000: 115) erläutert die Bedeutung der Geschlechterverhältnisse und die hegemoniale Stellung der männlichen Position auch am Beispiel der Möglichkeit, eine*n rassifiziert konstruierte*n Mann/Frau zu heiraten. Dies ging für europäische Männer nicht notwendigerweise mit einem Statusverlust einher, bedeutete für Frauen aber, einen schlechteren rechtlichen Status zu erhalten, insofern sie durch die Partnerwahl zeigte, sozial und moralisch tief gesunken zu sein.

3 Kontextualisierung der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

letzten 30 Jahren des 19. Jahrhunderts Frauen die Mehrheit der missionarisch in den Kolonien Tätigen stellten (Heron 2007: 32). Es ist mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass es hier um die Zugehörigkeitskonzeption einer bestimmten Subjektform, der bürgerlichen, geht. In anderen Klassen mögen andere Konzeptionen vorgeherrscht haben und weiter vorherrschen. Ich habe an dieser Stelle stärker auf Vorstellungen von Weiblichkeit und Kämpfe innerhalb dieser Vorstellungen von Geschlecht fokussiert, weil drei Viertel der Teilnehmer*innen im weltwärts-Programm, welches im Kontext von »Hilfe« angesiedelt ist, Frauen sind. Wie Danielzik und Bendix (2011: 267) verdeutlichen, sind »christlich-patriarchalen europäischen Gesellschaften spezifische hierarchische und von Gewalt gezeichnete Geschlechterverhältnisse« eigen, die nicht durch die oben stehende Betrachtung untergehen sollen. Durch diese Geschlechterverhältnisse, so argumentieren die Autor*innen (ebd.), »bekamen die vermeintlichen ›Entdeckungen‹ sowohl in Bezug auf Territorium als auch in Bezug auf Menschen eine von maskulinistischen europäischen Vorstellungen von Gender und Sexualität geprägte Ausformung«. Die Strategien der Hervorbringung rassifizierter Differenz waren darüber hinaus Veränderungen unterworfen, waren instabil und im Fluss, eine Tatsache, der sich nach Stoler (2000: 112) die kolonialen Autoritäten bewusst waren, was sich auch darin zeigte, dass sie »obsessed with moral, sexual, and racial affronts to European identity« in den Kolonien waren. Die Strategien passten sich darüber hinaus an die jeweiligen Möglichkeiten der Generierung von Profit und mehr oder weniger Stabilität an (vgl. ebd.: 113). Während sich die bürgerliche Subjektform in diesen Erläuterungen durch ihre Relationalität auszeichnet, d.h. durch die Hervorbringung in Praxen der (kulturellen, materiellen usw.) Distinktion von vielfältigen »Anderen«, so ist sie dennoch, wie Quijano (2007: 172) argumentiert, von der Vorstellung eines isolierten Individuums geprägt. First in that presupposition, the »subject« is a category referring to the isolated individual because it constitutes itself in itself and for itself, in its discourse and in its capacity of reflection. The Cartesian »cogito, ergo sum«, means exactly that. Second, the »object« is a category referring to an entity not only different from the »subject«! individual, but external to the latter by its nature. Third, the »object« is also identical to itself because it is constituted by »properties« which give it its identity and define it, i.e., they demarcate it and at the same time position it in relation to the other »objects«.

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Einerseits lasse sich diese Vorstellung von Subjektivität im Kontext der Befreiung von den zuvor herrschenden, bevormundenden sozialen Strukturen Europas verstehen, in denen rigide soziale Rollen und Hierarchien meist von Geburt an festgelegt waren. Andererseits falle die Ausbildung dieser Vorstellung des Subjekts in die Zeit des Kolonialismus und sei mit ihr die Ausblendung der Bedeutung des »Anderen« für die eigene Subjektivität verbunden, es sei denn in objektivierter Form (vgl. ebd.: 173). Dabei werde nicht nur eine atomistische Version sozialer Existenz postuliert, die nicht der Realität entspreche, sondern auch die Idee sozialer Totalität negiert, mit enormen Konsequenzen für die Möglichkeit der Legitimierung des kolonialen Projekts. Und zwar, indem es nun möglich war, die Gleichheit mit anderen Subjekten außerhalb Europas zu negieren: As European colonial practice was to show, the paradigm also made it possible to omit every reference to any other »subject« outside the European context, i.e., to make invisible the colonial order as totality, at the same moment as the very idea of Europe was establishing itself precisely in relation to the rest of the world being colonized. The emergence of the idea of the »West« or of »Europe«, is an admission of identity – that is, of relations with other cultural experiences, of differences with other cultures. But, to that »European« or »Western« perception in full formation, those differences were admitted primarily above all as inequalities in the hierarchical sense. And such inequalities are perceived as being of nature: only European culture is rational, it can contain »subjects« – the rest are not rational, they cannot be or harbor »subjects«. As a consequence, the other cultures are different in the sense that they are unequal, in fact inferior, by nature. They only can be »objects« of knowledge or/and of domination practices. (Quijano 2007: 173-174) Vor diesem Hintergrund kommt der Dimension des Subjekts und der Wissensformen über seine Beziehungen zu anderen und zur Welt enorme Bedeutung zu. Die in der bürgerlichen Subjektform nach Quijano vorzufindende Negation der Relationalität des Subjekts, der Verbundenheit mit anderen und der Welt, und die nicht notwendige Artikulation von Subjekt-ObjektBeziehungen, wie sie im bürgerlichen Subjekt auftauchen, erscheinen als weiteres wesentliches Moment der Hervorbringung von kolonialer Differenz.

3 Kontextualisierung der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

3.7

Folgerungen für die weitere Betrachtung

Die vorgenommene Betrachtung sollte zeigen, dass und wie sich der Kolonialismus bzw. die Kolonialismen als Macht-Wissen-Komplex verstehen lassen, der zu seiner Legitimation auf die Hervorbringung weniger »entwickelter« »Anderer« – »Rassen«, Klassen und Geschlechter – zurückgreift. Dabei lässt sich Kolonialismus und die dem Kolonialismus korrespondierende Rassifizierung der Welt genauer mit der bürgerlichen Subjektform verbinden. Für die bürgerliche Subjektform war (und ist) insbesondere die Investition in Praktiken kultureller (moralischer) Distinktion zentral, um sich von anderen sozialen Klassen abzuheben. In diesem Zuge wurden in die Verortung der Menschen der Welt auf einer Entwicklungsstufenskala investiert und u.a. anthropologische Studien durchgeführt, Menschen und Skelette vermessen und philosophische Betrachtungen über die vermeintliche rassische Unterschiedlichkeit der Menschen verfasst, die es erlaubte, in rationale Subjekte auf der einen und irrationale Objekte auf der anderen Seite zu unterscheiden. Dies mit der Konsequenz und dem Ziel, koloniale Herrschaft als legitim und notwendig zu rahmen. Die bürgerliche Subjektform wird in diesem Zuge als hegemoniale männliche und Weiße Subjektposition hervorgebracht, deren Weißsein über die machtvolle Hervorbringung kulturell und »rassisch« »Anderer« bedeutsam und (un-)sichtbar wird. Dabei zeigt sich, dass andauernde Verschiebungen stattfinden und die Differenz zwischen den Weißen bürgerlichen Subjekten und den vielfältigen kulturell und »rassisch« »Anderen« immer wieder neu hervorgebracht werden muss(te). Insofern muss wohl immer von Kontinuität wie von Diskontinuität gesprochen werden, wenn die Geschichte des Kolonialismus in ihrer Bedeutung für heute thematisiert wird. Kämpfe um Dekolonisierung und eine Konkurrenz zwischen kapitalistischen und real-kommunistischen Systemen führten zu bedeutsamen Diskursverschiebungen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die insbesondere zu einer Diskreditierung der Kategorie »Race« führten. Darüber hinaus finden sich nun Interventionen des Globalen Nordens im Globalen Süden anders legitimiert und auch die Art der Interventionen unterscheidet sich wesentlich, indem sie vornehmlich auf die eigene Einsicht des Globalen Südens in die Notwendigkeit der entwicklungsbezogenen Intervention setzen. Vor allem aber in der Omnipräsenz (bzw. Hegemonie) der Annahme der Notwendigkeit von »Entwicklung«, die an westlichem Vorbild ausgerichtet ist und die in dieser Ausrichtung die restliche Welt als demgegenüber defizitär rahmt, finden sich deutliche koloniale Kontinuitäten, die sich nun kulturrassisti-

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

scher Argumentationsmuster bedienen. Aber auch darüber hinaus, so wurde etwa in Rekurs auf Castro-Varela deutlich gemacht, bestehen Kontinuitäten in Migrations- und Mobilitätsmustern, die an bestehende Verbindungen zwischen geografischen Kontexten anschließen und etwa in der Aussage des »We are here because you were there« kulminieren (vgl. FN 4). Gleiches gilt für bestehende Beziehungen zwischen ehemaligen Zentren und Peripherien, zwischen denen sich häufig die Entwicklungskooperation besonders gestaltet und deren Beziehung selbst da, wo von Partnerschaft gesprochen wird, deutlich von struktureller Ungleichheit geprägt ist, wenn die Kontexte in Relation zueinander gesetzt werden. Vor dem Hintergrund der zuvor aufgeführten Betrachtungen lässt sich also davon ausgehen, dass sich die Geschichte der bürgerlichen Zugehörigkeitskonzepte in das »Entwicklungsprojekt« eingeschrieben hat und sich deshalb auch in der heutigen entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität wiederfindet. Die Frage nach dem Wie dieser Einschreibung möchte ich zuvorderst als eine empirische Frage verstehen, auch da ich zuvor betont habe, dass Zugehörigkeit der andauernden Hervorbringung bedarf. Daher möchte ich die hier vorgenommene Betrachtung als theoretische Sensibilisierung für die später folgende Rekonstruktion von Erzählungen nutzen. Die Subjektposition der (freiwilligen) »Entwicklungszusammenarbeit« jedenfalls erscheint klassenspezifisch und spezifisch vergeschlechtlicht und (neben der kulturellen Abgrenzung von anderen Klassen) auf rassifizierte Vorstellungen von Raum angewiesen zu sein, die die Relationalität dieses Raumes negieren. Das zeigt die postkolonial und rassismuskritisch kontextualisierende Perspektive. Sie zeigt ebenfalls, dass sich die Konzepte einerseits gewandelt haben und sich im steten Wandel befinden sowie andererseits weiterhin deutliche Spuren ihrer rassistischen (Kolonial-)Geschichte tragen.

4 Subjekt- und Sozialtheoretische Perspektive

Mit dem Ziel, eine theoretische Grundlage für die Konzeption von Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen in dieser Arbeit zu entwickeln, werde ich im Folgenden auf die postfundamentalistische Sozial- und Subjekttheorie Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes rekurrieren und diese mithilfe von Stuart Halls theoretischen Überlegungen konkretisieren. Eingenommen wird dabei eine subjektivierungstheoretische Perspektive. Diese kennzeichnet es, sich mit der von Foucault aufgeworfenen Frage zu beschäftigen, »wie in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden« (Ricken/Casale/Thompson 2019: 7). Subjektivierungstheoretische Perspektiven zeichnen sich deshalb dadurch aus, ein »dualistisches Denken zwischen Autonomie und Heteronomie, Freiheit und Macht etc.« (ebd.) zu vermeiden und stattdessen ihre Verwobenheit vor dem Hintergrund der »historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen und Formen« (ebd.) ihres Auftretens zu untersuchen. Das bedeutet, dass sich jeweils die Frage danach stellt, wie in bestimmten historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten bestimmte Vorstellungen von Autonomie und Heteronomie, Freiheit und Macht hervorgebracht, von Menschen angeeignet und diese dabei zu bestimmten Subjekten werden. Da subjektivierungstheoretische Perspektiven in ihren unterschiedlichen Theoriebezügen die Kontingenz von Subjektformationen betonen, liegt es m.E. nahe, auf postfundamentalistische Ansätze zu rekurrieren. Wie Marchart (2013: 11) ausführt, bezeichnet der Begriff des Postfundamentalismus »die moderne Abwesenheit letzter Gründe (wie Gott, Vernunft oder Geschichte)«, nicht »aller Gründe«. Oder, wie Marchart (2010: 16) andernorts schreibt, »einen Prozess unabschließbarer Infragestellung metaphysischer Figuren der Fundierung und Letztbegründung […] – Figuren wie Totalität, Universalität, Substanz, Essenz, Subjekt oder Struktur, aber auch Markt, Gene, Geschlecht, Hautfarbe, kulturelle Identität, Staat, Nation etc.«. Für die

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Vertreter*innen des Postfundamentalismus ist insbesondere der Begriff des Politischen bedeutsam. Dieser weist auf die Begrenztheit von Geltungsansprüchen hin und auf die Notwendigkeit, Gemeinschaft immer wieder neu zu gründen. Bei allen postfundamentalistischen Theoretiker*innen findet sich der Rekurs auf Heideggers Verständnis der »ontologischen Differenz« und einer korrespondierenden Unterscheidung zwischen »der ontischen Ebene alles Seienden und der ontologischen Ebene des Seins« (ebd.: 71) als Differenz. Nach Heidegger ist die abendländische Metaphysik immer damit beschäftigt gewesen, nach Letztbegründungen zu suchen, obwohl es eigentlich darum gehe, den Unterschied zwischen Sein und Seiendem als nicht zu beseitigenden Unterschied zum Thema zu machen. Stattdessen sei also über »das Problem der Gründung unter den Bedingungen der Abwesenheit des Grundes« (ebd.) nachzudenken. In Rekurs auf Hall, Laclau und Mouffe möchte ich im Folgenden auf diese Überlegungen aufbauend eine »minimale Anthropologie« des Subjektes konzipieren, die sich in einem Verständnis des Subjektes als »Mangel« kristallisiert, welches in »Momenten der Entscheidung« für diskursive Subjektpositionen zum Vorschein kommt. »Mangel« ist bei Laclau und Mouffe generelles Kennzeichen diskursiver Strukturen, nämlich, dass diese von Dislokationen, was Verschiebungen bedeutet, geprägt sind. Dislokationen sind in ihrem Verständnis wesentlich für die Existenz eines Subjektes, da es, so ihre Argumentation, ohne Dislokation, die für eine Unabgeschlossenheit der diskursiven Struktur sorgt, keine Subjekte geben könne, die zur Sprache gebracht werden könnten und müssten, da ihr »Ort« bereits als fundamental gegeben sei. Ohne Dislokation wäre dann erstens das Subjekt und zweitens – bildungstheoretisch bedeutsam – auch die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen und also unterschiedliche Positionen einzunehmen, sowie Veränderung und/oder die Entstehung von Neuem unmöglich. Laclau und Mouffe präsentieren zudem ein explizit politisches Verständnis der sozialen Welt und ihrer Subjekte, demzufolge vor dem Hintergrund der Unmöglichkeit, Gesellschaft essenziell zu (be-)gründen, um die Art ihrer Repräsentation andauernd Auseinandersetzungen stattfinden und daher keine Ebene der Gesellschaft als unpolitisch betrachtet werden kann. Mithilfe Laclaus und Mouffes lassen sich diskursive Strukturen und ihre Subjekte in genereller Hinsicht als kontingent und politisch konzeptualisieren. Der Rekurs auf Stuart Hall ermöglicht es zudem, der Frage nach der Bedeutung spezifischer Machtungleichheiten, z.B. des Rassismus, nachzugehen, als auch die mit Laclau und Mouffe konzeptualisierte Handlungsfähig-

4 Subjekt- und Sozialtheoretische Perspektive

keit der Subjekte weiter zu konkretisieren. Vor allem ist es dann ein Verständnis des Subjekts, das in diskursive Strukturen eintreten muss, um sprechbar, d.h. ein anerkanntes Subjekt zu sein. Dabei müssen jedoch die Anrufung durch andere und die eigene Positionierung gegenüber der Anrufung nicht übereinstimmen. Vielmehr ermöglichen die Vielfalt von möglichen Identitätspositionen und die Unabschließbarkeit der Struktur jeweils auch kreative Umgangs- bzw. Aneignungsweisen mit und von diskursiven Verhältnissen. Hall nehme ich als Ausgangspunkt der Beschäftigung mit Laclau und Mouffe. Auf diese gehe ich ein, da sie seine wesentlichen theoretischen Referenzen ausmachen. Hall geht aber, wie bereits erwähnt, auch über Laclau und Mouffe hinaus und denkt weit konkreter über Identität und kulturelle Zugehörigkeit nach, als Laclau und Mouffe dies tun. Es ergibt sich dann ein Verständnis von Selbst-, Fremd- und Weltbezügen als relational miteinander verwoben, aber nicht ineinander aufgehend, ein Verhältnis, das im Anschluss an die folgende Betrachtung noch genauer beleuchtet werden soll. Beginnen möchte ich nun zunächst mit einer kurzen, einführenden Diskussion des artikulationstheoretischen Verständnisses von subjektiver und kultureller Identität bei Hall. Dabei werde ich auf beispielhafte Anwendungsfelder verweisen. Ich werde im Anschluss an diese Einführung, um zu einem besseren Verständnis des Ansatzes zu gelangen, genauer auf Laclaus und Mouffes Diskurstheorie zu sprechen kommen und diese danach wieder in Bezug zu Halls Verständnis setzen.

4.1

Kurze Einführung: Stuart Halls Verständnis von (kultureller) Identität als artikuliert

Hall (2018: 142) versteht Identitäten als unabgeschlossen und ohne »fixen Wesenskern«. Zu diesem Zweck schlägt er vor, anstelle von Identität vom »Prozess der Identifikation – was Identitätspositionen einzunehmen bedeutet –« zu sprechen. Hall (2004: 173) führt in diesem Zusammenhang den Begriff der Artikulation ein. Identitäten, so argumentiert er, sind als Ergebnis einer »erfolgreichen Artikulation oder ›Verkettung‹ des Subjekts in den Lauf der Diskurse« oder als »Punkte temporärer Verbindungen mit Subjektpositionen, die aus diskursiven Praktiken hervorgehen«, zu begreifen. Er versteht Identität als so etwas wie einen »Kreuzungspunkt« (ebd.) zwischen Subjekt und Diskursen. Hall (ebd.: 167) bezieht sich daher, wenn er von Identität spricht, auf ein Konzept der Identität in einer »enttotalisierten und dekonstruierten

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Fassung«. Während er einerseits der Kritik an »cartesianischen« Vorstellungen des Subjektes folgt, möchte er andererseits mangels Alternativen doch nicht gänzlich auf die Konzepte der Identität sowie der kulturellen Identität in ihren »ethnischen, ›rassischen‹ und nationalen Konzeptionen« (ebd.) verzichten. Sie müssen ihm zufolge allerdings »under erasure« (ebd.: 168), d.h. durchgestrichen, gedacht werden. Zwar passt der Begriff der Identität1 nicht, worauf die Durchstreichung hinweist, in Ermangelung eines besseren Begriffes müsse aber mit ihm weitergearbeitet werden, wenn auch nicht in der alten Art und Weise. Identität versteht Hall darüber hinaus als von zentraler Bedeutung im Kontext von »Politik« und »Handlungsfähigkeit«. Der Signifikant Identität sei von immenser Bedeutung für moderne politische Bewegungen. In diesen seien die Instabilitäten und Widerstände, die zu einem Verständnis von Identität ohne festen Wesenskern gehören, allerdings auch deutlich sichtbar. So ist Identität für Hall (ebd.) neben ihrer Bedeutung für politische Bewegungen zudem schwer zu umgehen, wenn der Versuch unternommen wird, »die Beziehung zwischen Subjekten und diskursiven Praktiken« zu konzeptualisieren. In seinem Verständnis ist der Begriff der Identität in diesem Kontext jedoch leicht irreführend. Weit besser sei es, von »Identifikation« statt von Identität zu sprechen. Dies erlaube ein Verständnis von Identität als Ergebnis eines Prozesses der »Subjektivation durch diskursive Praktiken«, die immer auch mit »Politiken des Ausschlusses« einhergehen. Clifford (2007: 24) erläutert die Konsequenzen dieses, hier nur einführend angerissenen, Verständnisses von Identität als Artikulation am Beispiel der Konsequenzen für einen (nicht-essenzialistischen) Zugang zu Kultur und kultureller Tradition. Eine artikulierte Tradition [»articulated tradition«] sei als eine Art kollektive Stimme zu verstehen, die zugleich kontingent und konstruiert sei. Das Verständnis einer sozialen oder kulturellen Formation [»social or cultural formation« (ebd.)] als artikuliert führt Clifford dazu, diese als eine Art politische Koalition oder, aufgrund ihrer Möglichkeit, disparate kulturelle Elemente zu verbinden, als eine Art »Cyborg« (ebd.) zu begreifen. Demgegenüber stehen nach Clifford klassische Konzepte kultureller oder sozialer Formationen, die diese als organisch gewachsene und weiterwachsende, lebende und gleichzeitig andauernde, körperliche Gebilde verstehen. In einem solchen – essenzialistischen – Verständnis sei es für einen sozialen Körper schwierig, ohne spezifische lebenswichtige Körperteile zu über1

Die Durchstreichung geht auf Halls Konzeptualisierung von Identität als »under erasure« zurück.

4 Subjekt- und Sozialtheoretische Perspektive

leben, bspw. ohne Herz oder Lunge. Es ist dies ein Verständnis, das sich vielerorts etabliert hat, nicht zuletzt in internationalen Diskursen – etwa der UNESCO – über vom »Aussterben« bedrohte Sprachen (vgl. Moseley 2010). Aus Perspektive des Artikulationsansatzes wird nun zwar zugestanden, dass die je gegebenen spezifischen Möglichkeiten der Artikulation von kulturellen »Elementen« historisch bedingt (und damit auch eingeschränkt) sind. Gleichzeitig seien diese aber nicht notwendig und es könne von keiner natürlich gegebenen Gestalt einer sozialen oder kulturellen Formation ausgegangen werden. Insofern, so argumentiert Clifford (2007: 24), ermögliche es das Konzept der Artikulation in einer nicht-essenzialistischen Art und Weise über kulturelle Transformation und das Kommen und Gehen von kulturellen Formen und Traditionen nachzudenken. Er veranschaulicht die Bedeutung dieser Art, kulturelle Formen zu verstehen, am Beispiel sogenannter indigener Gesellschaften. Diese würden trotz vielfacher gewaltförmiger und grundlegender Transformationen fortbestehen, trotz »few (or no) native language speakers, as fervent Christians, and with ›modern‹ family structures, involvement in capitalist economies, and new social roles for women and men« (ebd.). Einer klassischen Konzeption kultureller oder sozialer Formationen als lebende Organismen, argumentiert Clifford, sei es nicht möglich, diese Prozesse zu integrieren, ohne vom Sterben des sozialen oder kulturellen »Organismus« auszugehen. Es werden in diesem Beispiel sowohl historische Prozesse, hier der gewaltsamen Kolonisierung, als auch eine gewisse Handlungsmacht der Akteur*innen sichtbar, insofern ein Spielraum gegeben zu sein scheint, Machtverhältnisse in spezifischer Art und Weise, vor dem Hintergrund historisch bedingter Möglichkeitsräume, auszudeuten. Die Bedeutung, die ein hallsches Verständnis sozialer oder kultureller Formationen als artikuliert hat, zeigt Clifford (2007: 21) auch am Beispiel der spezifischen Bedeutung von Unabhängigkeit bzw. Dekolonisierung im pazifischen Raum auf. Hier, so argumentiert er, finden sich eigene Konzeptionen von Tradition, die Ausdruck spezifischer lokaler Geschichten und ihrer Kämpfe seien. Weil die politische Dekolonisierung im pazifischen Raum zu einer Zeit erfolgreich gewesen sei, in der nationale Souveränität aus vielerlei Gründen zunehmend weniger eine realistische politische Möglichkeit schien, als dies zu früheren Zeiten in anderen geografischen Orten der Fall gewesen sei, lasse sich eine andere Form der Konstruktion nationaler Identität vorfinden, die weniger die Unabhängigkeit und stärker die Vernetzung des Lokalen, Regionalen, Nationalen und Globalen betone. Dabei würden etablierte »Traditionen« mit neueren Prozesse der ökonomischen Globalisierung artikuliert

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

und also kulturelle Identität vor dem Hintergrund der gegebenen Möglichkeiten hervorgebracht. Diese Formen seien daher immer als Ausdruck der historischen wie aktuellen kulturellen und sozialen Gegebenheiten sowie der vor diesem Hintergrund vorzufindenden Möglichkeiten, erfolgreich Gemeinschaft zu erzeugen, zu verstehen. Ein anderes Beispiel, das nach Hall (2018: 157) von besonderer Bedeutung in der Diskussion von kultureller Identität ist, sind »nationale Kulturen«, die in ihrer Art und Weise »kollektive Identität [zu] konstruieren […] um den nationalen Signifikanten herum organisiert [sind], dessen Funktion darin besteht, Differenz-als-Einheit zu repräsentieren, um all ihre konstitutiven Elemente als Identität zu vergegenwärtigen«. Allerdings hätten diese nationalen Kulturen realiter »komplexe Geschichten« und seien von »inneren Differenzen« durchzogen, sodass die Repräsentation als Einheit nur vor dem Hintergrund der »Ausübung kultureller Macht« erfolgreich sein könne. Es sei daher wichtig, sich nationale Kulturen, wie kulturelle Identitäten überhaupt, »diskursartig« vorzustellen (ebd.). Sie sind nach Mecheril (2003: 25) als Zugehörigkeitsordnungen zu begreifen, in denen »spezifische Dominanzverhältnisse« vorherrschen, für die »nach ethnischen und kulturellen Kriterien strukturierte Ressourcenverteilungen kennzeichnend sind«. Aus der Perspektive der Artikulation geht es somit weniger um die Authentizität und Echtheit kultureller Ausdrücke, Identitäten und Gemeinschaften, sondern vielmehr um die politische Überzeugungskraft, mit der in machtvollen und ungleichen Situationen Gemeinschaft, d.h. ein »Wir«, erzeugt werden kann (vgl. auch Hall 2018: 181): In articulation theory, the whole question of authenticity is secondary, and the process of social and cultural persistence is political all the way back. It’s assumed that cultural forms will always be made, unmade, and remade. Communities can and must reconfigure themselves, drawing selectively on remembered pasts. The relevant question is whether, and how, they convince and coerce insiders and outsiders, often in powercharged, unequal situations, to accept the autonomy of a »we«. (Clifford 2007: 26) Der obige Exkurs zu einem artikulationstheoretisches Verständnis von sozialer und kultureller Identität sollte verdeutlichen, dass Hall Identität in nichtessenzialistischer Ausrichtung als politisch2 versteht, indem er sie in Zusam2

Der Begriff des Politischen wird bei Ernesto Laclau (und Chantal Mouffe) in Differenz zum Begriff der Politik genutzt, um damit »das Problem der Gründung unter Bedin-

4 Subjekt- und Sozialtheoretische Perspektive

menhang mit der fortlaufenden machtvollen Gründung von Gemeinschaft in Abgrenzung von anderen Gemeinschaften setzt. Identität stellt sich dann als Ausdruck gegebener Möglichkeiten der Artikulation und als Gegenstand wie Ergebnis sozialer Auseinandersetzungen dar, die auch mit der Formung und Umformung sozialer und kultureller Identitäten einhergehen. Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse, so lässt sich vor dem Hintergrund des bisher Diskutierten angeben, werden von Hall diskurstheoretisch gedeutet. Sie begegnen sich bzw. finden sich an sogenannten Kreuzungspunkten miteinander artikuliert, Kreuzungspunkte, die, wie eingangs angesprochen, vonseiten der Subjekte mit Prozessen der Identifikation in Zusammenhang stehen. Da die Theorie der Artikulation, wie Hall sie versteht, auf Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes diskurstheoretischen Ansatz zurückgeht (vgl. Hall 2000: 66), möchte ich im Folgenden diesen Ansatz zunächst erläutern, um ein besseres, weil fundierteres, Verständnis der Konsequenzen für die Konzeptualisierung von Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen zu entwickeln. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe stehen darüber hinaus in einer »ähnlichen Theorietradition wie Stuart Hall und knüpfen an Foucaults Diskursbegriff, Althussers Ideologietheorie, Gramscis Hegemoniekonzept, die Sprachphilosophie des späten Wittgenstein sowie an Lacans Subjekttheorie und deren Weiterführung durch Žižek an« (Spies 2010: 126). Insofern diese Vielfalt an gemeinsamen theoretischen Referenzen von Hall sowie von Laclau und Mouffe einerseits zu vielfältig und andererseits theoretisch zu voraussetzungsvoll sind, um sie jeweils im Einzelnen detailliert zu erläutern, werde ich mich auf diese Referenzen i.d.R. sekundär, über Hall, Laclau und Mouffe sowie deren Kritiken vermittelt, beziehen und dies auch gungen der Abwesenheit des Grundes« (Marchart 2010: 71) ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen. Dabei stellt sich die Frage, wie eine bestimmte Gemeinschaft je instituiert werden kann. In der Antwort auf diese Frage gibt es in der politischen Theorie zwei Traditionen, von denen meist entweder die eine oder die andere betont wird. Diese sind ein Bezug auf ein assoziatives Verständnis des Politischen in einer auf Hannah Arendt zurückgehenden Tradition oder aber auf ein dissoziatives Verständnis des Politischen in einer auf Carl Schmitt zurückgehenden Tradition (vgl. ebd.: 38f.). In einem assoziativen Verständnis des Politischen finden Gründungen durch die gemeinsame Sorge von Menschen um ihr Gemeinwesen statt, welches sich im selben Moment (re-)konstituiert. In einem dissoziativen Verständnis des Politischen geschehen Gründungen politischen Gemeinwesens immer durch einen Antagonismus, d.h. durch Rekurs auf ein konstitutives Außen. Die beiden Aspekte lassen sich jedoch nicht völlig unabhängig voneinander betrachten, stiftet doch Dissoziation auch Gemeinwesen und weist damit ein assoziatives Moment auf.

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

nur insoweit, als es mir für das Verständnis von Identifikationsprozessen, das ich im Folgenden vorstelle, notwendig erscheint.

4.2

Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes diskurstheoretische Perspektive

Laclaus und Mouffes3 diskurstheoretischer Ansatz4 lässt sich dem Feld der poststrukturalistischen bzw. postfundamentalistischen Theoriebildung zurechnen. Postfundamentalistische Perspektiven gehen von einem Ende des »Zeitalters der Gewissheiten« (Marchart 2010: 8) aus. Ein Zeitalter, in dem sich »die politischen Fundamente, Prinzipien oder Werte, auf denen die Gesellschaft errichtet ist, […] als brüchig« (ebd.) erweisen. Es ist daher möglich und aus der Perspektive postfundamentalistischer Ansätze auch notwendig, auf Universalien zu verzichten, die nicht kontingent, umstritten und umkämpft, also vorläufig, sind. Als zentrale Begriffe in Laclaus und Mouffes hegemonietheoretischem Ansatz lassen sich u.a. »Diskurs«, »das Politische«, »Antagonismus«, »Hegemo3

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Die Publikation »Hegemonie und radikale Demokratie« ist ein gemeinsames Werk von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Chantal Mouffe hatte damit maßgeblichen Anteil an der Erarbeitung dieses diskurstheoretischen Ansatzes. Die weitere, vor allem auch subjekttheoretische, Ausarbeitung und Ausdifferenzierung des Ansatzes geschah vor allem durch Ernesto Laclau, während sich Chantal Mouffe stärker der Anwendung auf den Bereich der Politik zuwandte. Nach Distelhorst (2007: 69ff.) lässt sich Laclaus Werk in 3 Phasen unterteilen. Zum einen in eine frühe, noch von einem essenzialistischen Klassendenken geprägte Phase. Des Weiteren in eine mittlere Phase, die sich vom »Klassenreduktionismus« löst und vor allem in einer gemeinsamen Publikation mit Chantal Mouffe (1985) mit dem Titel »Hegemonie und radikale Demokratie« Ausdruck findet und in der eine postfundamentalistische Theorie der Hegemonie in Abkehr vom klassischen marxistischen Essenzialismus der Ökonomie entwickelt wird. Eine dritte Phase ab 1998 ist durch die Ausarbeitung eines (veränderten) Subjektbegriffes gekennzeichnet, der durch den Einbezug der psychoanalytischen Theorie Lacans beeinflusst wurde, sowie durch die Weiterentwicklung der für den theoretischen Ansatz zentralen Konzepte des »leeren Signifikanten« und des »Antagonismus«. Ich werde mich im Folgenden hauptsächlich auf die zweite und dritte Phase beziehen. Da es sich in der Weiterentwicklung eher um Ausdifferenzierungen als um grundsätzliche Umarbeitungen handelt, werde ich dabei die Phasen nicht trennscharf voneinander behandeln, sondern vor allem in ihrer Aktualität darstellen, auch da Laclaus Konzeptualisierungen eher in einer Vielzahl von Artikeln denn systematisch in Form einer Monografie dargelegt wurden.

4 Subjekt- und Sozialtheoretische Perspektive

nie«, »Dislokation«, »Differenz/Äquivalenz«, »leerer Signifikant«, »Entscheidung« und »Mangel« festhalten. Diese stehen in keiner notwendigen Reihenfolge, sondern sind eng aufeinander bezogen und nicht ohne die jeweils anderen Begrifflichkeiten sinnvoll verwendbar. Als übergeordnetes Thema lässt sich die unauflösbare Aufeinanderbezogenheit von Universalität und Partikularität angeben, die alle Konkretisierungen und Anwendungen der laclauschen und mouffeschen Theorie und damit auch ihr Verständnis der Welt und des Subjektes durchzieht.

4.2.1

Strukturalismus/Poststrukturalismus

Laclaus und Mouffes theoretisches Denken ist poststrukturalistisch geprägt und bezieht sich somit – diese in ihrer Begrenztheit kritisierend – auf die strukturale Linguistik, so wie sie zuerst durch Ferdinand de Saussure zwischen 1877 und 1913 (vgl. Saussure 1997) ausgearbeitet und etwa von Lévi-Strauss (1958) auf die ethnologische Analyse in Form einer strukturalen Anthropologie angewendet wurde. Ferdinand de Saussure bricht in seinem Verständnis der Sprache mit einer ganzen Theorietradition, der Scholastik, die seit Aristoteles davon ausging, dass Laute und Schriftzeichen, sogenannte Signifikanten, eine Repräsentationsfunktion übernehmen, indem sie ursprüngliche »Signifikate (=Vorstellungen in der Seele)« (Lüdemann 2011: 43) zum Ausdruck bringen. In diesem – alten – Verständnis bildet Sprache eine wirkliche (fundamentale bzw. universale) Wirklichkeit ab. Wie dies geschieht, ist dabei durchaus arbiträr, d.h., es können verschiedene Ausdrücke zur Bezeichnung verwendet werden. So wird etwa »dieselbe Vorstellung (z.B. die Vorstellung ›Baum‹) mit verschiedenen Laut- und Buchstabenfolgen […] (Baum, arbor, tree, arbre)« (ebd.) verknüpft. Insofern ist Sprache künstlich, als sie die Wirklichkeit abbildet, sie ist aber an diese Wirklichkeit dennoch direkt gebunden, insofern sie diese repräsentiert. Saussure stellt nun diese Repräsentationsfunktion der Sprache und damit den Wirklichkeitsbezug der Signifikate infrage. Anstelle eines Verständnisses der Sprache als mit der Wirklichkeit identisch stellt Saussure nun ein Konzept der Artikulation und versteht Sprache als ein System von Differenzen. Anstelle einer vorgeordneten Wirklichkeit (Präsenz) sind Signifikanten der Effekt eines Prozesses der Differenzierung (vgl. ebd.: 45). Das bedeutet, dass sich erst in der Differenz zu anderen Lauten und Zeichen die Bedeutungen der einzelnen Zeichen ergeben. Insofern sind Bedeutungen erst in einem System von Bedeutungen als System von Differenzen verständlich.

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In kritischer Relektüre Saussures geht etwa Derrida nun von der »Vorgängigkeit der Struktur [aus], nämlich der schon bekannten Differenzialität der Sprache (›ohne positive Einzelglieder‹), die jeden Signifikanten, auch das gesprochene Wort, zum Signifikanten von Signifikanten macht (und nicht von Signifikaten)« (Lüdemann 2011: 67). Dabei ist die Artikulation der Wörter bzw. Elemente einer Sprache bzw. Struktur dem Sinn der einzelnen Wörter vorgängig. Weniger der Inhalt, sondern vielmehr die Beziehung zu anderen Elementen des Systems bestimmt nun, was sich mit einem bestimmten Ausdruck sagen oder meinen lässt. Ein solches Verständnis der Sprache hat weitreichende Auswirkungen, insofern nun Identitäten nicht notwendig sind und bspw. […] sexuelle Identität sich nicht aus irgendeinem vorgegebenen »Wesen« der Frau oder des Mannes ergibt oder […] kulturelle Identität nicht in der natürlichen Substanz des Blutes oder des Volksgeistes wurzelt, sondern dass diese und andere Identitäten, sofern sie sich überhaupt stabilisieren lassen, von den sie konstituierenden Differenzen unweigerlich bewohnt und insofern in sich gespalten, nicht-identisch bleiben. (Lüdemann 2011: 48) Dies geht aber bereits über Saussures expliziertes5 Verständnis der Sprache hinaus und ist vielmehr explizites Merkmal poststrukturalistischer Ansätze, zu denen sich derjenige Laclaus (und Mouffes) zählen lässt, die aber ohne Saussures Verständnis der Sprache als System der Differenzen nicht möglich gewesen wären. Bevor es also möglich ist, von Poststrukturalismus zu sprechen, ist es zunächst bedeutsam, zu verstehen, dass sich strukturalistische Ansätze auf das Verständnis der Sprache von Ferdinand de Saussure berufen, dieses nun aber auf andere Bereiche anwenden, die sie ebenfalls wie eine Sprache betrachten und beschreiben. So etwa »Verwandtschaftssysteme, Mythen und Heiratsregeln (Claude Lévi-Strauss), das Unbewusste (Jacques Lacan), die Mode, das Essen, den Sport (Roland Barthes), den Common Sense (Clifford Geertz), ja die Kultur insgesamt« (Lüdemann 2011: 49). Als Analyseform eröffnete der Strukturalismus den Geistes- und Sozialwissenschaften

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Implizit ist dieses Verständnis, wie Derrida nachweist, bereits bei Saussure angelegt. Dieser versucht in Derridas Lesart jedoch (verzweifelt) an einer vielleicht auch für sein eigenes Selbstverständnis wichtigen Wahrheit festzuhalten, dass nämlich die Sprache vor der Schrift komme. Dem liegt der Versuch zugrunde, eben nicht mit der Trennung Signifikat–Signifikant zu brechen. Wie Derrida nachweist, gelingt ihm dies jedoch nicht (vgl. Lüdemann 2011 65ff., Derrida 1974).

4 Subjekt- und Sozialtheoretische Perspektive

eine nachvollziehbare und nachprüfbare Methode, ähnlich den Methoden der Naturwissenschaften, und hier liegt einer der Gründe für seine enorme Popularität. Dabei ist es bedeutsam, dass die Ansätze davon ausgehen, dass die diskursiven Strukturen den Akteur*innen nicht direkt zugänglich sind und es daher analytischer Verfahren bedarf, um sie aufzuzeigen. Dementsprechend wird nach den »bedeutungsunterscheidenden Elementen, aus deren differenzieller Organisation die jeweiligen kulturellen Systeme aufgebaut sind« (ebd.: 50) gesucht, und zwar häufig in Form von fundamentalen »Bedeutungsgegensätzen« wie »[d]as Rohe und das Gekochte, Natur und Kultur, wildes und zivilisiertes Denken, Haltung und Affekt« (ebd.). Nun neigt die strukturalistische Analyse vielerorts zur Verfestigung dieser von ihr analysierten Gegensätze. Anstatt sie explizit als Unterscheidungen zum Zweck der Analyse zu behandeln – hier ist eine wesentliche Kritik am Strukturalismus zu finden –, wird ihnen häufig universalistischer, d.h. ontologischer Status zugesprochen. Ein solches Vorgehen findet sich bspw. bei Lévi-Strauss, wenn er nach menschlichen Universalien in den Strukturen der Verwandtschaft oder der universellen Gültigkeit der Unterscheidung roh-gekocht, als Beispiel der überall, d.h. in allen Kulturen, vorzufindenden Differenzierung zwischen Natur und Kultur, sucht (vgl. Leach 1998: 23ff., 107ff.). Obwohl bei Lévi-Strauss die Suche nach menschlichen Universalien dominiert und dies aus postfundamentalistischer Perspektive kritisiert werden kann, hat Lévi-Strauss mithilfe des strukturalistischen Vorgehens ein hierarchisierendes Kulturverständnis, so wie es lange Zeit für die Ethnologie und die Sozialwissenschaften prägend war, grundlegend kritisiert. Denn zwar lassen sich Unterschiede in den Ausdrücken finden, diese stehen aber in seinem Verständnis nur für andere Ausprägungen der gleichen universellen menschlichen Eigenschaften, welche in einer »Allgemeingültigkeit mentaler Strukturen und […] Gemeinsamkeit menschlichen Denkens auf der Strukturebene« (Amborn 1998: 353) als strukturierendes und strukturiertes Gitter wurzeln. Die empirische Realität ist somit aus strukturalistischer Perspektive nie direkt als Realität zugänglich, auch sogenannte »Ureinwohner« (bei Lévi-Strauss) haben keinen direkten, unmittelbaren Zugang zu ihrer Umwelt, sondern der Zugang zur Welt ist immer sprachlich-kulturell und das Kulturelle – wie Laclau schreiben würde – politisch strukturiert. Bei allen Strukturalisten findet sich daher die Vorstellung, dass eine »aktuell lebende Gesellschaft mit allen ihren Lebensäußerungen nur jeweils einen Teilausschnitt der latent vorhandenen Strukturen realisiert« (Amborn 1998: 355). Dieses Verständnis führt auch etwa

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Foucault dazu, das »Ich« historisch zu verorten und sich für Strukturtransformationen zu interessieren, für Transformationen, die für die Vertreter*innen strukturalistischer Ansätze noch schwer vorstellbar sind, für die Strukturen in ihrer Typik auch nach gesellschaftlichen Umwälzungen weiterhin bestehen bleiben (vgl. ebd.: 357).

4.2.2

Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes nicht-essenzialistisches Diskursverständnis

Der klassische strukturalistische Ansatz versteht Sprache als ein System der Differenzen, bei dem die Bedeutung des einzelnen Ausdrucks »rein relational ist und nur durch seinen Gegensatz zu allen anderen bestimmt wird« (Amborn 1998: 357). Wenn aber Ausdrücke/Bedeutungen nur in differenzieller Relation zu allen anderen bestimmt werden können, muss das System in sich geschlossen sein, weil es ansonsten nicht möglich wäre, »derart die Bedeutung jedes Elements zu fixieren« (ebd.). Aus Sicht Laclaus und Mouffes (2006: 150) stellt sich nun die Frage, wie es Veränderung geben kann, wenn keine Artikulation von Gemeinsamkeiten und Verschiebung der Differenzen möglich ist. Sie verstehen diskursive Systeme aus diesem Grund, anders als Lévi-Strauss, keineswegs als eher starr und wenig transformierbar. Stattdessen bedeutet die Kritik am Strukturalismus »einen Bruch mit dieser Auffassung eines vollständig konstituierten, strukturellen Raumes« (ebd.). Hier setzt Laclaus und Mouffes Kritik am Strukturalismus, exemplarisch für poststrukturalistische Perspektiven, an: Als das linguistische Modell in das allgemeine Feld der Humanwissenschaften eingeführt wurde, war dieser Effekt von Systematizität vorherrschend, so daß der Strukturalismus zu einer neuen Form von Essentialismus wurde: zu einer Suche nach den zugrundeliegenden Strukturen, die das inhärente Gesetz jeder möglichen Variation bilden. (Laclau/Mouffe 2006: 150) Poststrukturalismus steht also nicht für die Überwindung des Strukturalismus, sondern für einen Bruch mit bestimmten Prämissen des Strukturalismus, vor allem mit dessen Essenzialismus. Das grundlegende – saussuresche – Verständnis von Sprache/Diskurs als ein System von Differenzen findet sich daher in abgewandelter Form bei allen Poststrukturalisten angelegt. Wird mit einem essenzialistischen Verständnis gebrochen, ergibt sich die Konzeption eines »relationalen Raumes«, der unfähig ist, sich selbst als Raum ein für alle Mal zu konstituieren. Saussure kritisierend beziehen sich Laclau

4 Subjekt- und Sozialtheoretische Perspektive

(und Mouffe) auf Derridas Verständnis der »Iterabilität«. Damit wird gesagt, dass eine Differenz zwischen Zeichen niemals fixiert werden könne, sie werde von Kontext zu Kontext, in dem sie geäußert wird, neu erzeugt und modifiziert. Anders als Saussure dies tut, muss also von einem andauernden »Gleiten der Differenzen und damit der Bedeutung von Zeichen« (Hebekus/Völker 2012: 37) ausgegangen werden. Laclau und Mouffe kritisieren allerdings Derridas Verständnis von Iterabilität, »weil dieses in letzter Konsequenz zu einer vollständigen Differenzlosigkeit, einer ›Allfluidität‹ des Diskurses führe« (Hebekus/Völker 2012: 38). Demgegenüber ergibt es aus ihrer Sicht nur dann Sinn, von Diskurs zu sprechen, wenn weder völlige Fixiertheit noch völlige Nicht-Fixiertheit angenommen werde. Aus diesem Grund bringen sie den Begriff der Artikulation ins Spiel, der für eine »Praxis« der »Etablierung einer solchen ›partiellen Fixierung‹« (ebd.) steht. Dies ist für Laclau und Mouffe die Grundoperation von Politik: »Akte der Fixierung, aber auch des Aufbrechens von Verbindungen zwischen politischen (besser: politisierbaren) Diskurselementen; Akte jedoch, für die es in keinem Fall letzte Gründe gibt« (ebd.: 39). In ihrem Diskursverständnis orientieren sich Laclau und Mouffe (2006: 143) an Saussures Verständnis der »Regelmäßigkeit eines Systems struktureller Positionen« und an Foucaults (2008: 471ff.) Verständnis einer diskursiven Formation, wie er sie in der Archäologie des Wissens beschrieben hat. Diskursive Formationen in diesem Sinne kennzeichnet die »Referenz auf ein und dasselbe Objekt, gemeinsamer Stil in der Produktion von Aussagen, Konstanz der Begriffe und Referenz auf ein gemeinsames Thema« (Laclau/Mouffe 2006: 142). Laclau argumentiert, dass diese von Foucault und Saussure beschriebene notwendige Gemeinsamkeit linguistischer Identitäten aus nicht-essenzialistischer Perspektive folgenreich sei. Damit sich ein System der Differenzen instituieren kann, bedarf es in Laclaus und Mouffes Verständnis immer einer Grenze. Das ist aus nicht-essenzialistischer Perspektive paradox und folgenreich, weil es aus dieser Sicht keine natürlich gegebene Grenze geben kann: Eine erste und rein formale Betrachtung kann diesen Punkt klären helfen. Von Saussure wissen wir, daß Sprache (und in Verlängerung: alle Signifikationssysteme) ein System von Differenzen ist, daß linguistische Identitäten – Werte – rein relational sind und daher die Gesamtheit von Sprache in jeden einzelnen Akt der Bezeichnung involviert ist. Nun in diesem Fall wird klar, daß Totalität essentiell notwendig ist: Würden die Differenzen sich zu keinem System zusammenschließen, dann wäre überhaupt keine Signifikation möglich. Wie auch immer besteht das Problem darin, daß die eigentli-

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

che Voraussetzung der Signifikation das System ist und die eigentliche Voraussetzung des Systems dessen Grenzen sind. (Laclau 2002: 66)

Antagonismus und Dislokation Vor dem Hintergrund dieses Paradoxons, der Notwendigkeit der Grenzziehung bei gleichzeitiger Unmöglichkeit einer natürlich gegebenen Grenze, führen Laclau und Mouffe das Konzept des Antagonismus ein, das für eine nicht-essenzialistische Grenze steht, die den Diskurs einschränkt und damit Signifikation überhaupt erst ermöglicht. In Verweis auf Judith Butler ließe sich ein Antagonismus auch so verstehen, dass durch diesen der Raum des Intelligiblen, des bedeutungsvoll Sag- und Machbaren, konstituiert wird (vgl. Distelhorst 2007: 63). Insofern steht Antagonismus auch für die »Grenze der Gesellschaft [bzw. besser: des Sagbaren] und über das Jenseits dieser Grenze kann vom Standpunkt des Innen keine Aussage getroffen werden« (ebd., meine Einfügung). Aus Sicht Laclaus und Mouffes (2006: 61) zeigt die Notwendigkeit antagonistischer Grenzziehungen für die Möglichkeit des diskursiven Systems gleichzeitig auch die Unmöglichkeit eines wirklich geschlossenen Systems auf. Diese Unabschließbarkeit spiegelt sich ihnen zufolge in einer prinzipiellen Unsicherheit jeder linguistischen Identität und manifestiert sich daher auch in einer kontinuierlichen Bewegung, d.h. Veränderung, von Differenzen. Werden Ordnungen infrage gestellt und verändern sich dadurch die Grenzen eines Systems, so betrifft dies konsequenterweise auch seine linguistischen Identitäten bzw. die in ihm erzeugten äquivalenten Differenzen, die erst in Relation zu allen anderen Differenzen ihre spezifische Identität gewinnen. Der Begriff des Antagonismus hat in Laclaus (und Mouffes) Theorie mehrere Varianten. Er bezeichnet (1) einen grundlegenden, konstitutiven Antagonismus, der sich der »Möglichkeit [entzieht], durch Sprache erfasst zu werden, da ja Sprache nur als Versuch einer Fixierung dessen existiert, was der Antagonismus untergräbt« (Laclau/Mouffe 2006: 165). Hier findet sich bei Laclau und Mouffe wie bei fast allen postfundamentalistischen Theorien eine Anlehnung an Heideggers ontologische Differenz (vgl. auch Marchart 2010: 59ff.). Ontologisch ist, dass es »immer einen Antagonismus geben muss, wenn es ein System geben soll« (Distelhorst 2007: 75). In diesem Rahmen können sich dann, so Distelhorst (ebd.), (2) »konkrete Ontologien« entwickeln, diese seien aber von der Kontingenz des Rahmens beeinflusst. Der je konkret-existierende Antagonismus ist damit »quasi-ontologisch«, insofern er

4 Subjekt- und Sozialtheoretische Perspektive

ein bestimmtes System von Differenzen etabliert und intelligibel macht. Die in diesem Rahmen stattfindenden – empirischen – politischen Auseinandersetzungen und Kämpfe sind nun wiederum (3) ontische Antagonismen. Nur die erste Form entspricht dabei Heideggers Verständnis des Ontologischen, die beiden zweiten sind als empirische Varianten zu verstehen. Es lassen sich mit Laclau und Mouffe also zwei Dimensionen des Antagonismus beschreiben: eine »fundamentale und eine empirische« (Distelhorst 2007: 75). Auf ontologischer Ebene ist also jedes System und jede Identität immer durch die, wie Laclau schreiben würde, abwesende Anwesenheit des Antagonismus untergraben und insofern kann keine Identität je abgeschlossen sein. Allerdings könnten auch konkrete empirische, dem diskursiven System aber äußerliche, Umstände Störungen bzw. Dislokationen verursachen (vgl. Distelhorst 2007: 77). So wird das Antagonistische von Laclau (und Mouffe) auch an empirische Verhältnisse gekoppelt. Da diese nicht vorhersehbar sind und natürlichen, historischen und politischen Veränderungen unterliegen – als ein dem diskursiven System äußerliches Beispiel ließe sich der Klimawandel anführen –, »wird die Kohärenz des Systems ständig von seinem Außen unterlaufen und von einer tingenz [sic!] gestört, die an seinen Grundfesten rüttelt« (ebd.). Diskursive Systeme sind demnach immer gebrochen und unsicher und Störungen bzw. Dislokationen gibt es also auf allen Ebenen, der ontologischen und den empirischen, der quasi-ontologischen und der ontischen (vgl. auch Arndt 2008: 31).

Eine politische Theorie der Signifikation Das soeben erläuterte laclausche und mouffesche Verständnis der Unmöglichkeit von Systematizität ohne die Existenz eines grundlegenden Antagonismus6 ermöglicht Laclau und Mouffe nun eine »politische Theorie der Signifikation« (Marchart 2010: 213). Da sie von der Unmöglichkeit ausgehen, ein diskursives System (ontologisch und quasi-ontologisch) abschließend zu instituieren, Gemeinschaft aber dennoch gegründet werden muss, stellt sich 6

Beiden Polen – Antagonismus und System – ist es dabei eigen, nicht erreichbar zu sein, weil sie sich damit selbst auflösen würden. Stattdessen subvertieren sie sich gegenseitig, sorgen für eine ontologische radikale Kontingenz und sind für das Soziale konstitutiv (vgl. Laclau 2006: 169). Systematizität ist damit nie gänzlich möglich, aber auch nie gänzlich unmöglich, so die leitende Argumentation. Es ist dies das grundlegende Argument der ontologischen Differenz, das in Laclaus (und Mouffes) Theorie immer wieder auftaucht und auf dem alle anderen Konzepte sowie ihre politische Theorie der Hegemonie fußen.

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fortlaufend die Frage nach ihrer (Neu-)Gründung. Deshalb ist für Laclau und Mouffe die Logik der Hegemonie von zentraler Bedeutung. In ihrem Verständnis von Hegemonie beziehen sich Laclau (und Mouffe) auf Gramscis7 Hegemonieverständnis, das sie nicht-essenzialistisch umdeuten. Hegemonie wird von Laclau und Mouffe dann als die Schaffung von Unterstützung zu einem hegemonialen Projekt in einem antagonistischen politischen Feld verstanden (vgl. Hebekus/Völker 2012: 42). Dabei gibt es keine originären Partikularinteressen, bspw. einer Klasse. Der Logik der Hegemonie folgend, versucht je ein partikularer Inhalt eines Diskurses »die unmögliche Aufgabe einer universalen Repräsentation« (Laclau 1999: 136) zu übernehmen und andere Identitäten in einer Äquivalenzrelation zu diesem partikularen Inhalt zu verorten. Dies geschieht durch die Konstruktion von »Knotenpunkten« (Laclau/Mouffe 2006: 151) bzw. »leeren Signifikanten« (Laclau 2002: 65ff.), die sich ihres partikularen Inhaltes weitestgehend entleeren und damit den Versuch unternehmen, »sich selbst als Totalität [zu] bezeichnen« (ebd.: 69), d.h., sich zu universalisieren und dadurch ein System der Differenzen zu instituieren. Es handelt sich dann um ein »hegemoniales Verhältnis« (ebd.). Da, wie bereits dargelegt wurde, in Laclaus (und Mouffes) Verständnis die Schließung eines Diskurses letztendlich unmöglich ist, ist »der für die Übernahme der Darstellungsfunktion ent-

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Hebekus und Völker (2012: 42) stellen Gramscis Hegemonieverständnis wie folgt dar: Hegemonie ist eine Form der Herrschaft und sie unterscheidet sich gleichzeitig von Herrschaft. Nach Gramsci kann eine Klasse »führend« und »herrschend« sein, beides sind zwei Spielarten von Herrschaft, die gegenseitig aufeinander angewiesen sind. Wenn eine Klasse an der Macht ist, ist sie herrschend, sie muss aber auch führend sein, um an die Macht zu kommen und an der Macht zu bleiben. Führend bedeutet in diesem Zusammenhang hegemonial zu werden und zu sein. Das bedeutet bei Gramsci, dass es für eine politische Klasse notwendig ist – er bleibt dabei essenzialistisch dem Klassendenken verhaftet – »ihre eigene politische Leitvorstellung als maßgeblich und als eine solche darzustellen, die auch den politischen Interessen und Zielen dieser anderen Klassen Rechnung trägt. Hegemonial werden eine politische Vorstellung und deren Träger also dann, wenn sie sich als Verallgemeinerungsfähig [sic!] zu präsentieren vermögen, wenn sie sich mit einer Aura des Universellen umgeben« (Hebekus und Völker 2012: 42). Hegemonie ist dann, entgegen vielfältiger (Fehl-)Verständnisse, nicht einfach Unterdrückung, sondern die Schaffung von Unterstützung/Zustimmung zu einem hegemonialen Projekt in einem antagonistischen politischen Feld. Für Laclau sind nun im Unterschied zu Gramsci die antagonistischen Positionen nicht so eindeutig, sie können nicht einfach aus einer bestimmten Stellung im gesellschaftlichen Produktionsprozess hergeleitet werden. Das macht Laclaus (und Mouffes) Bezugnahme antiessenzialistisch.

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leerte Signifikant immer konstitutiv unangemessen« (Laclau 2002: 70). Effekt von diesen daher immer nur partiell gelungenen Homogenisierungen ist es, die ursprünglich politischen Auseinandersetzung zu sedimentieren und damit zu naturalisieren und zu entpolitisieren. Gelungene Hegemonisierung, so argumentieren Laclau und Mouffe, wird zum Bereich des Sozialen, nicht fixierte Elemente eines Diskurses zu temporär fixierten »Momenten« (Laclau/ Mouffe 2006: 143). So ist etwa das uns bekannte Feld der Politik und seine Differenz gegenüber anderen gesellschaftlichen Feldern Ergebnis hegemonialer Auseinandersetzungen und weniger eine »natürliche« Erscheinungsform.8 Laclau und Mouffe (2006: 154ff.) verdeutlichen dies auch an den Beispielen des Humanismus, der Geschlechterdifferenz und der »Arbeiterklasse«, die jeweils in verschiedener Art und Weise mit Inhalten eines Diskurses artikuliert worden sind – und weiter werden – und damit keine »natürlichen« Inhalte besitzen. In diesem Sinne weisen auch Hebekus und Völker (2010: 53) darauf hin, dass die einzelnen Elemente eines Diskurses in verschiedene Richtungen hegemonisiert werden könnten, sie geben die Richtung der Hegemonisierung selbst nicht an. Laclau (2002: 76) bringt dies wie folgt auf den Punkt: In diesem Sinne können verschiedene politische Kräfte in ihren Anstrengungen wetteifern, ihre partikularen Ziele als solche zu präsentieren, die das Füllen des Mangels realisieren können. Hegemonisieren bedeutet, genau diese Füllfunktion zu übernehmen. (Wir haben über Ordnung gesprochen, doch offensichtlich gehören »Einheit«, »Befreiung«, »Revolution«, etc. zur selben Ordnung der Dinge. Jeder Begriff, der in einem bestimmten politischen Kontext zum Signifikanten des Mangels wird, spielt dieselbe Rolle. Politik ist möglich, weil die konstitutive Unmöglichkeit von Gesellschaft sich nur durch die Produktion leerer Signifikanten repräsentieren kann.) So gibt es für Laclau und Mouffe keine natürlich gegebenen »Subjektpositionen«, ein Terminus, mit dem Laclau und Mouffe (2006: 61) hegemoniale Projekte bezeichnen, sondern diese sind immer radikal kontingent und Gegenstand sozialer Auseinandersetzungen. Aus dem Verständnis einer nicht herzustellenden Totalität folgt also eine nicht abzuschließende hegemoniale Praxis der »Transformation der Elemente in Momente« (Laclau/Mouffe 2006:

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Auf differierende Politikverständnisse weist bereits Giovanni Sartori (1973: 7) hin. So bildete sich die heute übliche Differenzierung zwischen Politik und anderen Teilbereichen der Gesellschaft erst nach und nach heraus, insbesondere seit dem 19. Jahrhundert.

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143) durch Artikulation innerhalb hegemonialer Projekte. Zwar kann jeder Inhalt innerhalb eines Systems von Differenzen potenziell zu einem leeren Signifikanten werden. Allerdings gehen Laclau (und Mouffe) davon aus, dass nicht jede politische Bewegung »gleichermaßen in der Lage [ist], ihre eigenen Inhalte in einen Knotenpunkt zu transformieren, der zu einem leeren Signifikanten wird« (Laclau 2002: 74). Es gibt also unterschiedliche strukturelle Ausgangspositionen. Vor diesem Hintergrund geht es Laclau und Mouffe (2006: 194) um radikal-demokratische Politik, d.h. darum, es zu ermöglichen, immer mehr Felder des Sozialen aus ihrer Sedimentierung zu lösen und sie damit zu repolitisieren bzw. zu reaktivieren. Zu diesem Zweck unterscheiden sie zwischen 1) Unterordnungsverhältnissen, »die Unterwerfung eines sozialen Agenten unter die Entscheidungen eines anderen« (ebd.: 190), 2) Unterdrückungsverhältnissen, »jene Unterordnungsverhältnisse, die sich zu Orten des Antagonismus transformiert haben«, (ebd.) und 3) Herrschaftsverhältnissen, »die Reihe jener Unterordnungsverhältnisse, die von der Perspektive eines sozialen Agenten, der außerhalb ihrer steht, als illegitim betrachtet werden und die folglich mit den in einer bestimmten Gesellschaftsformation tatsächlich existierenden Unterdrückungsverhältnissen zusammenfallen können oder auch nicht« (ebd.). Ein bedeutsames Moment ist es dabei, hegemoniale und damit natürlich erscheinende Unterordnungsverhältnisse als Unterdrückungsverhältnisse erkennbar und damit wieder zum Gegenstand von politischen Auseinandersetzungen zu machen. Da es sich bei Unterordnungsverhältnissen in Laclaus und Mouffes Lesart um hegemoniale Verhältnisse handelt, können diese aus einer Position außerhalb des hegemonialen Diskurses als Unterordnungsverhältnisse erkenntlich sein, nicht notwendigerweise aber innerhalb der vorherrschenden diskursiven Formation. Es wird an dieser Stelle erneut deutlich, dass Laclau und Mouffe in empirischer Hinsicht von einer Vielzahl nebeneinander existierender hegemonialer Subjektpositionen ausgehen, die sich auch gegenseitig beeinflussen und dislozieren (können). So ist »das Problem des Politischen das Problem der Einrichtung des Sozialen […], das heißt der Definition und Artikulation sozialer Beziehungen auf einem kreuz und quer von Antagonismen durchzogenen Feld« (Laclau/Mouffe 2006: 193). Das Feld hegemonialer Auseinandersetzungen ist in Laclaus und Mouffes Verständnis also ubiquitär. Allerdings kann die »[…] Praxis der Artikulation als Fixierung/Verlagerung eines Systems von Differenzen nicht bloß aus rein sprachlichen Phänomenen bestehen […]. Sie muss vielmehr die gesamte ma-

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terielle Dichte der mannigfaltigen Institutionen, Rituale und Praxen durchdringen, durch die eine Diskursformation strukturiert wird« (Laclau/Mouffe 2006: 145). Diskurs, so wird an dieser Stelle von Laclau und Mouffe deutlich gemacht, wird von ihnen also nicht nur als sprachliches Phänomen verstanden, sondern bezieht sich auch auf die Vielfalt von nicht-sprachlichen Elementen. Ein Diskurs ist für Laclau und Mouffe also ein nicht endgültig fixierbares strukturiertes System von Positionen, in das Handlungen und materielle Gegenstände ebenso einfließen wie Sprache: Was eine differentielle Position und deshalb eine relationale Identität mit bestimmten sprachlichen Elementen konstituiert, ist nicht die Idee eines Bausteins oder einer Platte, sondern der Baustein oder die Platte als solche. (Die Verbindung von Ideen eines »Bausteins« hat bisher – so viel wir wissen – nicht zum Bau eines Gebäudes ausgereicht). Die sprachlichen und nicht-sprachlichen Elemente werden nicht bloß nebeneinandergestellt, sondern konstituieren ein differentielles und strukturiertes System von Positionen, das heißt einen Diskurs. Die differentiellen Positionen enthalten deshalb eine Verstreuung ganz verschiedener materieller Elemente. (Laclau/Mouffe 2006: 145) Hebekus und Völker argumentieren in diesem Sinne, das Argument unterstützend, »so könnte man mit nur geringer Übertreibung sagen, dass etwa ein Kochrezept oder ein Kleidungsstil a priori weniger politisch ist als zum Beispiel ein bestimmtes Verfahren der Wahl politischer Repräsentanten.« (Hebekus/Völker 2010: 54) Werden diese Überlegungen in Bezug zur vorangehenden Betrachtung von Formen räumlicher Bewegung (vgl. Kap. 2) und zur Kontextualisierung der weltwärts-Mobilität in postkolonialen Diskursen (vgl. Kap. 3) gesetzt, so lässt sich an dieser Stelle argumentieren, dass die dort diskutierte unterschiedliche Bewertung von Formen der räumlichen Bewegung auch als Akte der Grenzziehung zu deuten sind, die als solche im Zusammenhang mit der Konstituierung eines bestimmten Systems an Differenzen stehen. Paul Mecheril benutzt, wie zuvor erläutert, in diesem Sinne den Begriff der Zugehörigkeitsordnung bzw. Differenzordnung, um auf die Relationalität der mehr und weniger etablierten migrationsgesellschaftlichen Positionen im Zugehörigkeitskontext Deutschland hinzuweisen. Die Bewertung von räumlicher Bewegung als Migration oder Mobilität steht dann nicht nur formell in Verbin-

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dung mit Grenzziehungen, sondern weist auf die symbolischen Grenzen der Gesellschaft hin, ist, in Laclaus und Mouffes Worten, als abwesende Anwesenheit sozusagen symbolisierte ontische Grenze, Ausschluss und Einschluss. Deshalb argumentiert Mecheril (2010: 12) auch, dass Migration Grenzen problematisiert, weil Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit keineswegs eindeutig, sondern vielmehr politisch und kontingent sind und die Grenzziehung durch die Anwesenheit der die Differenzordnung mit konstituierenden »Anderen« andauernd in ihrer Legitimität unterlaufen wird. Entsprechend ändern sich auch die Grenzziehungen, wie in der Definition etwa der Kategorie »Mensch mit Migrationshintergrund« deutlich gemacht werden konnte. Im Zusammenhang mit der zuvor vorgenommenen postkolonialen Kontextualisierung der weltwärts-Mobilität zeigte sich zudem, dass die Grenzziehungen vielfach Veränderungen unterworfen sind, die durch soziale Auseinandersetzungen, etwa den Wandel politischer und globaler Systeme im Zuge der Dekolonisierung, angestoßen wurden und werden. Mit Laclaus und Mouffes hegemonietheoretischem Zugang zu gesellschaftlichen Verhältnissen lässt sich nun nachvollziehen, warum diese Verschiebungen nicht unbedingt auch eine Überwindung der mit den jeweiligen Grenzziehungen in Verbindung stehenden Machtverhältnisse bedeuten müssen. Vielmehr ließen sich die zuvor in Anschluss etwa an Ziai diskutierten diskursiven Neuorientierungen globaler Beziehungen, etwa die entwicklungspolitische Orientierung an »Partnerschaft« und etwa die Zugehörigkeitsposition und normative Orientierung der weltwärts-Freiwilligen in deutlicher Kontinuität zu kolonialen Diskursen verorten. Zwar haben sich die Machtverhältnisse einerseits verschoben und lassen sich vielfach Auseinandersetzungen um diese finden, andererseits scheinen sich im Konzept der »Entwicklung viele der für den kolonialen Diskurs prägenden Elemente weiter präsent zu sein. (Global-)Gesellschaftliche Verhältnisse erscheinen vor diesem Hintergrund als solche, die von Machtungleichheiten geprägt sind, welche wiederum diskursive Legitimation erfahren und dadurch besonders wirksam werden. Da es keiner notwendigen Inhalte für spezifische Machtverhältnisse bedarf, weist eine sich verändernde Terminologie nicht notwendigerweise auch auf die Überwindung von Machtverhältnissen hin, die Gegenstand sozialer Auseinandersetzungen waren, welche zu veränderten Terminologien geführt haben. Zeitgleich finden sich Machtverhältnisse allerdings vielfach herausgefordert und sind von Kontingenz durchzogen. Zudem können sich verschiedene ontische Differenzordnungen auch gegenseitig in Frage stellen. So kann etwa die eine ontische

4 Subjekt- und Sozialtheoretische Perspektive

Formation, das eine Feld der Zugehörigkeit, dislozierend auf andere Felder wirken usw. Mecheril (2010: 12) hatte dies für das Beispiel der Migration thematisiert, die spezifische – regionale – symbolische Grenzen der Zugehörigkeit problematisiere, weil sich der Ausschluss vor dem Hintergrund von Kontingenz der Zugehörigkeitsordnungen und des realiter existierenden Einschlusses nicht (dauerhaft) rechtfertigen lasse.

Während die bisherigen Ausführungen sozialtheoretisch orientiert waren, möchte ich mich im Folgenden der Frage nach dem Subjekt zuwenden. Ebenso wie dies für gesellschaftliche Verhältnisse gilt, lässt sich das Subjekt mit Laclau und Mouffe nicht in einem grundlegenden Sinn verstehen. Deshalb wird auch der Begriff des Individuums »einer im Wortsinne unteilbaren Substanz« (Marchart 2013: 382) problematisch: »Was uns im besten Fall bleibt, ist ein Dividuum« (ebd.).

4.2.3

Das Subjekt bei Laclau und Mouffe

In der argumentativen Logik Laclaus und Mouffes wird erst vor dem Hintergrund des von ihnen vertretenen diskurstheoretischen Ansatzes die Rede von einem handlungsfähigen Subjekt möglich. Denn nur dort, wo es keine geschlossene Struktur gebe, sei dieses denkbar. Essenziell für das Subjekt erweise sich deshalb die »Spur der Kontingenz innerhalb der Struktur« (Laclau 1999: 126). So führen Laclau und Mouffe vor dem Hintergrund der Logik des »Mangels«, die auch die Konzeptualisierung einer politischen Theorie der Signifikation ermöglichte, ihr Subjektverständnis ein: Auch die Möglichkeit des Subjektes ist im Scheitern der Welt, »mich als eine ›Modifikation‹ (Modus) ihrer selbst zu konstituieren« (ebd.), begründet. Laclau bringt dies auch wie folgt auf den Punkt: Ich bin dazu verdammt frei zu sein, nicht weil ich eine strukturale Identität besitze, wie die Existenzialisten behaupten, sondern weil ich die strukturale Identität verfehlt habe. Das heißt, daß das Subjekt teilweise selbstbestimmt ist. Diese Selbstbestimmung kann jedoch, da sie nicht ausdrückt, was das Subjekt schon ist, sondern den Mangel, was es an Stelle dessen ist, nur durch den Prozess der Identifikation durchgeführt werden. (Laclau 1999: 128f.) Subjekte sind nach Laclau und Mouffe (2006: 153f.), auch wenn sie keine vollständige strukturale Identität besitzen, dennoch nicht »der Ursprung sozia-

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

ler Verhältnisse«. Sie besitzen keine den »präzisen diskursiven Bedingungen ihrer Möglichkeit« vorgängigen »Fähigkeiten […], die eine Erfahrung ermöglichen«. Erst unter den jeweiligen (notwendig unvollständigen) diskursiven Bedingungen kann ein Subjekt bestimmte Erfahrungen machen. Selbstbestimmung bezieht sich daher für Laclau und Mouffe nicht auf etwas einem Diskurs Vorgängiges, sondern meint eine Selbstbestimmung, die sich innerhalb spezifischer diskursiver Bedingungen ergibt. Laclau und Mouffe (2006: 161) kritisieren damit die klassische Kategorie des Subjektes und ein Verständnis des Subjektes als rational, sich selbst transparent, einheitlich, homogen usw., wenden sich gleichzeitig aber auch gegen ein Verständnis des Subjektes, das völlig in der Struktur aufgeht. Ihr Subjektverständnis ist demnach nichtessenzialistisch und paradoxerweise folgt gerade aus diesem nicht-essenzialistischen Ansatz ein Subjekt, das ein gewisses Maß an Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit besitzt. Insofern keine Identität vollständig sein kann, ist jede Identität für Laclau (1999: 130) »gespaltene Identität«. Erst vor dem Hintergrund der immerzu verfehlten und nie vollständigen strukturalen Identität, vor dem Hintergrund des »Mangels«, werden Subjekte dazu gezwungen, Entscheidungen zu treffen. So ist ein Subjekt zwar in gewisser Weise selbstbestimmt wählend, es ist aber dennoch nicht frei und substanziell. Vielmehr identifiziert und wählt es und tut dabei so, als wäre es ein Subjekt, »ohne [durch Identifikationen] in irgendeiner Weise mit einer gänzlich erneuerten Subjektivität ausgestattet zu sein« (ebd.: 131). Laclau (1999: 124) nennt den »Augenblick der Entscheidung« in Anlehnung an Kierkegaard daher auch einen »Augenblick des Wahnsinns«, und zwar eben weil keine universelle Regel für die Entscheidung existiert. Entscheidung muss daher als etwas begriffen werden, das auf prinzipiell »unentscheidbarem Terrain« stattfindet. Im Unterschied zu anderen Philosophen lehnt Laclau folglich auch jede universelle Entscheidungsgrundlage oder Ethik ab. Es ist wichtig hinzuzufügen, dass es hierbei um die ontologische Ebene geht, denn wie ich zuvor geschildert habe, setzen sich auch Laclau und Mouffe vor dem Hintergrund ethischer Prinzipien empirisch für demokratischere Verhältnisse ein. Von daher wäre eine sich universal gebärdende Ethik in diesem Verständnis immer ein hegemoniales Projekt und damit keine notwendige Entscheidungsgrundlage – was nicht bedeutet, dass der Einsatz für diese Ethik als präferierte Entscheidungsgrundlage nicht sinnvoll und den Einsatz wert sein sollte. Der strukturelle Mangel ermöglicht folglich in Laclaus und Mouffes Verständnis die Konzeption eines handlungsfähigen Subjektes. Daneben führt

4 Subjekt- und Sozialtheoretische Perspektive

Laclau in seinen späteren Arbeiten und vor dem Hintergrund insbesondere einer Kritik Žižeks9 auch ein ontologisches bzw. anthropologisches subjektives »Bedürfnis nach Identifikation« ein. Subjekte kennzeichnet demnach ein Streben nach Identität und Fülle – »ein Streben nach Sein« (Distelhorst 2007: 271), das, so die immer wiederkehrende Logik Laclaus und Mouffes, eben darin gründet, dass es keine Identität gibt. Diese »minimale Anthropologie« (Arndt 2008: 45) entwickelt Laclau unter Bezugnahme auf Lacan. Dies ist insofern passend, als auch bei Lacan das Subjekt »nichts anderes [ist,] als das pure substanzlose Subjekt als Mangel. Es ist dieser Mangel – als das charakteristische Merkmal von Subjektivität –, der jede Identitätskonstruktion durch einen Identifikationsprozess gehen lässt« (Stavrakakis 1998: 179). Vor diesem Hintergrund bezeichnet Laclau (1999: 128) die Möglichkeit des Subjektes auch als »traumatische Tatsache«10 . Sie ist traumatisch, weil die Möglichkeit des Subjektes nur durch die Unmöglichkeit seiner vollständigen Konstituierung gegeben ist und weil daher auch das Streben nach Fülle, d.h. Identität, letzten Endes immer erfolglos bleiben muss. Würden die Subjekte die von ihnen angestrebte Fülle erreichen, wären sie wiederum keine Subjekte mehr. Die Identifikation bedeutet insofern nicht zu vollendende Arbeit an ihrer eigenen Selbstaufhebung. In derart strukturierten Identifikationsprozessen konstituiert sich ein Subjekt, indem es »die Eigenschaften eines Objekts assimiliert und sich nach dessen Vorbild umwandelt« (ebd.). Die Objekte der Identifikation sind

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In Antwort auf Kritiken vor allem Slavoj Žižeks (1998) hat Laclau das Verständnis des Subjektes im Anschluss an das psychoanalytische Subjektverständnis Jacques Lacans weiterentwickelt, die Konzeption dabei aber nicht grundsätzlich neu gedacht. Die Kritik zielte vor allem auf das Fehlen der Diskussion des Subjektes bzw. Laclaus und Mouffes Bestimmung des Subjektes allein als Moment der Entscheidung für eine Subjektposition. Wird das Subjekt bei Laclau und Mouffe noch als »Moment der diskursiven Struktur« (Stäheli 1998: 155, zitiert nach Spies 2010: 131) gedacht, so geht Laclau nun von einem Subjekt aus, das bestimmte Charakteristika besitzt, die dem Diskurs vorgängig sind. Lacan folgend betont Laclau nun stärker den Aspekt der empirischen Dislokation und weniger den Aspekt des ontologischen Antagonismus, »weil Dislokation als eine Begegnung mit den Lacanschen Realen verstanden werden kann. Beide sind Unrepräsentierbar [sic!] und gleichzeitig einerseits traumatisch/disruptiv, andererseits produktiv. Dislokationen sind traumatisch in dem Sinne, daß sie ›Identitäten bedrohen, und sie sind produktiv in dem Sinne, daß sie als Fundament dienen, auf dem neue Identitäten gebildet werden‹« (Stavrakakis 1998: 185; Binnenzitat nach Laclau 1990: 39).

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dabei die Subjektpositionen, hegemonisierte und stets neu zu hegemonisierende Elemente des Diskurses, in letzter Konsequenz wiederum unsichere, »unmögliche Objekte« (Machart 2013). Folglich muss nach Laclau zwischen den Inhalten der Entscheidung/ Identifikation und ihrer Funktion, dem Subjekt eine »abwesende Fülle« zu geben, unterschieden werden. Beide Momente sind allerdings in jedem Prozess der Identifikation präsent. Dabei ist die Entscheidung nicht frei von Regeln, sondern strukturiert, es herrscht »strukturierte Unentscheidbarkeit« (Laclau 1999: 132). Da sich diese unmöglichen Objekte der Identifikation vor dem Hintergrund sozialer Auseinandersetzungen um hegemoniale Repräsentation konstituieren, kann zwar theoretisch eine Vielzahl von Inhalten in der Lage sein, die Rolle des »Objekts der Identifikation« zu übernehmen. Die Subjekte tendieren allerdings dazu, sich in ihren Identifikationen an den vorherrschenden hegemonialen Projekten zu orientieren. Kontexte (Diskurse) limitieren also »faktisch die strukturale Unentscheidbarkeit« und »auch die Anzahl der Inhalte, die zu jedem gegebenen Zeitpunkt die Rolle der universalen Repräsentation übernehmen können« (ebd.), und diese Anzahl der Inhalte ist wiederum in hegemoniale und weniger bis nicht-hegemoniale Inhalte differenziert. In Anlehnung an Chantal Mouffe konkretisiert Laclau, wie er sich die Relation zwischen einem Subjekt und den Inhalten seiner Identifikation vorstellt: Wie Chantal Mouffe betont hat, besitzt ein Subjekt immer eine Vielzahl von Subjektpositionen, da es von verschiedenen Diskursen wie z.B. Geschlecht, Hautfarbe, Klasse oder Nationalität konstituiert wird […]. Wenn einige der subjektkonstitutiven Diskurse sich durch stabile Hegemonieverhältnisse auszeichnen und andere durch Krisen und Umbrüche gekennzeichnet sind (eine Situation, in der alle auf das Subjekt einwirkenden Diskurse vollkommen stabil sind, ist höchst unwahrscheinlich), ist der Grad der sie durchziehenden Unentscheidbarkeit unterschiedlich hoch, da sie in differenziertem Maße von Dislokationen betroffen werden. Während einige Diskurse die Imagination der Schließung aufrechterhalten können, tritt in anderen der Mangel in der Struktur deutlich zu Tage. (Laclau 1999: 57). Subjektpositionen, mit denen Identifikation stattfinden kann, gibt es in einer Vielzahl. Es sind vom Kontext und vom Grad der Auseinandersetzung abhängige hegemoniale Diskurse etwa über Geschlecht, Hautfarbe, Klasse, Nationalität usw., in denen sich die Subjekte sicherlich je nach Hegemonisierung auch nur ganz unterschiedlich verorten können. Es ist also prinzipiell

4 Subjekt- und Sozialtheoretische Perspektive

offen, was beispielsweise die Subjektposition Geschlecht inhaltlich bedeutet. Faktisch ist sie aber immer in bestimmter Art und Weise hegemonisiert und nicht jede Identifikation erscheint auch möglich. Dies wird von Laclau und Mouffe nicht weiter ausgeführt und ist vielleicht deshalb auch Gegenstand von Kritiken, die an sie herangetragen wurden (vgl. etwa Mecheril 2017). Laclau und Mouffe verbleiben hier auf einer abstrakteren Ebene. So ist ihnen zufolge der Grad der Notwendigkeit zur subjektiven Entscheidung abhängig vom Grad der erfolgreichen Hegemonisierung/Sedimentierung der jeweiligen Subjektpositionen. Je erfolgreicher die Hegemonisierung einer Subjektposition, desto weniger offensichtliche Notwendigkeit zur Entscheidung wird von den Subjekten verlangt, insofern die Richtung der Entscheidung stärker vorgegeben ist. In jedem Fall ergibt sich eine Vielfalt an unterschiedlichen hegemonialen Knotenpunkten, die zu Subjektpositionen werden. Diese einzelnen Positionen können sich dabei auch widersprechen (vgl. Spies 2010: 130) und sich daher auch gegenseitig dislozieren. Es wird hier auch verständlich, warum es Laclau und Mouffe als wichtig erachten, möglichst viele Bereiche des Sozialen aus ihrer fixen Verankerung zu lösen. Zum einen sind in diesem Fall mehr bzw. kontingentere Entscheidungen für die eine oder andere Subjektposition notwendig, da ihre jeweilige Kontingenz offensichtlicher ist (vgl. Laclau 1999: 137). Zum anderen können dadurch auch mehr Unterordnungsverhältnisse als Unterdrückungsverhältnisse kenntlich gemacht werden. Distelhorst (2007: 267) zeigt, dass, insbesondere vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit Lacan, Laclaus Subjekt ein äußerst starkes Subjekt ist, »das wie bei Butler in der Lage ist, Protagonist gesellschaftlicher Veränderung zu sein«. Die Betonung von empirischen Dislokationen ist in diesem Kontext sehr wichtig, insofern aus dem andauernden Scheitern des identifikatorischen Aktes des Subjektes eine »nicht abzuschließende Bewegung des Identifizierens [folgt], die sich in wechselnden Identifikationen und deren Objekten widerspiegelt« (ebd.: 273). Laclau bleibt trotz seiner Anleihe bei Lacan allerdings weiter daran interessiert, die Frage der Identifikation mit politischer Bedeutung zu versehen, und er interessiert sich daher weniger für die Identifikation mit »Personen noch Dinge[n] aus dem unmittelbaren Lebensumfeld des Subjekts«, sondern für »im Sozialen existierende diskursive Konstruktionen wie z.B. Geschlecht, Nationalität, Hautfarbe oder auch die Zugehörigkeit zu bestimmten Ideologien« (ebd.: 272). Politik ist neben dem Antagonismus und der Dislokation sowie dem Streben nach Identität des Subjektes die ontologische Kategorie Laclaus: »›Politics‹ is an ontological category: There is politics because there is subversion and dislocation of the

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social. This means that any subject is, by definition, political (Laclau 1990: 61, zitiert nach Distelhorst 2007: 279). Bevor ich auf Halls Verständnis des Subjektes zurückkomme, möchte ich noch kurz auf wesentliche Kritikpunkte eingehen, die Laclau und Mouffe gegenüber vorgebracht worden sind, auch um diese in meinen eigenen Schlussfolgerungen berücksichtigen zu können.

4.2.4

Kritische Einwände und mögliche Erweiterungen der Konzeption des Subjektes

Ein wichtiger Einwand findet sich in Butlers (Arndt: 2008: 40, auf Butler 2000a rekurrierend) Kritik, Laclau verfolge einen »linguistischen Formalismus« und stelle damit einen »transzendentalen Ort außerhalb der sozialen Praxis ins Zentrum der Theorie«. Butler argumentiere nun, dass Laclau auf diese Grundlagen verzichten müsse, um seine Theorie wirklich frei von Metaphysik auszurichten. Arndt hält dagegen, dass Laclau in der Tat eine »minimale Metaphysik« verfolge, diese aber keine determinierten Inhalte oder Entwicklungsrichtungen besitzt, und die »Möglichkeit […] der prinzipiell kontingenten Sozialkonstruktion jedes Bedeutungsensembles« nachweist. Demnach sei dieser Einwand einerseits zwar berechtigt und Laclaus Ansatz komme wirklich nicht ohne Fundamente aus, andererseits sei er aber strikt antiessenzialistisch ausgerichtet. Butler (2000b: 12ff.) trage noch eine weitere Kritik an Laclau heran (vgl. Arndt 2008: 42). So befürchte sie die »Möglichkeit eines Essentialismus des Subjekts« bei Laclau. Potenziell würden sich das Prinzip der Hegemonie und Laclaus Rekurs auf das Lacansche Subjekt als Mangel, das »mit Bezug zum Realen ein unhintergehbares nicht-Repräsentierbares aus[weist,] widersprechen. Insofern das Subjekt als ›Mangel‹ nicht Gegenstand hegemonialer Praxis werden könne und sich somit jeder Kritik und Veränderung entziehe« (Arndt 2008: 43), sei diese Möglichkeit des Essenzialismus vorhanden. Es stelle sich dann die Frage, ob es nicht auch möglich sei, dass sich diese Lacansche Subjektkategorie bei genauerer Hinsicht als kultur- oder zeitrelativ entpuppt, so wie es vielleicht für das »Inzesttabu« und die »Kastrationsszene« bei Freud gilt. In ähnliche Richtung geht ein Einwand Paul Mecherils (2017), der die »Unterstellung eines Bedürfnisses nach Komplettierung« in Laclaus Referenz auf Lacan kritisiert. Eine Setzung, die

4 Subjekt- und Sozialtheoretische Perspektive

[…] aber nur unter der allgemeinen Voraussetzung plausibel [ist], dass ein, was immer dies heißen soll, vorsprachliches und »ungeteiltes Ich« die (Erinnerungs-)Spur bezeichnet, auf deren Fährte sich das mangelhafte Subjekt defizitär begibt. […] Was aber wäre, wenn ein mögliches Subjekt sich, ohne dass ihm dies bewusst ist oder auch nur bewusst sein kann, seinem Mangel hingäbe (und ihn durch Hingabe an den Topos des Mangels aufhöbe, ohne der Illusion aufzusitzen, der Mangel sei irrelevant) und nicht fortwährend, aber zuweilen einem vermeintlich »irgendwie« gegebenen und dadurch relevanten Zustand der Unzerstückeltheit, einem Zustand, der dem Imaginären und der Zergliederung durch die »Selbst«-Gegenüberstellung im nichtsprachlichen und sprachlichen Reflexiven enteilt ist, nicht hinterheragiert – sei es in resignierter Haltung oder als Phänomen des tatsächlich Zur-Sprache-gekommen-Seins, das als prekäres und undurchschaubares Verhältnis erfahren und praktisch bejaht wird? (Mecheril 2017: 77) Es scheint demnach eine bedeutsame Frage zu sein, ob das Subjekt als Mangel und das Begehren des Subjektes diesen Mangel zu füllen, wirklich ein angemessenes Fundament eines Ansatzes sein kann, der sich nicht-essenzialistisch versteht. Allerdings habe ich zuvor bereits argumentiert, dass sich Laclaus Überlegungen auf eine »minimale Anthropologie des Subjekts« beziehen und daher auf keine konkreten empirischen Inhalte. Empirisch könnte ein Füllen des Mangels daher durchaus auch bedeuten, sich mit einer Praxis zu identifizieren, die einem sich dem Mangel hingeben gleichkommt. Allerdings würde dies im Extrem entweder bedeuten, aus der Möglichkeit der Sozialität herauszutreten und kein Subjekt des »Mangels« mehr zu sein, sondern der »Fülle«, oder aber die Praxis der Identifikation zu vervielfältigen. Dementsprechend scheint es daher vielmehr darauf anzukommen, die Kategorien abstrakt genug zu halten, um Butlers und Mecherils Anmerkungen begegnen zu können. Darüber hinaus scheint die Frage danach, ob Laclaus Konzeption des Subjektes kultur- oder zeitrelativ sei, auch für Mecheril eine empirische Frage, sodass, wenn sich wirklich »(historische, kulturelle) Kontexte finden lassen, in denen Subjekte nicht sinnvoll als Orte des Mangels beschrieben werden können, die nach Identifikation streben, die Theorie geändert werden« (Arndt 2008: 44) müsste. Aufgrund der Abstraktheit der Kategorie des Mangels, so argumentiert Arndt, sei es allerdings sehr unwahrscheinlich, dass sich ein Gegenbeispiel auffinden lasse. Die Stärke der laclauschen Konzeption des Subjektes ist, und so wird es in diesen Beispielen m.E. auch deutlich, dass er sie von der Dislokation der Struktur aus entwickelt und den Mangel

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»meist nur konzediert, nicht aber weiter vertieft« (Arndt 2008: 45; vgl. auch Distelhorst 2007: 271). Wichtig ist, was aus dem Mangel folgt, nämlich ein »Streben nach Sein« vonseiten des Subjektes, das sich nicht mit dem Mangel zufriedengibt, zumindest auf ontologischer Ebene, ob dieses dann auf ontischer Ebene bedeuten kann, den Mangel anzunehmen, ist eine andere Frage. Ohne diese minimale Anthropologie, so argumentiert Arndt m.E. überzeugend den kritischen Einwand Butlers umdrehend, gelange man wieder zu weniger Subjekt und zu einer stärkeren Betonung der Subjektpositionen, die ausschließlich von der Struktur aus gedacht werden könnten. Arndt (2008: 49) wiederum kritisiert an Laclau, dass bei diesem das »Soziale«, also »all jenes, dessen politischer, da kontingenter – und somit zu entscheidender – Hintergrund nicht mehr offenbar ist«, in den Hintergrund trete. Das Soziale könnte nach Arndt aber alles Mögliche betreffen, was von Laclau aber nicht weiter ausgeführt werde. So können »die Bedeutung von Wörtern des alltäglichen Lebens, die politischen Institutionen im engeren Sinne, darunter auch deren Zusammenwirken als das, was als Staat bezeichnet wird, habitualisierte Verhaltensweisen, fest verankerte soziale Normen, normative Begründungsmuster aus bestimmten Traditionen […] und vieles mehr« (ebd.) als das Soziale beschrieben werden. Diese Aspekte des Sozialen sind prinzipiell kontingent, aber derart sedimentiert, dass sie tendenziell nicht infrage gestellt werden. Die Frage nach dem Sozialen ist nach Arndt von immenser Bedeutung, um den Zusammenhang zwischen Laclaus Subjektpositionen und dem Subjekt als Mangels zu verstehen, zweier Konzepte, die für Laclaus Subjektkonzeption zentral sind. Subjekte als Orte des Mangels treffen in Praktiken der Identifikation Entscheidungen und Subjektpositionen stellen die Orte dar, die von Subjekten innerhalb teilweise fixierter Ordnungen eingenommen werden. Subjektpositionen sind i.d.R. Teil des Sozialen, als »sedimentierte Subjektivierungsorte […], soziale Rollen, Habitus« (ebd.). Sie sind zeitgleich die Ressourcen, die von der »eigentlich subjektive[n], entscheidende[n] Instanz für Reartikulationen« (ebd.) genutzt werden können bzw. müssen. Ein überzeugende(re)s Subjektverständnis bedarf nach Arndt einer genaueren Klärung der Vermittlungsprozesse zwischen diesen beiden Ebenen, die nicht allgemein, sondern einzelfallspezifisch ausfallen sollte. Er plädiert daher für empirische Untersuchungen von Reartikulations- wie Sedimentierungsprozessen, für die an diskursanalytische oder institutionentheoretische Ansätze angeschlossen werden sollte. M. E. ist die von Arndt hier konstatierte Leerstelle bei Laclau wiederum dessen Versuch geschuldet, nur eine minimale Metaphysik vorzulegen und nicht Gefahr zu laufen, sich in

4 Subjekt- und Sozialtheoretische Perspektive

Festlegungen zu verirren, die wiederum kultur- und zeitrelativ sein könnten. Insofern ist Arndts Kritik zuzustimmen, dass es bedeutsam ist, nach den Vermittlungsprozessen zwischen Subjektpositionen und dem Subjekt als Mangel empirisch zu suchen, ohne eine der Ebenen dabei wieder als Fundament einzuführen. Mecheril (2017: 122ff.) weist noch auf eine weitere Verkürzung der Ansätze, die das Subjekt allgemein als Mangel denken, hin. Diese würden i.d.R. unzureichend auch die Konsequenzen von hegemonialen Subjektpositionen für die Subjekte des Mangels differenzieren. In rassifizierten Strukturen würden bspw. spezifische »racialised subjects« hervorgebracht, welche die Subjekte ganz unterschiedlich »mangelbehaftet« rassifizieren und aufeinander bezogen positionierten. Mecherils Einwand aufgreifend, ist demnach Vorsicht geboten, nicht die empirisch unterschiedliche Anrufung der Subjekte zu vergessen. Etwas, das durchaus geschehen kann, wenn Subjekte vor dem Hintergrund eines ontologischen Mangels der Struktur und der Subjekte fokussiert werden. Es scheint auch dies keine grundlegende Kritik an Laclaus und Mouffes Konzeption des Subjektes, sondern vielmehr eine Anforderung an deren empirische Anwendung, die historisch spezifische und differenzielle Hervorbringung von Subjekten nicht aus den Augen zu verlieren. Arndt (2008: 53) schlägt noch einige Erweiterungsmöglichkeiten vor, die seines Erachtens sinnvoll wären, um »eine tatsächliche Theorie des Subjekts als Instanz, die eine zumindest minimale Anthropologie beinhaltete«, zu entwickeln. Ich möchte auch diese kurz vorstellen. Zum Zweck einer tatsächlichen Theorie des Subjektes, so Arndt, sei es notwendig, einige fundamentale menschliche Merkmale als Grundlage zu nehmen, ohne die sich keine sinnvolle Subjekttheorie konzeptualisieren lasse. Vor allem die nicht-diskursiven Fakten können stärker in die Subjekttheorie einbezogen werden. Bei Laclau würden diese eher formal als die Bedingung der Möglichkeit subjektiven Handelns thematisiert. Es mache jedoch Sinn, konkreter danach zu fragen, woher Dislokationen kommen könnten. Einen Vorschlag macht Arndt (ebd.: 54) indem er auf mögliche dislozierende Faktoren auf der Subjektebene verweist, auf »bedeutungsvolle Wahrnehmungen von Interaktionen mit anderen oder aber von materiellen Faktoren«. Die Interaktion mit anderen könne bspw. dann dislozierend sein, wenn »unterschiedliche partikulare Ordnungen [zusammentreffen] […], die, treten die Subjekte in ein Gespräch, Gegenstand einer gemeinsamen Reartikulation werden können, die die Identitäten der beteiligten Subjekte ändert« (ebd.: 54). Materielle Faktoren würden von Laclau i.d.R. mit dem Sozialen gleichgesetzt, welches aber ebenfalls nicht wei-

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

ter theoretisiert werde. Die »Analyse sedimentierter Subjektivierungspraktiken« sei dann nach Arndt mindestens ebenso bedeutend wie diejenige des Moments der Entscheidung für Subjektpositionen. Neben diesen materiellen Faktoren, den Sedimentierungen des Politischen im Sozialen, lässt sich aber auch nach »tatsächlicher Materialität« (ebd.: 56) fragen, d.h. nach solchen Dislokationen, die von Ereignissen ausgehen, die außerhalb der symbolischen Ordnung liegen. Arndt verweist hier beispielhaft auf Naturkatastrophen, Klimawandel oder den Wandel wirtschaftlicher Voraussetzungen, Ereignisse, die die Möglichkeit für Wandel eröffnen, da sie irgendwie in die symbolische Ordnung eingebaut und zu bedeutsamen Objekten gemacht werden müssen. Insofern, da sie noch nicht in die symbolische Ordnung eingefügt sind, lassen sich in diesen materiellen Faktoren ebenfalls Möglichkeitsbedingungen für subjektive Entscheidungen finden. Einen weiteren Aspekt »tatsächlicher Materialität« verortet Arndt (2008: 57, in Anlehnung an Glynos/Stavrakakis 2004) in der »Körperlichkeit der Subjekte«, wie in »leiblichen Faktoren, die als Schmerz, Hunger, Begehren etc. auftreten«. Es wird deutlich, dass eine Vielfalt von Kritik an Laclaus (und Mouffes) diskurstheoretischem Verständnis (des Subjektes) vorgebracht worden ist. Dieser Kritik, so zeigt sich, entzieht sich Laclaus und Mouffes Ansatz gleichzeitig durch eine nur minimale Metaphysik und minimale Anthropologie des Subjektes, die zu einem nicht-essenzialistischen Ansatz führt und es ermöglicht, das Subjekt- und Weltverständnis zu politisieren. Da sich insbesondere Laclau nicht weiter auf die empirische Ebene gewagt hat, stellen sich wichtige und nicht zu vernachlässigende Fragen, die von einer ungleichen Betroffenheit der »Subjekte« von hegemonialen Subjektpositionen, über die Frage danach, was genau eigentlich das Soziale ausmacht, bis hin zur Frage nach den Möglichkeiten einer Konkretisierung möglicher Dislokationen reichen. Die hier diskutierten kritischen Einwände und Überlegungen der Erweiterung gilt es auch in der weiteren Betrachtung der vorliegenden Arbeit zu berücksichtigen. Im Folgenden wende ich mich nun zunächst wieder Halls Subjektverständnis zu, das auf Laclau und Mouffe aufbaut, dieses aber auch erweitert.

4.3

Stuart Halls Verständnis des Subjektes

Vor dem Hintergrund des laclauschen und mouffeschen Verständnisses der diskursiven Subjekt- und Weltkonstitution kann Halls einführend vorgestell-

4 Subjekt- und Sozialtheoretische Perspektive

ter Bezug auf kulturelle und subjektive Identität klarer werden. Hall schließt direkt an Laclau und Mouffe an, geht aber an einigen Stellen auch über diese hinaus. Wo eingangs vor allem auf kulturelle und soziale Identität eingegangen wurde, möchte ich dies nun vor dem Hintergrund der Diskussion Laclaus und Mouffes um Halls Subjektverständnis bzw. das spezifische Interesse, aus dem er sich auf dieses Subjektverständnis bezieht, und seine spezifische Konkretisierung ergänzen. Zunächst lässt sich aus der Diskussion von Laclau und Mouffe festhalten, dass sie Subjekte, welche i.d.R. als teilweise kohärent wahrgenommen werden, dezentriert, als Momente der Artikulation zwischen Subjekt und Diskurs, konzipieren. Dies ist etwas verwirrend, insofern hier ein doppelter Subjektbegriff aufscheint. Einerseits ist das Subjekt die Artikulation und andererseits gibt es etwas der Artikulation Vorgängiges, was noch nicht Subjekt ist, aber gewissermaßen physischer und psychischer Träger des Subjektes und Ausgangspunkt der Artikulation. Es ist wohl u.a. auch diese etwas uneindeutige Konzeption, die Hall (2004: 173) dazu führt, die Artikulation, den Moment des Subjektes, als Identität zu bezeichnen: Ich gebrauche Identität, um auf den Punkt des Vernähens (to suture) zu verweisen, zwischen Diskursen und Praktiken auf der einen Seite – die Anrufung, uns als diskursiv bestimmtes Wesen zu verorten – und Prozessen, die Subjektivitäten produzieren [,] auf der anderen Seite – die uns als Subjekte konstruieren, die sich »sprechen« lassen, die verständlich sind. In obigem Zitat wird bereits deutlich, dass Hall auch über Laclau (und Mouffe) hinausgeht, insofern er hier neben dem Konzept des Vernähens, das sich als ein anderes Wort für Artikulation verstehen lässt, von »Anrufung«11 spricht.

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Hall ergänzt Laclaus und Mouffes Konzeption des Subjektes um das Konzept der »Anrufung« von Althusser, das von Butler weiterentwickelt wurde (vgl. Rose 2016: 331; vgl. auch Broden/Mecheril 2010: 8; Mecheril 2006). Althusser, so erläutern Broden und Mecheril (2010: 8), verstehe »Ideologie produktiv«, weil sie Subjekte »ermöglich[e]« und »erzeug[e]«, indem sie durch »imaginäre ›große Subjekte‹ (wie beispielsweise Gott oder Nation) angerufen werden«, welche sich in der Folge als spezifische Subjekte konstituierten. Subjektivierung, darauf weisen Broden und Mecheril hin, »denkt Althusser als Herrschaft, als Unterordnung des Individuums«. Sie kritisieren seine Konzeption als deterministisch, weil »›Abweichung‹, ›Widerstand‹, aber auch ›Unvorhergesehenes‹ nicht angemessen vorkommen« würden. Butler, so erläutert Rose (2016: 331), gehe an dieser Stelle über Althusser hinaus, indem sie die Möglichkeit eines »großen Subjekts« bezweifele, die Wirksamkeit von Anrufungen abzusichern. Dies gelinge in But-

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Dabei tritt Hall nicht in Widerspruch zu Laclau und Mouffe, ergänzt diese eher wesentlich. Ich werde gleich genauer darauf eingehen, aber für diesen – nun partiell fixierten – Moment zunächst beim Anschluss an die Konzeption des Subjektes bei Laclau bleiben. Die Konzeption des Subjektes als artikuliert bedeutet, dass das »tatsächliche« (Arndt 2008: 43) Subjekt als »Instanz des unhintergehbar Eigenen« immer nur in der Handlung der Identifikation aufgefunden werden kann, sozusagen »in actu«. Erst in der Verknüpfung mit Diskursen bzw. Subjektpositionen wird es möglich, sinnvoll bzw. überhaupt etwas sagen zu können: »Wir müssen positioniert sein und wir müssen uns positionieren, um sprechen zu können« (Spies 2017: 76). Das bedeutet nicht, für immer in dieser Position verhaftet zu sein, sie kann auch später wieder aufgegeben werden. Wie zuvor argumentiert wurde, gibt es zudem eine Vielzahl möglicher Subjektpositionen, die in Differenz und Äquivalenz und daher immer auch potenziell in einem gewissen Widerspruch zueinander stehen. Dieses Verständnis, das sich aus Laclaus und Mouffes Konzeption des Subjektes herleiten lässt, ist von immenser Bedeutung für Hall. So argumentiert er, dass niemand nur auf eine Subjektposition, z.B. als Migrant*in, Mann*Frau reduziert werden könne und Subjektpositionen bzw. ihre Vernähung mit Subjekten auch »›strategisch‹ – im Sinne Spivaks (1988)«12

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lers Verständnis nur, weil Anrufungen »zitatförmig« seien, Wiederholungen im Sinne Derridas. Diesen Wiederholungen sei nun aber eine »Ungenauigkeit eingeschrieben« und ein »Zitat […] nie vollständig das Original. In diesem Verständnis sei die Möglichkeit von Veränderung angelegt. Normen, so wird in Rekurs auf Althusser und Butler deutlich, sind in diesem Verständnis auf »ihre Wiederholung durch die Subjekte angewiesen«, Subjekte die sich gegenseitig an diese Normen erinnern. Die Wirksamkeit dieses Prozesses interpretiert Butler auch als »Ausbeutung des Begehrens jedes Menschen […] in den Augen der anderen ›jemand (anerkennbares)‹ sein zu wollen« und nicht den »sozialen Subjektstatus zu riskieren« (ebd.), den die Norm ermöglicht. Hall verweist hier auf den Begriff »Strategischer Essentialismus«, der von Spivak geprägt wurde. Wie Mackenthun (2017: 142) erläutert, wird dabei die »Theoretisierung von ›Klassenbewusstsein‹ in die postkoloniale Theorie übertragen«. Klasse werde von Spivak nicht-essenzialistisch als »Konstrukt« verstanden und daher Klassenbewusstsein von ihr als »›strategische‹ Solidarität« konzipiert, die sich zur Überwindung des Konstrukts der Klasse erst als ebensolche konstituiert. In der Übertragung auf postkoloniale Theorie mache Spivak dann »essentialisierende Identitätskonstrukte als Ermächtigungsstrategien« erkennbar. So seien essenzialisierende Stereotype, die durch den Kolonialdiskurs eingeschrieben worden sind, zwar einerseits »empirisch falsch«, würden im politischen Kampf für gleiche Rechte auch aufgrund der Einschreibung essenzialistischer Vorstellungen von Identität in den juristischen Diskurs aber »strategische Wirkung« (ebd.: 143) entfalten. Insofern sei das Konzept des Strategischen Essen-

4 Subjekt- und Sozialtheoretische Perspektive

(Spies 2017: 77) verstanden werden müsse. Vorsicht sei aber geboten, diese gewisse »Freiheit« des Subjektes nicht mit »Selbstreflexivität« zu verwechseln, denn es sei vor dem Hintergrund der Subjektkonstitution im Diskurs »nicht möglich, die eigene Identität zu reflektieren und sie vollständig zu kennen« (Spies 2017: 77, auf Hall 1999a: 85 rekurrierend). Dem Diskurs vorgängig, so wurde bereits im Rekurs auf Laclau und Mouffe deutlich, und Hall hält ebenfalls an diesem Verständnis fest, ist nur ein Subjekt des »Mangels«, ein Subjekt, das sich mit hegemonialen Subjektpositionen identifizieren und sich ihnen dabei »unterwerfen« (ebd.: 78) müsse, um eine Identität bzw. besser: um Identitäten (im Plural) zu erlangen und damit sprechbar sowie sprechfähig zu werden. Da dieses Subjekt niemals vollständig sein könne und sich immer wieder neu identifizieren und hervorbringen müsse, spricht Hall (2004: 176) auch vom »Subjekt[…]-im-Werdegang«. Die zuvor bereits kurz diskutierte und dort erst einmal zurückgestellte kritische Frage Paul Mecherils an die Subjekttheorie Laclaus und Mouffes erlangt im Kontext des hallschen Subjektverständnisses wieder Bedeutung. Mecheril hatte eingewandt, dass »Ansätze, die das Subjekt als Mangel denken, [dazu] tendieren […], spezifische Mängel, Knappheiten und Unzulänglichkeiten zu vernachlässigen« (Broden/Mecheril 2010: 10f., vgl. Mecheril 2017). Broden und Mecheril argumentierten vor dem Hintergrund der Explikation der Subjektivierung in rassistischen diskursiven Strukturen, dass es der Konzeption des Subjektes als Mangel nur zu leicht passieren kann, Strukturen sozialer Ungleichheit außer Acht zu lassen, die Subjekte ganz unterschiedlich rassifizieren und rassifiziert mit (mehr oder weniger) und ohne Mängel diskursiv verorten. Wenn alle Subjekte Subjekte des Mangels seien, so die zu kritisierende Logik, dann komme es auf die spezifischen Ausprägungen dieses Mangels nicht mehr an. Diesen Aspekt kritisiert auch Hall (2000: 73) an Laclau und Mouffe, wenn er schreibt, dass sie »die Frage der historischen Kräfte, die die Gegenwart produziert haben und die nach wie vor als Schranken und Determinanten einer diskursiven Artikulation fungieren, nicht berücksichtigt« haben. Der Einwand ist nun nicht existenziell gegen Laclaus und Mouffes subjekttheoretischen Ansatz gerichtet, dieser könne weiterverwandt

zialismus von einer zentralen Spannung geprägt: »Der Begriff beinhaltet somit eine nicht zu überwindende Spannung zwischen dem Drang nach einer Entzauberung humanistischer und essentialistischer Reste in der vom Poststrukturalismus geprägten postkolonialen Theorie und Forschungspraxis und der politischen Notwendigkeit Einheit stiftender Konzepte« (ebd.: 144).

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

werden, Hall kritisiert vielmehr die Benutzung der Begriffe auf einer »sehr hohen analytischen Abstraktionsebene«, die sie ins »hier und jetzt« einfügen würden, ohne sodann »verschiedene [– konkretere  – ] Bestimmungsebenen« hinzuzufügen (Hall 2000: 74). Eine wesentliche Bestimmungsebene, die nach Hall hinzugefügt werden muss, ist dabei diejenige der Produktion rassistischen Wissens: Die verschiedenen Weisen, in denen schwarze Menschen und schwarze Erfahrungen in den dominanten Repräsentationsregimes positioniert und unterworfen wurden, waren Effekte einer gezielten Ausübung von kultureller Macht und Normalisierung. Wir wurden durch jene Regimes nicht nur im Sinne von Saids »Orientalismus« innerhalb der Wissenskategorien des Westens als unterschiedene und andere konstruiert. Vielmehr hatten sie die Macht, uns dazu zu bringen, dass wir uns selbst als Andere wahrnahmen und erfuhren. (Hall 2012: 29f.) Wie Spies (2010: 135) in Anlehnung an Hall verdeutlicht, finden wir uns mit einer Vielzahl von sich in Bewegung befindlichen Subjektpositionen konfrontiert, die wir potenziell zeitweilig alle zu Objekten der Identifikation machen könnten. Gleichzeitig macht Hall in obigem Zitat auch deutlich, dass nicht nur die Subjekte selbst über ihre präferierten Identifikationen mit hegemonialen Subjektpositionen entscheiden, sondern dass sie auch – von den sie umgebenden anderen in Interaktionen und Institutionen – als bestimmte Andere erkannt und in bestimmte Subjektpositionen »hineingerufen«13 (Spies 2010: 136) werden. Diese Identifikationen sowohl der eigenen als auch der Zugehörigkeit zu Subjektpositionen der anderen, das wird mit dem obigen Zitat deutlich, haben eine spezifische Geschichte, die von daher nicht außer Acht gelassen werden kann. Was für die Geschichte des Rassismus gilt, ist in anderer Art und Weise auch für Subjektpositionen wahr: Nicht nur sind Subjektpositionen also in einem generellen Sinne subjektkonstitutiv (wenn auch immer mangelhaft), sondern die Möglichkeiten der Identifikation mit ihnen sind höchst unterschiedlich verteilt und diese Möglichkeiten gehen auf (eine) hegemoniale Geschichte zurück. Dieses Verständnis lässt sich gut in Laclaus und Mouffes Ansatz integrieren, auch insofern sie »Diskurs« sprachlich als auch nicht-sprachlich verstehen und sich deswegen bestimmte Hegemonien auch in Institutionen und Materialitäten einschreiben (können). Für die vorliegende Arbeit ist Halls Hinweis wichtig, da ich zuvor die 13

Spies bezieht sich hier auf das Konzept der »Anrufung«.

4 Subjekt- und Sozialtheoretische Perspektive

Stellung der weltwärts-Mobilität in einer rassifizierten globalen Ordnung thematisiert habe und dies auch im Folgenden weiter bedeutsam sein wird. Das Identifiziert-Werden durch andere jedenfalls, darauf weist Hall hin, könne durch die Subjekte in unterschiedlicher Art und Weise angenommen werden, bspw. indem sie der Identifikation zustimmen und in sie investieren oder, je nach hegemonialem Charakter und (subjektiv/gesellschaftlicher) Bedeutung der Subjektposition, diese mehr oder weniger gut auch ablehnen können. Hall versteht also Identifikation (Vernähung) mit dem Diskurs, als Selbstpositionierung und Anrufung durch andere. Wie sich dabei aus vorherrschenden Subjektpositionen unterschiedliche interaktive Handlungsräume und -ansprüche generieren lässt sich m.E. gut an einem goffmanschen Verständnis vorherrschender Identitätsnormen explizieren (vgl. auch Peters 2013b: 115f., Peters 2009): Zum Beispiel gibt es in einem gewichtigen Sinn nur ein vollständig ungeniertes und akzeptables männliches Wesen in Amerika: ein junger, verheirateter, weißer, städtischer, nordstaatlicher, heterosexueller, protestantischer Vater mit Collegebildung, voll beschäftigt, von gutem Aussehen, normal in Gewicht und Größe und mit Erfolgen im Sport. Jeder amerikanische Mann tendiert dahin, aus dieser Perspektive auf die Welt zu sehen; dies stellt einen Sinn dar, in dem man von einem allgemeinen Wertesystem in Amerika sprechen kann. (Goffman 1975: 158) In diesem Beispiel hat der vorherrschende Signifikant »akzeptables männliches Wesen in Amerika« eine lange, artikulierte Äquivalenzkette, die das Ergebnis bestimmter hegemonialer Diskurse im entsprechenden Raum ist und sich auch in Institutionen und Architekturen eingeschrieben findet. Für Goffman ergeben sich aus den vorherrschenden Identitätsnormen, die aus Diskursen generiert werden, auch ungleich verteilte Handlungsspielräume und mehr oder weniger interaktionelle Möglichkeiten der Diskreditierung von Menschen (vgl. Goffman 1975: 26). Dabei kann im Rekurs auf Goffman deutlich gemacht werden, dass einerseits deutlich ungleich verteilte Möglichkeiten zur akzeptablen Vernähung mit dem Diskurs bestehen, dass andererseits aber »selbst da, wo es um weithin erreichte Normen geht, ihre Vielheit den Effekt [hat], viele Personen zu disqualifizieren« (ebd.: 158), potenziell also eine Vielzahl an Personen in Hinsicht auf die eine oder die andere Norm »disqualifiziert« werden kann. So sollte deutlich werden, dass jede*r potenziell in einem (oder mehreren) antagonistischen Außen der soeben vorgestellten Äquivalenzkette verortet wäre, z.B. als amerikanische Frau oder nicht-ame-

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

rikanischer Mann, oder als alte*r, unverheiratete*r, Schwarze*r, ländliche*r, südstaatliche*r, homosexuelle*r, katholische*r, kinderlose*r, ohne Collegebildung etc. (wobei die Reihenfolge dieser Subjektpositionen keine Aussage über ihre Gewichtung beinhalten soll). Vermutlich wird im Umkehrschluss auch fast jede*r die eine oder die andere Norm der Äquivalenzkette erfüllen und es entstehen Möglichkeiten der Betonung der einen oder der anderen Zugehörigkeiten innerhalb und außerhalb der Normen. Der*die Einzelne kann nach Hall also in eine Position hineingerufen bzw. von anderen als Repräsentant*in einer spezifischen, mehr oder weniger hegemonialen, Subjektposition erkannt werden. Dabei müsse der*die Einzelne sich nicht einmal dieser Zugehörigkeit zu einer spezifischen Subjektposition bewusst sein, er*sie werde schon durch die anderen an die Relevanz der hegemonialen Äquivalenzkette erinnert. Dennoch ist der*die Einzelne dabei nach Hall auch nicht ohne Handlungsmacht. Stattdessen könne ein Subjekt in die Position ganz unterschiedlich investieren, etwa indem es die Subjektposition mehr oder weniger anerkenne und/oder sich darum bemühe, anders gelesen und erkannt zu werden (vgl. Spies 2010: 136). Und auch die spezifische Ausrichtung der Knotenpunkte ist Veränderungen unterworfen und kann verändert werden. Hall exemplifiziert dies auch anhand seiner eigenen Biografie. Nachdem er aus Jamaika nach England gegangen war, hätte es nahegelegen, sich als Immigrant zu identifizieren – dies zumindest war die Subjektposition, in die ihn die anderen in England hineingerufen hatten. Stattdessen wird die Bezeichnung Immigrant erst in dem Moment für ihn bedeutsam, in dem er in Jamaika, mit dem er sich fraglos identfizierte, die Erfahrung machen musste, als Immigrant gesehen zu werden, was zu der Selbsterkenntnis geführt habe, »dass es genau das ist, was ich bin« (Hall 2012: 80). Erst ab diesem Moment, so schreibt Hall, habe er auch selbst angefangen, in die Subjektposition »Immigrant« zu investieren, indem er sich die Geschichte seiner Migration selbst erzählt und sich zu eigen gemacht habe, zumindest so lange, bis eine andere Identifikation, nämlich als Schwarz, diejenige als Immigrant abgelöst habe. Hall verortet auch diese Identifikation als Schwarz in der Interaktion mit anderen, die ihn als Schwarz identifizierten, indem sie sagten »Du gehörst zur schwarzen Bevölkerung in England. Du bist ein Schwarzer« (ebd.). Die Subjektposition Schwarz war, so erklärt Hall, in der kulturellen Politik Großbritanniens der 1970er-Jahre für antirassistische Kämpfe bedeutsam und ermöglichte es, verschiedene Menschen verschiedener Herkunftskontexte, die alle die Erfahrung des Kolonialismus teilten, unter dem Signifikant

4 Subjekt- und Sozialtheoretische Perspektive

Schwarz als Knotenpunkt zu vereinen. An ihr wird daher die politische Dimension der Subjektpositionen besonders deutlich. Die Nicht-Fixiertheit der diskursiven Struktur wie auch des Subjektes sowie die Vielzahl an vorherrschenden, miteinander in Äquivalenz und Differenz stehenden Subjektpositionen, ermöglicht den Subjekten folglich Handlungsspielraum in der Konstruktion bzw. Investition in ihre Identitäten und auch den Einsatz für andere Formen der Organisation bzw. Ordnung des diskursiven Systems. Dabei ist es nach Hall von Bedeutung, die Historizität des Feldes nicht aus dem Blick zu verlieren, vor dessen Hintergrund sich bestimmte Vorstellungen von »Race«, Nation, Geschlecht, Klasse usw. in Form von hegemonialen Subjektpositionen in den Diskurs, mehr oder weniger fixiert, eingeschrieben haben. Insbesondere wird in der Konzeptualisierung Halls auch die Vielzahl an nebeneinander bestehenden Subjektpositionen deutlich, sodass Möglichkeiten entstehen, Subjektpositionen nicht nur einfach anzunehmen, sondern diese auch nicht-so-anzunehmen und/oder in sie zu investieren, die diskursiven Verhältnisse umzuarbeiten und sich für andere diskursive Verhältnisse einzusetzen. Der Einsatz für andere diskursive Verhältnisse ist dann auch ein wichtiges Anliegen Halls, der als Vertreter der Cultural Studies »immer daran interessiert [ist], nachzuspüren, wie Macht in die Möglichkeiten der Menschen, ihr Leben auf würdige und sichere Art zu verbringen, eindringt, sie beschneidet und sich ihrer bemächtigt« (Grossberg 1999a: 62, zitiert nach Mecheril/Witsch 2006: 11). In der Konsequenz bedeutet diese Lesart für die vorliegende Arbeit, dass ich das von mir untersuchte Feld der entwicklungspolitischen Mobilität auch in seiner Historizität betrachten sollte. Das bedeutet, auch danach zu fragen, welche Subjektpositionen und Knotenpunkte in der entwicklungspolitischen Mobilität vorherrschend waren und wie diese Geschichte die aktuellen Identitäten innerhalb der fokussierten weltwärts-Mobilität beeinflusst. Wie in Rekurs auf Hall deutlich wurde, sollten sich die »Möglichkeiten der Artikulation« in dem von mir untersuchten Feld bzw. den von mir untersuchten Feldern »auch oder sogar insbesondere in biographischen Erzählungen widerspiegeln« (Spies 2010: 140). Insofern ist dieses Subjektverständnis auch für empirische Untersuchungen sehr anschlussfähig. Im Folgenden möchte ich die mir wesentlich erscheinenden Aspekte und Unterschiede bzw. Weiterentwicklungen in Hinsicht auf das Subjekt- und Weltverständnis bei Laclau und Hall noch einmal illustrieren, insbesondere in Hinsicht auf ihr Subjektverständnis. Deutlich werden dabei auf der einen Seite große Überschneidungen mit kleineren Begriffsverschiebungen – bspw.

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

vom Subjekt als Mangel zum Subjekt-im-Werdegang. Auf der anderen Seite werden auch Präzisierungen und Erweiterungen deutlich, bedeutsam in Hinsicht auf Identifikationsprozesse der Selbst- und der Fremdidentifikation, in Hinsicht auf die strategische Möglichkeit, in die eine oder andere Position zu investieren oder auch nicht, in Einklang oder Widerspruch zur Anrufung. Ein bedeutsamer Unterschied liegt auch in der besonderen Betonung der spezifischen historischen Kräfte, die die Gegenwart produziert haben, bei Hall bedeutsam der Rassismus, und welche sich in die diskursive Struktur eingeschrieben haben und die Möglichkeiten, an diese anzuschließen, ungleich verteilen. Daran wird auch ein unterschiedlicher Fokus deutlich. Zwar sind beide Ansätze deutlich politisch und an der Veränderung von Weltverhältnissen interessiert, jedoch fokussiert Hall stärker das empirische »Subjekt (im Werdegang)«, während Laclau und Mouffe stärker an Theoriebildung in Hinsicht auf politische Bewegungen und die Möglichkeit der Veränderung von Strukturen ausgerichtet scheinen.                                        

4 Subjekt- und Sozialtheoretische Perspektive

Tabelle 1: Laclaus & Mouffes vs. Halls Perspektive Laclau/Mouffe

Hall

Subjekt als Mangel

Subjekt-im-Werdegang

Subjekt als Moment der Entscheidung, Eintritt in die diskursive Struktur

Identität als Punkt des Vernähens zwischen Individuum und diskursiver Struktur

Identifikationsprozesse mit vorherrschenden Subjektpositionen

Subjektivationen in Prozessen der Identifikation mit vorherrschenden Subjektpositionen durch Selbst- und Fremdidentifikationsprozesse

Bedingte Handlungsfähigkeit des Subjektes innerhalb der Identifikation mit vorherrschenden Subjektpositionen aufgrund der Möglichkeit/Notwendigkeit, sich zu entscheiden

Bedingte Handlungsfähigkeit des Subjektes innerhalb von Selbst- und Fremdidentifikationsprozessen aufgrund der Möglichkeit/Notwendigkeit, sich zu entscheiden, in die ein oder andere Identifikation »strategisch« zu investieren

Radikal-demokratischer Anspruch: Ungleichheitsverhältnisse offenlegen und politisieren

Radikal-demokratischer Anspruch: Ungleichheitsverhältnisse offenlegen und politisieren – Ziel: weniger Gewalt

Diskursive Struktur ist Ausdruck spezifischer Machtverhältnisse, wodurch die Identifikationsprozesse eingeschränkt sind.

Stärkere Betonung der Bedeutung der Geschichte für die Gegenwart der Identifikationsprozesse und Konsequenzen für spezifische (Un-)Möglichkeiten des Anschlusses an Subjektpositionen durch die Akteur*innen (bspw. Rassifizierung)

(eigene Darstellung)

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5 Anmerkungen zum Bildungsverständnis in dieser Arbeit

In Folgenden möchte ich die in den voranstehenden Kapiteln geführte Diskussion noch einmal in Richtung eines Bildungsverständnisses in dieser Arbeit diskutieren. Eingangs habe ich, in Rekurs auf die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse sowie kritische Anfragen an diese, spezifische Anforderungen an eine empirisch ausgerichtete Bildungsforschung formuliert. Zu diesen gehörte wesentlich die Erarbeitung eines Problemverständnisses sowie eines sozial- bzw. subjekttheoretisch informierten Verständnisses von Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen. Unter Rekurs auf Rucker und Anhalt (2017: 45) habe ich unter anderem argumentiert, dass die »Entstehung, Aufrechterhaltung und Veränderung von Ordnungen« Gegenstand dieses sozial- und subjekttheoretischen Verständnisses sein sollte, da der häufig vorzufindende Fokus auf Transformation einerseits eine Verengung darstelle und andererseits die Normativität des Transformationsverständnisses potenziell verdecke. Zudem wurde deutlich gemacht, dass nicht zuletzt aufgrund ihrer Temporalität und Unverfügbarkeit und daher ihrer Unbestimmbarkeit Bildungsprozesse zwar als Lesart von Äußerungen in den Fokus rücken, in einem grundsätzlichen Sinne aber nicht identifiziert und bestimmt werden können. Auch vor diesem Hintergrund, da es sich bei der empirischen Betrachtung von Bildungsprozessen um eine Lesart und nicht um »Wirklichkeit« handelt, schien es mir wichtig, dass bildungstheoretisch orientierte Forschung die eingenommene normative Perspektive auf Bildungsprozesse explizieren sollte. Diese Überlegungen bilden den Hintergrund des folgenden Kapitels, welches versucht, die vorangehenden sozialund subjekttheoretischen Betrachtungen, für (m)einen Blick auf Bildung fruchtbar zu machen. Zunächst möchte ich festhalten, dass Laclau und Mouffe sowie Hall das Subjekt inhaltlich nicht weiter bestimmen. Stattdessen ist es, mit Ausnahme

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

eines Strebens nach Fülle, mit keinen der Identifikation mit vorherrschenden Diskursen vorgängigen Eigenschaften ausgestattet. So spricht Hall auch von Identität als dem Punkt des Vernähens mit diskursiven Subjektpositionen und, vor dem Hintergrund der Notwendigkeit zu andauernden Identifikationsprozessen, vom Subjekt-im-Werdegang. Auf eine inhaltliche, der Vernähung mit dem Diskurs vorgängige Essenz des Subjektes, die Gegenstand des Wandels sein könnte, wird dabei also explizit verzichtet und stattdessen eine minimale Anthropologie des Subjekts vorgestellt. Das hat mitunter den Vorteil, verschiedene, zeit-, situations- und kontextrelative bzw. -bedingte vorherrschende Vorstellungen dessen, was ein Subjekt ausmacht, in die Konzeptualisierung des Subjektverständnisses integrieren zu können. In diesem Sinne ist also jeweils situations-, kontext- und zeitbedingt bzw. interpretationstextspezifisch zu klären, was die vorherrschenden Bedingungen der Möglichkeit der Subjektkonstitution, als Artikulation mit dem Diskurs, ausmachen könnte. Die Möglichkeiten der Artikulation mit dem Diskurs sind dabei nicht frei, sondern Ergebnis der Geschichte und Gegenwart sozialer Auseinandersetzungen um hegemoniale Repräsentation, die gleichsam immer von grundlegender Unsicherheit, vor dem Hintergrund andauernder Auseinandersetzungen, und von Dislokationen gekennzeichnet ist, die hegemonial gewordene Differenzordnungen herausfordern. Dabei haben es unterschiedliche Akteur*innen mehr oder weniger gut geschafft, ihre Interessen in das Feld des Sozialen einzuschreiben. Es sei an dieser Stelle auch noch einmal an Laclaus und Mouffes (2006: 143) Diskursverständnis erinnert, das sich sowohl auf sprachliche als auch nicht-sprachliche Elemente bezieht, die »ein differentielles und strukturiertes System von Positionen [produzieren], das heißt einen Diskurs. Die differentiellen Positionen enthalten deshalb eine Verstreuung ganz verschiedener materieller Elemente.« So ließe sich argumentieren, dass z.B. die Architektur eines Seminarraumes sowie die spezifische Anordnung von Tischen, Stühlen und anderen Objekten, gemeinsam mit den (bzw. als Teil von) vorherrschenden Subjektpositionen eine bestimmte Verteilung von Identitäten in Form von Lehrkräften und Studierenden nahelegt, bestimmte Formen der Sedimentierung des Diskurses, aus denen eine mehr oder weniger zwingende Notwendigkeit folgt, so und nicht anders die vorherrschenden hegemonialen Subjektpositionen einzunehmen und zu Identitäten zu vernähen. Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse konstituieren sich also durch die Artikulation mit diskursiven Feldern, an deren genaue Ausgestaltung – und damit an die Möglichkeiten der Identifikation – sich, wie zuvor in Anschluss

5 Anmerkungen zum Bildungsverständnis in dieser Arbeit

an Hall erläutert, die Menschen vermittelt auch über materielle und symbolische Institutionen, Rituale und Praxen gegenseitig erinnern. Wird dieses Verständnis nun auf die in bildungstheoretischen Diskussionen etablierte Unterscheidung subjektiver Bezüge in Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse bezogen, so lassen sich diese in der Folge als eng miteinander verwoben konzeptualisieren. Konstitutiv für ihre Ausbildung sind vorherrschende Subjektpositionen, d.h. der jeweilige Stand der Auseinandersetzungen um die Gestaltung von Gesellschaft und die Etablierung hegemonialer Diskurse, die den Gegenstand von Selbstpositionierung und Anrufungen durch andere abgeben und vor deren Hintergrund sich spezifische Weltbezüge ausbilden. Das Subjektverständnis ist demnach in einem grundlegenden Sinne relational. Die in Rekurs auf Hall eingeführte Unterscheidung zwischen Selbstpositionierung im Diskurs und Anrufung durch andere ist bildungstheoretisch zudem von enormer Bedeutung. Einerseits werden dadurch differenzielle Positionen im gesellschaftlichen Diskurs, die gesellschaftlichen Positionen entsprechen, thematisierbar, bspw. indem danach gefragt wird, wie Menschen unterschiedlich in Bezug auf Geschlecht, »Race«, Klasse usw. angerufen werden. So lässt sich thematisieren, wie diese Anrufungen mitunter gesellschaftliche und interaktive Möglichkeiten unterschiedlich verteilen, etwa beschneiden und einschränken. Andererseits kann danach gefragt werden, wie sich Akteur*innen selbst gegenüber diesen Anrufungen positionieren, was diese mit Ihnen machen, was für Möglichkeiten sie nutzen, um in eigenen Arten und Weisen an vorherrschende Diskurse anzuschließen – diese deuten, vielleicht Anrufungen umgehen, uminterpretieren, an ihrem Wandel oder Fortbestehen arbeiten usw. Möglichkeiten des kreativen Umgangs jedenfalls scheinen vielfältig gegeben. So hatte Hall am Beispiel seiner eigenen Biografie argumentiert, dass die Subjektposition, in die jemand hineingerufen wird (hier die des Immigranten), von der als solcher angerufenen Person nicht unbedingt angenommen werden muss, was nicht bedeutet, dass sie keine sozialen und interaktiven Konsequenzen hat. Zudem konnte mit Verweis auf Goffman deutlich gemacht werden, dass es vermutlich niemanden gibt, der*die alle vorherrschende Normen für Identität erfüllt, und daher immer auch die Möglichkeit der Betonung der einen oder der anderen gemeinsamen oder differenziellen Zugehörigkeiten innerhalb und außerhalb der Normen besteht. Dieses Potenzial für subjektive Handlungsfähigkeit, das sich mit Hall und in Anlehnung an Laclau und Mouffe ergibt und das Hall in dem zuvor angeführten Beispiel auch biografisch nutzt, ist auch und gerade für die Bildungsforschung interessant, denn, wie Mecheril und Witsch (2006: 14) ar-

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

gumentieren, »[w]enn man dieses Potential als Bildungsmöglichkeit versteht, als Bildungsprozess untersucht und darüber nachdenkt, aufgrund welcher Ermöglichungsbedingungen sich dieses Potential aktualisieren kann, ist die grundlegende pädagogische und erziehungswissenschaftliche Relevanz angesprochen«. Bildungsforschung, so Gottuck und Mecheril (2014: 104), könne sich aus dieser Perspektive für die Analyse konkreter Wirkungen von Diskursen und ihre kontextbedingten Ausgestaltungen, für die je spezifischen subjektiven Ins-Verhältnis-Setzungen und für Problematisierungen (als Bildungsmomente) interessieren. Vor diesem Hintergrund wende ich mich also der Frage nach Bildung in dieser Arbeit zu. Da es dem hier gewählten Zugang folgend keine inhaltliche Essenz des Subjektes gibt, sondern das Subjekt bzw. seine Identität als Ergebnis andauernder Vernähungen im Diskurs zu verstehen ist, kann es konsequenterweise auch kein essenzielles Verständnis von Bildung oder Bildungsprozessen geben. Dies ist vielmehr als kontext-, zeit- und situationsspezifisch bedingtes Verständnis zu verstehen. Zwar lässt sich in Schäfers (2011a: 13) Worten erwarten, dass »jemand seine Biographie als schwierigen Prozess der Selbstfindung beschreibt, dass Menschen, wenn man sie hinsichtlich ihres Lebenswandels befragt, auf das Recht auf Selbstbestimmung pochen, dass Jugendliche hinsichtlich ihres Musik- oder Modegeschmacks auf authentischen Selbstausdruck verweisen«. Diese Erwartung wie ihre Erfüllung in Selbstbeschreibungen sei allerdings nicht einfach als ein »Gegenkonzept gegen Vergesellschaftung« zu verstehen und stehe nicht etwa für »Individualität, Freiheit, Authentizität oder Autonomie« (ebd.: 9). Vielmehr müssten Erwartung und Erwartungserfüllung als ein gegenwärtiges Phänomen verstanden werden, als etwas, das »sozial vom Anderen erwartet wird und worauf Erziehungsmaßnahmen (paradoxerweise) ausgerichtet sind« (ebd.). Es sei daher notwendig, das »Versprechen der Bildung« (Schäfer 2011a) politisch zu verstehen und die Möglichkeit von Bildung, die an konkrete Inhalte wie etwa Autonomie, Individualität, Emanzipation usw. gekoppelt ist, vor dem Hintergrund hegemonialer Subjektpositionen zu kontextualisieren. Werde Bildung von Politik unterschieden, so sei dies also weniger Ausdruck einer grundsätzlichen Differenz, sondern vielmehr einer hegemonialen Konvention und damit Sedimentierung des Politischen (vgl. ebd.: 119ff.). Wie ich zuvor diskutiert habe, kann das Entstehen einer Theorie transformatorischer Bildung, die sich durch einen Verzicht auf normative Definitionen von Bildung auszeichnet, auch als Ausdruck eines vorherrschenden Diskurses der 1990er-Jahre gedeutet wer-

5 Anmerkungen zum Bildungsverständnis in dieser Arbeit

den, der von einem Ende der Ideologien ausging und aus diesem Grund auf normative Konzepte der Bildung verzichtete. Dementsprechend wird es bedeutsam, einen Blick auf die Geschichte des Bildungsversprechens zu werfen. Wie Schäfer (2011a: 121ff.) erläutert, seien das klassische Bildungsversprechen (als Gegenkonzept gegen Vergesellschaftung) und das Feld der Politik seit dem 19. Jahrhundert eng aufeinander bezogene und aufeinander verweisende Felder. Während sich das Bildungsversprechen auf das Subjekt und seine Gründung beziehe, befasse sich das Feld der Politik mit Auseinandersetzungen um die Gründung des Sozialen. Beide Felder kennzeichne es, als Möglichkeitsräume entworfen zu sein, wobei das pädagogische Versprechen »traditionell (noch) antagonistisch« (ebd.) auf das politische Versprechen der Möglichkeit der Instituierung des Sozialen bezogen sei. Dies lässt sich dann mit Laclau, wie gerade oben bereits angesprochen, auch so verstehen und lesen, dass (erfolgreich) versucht wird, das Versprechen der Bildung aus den politischen Auseinandersetzungen um die Konstitution des Sozialen herauszuhalten. Schäfer (ebd.: 121) schlägt allerdings noch eine andere Lesart vor, indem er argumentiert, dass das Versprechen der Möglichkeit von Bildung jenseits des Sozialen ursprünglich als »funktionale (und zugleich imaginäre) Voraussetzung für eine sich über Verträge von freien und gleichen Individuen reproduzierende Gesellschaft« (ebd.: 121) instituiert worden sei, sozusagen als Möglichkeitsbedingung bürgerlicher Gesellschaften. Dazu passend lokalisiert Mollenhauer (1983: 172f.) die »Entstehung dessen, was wir ›Jugendalter‹ nennen«, im späten 18. Jahrhundert, ein Jugendalter, für das »gegen die herrschenden Institutionen gerichtete […] Attitüden« prägend waren, und zwar zunächst vor allem »in der Gruppe der intellektuellen ›Aufsteiger‹: gebildete, aufsässige Gesellen, studierwillige Kinder des Kleinbürgertums, um wissenschaftliche Karrieren sich bemühende Pastorensöhne u.ä. – eine relativ kleine Gruppe also, die indessen das Kommende vorwegnimmt«. Dementsprechend hat die Vorstellung einer Bildung gegenüber der Gesellschaft vermutlich einen spezifischen – bürgerlichen – Ort, eine spezifische Zeit und eine spezifische Geschichte. Hier wird besser verständlich, warum Schäfer das Bildungsversprechen keineswegs als der Politik entgegengesetzt versteht, sondern vielmehr als für die »Aufrechterhaltung der imaginären Ordnung einer funktional differenzierten Gesellschaft« (ebd.: 122) wesentlich. Wird Bildung als hegemoniale Subjektposition gedeutet, so sind Veränderungen des Bildungsversprechens folgenreich und vermutlich auch als Ausdruck sich verändernder Gesellschaftskonzeption zu verstehen. Wo nicht – die letztendlich unmögliche – Emanzipation des Subjektes gegen-

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

über »der« Gesellschaft, sondern dessen »Kompetenzen« im Vordergrund stehen, sind diese sicherlich auch Ausdruck von politischen Auseinandersetzungen um Umgestaltungen des Sozialen. Bildung wird in dieser Lesart zu einer diskursiven Subjektposition, zu einem politischen Einsatz und ist daher keineswegs neutral, sondern normativ. Dies ist wichtig zu berücksichtigen, wenn etwa versucht wird, normative Enthaltung zu üben, die wohl eher einer implizit gehaltenen normativen Bestimmung dienlich ist, indem sie vorherrschende Normen bedient, denn einer Enthaltung gleichkommt. In der einführenden Diskussion der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse war die Kritik an normativer Enthaltung auch weitergehend ein bedeutsamer Einwand. Denn, so argumentierte Stojanow (2006: 76), es bestehe die Gefahr, auch menschenverachtende Transformationsprozesse als Bildungsprozesse begreifen zu müssen, wenn über Transformationsprozesse hinaus keine weitergehende normative Orientierung zur Qualifizierung von Bildungsprozessen angegeben werde. Gottuck und Mecheril (2014) sehen eine solche normative Orientierung ebenfalls als wichtig für Bildungsforschung an, wenn diese einen »kritischen« Anspruch verfolgen möchte: Kulturelle Ordnungen – etwa jene, die Behinderungen oder Migrationsandere (Mecheril et al. 2010) hervorbringen, müssen als spezifisch repressive Form der Konstituierung beschränkter und weniger beschränkter Identitäten untersucht werden, weil die Analyse ansonsten auf jene Voraussetzung verzichten würde, die es ihr ermöglicht, einen kritischen Anspruch zu formulieren. (Gottuck/Mecheril 2014: 89) An dieser Stelle möchte ich an die politische Lesart erinnern, die ich zuvor mit Laclau, Mouffe und Hall eingeführt habe. Anstelle normativer Zurückhaltung möchte ich dementsprechend die Frage nach der normativen Orientierung der Perspektive auf Bildung/Handlungsfähigkeit setzen, d.h. welche Art der Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse es sein können, für die sich mit dieser Sichtweise interessiert werden sollte. Laclau und Mouffe geben vor dem Hintergrund ihres minimal-anthropologischen Ansatzes eher generell an, für ein Mehr an Demokratie einzutreten, für ein radikaldemokratisches Projekt, in welchem immer mehr sedimentierte Bereiche des Sozialen politisiert werden sollten. Dadurch, so ihre Argumentation, könnten Unterdrückungsverhältnisse, die Unterordnungsverhältnissen zugrunde liegen, zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen gemacht und in der Folge verändert werden. Hall (1999: 13) folgt Laclau und Mouffe, diskutiert diese Notwendigkeit der (Re-)Politisierung vor allem am Beispiel des (kulturellen) Rassismus und

5 Anmerkungen zum Bildungsverständnis in dieser Arbeit

setzt sich für inklusivere gesellschaftliche Verhältnisse ein, die die Frage der diskursiven Macht berücksichtigen. Die Frage der gesellschaftlichen Zugehörigkeit wird von ihm vor diesem Hintergrund bspw. auch zu einer Frage nach den etablierten, d.h. hegemonialen, Mustern der Repräsentation von Zugehörigkeit, etwa in Museen, Sammlungen usw., und den Möglichkeiten ihrer (Re-)Artikulation (ebd.: 4). Das bedeutet, sowohl Hall wie Laclau und Mouffe setzen nicht zuvorderst beim Subjekt an, sondern verbinden dessen Möglichkeiten der Artikulation von Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen mit der Aufrechterhaltung bzw. Veränderung von diskursiven Ordnungen. Während also einerseits keine zwingende inhaltliche normative Ausrichtung folgt, plädieren alle drei Autor*innen für eine Ausrichtung an einem Einsatz für gerechtere, weniger gewaltvolle und demokratischere Verhältnisse. Was dies jeweils bedeutet, muss allerdings zeit- und kontextbedingt immer wieder neu bestimmt werden. Es mag sich nun allerdings die Frage stellen, was dies für die Bildungsforschung bedeutet, die den Fokus meist auf individuelle Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse legt. Ich möchte argumentieren, dass Laclau, Mouffe und Hall zwar den Schwerpunkt auf die diskursiven Strukturen legen, dass sie dies aber gerade deshalb tun, weil das Subjekt und seine Identität als Moment des Vernähens mit dem Diskurs verstanden werden. Wie Bergold-Caldwell (2020: 164-165) treffend formuliert, ist es daher […] geprägt von globalen Verflechtungen, die auch noch in gegenwärtigen Situationen wirken, und wurde in seiner Unter- und Überordnung durch jene hervorgebracht. Subjekt-Produktionen zu betrachten […] bedeutet auch[,] das Zustandekommen der jeweiligen Subjektpositionen aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Wenn wir uns globale Verflechtungen und das Geworden-Sein dieser Welt anschauen, so stellen wir fest, dass sich dieses Geworden-Sein auch immer in den Subjekten nachzeichnet, sie erfahren es als Geschichte, sie erfahren als Biographie, sie erfahren es in der Genealogie ihrer Vernetzung mit der Welt. Bildung, wie ich sie verstehe, muss deswegen nicht nur Gesellschaft als solche im Blick haben, sie muss auch, um Bedingungen der Unter- und Überordnung auffangen zu können, deren Gewordenheiten sichtbar machen können. Ähnlich wie ich zuvor in dieser Arbeit argumentiert habe, beschreibt auch Bergold-Caldwell das Subjekt als verflochten mit den Strukturen der Welt, die sich durch eine spezifische Geschichte der Unter- und Überordnung, der Macht und Gewalt auszeichnet, eine Geschichte, die sich in den Diskursen

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

und damit der Möglichkeit der subjektiven »Vernetzung mit der Welt« nachzeichnet. Eine Thematisierung des Subjektes bedarf demnach in meinem Verständnis einer Kontextualisierung vor dem Hintergrund der Geschichte und Aktualität der Strukturen der Welt und der dadurch bedingten unterschiedlichen Verteilung von Möglichkeiten, sich mit dieser zu vernetzen. Mit diesem Verständnis kann einem wichtigen Einwand Rosenbergs (2011: 65) begegnet werden. Dieser hatte angemerkt, dass den meisten Ansätzen der Theorie transformatorischer Bildung eine Theoretisierung von Weltverhältnissen »›außerhalb‹ der Akteursperspektive« fehlen würde, und daher diese Ansätze für ihre »Weltvergessenheit« kritisiert. Er hatte dies als »bildungstheoretische Leerstelle« markiert. Nun berücksichtigt Rosenberg in seiner Arbeit generelle gesellschaftliche Prozesse, indem er biografische Erzählungen vor dem Hintergrund von postfordistischen Globalisierungsprozessen thematisiert, die spezielle Anforderungen an die Selbstentwürfe der Subjekte stellen. Diese Strukturen werden von ihm als generelle Herrschaftsstrukturen berücksichtigt, die alle Subjekte gleichermaßen zurichten. Soziale Ungleichheiten finden dabei eher weniger Beachtung. Dies mag auch ein generelles Problem empirisch-rekonstruktiver Forschung darstellen, die sich mit Hierarchien befasst. So weist etwa Fischer (2015: 189) in ihrer Studie »Anerkennung – Macht – Hierarchie« darauf hin, dass hierarchisch niedrigere Positionen häufig zurückgewiesen würden und sich stattdessen »Selbstbeschreibungen [zeigen], die sich nicht auf eine hierarchisch niedrige Position der Schwäche beziehen, sondern über eigensinnige Selbstaufwertungen Stärke generieren«. Dies habe allerdings häufig den Effekt, die Hierarchien wieder zu bestätigen, statt sie zu problematisieren. Es ist dies m.E. ein wichtiger Hinweis, der mindestens zwei Implikationen für diese Arbeit hat. Zum einen unterstreicht er die Bedeutung, die einer normativen Auszeichnung dessen zukommt, was Bildung ist und sein soll, erneut. Und zwar, weil es dadurch möglich werden kann, besondere Problemgestalten, die mit Hierarchien in Verbindung stehen, zu fokussieren, die von Erzähler*innen unproblematisiert bleiben mögen. Dies bedeutet im Kontext der vorliegenden Arbeit, die Erzählungen, denen ich im rekonstruktiven Teil der Arbeit nachgehe, auch nach der unterschiedlichen Thematisierung der Rassifizierung der Zugehörigkeitsordnungen der Mobilität auszusuchen. Da Subjekte in rassifizierten Ordnungen je nach Rassifizierung unterschiedlich angerufen werden, ist eine verschieden gelagerte Selbstpositionierung und Anrufung innerhalb dieser Ordnungen, ein wichtiges Auswahlkriterium für Interviewpartner*innen. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal an Rieger-

5 Anmerkungen zum Bildungsverständnis in dieser Arbeit

Ladich (2020: 17) erinnern, der Bildungstheorien als »strategische Spielzüge im fortwährenden Ringen um Deutungshoheit« bezeichnet. Ich habe in diesem Zusammenhang ein Weniger an rassifizierender Gewalt als zentrale Frage aufgeworfen, da migrationsgesellschaftliche Verhältnisse, allerdings in kontextbedingt höchst unterschiedlicher Art und Weise und die Menschen in unterschiedlicher Art und Weise betreffend, rassifizierte Ungleichheiten produzieren, insofern die migrationsgesellschaftlichen Subjekte erst innerhalb bestimmter dominanzkulturell vorstrukturierter Ordnungen lernen, bestimmte Subjekte zu sein, und sich vor diesem Hintergrund als Subjekt konstituieren (vgl. Mecheril 2016: 23). Konkreter bedeutet das, danach zu fragen, wo, wie und wann Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse in einer Art und Weise thematisiert werden, die »weniger Gewalt gegen sie selbst und andere nahelegt« (Gottuck und Mecheril 2014: 104). Nun bleibt auch diese Definition zunächst allgemein und bedarf weitergehender Kontextualisierung, um spezifische Gewaltverhältnisse als solche überhaupt thematisieren zu können. Ich habe im vorliegenden Fall die Rassifizierung der Migrationsgesellschaft sowie der entwicklungspolitischen Mobilität und ihrer Zugehörigkeitskontexte zum Thema und Problem der Forschung gemacht (vgl. Kap. 2 und 3). Räumliche Bewegung, so habe ich argumentiert, wird in Artikulation mit etablierten Kategorien sozialer Ungleichheit differenziell bewertet, woraus sich verschieden anerkannte Möglichkeiten der Überschreitung von nationalstaatlichen Grenzen ergeben. Die entwicklungspolitische Mobilität habe ich dabei als privilegierte Form gekennzeichnet, die eng verbunden ist mit der Geschichte und Gegenwart des Rassismus, der bürgerlichen Subjektform und ihrer Vorstellung von Raum, mit Praktiken kultureller Distinktion, zu der auch eine bestimmte Moralität gehörte, die nicht zuletzt im Impetus der »Hilfe« ihren Ausdruck findet. Daran schließen sich weitere Fragen an, wie etwa, wer (bzw. welcher geografische Ort) wo und wann als der Hilfe bedürftig markiert wird und we(lche)r nicht? Welche Geschichte – des Kolonialismus – den jeweiligen Mobilitäts- und sozialen Beziehungen zu Grunde liegt? Wer jeweils definiert, was wann und wo Entwicklung ist? Wer als Expert*in gilt und wer nicht? Wie, wann und ob überhaupt die eigene rassifizierte Position gesehen wird? Usw. Bisher wurde vor dem Hintergrund des Verständnisses des Subjekts des Mangels ein genaueres Verständnis der Subjektbildungsprozesse als Prozesse der Artikulation mit vorherrschenden Subjektpositionen erarbeitet und als Momentaufnahmen der Vernähung mit dem Diskurs vor dem Hintergrund von Selbstidentifikation und Anrufung durch andere bestimmt. Vor

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

dem Hintergrund einer sich dabei abzeichnenden subjektiven Handlungsfähigkeit wurde auf die Bildungsrelevanz dieser Prozesse der Artikulation hingewiesen. Es lassen sich aus diesen Überlegungen nun Fragen ableiten, die im Sinne einer bildungsrelevanten Lesart an das empirische Material gestellt und später noch einmal aufgegriffen werden können (vgl. Kap. 11): •





Im Sinne von Selbstverhältnissen: Wie bestimmen die Erzähler*innen im Material ihren Standort (vgl. ähnlich Fuchs 2011: 259), d.h., wie bestimmen sie im Moment der Artikulation das Verhältnis zu sich selbst in Relation zu Anrufungen? Diese Standortbestimmung ist relational und abhängig von den Möglichkeiten der Selbstbeschreibung, die auch durch die Anrufung durch andere bestimmt wird. Und wann und in welchen Fällen wird Handlungsfähigkeit erkennbar? Im Sinne von Fremdverhältnissen: Wie bestimmen die Erzähler*innen im Material ihr Verhältnis zu anderen, d.h. wie werden Anrufungen durch andere thematisiert und wie rufen sie selbst andere an? Welche Bedeutung wird dabei spezifischen Verhältnissen zu anderen zugemessen und warum? Wo werden diese Verhältnisse problematisiert, indem sie etwa in Widerspruch zur eigenen Positionierung gesetzt werden? Wo finden Positionierungen und Anrufungen in stärkeren Passungsverhältnissen zueinander? Welche Konsequenzen folgen daraus jeweils für die Standortbestimmungen bzw. die je spezifische Vernähung mit dem Diskurs? Im Sinne von Weltverhältnissen: Wie bestimmen die Erzähler*innen die Strukturen der Welt? D.h. (vgl. ähnlich Fuchs 2011: 259): Wie bilden sich diese in den Erzählungen ab? Wie werden diese erzählt? Wann und warum werden welche gesellschaftlichen Normen und Institutionen befragt? Welche gesellschaftlichen Zustände bewegen sie und rufen warum ihren Widerspruch hervor? In welchem Verhältnis steht dies zu Selbst- und Fremdverhältnissen?

Diese eher generellen Fragestellungen, Selbst- Fremd- und Weltbezüge betreffend, sollten vor dem Hintergrund des vorgenommenen Problemaufrisses auch darauf hin betrachtet werden, wo diese mit Problematisierungen rassifizierter Strukturen der entwicklungspolitischen Mobilität sowie der migrationsgesellschaftlichen Zugehörigkeitsordnungen in Zusammenhang stehen mögen. Dazu kann etwa danach gefragt werden, welche Faktoren Problematisierungen der rassifizierten Differenzordnungen, sowie der eigenen und der

5 Anmerkungen zum Bildungsverständnis in dieser Arbeit

Position anderer in diesen Ordnungen, begünstigen und/oder solchen Problematisierungen eher entgegen wirken? Wie gestaltet sich dabei das Zusammenspiel von Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen bzw. inwiefern handelt es sich um ein »Zusammenspiel«? Welche kategorialen, aber auch inhaltlichen Aspekte zeigen sich wann als besonders bedeutsam, werden von den Erzähler*innen hervorgehoben? Usw.

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Teil II: Empirische Perspektiven

6 Methodologische Perspektiven

Im Folgenden möchte ich meinen methodischen Zugang in Hinsicht auf die Erhebung von und den Umgang mit dem empirischen Material – Erzählungen von Teilnehmer*innen der weltwärts-Mobilität – genauer bestimmen. Dabei ist es zunächst wichtig zu berücksichtigen, dass das jeweilige Forschungsinteresse und die jeweils verwendeten theoretischen Konzepte bereits ein bestimmtes Verständnis des Gegenstandes und der Möglichkeiten seiner Erforschung beinhalten (vgl. Kalthoff 2008). Noch einmal zur Erinnerung: Die vorliegende Untersuchung positioniert sich einerseits im Kontext der neueren Bildungsforschung und interessiert sich andererseits für Aneignungsweisen rassifizierter migrationsgesellschaftlicher Diskurse innerhalb der entwicklungspolitischen Mobilität bzw. für diese Mobilität als ausgewähltes Feld der (Re-)Produktion migrationsgesellschaftlicher Zugehörigkeitsordnungen. Dieses ausgewählte Feld habe ich zuvor als eines bestimmt, das als privilegiert gegenüber anderen Feldern bezeichnet werden muss, die etwa als Migration gerahmt werden. Ich habe die Unterscheidung der Bewertung von Formen räumlicher Bewegung zudem in Zusammenhang mit einer Praxis gesetzt, die zu ihrer Legitimation auf die Artikulation mit etablierten Kategorien sozialer Ungleichheit zurückgreift. Eine weitergehende Betrachtung der entwicklungspolitischen Mobilität im Kontext der Geschichte ihrer Rassifizierung konnte zudem koloniale Kontinuitäten und Diskontinuitäten aufzeigen und die mit Rassifizierungsprozessen in Verbindung stehende Legitimierung (globaler) sozialer Ungleichheit auch in den Kontext der Distinktionspraktiken der bürgerlichen Subjektform setzen, die wesentliche Akteurin im Kolonialismus war. Der Anforderung der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse (vgl. Koller 2012), ein subjekt- bzw. sozialtheoretisches Verständnis von Selbstund Weltverhältnissen zur Bestimmung von Bildungsprozessen zu erarbeiten, bin ich im Anschluss an Hall (2004) sowie Laclau und Mouffe (u.a. 1985)

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

nachgekommen. Diese Autor*innen stehen für eine postfundamentalistische Perspektive und es ergibt sich vor diesem Hintergrund ein politisiertes Verständnis von Selbst- und Weltverhältnissen. Diese sind von nicht stillzustellenden Auseinandersetzungen um die Etablierung hegemonialer Diskurse geprägt, in denen um die Ausgestaltung von Gesellschaft und dabei auch um die Bedeutung von hegemonialen Zugehörigkeitskategorien (bspw. in Bezug auf Klasse, Geschlecht, »Race«, Nationalität, Ethnizität etc.) gerungen wird. Die Grade ihrer Selbstverständlichkeit stehen dabei weniger für ihre Natürlichkeit, sondern vielmehr für erfolgreiche Hegemonisierungen. Das Subjekt wiederum kann sich nur durch den Eintritt in diskursive Verhältnisse als Subjekt zur Sprache bringen und deshalb ist die Artikulation mit dem Diskurs, die »Vernähung« in Halls Worten, auch der »Moment« des Subjekts. Sowohl der Diskurs als auch das Subjekt – mitunter in seiner Körperlichkeit – werden dabei kontinuierlich von ihrer Grundlosigkeit unterlaufen, sodass immer auch die Entstehung von Neuem möglich ist, Neues, das allerdings nur innerhalb des Diskurses zur Sprache gebracht werden kann. Für den Fokus auf Bildung bedeutsam ist zudem, dass Prozesse der Vernähung mit dem Diskurs immer vor dem Hintergrund von Anrufungen durch andere und der eigenen Positionierung gegenüber diesen Anrufungen stattfinden. Dabei scheint nach Hall einiges an Spielraum gegeben, sich gegenüber den Anrufungen durch andere zu verhalten, so, dass sich jeweils spezifische Arten der Aneignung, d.h. Vernähung mit dem Diskurs, zeigen bzw. untersuchen lassen. Insofern aus der hier vorgestellten Perspektive Ordnung durch Subjekte in spezifischer Art und Weise angeeignet wird, kann diese Aneignung als Vernähung auch untersucht werden. Da ich mich für konkrete Aneignungsprozesse interessiere und daher weder ein festes Ausgangsverständnis davon habe, welche Aspekte der Mobilität besonders bedeutsam sind, welche Bedeutung die Rassifizierung für die von mir Interviewten jungen Erwachsenen in der Mobilität genau haben mag, noch, was Bildung, neben einer Problematisierung von Rassifizierungsprozessen, empirisch genau bedeuten mag, nähere ich mich dem Material in rekonstruktiver Einstellung.

6.1

Zur Rekonstruktion von Positionierung und Anrufungen bzw. Aneignungsweisen von Diskursen in Erzählungen

Rekonstruktion bedeutet im Zusammenhang mit der Erhebung und Analyse von Interviews und den Transkripten, die aus diesen Interviews hervorge-

6 Methodologische Perspektiven

hen, dass an sie »nicht mit einem bestehenden Set von Hypothesen herangegangen wird« (Rosenthal 2015: 59). Stattdessen geht es in rekonstruktiv ausgerichteten Forschungen darum, die »Befragten ein Thema in deren eigener Sprache, in ihrem Symbolsystem und innerhalb ihres Referenzrahmens entfalten zu lassen« (Bohnsack 2021: 24). Aus diesem Grund bieten sich offene Formen des Interviews an, die es den Interviewten ermöglichen, die Erzählung weitestgehend selbst zu strukturieren und ihr »Relevanzsystem« (ebd.) einzubringen. Um dieses zur Sprache zu bringen, wird die Struktur eines Falles (bspw. eines Transkriptes) im Kontext desselben Falles rekonstruiert und nicht unter vorher bestimmte Strukturen und Kategorien subsumiert. Rosenthal (2015: 61) beschreibt dies wie folgt: »Soziale Phänomene werden nicht als statische Gebilde und als Exemplare bestimmter Kategorien erfasst, sondern im Prozess ihrer interaktiven (Wieder-)Herstellung rekonstruiert«. Das »Zauberwort«, so schreibt Bohnsack (2021: 25), »heißt also Kontext«, da sich die einzelnen Äußerungen erst im Gesamtzusammenhang einer Erzählung oder längeren Darstellung besser verstehen lassen würden. Deswegen sei es bedeutsam, die theoretische Kenntnis des Gegenstands der Untersuchung in der Erhebung zunächst zurückzustellen und die Befragten »sprechen« zu lassen. Zu diesem Zweck wird zunächst von den im Transkript »beobachtbaren Fakten« (Rosenthal 2015: 61) ausgegangen und »alle möglichen Lesarten über deren Bedeutung« (ebd.) aufgestellt. Bedeutsam sei es, nicht vorschnell alternative Lesarten bzw. Hypothesen ad acta zu legen, sondern dies erst dann zu tun, wenn sie sich als »unwahrscheinlich« erwiesen haben, sodass schließlich eine »wahrscheinlichste« Lesart übrig bleibe. Dabei leitet sich die Wahrscheinlichkeit nicht einfach aus dem Transkript ab, sondern ist Ergebnis eines Prozesses des »kontinuierliche[n] Befragen[s] und Reflektieren[s]« (Shure 2021: 77), einem »gegenstandsbezogenen Zusammenspiel von Interesse, Methode, Material und theoretischen Perspektiven« (ebd.), welches »letztlich plausible und interessante Erkenntnisse über den sich im Prozess herauskristallisierenden Untersuchungsgegenstand ermöglichen« (ebd.) soll. Während der Aufbau der vorliegenden Arbeit impliziert, es seien zunächst die theoretischen Überlegungen erarbeitet worden, um sodann Methode und Material zu betrachten, so ist dies in gewisser Weise irreführend, da es sich in Wirklichkeit um einen sich gegenseitig konstituierenden Prozess handelt. »Empirische Ergebnisse und theoretische Einsichten«, so formuliert es auch Mecheril (2002: 107) sind wechselseitig konstitutiv. Die sich ergebende, interpretierende Lesart eines Interviewtranskriptes, der Interpretationstext, so verdeutlicht Mecheril (2003: 42), ist im Ergebnis

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

»mehr als die Summe der einzelnen Äußerungen in dem Interview […]. Zugleich ist das Gesamtbild auch weniger […], weil es notwendig ein Produkt der Selektion, Priorisierung und Lesart ist«. Insofern sind Lesarten bzw. ist, in Mecherils Worten, die »Modellierung« eines Transkriptes eine Geschichte, die über das Transkript erzählt wird und die, wie jede Geschichte, bestimmte Fokusse setzt, die auch ganz anders gesetzt werden könnten und die dennoch ihre Grundlage in den Äußerungen im Interview haben, auf denen das Modell basiert. Mecheril (2003: 40ff.) meint mit Modellierung daher die Erzeugung eines Interpretationstextes, der in einem spezifisch relationalen Verhältnis der Abhängigkeit wie der Unabhängigkeit vom Interviewtranskript steht. Ergebnis dieses Verhältnisses, das sich in der Interpretation manifestiert, ist eine bestimmte Lesart eines Transkriptes, die vor dem Hintergrund bspw. eines anderen Forschungsinteresses und eines*r anderen Forschers*in auch ganz anders aussehen könnte bzw. würde. Mecheril verdeutlicht diesen Sachverhalt an folgendem Beispiel: »Sie haben mich gebeten«, kommentiert eine junge Inderin, die im Rahmen eines Forschungsprojektes zu ihrem religiösen Selbstverständnis befragt wurde, die epistemische und soziale Dimension des Verhältnisses zwischen ihr und dem »westlichen« Forscher, »Ihnen darüber zu erzählen, wie ich mich als Hindu begreife. In aller Ausführlichkeit habe ich das getan. Aber bitte verstehen Sie das alles nicht so, als ob ich Ihnen über meine Religion erzählt hätte. Natürlich habe ich das Erziehungssystem des Westens durchlaufen, ich kenne ganz gut, in welchen Kategorien westliche Menschen gewöhnlich denken und sprechen, und deswegen habe ich mit Ihnen über meinen Hinduismus so geredet, als ob er meine Religion wäre, – damit Sie verstehen, über was ich mit Ihnen gesprochen habe. Aber meinen Hinduismus würde ich nie so begreifen, als hätte ich selbst eine hinduistische Religion, das wäre bei jedem anderen Hindu ebenso. Ich würde noch nicht einmal als meinen Hinduismus bezeichnen, was Sie als meine Religion bezeichnet haben, – das ist eine westliche Art, auf uns zu sehen. Bitte vergessen Sie das nicht, wenn Sie das ganze Zeug auf den Tonbändern analysieren«. (Matthes 1999: 420, zitiert nach Mecheril 2002: 104) Mecheril (2002: 107) verweist auf dieses Beispiel, um daran zu erinnern, dass Beschreibungs- und Analysekategorien immer innerhalb eines spezifischen Geltungsrahmens stehen, relational sind und nicht etwa »objektiv«. Daher sei es auch eine Aufgabe des*r Forschers*in, »über das Verhältnis zwischen Selbstbezeichnungen der untersuchten Personen und wissenschaftlichen Be-

6 Methodologische Perspektiven

zeichnungen nachzudenken«. Oder, wie es Gottuck und Mecheril (2014) andernorts formulieren, »[e]iner Praxis einen Sinn zu verleihen, heißt sie zu kontextualisieren«. Ich beeinflusse als Forscher daher in nicht unbeträchtlicher Weise durch mein Forschungsinteresse, meine theoretischen Zugänge, meine Eingebundenheit in spezifische soziale Zusammenhänge und nicht andere usw. die Interpretation des Transkriptes. Aber nicht nur das: Als Forscher bin ich am Gespräch beteiligt, das sich im Transkript des Interviews entfaltet. Ich übersetze zudem die Aufnahme des Interviews in ein Transkript, einen Text, ein anderes Medium, das kein getreues Abbild der Aufnahme sein kann. Ebenso kann schon die Aufnahme kein getreues Abbild des Gesprächs sein, weil sie die Interaktion nur bedingt aufnehmen kann. Ich treffe in dieser Übersetzung notwendigerweise bereits Entscheidungen für Aspekte, die mir wesentlich scheinen, ko-konstruiere also auf verschiedenen Ebenen, auf jener der Entstehung des Interviews und derjenigen der Übersetzung in andere Materialformen, das Transkript mit. Die Rekonstruktion von Erzählungen ist insofern immer auch ein performativer Akt (vgl. Mikula/Lechner 2014: 44f.; vgl. Rose 2012: 77). Rekonstruierte Erzählungen sind daher kein Abbild eines »gelebten« Lebens und dieses kann in und aus Erzählungen auch nicht rekonstruiert werden. Positionierungen, die in Interviews sowohl von Interviewern wie Befragten vorgenommen werden, darauf weisen Varga und Munsch (2014: [11]) hin, sind relational und kontextgebunden, d.h., sie sind »historisch, sozial und kulturell« besonders.1 Sie beschreiben die Verhältnissetzung von Personen 1

In der Biografieforschung wird Biografie dementsprechend auch allgemein als ein »soziales Konstrukt« (ebd.: 76) verstanden, und zwar als ein Konstrukt, bei dem es darum geht, »mithilfe der eigenen Lebensgeschichte bzw. mithilfe biographischer Strukturierung Kontinuität und Kohärenz herzustellen und sich seiner selbst zu versichern« (ebd.). Die Versicherung seiner*ihrer selbst kann dabei ganz unterschiedliche Formen annehmen. Es kann bspw. eine Selbstpräsentation eines kohärenten oder eines sich verändernden Selbst im Vordergrund stehen. Dabei lassen sich Selbstpräsentationen außerdem nicht von vorherrschenden Verständnissen des Selbst trennen. Es ist bspw. bedeutsam, wie vorherrschende Erwartungen an die Präsentation von Selbstverhältnissen aussehen, ob bspw. ein reflexives und sich veränderndes oder ein gleichbleibendes Selbst erwartet wird (vgl. Mollenhauer 1983; Fraser 2003). Biografie und lebensgeschichtliches Erzählen können darüber hinaus als eine spezifische Konvention (der westlichen Literatur) begriffen werden, die deshalb auch historisch und kontextuell ganz unterschiedlich ausgeprägt ist (vgl. Denzin 1989: 23, 77). Wenn »wirklich« Biografien – im »konventionellen« Verständnis – fokussiert werden sollten, so Bernard

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

zueinander »innerhalb einer gültigen (Differenz-)Ordnung« (Varga/Munsch 2014: [6]). »Selbstpositionierung«, so schreiben die Autorinnen (ebd.: [11], Binnenzitat nach Supik 2005: 13), »ist hiernach ein relationales Phänomen. Das Subjekt wird ›einerseits durch die umgebenden Verhältnisse historisch, sozial und kulturell positioniert und andererseits positioniert es sich selbst‹«. Zum Zweck der Verhältnissetzung greifen die sich positionierenden und sich durch andere angerufen sehenden Akteur*innen auf »Diskurse und Repräsentationen, Regeln und Normen sowie Strukturen und damit verbundene Grenzsetzungen und Hierarchien« (ebd.) zurück. Ohne diese Anhaltspunkte für die Positionierungspraxis, so Varga und Munsch, wäre die gegenseitige relationale Positionierung nur schwerlich durchführbar. Zu berücksichtigen ist dabei der jeweilige Kontext der Positionierung. Während Kontexte generell von »Macht- und Dominanzverhältnissen« (ebd.: [11]) geprägt sind, gestalten sich die Zusammensetzung von Situationen, die Begünstigung oder Benachteiligung durch Strukturen o.Ä. je nach Situation und Kontext unterschiedlich und sind demnach auch die vorgenommenen Positionierungen bzw. die Möglichkeiten, Positionen einzunehmen, different. Vor diesem Hintergrund sind »Selbstpositionierungen als kontextspezifische Umgangsweisen mit wahrgenommenen Fremdpositionierungen« (ebd.) zu verstehen. Positionierungen können nach Varga und Munsch (ebd.) im Material sowohl explizit artikuliert wie implizit in den erzählten Handlungen sichtbar werden. Unterschieden werden müsse dabei zwischen Selbst- und Fremdpositionierungen, wie Varga/Munsch (ebd.: [14]) in Anlehnung an Harré/ Langenhove (1999a: 16) und Lucius-Hoehne/Deppermann (2002: 196-212) erläutern. Dabei entspricht in der vorliegenden Arbeit das Konzept der Selbstpositionierung jenem der Positionierung und das der Fremdpositionierung jenem der Anrufung. Selbstpositionierungen (Positionierungen) sollten demnach in Bezug zu erfahrenen Fremdpositionierungen (Anrufungen) analysiert werden sowie Fremdpositionierungen (Anrufungen) auch als solche in den Blick rücken, die »die Interviewten selbst in Bezug auf Andere im Rahmen ihrer erzählten Geschichte(n) vornehmen« (Varga/Munsch 2014:

(2014), müssten eigentlich mehrmalige Beobachtungen über einen längeren Zeitraum und Interviews in verschiedenen Kontexten und Zeiten stattfinden, um Aussagekräftigeres über biografisch-habitualisierte Praktiken und Möglichkeiten des Anschlusses an vorherrschende Diskurse gewinnen zu können. Es ist dies mitunter eine recht deutliche Kritik an solchen Ansätzen der rekonstruktiven Forschung, die auf der Suche nach »Authentizität und Wahrheit« im Transkript sind (vgl. etwa Bukow/Spindler 2006: 21).

6 Methodologische Perspektiven

[14]). Durch die Analyse von Positionierungshandlungen kann mehr darüber erfahren werden, »wie Interaktanten den sozialen Raum bestimmen und ihre jeweilige Position darin festlegen, beanspruchen, zuweisen und aushandeln« (Lucius-Hoehne/Deppermann 2002: 196, zitiert nach Varga/Munsch 2014: [14]). Da Positionierungen immer in Bezug auf Kontexte vorgenommen werden, so die Autorinnen, sollten diese Kontexte auch Bestandteil der Analyse von Positionierungshandlungen sein. In diesem Sinne sollte auch nach »diskursiv erzeugten Positionen« gefragt werden, die den Rahmen der relationalen Positionierung bilden bzw. in ihr sichtbar werden. Über die Fokussierung der Kontexte kann dabei deutlicher werden, »wann wer auf welche Differenzkategorien zurückgreift, in welchen Kontexten z.B. migrationsbezogene Differenzierungen relevant gesetzt werden, in welchen nicht und welche sozialen Praktiken welchen Personen je nach Kontext zugewiesen werden« (ebd.: [15]). Auch Tuider (2007: [50]), die methodische Überlegungen zur Vermittlung von Biografie- und Diskursforschung anstellt, schlägt vor, die in den Interviews vorgenommenen Positionierungen und Anrufungen weitergehend durch eine Betrachtung derjenigen Diskurse zu kontextualisieren, innerhalb derer sie vermutlich stattfinden. Insbesondere die Grounded Theory Methode (GTM) biete sich an, so Varga und Munsch (2014: [16]), um die Aufmerksamkeit auch auf Kontexte zu richten: Für die Analyse dieser Kontexte sowie der Bezüge zwischen Positionierungen und Kontexten hat sich die GTM nach STRAUSS und CORBIN (2010) als sehr geeignet erwiesen. Zum einen ermöglicht sie eine grundlegende analytische Offenheit, um die mannigfaltigen und variierenden Aspekte und Ebenen von Kontexten überhaupt erfassen zu können. Zum zweiten – und dies ist das wesentliche Argument für diesen Zugang – ist sie durch ihr vergleichendes, kontextualisierendes und relationalisierendes Vorgehen für die Analyse von Bezügen prädestiniert. In der GTM ist das offene Codieren ein bedeutender erster Schritt, um das Material zu öffnen und mit einem »suchende[n] Herantasten an das Datenmaterial« (Breidenstein et al. 2015: 129) zu beginnen. Beim offenen Codieren »kommt es auf Variation an, eben auf eine Überschuss-Produktion, die alle möglichen Richtungen der Analyse anbietet« (ebd.: 128). Es gehe dabei um ein »thinking with your fingers« (ebd.) und weniger um eine formalisierte und standardisierte Analysepraxis. Ein codierter Datenkorpus sei als ein of-

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

fener Korpus zu verstehen, der weiterentwickelt und im Forschungsprozess weiter angepasst werde. Entscheidend sei, dass durch das Codieren des Materials seine »Komplexität (…) zum Vorschein komm[e]« (ebd.: 135). Gleichzeitig flössen auch bereits entwickelte Konzepte im Kopf der Forschenden in den Codierprozess ein und es ergäben sich neue Themen und Konzepte in der Arbeit mit dem Material. Dabei könne es sinnvoll sein, Codes nicht nur zu »bündeln« (ebd.:136), sondern auch zu »strukturieren« (ebd.), also in ein hierarchisches bzw. vernetztes System zu überführen. Werden vielversprechende analytische Themen erkennbar, könne sich an das offene Codieren »eine zweite Phase des sogenannten axialen Codierens anschließen« (ebd.). Dabei werde das Material in Hinsicht auf bestimmte Themen durchsucht und codiert und »Nuancen eines [nun bestimmten] Themas« (ebd.; meine Einfügung) herausgearbeitet. Wesentliches Werkzeug der Arbeit am und mit dem Material stellt nach Breidenstein et al. (2015: 163) das Verfassen von Memos dar, die »flüchtige Ideen und Einsichten, Überlegungen und Vermutungen zu Papier bringen« und festhalten und dabei auch der »Weiterentwicklung der analytischen Einsichten« dienen. Das »Thema entwickelt sich dabei gewissermaßen von selbst im Zuge des Schreibens« (ebd.). Es bedarf im Sinne der GTM also des schreibenden Nachdenkens und Explizierens der Bedeutung von Codierungen des Materials, um sich im gleichen Zuge eben der Bedeutung des Materials klar zu werden. Insofern wende ich mich dem Material in einer suchenden Bewegung zu, die sich an einem Interesse an Positionierungshandlungen und Kontexten, in denen diese stattfinden, ausrichtet. Ich greife dazu, wie ich im Folgenden noch einmal konkreter darlege, auf die soeben vorgenommen Überlegungen und etablierte Methoden der rekonstruktiven Sozialforschung zurück.

6.2

Zum Vorgehen in der Erhebung und Analyse der Interviews

Untenstehend erläutere ich mein Vorgehen zur besseren Übersichtlichkeit in acht Schritten. Nicht alles, was ich hier darlege, taucht im Anschluss auch in der Darstellung der Analyse wieder auf. In diesem Sinne dient die Explikation meines Vorgehens auch der besseren Verständlichkeit der Darstellung, d.h. der Nachvollziehbarkeit für den*die Leser*in, wie ich vor dem Hintergrund welcher Überlegungen und Forschungspraktiken zu Darstellung und Analyse der Interviews gekommen bin.

6 Methodologische Perspektiven

(1) Im Anschluss an die Überlegungen zu Bildungsprozessen sowie zur Postkolonialität der entwicklungspolitischen Mobilität habe ich in Anlehnung an Überlegungen zu thematischen Interviews narrativer Prägung (Fuchs 2011: 207) Interviews geführt. Narrative Interviews kennzeichnet es, die »Relevanzen des/der Interviewten« in den Vordergrund zu stellen und ihnen damit möglichst viel Raum für die eigene Gestaltung ihrer Erzählung zu geben. Diese sollen in den Interviews auch gewissermaßen hervorgelockt werden (vgl. Spies 2010: 81). Deshalb ist es bedeutsam, eine »spezielle Fragetechnik« anzuwenden, damit eine »Frage-Antwort-Struktur« möglichst vermieden wird (ebd.: 82) und der*die Interviewte nicht in die Situation gerät, sich rechtfertigen zu müssen und sich »an den Relevanzen seines/ihres Gegenübers bzw. dem, was (vermeintlich) sozial gewünscht ist, zu orientieren« (ebd.: 83, vgl. auch Rosenthal 2015). Ich habe zunächst Testinterviews mit mir entfernt bekannten Personen geführt, um Erfahrungen in der Interviewführung zu sammeln, und im Anschluss zwischen November 2016 und April 2017 insgesamt vier Interviews geführt, von denen ich zwei aus Gründen ihres Kontrastes2 in Hinsicht auf die Positionierung innerhalb der Mobilitätsräume zur weiteren Modellierung ausgewählt habe. An meine Interviewpartner*innen bin ich gekommen, indem ich zunächst telefonisch und dann mit entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisationen (NGO), die auch weltwärts-Entsendeorganisationen sind, Kontakt aufgenommen habe. Meine E-Mail-Anfrage sah wie folgt aus: Ich suche im Rahmen meiner Doktorarbeit Interviewpartner*innen aus dem weltwärts-Programm, die Lust und Zeit haben, sich mit mir ca. eine Stunde zu ihren Erfahrungen mit Zugehörigkeiten in ihrem jeweiligen Freiwilligendienst zu unterhalten. Ich suche Freiwillige aus unterschiedlichen Mobilitätsrichtungen (»Nord-Süd«, »Süd-Nord«) und sozialen Positionierungen (Klasse, Geschlecht, sogenannter »Migrationshintergrund«, »Schwarz/PoC« [People of Color; Anm. des Verf.] usw.). Meine Forschungsinteresse besteht in der Untersuchung von Zuschreibungen und Auseinandersetzungen mit Zugehörigkeiten/Themen, die in postkolonialen Zusammenhängen »hier« und »da« wichtig werden. Die Mitarbeiter*innen der NGOs haben dann entweder direkt Freiwillige angesprochen oder meine Anfrage an sie weitergeleitet haben. Die Interview2

Was ich unter Kontrast/Kontrastierung verstehe, erläutere ich etwas weiter unten genauer.

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

partner*innen haben anschließend mit mir per E-Mail Kontakt aufgenommen. Ich habe sie sodann telefonisch kontaktiert und, wenn gewünscht, etwas zu meiner Forschung erzählt sowie einen Interviewtermin vereinbart. Wie bereits beschrieben, habe ich vor dem Hintergrund meines Forschungsinteresses und meiner theoretischen Erkundungen »thematische Interviews narrativer Prägung« (Fuchs 2011: 207) mit jungen Erwachsenen geführt, die am weltwärts-Programm teilgenommen haben. Die von mir interviewten Personen berichten also vornehmlich von dieser bestimmten Zeitspanne – ihrer weltwärts-Zeit. Dem hier zugrunde liegenden Interviewansatz folgend, habe ich nicht sofort die einleitende Interviewfrage gestellt, sondern war zunächst darum bemüht, für den*die Interviewte*n eine angenehme Gesprächsatmosphäre zu schaffen. In diesem Zusammenhang habe ich ein weiteres Mal in aller Kürze mein Forschungsinteresse und meine zurückhaltende Rolle im folgenden Interview erläutert. Dabei war ich darum bemüht, möglichst wenig Inhalte einzubringen und weitere Gespräche auf das »Danach« zu verschieben. Die Auftaktfragen haben vor dem Hintergrund der jeweiligen Auftaktinteraktion etwas Variation erfahren. Während ich in einem der von mir analysierten Interviews (mit Ann) in der Einstiegsfrage direkt nach »Dazugehören« und »Nicht-Dazugehören« gefragt habe3 , tat ich dies im anderen Interview (mit Kai) erst im Anschluss an die Haupterzählung. Die Einstiegsfrage zielte dort etwas allgemeiner auf Erfahrungen, die als bedeutsam erachtet wurden4 . Nicht zuletzt an dieser Stelle wird auch die Ko-Konstruktion der Ergebnisse durch mich als Interviewer deutlich. Ich habe das einerseits getan, um die Erzählung offener zu gestalten, andererseits ließe sich auch vermuten, dass diese Dynamik etwas mit meiner eigenen Weißen und männlichen Positioniertheit zu tun gehabt haben könnte, die ihren Spiegel in derjenigen Kais gefunden hat. Allerdings habe ich allen Interviewten schon in meiner Anfrage und Kontaktaufnahme mein Interesse an postkolonialen Zugehörigkeiten 3

4

»[Ich] (.) würde sagen, erzähl mir doch einfach irgendwie was, ähm, was dir in den Sinn kommt, was für dich wichtig war/A.: mmm/I: ne (.) ähm, was so Erfahrungen sind (.) die dir dir erstmal in den Sinn kommen, die irgendwie was mit Zugehören NichtDazugehören zu tun haben, ähm, die du, die du teilen möchtest« (Ann: Z. 53-57). »[W]ie bist du eigentlich dazu gekommen, sozusagen, weltwärts zu machen oder das zu machen, was du gemacht hast? Also wer bist du eigentlich und, ne, ähm, wer ist dieser Mensch, der mir jetzt hier gegenübersitzt und, ähm, was is, was is dir wichtig zu erzählen, wenn’s irgendwie/wenn’s um Erfahrungen geht, die du in Tansania und darüber hinaus gemacht hast, ne?« (Kai: Z. 28-32).

6 Methodologische Perspektiven

deutlich gemacht und dieses Forschungsinteresse war Teil des einleitenden Gesprächs. Während ich im einen Interview im Anschluss an die Haupterzählung darum bitte, sich gerne auch von der Frage nach Dazugehören und Nicht-Dazugehören zu lösen und generell von Erfahrungen zu berichten, ist die Dynamik im anderen Interview genau andersherum. Wichtig war mir dabei vor allem die Ermöglichung einer möglichst umfassenden Narration der von mir Interviewten. Im Anschluss an die Interviews habe ich zunächst direkt Notizen zur Interviewsituation angefertigt und diese gemeinsam mit Anschreiben und Kontaktaufnahme in die Modellierung der Interviews aufgenommen. Dies geschah vor dem Hintergrund der vorhergehenden Betrachtung, die zeigte, dass für die Analyse von Positionierungen auch die spezifische Interviewsituation Bedeutung besitzt, insofern sie einen ersten Kontext für die Positionierung der Interviewten abgibt. (2) Ich habe sodann die Interviews transkribiert (Ann) bzw. transkribieren lassen (Kai)5 und anonymisiert. Zum Zweck der Anonymisierung habe ich Tätigkeiten und Orte, durch die die von mir Interviewten erkennbar gewesen wären, entweder herausgenommen oder geändert bzw. ihnen die spezifische Lokalität genommen. Die Transkription habe ich anhand einfacher Transkriptionsregeln vorgenommen (vgl. Dresing/Pehl 2015), dabei aber nicht die Sprache geglättet, sondern die Art, wie etwas gesagt wurde, beibehalten und auch kurze und längere Pausen sowie besonders bedeutsam erscheinende nonverbale Äußerungen aufgenommen, die für ein besseres Verständnis der Positionierungen bedeutsam sein könnten.Ich habe sodann für alle vier Interviews zunächst sogenannte »Inventare« in Anlehnung an Lucius-Hoehne/ Deppermann (2002: 306) angelegt. Inventare, meist tabellarisch, dienen dazu, einen Überblick über die Abfolge von Themen und Gegenständen der Erzählungen sowie weitere interessante Aspekte des Interviews zu gewinnen. Dies sollte mir ermöglichen, gezielt bestimmte Textstellen und Sequenzen auswählen zu können, die ich näher betrachten wollte und die ich anschließend in Interpretationsgruppen6 näher betrachtet habe. Daneben ging es mir auch 5

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Aus diesen Transkriptionen von unterschiedlichen Menschen (mir und eine andere Person) resultieren Transkripte, die sich etwas unterscheiden. Obwohl sie den gleichen Transkriptionsregeln folgen, findet sich ein etwas anderer Stil der Übertragung des Gehörten ins Schriftliche, der erkennbar ist. Interpretationsgruppen sind, wie Lucius-Hoehne/Deppermann (2002: 322) ausführen, »[e]ine ganz wichtige, ja fast unverzichtbare Ressource für textanalytisches Arbeiten […], d.h. die Möglichkeit, gemeinsam mit Anderen Trauskriptausschnitte extensiv zu

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

darum, einen besseren, »grobstrukturellen« (ebd.: 318) Eindruck davon zu gewinnen, welche Interviews sich besonders dazu eignen, genauer analysiert zu werden. Zwar waren alle Interviews ausgesprochen interessant und lohnenswert für die Weiterarbeit, doch habe ich nach Fällen gesucht, die es mir durch ihre Kontrastierung ermöglichen sollten, meinen Forschungsfragen nach rassifizierten natio-ethno-kulturell codierten Zugehörigkeitsordnungen der Mobilität besonders gut nachzugehen. Ich habe in diesem Kontext Memos zu bedeutsamen Abschnitten und ihren Gegenständen sowie zu generellen Ideen für die weitere Forschung und zu möglichen Anschlüssen an die Literatur erstellt. Vor allem an der Methodik der Grounded Theory (Strauss/Corbin 2010; Strübing 2014) habe ich mich dabei orientiert. (3) Ich habe dann sogenannte Text- und thematische Feldanalysen für alle Interviewtranskripte angefertigt. Diese dienen in der Biografieforschung der Rekonstruktion des »erzählte[n] Leben[s]« (Schulze 2010: 575f.; vgl. auch Spies 2010: 97ff.; vgl. Rosenthal 2015: 213ff.). Es wird danach gefragt, »weshalb sich ein Biograph oder eine Biographin – ob nun bewusst intendiert oder latent gesteuert – so und nicht anders darstellt« (Rosenthal 2015: 213). Dazu wird »eine Art Inhaltsverzeichnis« (ebd.) angelegt. Im Gegensatz zu einem Inventar geht es hier nun aber um die Struktur der »Lebenserzählungen während des Erzählaktes« (ebd.). Zu diesem Zweck wird die Haupterzählung des Transkriptes des Interviews nach »Wechseln von Inhalt, Textsorten […] und Sprechenden« (Schulze 2010: 575) gegliedert. Haupterzählung meint dabei den Teil des Interviews, der – »allein strukturiert durch die Relevanzen des Erzählenden – auf die narrative Eingangsfrage folgt« (Spies 2010: 97). Gearbeitet wird dabei nicht mit dem Originaltranskript, sondern die Passagen werden auch im Sinne der Übersichtlichkeit mit eigenen Worten wiedergegeben, d.h. paraphrasiert. Durch die Gliederung in Textsorten, Inhalte und Sprechende soll wiedergegeben werden, »was der Biograph sagt, als auch wie er es sagt« (ebd.: 98). Dabei ist es das Ziel, das »manifeste Präsentationsinteresse sowie die latente Sichtweise der Biograf/innen zu rekonstruieren« (ebd.). Das bedeutet, dass an dieser Stelle die leitenden »Strategien der Identitätskonstruktion« (Lucuis-Hoene/Deppermann 2002: 134, zitiert nach Schulze 2010: 577) im Vordergrund stehen und damit die Frage, wie sich der*die Interviewte präsen-

bearbeiten.« Interpretationsgruppen dienen, neben der Ermöglichung einer kollegialen Eingebundenheit einer ansonsten häufig vereinzelnden Tätigkeit, der intersubjektiven Kontrolle der analytischen Arbeit, ihrer Erweiterung, der Prüfung von Hypothesen, der Supervision usw. (ebd.).

6 Methodologische Perspektiven

tiert und darstellt. Idealtypisch unterschieden werden dabei die Textsorten Erzählung, Argumentation und Beschreibungen.7 Wenn eine solche Tabelle erstellt ist, werden Hypothesen gebildet. Dabei sind folgende Fragen leitend: »Warum werden diese Inhalte an dieser Stelle präsentiert, warum in dieser Textsorte und warum in dieser Ausführlichkeit bzw. Kürze?« (ebd.: 575). Es wird sequenziell und abduktiv8 vorgegangen und die nachfolgenden Sequenzen zunächst ausgeklammert. Die angesprochenen Themen verweisen dabei immer auch auf thematische Felder, vor deren Hintergrund sie ihren Sinn gewinnen. Auch zu diesen gilt es Hypothesen zu bilden. Nach Spies (2010: 102) sollte auch berücksichtigt werden, inwiefern das jeweilige Thema der Selbstpräsentation dem spezifischen Interaktionsprozess zwischen Interviewer*in und Interviewtem*r als auch gesellschaftlichen Diskursen geschuldet ist. Die Text- und thematische Feinanalyse sollte zweierlei leisten. Sie sollte, wie die zuvor erstellten Memos und ersten analytischen Blicke aufs Material, die sich am grobstrukturellen Gesamtzusammenhang des Interviews orientierten, dabei helfen, relevante Sequenzen für die folgenden 7

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Erzählungen werden als Referenz an vergangene, einmalige Ereignisse verstanden: »Sie sind an einen bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit und an eine bestimmte Person gebunden und beziehen sich meist auf herausragende Erlebnisse einer Lebensgeschichte« (Spies 2010: 98). Stark geraffte Erzählungen, die die einzelnen Situationen nicht genauer beschreiben, sondern quasi auflisten, können als Berichte verstanden werden. Argumentationen sind demgegenüber bewertende, begründende und erklärende Textstellen. Sie dienen der eigenen Positionierung und sind nach Spies (ebd.) deutlich stärker als Erzählungen von den kommunikativen und situativen Rahmenbedingungen beeinflusst. Beschreibungen beziehen sich nicht auf ein »singuläres Ereignis«, sondern schaffen und schmücken den Raum, in dem das Geschehen stattfindet. Verdichtete Situationen gehören zur Kategorie der Beschreibungen und fassen häufig vorkommende Ereignisse in komprimierter Form zusammen (vgl. ebd.: 99). Ein »abduktives« Vorgehen ist offen für die »Entdeckung von Neuem« (Rosenthal 2015: 64) im Material ist. Dabei werde von den im Material »beobachtbaren Fakten« ausgegangen und »alle möglichen Lesarten über deren Bedeutung« aufgestellt. Bedeutsam sei es, nicht vorschnell alternative Lesarten bzw. Hypothesen ad acta zu legen, sondern dies erst dann zu tun, wenn sie sich als unwahrscheinlich erwiesen haben und so schließlich eine wahrscheinlichste Lesart übrig bleibt. Rosenthal verdeutlicht dies am Beispiel der Arbeit von Polizisten: »Im Unterschied zu jenem Polizisten, der induktiv vorgeht und nach den Indizien für seine Hypothese sucht, bestimmt ›bei der Abduktion … die Erwägung der Fakten die Hypothese, während bei der Induktion die Untersuchung der Hypothese die Experimente bestimmt, die eben jene Fakten zu Tage fördern, auf die die Hypothese verwiesen hatte‹« (ebd.: 65, Binnenzitat nach Peirce 1933/1980: 7.218).

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Feinanalysen zu identifizieren, d.h., bspw. besonders bedeutsame Präsentationsinteressen, Gegenstände und Positionierungen herauszuarbeiten. Zum anderen habe ich die Text- und thematischen Feldanalysen zu allen vier Interviews angefertigt und sie sodann auch als Entscheidungshilfe für die Auswahl der weiter zu analysierenden Interviews genutzt. (4) Anhand der Inventare, der kontinuierlichen Arbeit an ausgewählten Textstellen mit Interpretationsgruppen und der text- und thematischen Feldanalysen habe ich sodann zwei Interviews (Ann und Kai) ausgewählt, die mir aufgrund ihres Kontrastes besonders geeignet schienen, um diese weitergehend zu analysieren. Wie Hummrich argumentiert, dient »[d]ie maximale Kontrastierung […] dazu, einen Überblick über den durch das Untersuchungssample abgesteckten Möglichkeitsraum zu schaffen. Mit der minimalen Kontrastierung werden die Dimensionen der Erfahrungsverarbeitung ausdifferenziert und gegebenenfalls modifiziert« (2009: 149). Ich habe mich in der Beurteilung maximaler Kontrastivität dabei von der theoretischen Sensibilisierung, die ich zuvor vorgenommen habe und die die Bedeutung der Rassifizierung des Mobilitätsraumes hervorgehoben hatte, anleiten lassen. Daher war eine rassifizierte Anrufung und Positionierung innerhalb der Zugehörigkeitsordnungen der Mobilität und die Unterschiedlichkeit der (Nicht-)Thematisierung dieser Anrufung Anlass der Auswahl beider Fälle. Dem lag die Annahme zugrunde, in dieser Auswahl mehr über die Zugehörigkeitsordnungen, innerhalb derer sich die weltwärts-Mobilität entfaltet, zu erfahren, als wenn diese Anrufungen und Positionierungen ähnlicher gewesen wären, so wie es bei den anderen Interviews der Fall war. In Hinsicht auf die Mobilität und bspw. das Interesse, entwicklungspolitisch tätig zu sein oder möglichst viel des Lebens vor Ort kennenzulernen, zeigen sich die ausgewählten Fälle zu diesem Zeitpunkt minimal kontrastiv. Diese Vergleichsfolie erschien mir deshalb äußerst lohnenswert. (5) Zum Zweck der weiteren Analyse habe ich anschließend Feinanalysen der Anfangssequenzen der Interviews angefertigt und danach zunächst die Selbstpräsentationen der Interviewten modelliert. Die Methode der Feinanalyse orientiert sich an der strukturalen Hermeneutik. Es geht ihr um die (umfassende) Rekonstruktion der Fallgeschichte. Entsprechend der strukturalen Hermeneutik habe ich einzelne Stellen des Interviews wiederum ohne Kontextwissen und mit Zurückstellen des bisher erarbeiteten Wissens sequenziell analysiert und dafür die entsprechenden Textstellen in Interpretationsgruppen eingebracht und wiederum Memos und Interpretationstexte angefertigt, die ich möglichst erneut in einer solchen Gruppe zur Diskussion gestellt habe.

6 Methodologische Perspektiven

Zur Feinanalyse habe ich solche Textstellen ausgesucht, (1) bei denen aufgrund der bisher vorgenommenen Analysen davon ausgegangen werden konnte, dass sie von besonderer Bedeutung sind (z.B. solche, in denen Positionierungen und Anrufungen besonders sichtbar wurden, sie von besonderer Bedeutung für das Präsentationsinteresse schienen usw.). Weiterhin geschah die Auswahl von Textstellen (2) versuchsweise, also mehr oder weniger zufällig, und (3) mit dem Ziel der Verifizierung von bisher aufgestellten Hypothesen über den Fall (vgl. Schulze 2010: 577). Begonnen habe ich jeweils mit der Anfangssequenz, weil »empirisches Wissen darüber besteht, dass die beim Erzähleinstieg ausgewählten Themen bereits Hinweise auf die Fallstruktur geben« (ebd.) und da sonst die Gefahr besteht, dass »Verstehensvoraussetzungen« (Lucius-Hoehne/Deppermann 2002: 319) aus dem Blick geraten. Dieses Vorgehen orientiert sich auch an Spies (2010: 148), die vorschlägt, in einem frühen Stadium im Material nach Positionierungen zu suchen, diese aber zunächst feinanalytisch »ohne Kontextwissen sequentiell zu analysieren«. Dies kann später einem genaueren Verständnis der konkreten Aushandlung von Positionierungen in Interaktion mit anderen und in gesellschaftlichen Diskursen dienen, und zwar u.a. auch deshalb, weil hier intensiv mit dem Originaltranskript gearbeitet (vgl. ebd.: 102) und immer wieder zwischen der Interviewstruktur und weiteren Feinanalyse gesprungen wird. (6) Im Anschluss an diese Feinanalysen, für die der diskursive Kontext der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität zunächst analytisch etwas zurückgestellt wurde und die einer ersten Modellierung der Fälle dienten und gleichzeitig einen Fokus auf in der Erzählung vorkommende Anrufungen und Positionierungen legten, habe ich beide Transkripte in Relation zueinander betrachtet und vor dem Hintergrund der theoretischen Sensibilisierung weitergehend interpretiert bzw. modelliert. Dies diente dem Zweck, über spezifische Aneignungsweisen in Relation zueinander die »diskursiven« Rahmungen der Mobilität besser fokussieren zu können, vor deren Hintergrund die Anrufungen und Positionierungen bzw. konkreteren Vernähungen mit dem Diskurs stattfinden. (7) Die Analyse der Kontexte der Anrufungen und Positionierungen fokussiert vor dem Hintergrund der theoretischen Sensibilisierung einerseits die spezifische entwicklungspolitische Mobilitätsposition und ihre Aneignung durch Ann und Kai, indem sich Ann und Kai in dieser verorten. Sie fokussiert andererseits rassifizierte Anrufungen und Positionierungen Kais und Anns und stellt Überlegungen zu den Zugehörigkeitsordnungen an, innerhalb

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

derer diese stattfinden. Darüber hinaus wird in einem weiteren Schritt die Aneignung von »Bildung« fokussiert, nach der ich mehr oder weniger explizit gefragt habe. Im Vorgehen orientiere ich mich dabei vornehmlich an der Methodik der Grounded Theory, die auch Varga/Munsch (2014) für die Analyse der Kontexte von Positionierungen als besonders bedeutsam markieren, und zwar um möglichst viele unterschiedliche Facetten von Anrufungen und Positionierungen vor dem Hintergrund von diskursiven Kontexten analysieren zu können. •





Dementsprechend habe ich zunächst Anrufungen und Positionierungen in vorherrschenden postkolonialen Diskursen der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität rekonstruiert. Dabei habe ich nach Anschlüssen an vorherrschende Diskurse über die Art der Mobilität, die Art der Tätigkeit usw. gesucht bzw. nach Diskursen, die in Anrufungen und Positionierungen deutlich werden, und dazu sowohl einen zweiten Blick auf das bisher analysierte Material vorgenommen als auch eine theoretisch sensible, d.h. sich zwischen Theorie und Material bewegende, kontextualisierende Perspektive eingenommen. Darüber hinaus habe ich versucht, Facetten der Diskurse und des Diskursbezuges mit Hilfe der Unterschiede und Gemeinsamkeiten sowie Ambivalenzen in den Anrufungen und Positionierungen Anns und Kais herauszuarbeiten. Im Ergebnis habe ich idealtypische Diskurse der Mobilität und ihre Aneignung durch Ann und Kai rekonstruiert. Im Anschluss daran habe ich die Anrufung und Positionierung in rassifizierten und rassifizierenden Zugehörigkeitskategorien genauer in den Blick genommen, mit dem Interesse, mehr über die natio-ethno-kulturell codierte Zugehörigkeitsordnung der Mobilität sowie über die spezifischen Zugehörigkeitskategorien, in denen sich Ann und Kai positionieren, zu erfahren. Auch diese Anrufungen und Positionierungen habe ich wiederum in Hinsicht auf Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Ambivalenzen genauer beleuchtet und darüber nachgedacht, was sich in generellerer Hinsicht über die Konstitution der Zugehörigkeitsordnungen der Mobilität sagen lässt. In einem weiteren Schritt habe ich die expliziten Aneignungsweisen von Bildung in den Blick genommen und dabei erste Überlegungen zu einer bildungstheoretischen Lesart dieser Aneignungsweisen angestellt.

6 Methodologische Perspektiven

(8) Zuletzt habe ich die rekonstruierten Aneignungsweisen und Positionierungen noch einmal übergreifender in Hinsicht auf mein Interesse an »Bildung« betrachtet. Zu diesem Zweck bin ich – immer vor dem Hintergrund des größeren Zusammenhangs der einzelnen Erzählungen – der Frage nachgegangen, wo, wie und aus welchen Gründen sich Ann und/oder Kai gegebenenfalls in kritischer Auseinandersetzung oder affirmativ auf Zugehörigkeitsordnungen in einer Art und Weise beziehen, die sich als bildungsbedeutsam interpretieren lässt. Dabei habe ich eine bildungstheoretische Relektüre ausgewählter, mir besonders bedeutsam erscheinender Aspekte vorgenommen. Das bedeutet, dass es mir nicht darum ging, Bildung festzustellen, sondern eine bildungstheoretisch orientierte Lesart dieser ausgewählten Aspekte vorzuschlagen.

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7 Die Interviewsituation, Textund thematische Feldanalysen sowie Anfangssequenzen

7.1 7.1.1

Ann Interviewsituation

Im Vorlauf des Interviews gab es ein kurzes Telefongespräch, in dem wir einen Termin und einen Ort für das Interview vereinbart haben und uns auch zum Inhalt des Interviews austauschten. Ann gibt in diesem Zusammenhang an, sich als Person of Color (PoC)1 bei mir zu melden, und fragt mich, ob sie etwas Spezielles vorbereiten soll. Ich entgegne, dass sie nichts vorzubereiten habe, sondern ich ganz allgemein an ihren Erfahrungen im Kontext ihrer Freiwilligenzeit, aber auch an ihrer Biografie interessiert sei. Das Interview fand sodann in einer norddeutschen Kleinstadt in der Küche ihrer Ausbildungsstätte statt, in der die Interviewte zu der Zeit tätig war. Wir sind dort hingegangen, nachdem ein anderer Ort, den Ann im Sinn hatte, geschlossen war. In die Küche kommen von Zeit zu Zeit andere Personen hinein, wir lassen uns aber davon nicht irritieren und befinden uns nach meinem Gefühl in einer entspannten Interviewsituation. In der Ausbildungsküche zu sein bedeutet, dass wir in einem kleinen Raum an einem selbstgebauten Tisch etwas erhöht sitzen. Es liegen eine Gurke und eine Tomate auf dem Tisch, was auf einen Ort hindeutet, an dem auch sonst zusammengesessen, gekocht und

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Ich verwende in der Folge das Kürzel PoC statt Person of Color (engl.) oder Mensch mit Color, weil Ann dies selbst tut, und um in ihrer Bezeichnungspraxis zu bleiben. Als Mehrzahl verwende ich ebenfalls PoC, auch wenn dies von Ann teils anders gehandhabt wird.

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

sich unterhalten wird. Ann kocht uns zum Gespräch einen Tee, den wir nebenbei trinken. Die Atmosphäre des Interviews ist dementsprechend einerseits entspannt, Ann ist andererseits auch sehr aufmerksam und konzentriert. Ich habe ein Gefühl der Verbundenheit, das ich auf eine mögliche Milieunähe zurückführe. Am Ende des Interviews habe ich interessanterweise das Gefühl, dass wir alles besprochen haben, was im Raum stand, was Ann zum Ausdruck bringen und ich fragen wollte. Im Anschluss unterhalten wir uns noch ungezwungen und ich bringe auch Informationen zu meinem eigenen Hintergrund, meinem Forschungsinteresse und meinen Erfahrungen mit meinem eigenen Freiwilligendienst als junger Erwachsener in das Gespräch ein. Ann zeigt sich auch für alternative Forschungen, bspw. einen dialogischen Forschungsstil offen, wenn dies von meiner Seite gewünscht werde. In diesem Fall soll ich sie einfach noch einmal kontaktieren. Zu Beginn des Interviews gehe ich darauf ein, dass ich mir einen Zettel mitgebracht habe, auf dem ich mir meine Leitfragen aufgeschrieben habe. Ich erkläre, dass dieser Zettel eigentlich nicht weiter wichtig sein wird. Denn, so gebe ich an, meine Rolle soll eigentlich die des Zuhörers sein und ich würde versuchen, mich eher zurückzuhalten. Ann reagiert darauf bestätigend und ohne konkretere Nachfragen. Sie scheint ihr Einverständnis damit zu signalisieren, dass ich zunächst vorhabe, zuzuhören und mich weitestgehend zurückzuhalten.

7.1.2

Text- und thematische Feldanalyse

Bevor Ann anfängt, von sich zu erzählen, mache ich ein Erzählangebot bzw. gestalte einen ersten Rahmen für die Anfangserzählung. Dabei bitte ich sie darum, von Erfahrungen der »Zugehörigkeit« zu erzählen. […] und ich bin, ich bin eigentlich so daran, das hab ich ja schon geschrieben, an Erfahrungen von Zugehörigkeit, die du hast, von ja Zugehörigkeit aber auch Nicht-Zugehörig, nicht-dazugehören dazugehören ähm (.) aber ich bin auch, also in im Kontext dieses deines weltwärts (.) Freiwilligendienstes, aber ich bin auch eigentlich interessiert daran, dass du mir n bisschen, n bisschen was über dich erzählst. (Ann: Z. 7-11) Dabei mache ich das Angebot, möglichst frei zu erzählen und eigene Schwerpunkte zu setzen. Die Aufforderung, von Erfahrungen mit Dazugehören und Nicht-Dazugehören zu berichten, scheint andererseits anspruchsvoll. Ich

7 Die Interviewsituation, Text- und thematische Feldanalysen sowie Anfangssequenzen

spreche kein konkretes Beispiel an und das Thema des Gespräches scheint damit teilweise implizit und von der Deutung der Interviewpartner*innen abhängig zu sein. Es stellt sich die Frage, ob sich jede*r angesprochen fühlen würde. Dementsprechend stellt sich auch die Frage, auf was für eine Resonanz das Thema Zugehörigkeit bzw. Dazugehören und Nicht-Dazugehören bei Ann stößt und was es bei ihr auslöst. Ist diese Resonanz eher theoretischer Natur, weil das Thema nicht aus dem Alltag ist? Bspw. erzähle ich vielleicht nicht unbedingt einem*r Freund*in, dass ich neulich wieder etwas erlebt habe, wo ich dazugehört habe oder auch nicht, sondern werde dies konkreter gestalten und nicht diese Terminologie verwenden. Ann beginnt in einer argumentativen Sequenz damit, zu erläutern, warum sie mit mir im Rahmen des Interviews spreche, und stellt einen biografischen Link zum Thema des Interviews her. Sie datiert dazu eine »bewusste« Beschäftigung mit Zugehörigkeit auf etwa ein Jahr vor unserem Gespräch. Dabei berichtet sie, dass der Anlass der bewussten Beschäftigung von außen kam. Ann erzählt, dass es ihre weltwärts-Entsendeorganisation gewesen sei, die ihre Beschäftigung mit Zugehörigkeit anstieß, indem sie sie im Anschluss an ihre weltwärts-Zeit auf eine Gruppe von vor allem Schwarzen Deutschen und PoC aufmerksam machte. Der biografische Link wird so von Ann an das Ende ihrer weltwärts-Zeit gebunden. Gleichzeitig ergibt sich die thematische Frage nach der biografischen Relevanz für Ann. Es ließe sich vor dem Hintergrund dieser Art des Anstoßes vermuten, dass die Auseinandersetzung mit Dazugehören und Nicht-Dazugehören eher weniger biografische Relevanz besitzt oder dass sie in einem sozialen Umfeld lebt bzw. gelebt hat, welches ihr die Auseinandersetzung mit ihrer Deutung des Themas des Dazugehörens und Nicht-Dazugehörens nicht nahelegt bzw. nicht nahegelegt hat. Ann erzählt anschließend, dass sie in der »Gruppe« mit Menschen zusammenkommt, die in ihrem Leben »andere Erfahrungen« gemacht haben. Ann expliziert diese Erfahrungen an dieser Stelle nicht weiter. Das deutet darauf hin, dass sie entweder davon ausgeht, dass ich weiß, von welchen Erfahrungen sie spricht, oder dass sie davon ausgeht, dass ich ihre Aussage ohne weitere Erläuterung glaube. Dieser Einstieg lässt mich vermuten, dass Ann nun in der Folge ihre eigenen Erfahrungen in Hinsicht auf die angesprochenen »anderen Erfahrungen« sortiert und sich entsprechend daraufhin positionieren wird. Auf die obige Darstellung folgt eine von einer Erzählung geprägt Sequenz, in der Ann davon berichtet, dass sie zu diesen »anderen« Erfahrungen zunächst ihre Mutter befragt habe. Die Textsorte der Erzählung konstatiert ein

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Interesse, ohne genauer zu spezifizieren (spezifizieren zu müssen), was genau ihr Interesse geweckt hat. Die Erzählung der Befragung ihrer Mutter legt nahe, dass es eine gängige Praxis für sie ist, ihre Mutter zu befragen bzw. ihr die Befragung ihrer Mutter naheliegt, da diese Praxis keiner weiteren Erläuterung bedarf. Es ist insofern voraussichtlich eine Aussage über die Beziehung Anns zu ihrer Mutter, zu der sie geht, wenn sie etwas Wichtiges zu besprechen hat. Möglich wäre auch, dass sie mit ihrer Mutter spricht, weil sie von ihr etwas über sich erfahren möchte, von einer Zeit, über die sie nicht so viel weiß wie ihre Mutter, weil sie sich nicht so gut oder nur anders erinnert, und dass sie annimmt, dass mir dies klar sei. Es lässt sich weiter die eingehende Hypothese bestätigen, dass Anns Umfeld, zumindest das familiäre Umfeld, ihr die Beschäftigung mit (Nicht-)Zugehörigkeit, so wie sie sie hier thematisiert, nicht nahegelegt hat. Ob bzw. welche biografische Bedeutung diese Beschäftigung für Ann besitzt, erscheint mir noch klärungsbedürftig. Ann erklärt in der folgenden Sequenz weiter, inwiefern ihre Mutter eine wichtige Ansprechpartnerin für sie ist. Dazu präsentiert sie sich als jemand, deren Eltern früher in einer antirassistischen Initiative aktiv waren und damit aus einem politisierten Kontext kommen. Sie beschreibt ihre Mutter als Weiß, »sensibilisiert« und informiert und berichtet davon, dass sie ihre Mutter als erste Ansprechpartnerin sieht. Der Vater Anns spielt über die Kennzeichnung Schwarz und »aktivistisch« hinaus für ihre Positionierung zunächst keine Rolle. Hier wird expliziter als zuvor deutlich, dass Ann meine Frage nach Zugehörigkeit als Frage nach der biografischen Bedeutung rassifizierter Zugehörigkeitskategorien interpretiert. Es stellt sich die Frage, warum, wenn sie ihre Eltern als politisiert in Bezug auf Rassismus beschreibt und sie sich selbst vor dem Hintergrund der Zugehörigkeit ihrer Eltern als PoC positionieren könnte, die Auseinandersetzung mit der Bedeutung von »Race« für Ann bis zum Austausch mit der Gruppe Schwarzer Menschen und PoC kein explizites Thema gewesen zu sein scheint. Es lässt sich vermuten, dass Ann mehr in Kontakt zu ihrer Mutter als zu ihrem Vater steht und die Mutter bzw. die Eltern ihre politische Aktivität aufgegeben und deren Bedeutung nicht an Ann weitergetragen haben. In dem Moment, in dem sie nachfragt, steht dann »Literatur« bereit, jedoch keine geteilte »andere« Erfahrung. Diese Praxis erscheint wie der Versuch, Ann von der Bedeutung rassifizierter Zugehörigkeit fernzuhalten, und gibt ihr damit evtl. gleichzeitig mehr Bedeutung, indem sie zu einem Elephant in the Room wird. Es scheint sich hier demnach zu bestätigen, dass Anns Umfeld ihr die Beschäftigung mit diesem Aspekt ihrer Zugehörigkeit nicht nahegelegt hat, und zwar obwohl (oder gerade weil?) die Mutter als

7 Die Interviewsituation, Text- und thematische Feldanalysen sowie Anfangssequenzen

sensibilisiert beschrieben wird, Ann sich als PoC beschreiben könnte und die Eltern früher in einer antirassistischen Initiative politisch aktiv waren. Es schließt sich eine Erzählung an, in der Ann davon berichtet, dass sie in der Folge viel »dazu« liest und dass ihr Interesse geweckt wurde. Sie verbindet das sich regende Interesse mit einem Sich-wieder-Finden und VerstandenFühlen. Ann beschreibt einen Moment der Erkenntnis, dass »es« bei ihr auch »so« ist, und beginnt, sich auf die Suche nach Momenten zu begeben, in denen sie »andere Erfahrungen« aufgrund ihrer »Hautfarbe« gemacht hat. Ann präsentiert sich im Interview als eine Person, die sich über das Lesen die Bedeutung von rassifizierter Anrufung – in Verweis auf »Hautfarbe« – für sich selbst erschließt und die damit zunächst eine intellektuelle Herangehensweise zeigt und diese dem direkten (Erfahrungs-)Austausch mit anderen zunächst vorzuziehen scheint. Dementsprechend scheint es ihr bei der Suche nach »anderen« Erfahrungen innerhalb ihrer eigenen Geschichte zunächst auch um eine Selbstvergewisserung zu gehen, die klären möchte, ob ihr Interesse und ihr Gefühl des Verstanden-Seins auch zu den (Rassismus-)Erfahrungen passen, von denen geschrieben und berichtet wird. Insofern präsentiert sie sich als jemand, die auf der Suche danach ist, was rassifizierte Zugehörigkeit für sie genau bedeutet und inwiefern sie davon genau betroffen ist. Unterstrichen wird hier die Vermutung, dass Ann sich in ihrem familiären und sozialen Umfeld bisher nicht derart mit »Race« beschäftigt hat und/oder nicht hat beschäftigen müssen. In den folgenden Sequenzen erzählt Ann von Spuren in ihrer Biografie. Dabei hebt sie zunächst einen Umzug in ihrer Kindheit von einer norddeutschen Großstadt in ein süddeutsches Dorf hervor und verbindet dies mit der Erfahrung, exotisiert zu werden. Dabei wird nun deutlicher als zuvor, dass Ann unter einer »anderen« Erfahrung eine rassifizierende Anrufung durch andere versteht. Es wäre möglich, diese Erfahrung hauptsächlich auf den Umzug von der Stadt aufs Dorf zurückzuführen, also auf den Umzug, auf einen anderen Lebensstil, anderes Denken, Kleidung usw. Ann stellt jedoch stattdessen die Kategorie »Race« in den Vordergrund, indem sie die Situation in den Kontext ihres Schwarz-Seins und des Weiß-Seins der Mutter stellt. Hinzu kommt eine Unsicherheit in Bezug auf ihren Vater, der hier für die Menschen des Dorfes als abwesend erkennbar wird. An dieser Stelle bestätigt sich auch eine bereits weiter oben geäußerte Hypothese: Anns Eltern haben sich wohl getrennt und sie ist allein mit ihrer Mutter umgezogen. In der dörflichen Gemeinschaft scheint diese familiäre Situation beäugt zu werden. Interessant ist auch, dass anscheinend nicht nach dem Vater gefragt wurde.

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Dementsprechend macht Ann hier mit den Konzepten »Stadt–Land«, »Race« und »familiäre Situation« mindestens drei Kategorien der sie besondernden Anrufung durch andere auf. Ann stellt in ihrer weiteren Erzählung dennoch rassifizierte Zugehörigkeiten in den Mittelpunkt und berichtet von der Normalität der Exotisierung in der Grundschule. Diese Normalität wird jedoch etwas eingeschränkt und Ann changiert zwischen Normalität/Gewöhnung und doch nicht ganz daran gewöhnt zu sein, speziell zu sein. Sie positioniert sich dabei mir gegenüber als jemand, der es wichtig sei zu betonen, dass sie wenig negative Erfahrungen »damit« vorzuweisen habe. In der folgenden Sequenz kontextualisiert sie ihre Erfahrung und setzt sie in Bezug zu Erfahrungen Schwarzer Deutscher aus ihrem Freundeskreis, die »ziemlich andere Erfahrungen« gemacht haben. Auch wenn die Art der Erfahrung hier wieder unbenannt bleibt, so kann sie sich vor dem Hintergrund der vorherigen Sequenz wohl nur auf negative Erfahrungen aufgrund von Hautfarbe beziehen. Ann positioniert sich mir gegenüber vor diesem Hintergrund also als nicht in dieser Weise von »anderen Erfahrungen« betroffen, wie andere Menschen aus ihrem Freundeskreis. Sie beschreibt sich dennoch als rassifiziert, präsentiert sich aber als auf der Suche nach einer genaueren Bestimmung der Art und der biografischen Bedeutung dieser rassifizierten Besonderung ihrer Person. In der nächsten Sequenz, in der die Textsorte der Argumentation prägend ist, wechselt Ann den Kontext der Erzählung – weg von der biografischen Spurensuche in Kindheit und Freundeskreis, hin zu weltwärts. Sie bleibt dabei im Modus dieser Spurensuche, indem sie auch hier ihre Erfahrungen mit »Race« in den Mittelpunkt stellt. Dementsprechend bringt Ann die Motivation, weltwärts in Mosambik zu machen, in Zusammenhang mit ihrer Annahme, dort nicht so aufzufallen, habe aber feststellen müssen, dass dies nicht der Fall sei, sondern dass sie dort, wenn, dann in eine andere rassifizierte Zugehörigkeitskategorie fiele, die südasiatischen Menschen vorbehalten sei, oder sie für jemanden gehalten werde, die aufgrund eines Elternteils familiäre Verbindungen zu Mosambik habe. Auch in der darauffolgenden Sequenz dominiert die Textsorte der Argumentation. Ann erläutert, dass sie sich sehr mit als Schwarz angerufenen und sich so positionierenden Menschen identifiziere und dass dies mit einem Gefühl zusammenhinge, weniger erklären zu müssen und vieles gemein zu haben. Es ist etwas unklar, warum Ann diese Erklärung an dieser Stelle einfügt. In meinem Verständnis bestätigt sie hier auf der einen Seite in

7 Die Interviewsituation, Text- und thematische Feldanalysen sowie Anfangssequenzen

gewisser Weise ihre Suchbewegung und derzeitige Unbestimmtheit der eigenen Selbstbeschreibung. Auf der anderen Seite versucht sie mir vielleicht die bleibende Relevanz dieser Suche zu erläutern: Auch wenn die Erwartung, in Mosambik fraglos dazuzugehören, so nicht eintrifft, was die Relevanz ihrer Positionierung unterminieren könnte, so ist diese Relevanz doch durch die Identifikation und das Gefühl des Verstanden-Seins weiterhin gegeben. Bedeutsam erscheint auch, dass die Annahme in Bezug auf Mosambik, dort nicht so aufzufallen, und die Angabe zu Beginn unseres Gespräches, sich erst nach der weltwärts-Zeit mit Zugehörigkeit beschäftigt zu haben, anscheinend im Widerspruch stehen. Dies kann auf eine Umarbeitung der eigenen Biografie hinweisen oder auch, stärker als Ann dies mir gegenüber zu tun scheint, die biografische Relevanz des Themas für Ann hervorheben. Ann scheint weiterhin die von ihr in Deutschland erfahrene rassifizierte Zugehörigkeitspraxis auf Mosambik zu projizieren und muss feststellen, dass diese Projektion in dieser Art nicht funktioniert. In der nächsten Sequenz greift sie das Thema des Nicht-Auffallens in Mosambik wieder auf und argumentiert, warum ihr dies nicht möglich gewesen wäre. Ann deutet dabei in Richtung ihrer eigenen privilegierten Stellung, die sich in ihrem Herkunftsland und ihren Möglichkeiten, allein reisen und einfach als Freiwillige arbeiten zu können, ausdrücken. Diese Referenzen wirken wie ein Anschluss an weitere Diskurse, die die Freiwilligenarbeit begleiten und sich mit Privilegien beschäftigen. Zur Unterstützung ihrer Argumentation führt Ann die Aussage einer Kollegin in Mosambik an, die auf ihre habituelle Erkennbarkeit als »anders« hinweise. Ann schließt die erste Haupterzählung mit einer Positionierung ab, in der sie der Kollegin nachdrücklich zustimmt und die Relevanz dieser Aussage für sich selbst hervorhebt, indem sie berichtet, oft an diese gedacht zu haben. Die Aussage scheint für Anns Positionierung in der Erzählung also bedeutsam zu sein. Wenn dem so ist, ist die Stelle auch insofern bedeutsam, als die Erkennbarkeit als »anders« hier komplex und vielschichtig und zu mehr als »nur« »Hautfarbe« wird. Im Vordergrund von Anns Selbstpräsentation scheint die Auseinandersetzung mit einer rassifizierenden Anrufung aufgrund von »Hautfarbe« in Deutschland zu stehen sowie die eigene Privilegiertheit und von Deutschland divergierende Anrufungspraxis in Mosambik. Beide Erfahrungen erscheinen als noch unbestimmt und werden als uneindeutig präsentiert. Die Felder, in die Ann mit weltwärts eintritt, sind darüber hinaus divers und legen ihr einerseits die Auseinandersetzung damit nahe, in welcher Weise sie von rassifizierten Zuschreibungen betroffen ist, und betonen andererseits die Komplexität

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

von Privilegierungen und habituellen Erkennbarkeiten. Kontexte der Beschäftigung sind dabei sowohl Deutschland als auch Mosambik und die hier jeweils vorzufindende Anrufungs- bzw. Privilegierungspraxis. Es kann vor dem Hintergrund der Art ihres Anschlusses an den Zusammenhang von als Schwarz und PoC angerufenen und sich so positionierenden Menschen vermutet werden, dass Ann auch der Frage nachgehen wird, inwiefern sich ihre Erfahrungen von denen anderer Freiwilliger unterscheiden. Ann positioniert sich mir gegenüber dabei ausgesprochen reflexiv interpretierend und suchend.

7.1.3

Anfangssequenz: Hintergründe und Ressourcen für die Beschäftigung mit Rassifizierung

ähm, also jetzt auch noch mal in Bezug auf das Schreiben von (.) dir war, also hat mich das sehr angesprochen (.)/I: mmm/A.: ähm (.) ich beschäftige mich eigentlich damit so bewusst, also das mir das bewusst ist mit den Zugehörigkeiten eigentlich erst seit nem Jahr/I: mmm/A.: auch durch [Name der Entsendeorganisation] bedingt, weil mir da von (Mitarbeiterin) sie mich auf die Gruppe [Name der Gruppe] auf (.) merksam gemacht hat/I: mmm/A.: ähm, die also s sind vor allem, also es sind Schwarze Deutsche und PoCs, die eben weltwärts gemacht hatten/I: mmm/A.: und jetzt (.) eben in der Rückkehrarbeit zusammen tätig sind und (.) einfach noch mal auch gesagt haben, sie haben andere Erfahrungen sowohl bisher in ihrem Leben gemacht als auch dann während dem weltwärts-Jahr (.) und (.) dann war ich da mal mit bei nem Treffen dabei und fands total interessant und, ähm, (.) hab mir auch viel Literatur dazu angeguckt, also allgemein (.) und, ähm, von meiner Mutter hab ich da auch sehr viel mit also meine Mutter is, ähm, weiß (leiser) und, ähm, mein Vater schwarz (leiser), mein Vater kommt aus [südasiatisches Land] (.) ähm (.) und (.) meine Mutter ist für meinen Eindruck sehr sensibilisiert für das Thema und hat mir auch von sich aus ganz viel Literatur, grad so von [antirassistische*r Autor*in] und so gegeben/I: mmm/A.: ähm, weil meine Eltern beide halt in (.) der Arbeit damals in einer deutschen Großstadt als [antirassistische Aktivist*innen] angefangen hatte auch eben mit aktiv waren bei der [einer antirassistischen Initiative] (.) und ja und irgendwie hab ich so n bisschen den Anstoß da bekommen und (.)/I: mmm/A.: halt ganz viel gelesen und fands total interessant, weil ich, ähm, mich sehr verstanden gefühlt hab und (.) ja und mir ganz viel irgendwie (unverständlich) und dann halt, ja stimmt, das is bei mir auch so, aber ich hab mir das noch nie so bewusst gemacht eigentlich, ähm (.). (Ann: Z. 64-92)

7 Die Interviewsituation, Text- und thematische Feldanalysen sowie Anfangssequenzen

Zu Beginn des Interviews kommt Ann auf mein Anschreiben und auf »Zugehörigkeit« zu sprechen. Das Anschreiben gewinnt damit zunächst eine zentrale Bedeutung für den Gesprächseinstieg. Es kann als ein Zeichen dafür verstanden werden, dass Ann sich im Vorfeld vorbereitet und sich bereits eine erste Erzählung zurechtgelegt hat. Ann gibt ferner an, sich von meinem Anschreiben »sehr angesprochen« gefühlt zu haben. Sehr angesprochen fühle ich mich, wenn etwas bei mir eine Form der Responsivität auslöst und so etwas wie einen Nerv trifft. Ann stellt einen direkten Zusammenhang zwischen ihrer »bewussten« Beschäftigung mit Zugehörigkeit und der speziellen Responsivität her. Da sie angibt, dass ihre eigene bewusste Beschäftigung mit diesem Thema »erst seit nem Jahr« stattfinde, entsteht der Eindruck, dass ihre Beschäftigung mit dem, was sie am Thema »Zugehörigkeiten« interessiert, nicht abgeschlossen ist und Ann daher Interesse an Aktivitäten mitbringt, die sich in ihrer Hinsicht mit der Thematik befassen. Ann stellt, indem sie angibt, sich jetzt bewusst mit Zugehörigkeit zu beschäftigen, gleichzeitig implizit die Existenz einer Differenz zwischen bewusster und unbewusster bzw. vorbewusster2 Beschäftigung mit Zugehörigkeit fest. Sie präsentiert das Thema Zugehörigkeit also als eines, dessen man sich nicht notwendigerweise bewusst sein muss, damit es wichtig ist. Eine weitere Erläuterung dahingehend, wie sich diese beiden Varianten voneinander unterscheiden, findet an dieser Stelle nicht statt. Es bleibt ebenfalls zunächst unklar, was sie meint, wenn sie von der Beschäftigung »damit« und mit »den« Zugehörigkeiten spricht. Ann scheint es klar zu sein, was »damit« gemeint ist, und sie scheint auch davon auszugehen, dass es mir klar ist. Sie stellt damit eine Verbundenheit in Hinsicht auf die gemeinsame Kenntnis des Themas her, über das wir ihrer Ansicht nach sprechen. Wir haben also in dieser Lesart etwas gemein, nämlich die bewusste Beschäftigung mit »dem« Thema. Ann präsentiert sich außerdem als jemand, die reflektierte Kenntnis »des« Themas besitzt, das sie als für das Interview zentral zu erachten scheint und in dieser Hinsicht auch etwas Bedeutsames beitragen kann. Einerseits stellt Ann demnach Verbundenheit her, indem sie sich als kenntnisreich/Expertin präsentiert und weckt Erwartungen an eine reflektierte Erzählung. Sie macht des Weiteren zwei mögliche Varianten der

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Unbewusst bzw. vorbewusst ist hier nicht im psychoanalytischen Sinne gemeint. Vielmehr in dem Sinne, dass die »Genese, die Geschichte vergessen wurde« (Schwingel 2005: 63). Nach Bourdieu machen vorbewusste Handlungsweisen mehr als die Hälfte des Handelns aus (vgl. Bourdieu 2001: 166).

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Beschäftigung mit Zugehörigkeit aus, eine bewusste, für die Ann – seit kürzerer Zeit – steht und weswegen sie vielleicht überhaupt mit mir spricht, sowie eine unbewusste Variante, deren genaue Eigenschaften zunächst unklar bleiben. Sie erklärt sodann genauer, wie sie zu einer Beschäftigung mit »den Zugehörigkeiten« gekommen ist. So führt Ann aus, dass sie im Anschluss an ihre weltwärts-Zeit durch die Mitarbeiterin ihrer Entsendeorganisation in Kontakt mit einer Gruppe gekommen sei, der es darum gehe, gemeinsam ihre Erfahrungen als Schwarze Deutsche und PoC im Kontext von weltwärts zu reflektieren. Sie erzählt, dass sie hier in Kontakt mit Menschen komme, die sich zusammengeschlossen hätten, weil sie generell wie auch in der weltwärts-Zeit »andere Erfahrungen« gemacht hätten. Ein Treffen der Gruppe, an dem Ann teilnimmt, beschreibt sie als »total interessant«. Das Treffen regt damit etwas bei Ann an. Neben der Teilnahme an dem Treffen beginnt sie eine weitergehende Beschäftigung mit Literatur ganz »allgemein«. Es wird an dieser Stelle (noch) nicht deutlich, ob sie diese Beschäftigung erst nach ihrer Teilnahme am Gruppentreffen beginnt oder die Aktivitäten zunächst relativ unabhängig voneinander stattfinden, denn die Beschreibung des Treffens als »total interessant« kann vieles bedeuten, sowohl, dass Ann hier allererste Einblicke gewinnt, als auch, dass sich Ann sowieso damit befasst und es daher spannend findet. Ann erzählt im Anschluss von ihren Eltern. Sie beschreibt dabei ihre Eltern in den rassifizierten Zugehörigkeitskategorien Schwarz und Weiß, was ihr schwerzufallen oder etwas unangenehm zu sein scheint, da sie an diesen Stellen kurz innehält und dann leiser spricht. Es lässt sich vermuten, dass die Kategorisierung von Personen durch ihre »Hautfarbe« für Ann eigentlich etwas ist, das ihr nicht naheliegt und das sie eher für falsch hält. Oder aber die Bezeichnung ihrer Eltern als Schwarz und Weiß ist für sie (noch) nicht selbstverständlich, sie erachtet sie aber als bedeutsam für die weitere Erzählung. Auf diese Lesart deutet hin, dass sie angibt, sich erst seit dem Ende ihrer weltwärts-Zeit bewusst mit rassifizierten Zugehörigkeitskategorien zu beschäftigen. Sie erwähnt im Zusammenhang mit ihrem Vater dessen Herkunft aus einem südasiatischen Land und lässt die Herkunft ihrer Mutter offen oder geht davon aus, dass deren Herkunft – vermutlich aus Deutschland – mir klar sein sollte. Sie beschreibt ihre Mutter ihrem Eindruck nach als für »das Thema« sehr sensibilisiert und sie bekommt von ihr »von sich aus ganz viel Literatur grad so von [antirassistische*r Autor*in] und so«. Es bleibt offen, ob Anns Mutter ihr diese Literatur erst gibt, als sie beginnt, sich dafür

7 Die Interviewsituation, Text- und thematische Feldanalysen sowie Anfangssequenzen

zu interessieren, oder ob sie von der Mutter auch davor viel Literatur bekommen hat. Ihre Mutter, erzählt Ann, könne ihr Literatur geben, weil Anns Eltern früher in einer antirassistischen Initiative aktiv waren. Anns Vater bleibt in der Erzählung als Ansprechpartner unerwähnt, was dafür spricht, dass sie ihn nicht fragt bzw. nicht fragen kann, bspw. weil ihre Eltern getrennt sind und sie in der Folge mehr Kontakt zur Mutter als zum Vater hat. Obwohl sie ihre Mutter als »sehr sensibilisiert« beschreibt, macht sie deutlich, dass sie den »Anstoß« für eine Beschäftigung mit rassifizierten Zugehörigkeitskategorien durch die weltwärts-Gruppe bekommen habe. Sie präzisiert, was sie »total interessant« fand, indem sie davon erzählt, sich »sehr verstanden« gefühlt zu haben und sich daraufhin dessen bewusst geworden zu sein, ähnliche Erfahrungen gemacht zu haben: »[H]alt, ja, stimmt das is bei mir auch so, aber ich hab mir das noch nie so bewusst gemacht eigentlich«. Ann präzisiert also im Laufe der Einstiegssequenz das Thema der Zugehörigkeiten. Von einem allgemeinen Thema wird es zum Thema der Rassifizierung von Zugehörigkeit, für das sie sich aus Gründen der eigenen Anrufung bzw. geteilten Erfahrung mit anderen Schwarzen und PoC anfängt, bewusst zu interessieren. Sie beschreibt dabei die Entdeckung der Relevanz ihrer biografischen Bezüge, etwa in der Herkunft bzw. rassifizierten Zugehörigkeit des Vaters (bzw. der Eltern) und in einer Sensibilität der Mutter. Dieser Lesart folgend präsentiert sich Ann als jemand, deren Beschäftigung mit rassifizierten Aspekten ihrer eigenen Zugehörigkeit noch am Anfang steht, die aber auf der Suche danach ist und sich aktiv dafür interessiert und dazu informiert. Der Grad der eigenen Betroffenheit scheint für Ann noch klärungsbedürftig zu sein. Da diese Suche so zentral an den Anfang der Erzählung gesetzt wird, kann vermutet werden, dass es diese Suche ist, die ihre Erzählung auch im Weiteren strukturieren wird. Dabei ist diese Rahmung ihrer Erfahrungen in und um die weltwärts-Zeit eine, die so präsentiert wird, als ob sie erst nachträglich vorgenommen wird. Insofern gehe ich davon aus, dass Ann ihre Erfahrungen nun nachträglich einer (Neu-)Bewertung vor diesem Hintergrund unterzieht.

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

7.2 7.2.1

Kai Interviewsituation

Der Kontakt zu Kai wird mir über eine Mitarbeiterin seiner Entsendeorganisation ermöglicht, die auf meine Anfrage hin anbietet, mich gleich mit mehreren ehemaligen Freiwilligen zu vernetzen. Ich telefoniere daraufhin mit Kai, wobei ich kurz in den Kontext meiner Forschung einführe, dies aber sehr kurz halte, und mein Interesse an seinen Zugehörigkeitserfahrungen, aber auch Erfahrungen im Allgemeinen, die er bedeutsam findet, erläutere. Wir verabreden sodann ein Treffen an einem von Kai gewählten Ort in einer norddeutschen Stadt. Dort treffen wir uns an einer Bahnstation in der Nähe von Kais Wohnort und gehen in ein kleines Café, das er vorgeschlagen hat. Hier ist es recht voll. Es läuft zwar keine wirklich laute Musik, aber die Hintergrundgeräusche durch Musik und weitere Gespräche sind keineswegs leise, ich empfinde sie aber auch nicht wirklich als störend. Auch die Sitzplatzsituation ist etwas ungemütlich. Wir mussten etwas warten, sodass das Vorgespräch auf einer Bank und das richtige Gespräch dann auf Hochstühlen am Fenster mit Blick auf die Straße stattfand. Wir drehen uns so, dass wir uns gegenübersitzen. Kai ist zu Beginn des Gesprächs noch recht förmlich, was sich mit der Zeit immer mehr gibt. Vielleicht hat die zu Beginn noch etwas befangene Gesprächsatmosphäre auch etwas mit der Aufnahme des Gesprächs zu tun. Bevor Kai beginnt zu erzählen, führe ich in das Thema des Interviews ein. Dabei erkläre ich zunächst, dass ich mich im Interview zurückhalten werde und dass es von Kais Seite keiner Vorbereitung bedarf, weil es um seine Erfahrungen gehe. Diese eingehenden Erklärungen von meiner Seite entsprechen anscheinend nicht Kais Erwartungen, denn sie führen ihn zu der Nachfrage, ob ich ihm denn schon Fragen an die Hand geben werde. Eine weitere Erläuterung meinerseits, dass ich nachfragen werde und »Sachen« dabeihabe, für die ich mich interessiere, scheint Kai zunächst auszureichen. Ich notiere mir im Anschluss, dass Kai teilweise sehr bemüht darum war, zu erklären und dabei die Themen, von denen er erzählt, »richtig« reflektiert einzuordnen. Als eine Konsequenz davon, so schreibe ich mir auf, kommen wir erst etwas später auch zu Themen, die persönlich werden. Dabei ist auffallend, wie emotional Kai beim Sprechen über seine Gastfamilie wird, da er an dieser Stelle den Tränen nahe scheint.

7 Die Interviewsituation, Text- und thematische Feldanalysen sowie Anfangssequenzen

7.2.2

Text- und thematische Feldanalyse

Auf meine Eingangsfrage hin beginnt Kai, in einer zwischen den Textsorten Argumentation und Erzählung changierenden Sequenz, mir von seinen Überlegungen zu berichten, wie er zu weltwärts gekommen sei. Er beginnt in der Zeit nach seinem Abitur. Er beschreibt es so, dass diese Zeit einfach so vorbeigegangen sei und er sich nun die Frage stellte, was er tun solle. Er präsentiert sich damit als jemand, der zunächst keinen konkreten Plan für seine direkte Zukunft gehabt hat. Studieren, argumentiert er, sollte es so direkt jedenfalls zunächst nicht sein, dazu habe er noch keine Lust gehabt. Stattdessen sollte es eine Pause sein, wobei die Pause aber mit einer Tätigkeit gefüllt sein sollte. Die Überlegungen geschehen zunächst vorwiegend im Ausschluss von Möglichkeiten. So gebe es das, was alle machen, z.B. nach Australien oder Neuseeland zu gehen. Diese Möglichkeit schließt Kai für sich aus, er finde sie lachhaft, vor allem, weil dort zu viele Leute seien und sogar die Möglichkeit bestehe, Bekannte aus der Nachbarschaft wiederzutreffen, wie eine Cousine von Kai erfahren habe. Die Tätigkeit, die Kai vorschwebt, soll also etwas Besonderes sein und sich von dem abheben, was andere Menschen aus seinem Umfeld so tun. Kai präsentiert sich hier als jemand, dem es um das Machen einer besonderen Erfahrung geht. Diese besonderen Erfahrung kennzeichnet, dass sie an einem Ort erlebt werden muss, an dem keine Bekannten getroffen werden können. Kais Planung scheint darüber hinaus wenig von materiellen Sorgen um seine Zukunft bestimmt zu sein. In der folgenden, überwiegend im Modus der Argumentation gehaltenen, Sequenz berichtet Kai weiter davon, wie er zu weltwärts gekommen sei, und präsentiert seine Entscheidungsfindung auch hier vornehmlich als auf einem Ausschlussprinzip beruhend. D.h., Kai präsentiert sich als jemand, der zu diesem Zeitpunkt besser weiß, was er nicht möchte, als was er möchte. Dabei spielen Erzählungen aus dem Freundeskreis (Australien ist etwas, wo jede*r ist) und gesellschaftliche Diskurse (wo es besonders spannend sein könnte) eine wichtige Rolle. Dieses thematische Feld wird auch im Weiteren zunächst von Kai verfolgt. Daran anschließend berichtet Kai davon, wie er erfuhr, dass es für ihn wahrscheinlich nach Tansania gehen werde und von seinem Engagement, sich einen Spendenkreis aufzubauen. Kai erzählt, sich dann kurz dazu zu informieren und festzustellen, dass es eine schöne Gegend zu sein scheint, und es erst einmal dabei zu belassen. Er habe sodann über seine Entscheidung mit Freund*innen und Verwandten gesprochen und positive Rückmeldun-

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

gen bekommen. Kai präsentiert sich hier als jemand, dem die Rückmeldung seiner Freund*innen und Familie zu seinen Plänen bedeutend ist. Er brauche sie auch, damit sie ihn mit Geld unterstützen (die Familie und Verwandten). Der Kontext, in den es für ihn ging, steht nur wenig im Mittelpunkt seines Berichtes. Er erscheint damit als jemand, der die Dinge zunächst einfach auf sich zukommen lässt und sich relativ wenig vorbereitet. Gleichzeitig kann dies auch für ein Vertrauen in die Dinge stehen, die da kommen werden. Im Sinne von: Es wird schon alles werden. Er bestätigt damit die Eingangshypothese, eher sorglos in seine direkte Zukunft zu blicken. In der nächsten Sequenz erläutert Kai, dass eine weitere Vorbereitung aus seiner Sicht nicht nötig gewesen sei, weil in den zwei Wochen vor der Abreise noch ein Vorbereitungsseminar seiner Organisation stattgefunden habe, ein Sprachkurs und ein Seminar, »in dem es intensiver wurde«, und konkretisiert sodann auch die Inhalte des Seminars. Er gibt an, dass sich dabei mit Rassismus, der Rolle als junge Weiße, die die Freiwilligen haben werden, ihrem Arbeiten ohne Qualifikationen und ihrem Anspruch, dennoch etwas Bedeutsames zu tun, auseinandergesetzt wurde. Die Sequenz bleibt vornehmlich in der Textsorte der gerafften Erzählung und die »Intensität«, die zuvor benannt wurde, wird zwar an Themen gebunden, hier aber nicht weiter konkretisiert. So entsteht der Eindruck, dass die Themen Kai zwar als intensiver als andere empfindet, da er aber nicht weiter auf diese eingeht, entsteht aber auch der Eindruck, dass sie ihn eher weniger interessieren bzw. ihm eher äußerlich sind, obwohl er sie als wichtige Themen benennt. Durch ihre Benennung zu Beginn des Interviews glaube ich dennoch erwarten zu können, dass Kai im Interview auf sie Bezug nehmen und sich ihnen gegenüber positionieren wird. Das Vorbereitungsseminar erscheint damit vermutlich als eine wichtige diskursive Rahmung. Gleichzeitig stellt sich aufgrund der Kürze der Thematisierung und der Textsorte die Frage, wieweit Kai die Auseinandersetzung mit den Themen internalisiert hat oder ob sie ihn vielleicht nicht so intensiv beschäftigt. Im Folgenden beschreibt Kai in aller Kürze seine Ankunft in Tansania, um mich im Anschluss zu fragen, ob ich »Theorien zu Kulturschock« bzw. »Rückkehrschock« kennen würde. Ich antworte darauf mit dem Vorschlag, er könne ja davon erzählen. Kai begibt sich mit seiner Frage an dieser Stelle auf eine Metaebene. Es ist zu erwarten, dass er gleich von einer Erfahrung berichten möchte, die er wahrscheinlich bereits einordnet. Es stellt sich auch die Frage, ob die Theorien, auf die Kai hier Bezug nimmt, Thema des Vorbereitungsseminars gewesen sind oder ob sie eher dem Alltag oder eigenem

7 Die Interviewsituation, Text- und thematische Feldanalysen sowie Anfangssequenzen

Interesse entspringen. In jedem Fall präsentiert sich Kai mir gegenüber hier als reflektiert und als jemand, der seine Erfahrungen selbst im Anschluss mit Expert*innenwissen sortieren und einordnen kann und der in seinen Erklärungen Anschluss an weitere Diskurse sucht. Um »Kulturschock« geht es dann auch in den sich anschließenden Sequenzen. An eine Erklärung seines Verständnisses des Phänomens schließt sich der Bericht seiner Nicht-Erfahrung des »Kulturschocks« an. Kai geht sodann in einer längeren argumentativen Sequenz Gründen nach, die dazu geführt haben könnten, keinen »Kulturschock« erfahren zu haben. Genannt werden in diesem Zusammenhang persönliche Eigenschaften, ein Wunsch nach der Erfahrung eines Kulturschocks, ein Vergleich mit anderen Freiwilligen und eine, im Unterschied zu den anderen Freiwilligen, besondere Eingebundenheit/Integration sowohl in Tansania als auch in Deutschland. Kai zieht dabei die Existenz eines »Kulturschocks« nicht in Zweifel, nur weil er ihn nicht erlebt habe. Stattdessen geht er der Frage nach den Eigenschaften seiner Persönlichkeit nach, die dazu geführt haben mögen, dass er solch einen »Kulturschock« nicht erlebt hat. Die Frage nach persönlichen Eigenschaften und einer besonders gelungenen »Integration« kommen als thematische Felder hinzu. Kai gibt sodann an, noch einmal zurück zum Anfang gehen und von seiner ersten Zeit in Tansania berichten zu wollen. Die nun folgenden Sequenzen springen zwischen den Textsorten des Berichtes und der Argumentation, wobei die vergleichenden und argumentativen Teile bestimmend sind. Kai fängt damit an, davon zu erzählen, dass er ohne konkrete Vorstellungen in Tansania ankam, auch da er sich nicht weiter vorbereitet habe. Mit den Vorstellungen sei es, so argumentiert er weiter, wie beim Lesen oder Erzählen, denn was man lese oder erzählt bekomme, unterscheide sich immer von dem, was dann kommen werde. Daher liege es immer an einem selbst, etwas daraus zu machen. Kai präsentiert sich hier als jemand, dem es wichtig ist, seine eigene Perspektive zu entwickeln, und der aus diesem Grund den Erzählungen und Berichten anderer nur bedingt Glauben schenkt. Diese Einstellung scheint Legitimation dafür zu sein, sich nicht zu viel zu informieren, und dazu zu führen, eher wenig über den Kontext, in den er nun geht, zu wissen. Kai schließt eine argumentativ geprägte Erzählung darüber an, dass Gastfamilien immer einen Vergleich zum Vorgänger machen würden und er davon genervt gewesen sei. Diese Vergleiche würden mit der Zeit weniger und daher für Kai parallel weniger wichtig. Auch hier präsentiert sich Kai als jemand, der nicht so sein möchte wie andere (vor ihm) bzw. eine besondere

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Erfahrung machen möchte, und greift dafür das vorherige thematische Feld wieder auf. Es schließt sich eine kurze Erzählung an, dass es in Tansania für Kai sehr schnell mit Arbeiten losging. Kai bewertet diesen Einstieg positiv und vergleicht ihn mit dem von anderen Freiwilligen, die meist nicht viel zu tun hatten oder noch gar nicht bei ihren Arbeitsstellen waren. Auch von seiner Organisation in Tansania berichtet Kai. Hier war er für eine Tätigkeit verantwortlich, für die er keinerlei Vorerfahrung besaß. Auf den Punkt der fehlenden Vorerfahrung kommt er in Verweis auf das zuvor angesprochene Vorbereitungsseminars etwas genauer zu sprechen. Dabei stelle sich die Frage, was sich Freiwillige herausnehmen und woher sie die Qualifikation nehmen würden. Er beschreibt dies als eine Frage, die sich dann mit der Zeit erledigt habe. Er habe sich mit dieser Rolle abgefunden und eben bei der Arbeit die Arbeit gelernt. Kai präsentiert hier eine bereits zuvor im Kontext der Vorbereitungsseminare angesprochene eher allgemeine Frage nach der Qualifikation für seine Tätigkeit nun als eine Frage an sich selbst und seine konkrete Tätigkeit in seiner weltwärts-Zeit. Kai kommt in der folgenden Sequenz wieder auf das Thema der »Integration« zurück. Die Arbeit habe ihm dabei geholfen, sich schnell integriert gefühlt zu haben. Hinzu kam noch eine gute Bindung zu Gastcousins und Gastbrüdern gleichen Alters. Er gibt an, durch das mit der Arbeit verbundene Unterwegs-Sein alles an Lebensverhältnissen und Menschen gesehen zu haben. Er vergleicht sodann seine Erfahrung mit der seiner Familie zu Hause, die ihn besuchen kam, wie auch mit der von Tourist*innen. An dieser Stelle erscheint das Thema des Integriert-Seins als ein Thema, das nur gut in Differenzierung von anderen Gruppen definiert werden kann, von Touristen, die wenig sehen, von angeleiteten Besucher*innen, die etwas mehr kennenlernen, gegenüber Menschen wie Kai, die sehr viel bzw. »alles« gesehen haben. Kai präsentiert sich damit als vorbildlich integriert, viel mehr Kennenlernen der Lebenswelt vor Ort scheint in seinen Augen nur schwer möglich zu sein. Auch im Weiteren bleibt dieses thematische Feld bestehen. Erneut kommt er darauf zurück, dass die viele Arbeit ihm dabei geholfen habe, sich gut zu »integrieren«. Er stellt weiterführend einen Vergleich zu seinem Jahrgang an weltwärts-Freiwilligen an und spricht davon, zu den zwei bis drei Besten in der Beherrschung der lokalen Sprache gehört zu haben. Kai präsentiert sich auch in dieser Sequenz als jemand, dem es besonders leichtgefallen sei, die Sprache zu lernen und sich in die Situation vor Ort einzufinden. Er begibt sich ebenfalls erneut in eine Konkurrenz zu seinen Mitfreiwilligen, insofern er angibt,

7 Die Interviewsituation, Text- und thematische Feldanalysen sowie Anfangssequenzen

zu den besten Kisuaheli-Sprechern gehört zu haben. Auch die Rahmenbedingungen finden Erwähnung, Rahmenbedingungen, die er für das vorbildliche Lernen von Sprache und Menschen als hilfreich bewertet. In Kais Selbstpräsentation lassen sich in diesem ersten Hinblick m.E. mehrere thematische Felder identifizieren. Zu Beginn scheint der Wunsch bedeutsam, eine besondere Erfahrung zu machen. Dabei wird die Besonderheit der Erfahrung im Vergleich mit dem bestimmt, was andere bzw. die meisten machen. Der Vergleich mit anderen, sei es mit seinen Mitfreiwilligen, Tourist*innen oder der Gastfamilie, nimmt in der Haupterzählung eine wichtige Rolle ein. Dabei lässt sich auch etwas ausmachen, das sich vielleicht als Erfahrungskonkurrenz beschreiben ließe. So hadert Kai etwa mit sich, nicht wie die meisten anderen einen »Kulturschock« gehabt zu haben, wendet diese fehlende Erfahrung aber für sich positiv, indem er dieses »Fehlen« auf seine im Vergleich mit anderen besonders gelungene »Integration« und vorbildliche Anpassungsfähigkeit zurückführt. Weniger die Inhalte der Tätigkeit in Tansania stehen im Vordergrund der Präsentation als vielmehr die Frage, wie viel an eigenständiger und besonderer Erfahrung sie ermöglichen kann. Kai präsentiert sich auch als jemand, der die Dinge auf sich zukommen lässt – und lassen kann – und keine große Eile bzw. Sorge hat, sich eine Arbeit oder eine Freiwilligenstelle zu suchen. Er informiert sich auch eher weniger über die Situation, die ihn erwarten wird, auch diese scheint ihn nicht sonderlich zu sorgen. Zudem zeichnet sich eine Vorstellung von der Möglichkeit ab, in Tansania, anders als in anderen Teilen der Welt, eine besondere Erfahrung machen zu können. Auch werden Themen des Vorbereitungsseminars anscheinend wichtig in Kais Erzählung, auch wenn die Bedeutung dieser Themen für ihn selbst etwas uneindeutig positioniert wird.

7.2.3

Anfangssequenz: Etwas Besonderes erleben – Entscheidung für weltwärts

Ja, äh, okay, Kai, 19, nee, 20 bin ich ja schon. Ähm, zu weltwärts, okay, ich hat halt ne, Abitur et cetera beziehungsweise es war dann, glaube ich, schon November und dann Abitur war im März und dann stand so die Frage da, ja, was machst du/was mach ich? Weil für mich schon klar, ich hab keine Lust, direkt zu studieren. Ich wollt irgendwie mal eine Pause machen. Dann gäbs so dieses, was jeder macht, Australien, Neuseeland. Ähm, da muss ich auch sagen, da la/lach ich son bisschen drüber, weil ich find das/mir gefällt das einfach gar nich, zumal es gibt einfach so Sachen, da sind so halt so viele

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Leute. Meine Cousine hat zum Beispiel jemand aus unserem Heimatdorf getroffen, während sie in Australien war. Da hat ich absolut keine Lust drauf. Und dann hab ich mich umgeschaut, was kann ich machen? Hab, ähm, wusste auch noch gar nichts von weltwärts. Mir war das relativ egal, ich wollt nur irgendwas machen, hab dann mich so in die Richtung entwickelt, ja irgendwie Praktikum, aber dann vielleicht oder Freiwilligenarbeit fand ich dann, obgleich das nicht weniger bedeutend hier in Deutschland is, fand ichs aber für mich hier zu langweilig (.) und dann hab ich auf der weltwärts-Seite einfach mal gesucht. So Sachen wie mit Kindern arbeiten oder mit älteren Menschen war auch so, na, liegt mir, glaub ich, nich so und dann ist auch die Auswahl einfach schon ein gutes Stück kleiner. Und dann hab ich mich relativ wild be/beworben. Hab irgendwie, ich glaub, in ein, zwei Tagen 30, 40 Mails verschickt. Das Problem war, im November sind die meisten Fristen schon zu. Glücklicherweise bei der [Entsendeorganisation] nich. Äh, aber während ich so drüber las, da mir so Themen wie [Inhalte] auch relativ wichtig sind, sagten die [Entsendeorganisation] schon mehr zu. Dann bekam ich irgendwann n Anruf. Herr (Name), oder Kai, komm doch mal nach [norddeutsche Stadt]. (Kai: Z. 34-54) Kai geht zunächst kurz darauf ein, wie alt er zum Zeitpunkt unseres Interviews ist, er muss sich dabei noch einmal korrigieren, da er bereits älter ist, als er mir zunächst spontan erzählt. Im Anschluss daran kommt er auf weltwärts zu sprechen. Zunächst berichtet er in diesem Zusammenhang davon, sein Abitur abgeschlossen gehabt zu haben, muss sich aber auch hier etwas korrigieren bzw. konkretisiert diesen Punkt etwas dahingehend, dass zwischen dem Abschluss seines Abiturs und der Zeit, über die er mir berichten möchte, ca. sieben Monate liegen. Zu diesem Zeitpunkt habe für ihn die Frage im Raum gestanden, was er nun in der kommenden Zeit tun möchte, vor allem, da er keine Lust gehabt habe, »direkt zu studieren«. Vielmehr sei es ihm wichtig gewesen, »irgendwie mal eine Pause« zu machen. Es scheint so, als ob Kai die Zeit nach seinem Abitur bisher ohne große Planung gestaltet hat und diese relativ schnell bzw. unerwartet schnell vergangen ist und die Monate nach seinem Schulabschluss einfach verflogen sind, ohne dass er sich weiter darum gesorgt hat bzw. hat sorgen müssen, was danach kommt. Der Wunsch, eine »Pause« zu machen, ist an dieser Stelle interessant, denn es scheint, als hätte Kai bisher auch eine »Pause« gemacht. Insofern geht es Kai wohl weniger darum, wirklich eine »Pause« zu machen, als vielmehr darum, nun erst einmal etwas anderes zu machen als Schule und Studium.

7 Die Interviewsituation, Text- und thematische Feldanalysen sowie Anfangssequenzen

In der Folge erläutert er mir, wie er zu einer Entscheidung darüber gekommen sei, was er in dieser »Pause« tun möchte. Es habe das gegeben, »was jeder macht, Australien, Neuseeland«, etwas, von dem er angibt, dass es ihm nicht gefallen habe und er darüber auch etwas »lach[en]« würde. Kai begründet dies damit, dass dort »halt so viele Leute« seien und er bspw. von seiner Cousine gehört habe, dass sie in Australien jemanden aus ihrem »Heimatdorf« getroffen habe. Das, erzählt er mir, wollte er auf keinen Fall. Vor diesem Hintergrund habe er sich umgeschaut, zunächst ohne weltwärts zu kennen und ohne eine konkretere Vorstellung davon gehabt zu haben, was er machen möchte. Entscheidend sei für ihn nur gewesen, »irgendwas« zu machen und es habe sich dann eben so entwickelt. Er habe sich ein Praktikum oder eine Freiwilligenarbeit vorstellen können, Deutschland sei ihm aber zu »langweilig« gewesen, weshalb er auf weltwärts gestoßen sei und dort »einfach mal gesucht« habe. Dadurch, dass er die Arbeit mit Kindern und älteren Menschen ausgeschlossen habe, weil ihm das nicht liege, sei auch die Auswahl kleiner geworden. Dann habe er sich »relativ wild« auf dreißig bis vierzig Stellen beworben, sei dabei aber auf das Problem gestoßen, dass die Bewerbungsfrist bei den meisten Stellen bereits verstrichen war. Auf eine Stelle habe das nicht zugetroffen, die ihm dann bei näherem Hinsehen auch thematisch zugesagt habe. Irgendwann habe er dann von denen einen Anruf bekommen und sei zu einem Erstgespräch eingeladen worden. Kai stellt seine Entscheidung, einen weltwärts-Freiwilligendienst zu machen, als einen Entscheidungsprozess dar, der sich durch Zufälle und den Ausschluss anderer Möglichkeiten ergeben habe, sodass weltwärts ihm gewissermaßen widerfahren sei. Dazu passt, dass Kai in seiner Erzählung den Eindruck macht, bis zum Zeitpunkt der Suche nach einer ihm angemessen erscheinenden »Füllung« der »Pause« zwischen Schule und Studium relativ plan- und sorglos in den Tag gelebt zu haben. Die Entscheidung für eine Tätigkeit scheint getragen von dem Wunsch nach einer Unterscheidung von dem, was andere Menschen, die auch eine »Pause« machen, tun, von dem, »was jeder macht«, und auf diese möchte er dabei auch nicht treffen. Indem er angibt, darüber zu »lachen«, grenzt sich Kai zudem sehr entschieden von den Tätigkeiten der anderen, die eine »Pause« machen, ab. Seine »Pause« soll also insofern besonders sein und sie kann, so scheint es, nur an einem Ort besonders sein, an dem diese anderen nicht sind. Dies scheint ein Anspruch, der auch seine Entscheidungen anleitet, und wichtiger zu sein als der konkrete Inhalt seiner Tätigkeit, auch wenn der Inhalt durchaus nicht als völlig unwichtig präsentiert wird. Wenn Kai Deutschland für die »Pause« als zu lang-

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

weilig empfindet, so hat das wohl ebenfalls mit dem Wunsch zu tun, etwas anderes und Besonderes zu erfahren, das sich von seinen eigenen bisherigen Erfahrungen, aber auch von denen anderer Menschen um ihn herum unterscheidet. Insgesamt entsteht bei mir der Eindruck, dass er besser zu wissen scheint, was er nicht will, als was er gerne tun möchte. Kai berichtet im Weiteren, dass er von der Organisation, die ihn eingeladen habe, eine Ablehnung bekommen und sich bereits um eine Alternative in einer kirchlichen Organisation gekümmert habe, ihm dann die von ihm präferierte Organisation aber doch noch zusagte und er sich auch für diese entschieden habe. Es ist vor allem »so das Drumherum von der Organisation oder von der Instanz« (Z. 74), das ihm in der anderen Organisation nicht zugesagt habe. Beispielhaft führt er die Praxis der Organisation an, dass es morgens immer zunächst in die Kirche ginge. Auch hier steht vor allem das, was Kai nicht will, im Vordergrund der Entscheidung für die Organisation, bei der er seinen weltwärts-Freiwilligendienst sodann beginnt. Äh, ja, und dann gings halt so ans Eingemachte. Ich fing an mit nem Spendenkreis aufbauen, Leute kontaktieren, ähm, mich irgendwie damit mehr auseinanderzusetzen. Irgendwann kam dann auch, kamen dann Mails, wo gesagt wird, wo man wahrscheinlich landen wird. Da wusst ich schon, obgleich nicht zu 100 Prozent, ja, wahrscheinlich wirds [Tansania] sein. Aber dann, ähm, also ich hab dann irgendwie [Tansania] gegoogelt und dann ja schöne [Ort], aber mehr oder weniger wars das für mich. Im Sinne von, ich hab mich dann jetzt nicht so groß mehr damit auseinandergesetzt, was kommen wird. Zumal wir dann noch zwei Wochen vor Abreise n Seminar hatten. Das ging, ich glaub, mehr als eine Woche. Und ja als gesammelter Jahrgang, ah nee, wir hatten noch einmal nen Sprachkurs, wo wir uns alle kennenlernten, aber auf diesem Seminar wurds dann intensiver. Wir sprachen über so Sachen wie, dass uns auch Rassismus begegnen kann, wie wir damit umgehen. Einfach unsere Rolle so als junge Weiße, die dann in Organisationen gehen, um dann so auf den Chef machen, ohne irgendwelche wirklichen Qualifikationen sollen die, ja, was weiß ich, ne Schule aufbauen, so als Paradebeispiel. Was, was uns da, was wir uns eigentlich rausnehmen. Haben uns dann damit auseinandergesetzt. Ja, und am [genauer Zeitpunkt] ging dann der Flieger, äh, wir waren ne Woche in [Stadt in Tansania], hatten dort ne kleine Einführung, auch noch n bisschen mit der Sprache und zum ersten [genauer Zeitpunkt] gings dann [genauer Ort]. (Kai: Z. 78-95)

7 Die Interviewsituation, Text- und thematische Feldanalysen sowie Anfangssequenzen

Kai erzählt mir davon, dass es nun ans »Eingemachte« gegangen sei, er sich einen Spendenkreis habe aufbauen müssen und ihm klarer geworden sei, wo genau er seinen Freiwilligendienst machen werde. Er berichtet, sich über Tansania und die Region seines Freiwilligendienstes kurz, aber nicht weitergehend informiert zu haben, als er durch »Googeln« den Eindruck gewonnen habe, dass es sich um eine schöne Region handele. Er verweist in der Begründung für diese kurze bzw. oberflächliche Beschäftigung auch darauf, dass es noch ein Vorbereitungsseminar gegeben habe, in dessen Rahmen es »dann intensiver« geworden sei. Im Kontext dieses Vorbereitungsseminars, so berichtet er, sei es um Rassismus und seine/ihre Rolle als »junge Weiße« gegangen, auch vor dem Hintergrund ihrer eigenen fehlenden Qualifikationen und typischen »Weißen« Erwartungen an die Rolle, die sie in ihren Projekten einnehmen würden. Kai berichtet hier, wie bereits zuvor, von einer Herangehensweise, die die Dinge auf sich zukommen lasse und sich nicht tiefergehend mit diesen auseinandersetze, bevor sie manifest würden. Er kann vor diesem Hintergrund vermutlich auch gut mit der Unsicherheit die Gestaltung seiner direkten Zukunft betreffend umgehen und macht deshalb den Eindruck, sich nicht allzu sehr um seine Zukunft Sorgen machen zu müssen. Nur wenn dem so ist, so meine Vermutung, kann ich mir wenig Sorgen um das Kommende machen und mich der »Gefahr« aussetzen, irgendwo zu landen, wo es mir nachher vielleicht doch nicht gefällt. Andererseits hat Kai mir auch zuvor erläutert, dass der Freiwilligendienst für ihn eine »Pause« bedeute, eine Pause zwischen Schule und Studium. Daher scheint das »Danach« bereits abgesichert und in gewisser Weise vorgezeichnet und das Dazwischen kann ungeplant(er) und ambivalent(er) bleiben.

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8 Aneignungsweisen von Diskursen der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

Im Folgenden möchte ich nun die Erzählungen vor dem Hintergrund der theoretischen Sensibilisierung rekonstruieren. Zunächst richte ich dazu in diesem Kapitel den Blick auf die diskursive Rahmung der Mobilität bzw. die spezifische Stellung der Mobilität, etwa gegenüber anderen Mobilitätsformen, so wie sie Ann und Kai in ihren Erzählungen präsentieren. Diese Rahmung wird vornehmlich in spezifischen Bezügen auf andere, etwa in Abgrenzung, und durch erläuternde Rekurse auf die Bedeutung von Kultur und kulturelle Differenz deutlich.

8.1

Bilder/Imaginationen von Zugehörigkeitskontexten der Mobilität (Kai)

8.1.1

Eine besondere Mobilität als Ausdruck der Imagination globaler Geografie?

Kai berichtet mir davon, wie es dazu gekommen sei, dass er für seine weltwärts-Zeit Tansania wählte. Ich habe dies zuvor im Kontext der Anfangssequenz bereits aufgegriffen, möchte es an dieser Stelle noch einmal tun, aber etwas anders und weitergehend interpretieren: Ja, äh, okay, Kai, 19, nee, 20 bin ich ja schon. Ähm, zu weltwärts, okay, ich hat halt ne, Abitur et cetera beziehungsweise es war dann, glaube ich, schon November und dann Abitur war im März und dann stand so die Frage da, ja, was machst du/was mach ich? Weil für mich schon klar, ich hab keine Lust, direkt zu studieren. Ich wollt irgendwie mal eine Pause machen. Dann gäbs

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

so dieses, was jeder macht, Australien, Neuseeland. Ähm, da muss ich auch sagen, da la/lach ich so n bisschen drüber, weil ich find das/mir gefällt das einfach gar nich, zumal es gibt einfach so Sachen, da sind so halt so viele Leute. Meine Cousine hat zum Beispiel jemand aus unserem Heimatdorf getroffen, während sie in Australien war. Da hatte ich absolut keine Lust drauf. (Kai: Z. 34-41) Kai stellt in der obigen Passage seine Entscheidung, einen weltwärtsFreiwilligendienst zu machen, als einen Prozess dar, der sich durch Zufälle und den Ausschluss anderer Möglichkeiten ergeben hat, sodass weltwärts ihm gewissermaßen widerfahren sei. Dabei scheint mir für die hier vorgenommene Kontextualisierung insbesondere ein Aspekt von Bedeutung. Das ist der Wunsch, etwas Besonderes zu tun, etwas, das außer Kai niemand macht bzw. wenige machen. Dieser Wunsch, etwas Besonderes zu tun, wird in Abgrenzung von anderen Menschen, die Kai kennt oder von denen er gehört hat, formuliert. Die Menschen, mit denen sich Kai in der obigen Passage vergleicht, sind wohl mit ähnlichen Intentionen wie er selbst »auf Reisen«. Dass sie dazu nach Australien oder Neuseeland gehen, wird von Kai allerdings belächelt. Das wirft die Frage auf, was für eine Vorstellung der Kontexte hinter diesem Lächeln bzw. Lachen über diese anderen Menschen und ihre Art der Mobilität stecken könnte bzw. was den tansanischen Kontext zu einem macht, der demgegenüber derart besonders ist, dass über Kais Mobilität – aus Kais Sicht – nicht gelacht werden kann? Ein erster Hinweis auf eine mögliche Antwort lässt sich direkt in der obigen Passage finden, wenn Kai darauf hinweist, dass Australien oder Neuseeland nichts Besonderes seien, weil jede*r dort hinreise und aufgrund dessen die Gefahr bestehe, etwa Bekannte zu treffen. Da er dies betont, geht er im Umkehrschluss davon aus, dass sich dies im südlichen Afrika anders gestaltet, er dort also keine Gefahr laufe, etwas zu tun, was jede*r tut, bzw. »so viele Leute« zu treffen. Kai möchte daher wohl »Neues« erfahren und ihm Unbekannte(s) treffen. Diesem Anspruch sollte der Kontext, in dem er seine weltwärtsZeit verbringen möchte, gerecht werden. Ich deute dies auch als Hinweis auf Diskurse über die globale Geografie und ihre unterschiedlichen Möglichkeiten, Erfahrungsräume zur Verfügung zu stellen. Vorstellungen der globalen Geografie und die Beurteilung ihrer Mobilitäten nach dem Grad der Möglichkeiten, besondere Erfahrungen zu machen, lassen sich in dieser Lesart auch als Ausdruck der Geschichte und Aktualität ihrer Rassifizierung deuten.

8 Aneignungsweisen von Diskursen der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

Kontexte werden, so die korrespondierende Vermutung, nicht ohne Grund als Destination von jungen Erwachsenen gewählt und Kais Lachen über die Mobilität der Anderen zeigt sich insofern mitunter darin begründet, dass sie sich in dieser Vorstellung nicht wirklich auf etwas Besonderes einlassen, weil im südlichen Afrika vor dem Hintergrund des Diskurses über dessen Andersheit das größere Abenteuer und der größere Beitrag zur Erweiterung des eigenen und des menschlichen Wissens warten mag. In Anschluss an vorherrschende Diskurse der Differenz der Kontexte (re-)positioniert Kai in unserem Gespräch damit nebenbei das südliche Afrika als von Australien und Neuseeland in diesem Sinne verschiedene.

8.1.2

Theoretisierender Einschub: Imaginationen von Regionen des Globalen Südens

Kontzi (2015: 201, siehe auch Bendix: 2013) weist darauf hin, dass die Mobilitäten des weltwärts-Programms (aber sicher nicht nur diese) vor dem Hintergrund bereits existierender Bilder von den Partnerländern und Regionen stattfinden. Diese Bilder bzw. dieses bereits existierende (Vor-)Wissen, etwa über »indigenes Leben«, »Afrika« oder »Lateinamerika«, muss gewissermaßen nur noch abgerufen werden. Die Betonung liegt dabei auf Bildern bzw. Imaginationen, denn, »Like the ›Orient‹ in Orientalist discourses, there is no real place actually corresponding to this imagined geography of Africa« (Heron 2007: 56). Vielmehr geben die Bilder bzw. Imaginationen Auskunft über vorherrschende Diskurse über die Unterschiedlichkeit von geografischen Orten, die nicht den »realen« Unterschieden entsprechen (müssen). Phillipp/Kiesel (2012) zeigen etwa, dass Spendenplakate in Deutschland auf einer Konstruktion eines hilfsbedürftigen Globalen Südens basieren, dem der Globale Norden helfen müsse, und dass dabei auf koloniale Stereotype zurückgegriffen wird. Der Rückgriff auf diese Stereotype entfaltet in vielerlei Hinsicht Wirkung, etwa indem einerseits besonders effektiv Spenden generiert werden können und andererseits das koloniale Bild der Unterschiedlichkeit wieder hervorgebracht wird. Wie ich in Anlehnung an u.a. Harrison und Ziai zuvor diskutiert habe (vgl. Kap. 3) sind diese Vorstellungen auch vom Kolonialismus geprägt, zu dessen Legitimierung die Produktion der wesentlichen Unterschiedlichkeit »der Anderen« notwendig war, die zu diesem Zweck auf einer evolutionären Entwicklungsstufenskala positioniert wurden. Eriksson Baaz (2005: 64) erläutert in diesem Sinne, dass bedeutsame Gemeinsamkeiten und Unterschiede

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

in der kolonialen Einordnung der jeweiligen Anderen anzutreffen waren. Sie exemplifiziert dies am Beispiel der Imagination von »Afrika« und »dem Osten« (»the imagery of Africa and of the East«), sowie, korrespondierend, von »den Afrikaner*innen« und »den Oriental*innen« (»the African and the Oriental«). Die Unterschiede in den Vorstellungen über diese Regionen der Welt sieht sie in ihrer unterschiedlichen Verortung in der evolutionären Hierarchie begründet. Aber nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der geografischen Kontexte wurde differenziert, wurden unterschiedliche soziale Gruppen in mehr und weniger »entwickelt« unterteilt und in diesem Zuge auch als je spezifische (ethnische) Gruppen hervorgebracht (ebd.)1 . Es ist dies eine »rassistische Strategie des Teilen [sic!] und Herrschens« (Goel 2012: 10, in Verweis auf Ha: 2007), bei der die eine rassistisch konstruierte Gruppe in Konkurrenz zur anderen gesetzt wird und sich in Abgrenzung von dieser erhoffen mag, in die »Dominanzgesellschaft« aufgenommen zu werden. Nun ist es bedeutsam zu berücksichtigen, dass, wie etwa Bendix (2018: 29) darlegt, die kolonial-rassistische Differenzierung der Welt Afrika in einer »absoluten Andersheit« positionierte: »In Relation to Africa the notion of ›absolute otherness‹ has been taken the farthest« and »the simplistic and narrow prejudice persists that African social formations belong to a specific category, that of simple societies or of traditional societies« (Bendix 2018: 29, Binnenzitate nach Mbembe 2001: 2-3). Wie Danielzik und Bendix (2011: 267) argumentieren, finden sich Kontinuitäten auch etwa in häufigen Vorstellungen, dass in diesen vor dem Hintergrund der gewaltsamen Geschichte des Kolonialismus als anders konstruierten Gebieten weiterhin »Entdeckungen« gemacht werden könnten, die als »Bereicherung des menschlichen Wissens« präsentiert werden können. Diese »Entdeckungen« scheinen den Autor*innen (ebd.) zufolge aufgrund der Gegenüberstellung von »›wir‹ und ›die‹, von ›zivilisiert‹ und ›unzivilisiert‹, ›mo-

1

Was Eriksson Baaz für das Beispiel »Afrika« und »Orient« zeigt, erläutert Jolly (2007: 516ff.) für das Beispiel des pazifischen Kolonialismus in gleicher Art und Weise. Auch hier führten erst die Europäer als Kolonisatoren ethnische Typologien ein und schufen rassifizierte und räumliche Differenzen, wo vorher andere Formen der Gemeinschaftlichkeit und, damit verbunden, Imaginationen von Raum vorherrschten. Die unterschiedlich typologisierten Gruppen wurden dabei ebenfalls auf unterschiedlichen »Entwicklungsstufen« verortet, auch mit dem Ziel der besseren Ermöglichung von Herrschaft: »Europeans plotted the peoples of the Pacific at various removes from themselves and, thus, from each other«.

8 Aneignungsweisen von Diskursen der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

dern‹ und ›primitiv‹« möglich, die weiterhin alltäglich etwa in Nachrichten vermittelt würden. Bökle (2017: 146, 153) arbeitet in ihrer Studie zu Erfahrungen von weltwärtsFreiwilligen ein »desire of going native« als ein vorherrschendes Narrativ heraus. Diesem Narrativ korrespondiere der Wunsch, bestehende Unterschiede, wie Privilegien, und Erkennbarkeiten, wie Weiß-Sein, abzulegen. »Going Native« so erläutern Hamann und Kißling (2017: 149) bezeichne im westlichen Diskurs […] in aller Regel das Eintauchen von Europäern, die […] Entdeckungsreisen in fremde Territorien unternahmen, deren Einwohner sich durch eine »groß(e) kulturell(e) Andersheit« (Oberdiek 2007: 201) auszeichneten. […] Going Native spielt in (post-)kolonialen, vorrangig faktualen (z.B. Reiseberichte, ethnographische Feldstudien) ebenso wie fiktionalen Texten eine zentrale Rolle, wo die grundsätzlich relevanten Fragen nach Abgrenzung und Entgrenzung vom Eigenen und Fremden eine Zuspitzung erfahren. Vor allem die Ethnologie, so die Autor*innen, habe sich das »Going Native« zu eigen und zur Methode – der teilnehmenden Beobachtung – gemacht, bei der es darum gehe, »den Standpunkt des Eingeborenen, seinen Bezug zum Leben zu verstehen und sich seine Sicht seiner Welt vor Augen zu führen« (Malinowski 1979: 49, zitiert nach Hamann/Kißling 2017: 150). Dabei sei gerade nicht das Aufgehen-in, sondern ein Teilnehmen und Distanzieren zentral, welches dem »Going Native« gleichsam entgegenstehe. Seit dem Kolonialismus gebe es nun eine Vielzahl an Literatur, die »Fragen des Going Native verhandel[e]« (Hamann/Kißling 2017: 151). Diese bringe häufig ein Narrativ einer »männlich konnotierten Zivilisation und einer weiblich konnotierten Wildnis« (ebd.) hervor. Das Eintauchen in die »fremde« Kultur sei dabei im kolonialen Diskurs einerseits suspekt, wer es getan habe, sei häufig stigmatisiert worden, habe »Verkaffern« bzw. »Schwarz-Werden« können. Demgegenüber habe es andererseits immer auch die Figur eines »zivilisationsmüden« Begehrens nach »Going Native« gegeben. Beides komme in Berichten und fiktionalen Texten zum Ausdruck. Ein Wunsch etwa nach »Eintauchen«, Kennenlernen des »echten« Lebens oder nach »Integration« kann auch in dieser Hinsicht gedeutet werden. Es verspricht dann »Erlebnis«, »Abenteuer«, »Gefahr«, das »Andere«/»Fremde« und die Möglichkeit, davon gegenüber einer interessierten Zuhörer*innenschaft zu berichten, die derartige Berichte kennen und erwarten mag.

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

8.1.3

Anschluss an und Bruch mit vorherrschenden Diskursen  über Armut

Auf vorherrschende Vorstellungen von Afrika kommt Kai auch direkter zu sprechen: wenn man, ja nur so irgendwie so sagt, ja, Afrika, bla, bla, haben ja viele Leute dieses Lehmhüttebild im Kopf. (Kai: Z. 233-234) Kai distanziert sich in dieser Aussage von einem Bild von Afrika, das er als »Lehmhüttebild« identifiziert, indem er es als vorherrschendes Bild anderer Leute verortet. Er berichtet mir dann auch von einer diesem Bild gegenläufigen Erfahrung in Tansania, nach der maximal eines von zehn Häusern eine Lehmhütte gewesen sei. Dennoch wird hier wohl deutlich, dass Kai sich, eben weil es sich um ein vorherrschendes Bild handelt, auf dieses Bild bezieht und auch beziehen muss, denn als vorherrschendes Bild wird es von vielen Menschen aufgerufen und relevant gemacht. Das hier aufgerufene Bild steht darüber hinaus für einen Gegensatz zwischen Moderne und Tradition, zwischen »entwickelt« und »weniger entwickelt« und für den Unterschied zwischen »Arm« und »Reich«, wie im folgenden Beispiel deutlicher wird: Ähm, aber ich hatte zum Beispiel von nem Freund von mir, als wir in [einer Großstadt] waren, dann so n Bild im Kopf, was halt ziemlich krass is, weil man sieht dann so ne Wellblechhütte. Äh, wirklich so vor der Skyline. Also es is, als ob jetzt hier, dass ne Wellblechhütte und da steht dann so der Sky/die Skyline. (Kai: Z. 250-253) Das zuvor aufgerufene vorherrschende Bild der Lehmhütte wird in dieser Sequenz von Kai durch das Bild einer Wellblechhütte ersetzt bzw. ergänzt und in Kontrast zu einer großstädtischen Skyline gesetzt, die im Hintergrund der beschriebenen Situation sichtbar gewesen sei. Dieser Kontrast wird von ihm als »krass« beschrieben. Dass dieses Beispiel nun angeführt und als krass gekennzeichnet wird, deute ich so, dass das »Lehmhüttebild« für einen diskursiv etablierten Kontrast zwischen Tradition und Moderne steht, für eine Differenz zwischen Globalem Norden und Globalem Süden, die sich in Extremen zeigen soll und die durch die Wellblechhütte nun ebenfalls – wenn auch in veränderter Form – aufgerufen wird. Die Vorstellung von Afrika als im Kontrast zur »Moderne« des Globalen Nordens stehend ist nicht nur ein Bild, das Kai – aufgrund vorherrschender Diskurse – bereits im Gepäck zu haben scheint, bevor er nach Tansania

8 Aneignungsweisen von Diskursen der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

geht, sondern auch etwas, zu dem er befragt wird, sobald er wieder zurück in Deutschland ist. So bittet ihn etwa seine Mitbewohnerin, zu erzählen, ob die Leute »da« arm leben würden (»Ja, leben da die Leute arm?«, Kai: Z. 256-257). Kai beschreibt mir, gegenüber dieser Frage einer konkreten Antwort aus dem Weg zu gehen, da ihm kein Urteil über andere Menschen zustehen würde: Und ich will mir auch gar nicht so das Recht so stark rausnehmen, dann über die zu urteilen. Irgendwie so zu sagen, ja, X, Y is arm, weil (…) ja, also ich kann, also ich kanns halt einfach nich. (Kai: Z. 266-268) In dieser Passage wird deutlich, dass Kai die Frage danach, ob die Menschen »dort« arm leben würden, als problematische Frage empfindet. Das wird nicht zuletzt nachvollziehbar, wenn wir zu dem soeben angeführten Beispiel der Wellblechhütte vor einer Skyline zurückgehen und uns daran erinnern, dass Kais Erfahrung in Tansania nicht zu dem vorherrschenden Bild zu passen scheint. Es gibt, wie das Beispiel der Wellblechhütte vor einer Skyline zeigt, stattdessen sehr unterschiedliche Lebensstandards und Lebensweisen in Tansania und diese lernt Kai auch kennen. Vor dem Hintergrund dieser Unterschiedlichkeit ließe es sich gut verstehen, wenn er nicht alle Tansanier*innen mit der Umschreibung arm kennzeichnen möchte. Kai (Z. 257ff.) verweist demgegenüber auf die Relativität von Armut und argumentiert, dass Armut immer im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung beurteilt werden müsse und daher arm sei, wer weniger besitze, als es »80 %« der Bevölkerung tun, selbst wenn diese Person ebenfalls in eine offizielle Kategorisierung von Armut fallen würde. In dieser Argumentation wird eine spezifische Schwierigkeit des Sprechens über Armut sichtbar: Es wird also über die »Armut« der Menschen »dort« gesprochen, nicht das »hier« oder die Gemeinsamkeit steht im Zentrum von Frage und Antwort. Dennoch wird dieses Sprechen in gewisser Weise durch Kai im Hinweis auf die Schwierigkeit und den Unwillen bei der genaueren Beurteilung von Armut problematisiert. Der Grund für diese Problematisierung könnte verschieden gelagert sein. Einerseits ließe sie sich auf Kais vom zuvor aufgerufenen vorherrschenden Bild über Afrika divergierende Erfahrung in Tansania zurückführen. In dieser Lesart hat Kai das Leben der Menschen in Tansania nicht als eines erfahren, dass sich seiner Ansicht nach pauschal als »arm« kennzeichnen lässt. Möglich wäre auch, dass Kai eine Kritik an vorherrschenden Diskursen über Entwicklungshilfe und Armut im Sinne der sogenannten Post-DevelopmentAnsätze (vgl. Kap 3) aufgreift. Diese Perspektive mag er bspw. im Kontext seines Vor- und/oder Nachbereitungsseminars kennengelernt haben, sodass

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

sie seine spezifische weltwärts-Mobilität mit rahmt. D.h., es könnte als Ausdruck der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit seiner Entsendeorganisation2 interpretiert werden.3 Darauf deutet hin, dass er mir davon berichtet, im Vorbereitungsseminar »intensiv« zu Rassismus und der Rolle der Freiwilligen gearbeitet zu haben. Vielleicht möchte er deswegen keinen Diskurs stärken, der eurozentristische Maßstäbe in der Beurteilung von »Entwicklung« anlegt. Dies mag Kai dann von anderen Menschen unterscheiden, die entwicklungspolitisch tätig sind und/oder die mit anderen entwicklungspolitischen NGOs arbeiten, die ihre Mitarbeiter*innen bzw. Freiwilligen anders vorbereiten. Vor diesem Hintergrund ließe sich argumentieren, dass auch Kai sich zu dieser Kritik entweder explizit und/oder als Ausdruck sich wandelnder Diskurse verhält. Bedeutsam ist m.E., dass Kai erzählt, nach seiner Zeit in Tansania von Bekannten in Deutschland als Experte angesprochen zu werden, der Auskunft

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Die Entsendeorganisationen (EO) spielen eine wichtige Rolle im weltwärts-Programm, das vom BMZ gefördert, aber von den EO umgesetzt wird. Dazu gehört – verpflichtend – ein pädagogisches Begleitprogramm für die weltwärts-Freiwilligen: »Die pädagogische Begleitung beinhaltet insbesondere: a) inhaltliche und methodische Aspekte, die auf das Globale Lernen und eine Engagementförderung über den Dienst hinaus bei den Freiwilligen gerichtet sind; b) die explizite Behandlung entwicklungspolitischer Fragen und Anforderungen in den Bildungsmaßnahmen; c) die Einführung in die Lebens- und Arbeitsrealität im Gastland, sowie in die jeweilige Fremdsprache (gegebenenfalls durch vorbereitende und begleitende Sprachkurse); d) Informationen zur notwendigen Gesundheitsvorsorge und Gesundheitsschutz und allgemeinen Sicherheitslage im Einsatzland sowie über bestehende Notfallpläne; e) die Auseinandersetzung mit den generellen Anforderungen und der eigenen Rolle im Freiwilligendienst mit dem Ziel, ein klares Verständnis über den Einsatz, die Einsatzbedingungen vor Ort und die Einhaltung allgemeiner Verhaltensregeln (inkl. Zur Ausübung politischer Aktivitäten) zu erlangen; f) Auswertung, Verarbeitung und Reflexion von Erfahrungen während des Freiwilligendienstes; g) die aktive Unterstützung der Rückkehrenden, ihre Erfahrungen weiterzutragen und sich nach ihrer Rückkehr zu engagieren h) sowie die Förderung der Vernetzung unter den gegenwärtigen und den ehemaligen Freiwilligen sowie der Freiwilligen mit entwicklungspolitisch tätigen Organisationen und Initiativen« (BMZ 2016: 8-9). Dabei gibt es durchaus Gestaltungsspielraum solange die Felder berücksichtigt werden. Es handelt sich um insgesamt 25 Seminartage, Vor-, Zwischen- und Nachbereitung eingeschlossen. Kontzi (2015: 206f.), die vielfältige koloniale Kontinuitäten im weltwärts-Programm aufzeigt, verweist ebenfalls auf den Gestaltungsspielraum, den die jeweiligen Entsendeorganisationen, bei denen es sich um verschiedene deutsche Nichtregierungsorganisationen (NGOs) handelt, besitzen.

8 Aneignungsweisen von Diskursen der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

über diesen Ort in Hinsicht auf die Wirklichkeitstreue vorherrschender Diskurse über Afrika geben soll. Das mag auch bedeuten, dass Kais Bekannter bewusst ist, dass sie eigentlich relativ wenig über Afrika weiß und dass sie daher nach Informationen sucht. Kai positioniert sich demgegenüber ambivalent: Er bricht einerseits mit den vorherrschenden Vorstellungen, insofern sie nicht wirklich seine Erfahrung spiegeln bzw. seine spezifische Mobilität vor dem Hintergrund anderer Verständnisse stattgefunden haben mag. Andererseits bestätigt er aber auch im Vergleich zu Deutschland eine generelle Armut Tansanias – über die sich aber nicht urteilen lässt – und findet eindrückliche Beispiele, die er auch als »krass« empfindet und welche ein Bild des Kontrastes zwischen Deutschland/Europa und Tansania/Afrika auch aufgreifen und wieder hervorrufen können. Einerseits möchte er nicht auf die Frage antworten und andererseits beantwortet er sie dennoch, in abgewandelter Form.

8.1.4

Theoretisierender Einschub: Die Konzepte des Globalen Nordens und Globalen Südens als Beispiel der Kritik an eurozentristischen Beschreibungen der Welt

Eine mittlerweile in entwicklungspolitischen Kreisen relativ etablierte Kritik am Eurozentrismus, die die Bedeutung des Kolonialismus und der mit diesem korrespondierenden Ausbeutung betont, findet sich etwa in den Begriffen des Globalen Südens und des Globalen Nordens konzeptualisiert. Dabei geht es um die Entwicklung von Alternativen zu Begriffen wie »Dritte Welt«, »Entwicklungsländer« etc., die die Welt von Europa/dem Westen aus denken und beurteilen, kritisieren (vgl. van Huis 2019: 216). Die neuen Begrifflichkeiten sollen es darüber hinaus ermöglichen, unterschiedliche politische, ökonomische und kulturelle Positionen aufzuzeigen, und sind nur bedingt geografisch gemeint (vgl. Bendix 2013: 8): Australien gehört beispielsweise genau wie Deutschland mehrheitlich dem Globalen Norden an, aber es gibt in beiden Ländern auch Menschen, die Teil des Globalen Südens sind, zum Beispiel Aboriginal Australians und illegalisierte Personen. Andersherum gibt es auch in Ländern, die mehrheitlich dem Globalen Süden angehören, Menschen, die die bevorteilte Position des Globalen Nordens genießen, sei es, weil sie Weiß sind oder weil sie aufgrund ökonomischer Ressourcen zur global privilegierten Klasse gehören. (Bendix 2013: 8)

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Diese Kritik spiegelt sich in Teilen auch in weiteren aktuellen Diskursen und Politiken, etwa jenen von Zusammenarbeit und/oder »Partnerschaft« (mit Afrika) (vgl. Kap. 3). Insofern es sich bei der Kritik der eurozentristischen Sichtweise mittlerweile um eine relativ etablierte, d.h. hörbare, Kritik handelt, sind die Akteur*innen entwicklungspolitischer Mobilität auch aufgefordert, sich in Hinsicht darauf zu positionieren (vgl. Eriksson Baaz 2005: 150).4 Wie Gille und Bonus (2020: 30f.) argumentieren, hat diese Kritik auch in Hinsicht auf weltwärts zu einer »reflexiven Verunsicherung« geführt, die sich in einer »Richtlinienveränderung von ›Lern- und Hilfsdienst‹ zum ›entwicklungspolitischen Lern- und Bildungsdienst‹«, der »Einführung der Süd-Nord-Komponente« und im Versuch des Einbezugs weiterer »Zielgruppen«5 manifestiert. Es ist allerdings anzumerken, dass diese Diskursverschiebungen nicht mit der Überwindung der Strukturen, die sie kritisieren, gleichzusetzen sind. So lässt etwa, wie ich bereits einleitend in Bezug auf Kontzi (2015: 231) angemerkt habe, die Süd-Nord Komponente die entwicklungspolitische Ausrichtung vermissen und fokussiert auf Lernen und Bildung. Dies kann als Ausdruck des Verständnisses davon gedeutet werden, wer im Kontext dieser (entwicklungspolitischen) Nord-Süd-Mobilität in der Position der (Nicht-)Wissenden verortet wird, nämlich der Globale Norden (Süden). Die Verständnisse des Globalen Südens und Globalen Nordens divergieren in Hinsicht auf den Grad der Übernahme der Kritik und auch in Hinsicht auf die Bedeutung, die sie etwa Kolonialgeschichte, Rassismus und Kapitalismus zurechnen. Sie sind daher nicht alle gleich »kritisch«. So kann von

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Etwa wurde von aktivistischer Seite der 2014 von der Kultusministerkonferenz (KMK) und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) erarbeitete Orientierungsrahmen Globale Entwicklungen grundlegend und öffentlichkeitswirksam kritisiert mit der Aufforderung, diesen zu dekolonisieren. Schmidt (2013) zeigt etwa auf, dass weltwärts eine bestimmte Klasse bzw. Schicht, die Mittel- und Oberschicht, anspricht. 2017 waren zudem 69,9 Prozent der Teilnehmer*innen weiblich. Wie Bökle (2017: 29) in Anlehnung an Stern/Scheller (2012) genauer erläutert, haben weltwärts-Freiwillige folgende Bildung und soziale Herkunft: 83 Prozent der weltwärts-Freiwilligen aus der Schule, 3 Prozent aus der Lehre und 8 Prozent aus einem Studium. Dementsprechend beginnen im Anschluss an die weltwärts-Zeit 79 Prozent ein Studium, 4 Prozent eine Ausbildung und 15 Prozent eine Erwerbsarbeit. In Hinsicht auf die soziale Herkunft der Freiwilligen gibt es eine direkte Verbindung zwischen dem hohen Bildungsgrad der Freiwilligen und demjenigen ihrer Eltern bzw. ihrer Familie (vgl. auch uzBonnGmbH: 2018).

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einer wirklichen Übernahme der Kritik keine Rede sein, wenn bspw. »Partnerschaft« in Abhängigkeit von der Beurteilung der Förderung bzw. Angemessenheit der Beziehung durch einen der beiden »Partner« steht (vgl. ebd., vgl. Kap. 3). Sichtbar wird hier allerdings die Existenz sozialer Auseinandersetzungen um die Beurteilung von und die Praxis der »Entwicklung« wie auch die Notwendigkeit, sich zu dieser Kritik zu verhalten. Huffer (2018: 34f.) argumentiert, dass die Rahmung von Mobilitäten als entwicklungspolitisch weitgehende Konsequenzen für die (Re-)Produktion von Raumverständnissen hat. Einerseits seien mit dieser Bezeichnung die geografischen Orte »definiert«, zwischen denen die Mobilität stattfindet, nämlich zwischen als »entwickelt« und »weniger entwickelt« klassifizierten Kontexten. Diese Klassifikation finde sich nun andererseits in und durch die Praxis der Mobilität bestätigt. Das heißt, wenn es diese Mobilität schon gibt und wenn Menschen an ihr partizipieren – in Bezug auf weltwärts sogar 35.000 junge Erwachsene seit 2008 – und wenn diese jungen Erwachsenen zu Armut »dort« befragt werden können und sie eine wie auch immer geartete Antwort geben, dann, so der korrespondierende Schluss, kann die medial (und diskursiv) vermittelte Differenz ja nicht völlig falsch sein.

8.1.5

Ambivalente Aneignung der Theorie des »Kulturschocks«

Eine weitere Erzählung, die die Vorstellung des Kontextes Tansania als von Deutschland verschieden zum Gegenstand hat und die gleichzeitig mit dieser Vorstellung bricht wie sie bestätigt, ist die Erwartung Kais, in Tansania oder bei seiner Rückkehr aus Tansania einen »Kulturschock« zu erfahren. Und (.) wie soll ich sagen, was mich (.) ich denk, du kennst so diese, ähm, ich sag mal Theorien zu so was wie Kulturschock oder auch das/der Rückkehrschock, sagt dir das was?/I: Mhm, aber du kannst ja er/erklären, was du, was du meinst./K.: Ah, okay. Also einfach dieser Kulturschock mit dieser kompletten Umstellung. Neues Umfeld et cetera. Und das. Und dann gibts ja noch diese verschiedenen Phasen. Also so ne Honeymoon-Phase, irgendwie alles is toll. Aber dann noch irgendwie, ich weiß nicht, nach drei Monaten, obgleich es jetzt keine fixen Zeiträume sind, wirds wieder schlimmer. Äh. Ich weiß nich, ob ich sagen würde, dass ich komplett in Honeymoon war, aber ich hat zumindest kein, woah, Mental Breakdown gehabt. (Kai: Z. 96-105) Im Anschluss an seine Erklärungen dazu, wie er zu weltwärts gekommen sei und sich vorbereitet habe, kommt Kai auf etwas zu sprechen, dass er »Kultur-

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schock« nennt. Dazu möchte er sich zunächst der Richtigkeit seiner Annahme versichern, dass ich die Theorien »zu so was« kenne. Er unterstellt mir dabei ein geteiltes Wissen und hätte dementsprechend voraussichtlich auf eine weitere Erklärung verzichtet, wenn ich seine Frage bejaht hätte. Ich reagiere zwar vorsichtig zustimmend, bitte ihn aber darum zu erklären, was er meint. Kai erklärt mir daraufhin in groben Zügen, worum es ihm bei diesen Theorien gehe und was er darunter verstehe. Dabei geht er anscheinend weiterhin davon aus, dass ich eigentlich weiß, wovon er redet, und daher etwas mit seinen recht knappen Erklärungen anfangen kann bzw. diese mir zum Verständnis ausreichen. Diese Vermutung führe ich auf die Art seiner Erklärung zurück, die sehr unvollständig und ohne Kontextwissen wohl nur schwer zu verstehen ist. Das geht so weit, dass die Erklärung sogar einfach abgekürzt werden kann (»et cetera«). Eventuell ist das Wissen über »Kulturschock« aus Kais Sicht ein geteiltes gesellschaftliches Wissen, das er sich, auch wenn er von Theorien spricht, in alltäglichen Situationen und Berichten anderer Personen angeeignet hat. Eine weitere Möglichkeit ist, dass Kai etwas über »Kulturschock« im Kontext von weltwärts bzw. der Vorbereitung und/oder des Vorbereitungsseminars gelernt hat und es sich deshalb um ein dieses Programm begleitendes Thema/Diskurs handelt. Da ich in diesem Kontext forsche, muss ich dann also eigentlich Bescheid wissen. Allerdings ist allen Möglichkeiten gemein, dass Kai begründet davon ausgehen kann, dass ich ebenfalls über diese »Theorien« Bescheid wissen sollte. Seine Verwendung des Wortes »einfach« in diesem Zusammenhang lässt vermuten, dass ein »Kulturschock« eine relative Selbstverständlichkeit zu sein scheint, also etwas, das Menschen in derartigen Situationen i.d.R. bekommen. Ansätzen des Kulturschocks liegt die These zugrunde, dass die Erfahrungen stark voneinander divergierender Kulturen zu einem »Schock« bzw. einer Krise führen müssen, der wieder Anpassungsprozesse folgen, die in verschiedenen Stadien/Phasen wellenförmig ablaufen (vgl. Spitzberg/ Changnon 2009: 23). Mit der Erwartung eines Kulturschocks korrespondiert demnach auch die Annahme der Konfrontation mit einer völlig anderen Kultur/Umwelt, die voraussichtliche einen »Schock« auslösen wird. Wie Heron (2007: 59) erläutert, ist die Rahmung von Anpassungsprozessen als Kulturschock verbreiteter Bestandteil der Vorbereitung von entwicklungspolitisch Tätigen durch NGOs des Globalen Nordens. Die These der fundamentalen kulturellen Andersheit der Kontexte ist in Herons Lesart aber wenig »real«, vielmehr bedient sie sich vorherrschender räumlicher »Tropen«, die mit »Othering« in Verbindung stehen. Die Annahme, dass die

8 Aneignungsweisen von Diskursen der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

Begegnung mit »der« afrikanischen Kultur bei Weißen Subjekten der Mittelklasse einen Schock auslösen wird, impliziert ihr zufolge eine karnevaleske Welt, die wenig mit der Realität zu tun habe. Mir scheint der Begriff des »Schocks« darüber hinaus auch insofern unangemessen zu sein, als, selbst wenn Überraschungen, Ungewohntes, Unangenehmes, Einschränkungen, Überforderungen usw. subjektiv erlebt werden mögen, dies vor dem Hintergrund der materiellen Ressourcen der Weißen Mittelklassesubjekte wohl eher nicht zu Handlungsunfähigkeit führen dürfte. Diese wird aber durch die Vorstellung eines »Schocks« impliziert. Kai beschreibt »verschiedene Phasen« des »Kulturschock[s]«, von denen er eine explizit benennt, die »Honeymoon-Phase«, in der alles »toll« sei und auf die dann nach ca. drei Monaten eine Phase folge, in der es wieder »schlimmer« werde. Demnach geht es um Phasen, die zeitlich begrenzt und durch verschiedene Formen des Erlebens gekennzeichnet sind. Dabei kommt in der Bezeichnung »Honeymoon« (dt. »Flitterwochen«) eine Beziehungsanalogie zum Ausdruck, da dieser Begriff i.d.R. auf die Zeit nach einer frischen Heirat und eine definitive Entscheidung füreinander verweist, welche im »Honeymoon« gefeiert wird. Kai präsentiert es nun so, dass er sich unsicher sei, ob er die ganze Zeit in der Phase des »Honeymoon« geblieben ist, er aber jedenfalls keinen »Mental Breakdown« gehabt habe, der hier wohl für die zweite Phase stehen soll, in der es »wieder schlimmer« werde. Kai positioniert sich also vor dem Hintergrund der Folie des als mir und allseits bekannt angenommenen Prozesses eines »Kulturschocks« und beschreibt sich als nur bedingt von dessen Ablaufphasen betroffen. Indem er sich als nicht von den »schlimmen« Seiten betroffen präsentiert, scheint er auch hauptsächlich über die positiven Seiten sprechen zu können oder zu wollen. Kai verhält sich in Hinsicht auf die These des Kulturschocks ambivalent. Er scheint einerseits von der Richtigkeit und Relevanz der Erfahrung des Kulturschocks auszugehen und »hadert« sogar mit sich, keinen Kulturschock erlebt zu haben. Andererseits spricht er fast ironisch darüber, wie in der vorherrschenden Vorstellung von Afrika und Deutschland die verschiedenen Lebenskontexte miteinander konfrontiert würden: Aber zu diesem Kulturschock, ich hat halt bei mir keine so Riesenumstellung und kam damit, glaub ich, relativ gut klar. Jetzt auch so nach der Rückkehr. Wär dann zum Beispiel gewesen, man geht in Supermarkt und is überschl/ähm, erschlagen von der Vielfalt, dies dort gibt. Aber das hatte ich halt auch nicht. Also ich mein, ich wusste noch immer, wie Supermärkte sind.

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Klar, ich hab ein Jahr lang was anderes so gehabt, aber nichtsdestotrotz war das dann nicht so weit von mir, ich sag mal, weggerückt. (Kai: Z. 111-116) Wie obige Passage zeigt, spiegelt sich der Wunsch nach der Erfahrung eines Kulturschocks nicht in Kais »realen« Erfahrungen. In Bezug zur zuvor angeführten Kritik der ›Kulturschock‹-These durch Heron gesetzt, lässt sich Kais Erwartung an seine Zeit in Tansania, dort einen »Kulturschock« zu erfahren, auch als weiterer Hinweis auf vorherrschende Verständnisse der Unterschiedlichkeit der Kontexte der Mobilität verstehen, welche eine karnevaleske, realitätsferne Differenz hervorrufen. Damit korrespondiert vermutlich die Erwartung, dass ein »Kulturschock« Teil des besonderen Erlebnisses einer Mobilität ist, an der Kai teil nimmt. Während, wie ich eben argumentiert habe, Kai vorherrschende Diskurse über Armut befragt bzw. diese sich als gebrochen/umkämpft zeigen, scheint dies in Hinsicht auf kulturelle Differenz und »den« »Kulturschock« weit weniger der Fall zu sein. Zwar findet sich dieser ironisiert und spiegelt ebenfalls nicht wirklich seine Erfahrung in Tansania, dies führt aber eher zu Befragungen in Hinsicht auf die eigene Performanz und »Integration« in Tansania im Vergleich zu anderen Freiwilligen und weniger zu einer Befragung der Validität des Verständnisses von Deutschland und Tansania als kulturell fundamental verschieden. Ähm, wo ich dann aber auch so irgendwie, infrage gestellt, inwiefern, so in Anführungszeichen, integriert war ich. Äh, ja, weil es is so wie als ob ich mir vorgenommen hätte, als ob ich n/ich wollt fast so n Schock haben. Und da hatt ich so n bisschen an mir zu hadern. (Kai: Z. 118-121) Vor dem Hintergrund des Ausbleibens des »Kulturschocks«, so berichtet Kai, habe sich ihm auch die Frage danach gestellt, wie »integriert« er gewesen sei. Dies habe dazu geführt, dass er ein bisschen mit sich zu »hadern« gehabt habe, so als hätte er »fast so n Schock« haben wollen. Das Ausbleiben des »Kulturschocks« wird so auch zu der Frage, ob er eigentlich genug »eingetaucht« sei bzw. so weitgehend wie diejenigen anderen, die von einem »Kulturschock« berichten können. Es wird somit zu einem Auslöser der Selbstbefragung, die sich vor allem auch aus der Orientierung an Theorien zur mit der Mobilität eigentlich korrespondierenden Erfahrungen speist. Diese Selbstbefragung ließe sich auch vor dem Hintergrund des leitenden Wunsches nach einer besonderen Erfahrung verorten, der auch mit der Wahl dieser spezifischen Destination verbunden ist. Dieser Wunsch scheint mir archetypisch im Konzept des »Kulturschocks« repräsentiert zu sein.

8 Aneignungsweisen von Diskursen der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

An dieser Stelle sei noch einmal an die Definition des kulturellen Rassismus erinnert, bei dem anstelle von »Hautfarbe« kulturelle Differenz bzw. kulturelle Idiome in Verbindung mit der Essenzialisierung dieser Differenzen als Neukonfigurationen des Rassismus zu verstehen sind (vgl. Balibar: 1991, Harrison: 2002). Merkmal dieses kulturellen Rassismus ist es auch, schwer greifbar zu sein, verschwommen und vage daherzukommen, auch weil die Relevanz kultureller Zugehörigkeiten vielerorts – bspw. in Vor- und Nachbereitungsseminaren – behauptet wird und Teil der Selbstbeschreibung der Akteur*innen sein kann, sie auf essenzialisierende Zuschreibungen Bezug nehmen und sich mitunter auch selbst darin verorten mögen. In diesem Sinne möchte ich die »Kulturschock«-These auch als eine begreifen, die sich mindestens in Nähe zum kulturellen Rassismus bewegt. Kai weist darauf hin, dass es Gespräche mit anderen Freiwilligen im Rückkehrseminar und im Vorbereitungsseminar des kommenden Jahrgangs – Freiwillige also, die nach ihm nach Tansania gehen – sind, die dafür sorgen, ohne größere »Anpassungsschwierigkeiten«6 wieder in Deutschland anzukommen. Hier zeigt sich, dass »Kulturschock« ein Thema ist, das in den Seminaren besprochen wird, und Kai wohl konkret auf einen »Kulturschock« vorbereitet wird. Kai wird mindestens in diesen Seminaren, aber vermutlich auch darüber hinaus, nach einem »Kulturschock« bzw. der Divergenz »der« Kulturen gefragt und befragt sich auch selbst daraufhin. Dass Diskurse über »Kulturschock« anders als Diskurse über Armut kein im Kontext von Vorund Nachbereitung der Mobilität problematisiertes Thema zu sein scheint, ist interessant, insbesondere, da Kai an anderer Stelle davon berichtet, sich im Vorbereitungsseminar seiner NGO mit Rassismus und seiner Rolle als Weißer auseinandergesetzt zu haben: Wir sprachen über so Sachen wie, dass uns auch Rassismus begegnen kann, wie wir damit umgehen. Einfach unsere Rolle so als junge Weiße, die dann in Organisationen gehen, um dann so auf den Chef machen, ohne irgendwelche wirklichen Qualifikationen sollen die, ja, was weiß ich, ne Schule aufbauen, so als Paradebeispiel. Was, was uns da, was wir uns eigentlich rausnehmen. Haben uns dann damit auseinandergesetzt (Kai, Z. 86-90)

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Teil des »Kulturschock«-Theorems ist es, bei der Rückkehr einen »›reverse-cultureshock‹ also known as ›re-entry‹« (Heron 2007: 169) zu erfahren. Hier wird wiederum das Ausgehen von einer fundamentalen Verschiedenheit der Kontexte unterstrichen, Heron (ebd.) nennt dies eine »implied ›unreality‹ of the spaces of the Other«.

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Rassismus und die Rolle der Freiwilligen in rassifizierten Mobilitäten ist demnach durchaus Thema von Vor- und Nachbereitung. In der im obigen Zitat anklingenden möglichen Rollenerwartung und -einnahme, der Divergenz von Möglichkeiten des Auftretens und bestehender Expertise liegt in Rekurs auf Heron (2007: 117) noch ein weiterer Grund für »Anpassungsschwierigkeiten«, die einige Akteur*innen der entwicklungspolitischen Mobilität bei ihrer Rückkehr erfahren mögen: »Because of the multiple and repetitive ways in which the experience of really being ›someone‹ occurs, it infuses participants narratives and shapes our images of self« (Heron 2007: 114). Prägend für die entwicklungspolitische Mobilität ist es nach Heron, dass ihre Akteur*innen die Erfahrung machen, ›jemand‹ Bedeutsames zu sein, d.h., einen höheren Status zu besitzen, auch einhergehend mit der von den meisten andauernd erfahrenen Anrufung als Weiß. Während die Freiwilligen nun in Deutschland – wie Mangold (2013: 26ff.) schreibt und wie ich an dieser Stelle auch argumentiere – meist Abiturient*innen sind, die bald ein Studium oder eine Ausbildung anfangen möchten, die noch nicht genau wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen, und die (noch) keinen gesicherten gesellschaftlichen Status besitzen, erfahren sie in ihrer Freiwilligenzeit einen besonderen Status, wird ihnen alltäglich in einer Art und Weise begegnet, als seien sie etwas Besonderes, bzw. können sie sich darauf beziehen, dass dies für sie gilt – schließlich sind sie Teil entwicklungspolitischer Mobilität –, und dies ggf. auch einfordern. Es gibt zahlreiche Beispiele für Freiwillige, die in ihren Einsatzstellen als Expert*innen auftreten, obwohl sie keinerlei Ausbildung für ihre Tätigkeiten besitzen (vgl. etwa Fuchs: 2020). Wenn nun ungefähr 80 Millionen Menschen in Deutschland sie wieder an ihr altes Selbst erinnern und sie sich nicht mehr besonders positioniert finden, kann auch dies durchaus zu Anpassungsschwierigkeiten führen. In dieser Lesart erscheint der »Kulturschock« dann als Ausdruck globaler Ungleichheiten und ihrer Einschreibung in Diskurse und Praktiken kultureller Differenz. Kulturelle Differenz und der Umgang mit dieser ist auch Gegenstand von Diskussionen unter Freiwilligen: Also wir, wir hatten auf (unverständlich) halt ne WhatsApp-Gruppe und haben dann über verschiedene Themen gesprochen oder auch, ähm, ich bin auch irgendwie in der von den neuen Jahrgängen drin und da gings dann auch grad im Moment oder zumindest jetzt bei den Neuen, wurd irgendwie einer angewiesen, von seiner Gastmutter, er soll doch diese Schlange töten, weil sie irgendwie im Haus war. Und dann hat er halt sich da so n großen

8 Aneignungsweisen von Diskursen der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

Kopf drüber gemacht und dann haben alle aber, ja, dann musst du dir somit, das is ja ne andere Art der Sozialisierung und so und Kultur und et cetera. Aber, ja, nee, so, so richtig drin war ich selbst nicht, aber, so in dieser Position, aber, aber dann würd ich halt irgendwann schon so sagen, ja, dann find ich das halt einfach scheiße. (Kai Z. 305-313) In dieser Passage erzählt Kai von einer WhatsApp-Gruppe, in der die Situation eines Freiwilligen diskutiert wurde. Dieser sei von seiner Gastmutter gebeten worden, eine Schlange zu töten, die ins Haus gekommen sei. Person X, so erzählt Kai, habe sich darüber einen »riesen Kopf« gemacht und auch in der WhatsApp-Gruppe sei verständnisvoll diskutiert worden, man müsse verstehen, dass es sich ja um eine »andere Art der Sozialisierung und so und Kultur und et cetera« handele. Kai selbst zeigt mir gegenüber Unverständnis für zu viel Vorsicht und gibt an, er hätte in solch einer Situation irgendwann zum Ausdruck gebracht, dass er es »scheiße« findet, die Schlange zu töten. Ich verstehe diese Erzählung als Hinweis auf eine die Freiwilligenzeit rahmende Bemühung, die Praktiken der Menschen vor Ort nicht zu kritisieren und nicht die eigenen Vorstellungen durchzusetzen. Dieses Bemühen mag auch auf die rassismuskritische Vorbereitung zurückgehen und mitunter dazu führen, dass die Freiwillen ihre Möglichkeit der Kritik stärker reflektieren. Kais Positionierung fällt demgegenüber sehr stark und emotional aus, wie sich in der Verwendung des Begriffs »scheiße« zeigt. Ich deute dies auch als Zeichen für eine mögliche Divergenz zwischen der Rahmung der Position als Freiwilliger, auf die Kai sich beziehen muss bzw. in die er sich möglicherweise stärker hineingerufen fühlt, als sie zu »verkörpern« und einer dieser Subjektposition in Teilen entgegenstehenden eigenen Identifikation. Auch wenn die Thematisierung von Rassismus die Mobilität zu rahmen und der Umgang mit kultureller Differenz Diskussionsgegenstand zu sein scheint, so ist hier doch die Problematik aufgezeigt, dass die kritische Thematisierung von materieller Ungleichheit gegenüber dem Umgang mit vorherrschenden Imaginationen kultureller Differenz – als wesentliches Moment des Rassismus – leichter scheint. Oder aber, die Freiwilligen – und Kai selbst – in Kais Erzählung empfinden die Übersetzung der rassismuskritischen Vorbereitung in Hinsicht auf den Umgang mit kultureller Differenz schwieriger. Wie ist diese zu verstehen? Wo fängt sie an und wo hört sie auf? Was ist vor dem Hintergrund des vielfach institutionalisierten, weil etwa an nationalstaatliche Zugehörigkeit gebundenen, Verständnisses kultureller Differenz zu akzeptieren? Wo wird eine eigene Handlung unangemessen? Usw.

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8.1.6

Kultur als Erklärung für Nicht-Passungen zwischen eigener Positionierung in Zugehörigkeit zu und Anrufung in Distanz durch die Gastbrüder

Auch an weiteren Stellen ist eine Differenz zur (verallgemeinerten) Kultur der Tansanier*innen Thema der Erzählung Kais: ähm, fällt mir so ne Sache ein, also, das ist auch so was Persönliches. Ähm, also das nervt mich hier auch so n bisschen. Ähm, irgendwie, wenn, sagen wir mal, wir sind jetzt, wären jetzt drei Freunde und du würdest jetzt mit dem was machen, äh, aber mich dann zum Beispiel nich fragen, weißt du, ob ich so mit will oder so. Äh, also das hat ich mir halt mit den Jungs auf der Arbeit, mit den drei, die ham halt richtig oft irgendwie was gemacht, sind, keine Ahnung, noch in die Stadt gefahren, ham was gegessen oder haben nach der Arbeit (unv.) Fußballspiel. Äh, und wo ich mir dann so gedacht hab, ja, äh, warum fragt der mich halt nich? Wo ich mich dann teils auch schon so n bisschen verletzt gefühlt hab. Und mir dann so gedacht hab, ja, wa/was soll ich denn jetzt hier, weil is euch da eh egal. Ähm, aber das, also, das is halt auch so was, äh, mhm, so, ne? Mit auf den Schlips treten, weil das, das nervt mich halt einfach total, aber das is jetzt hier nich anders. (Kai: Z. 625-636) Kai, der in seiner Erzählung Wert auf seine gute »Integration« legt, erzählt in dieser Passage, dass er von seinen Gastbrüdern, mit denen er den Tag über auf der Arbeit zu tun hat und die im Anschluss an ihre Arbeit häufig noch etwas gemeinsam unternehmen, nicht immer gefragt worden sei, ob er auch mitkommen möchte. Er berichtet, sich über diese Praxis geärgert und sich ausgeschlossen gefühlt zu haben, weil er nicht ebenfalls gefragt worden sein. Zur Begründung rekurriert er auf sein Verständnis von Freundschaft, und dass sich seiner Ansicht nach eine solche Praxis in einer freundschaftlichen Kommunikation nicht gehöre. Er verdeutlicht damit im Umkehrschluss, dass er sich zu seinen Gastbrüdern in einem freundschaftlichen Verhältnis stehend sieht. Nun stellt er Überlegungen zu den Hintergründen dieser Praxis an und findet eine stimmig erscheinende Erklärung in kultureller Differenz, in einer »andere[n] Art der Kommunikation« »dort«: Aber das war halt dort vor allem so, weil es auch einfach ne andere Art der Kommunikation is. Das is, seis jetzt irgendwie, da wird halt relativ viel spontan ausgemacht, also wir haben halt auch manchmal, wurden wir um halb sechs geweckt, ja, in fünf Minuten fahren wir auf die Arbeit, einfach weils

8 Aneignungsweisen von Diskursen der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

halt zehn Minuten vorher erst klar gemacht wurde. Ähm, und auch einfach, dass vielleicht nich so viel Austausch so zwischen den Leuten herrscht. Weil, das is/also die/diese Austauschsache war halt echt immer auf der Arbeit. Dann hab ich den was gefragt, den und den, es kamen drei unterschiedliche Antworten. Das war halt, weil jeder was anderes gehört hat, dem was anderes gesagt wurd. Und deswegen, obwohl, ne, ich finds dann halt einfach schade, blöd, doof, dass ich nich so gefragt werde für so Sachen, ähm, was halt für mich dann auch so das Gefühl, ich gehör nich dazu, so n Gefühl in mir auslöst, ausgelöst hat. Äh, auf der anderen Seite nehm ichs ihnen dann halt doch auch irgendwie nich so übel, weil ich weiß, dass sie s halt nich mit m schlechten Gewissen oder mit ner schlechten Absicht gemacht haben, sondern, ja, sie sind so oder, ne, oder die ham halt einfach grad nich dran gedacht. Aber nichtsdestotrotz war das dann für mich so n Punkt, äh, so wie ich gehör nich dazu. (Kai: Z. 636-650) Weil es so sei, dass seine Gastbrüder eben einfach anders kommunizieren und ihnen auch sicherlich keine schlechte Absicht ihm gegenüber unterstellt werden könne, könne er ihnen ihre »Vergesslichkeit« ihm gegenüber nicht übel nehmen. Kai überlegt in dieser Sequenz also, ob die von ihm als ausschließende Praxis markierte Erfahrung nicht vielleicht auch kulturbedingt sein könnte. Diese Interpretation der Situation untermauert Kai durch weitere Beispiele, wie die Spontanität des Aufbruches zur Arbeit oder den aus seiner Sicht mangelnden Austausch auf der Arbeit. Dennoch reicht die Erklärung offenbar nicht aus, um ihm in der Praxis das Gefühl des Nicht-dazuGehörens und des »[S]chade, blöd, doof«-Findens nehmen zu können. Das ist m.E. verständlich, auch insofern die von ihm angeführte Erklärung vielleicht eher auf eine Situation zutreffen würde, in der es auch die Gastbrüder nicht immer schafften, gemeinsam aufzubrechen. Da sie dies aber sehr wohl tun, ist es nachvollziehbar, dass Kai davon berichtet, es so empfunden zu haben, als sei es ihnen nicht ganz so wichtig, ihn auch mitzunehmen. In dieser Passage wird eine Praxis, die Kai von etwas ausschließt, von dem er gerne ein Teil wäre, von ihm unter Verweis auf kulturelle Differenz in Hinsicht auf ihn selbst (ent-)problematisiert. Weitere Möglichkeiten und Gründe, wie etwa seine eigene begrenzte Aufenthaltsdauer in Tansania, die auch mit seinem Status als Freiwilliger einhergeht, die nur begrenzte Fokussierung auf die Familie in seiner eigenen Freizeitgestaltung, von der er an anderer Stelle berichtet (Kai: Z. 468ff.), oder die mitunter kritische Positionierung gegenüber etablierten Praktiken, werden nicht diskutiert. Der Rekurs auf kulturelle Unterschiede

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

zur Erklärung von Distanzen, die nicht überwunden werden können, scheint demnach hohe Plausibilität zu besitzen, und da keine weitergehenden Überlegungen angestellt werden, kann Kai davon ausgehen, dass diese Plausibilität bekannt ist und auch mir einleuchten dürfte. In diesem Sinne können etablierte kulturalisierende Interpretationsfolien der Andersartigkeit der Kontexte bzw. Menschen Bezugsgrößen der Interpretation von Interaktionspraxen sein und mitunter eine differenzierte Sicht auf die Situation verhindern. Die spezifische Rahmung der Mobilität bzw. die Position, die aus ihr für die Freiwilligen hervorgeht, beeinflusst in meiner Lesart jedenfalls wesentlich die (Interpretation der) Interaktionspraxis vor Ort.

8.2

Aspekte der spezifischen Position der Freiwilligen-Mobilität (Ann & Kai)

8.2.1

Positionierung in Abgrenzung vom Feld (professioneller) entwicklungspolitischer Mobilität

In Anns Erzählung findet sich eine längere Passage, in der sie sich von anderen – professionellen – Entwicklungszusammenarbeiter*innen und deren Praktiken abgrenzt. und ich hab mich irgendwie, ja, ich hab mich halt natürlich zu Deutschland dazugehörig gefühlt/I: mhm (bejahend)/A.: und hab aber irgendwie vie ich viele auch ähm viele Leute, die bei der GIZ gearbeitet haben (.) ähm (.) konnt ich mich halt (.) wo konnte ich mich und wollte ich mich überhaupt nich mit denen identifizieren./I: mhm (bejahend)/A.: also ich hatte, ähm, mit einer ähm (.) einer von der GIZ mal mich unterhalten und ich hab (.) es war relativ am Anfang also/I: mhm (bejahend)/A.: irgendwie da war ich n Monat da und sie, ich fand das unmöglich, wie sie über Mosambikaner ge (.) redet hat und wie sie über die hergezogen hat ähm (.) und dann aber auch keine Ah für mich ich so das Gefühl hatte, hey du hast keine Ahnung, ich bin hier n Monat da und (.) ähm, ich hab das Gefühl, so manche Sachen hab ich schon viel mehr mitbekommen. (Ann: Z. 500-513) Ann betont in diesem Zusammenhang, sie fühle sich »natürlich« zu Deutschland zugehörig, um im Anschluss daran von großen Schwierigkeiten der Identifikation mit anderen Deutschen in Mosambik zu erzählen. Diese anderen Deutschen sind professionelle Entwicklungszusammenarbeiter*innen,

8 Aneignungsweisen von Diskursen der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

die bei der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) tätig sind. Sie berichtet beispielhaft von einem Gespräch mit »einer von der GIZ« und erzählt davon, es unmöglich gefunden zu haben, wie diese über Mosambikaner*innen geredet habe bzw. über diese »hergezogen« sei. Dabei habe sie das Gefühl gehabt, dass die Frau von der GIZ, mit der sie spricht, gar keine Ahnung gehabt habe. Demgegenüber positioniert sie sich selbst als Kennerin, die trotz ihrer kurzen Zeit in Mosambik mehr von den »Sachen«, über die sie in dieser Situation reden, mitbekommen habe. Dieses Gespräch bzw. die hier erfahrende Einstellung der GIZ-Mitarbeiter*in stellt Ann als typische Einstellung der professionellen Entwicklungszusammenarbeiter*innen bei der GIZ vor. Sie markiert eine grundlegende Differenz zwischen ihrer eigenen Einstellung und der Einstellung der Menschen, die für die GIZ arbeiten. Die starke Abgrenzung von diesen anderen Menschen aus »Deutschland« scheint die Betonung der eigenen Zugehörigkeit zu »Deutschland« notwendig zu machen. Deutschland wird durch die GIZ-Mitarbeiter*innen repräsentiert, diese Repräsentation ist aber alles andere als in Anns Sinne, ja sie empfindet sie als sehr kritikwürdig. Vor dem Hintergrund der institutionell herausgehobenen Stellung, in der sie stehen, haben sie Einfluss auf die Wahrnehmung dessen, wie »Deutschland« und »Deutsche« in Mosambik wahrgenommen werden. So und in dieser Art »Deutsch« möchte Ann aber nicht sein, als »Deutsche« fühlt sie sich aber vielleicht sozusagen wie mit ihnen »in einen Topf geworfen«. Dadurch mag sie ihre Zugehörigkeit zu Deutschland in gewisser Weise infrage gestellt sehen und deshalb wird die Betonung einer anderen Einstellung im Umgang mit Mosambikanern*innen auch zu einer (Neu-)Behauptung der Zugehörigkeit zu Deutschland. als was auch vielleicht noch mal der Unterschied ist, dadurch, dass ich als Freiwillige war noch mal (.) mmm (.) mehr Zugang oder vielleicht (unverständlich) ich weiß es nich genau/I: mhm (bejahend)/A.: finde, um irgendwie noch mehr mitzukriegen auch von den jungen Leuten als wenn ich in meinem (.) in der Expat-Blase bin und nur mit solchen Leuten abhäng, was ich halt gemerkt hab, dass das bei supervielen Leuten von der GIZ einfach so is oder auch vom (.) [Ort, an dem Ann arbeitet] (.) und wo ich dachte, ich versteh das nich also (.) wie ka, also ich konnt das überhaupt nich nachvollziehen und ähm (.) und ich hab mich total geärgert, dass es einfach so so herablassend auch geredet worden is, also und und dann ich das Gefühl hatte, also eigentlich ham sie noch gar nich wirklich (.) Kontakt mit diesen Leuten gehabt oder (.) sich noch gar nich richtig geöffnet oder drauf eingelassen,

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sondern ja (.) unsere Anschauung, so wie wir es machen, is es richtig und wenns die anderen nich so machen, dann isses schlecht/I: mhm (bejahend)/ A.: statt zu gucken, warum ist es vielleicht so und vielleicht hat es ja auch nen Sinn, warum dies so machen oder/I: mhm (bejahend)/A.: mm vielleicht isses ja auch besser (betont) in der Situation oder man kann nich alles, was man vielleicht hier anders macht, genauso dort anwenden, ich weiß nich (.) (Ann: Z. 515-532) Problematisch an den Praktiken der anderen sei, so identifiziert sie, dass diese zum einen nur untereinander bleiben und sie zum anderen sehr herablassend über die Mosambikaner*innen reden würden. Es habe hier eine Ansicht vorgeherrscht, nach der die eigenen Arten und Weisen, die Dinge anzugehen, die einzig richtigen und diejenigen der Menschen vor Ort abgewertet worden seien. Diese Einstellung sei zudem omnipräsent gewesen, und zwar ohne dass weiterer Kontakt mit den bzw. Kenntnis der Menschen, deren Praktiken abgewertet wurden, bestanden habe. Ann beschreibt diese Erfahrung mit der GIZ auch als einen Konflikt für sie selbst, und zwar weil sie sich einerseits als deutsche Freiwillige auch ähnlich verortet (sieht) und sie ebenfalls »was voranbringen« (Ann: Z. 537) wollte. Sie sieht also einerseits eine Gemeinsamkeit mit den professionellen Entwicklungszusammenarbeiter*innen. Diese bezieht sie auf ein gemeinsames natio-ethno-kulturelles Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland wie auch den gemeinsamen Wunsch zu entwicklungspolitischer Arbeit. Sie ist ferner in geteilten Räumen zu finden, denn Ann und die Expert*innen begegnen, treffen und unterhalten sich. Von den Einstellungen der professionellen Entwicklungszusammenarbeiter*innen, die sie kennengelernt hat, distanziert sie sich andererseits entschieden, auch wenn sie das Zugeständnis macht, nicht zu wissen, ob sie selbst in deren Position anders handeln würde und wie viel das mit ihrer eigenen Position als Freiwillige zu tun habe. Sie findet hier in jedem Fall hinreichende Gründe, nie für die GIZ arbeiten zu wollen: »[A]lso ich werd nich für die GIZ arbeiten (lacht)« (Ann: Z. 699). Ann grenzt sich in ihrer Erzählung von einem bestimmten Typ Entwicklungszusammenarbeiter*in mit einer bestimmten – überheblichen und eurozentristischen – Einstellung ab. Diese wird von ihr auch mit der Professionalisierung der Entwicklungszusammenarbeit, hier der Institution der GIZ, sowie dem Bewegen in einer »Expat-Blase« in Zusammenhang gebracht. Dabei lässt sie ein identitäres Feld der entwicklungspolitischen Mobilität erkennen, das in sich differenziert ist. Vor dem Hintergrund bzw. in Abgrenzung von jenen kann Ann dann eine bessere Praxis für sich selbst entwerfen. Während

8 Aneignungsweisen von Diskursen der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

Ann einerseits eine Vielzahl von Akteur*innen beschreibt, die an der entwicklungspolitischen Mobilität teilhaben und die sich mit dem Projekt der »Entwicklung« identifizieren können (Ann zählt sich auch zu diesen), so gibt es doch Uneinigkeit darüber, was genau damit verbunden ist. Jene Art und Weise, in der die Expert*innen sprechen und praktizieren, ist für Ann jedenfalls nicht die richtige. Dies scheint mir insbesondere auch aus der in dieser Arbeit verfolgten postkolonialen Perspektive interessant und relevant, insofern Ann in ihrer Beschreibung dessen, was ihr nicht gefällt, die negative Beurteilung der lokalen Praxis hervorhebt, eine Beurteilung, welche die deutsche/europäische Anschauung gegenüber der mosambikanischen privilegiert, indem sie die eine für richtig und die andere für schlecht erklärt. Die »Zusammenarbeit«, die Ann hier beschreibt, wird vor diesem Hintergrund zu einer ungleichen Beziehung, zu Überheblichkeit und Herablassung und bedarf keines Einlassens auf die lokale Praxis. Während Ann dies kritisiert, fasst sie sich selbst in die deutsche/europäische Anschauung mit ein, indem sie von »unserer Anschauung« und »so wie wir es machen« spricht. Anschauung scheint deshalb bedingt durch natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit.

8.2.2

Theoretisierender Einschub: »Expert*innen«-Wissen und/vs. lokales Wissen

Wie Antweiler (1998: 470) argumentiert, ist es in entwicklungspolitischen Kontexten selten, die Menschen und ihr Wissen vor Ort in den Mittelpunkt zu stellen – »where the people are«. Viel gängiger sei es, eine Perspektive auf den Umgang mit lokalem Wissen in Entwicklungszusammenhängen anzunehmen, die dieses an eine bestimmte Vorstellung anpassen möchte – »where others want them to be«. Diese Vorstellung verweise auf asymmetrische Beziehungen in Hinsicht auf Macht, die sich auch im Kontext von Wissen und Kommunikation zeigten. Sogenannte Expert*innen der Entwicklungszusammenarbeit könnten sich deshalb als rational und wissend positionieren und die lokale Bevölkerung als »irrational« rahmen: In other words, relations were asymmetrical not only in terms of power but also in terms of knowledge and communication, and the impacts remain evident at all levels to this day. Even if it not stated explicitly, the attitude is widespread among development experts that experts are rational and »know« something, whereas the population is irrational and »believes« something. (Antweiler 1998: 483)

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Die dabei zum Tragen kommende Vorstellung der Ungleichheit von Wissen werde i.d.R. vor dem Hintergrund der Wissenschaftlichkeit des angewendeten Wissens gerechtfertigt. Das Problem liege dabei allerdings darin, dass im Rekurs auf wissenschaftliches Wissen die Ignoranz anderer Wissensformen impliziert sei: Scientific knowledge always implies ignorance of other knowledges […]. This is especially significant in the context of the interest of development theorists and practitioners in local knowledge, since during the colonial era scientific knowledge occupied and in today’s development cooperation occupies an almost hegemonic role as a pillar of Western cultural dominance; it is a »world-ordering knowledge« (Hobart l993a: 1). (Antweiler 1998: 483) Hinzu komme die Problematik, dass wissenschaftliches Wissen im Kontext von Entwicklungszusammenarbeit eine fast hegemoniale Stellung als Säule westlicher kultureller Dominanz einnehme. Vor diesem Hintergrund, so argumentiert Antweiler (ebd.), sei eine Ignoranz gegenüber entwicklungspolitischem Expert*innenwissen auch als stiller Protest gegen externe Ideen lesbar. Ein genauerer Blick auf die Kategorien des wissenschaftlichen Wissens und des lokalen Wissens sei nicht zuletzt aus diesem Grund bedeutsam. Dabei zeige sich zum einen, »everyday knowledge in Western societies does not differ in principle (!) from that in non-Western groups« (Antweiler 1998: 472). Zum anderen bestehe der Unterschied zwischen wissenschaftlichem Wissen und lokalem Wissen darin, dass »sciences seek information which is transferable to any spatial or social situation (immutable mobiles), i.e., which is not context-bound« (ebd.: 481). Wenn nun aber Wissen eben gerade nicht übertragbar sei, wie es im Kontext der Entwicklungszusammenarbeit häufig der Fall ist, dann ließe sich schwerlich weiterhin von wissenschaftlichem Wissen sprechen. Stattdessen müsse anerkannt werden, dass in diesen Fällen das Wissen der Expert*innen kontextgebunden und eben nicht als wissenschaftliches, sondern als lokales Wissen zu verstehen sei. Werde eine solche Perspektive eingenommen, so entstehe ein Verständnis von Wissenschaft, das sich durch eine Suche nach Intersubjektivität auszeichne. In dieser Hinsicht valides Wissen sei nur noch schwerlich als exklusiv westlich zu verstehen, sondern stattdessen als universell menschlich. Dabei sei es bedeutsam zu verstehen und zu berücksichtigen, dass verschiedene Wissensformen adäquate Handlungs- bzw. Lösungsmöglichkeiten bieten können:

8 Aneignungsweisen von Diskursen der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

In the development context, different knowledge stocks or pools need to be considered and combined on the basis of their relative merits. Contrary to extreme postmodernist arguments, we would contend that science, understood as the quest for intersubjectively – and thus interculturally (and intersexually!) – valid knowledge, is not something exclusively »Western«, but is something universally human. But nevertheless different forms of knowledge might result in markedly different attitudes and actions, as, e.g., shown by Lewis (1989) in the case of Aborigineses’ and farm rangers’ knowledge about fire in Australia. (Antweiler 1998: 482)

8.2.3

Unangemessene, verschwenderische Praktiken der professionellen Entwicklungszusammenarbeiter*innen

Eine Differenz, auf die Ann in einem vermutenden, etwas unsicheren Modus verweist, liegt zudem in der spezifischen Position der Freiwilligen, von der sie vermutet, dass sie ihr mehr »Zugang« zum Leben der Mosambikaner*innen ermöglicht. Die Relevanz dieser Differenz lässt sich durch bestehende Forschungen jedenfalls bestärken. Eriksson Baaz (2005: 82f.) etwa weist auf die Bedeutung der Unterschiede in den Lebens- und Arbeitsbedingungen hin zwischen »›us‹, who at least have quite modest living conditions and live closer to the local communities, and ›them‹, the development experts whose standards of living is outrageous and who spend their lives at the Sheraton cocktail bar or the yacht club«. Eine solche Entrücktheit ist es auch, die Ann in ganz ähnlicher Art und Weise kritisiert: oder ich weiß auch noch bei der Wei, wir waren halt zur Weihnachtsfeier von der GIZ eingeladen (.)/I: mhm/A: und ich fands (.) also es war ein rieesen also rieeesiges Fest riesiges Buffet/I: mhm/A.: es blieb über die Hälfte übrig, weiß nich, was damit gemacht worden is (.) ich hoffe, es wurde nich weggeschmissen aber (.) ähm, es war suuuperschick alles und ich hab mich so unwohl gefühlt und es war, ich hatte auch das Gefühl, es sind hier fast nur (.) wei nur (.) Weiße Deutsche, es waren halt ganz wenig Mosambikaner (.) vertreten und (.) irgendwie, ich weiß nich (…) also ich hab mich (.) au es war total unnötig für meine Augen und ich hab den Sinn nich da drin verstanden. (Ann: Z. 551-563) Ann beschreibt in der obigen Passage ein starkes Gefälle zwischen den Lebensbedingungen der professionellen Entwicklungszusammenarbeiter*innen und denen der Menschen in Mosambik. Es erscheint ihr unangemessen,

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

dass es »suuuperschick« ist, dass derart verschwenderisch mit Essen umgegangen und nur unter sich, unter Weißen Deutschen, gefeiert werde. Sie markiert diese Praxis als eine, deren »Sinn« sie nicht versteht. Für mich ergeben sich im Kontext dieser Positionierung mehrere Fragen. Etwa die Frage danach, was es mit diesem »Sinn« auf sich hat, was also eine sinnvolle Praxis ausmachen würde. Oder danach, was es mit dem Unwohlsein auf sich hat, worum es dabei geht, d.h., worauf es verweisen mag und was es über die Art der Mobilität aussagen könnte. Stellen wir die obige Aussage sozusagen auf den Kopf, ergeben sich einige erste Anhaltspunkte. Eine Anns Erzählung folgende, angemessenere Feier könnte vielleicht wie folgt umrissen werden: Sie wäre bescheiden(er), fände gemeinsam mit Mosambikaner*innen statt, es würde kein Essen weggeworfen und es würde sich nicht über andere Menschen gestellt, durch eine abgehobene Praxis und ein abgehobenes Reden.

8.2.4

Ambivalentes Verhältnis zur eigenen privilegierten Position

Dieser abgrenzenden Positionierung gegenüber professionellen Akteur*innen der Entwicklungszusammenarbeit wohnt also implizit auch ein Anspruch an die eigene Praxis inne. Von dieser berichtet mir Ann an anderer Stelle in Hinsicht auf ihre Wohnsituation: uuund hab doort erst in der Gastfamilie gewohnt, drei Monate (.) was total schön war, ähmmm, allerdings bin ich da ausgezogen, also es war von der Wohnsituation z sehr schwierig, ähm (.) und bin dann in ne WG gezogen, aber hatte noch sehr viel Kontakt mit meiner Gastfamilie, da war ich auch total froh und/I: mmm/A.: wir haben auch noch Weihnachten dann zusammen gefeiert […] (Ann: Z. 216-221) Ann erzählt in dieser Passage des Interviews von ihrer ersten Zeit in Mosambik, in der sie in einer Gastfamilie untergekommen sei, dort aber nicht lange gewohnt habe. Obwohl sie es als »total schön« empfunden habe, so sei die Wohnsituation doch »sehr schwierig« gewesen. Was genau die Schwierigkeit der Wohnsituation ausgemacht hat, führt Ann an dieser Stelle nicht weiter aus. Diese nicht genauer beschriebenen Umstände des Wohnens – vielleicht eine Enge? – werden aber als Grund für den Umzug in eine Wohngemeinschaft angeführt. Dennoch habe weiterhin »sehr viel Kontakt« zur Gastfamilie bestanden. Als Beleg für diese Aussage, führt Ann eine gemeinsame Weihnachtsfeier im Kreis der Gastfamilie an. Dies ist das zweite Mal, dass sie mit

8 Aneignungsweisen von Diskursen der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

mir über eine Weihnachtsfeier spricht. Während sie sich von der Weihnachtsfeier im Kreis der entwicklungspolitisch Tätigen abgrenzt, wird die Weihnachtsfeier im Kreis der Gastfamilie als positives Beispiel des guten Kontaktes zur mosambikanischen Gastfamilie angeführt. Die gegenüber ersterer Feier geäußerten Vorbehalte gelten für den Kreis der Gastfamilie nicht, er ist gewissermaßen das Gegenteil und steht für eine gute und gelungene (eigene) Praxis. Nun wohnt Ann allerdings nach kurzer Zeit in einer Wohngemeinschaft und diese beschreibt sie wie folgt: das war son Hau, das war irgendwie n bisschen (.) mmm ziemlich chaotisches Haus, wo Leute aus allen Ländern irgendwie gewohnt haben (…) und, ähm, das war sehr anders, weil ich in der reichsten in einem der reichsten Viertel in [Stadt in Mosambik] gewohnt hab. (Ann: Z. 222-228) Ihre neue Wohnsituation wird von Ann als »ziemlich chaotisch« markiert. Implizit verbindet sie das chaotische des Hauses mit der Diversität der nationalen Herkunft seiner Bewohner*innen, wenn sie davon erzählt, dass Menschen aus »allen Ländern« dort gewohnt hätten. Sie beschreibt ferner die Gegend, in der das Haus angesiedelt ist, als »sehr anders«, weil es in einem der reichsten Viertel der Stadt gelegen habe. wo halt also um uns rum warn nuur (.) Botschaften und die Supervillen und unser Haus war halt richtig abgeranzt so mittendrin, ähm (.) und ich hab mich da auch sehr unwohl gefühlt, äääh am Anfang, ich hab smich da relativ schnell halt dran gewöhnt, was mich selber dann echt so erschreckt hat, weil (.) man hat halt auf der Straße ähm (.) also alle Leute sind dort in ihren Autos gefahren und auf der Straße hat man eigentlich nur Hausangestellte morgens gesehen, wenn ich zur Arbeit gegangen bin/I: mmm/ A.: ähm (.) uuund die dann auch zur Arbeit gegangen sind, in die Villen und dann abends wieder zurückgefahren sind (.) und ich wurde richtig komisch immer angeguckt sowohl von (.) ääh Mosamika Schwarzmosambikanern vor allem (.) die dort gearbeitet haben als Hausangestellte (.) dass ich mich auf also keine Ahnung, weil sie glaub ich auch nicht mich ganz zuordnen konnten, weil sie gesehen haben, ich bin nicht so (.) richtig irgendwie (.) jemand hier, also weil alle Leu oder fast alle, die dort ähm (.) gewohnt haben, die sind immer in ihren Autos, die würden, die wären da nicht auf der Straße rumgelaufen, von denen wurde ich aber auch komisch ange (unverständlich), weil (.) immer ziemlich, ja (Lachen) ich war kam mir son bisschen vor wie son Ali-

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en, weil ich irgendwie zu keinem von beiden wirklich gepasst hab (.). (Ann: Z. 230-245) Das Haus, in dem sie nun wohnt, beschreibt Ann als »richtig abgeranzt« und im Kontrast zur Umgebung stehend, inmitten von »Botschaften und Supervillen« liegend. Sie erzählt, sich dort zunächst sehr unwohl gefühlt, sich aber zu ihrem eigenen Erschrecken schnell an die Wohnsituation gewöhnt zu haben. Der Kontrast »Botschaften und Supervillen«/»richtig abgeranzt« wird für ein zu Beginn starkes Gefühl des Unwohlseins verantwortlich gemacht. Im Kontext der Erzählung von der Weihnachtsfeier der professionellen Entwicklungszusammenarbeiter*innen hatte sich Ann bereits von einem allzu offen zur Schau gestellten Sonderstatus abgegrenzt. Diese Sonderstellung scheint nun allerdings auch Ann zu eigen zu sein. Das Wohnviertel, in dem ihre WG liegt, bzw. das Haus im Kontext des Wohnviertels sorgt für Widersprüche. So ist das Haus ein »abgeranztes« Haus in einer der reichsten Gegenden der Stadt, die vermutlich alles ist, nur nicht »abgeranzt«. Im Haus wohnen »Leute aus allen Ländern«, vermutlich durchgehend mit nicht so viel Geld ausgestattet wie die anderen Bewohner*innen des Viertels. Dennoch wird ihnen allen die Möglichkeit zuteil, in dieser wohlhabenden Gegend zu wohnen und damit auch offen anders zu sein. Es sind hier also auch eine Privilegierung und ein Ansehen der »Leute aus allen Ländern« erkennbar, die zumindest in Bezug auf diese Leute zuvorderst symbolischer und weniger materieller Art zu sein scheinen. Dabei kommt die Frage auf, worin sich dieses Ansehen genau begründet. Es deutet sicher auch auf die politischen Rahmenbedingungen hin, in denen die Mobilität stattfindet, deren Teil Ann ist. So sind die Bewohner*innen des Hauses zwar nicht unbedingt mit materiellem Reichtum ausgestattet, wohl aber gilt dies voraussichtlich für ihre Herkunftsländer, zumindest in Relation zu Mosambik. Ann ist Teil der größeren ExpatriateGemeinschaft, mit allem, was dazugehört, von der Einladung zu offiziellen Events und Veranstaltungen bis zum Zugang zu gehobenen Kreisen, wie reichen Wohngebieten und diplomatischen Kreisen (vgl. auch Heron 2007: 95). Diese Situation spielt vermutlich in ein komisches Beäugt-Werden im Viertel hinein, von dem Ann zudem, diese aber anders deutend, erzählt. So berichtet sie von der alltäglichen Praxis der Bewohner*innen des Viertels und einer demgegenüber ambivalenten bzw. herausfordernden und überschreitenden eigenen Praxis. Auf den Straßen des Viertels, so erzählt sie, seien an Fußgänger*innen neben ihr selbst morgens vornehmlich Hausangestellte unterwegs gewesen. Alle anderen Anwohner*innen seien mit dem Auto gefah-

8 Aneignungsweisen von Diskursen der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

ren. Diese ihre Praxis habe dazu geführt, dass sie sowohl von den Hausangestellten, meist »Schwarzmosambikaner[*innen]«, als auch von den Bewohner*innen der Villen komisch beäugt worden sei. Ann stellt Vermutungen zu den Gründen für dieses Beäugen an, in dessen Folge sie sich »son bisschen […] wie son Alien« vorgekommen sei, und weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sie zu keiner der Gruppen richtig gepasst habe und deshalb aufgefallen sei. Die soziale Praxis der Zurschaustellung der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, die sie hier beschreibt, findet durch die Art der Fortbewegung – Hausangestellte laufen zu Fuß, Anwohner*innen fahren mit dem Auto – und durch eine rassifizierte Zuordnung von Berufsgruppen – Hausangestellte sind Schwarze Mosambikaner*innen, in Hinsicht auf die Anwohner*innen des Viertels bleibt dies offen – ihren Ausdruck. Dass sie anders als die anderen Anwohner*innen des Viertels zu Fuß geht und nicht Auto fährt, löst Irritationen aus. Denn Ann ist sicherlich erkennbar privilegiert und damit keine Hausangestellte. Die Irritationen steigern sich vermutlich dadurch, dass sie zu keiner der Gruppen wirklich zu passen scheint, aufgrund ihrer »Hautfarbe« vielleicht auch Hausangestellte sein könnte, sie aber auch doch deutlich als jemand erkannt wird, die genau das nicht ist. Durch ihre Praxis des Zu-Fuß-Gehens grenzt sie sich gleichzeitig von den etablierten Anwohner*innen ab und wird wohl auch deswegen von ihnen komisch beäugt. Mit dieser Wohnsituation, so führt Ann aus, habe auf ihrer Seite ein schlechtes Gewissen korrespondiert: ja uund genau, ich hab davor, ähm, inner mmm (…) innem anderen Viertel in [Stadt] gewohnt, allerdings auch im Zentrum, einfach, weil das von der Anfahrt so lang gewesen wäre und deshalb, ich würd mal sagen aus einer Familie in der Mittelschicht, auch wenns da n ne kleine Mittelschicht gibt, ähm, (.) aber es war also im Vergleich zu (.) der Gegend, wo ich danach gewohnt hab, viel ärmlicher und einfacher gehalten so, aber ich hab mich sehr viel wohler gefühlt, muss ich sagen so (…) ähm (.) und oder ich hab mich irgendwie auch nicht, ich hatte son schlechtes Gewissen auch die ganze Zeit irgendwie, dass ich so jetzt hier wohne und ja (…). (Ann: Z. 246-253) Eine ärmlicher und einfacher gehaltene Wohngegend bringt Ann mit einem besseren Gewissen und einem Sicht-Wohler-Fühlen in Verbindung. Nicht alle Lebensbedingungen werden von ihr demnach gleich beurteilt. Stattdessen artikuliert sie den Wunsch, ein Leben zu leben, wie diejenigen, die nicht so privilegiert sind:

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weil es einfach (.) ja (.) ähm (…) und (…) genau und so komisches Gefüh (.) ich weiß nich, ich glaub irgendwie, es war (.) vielleicht hab ich so gedacht (.) mm ich möchte eigentlich mit (.) Leuten in Mosambik zu tun haben, die der Mehrheit (betont) dort entsprechen oder so leben wie der größere Teil. (Ann: Z. 483-486) In einer weitergehenden Lesart ließe sich das komische Gefühl/schlechte Gewissen auch als Hinweis auf rahmende Diskurse der entwicklungspolitischen Mobilität deuten. Innerhalb dieser, die, wie ich zuvor ausgeführt habe, von der bürgerlichen Subjektform geprägt ist, können sich die Freiwilligen nach Heron (Heron 2007: 38) als solche mit »globalem Bewusstsein« verorten. Wie Heron (ebd.: 54) darlegt, korrespondiert mit diesem globalen Bewusstsein auch so etwas wie eine »globale Schuld«, der dadurch begegnet werden könne, in solche Kontexte zu gehen, in denen die materielle Armut die Arbeit an der Schuld absichere. Dies war von mir zuvor auch als Merkmal der Praktiken kultureller Distinktion der Weißen bürgerlichen Mittelschicht erkennbar gemacht worden. Durch diese Praxis, so das Argument, werde die Moralität der Position gestärkt und gleichzeitig eine Differenz den »Anderen« gegenüber behauptet, denen nicht zugetraut werden konnte, sich selbst zu helfen. Eine »Arbeit an der Schuld« lässt sich darüber hinaus auch als Merkmal der Artikulation von rassistischen und christlich-religiösen Diskursen verstehen, auf die etwa Frederickson (2015: 15) hinweist. Nun positioniert sich Ann allerdings nicht Weiß und wird auch nicht so angerufen, wohl aber als Teil der historisch als Weiß verorteten Mobilität, was eine ambivalente Position einzunehmen bedeuten mag. Die Arbeit an der Schuld mag zudem erschwert sein, wenn sich herausstellt, dass mensch im Globalen Süden als wohlhabend und privilegiert, weil aus dem Globalen Norden kommend, angerufen wird. In dieser Hinsicht ist dann die Erfahrung in der Mobilität nicht diejenige, die ursprünglich imaginiert wurde. Stattdessen ist sie distinguierend und durch die privilegierte Wohnsituation wird diese Distinguiertheit noch weiter bestätigt und unterstrichen. Die eigene Handlungs- bzw. Lebenspraxis in der entwicklungspolitischen Mobilität kann insofern dem eigenen Selbstverständnis zuwiderlaufen. Die »Entdeckung« des eigenen Wohlstandes, der eigenen Privilegierung und der ungleichen Lebensbedingungen, darauf weist etwa Eriksson Baaz (2005: 86f., 116ff.) hin, steht für viele Entwicklungszusammenarbeiter*innen im Widerspruch zu Diskursen der Solidarität, an denen sie sich vielfach orientieren. Auch dies mag sich in einem schlechten Gewissen manifestieren

8 Aneignungsweisen von Diskursen der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

und insofern auch Ausdruck einer Infragestellung der eigenen Mobilitätspraxis sein, im Sinne einer Frage danach, was ich hier eigentlich mache, wenn ich eigentlich ungleiche Lebensbedingungen aufheben möchte und dies Sinn und Ziel meiner Mobilität war, aber feststellen muss, dass ich dies nicht so einfach realisieren kann. Nicht zuletzt ist Ann auch aufgrund eines Wunsches, Differenzen zu verkleinern, Teil der entwicklungspolitischen Mobilität, orientiert sich an einem »globalen Bewusstsein« und fühlt Anspruch und Verpflichtung anderen zu »helfen«. An einer anderen Stelle des Interviews kommt Ann (Z. 255-257) darauf zu sprechen, dass »fast alle Familien in der [Stadt in Mosambik] die […] relativ zentral wohnen«, Hausangestellte gehabt hätten. Ann bezeichnet diesen Umstand als komisch und »sehr sehr ungewohnt«. In der Thematisierung der Hausangestellten lässt sich der Spur des schlechten Gewissens etwas weiter folgen. Hausangestellte jedenfalls gebe es in fast allen Familien der Stadt, auch in jenen der Mittelschicht. Dies ist insofern kein Kennzeichen, welches die eine von der anderen Wohngegend unterscheidet, sondern vielmehr eine Gemeinsamkeit: ich auch immer nie wusste, wie ich mich zu denen Verhalten soll, weil ich irgendwie immer gesehen hab, dass sie von anderen immer richtig schlecht behandelt werden und ich das aber nicht möchte, aber ich auch gemerkt hab, dass sie zu mir aber auch ne Distanz aufgebaut haben und auch nicht, wenn ich versucht hab, mit Ihnen auf ner Augenhöhe zu reden (.) oder (.)/I: mmm/A.: normal sag ich mal, ähm (.) trotzdem son Misstrauen war, weil ich trotzdem natürlich in ner privilegierten, also sie natürlich wussten irgendwie so (.) ich hab einfach die Möglichkeit hier und meine Hausan, die eine Hausangestellte von uns war so alt wie ich und die hat halt einfach schon die letzten drei Jahre als Hausangestellte gearbeitet und hat auch gemeint (.) also so wies im Moment is, werd ich wahrscheinlich mein ganzes Leben so arbeiten/I: mmm/A.: also sie hat mir mal die Haare geflochten und dann ham wir son bisschen geredet auch (.) und dann hat sie halt von ihren ganzen (unverständlich) erzählt und so ich hab mir auch gedacht, ja und ich bin hier und kann mich frei bewegen, kann machen, was ich will. (Ann: Z. 258-272) Im Kontakt mit Hausangestellten, so berichtet Ann, wäre sie sich unsicher gewesen, wie sie sich habe verhalten sollen, da Hausangestellte »von anderen immer richtig schlecht behandelt« worden seien. Von dieser Praxis grenzt sie sich entschieden ab und versucht, anders, auf »Augenhöhe«, in Kontakt zu treten. Es sei jedoch so gewesen, dass Hausangestellte auch zu ihr eine

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

»Distanz aufgebaut« hätten, die selbst dann bestehen geblieben sei, wenn sie den Versuch unternommen habe, mit ihnen »auf ner Augenhöhe« bzw. »normal sag ich mal« zu reden. Diese Distanz, die sie auch als »Misstrauen« beschreibt, führt Ann dazu, auf ihre eigenen, demgegenüber privilegierten Lebensumstände zu reflektieren. Im Vergleich mit einer Hausangestellten, die genauso alt wie Ann selbst ist, verdeutlicht sie mir diesen Punkt. Sie erzählt dazu von einem Gespräch mit dieser Hausangestellten, in dem diese ihr erläutert habe, dass sie bereits seit Längerem als Hausangestellte arbeite und dass sich dies in ihrem Leben wohl auch nicht ändern werde. Ann markiert dies mir gegenüber als einen Moment, an dem ihr besonders deutlich wurde, dass sie selbst sich »hier« »frei bewegen kann [und] machen, was ich will«. Das beschriebene Misstrauen der Hausangestellten Ann gegenüber, die ihnen gegenüber »normal« sein möchte, lässt sich demnach auch als Zeichen für ein Machtgefälle verstehen, mit dem verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten des eigenen Lebens korrespondieren und welches die Begegnung für die eine Seite riskanter und fragiler gestaltet, als für die andere. Während Ann in der Überschreitung des sozialen Abstands nichts zu verlieren hat, sie sich in Mosambik, aber auch darüber hinaus, weitgehend »frei« bewegen kann, kann sich das für die Hausangestellten weitaus anders darstellen. Das Machtgefälle ist dabei den Hausangestellten von Beginn an deutlich, während Ann ihre Privilegiertheit als soziale Grenze erst erfährt. In diesem Sinn erscheint Macht als ein wichtiger Aspekt der Privilegiertheit, von der Ann berichtet. Für Ann selbst scheint Privilegiertheit aber stärker mit unterschiedlichen Lebensperspektiven und weniger mit einer konkreten Position der Macht gegenüber der Hausangestellten verbunden zu sein. Diese Macht bzw. Privilegiertheit stellt sie auch an dieser Stelle als etwas dar, das ihr eher auferlegt ist, ihr unangenehm ist und besser nicht existieren sollte.

8.2.5

Freiwillige als Expert*innen und Freiwillige als Erfahrungskonkurrent*innen (Kai)

Kai erzählt einerseits davon, im Zusammenhang mit dem Ausbleiben eines »Kulturschocks« mit sich gehadert zu haben und sich die Frage gestellt zu haben, wie »integriert« er gewesen sei. Andererseits ist es gerade eine besonders gelungene »Integration«, die besondere Eingebundenheit in Tansania und Deutschland, die eine weitere Erklärungsfolie für dessen ausbleiben anbietet:

8 Aneignungsweisen von Diskursen der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

Waren auf vielen, äh, [Aktivität] unterwegs und das hat mir hinge/also mir einfach dazu geholfen, dass ich (.) mich schnell integriert gefühlt hab. Also mit meinen Gastbrüdern, Cousins, ich hat dann einfach ne gute Bindung zu denen. Sie waren auch noch in meinem Alter, was geholfen hat. Und es war dann für mich/Dann, dann kam hinzu, dass wir die ganze [Region] im Verlauf des Jahres oder sogar noch [Ort], das ist [Ort], besucht haben. Und einfach auch n/ich will/ich muss viel so mit Anführungszeichen, so ins echte Leben so von den, irgendwie von den/der Rural Area eingetaucht oder das mal gesehen ham. Weil, äh, klar, also ich würd so/na, wie soll ich sagen? Unterschiedliche (.) Level von dem eben, was man so sehen kann. Ich mein, wir haben vor allem durch die Arbeit, ich würd ma sagen, so alles gesehen. So von Lebensverhältnissen irgendwie, Art der Menschen, wohingegen dann meine Familie, als sie zu Besuch kam, sie haben dann durch mich irgendwie auch meine Familie und Freunde kennengelernt, ähm, was ihnen ja auch irgendwie noch mal nen anderen Blick auf das Leben dort gibt, was auch noch mal anders ist als jetzt so der 0815-Touri, der dann irgendwie durch die Stadt läuft, äh, und einfach so dadurch, dass wir so viel arbeiteten, und weil das auch Arbeit und Familie, zumindest bei [Name der Organisation] so hieß, das nich getrennt ist. (.) Äh, war das so n enger Austausch […]. (Kai: Z. 184-199) Kai erzählt von einer besonders guten Eingebundenheit in Aktivitäten und einer guten »Bindung« zu seinen »Gastbrüdern, Cousins«, die zudem im gleichen Alter wie er waren. Außerdem habe er vor allem durch seine Arbeit, und vor allem auch das viele Arbeiten, vor Ort »so alles gesehen«, was es an Lebensverhältnissen und der »Art der Menschen« in der Region gegeben habe. Im Folgenden vergleicht er seine durch den weltwärts Aufenthalt erworbene Kenntnis der Lebensverhältnisse vor Ort mit der, die ein »0815-Touri« in der Regel erwerbe, der »irgendwie durch die Stadt läuft«, oder seine Familie erwerben konnte, als sie ihn besuchte. Kai stellt dabei verschiedene Grade des Kennenlernens der Lebensverhältnisse vor und positioniert sich selbst auf einem für jemanden, der nicht aus Tansania kommt, hohen Niveau der Kenntnis dieser Lebensverhältnisse bzw. ihrer Vielfalt. Die besonderen Umstände seines Aufenthaltes in Tansania beschreibt er als solche, die ihm eine besonders umfassende Kenntnis des Lebens vor Ort ermöglicht haben, eine Kenntnis, wie sie nicht jeder*m zu Teil werde. Über die sich bietenden Möglichkeiten, die Lebensverhältnisse kennenzulernen, so erzählt er, unterhalten sich die Freiwilligen miteinander:

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Als ich dann mit den/mit meinen Mitfreiwilligen sprach, äh, hatten die halt einfach, es war jetzt nich jeder, aber manche hatten einfach so ne Beziehung zu den Familienmitgliedern, die, ähm, die, um die ich sie wie so beneidet habe. Also vielleicht ham sie mich für das, was ich so mit den Jungs hatte, genauso beneidet, aber es gab dann zwar so was wie, dass einer meiner Mitfre/einer meiner/einer meiner Mitfreiwilligen ist mit ihrer Mutter auf den Markt gegangen, einkaufen. Und so was hab ich halt nie gemacht. Das hab ich dann gesagt, ja, hätt ich auch gern mal gemacht. Äh oder irgendwie, dass die dann so viel zusammen gekocht haben. Äh, das mit dem Kochen konnten wir dann irgendwie lösen, dann hab ich auch so n bisschen drauf beharrt. Aber das sind auch dann so Sachen, wo ich mir immer so gedacht hab, ja, also da/das hätt ich jetzt auch gern und, ich bin ja doch nich so weit dann hier drin angekommen, weißt du, wie ichs gerne wär. Oder wie ichs auch so n bisschen erwarte oder wie ich an mich so diese Erwartung hatte. (Kai: Z. 650-662) In diesen Gesprächen sei es auch um die »Beziehung zu Familienmitgliedern« gegangen, die bei Mitfreiwilligen in Kais Wahrnehmung teilweise weitreichender gewesen seien und um die er diese beneidet habe. Beispielhaft erzählt er von einer Mitfreiwilligen, die zusammen mit ihrer Gastmutter auf den Markt gegangen sei und die mit ihrer Gastmutter viel gemeinsam gekocht habe. Die gemeinsame Praxis des Einkaufens und Kochens, erzählt er, sei etwas gewesen, das er sich dann auch gewünscht und auf das er »beharrt« habe. Das gemeinsame Kochen sei ihm dann auch ermöglicht worden, wenn es vor dem Hintergrund seines »Beharrens« wohl auch keine Selbstverständlichkeit gewesen zu sein scheint. Neben den Beispielen des Einkaufens und Kochens scheint es einige weitere Sachen gegeben zu haben, die mit einem Gefühl des »das hätt ich jetzt auch gern« korrespondierten. Die hier angeführten Beispiele von Tätigkeiten werden von Kai als Erfahrungen präsentiert, die andere Freiwillige gewissermaßen erworben haben und die ihn selbst – vor dem Hintergrund eines Vergleichs mit diesen anderen Freiwilligen – dazu anregen, mehr Erfahrung sammeln zu wollen bzw. zu »müssen«. Dieser Wunsch nach einem Mehr an Erfahrung wird artikuliert mit einer Erwartung an sich selbst, alles an Erfahrung, was es zu erfahren gibt, auch zu machen. Denn, so erzählt er, das Nicht-Machen von Erfahrungen, die andere Freiwillige bereits gesammelt haben, habe zu Selbstzweifeln in Hinsicht auf die Reichweite des »hier drin angekommen«-Seins geführt.

8 Aneignungsweisen von Diskursen der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

In diesem Sinne ist weniger die Praxis des Einkaufens und Kochens als etwas, das Kai einfach gerne macht, an das er gewohnt ist, sich zu beteiligen, und von dem er sich ausgeschlossen fühlt, im Zentrum seines Interesses. Vielmehr präsentiert er sein Anliegen als eines, das sich durch den Vergleich gemachter Erfahrungen mit anderen Freiwilligen ergibt. Von diesen Erfahrungen wird sich gegenseitig berichtet, sie werden gesammelt und die Freiwilligen scheinen um diese Erfahrungen auch zu konkurrieren, wenn auch nicht unbedingt miteinander, so doch in Hinsicht auf die Erfüllung von Erwartungen an sich selbst. Erfahrungen, die andere Freiwillige nicht gemacht haben und vielleicht auch nicht machen können, werden damit zu Distinktionsmitteln der Freiwilligen untereinander und Kai investiert aktiv in das Machen dieser besonderen Erfahrungen. Das Kennen des Lebens vor Ort, so argumentiert Eriksson Baaz (2005: 51, in Anlehnung an Hannertz: 1996) ist ein generelles Statussymbol der entwicklungspolitischen Community, das sie als »search for mastery« beschreibt: »To know one’s way around, to live and be able to manage in Tanzanian society was a symbol of status in the development aid community«. Nach Eriksson Baaz haben Freiwillige entwicklungspolitischer Mobilität vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Verortung besonders gute Voraussetzungen für die Ausbildung von näheren Beziehungen bzw. können diese Voraussetzung auch gut nutzen als Ressource zur Gewinnung von Ansehen und zur gleichzeitigen Abgrenzung von professionellen Entwicklungszusammenarbeiter*innen, die in dieser Hinsicht schwierigere Voraussetzungen haben. »Mastery«, darauf weist sie hin, sei allerdings damit verbunden, die Kontrolle zu behalten und auch wieder einen Schritt zurücktreten zu können, es beschreibe insofern ein »Eintauchen«, das zu jedem Zeitpunkt auch wieder zurückgenommen werden könne und bei dem die Kontrolle über Nähe und Ferne in der Hand der »Meister(nden)« liege.

8.3

Kurze Zwischenbetrachtung

In der bisherigen Betrachtung habe ich einige spezifische Aneignungsweisen von Diskursen der entwicklungspolitischen Mobilität im Kontext der Interviews rekonstruiert. Zum einen sind das vorherrschende Imaginationen von den Mobilitätsraum strukturierenden kulturellen Differenzen. Bereits vor der Mobilität bestehen in meiner Lesart der Transkripte der Interviews Vorstellungen der kul-

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

turellen Differenzen des globalen Raumes und spezifischer des Raumes, innerhalb dessen die Mobilität stattfindet. Sie zeigen sich mitverantwortlich für die Auswahl der Mobilitätsrichtung und der Art und Ausrichtung der Mobilität (als entwicklungspolitische »Nord-Süd« Mobilität), erlauben es, über die eigene und andere Formen des Reisens und Arbeitens zu urteilen, und prägen spezifische Erfahrungserwartungen, beispielsweise diejenige des »Kulturschocks« oder die des Eintauchen-Könnens, vor dem Hintergrund rassifizierter Anrufung in Deutschland. Aus postkolonialer und rassismuskritischer Perspektive lassen sich diese Imaginationen in ihrer Ausprägung auch auf koloniale Kontinuitäten zurückführen, die sich in etablierte gesellschaftliche Diskurse in Deutschland über die globale Geografie und ihre Kulturen eingeschrieben haben. Sie verweisen damit auf Praktiken der Hervorbringung von Zugehörigkeitsordnungen in Abgrenzung von Anderen. Australien, als Beispiel des »Westens«, wird dabei als weniger aufregend imaginiert als das südliche »Afrika«. Kontinuitäten sind dies insofern, als die Ausbeutung und strukturale Ungleichheit, die mit dem Kolonialismus verbunden war und die mit ungleichen ökonomischen Beziehungen weiter verbunden ist, auf die Hervorbringung rassifizierter, kultureller Unterschiedlichkeit angewiesen war und ist, d.h. der Rassifizierung der Ungleichheit, die dabei selbige legitimierte. Interessanterweise wird diese angenommene kulturelle Differenz aber von Kai nicht – wie von ihm und ihm Bekannten in Deutschland erwartet und gewollt – als »Kulturschock« erlebt. Nun führt dies nicht zu einer Infragestellung des Theorems des »Kulturschocks« bzw. der Annahme einer grundlegenden Verschiedenheit der Kulturen der Kontexte der Mobilität. Ich deute dies als Zeichen der Wirkmächtigkeit der Diskurse der kulturellen Differenz. So wird Kai in Deutschland nach den Unterschieden der Kontexte Tansania und Deutschland gefragt, soll etwa Auskunft geben über »die« Armut »dort« und von »Kulturschock« bzw. Erfahrungen mit »der« anderen Kultur berichten. Diese Rahmungen erlauben dann möglicherweise nicht einfach eine andere Erzählung. Wo von vieler Stelle aus nach »der« Armut der Menschen »dort« gefragt wird, kann ich mich nur demgegenüber positionieren, aber nur schwerlich die Frage selbst ändern. Wo »die« Kultur der Menschen »dort« Gegenstand der Frage ist, muss ich auf diese Frage in meiner Antwort Bezug nehmen usw. Es handelt sich insofern um spezifische FrageAntwort-Verhältnisse, die die eigene Positionierung rahmen, einschränken und ermöglichen. In Kais Erzählung rekonstruiere ich Positionierungspraktiken Kais, in denen erzählte Erfahrungen gerade nicht in das Muster der

8 Aneignungsweisen von Diskursen der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

Frage passen, von ihm nach alternativen Erklärungen gesucht wird und diese mitunter auch gefunden werden. Dabei löst sich Kai nicht völlig von dem Rahmen der Frage etwa nach dem »Kulturschock«, deutet seine Erfahrungen, die nicht in dieses Schema passen, aber in Bezug auf weitere vorherrschende Diskurse der (Freiwilligen-)Mobilität in einer Art und Weise um, bei der die Nicht-Erfahrung der Differenz der Kultur nicht den Diskurs selbst in Frage stellt, wohl aber eine alternative Erzählung ermöglicht. Die Differenz der Kultur und als Konsequenz die Erfahrung eines »Kulturschocks« sind daher als ein dominanter und gleichzeitig nicht als einziger rahmender Diskurs zu deuten. So ist es etwa ein weiterer rahmender Diskurs, der allerdings auch mit Diskursen kultureller Differenz in Verbindung steht, dass in der Mobilität besondere Erfahrungen gesammelt werden (können und müssen). Dazu tauschen sich die Freiwilligen aus, indem sie miteinander darüber sprechen, was sie bereits erlebt haben. Sie richten ihre eigenen Ansprüche daran aus, erzählen auf Vorbereitungs- und Rückkehrseminaren anderen (potenziellen) Freiwilligen von ihren Erfahrungen, (re-)produzieren bestimmte Erfahrungserwartungen und Rahmen für die Reflexion der eigenen Erfahrungen und die der anderen usw. In gewisser Weise konkurrieren die Freiwilligen um die weitreichendsten Erfahrungen vor Ort. Diese Rahmung der Mobilität als eine, in der das Sammeln von Erfahrungen bedeutsam ist, ermöglicht es dann Kai, die Reichweite dieser Erfahrungen, des »Wissens« über das Leben vor Ort, für das Ausbleiben eines Kulturschocks verantwortlich zu machen, und zwar durch den Hinweis auf eine gegenüber anderen besonders gelungene »Integration«. So ist in dieser Lesart die kulturelle Differenz, sowohl in Hinsicht auf »Kulturschock« deutbar als auch mit »Integration«, »Eintauchen«, »Kennen des Lebens vor Ort« artikulierbar. Kulturelle Differenz kann darüber hinaus zur Erklärung von Interaktionen herangeführt werden, die in anderer Lesart die gute »Integration« infrage stellen würden oder auf Spezifika der Position der Freiwilligen hinweisen, etwa darauf, nicht unbedingt besonders, sondern nur eine*r in einer Reihe von weiteren Freiwilligen zu sein, die davor und danach kommen. Gegenüber der entwicklungspolitischen Komponente der Mobilität, an der sie teilnehmen, positionieren sich sowohl Kai als auch Ann kritisch. So grenzt Ann sich entschieden von professionellen Entwicklungszusammenarbeiter*innen und deren »abgehobenen« Praktiken ab, die bspw. darin erkennbar würden, die Lebenspraxis der Menschen vor Ort nicht zu kennen und nicht kennen zu wollen, und stattdessen von einer Überlegenheit des

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

»westlichen« Wissens über das »lokale« Wissen ausgehen. Zudem sei der Lebensstil der professionellen Entwicklungszusammenarbeiter*innen zu kritisieren, ihre Verschwendung und Isolation gegenüber der mosambikanischen Mehrheitsbevölkerung. Diese Kritiken verweisen auf weitere rahmende Diskurse, etwa der rassismuskritischen Vorbereitung durch die Entsendeorganisationen, die mitunter auch zu dem Versuch führt, die Mobilität vor diesem Hintergrund zu reflektieren und angemessene(re) Formen der Begründung der räumlichen Bewegung zu entwickeln. Kai legt auch aus diesem Grund – da er davon ausgeht, mit seiner Mobilität mehr zu seiner eigenen »Entwicklung« beizutragen als den Tansanier*innen zu »helfen« – den Fokus auf »Integration« und »einfach eine gute Zeit haben«, während Ann sich nicht vom Konzept der »Entwicklung« verabschieden, aber diese nicht so definieren möchte, wie es die professionellen Entwicklungszusammenarbeiter*innen tun. Einerseits ist der Fokus auf »Integration«, »Eintauchen« in die Lebensverhältnisse vor Ort also auch Konsequenz einer Kritik an vorherrschenden Vorstellungen von Entwicklung. Der Fokus auf das Sammeln von möglichst umfassenden Erfahrungen des Lebens vor Ort verweist anderseits, so habe ich argumentiert, aber auch auf die spezifische Position der Freiwilligen, die sich dadurch mitunter, wie Ann, von professionellen Entwicklungshelfer*innen abgrenzen und diese Erfahrungen als ihr spezifisches Kapital geltend machen können, in welches sie in ihrer Praxis nicht zuletzt auch aus diesem Grund versuchen zu investieren. In diesem Sinne lässt sich das Sammeln von Erfahrungen als »search for mastery« beschreiben, da das »Eintauchen«, die »Integration« von Seiten der Freiwilligen immer mit der Möglichkeit einhergeht, nicht eintauchen und sich nicht integrieren zu müssen usw. Dabei stößt die Orientierung an einem »So-Leben-Wie-Der-Größere-Teil« der Menschen in Mosambik mitunter auch an seine Grenzen. Zu diesen Grenzen gehört, so habe ich argumentiert, die eigene Privilegiertheit, die zwischen dem Wunsch und der Möglichkeit einer größeren Nähe steht. Dies ist zum einen eine Anrufung als privilegiert, die Ann reflektiert und die sie für eine nicht überwindbare Distanz zu Menschen in Mosambik verantwortlich macht, mit denen sie gerne in näherem Kontakt stünde. Das ist zum anderen eine gelebte privilegierte Praxis, ein gewisser Standard des Wohnens und Lebens, der Ann wichtiger ist als das – idealisierte – Leben wie und mit der/m Großteil der Mosambikaner*innen, das, wie ich interpretiert habe, in dieser Variante, etwa zu viel Enge bedeuten mag. Mitunter führt diese Erfahrung auch zu einer (Re-)Positionierung in der Zugehörigkeit zu Deutsch-

8 Aneignungsweisen von Diskursen der entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität

land. Anders als imaginiert und den Diskursen der Zugehörigkeit im Kontext Deutschland gewissermaßen widersprechend, ist Ann in der Praxis nur eine Positionierung als privilegiert, aus dem globalen Norden kommend und ggf. »deutsch« möglich. Die hier diskutierten Diskursspuren sowie Positionierungen innerhalb der Diskurse vor dem Hintergrund von Anrufungen, verweisen, so habe ich argumentiert, in wesentlichen Teilen auf Imaginationen von Raum bzw. globaler Geografie, wie sie im Zugehörigkeitskontext Deutschland präsent sind. Dabei ist die Aneignung der Diskurse nicht direkt und eindeutig, sondern im Gegenteil komplex und widersprüchlich, passen die Erfahrungen, von denen erzählt wird, nur widerspenstig in die diskursiven Rahmungen und müssen daher unter einiger argumentativer Anstrengung auch erst passend gemacht werden.

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9 Aneignungsweisen rassifizierter Zugehörigkeitskategorien der Mobilität

In Hinsicht auf Ann hatte ich in Text- und thematischer Feldanalyse und Anfangssequenz Rassifizierung als bedeutsames Thema der Erzählung bestimmt. Das vorherige Kapitel hatte zudem Aneignungsweisen von rahmenden, rassifizierten und rassifizierenden, Diskursen rekonstruiert. Im Folgenden möchte ich nun die Erzählungen Anns und Kais in Hinsicht auf die Bedeutung der Anrufung und Positionierung in rassifizierten Identitätskategorien betrachten. Dabei zeichne ich dann das Bild einer rassifizierten Mobilität, die nicht nur durch Imaginationen der kulturellen Differenz der Kontexte geprägt ist, sondern auch von rassifizierter Anrufung, die sich in der Rassifizierung der Interaktionspraxis dieser Kontexte äußert und die Erzählung von Erfahrung in den Interviews wesentlich mit strukturiert.

Vom Vergleich mit anderen Freiwilligen zur komplexeren  Erfahrung von rassifizierter Zugehörigkeit (Ann)

9.1

9.1.1

Die Anrufung anderer Freiwilliger als »Weiß«  und die eigene Stellung

Auch Ann vergleicht ihre Erfahrungen in Mosambik mit denjenigen anderer weltwärts-Freiwilliger: n Unterschied war (.) dass sie auf der Stra also immer eigentlich (.) gerade am Anfang, aber sie haben gemeint, bis zum Ende haben sie gemeint, Mulungo genannt worden sind, das heißt »Weiße« (.) das is mir (.) und dann hab ich

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

gedacht und mir ist das nie pass (fröhlich) oder irgendwie (.) ähm/I: mhm (bejahend)/A.: ja mir is sowas nie passiert (.). (Ann: Z. 736-741) Andere Freiwillige, berichtet Ann, seien i.d.R. – »immer eigentlich« – »Mulungo« genannt worden. »Mulungo«, so erklärt sie, sei die lokale Bezeichnung für »Weiße«. Die Identifizierung als Weiß bzw., in ihrem Fall, die fehlende Identifizierung als Weiß markiert sie als einen wesentlichen Unterschied des Erlebens in Mosambik zwischen ihr und anderen Freiwilligen. Sie bringt, zumindest emotional, zum Ausdruck, darüber froh (gewesen) zu sein, nicht als »Mulungo« angerufen zu werden. Demgegenüber hätten jene anderen Freiwilligen sich an dieser Bezeichnung gestört: also ich weiß halt grade, dieses Mulungo is mir so im Kopf geblieben, weil sie das (.) weil ich das (.) so viele so gestört hat die ganze Zeit, weil das (.) auch bis zum Ende war und sie immer gesagt, wir werden so angestarrt, auf sie wird gezeigt und so und sie (.) sich so ausgeschlossen gefühlt haben. (Ann: Z. 784-787) Gerade das Störende an der Bezeichnung als »Mulungo« ist es, was Ann mir gegenüber dafür verantwortlich macht, sich diese gemerkt zu haben. Andere Freiwillige habe die Bezeichnung als »Mulungo« die ganze Freiwilligenzeit begleitet und damit habe eine Praxis des Auf-sie-Zeigens und Anstarrens von Seiten vieler Mosambikaner*innen korrespondiert. Der wesentliche Punkt, der die anderen Freiwilligen an der Bezeichnung als »Mulungo« gestört hat, liegt demnach in einem Gefühl des Ausschlusses, das sie auf diese Anrufung und einer diese Anrufung begleitende Praxis der Besonderung zurückführen. Während diese Praxis der Besonderung für viele Freiwillige neu ist, sie diese in Deutschland nicht erfahren, so gestaltet sich dies für Ann anders, weil sie, wie sie erzählt, in Deutschland bereits die Erfahrung macht aufzufallen. An Mosambik habe sie die Erwartung gehabt, dort weniger bzw. nicht aufzufallen und »in der Masse« untergehen zu können: und jetzt auch noch mal in Bezug vielleicht auf weltwärts, wo ich in Mosambik war, ähm (…) wars auch nochmaaal (.) anders, weil ich vielleicht erst dacht so, hmm, hier fall ich oft auf und/I: hmm/A.:: dort vielleicht kann ich da son bisschen untergehen in der Masse, ähm, und ich wurde auch öfters mal als Mosambikanerin gehalten (.) allerdings weil viele [südasiatische] Leute in Mosambik wohnen/I: mmm/A.: ähmm, oder das gedacht worden ist, dass halt ein Elternteil von mir aus Mosambik is (.)/I: mmm/A.: und (.) ähm, ich hab ich identifizier mich irgendwie seh also ich, ähm (.) mm ich identifi-

9 Aneignungsweisen rassifizierter Zugehörigkeitskategorien der Mobilität

zier mich sehr mit »Schwarzen und PoCs« weil ich oft das Gefühl hab, ich muss ganz viel nich erklären oder vieles, man hat so was gemeinsam und bestimmte Erfahrungen und vieles (unverständlich) (…) ja, mm musst du nicht erklären oder so (.)/I: mmm/A.: die du vielleicht manchmal bei anderen erklären musst oder so/I: mmm/A.: ähm jaa (…) allerdings muss ich sagen, also in Mosambik war ich, das war halt nich so, dass ich da in der Masse unterging oder so, da bin ich auch aufgefallen, da ich hab einfach dort auch, ähm, es war klar, ich hab bin aus ner privilegierten (.) aus einem privilegierten Land und hab dort/I: mmm/A.: einfach (.) die Möglichkeit ein, dass ich alleine schon dort hinreisen konnte und (…). (Ann: Z. 106-128) Die Erwartung, in Mosambik nicht aufzufallen, habe sich allerdings so nicht erfüllt. Sie sei auch in Mosambik in der Regel aufgefallen, weil den Menschen dort deutlich gewesen sei, dass sie »aus einem privilegierten Land« komme. Ann rahmt diese Erzählung durch einen Verweis auf eine Identifikation mit »Schwarzen und PoCs«, die sie mit Gemeinsamkeiten, geteilter Erfahrung und Weiterem verbindet. Diese Gemeinsamkeit führe dazu, nicht so viel wie bei anderen »erklären« zu müssen. Diesen Einschub Anns verstehe ich so, dass sie damit mir gegenüber die Annahme der Möglichkeit, in Mosambik »in der Masse« unterzugehen, erläutert. Die Gemeinsamkeit und geteilte Erfahrung mit »Schwarzen und PoCs« im Zugehörigkeitskontext Deutschland, von der sie erzählt, wird dann von ihr auf den Zugehörigkeitskontext Mosambik übertragen, in dem sie annimmt, nicht besondert zu werden. Demgegenüber sei es aber so gewesen, dass sie von Mosambikaner*innen sehr wohl als besonders identifiziert worden sei, und zwar als jemand, die aus einem privilegierten Land komme. Wenn sie, was durchaus vorgekommen sei, für eine Mosambikanerin gehalten wurde, dann, weil in Mosambik viele Menschen aus dem südasiatischen Raum leben oder die Menschen in Mosambik annahmen, dass vielleicht einer ihrer Elternteile aus Mosambik kommen könnte. Das Zugehörigkeitsempfinden und die Identifikation Anns mit »Schwarzen und PoCs« in Deutschland lässt sich demnach nicht auf Mosambik übertragen. Ann hat vermutlich zunächst die Erwartung, dass alle »Schwarzen und PoCs« eine bestimmte Erfahrung der Rassifizierung grenzüberschreitend teilen, und diese Erwartung trifft nicht zu, sondern stößt an natio-ethno-kulturelle Grenzen. Diese Interpretation findet sich bestärkt, wenn Ann argumentiert, dass es ihr »allerdings«, also trotz dieser Identifikation, nicht möglich gewesen sei, »da in der Masse« unterzugehen. Sie führt dies darauf zurück, dass sie eindeutig aus »einem privilegierten

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Land« komme und/oder in einer bestimmten rassifizierten Zugehörigkeitsposition Mosambiks – südasiatische Mosambikanerin – verortet worden sei. Ann stellt im Folgenden Überlegungen zu den Hintergründen ihrer Erkennbarkeit in Mosambik als »nicht von hier« an: einfach (.) die Möglichkeit ein, dass ich alleine schon dort hinreisen konnte und/I: mmm/A.: dort mal als Freiwillige so arbeiten konnte nachm Abi ohne irgendwelche Erfahrungen (.) ähm, war auf jeden Fall schon auch mal, hat mich abgehoben von Mosambikanern oder so und es hat auch ne Kollegin von mir hat mal so gemeint, ja pf, vielleicht könnte man äußerlich im ersten Moment denken, du bist irgendwie Mosambikanerin, aber allein schon wie du dich bewegst und wie du dich anziehst und (.) all (.) dein (.) ganzes Auftreten merkt man, du bist nicht von hier so/I: mmm/A.: ähm, und darüber hab ich oft noch nachgedacht, auch danach so und/I: mmm/A.: und (…) ja ich, ähm, ja ich glaub, sie hat voll recht und das äh (.) ja stimmt auch so. (Ann: Z. 128-139) Erkennbarkeit, so argumentiert Ann, sei durch eine Vielfalt an Merkmalen gegeben. Bereits die Möglichkeit, allein nach Mosambik zu reisen und als Freiwillige ohne Erfahrungen dort arbeiten zu können, habe sie in Mosambik von anderen abgehoben und erkennbar gemacht. Darüber hinaus markiert sie habituelle Aspekte wie die Art, sich zu bewegen, sich zu kleiden, – das ganze Auftreten – als verantwortlich für die Schwierigkeit, als Mosambikaner*in durchzugehen. Ann macht also kulturelle (und) habitualisierte Ausdrucksformen für die Feststellung von (Nicht-)Zugehörigkeit mitverantwortlich. Das Bild, das sich aus der Gesamtheit der für andere Menschen erkennbaren habituellen Ausdrücke ergibt, nicht allein die »Hautfarbe«, macht Ann also generell als »nicht von hier« für Mosambikaner*innen erkennbar. Somit macht sie eine erkennbare Privilegierung im Sinne einer Herkunft aus dem Globalen Norden mit assoziierten habituellen Ausdrücken dafür verantwortlich, nicht als Mosambikanerin gelesen zu werden. Ann wird aber, wie ich eingehend diskutiert habe, auch nicht wie die anderen Freiwilligen als »Mulungo«, also »Weiß«, angerufen. Sie scheint sich in dieser Hinsicht insofern in einer Art Raum des Dazwischen wiederzufinden. In der folgenden Passage mag dies noch einmal deutlich werden: und ich hatte einmal (betont) eine Situation, da war ich in nem Vorort von äh [Stadt in Mosambik] also auch (.) wo schon n biss ländlicher war (.) wo ich

9 Aneignungsweisen rassifizierter Zugehörigkeitskategorien der Mobilität

»Mulatta«1 genannt worden bin von kleinen Kindern, und das war das erste Mal (fröhlich) (.) und ich hab mich einerseits voll gefreut, weil ich dachte, ah ja, jetzt werde ich auch mal irgendwie genannt und dann wars auch n richtig komisches Gefühl, so ich (unverständlich) ah ich will aber gar nich so genannt werden. (Ann: Z. 741-746) Ann erzählt von einer Situation, in der sie – in einer ländlicheren Region – von kleinen Kindern in einer rassifizierten Kategorie angerufen wurde, die für eine Identifizierung zwischen Weiß und Schwarz steht. In diesem Zusammenhang erzählt sie von einem ambivalenten Gefühl. Sie habe sich einerseits darüber gefreut, »auch mal irgendwie genannt« zu werden. Andererseits habe sich aber auch ein komisches Gefühl eingestellt, weil sie »gar nich so« genannt werden wollte. Während es einerseits von ihr als positiv empfunden wird, doch einmal als besonders angerufen zu werden, korrespondiert dieser Nicht-So-Anrufung wohl auch ein Gefühl des NichtSo-Dazugehörens zur Gruppe der anderen Freiwilligen. Denn die Anrufung ist eben grade nicht wie jene, die anderen Freiwilligen widerfährt, und ist vielmehr Erinnerung an eine doppelte Sonderstellung, nicht so zu »sein«, wie die anderen Freiwilligen, aber auch nicht so, wie die Mehrheitsbevölkerung Mosambiks. Dieser besonderen Stellung gegenüber empfindet Ann eine Ambivalenz, sie hat gewissermaßen den Ort der Besonderung, den sie annahm in der Mobilität zu verlassen, eben nicht verlassen und ihre Stellung in Hinsicht auf »Race«, die sie im Zugehörigkeitskontext Deutschland besondert, besondert sie, wenn auch anders, auch in Mosambik.

9.1.2

Biografische Spuren rassifizierender Anrufung  in der Grundschule

Ann reflektiert in unserem Interview nicht nur die weltwärts-Zeit und die Bedeutung, die Rassifizierung und die Privilegierung hier inne wohnen, son-

1

Die Bezeichnung »Mulatte« ist, wie Ashcroft, Griffiths und Tiffin (2013: 133) verdeutlichen, rassistisch und steht in direktem Bezug zur kolonialen Klassifikation und Versklavung von Menschen: »The term is sometimes used interchangeably with mestizo/mestizaje/métisse to mean a mixed or miscegenated society and the culture it creates. However, its usage is usually confined to the classifications of miscegenation employed in racist slave discourse, specifically referring to a slave who is one half white«. Ich werde den Begriff aufgrund seiner rassistischen Geschichte außerhalb des Zitats nicht verwenden.

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

dern nimmt unser Gespräch auch zum Anlass, die Bedeutung von Rassifizierung in ihrer Biografie zu reflektieren. Diese rahmt sie mit dem einführend von ihr zentral gesetzten Austausch mit anderen »Schwarzen und PoCs«, die ebenfalls an weltwärts teilgenommen haben und mit denen sie, wie sie erzählt, geteilte Erfahrungen hat. Zuvor hatte sie mir erläutert, dass der Zugehörigkeitskategorie Schwarz/PoC geteilte »andere Erfahrungen« entsprechen würden und dass sie sich im Kontext des Treffens darüber bewusst geworden sei, dass dies auch auf sie selbst zutreffe. Vom genauen Gehalt der »anderen Erfahrungen« hatte sie mir bisher aber noch nicht berichtet. In der folgenden Sequenz überlegt sie, wo sich in ihrer Biografie, hier insbesondere der Schulzeit, Ähnlichkeiten zu den Erfahrungen anderer als »Schwarz und PoC« angerufener Menschen finden könnten: und ja, hab dann auch so überlegt, an Situationen, wo die vielleicht schon ähnlich mal waren und grade so in der Grundschule war das auch bei mir so, dass ich (.) also ich hab bin halt in [norddeutsche Stadt] aufgewachsen und dann mit meiner Mutter nach [süddeutsche Stadt] gezogen in n kleineres Dorf und ich war da (.) also wir waren da die totalen Exoten ähm (.) das meine M also (.) ich als Schwarze, äh, dann aber mit Weißer Mutter, Vater wusste man irg meine Eltern sind getrennt, wusste man irgendwie dann auch nicht genau (.) ähm (.) und dann war ich auch in der Schule also (.) war ich nur mit Weißen und also ja (.) und das war, ähm, aber irgendwie war ich solche Situationen auch danach schon ganz oft immer gewöhnt, das war eigentlich so das Normale aber (.) trotzdem war ich immer son bisschen speziell so (unverständlich, lachend) in der Klasse auf ne Weise (.) aber (.) ich hab damit bisher nich so viel negative Erfahrungen gemacht, muss ich sagen, irgendwie auch grad, wenn ich also viele von in meinem Freundeskreis sind halt auch Schwarze (leiser) Deutsche (.) ähm und die ham sehr andere Erfahrungen, mit denen hab ich mich auch, also die beschäftigen sich auch viel mit dem Thema und (.) ähm (.) ja ham (.) andere Erfahrungen gemacht. (Ann: Z. 92-106) Ann kommt in der obigen Passage zunächst auf ihre Grundschulzeit zu sprechen und erzählt, dass sie dafür mit ihrer Mutter in ein kleineres süddeutsches Dorf umgezogen sei, vorher aber in einer norddeutschen Stadt gewohnt habe, wo sie auch bis dahin aufgewachsen sei. Im kleinen Dorf, in das ihre Mutter mit ihr zieht, seien sie als »die totalen Exoten« angesehen worden. Für die Wahrnehmung als »totale Exoten« durch die anderen Dorfbewohner*innen macht sie zunächst mehrere Aspekte verantwortlich. Das ist zum einen

9 Aneignungsweisen rassifizierter Zugehörigkeitskategorien der Mobilität

ihre eigene Anrufung – und in dieser Passage auch Positionierung, anders als in Weiteren, in denen sie sich als »Schwarz/PoC« positioniert – als Schwarz, die für die Dorfbewohner*innen in einem gewissen Widerspruch zur Weißen Mutter zu stehen scheint, und auf welchen Ann mit der Verwendung des Wortes »aber« hinweist. Das ist weiterhin eine Unklarheit über den Beziehungsstatus der Eltern und den Aufenthaltsort des Vaters, von dem den Dorfbewohner*innen anscheinend wenig bekannt war, wie in der Aussage »wusste man irgendwie dann auch nicht genau« zum Ausdruck kommt. Darüber hinaus markiert sie die Grundschule als einen Ort, an dem außer Ann nur Weiße Schüler*innen anwesend und in dem sie selbst die einzige Nicht-Weiße Person gewesen sei. Diese Situation in ihrer Grundschule, in der sie nur mit Weißen zusammen gewesen sei, präsentiert sie als eine, die sie bereits gewohnt gewesen sei und die sie daher eher als normal empfunden und die sie auch im Anschluss noch oft erlebt habe. Obwohl die Situation in der Grundschule also einerseits als eine normale und gewohnte Situation von Ann präsentiert wird, beschreibt sie die Situation doch als besonders, wenn sie davon spricht, »immer son bisschen speziell (…) auf ne Weise« gewesen zu sein. Insofern scheint beides gegolten zu haben, die Situation war sowohl normal als auch besonders. Normalität, wie Ann sie hier für die Ann in ihrer Erzählung präsentiert, ist es, aufgrund ihrer Anrufung als Schwarz aufzufallen, dieses Auffallen aber als normal anzunehmen und nicht weitergehend in seiner Legitimität zu befragen. Die Bezeichnung »Normalität« bezieht sie nicht nur auf die Situation in der Grundschule, sondern auch auf weitere Kontexte und Situationen ihres (Er-)Lebens. Und obwohl sie die Situationen gewohnt gewesen sei, sei sie doch immer »son bisschen speziell so […] in der Klasse auf ne Weise« gewesen. Die genaue Art und Weise dieses Speziell-Seins wird aber nicht weiter benannt. Ann präsentiert es weiterhin auch nicht eindeutig, worauf die beschriebene Besonderung zurückzuführen ist. Sie reflektiert die Erzählung mithilfe einer gewissermaßen analytischen Brille der Bedeutung des als Schwarz- und/oder PoC-Angerufen-Werdens für ihr eigenes Erleben in der Grundschule. Gleichzeitig hebt sie die Komplexität der Situation hervor. Auch der Umzug von einer Großstadt auf ein Dorf und die – für die anderen Dorfbewohner*innen vielleicht ungewöhnlich erscheinende – Trennung der Eltern könnten im Zusammenhang mit einem gewissen Speziell-Sein stehen. Die Erfahrung der exotisierenden Anrufung und ihre Verbindung zu »Race«-Kategorien wird dementsprechend ambivalent präsentiert und verweist für sie sowohl eindeutig auf eine Rassifizierung und ist gleichzeitig auch uneindeutig und schwer genauer benennbar.

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Ann vergleicht zudem ihre eigene Erfahrung mit der Erfahrung anderer Schwarzer Deutscher aus ihrem Freundeskreis, die sich auch mit »dem Thema« beschäftigen. »Das Thema« verweist vor dem Hintergrund der Einstiegserzählung und der Kontextualisierung des Interviews wohl auf die Bedeutung von rassifizierter Zugehörigkeit. Nun erzählt sie, »damit bisher nich so viel negative Erfahrungen gemacht« zu haben, während ihre Freunde, mit denen sie sich vergleicht, teils »sehr andere Erfahrungen« machten. Implizit konkretisiert Ann dabei, was sie unter dem Machen sehr anderer Erfahrungen versteht, dahingehend, dass es sich um negative Erfahrungen handelt. Rassifizierte Zugehörigkeit – Schwarz angerufen werden – hat demnach für viele ihrer Freunde negative Auswirkungen, die sie in diesem Blick in ihre Biografie so bei sich nicht feststellen kann. Auch hier findet von Ann eine ambivalente Präsentation der Bedeutung der Rassifizierung für sie selbst statt. Bereits in der Einstiegserzählung hatte sie sich als interessiert an und betroffen von Rassifizierung präsentiert und dabei als (noch) auf der Suche nach dem genauen Grad ihrer eigenen Betroffenheit.

9.1.3

Biografische Spuren: Vom Vergleich mit Freunden zur Bedeutung der geografischen Herkunft des Vaters

An anderer Stelle erzählt Ann davon, viel zur Bedeutung von »Race« gelesen zu haben. Dabei bemerkt sie verschiedene Perspektiven bzw. eine Dominanz afrodeutscher Perspektiven in der Literatur (zu Rassismus): und was ich aber auch merk, dass viel auch so grad so bei Literatur ganz viel aus afrodeutscher Perspektive geschildert wird (.) und ähm, vielleicht dadurch auch, dass ich in nem, ähm, äh afrikanischen Land war und auch viele meiner Freunde, ähm, einen afrikanischen Elternteil s immer sehr Afrika afrodeutsch oder ja bezogen ist. (Ann: Z. 1267-1270) In ihrer bisherigen Auseinandersetzung/Begegnung mit Literatur zu »Race« sowie mit geografischen Kontexten und im Austausch mit Freunden habe, vor dem Hintergrund der Mobilität nach Mosambik und dem biografischen Hintergrund der (Eltern der) Freunde, ein Schwerpunkt auf »afrodeutschen« und »afrikanischen« Perspektiven gelegen bzw. wohl auch in ihrer eigenen Auseinandersetzung dominiert: und ich merk auch, dass ich ähm (.) so auch nach Mosambik, so das Bedürfnis hab, gedacht hab, ich muss nach [Südasien] reisen ich (.) al kenn dieses, kenn

9 Aneignungsweisen rassifizierter Zugehörigkeitskategorien der Mobilität

Mosambik jetzt so gut auf ne Weise oder so intensiv und von dem Land, wo mein Vater herkommt, wo auch n Teil auf ne Weise von mir herkommt, hab ich keine Ahnung, eigentlich zu meiner Familie hab ich auch kaum Kontakt und, ähm, dann hör ich jetzt grad in letzter Zeit, dass ganz viele von meinem Umkreis nach [Südasien] reisen in Urlaub und dann immer erzählen und total begeistert und ich denk dann immer so, ich hab keine Ahnung, was du mir erzählst und irgendwie (.) ich wills auch wissen. (Ann: Z. 1270-1277) Ann erzählt mir an dieser Stelle davon, dass sie vor dem Hintergrund ihrer weltwärts-Zeit das Bedürfnis entwickelt habe, über das Land, aus dem ihr Vater kommt, ähnlich viel zu wissen, wie es nun in Hinsicht auf Mosambik der Fall sei. Von dem Land, aus dem ihr Vater komme, so bringt sie anscheinend bedauernd zum Ausdruck, habe sie keine Ahnung. Sie unterstreicht die Bedeutung dieser Unkenntnis für sich selbst, indem sie sich selbst auch mit dem Land der Herkunft ihres Vaters verbindet, was sie in der Aussage »wo auch n Teil auf ne Weise von mir herkommt« zum Ausdruck bringt. Wenn Anns Vater irgendwie Teil von Ann ist, so lässt es sich verstehen, dann gilt dies auch für den geografischen Ort, von dem aus ihr Vater nach Deutschland gekommen ist, auch dieser ist irgendwie Teil von ihr. Die Zeit in Mosambik zeigt zudem, dass Ann in Mosambik nicht einfach in der »Masse« untertauchen kann und dort nicht wie in Deutschland als »Schwarz/PoC«, sondern spezifischer als Südasiatin angerufen wird. Vor diesem Hintergrund mag die Herkunft des Vaters »als Teil« von ihr bedeutsam sein, weil sie vielleicht ihre eigene spezifisch »südasiatisch«-deutsche Erfahrung besser erklären kann, die sich von »afrodeutschen« Erfahrungen unterscheidet. Andererseits kann hier aber auch eine generelle Suche nach ihrem Vater zum Ausdruck kommen, als einer Person, die ihr vor dem Hintergrund der Trennung der Eltern weitgehend unbekannt sein mag – zumindest taucht der Vater nicht wie die Mutter als relevante Person in der Erzählung Anns auf – und deren Bedeutung für sie selbst nun ein größerer Raum gegeben wird. Vermutlich bewegen sich die Gründe für die Suche nach der Bedeutung der geografischen Herkunft des Vaters auch irgendwo zwischen diesen beiden Polen. Nun erzählt sie in der obigen Passage auch davon, viele Menschen zu kennen, die an den Ort der Herkunft ihres Vaters reisen und begeistert von diesem berichten. In ihrer Reaktion darauf zeigt sich, dass dieser Ort für sie selbst eher imaginären Charakter besitzt, sie kennt ihn eigentlich gar nicht, »wills aber wissen«. Es lässt sich dem Interviewtext nicht entnehmen, wel-

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

che Rolle »Südasien« für Ann in ihrer Interaktion mit ihren Bekannten spielt. Allerdings wird deutlich, dass die Thematisierung von »Südasien« für sie offene Fragen nach der Relevanz dessen aufwirft, wofür »Südasien« in Hinsicht auf ihre Familienbiografie und ihre eigenen Erfahrungen symbolisch steht. Es vermischen sich demnach familiär-generationale, identitäre und geografische Bedeutungen in dieser Thematisierung der Herkunft des Vaters und Anns Verbindung zu dieser/diesem. Darüber hinaus habe ich die Erzählung so interpretiert, dass Ann eine afrodeutsche Perspektive auf Rassismus für sich nicht umfassend als passend erlebt, sondern sich ihre Erfahrungen von denen ihrer afrodeutschen Freunde wesentlich unterscheiden. Auch deshalb hebt sie in dieser Lesart die biografische und rassismusbezogene Relevanz von »Südasien« hervor.

9.1.4

Theoretisierender Einschub: (Süd-)Asiatisch-deutsche Rassismuserfahrungen

Auf die Bedeutung unterschiedlichen Otherings in Relation zu unterschiedlichen geografischen Räumen der Welt habe ich zuvor in Rekurs auf Eriksson Baaz (2005), Bendix (2018) und Jolly (2007) bereits hingewiesen (vgl. Kap. 3, Kap. 8.1.2). Bedeutsam ist eine Differenzierung von rassistischen Zuschreibungen und korrespondierenden Rassismuserfahrungen auch nach Goel (2012: 7, 9), und zwar um auf die jeweils spezifischen Rassismuserfahrungen von unterschiedlich rassistisch konstruierten Gruppen im natioethno-kulturellen Zugehörigkeitskontext Deutschland hinzuweisen. Goel (ebd: 5) erläutert in Hinsicht auf rassistische Gruppenkonstruktionen im Generellen, dass der Verweis auf »Generation«, wie bspw. auf die Herkunft des Vaters oder der Mutter, problematisch sei, weil dieser impliziere, »dass natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit eine biologische Tatsache ist, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird«. Diese Implikation sei problematisch, denn die betreffenden Menschen würden häufig nur wenig mehr über den Kontext wissen, mit dem sie assoziiert werden, als andere Menschen, die in Deutschland aufgewachsen seien. Goel führt zur Verdeutlichung das Beispiel einer Interaktion, eines Gesprächs mit einem Bekannten während einer Zugfahrt durch Brandenburg an: Eine Zugfahrt durch die brandenburgische Provinz kann sich hinziehen. Da bleibt viel Zeit zum Reden. Irgendwann sind wir dann auch – wie sollte es anders sein – beim Thema Indien angekommen. Mein Begleiter, wie ich Kind

9 Aneignungsweisen rassifizierter Zugehörigkeitskategorien der Mobilität

eines Inders und einer Deutschen, fragte mich, was es eigentlich mit dem roten Punkt auf der Stirn auf sich hat. Immer wieder werde er das gefragt, könne aber leider nicht mit Expertenwissen prahlen. Ein typischer Fall: Die Leute glauben, weil man einen indischen Elternteil hat, weiß man auch Bescheid über Indien. Nur woher soll man das? Mein Begleiter, wie die meisten InderInnen der zweiten Generation in Deutschland, ist hier aufgewachsen, hat hier die Schule besucht und weiß nur wenig mehr über Indien als andere, die hier aufgewachsen sind. (Goel 2005: 11) Das Beispiel steht nach Goel für Zugehörigkeitserfahrungen, die sich vor allem daraus speisen, dass die betreffenden Menschen hier »als ›Inder_innen‹ angesprochen und festgeschrieben werden« (Goel 2012: 5). Sie (2005: 11) versteht das Beispiel als eines, das eine »Grunderfahrung der zweiten Generation« wiedergibt, nämlich die Erfahrung eines »doppelten Andersseins«. Die in diesem Beispiel als Inder*innen angesprochenen Personen würden anders als andere Menschen in Deutschland angerufen, als solche, die vor dem Hintergrund eines »biographisch/biologisch bedingte[n] ExpertInnenwissens über dieses Land« Auskunft geben könnten. Dass dies aber nicht möglich sei, weil dieses Wissen gar nicht existiere, sondern Deutschland der Ort der Sozialisation und des Lebens sei und auf die Frage daher gar nicht geantwortet werden könne, führe zur Erfahrung eines zweiten Andersseins. Paul Mecheril, der den Begriff »Andere Deutsche« (Mecheril 2003) geprägt hat, beschreibe dieses Phänomen begrifflich treffend, indem er auf die Erfahrung hinweise, aufgrund »sozialer oder physiognomischer Merkmale nicht dem fiktiven Idealtyp des oder der ›Standard-Deutschen‹ zu entsprechen, weil ihre Eltern oder nur ein Elternteil oder ihre Vorfahren als aus einem anderen Kulturkreis stammend betrachtet werden« (Mecheril 1997, 177 zitiert nach Goel 2005: 12). Dabei gehe es um Rassismus, um »die Festlegung einer Person auf ihre unterstellte Abstammung und angenommene biologische Besonderheit« (Goel 2005: 12), um die Unterstellung also einer anderen Herkunft, die sich aus Merkmalen speist, die nicht einem »fiktiven« Ideal des »Standard-Deutschen« entsprechen, einem fiktiven Ideal, dem potenziell jede*r auf die ein oder andere Weise nicht entspricht (vgl. auch Kap. 2, Kap. 3.3). Es ist insofern auch wichtig, darauf hinzuweisen: »Die« (Anderen) Deutschen gibt es nicht außerhalb der rassifizierenden Zuschreibungen von (Nicht-)Zugehörigkeit.2 2

Das »Wir«, so führt Goel (2020: 39) aus, »wird durch einen fiktiven Prototyp imaginiert« und zitiert zur Verdeutlichung Mecheril (2003: 211-212): »Diese prototypische Vorstellung entsteht vor dem Hintergrund von kontextuell spezifischen Lebensbedingun-

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Goel (2012: 10) weist darauf hin, dass das, was im obigen Beispiel im Kontext eines »als-Inder_innen-wahrgenommen«-zu-werden stehe, eine durch den rassistischen Verweis auf Indien hergestellte Gemeinsamkeit sei. Die durch diesen Verweis konstruierte Gruppe sei nicht ›wirklich‹ ›Indisch‹ oder beispielsweise – in anderen Fällen – ›Asiatisch‹, ›Vietnamesisch‹, d.h., sie besitzt keine Gemeinsamkeit jenseits des rassistischen Verweises. Wie Ha (2021: 17) argumentiert, ist deshalb die positive Aneignung der rassistischen Anrufung, hier des »Asiatisch-Seins«, auch als ein auf Solidarität gründender »kollektiver Widerstand gegen die Herabwürdigung asiatischer Minderheiten« zu verstehen. Zu dieser bestünde ohne anti-asiatischen Rassismus keine Notwendigkeit. Daher müsse die Kategorie »Asiatische Deutsche« zuvorderst als politische Kategorie verstanden werden, die mit Widerstand gegen Rassifizierung in Verbindung steht: »Wir sind asiatische Deutsche, weil wir uns selbst gemeinsam so definieren wollen, um unsere gemeinsamen Erfahrungen und unsere Differenzen machtkritisch anzuerkennen und politische Allianzen inner- und außerhalb der asiatischen Diaspora solidarisch und gleichberechtigt zu leben« (ebd.: 15). Die von Mecheril eingeführte Beschreibung »Andere Deutsche« sei daher, so Goel (2012: 10), in diesem Verständnis einerseits treffend, andererseits würden dabei jeweils spezifische rassifizierte Konstruktionen bzw. Selbst- und Fremdwahrnehmung untergehen. Denn, so argumentiert sie (ebd.), divergierende Migrationsgeschichten sind von Bedeutung, bspw. sei vietnamesische Vertragsarbeit in die BRD anders rassifiziert worden als indische Migration in die BRD. Daher sei eine spezifischere Bezeichnung des Kontextes, auf den rassifizierend verwiesen wird, einer allgemeineren vorzuziehen. Auch Ha (2021: 19) argumentiert, dass die Kategorie »asiatisch-deutsch« zunehmend Pluralisierung erfahre und dies bedeutend sei, da »sozioökonomische, kulturelle und auch politische Unterschiede bestehen«. Goel (2012: 11) schreibt von »Anderen Deutschen«, die auf Indien verwiesen werden, und versteht Indien als Verweis auf Bezüge zu Indien, Pakistan, gen und einer Geschichte des kollektiven Umgehens mit diesen Bedingungen; er mag auch – ohne dass dies freilich notwendig wäre – mit Beobachtungen durchschnittlicher Handlungsindikatoren korrelieren, er ist aber beides nicht, weder verdichtetes Abbild der Lebensbedingungen noch Repräsentation eines mittleren, durchschnittlichen, also unwirklichen Handelns der Gruppe.« Goel (2020: 39) hebt hervor, dass es zwar kontextspezifische fiktive Prototypen des »Wir« gebe, diese aber nicht mit einem »Abbild eines real existierenden Wirs« verwechselt werden dürften: »Er [der Protyp] ist zwar eine normierende Vorstellung, aber nicht die Normalität des Einzelnen.«

9 Aneignungsweisen rassifizierter Zugehörigkeitskategorien der Mobilität

Sri Lanka usw. Da es sich aber bei Indien um einen Nationalstaat handelt, der die von ihr ebenfalls angeführten anderen Kontexte nicht einschließt, verwende ich im Folgenden lieber den Begriff »südasiatisch«. Dieser scheint mir für die Beschreibung, auch im Sinne forschungsethischer Fragen, angemessener, da damit einerseits kein konkreter natio-ethno-kultureller Kontext bezeichnet wird, aber dennoch eine geografische Spezifizierung von Rassifizierungsprozessen vorgenommen werden kann. Suda, Schindler und Unkim (2021: 356) zeigen, dass sich rassistische Narrative von »Missionaren, Reisenden und Kulturschaffenden« über Asien als »imaginierter Kontinent« bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen lassen. Zudem verweisen sie auf die deutsche Kolonialpolitik in China, Samoa und NeuGuinea sowie die »Verfolgung von Chines_innen im Nationalsozialismus« als neuzeitlichere Beispiele, die sich in rassistische Konzepte zu »asiatischen Körpern« in europäische Wissensbestände eingeschrieben haben. Diejenige Erfahrung der nun von mir als »südasiatisch-deutsch« bezeichneten rassifiziert konstruierten Gruppe Anderer Deutscher ist nach Goel (2012: 7) häufig subtiler, als dies für andere rassistisch konstruierte Gruppen gelte, wie bspw. diejenige der »Türk_innen«, »Muslim_innen« oder »Asylbewerber_innen«. So würden alltägliche rassistische Ausgrenzungen meist verdeckter als bei diesen stärker rassistisch marginalisierten Gruppen formuliert. In diesem Sinne argumentiert Goel, dass viele als »Südasiat*innen« wahrgenommene Menschen solche Erfahrungen, die sich als Rassismuserfahrungen klassifizieren lassen, nicht als Rassismus benennen bzw. im Gegenteil angeben würden, sie hätten bisher keinen Rassismus erfahren, was vor dem Hintergrund von Goels Erläuterungen sicher in ähnlicher Weise auch für andere biografisch relevante Kontexte zutrifft. Anstelle von Rassismus würden die Erfahrungen mit »positive Neugierde, Unwissenheit oder individuelle Dummheit« (ebd.: 8) assoziiert und beschrieben und damit individualisiert und nicht auf einer »strukturellen Ebene« (ebd.) verortet. Das öffentliche, orientalistische Bild »der« Südasiat*innen verweise zudem auf »die alte Zivilisation und Kultur sowie die Spiritualität« und bediene »Bilder von wunderschönen [südasiatischen] Frauen und intelligenten Männern« (ebd.: 9). Diese Bilder seien »zum einen mit Begehren verbunden sind, wenn es um die zugeschriebene Spiritualität, Ausgeglichenheit und Farbenfreude der ›Inder_innen‹ geht. Zum anderen sind sie mit Abwertung verbunden, wenn sie sich auf Frauenunterdrückung, Armut und ›heilige Kühe‹ beziehen« (ebd.: 4). Daneben werde immer wieder deren »Wille, sich ökonomisch und im öffentlichen Raum zu assimilieren« (ebd.), betont. Diese Art der

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Konstruktion der »Südasiat*innen« stehe damit im Kontrast etwa zu jenen der »integrationsunwilligen ›Türk_innen‹« (ebd.) und produziere im Sinne der »rassistischen Strategie des Teilen[s] und Herrschens« (Goel 2012: 10) die »Illusion, dass sie durch Abgrenzung von anderen ›Ausländer_innen‹ und der damit verbundenen Ausgrenzung von diesen, in die Dominanzgesellschaft« (ebd.) aufgenommen werden können. Suda, Schindler und Unkim (2021: 352) weisen vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen darauf hin, dass derzeit anti-asiatischer Rassismus auch in Zusammenhang mit der Entstehung der COVID-19 Epidemie artikuliert wird, indem etwa als asiatisch angerufenen Menschen »die Verantwortung für den Ausbruch und die Verbreitung von COVID-19 angelastet wird«. Dies habe mitunter auch ein Bewusstsein für die negativen Zuschreibungen dieser Identität noch einmal geschärft.

9.2

Aneignungsweisen der Anrufung als »Weiß« (Kai)

Gegen Ende des Interviews mit Kai greife ich das Thema Weiß-Sein auf. An einigen Stellen des Interviews hatte Kai von Erfahrungen mit einer Markierung als Weiß berichtet, die Bedeutung aber eher weniger hervorgehoben. Er hatte etwa von Privilegien aufgrund dieser Anrufung berichtet, die er auch gerne angenommen habe, seine Erzählung ist aber bisher wenig von dieser Anrufung geprägt gewesen. Ich frage vorsichtig nach und fordere ihn auf, sich noch einmal dazu zu positionieren. So wie ich die Frage stelle – mein Verständnis seines Berichtes zusammenfassend und als Bitte, mir noch zu bestätigen, ob ich es so richtig gehört habe – wäre es Kai auch möglich, relativ kurz und knapp, bspw. zustimmend, zu antworten und damit weiteren Erklärungen aus dem Weg zu gehen: Also mir, vielleicht noch, vielleicht noch eine, eine Frage. Du hast, du hast immer so n bisschen, ähm, du hast so davon geredet, dass, ähm, es Situationen gab irgendwie, an denen, ähm, an denen auch Weiß-Sein für dich auch ne Rolle gespielt hat, ne? Ähm, hast es aber eher so n bisschen so als, ja, ich hab so gehört, war irgendwie nich so, war so halb wichtig für dich, nich so richtig, ne. (Kai: Z. 797-801) Stattdessen versteht Kai die Nachfrage allerdings als Aufforderung zum Erzählen und erläutert mir seine Erfahrung und seinen Standpunkt in Hinsicht auf die Anrufung als Weiß in Tansania.

9 Aneignungsweisen rassifizierter Zugehörigkeitskategorien der Mobilität

9.2.1

Die Anrufung als »Mzungu« als »Schlag ins Gesicht«

Ja, also, also, naja Hautfarbe is halt irgendwie auch nich, also kann man ja auch nicht ablehnen, also ablegen. Ähm, was ich da auch, also, mich hats, das war auch so, ein Wandel in mir über das Jahr. Äh, also ich weiß noch, der Mzungu, das is halt so das Wort für, also ha/hatte, glaub ich, Herkunft is sowas wie Fremder und is dann eigentlich jetzt so das gängige Wort, ne, für Weiße. Ähm, und das war auch mehr oder weniger so, also hab ich auch verschiedene Sichtweisen dazu. (Kai: Z. 802-808) Zunächst stellt Kai mir gegenüber fest, dass »Hautfarbe« etwas sei, das sich nicht einfach ablegen lasse. Vermutlich ist dies auch eine Antwort auf meine Frage, insofern Kai zum Ausdruck bringen könnte, dass es nur teilweise darauf ankomme, ob er selbst »Hautfarbe« für wichtig erachte, da diese nicht einfach verschwinden würde, wenn mensch das wolle. Demnach ließe sich von zwei Perspektiven sprechen, die sich auch entgegenstehen könnten: Zunächst (1) die individuelle Perspektive, und das heißt an dieser Stelle Kais Positionierung, die durchaus »Hautfarbe« für nicht so wichtig ansehen möchte, und sodann (2) die Perspektive der anderen, die es verunmöglichen mag, diese Positionierung in Interaktionen erfolgreich umzusetzen. Dies habe zu einem Wandel »in mir« geführt, im Laufe eines Prozesses, der über das Jahr stattgefunden habe. Daran anschließend berichtet er von der Bezeichnung »Mzungu« als jener für Weiße in Tansania, als einer Bezeichnung, die zunächst allgemein für »Fremde*r« verwandt worden sei und sich dann hin zum gängigen Wort für Weiße entwickelt habe. Durch die Art der Erzählung – »ich weiß noch« – entsteht zunächst der Eindruck, »Mzungu« sei etwas gewesen, das nicht so markant und bestimmend für Kais Zeit dort gewesen ist, denn an eine prägende Erfahrung muss ich mich vielleicht nicht in dieser Form erinnern. Es handelt sich vielmehr um eine Redewendung, die gebräuchlich für Erfahrungen verwandt wird, bei denen die Möglichkeit des Vergessens besteht – »noch« erinnere ich mich –, sie deutet nicht auf eine omnipräsente bzw. im Vordergrund stehende Erfahrung hin. Zudem kündigt Kai an, verschiedene Sichtweisen »dazu« zu haben, was sich als Ankündigung einer Erzählung zu diesen Sichtweisen verstehen lässt. Zunächst erläutert er mir aber genauer, dass und warum er die Anrufung als »Mzungu« als problematisch empfunden habe und sie zu so etwas wie einem Hasswort für ihn geworden sei:

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Ähm. Und da wars dann auch einfach so, das, was/oder du bemühst dich oder ich bemüh mich, so mit Sprache lernen und dann irgendwie die gängige Kleidung vielleicht sogar zu tragen. Bemühe ich mich, wie so, ja, so ne/den Willen zur Anpassung, versuchst du ja, so n bisschen unterzutauchen und dann sagst du halt, hi, wie gehts dir? Ah ja hi na Mzungu und da ist dann wie so n bisschen Schlag ins Gesicht, weil es ist dann ja wirklich so, ja, ne, warum lern ich grad die Sprache und dann red ich sogar noch auf Kisuaheli weiter, aber kommen halt nur englische Antworten zurück. Und das war dann halt wirklich immer so, das, das hat mich dann schon genervt, so in der Hinsicht. Ähm, oder, oder auch so Sachen, dass, okay, es is halt wirk/es is ja wirklich meist leider so, dass wir einfach wohlhabender sind. Ähm, jetzt auch nicht jeder, aber Freiwilligen ham schon tendenziell würd ich sagen, mehr Geld als viele Leute da. Sei es jetzt noch mal Handy über/oder ich hab jetzt auch irgendwie keine billige Hose an oder so was. So Sachen. Und dass das dann auch einem immer so offensichtlich zugeschrieben wird, ne? Du bist Weiß, gib mir mal Geld. Dass das einfach so n Punkt war. Da hab ich dann wirklich so dieses Wort Mzungu, ähm, richtig gelernt, ja, fast zu hassen, weil es wirklich, es kam halt aus allen Ecken. Jeder hat mich so genannt bis auf meine Familie. (Kai: Z. 823-838) Er habe sich bemüht, die Sprache zu lernen, die »gängige Kleidung« zu tragen, sich anzupassen und »so n bisschen unterzutauchen«. Diese Bemühungen seien durch die Anrufung als »Mzungu« konterkariert worden, er habe sie wie einen »Schlag ins Gesicht« empfunden. Die metaphorische Umschreibung der Effekte der Anrufung – ein Schlag – kennzeichnet eindrücklich das Empfinden einer Gewaltförmigkeit der Anrufung, die dem Bemühen, nicht von anderen gesehen zu werden, gegenübergesetzt wird, ein Bemühen das ebenfalls metaphorisch als »untertauchen« umschrieben wird. Habe er jemanden auf Kisuaheli begrüßt, sei er direkt als »Mzungu« adressiert und nur englisch mit ihm geredet worden, selbst dann, wenn er selbst auf Kisuaheli weitergeredet habe. Zudem sei er aufgrund seiner Anrufung als Weiß andauernd auf Geld angesprochen worden. Auch wenn er einsehe, dass »wir einfach wohlhabender sind«, und er in gewisser Hinsicht auch Geld zur Schau gestellt habe, sei Mzungu vor diesem Hintergrund eine Bezeichnung gewesen, die er gelernt habe, »ja, fast zu hassen«. Er begründet den Status als »Hasswort« auch damit, dass er nicht nur ab und zu als »Mzungu« adressiert worden sei, sondern stattdessen permanent. Nur in seiner Familie sei er nicht so genannt worden.

9 Aneignungsweisen rassifizierter Zugehörigkeitskategorien der Mobilität

9.2.2

Strategien des Umgangs mit der Anrufung als »Mzungu«

Ähm, aber, aber mit dem Wort hat ich dann einfach stark zu kämpfen, aber irgendwann hab ich dann halt so für mich festgestellt, es is halt einfach nichts, was ich auch, ich kann jetzt ja nich, keine Ahnung, wie viel Tansanier es gibt, ich sag jetzt mal, du kannst ja nicht 20 Millionen Menschen von jetzt auf gleich beibringen, das Wort nich mehr zu benutzen. Das wär ja auch so/ Und da wars dann auch, dass ich mich dann irgendwann damit abgefunden hab, vielleicht auch so, wenn der und der das benutzt, is irgendwie nich cool. Ähm, was dann aber auch soweit ging, dass ich das dann damit, wie soll ich sagen, ähm, dass ich das damit, dass ich damit so umgegangen bin, dass ich halt selbst, also das macht man ja, glaube ich, sorry für die Verwendung, aber bei N3 ähm, gibt/Ich weiß gar nich, wie der Prozess heißt, dass man sich wieder so die Wörter wie so zurücknimmt, ähm, also es gibt ja irgendwie so n sprachwissenschaftlichen Ausdruck dafür. Ähm, und dass ich dann halt so selbst angefangen hab, mich irgendwie so zu nennen. (Kai: Z. 843-854) Kai erzählt in dieser Sequenz genauer von dem zuvor bereits von ihm angesprochenen Entwicklungsprozess in Hinsicht auf seinen Umgang mit der omnipräsenten Anrufung als »Mzungu«. Er gibt an, dass er, während er zu Beginn »stark zu kämpfen« gehabt habe, irgendwann zu dem Ergebnis gekommen sei, gegen diese Zuschreibung nichts tun zu können, da sich »20 Millionen Menschen« nicht »von jetzt auf gleich« von ihm »beibringen« ließen, ihn nicht mehr so zu nennen. Kai setzt sich, so lässt sich diese Erzählung deuten, also zunächst aktiv gegen die Anrufung als Weiß zur Wehr, er scheint sie für unnötig zu halten und nur schwer verstehen zu können, warum die Menschen, die er kennenlernt, dies anders sehen bzw. anders handhaben. Die Beschreibung deutet darüber hinaus darauf hin, dass er die Anrufung als »Mzungu« bzw. als Weiß nicht erwartet und nicht mit ihr gerechnet hat, was sich als Hinweis darauf deuten lässt, dass er im Zugehörigkeitskontext Deutschland diese Erfahrung nicht gewohnt ist bzw. sie nicht macht, ihm die 3

Wie Kilomba (2009: 141) erläutert, ist der Begriff »N« »in der Geschichte der Versklavung und Kolonisierung situiert«. Der Begriff wurde ab dem 18. Jahrhundert in abwertender Art und Weise verwandt und »strategisch genutzt, […] um das Gefühl von Verlust, Minderwertigkeit und die Unterwerfung unter weiße koloniale Herrschaft zu implementieren« (ebd.). Die Verwendung der Bezeichnung »N-Wort« soll auf diese abwertende Bedeutung hinweisen, »ohne durch ein Ausschreiben des Wortes die damit verbundene rassistische Diskriminierung zu reproduzieren« (Mätschke 2017: 254).

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Bedeutung von »Race« innerhalb von Zugehörigkeitskontexten wie auch seine eigene rassifizierte Stellung bisher nicht derart bewusst war. In der Folge, aufgrund der Omnipräsenz der Anrufung und der Unmöglichkeit, etwas dagegen tun zu können, habe er sich mit der Bezeichnung »abgefunden«. Unterschieden habe er aber dennoch zwischen verschiedenen Menschen, die ihn als »Mzungu« adressierten, »wenn der und der das benutzt, is irgendwie nicht cool«. Allerdings scheint Kai sich nicht wirklich damit »abgefunden« zu haben, weil dies wohl eher einer Art von Akzeptanz gleichkäme. Stattdessen erzählt er davon, sich die Bezeichnung »Mzungu« angeeignet und angefangen zu haben, Strategien der Selbstwirksamkeit zu entwickeln. Weil er diese vor dem Hintergrund der Bezeichnung als gesellschaftliche Praxis nicht in der Abschaffung der Bezeichnung finden kann und anscheinend auch nicht »allen« Menschen die Bezeichnung gleich übel zu nehmen scheint, sind diese Strategien wohl in je spezifischen Reaktionen auf die Markierung als »Mzungu« durch je bestimmt charakterisierte Menschen bzw. Adressierungsweisen zu finden. Eine erste Strategie der Selbstwirksamkeit sieht Kai in der Selbstbezeichnung als »Mzungu« und verweist in Hinsicht auf ihre Relevanz auf die US-amerikanische Geschichte des Widerstands gegen Rassendiskriminierung, der Aneignung des N-Wortes durch Schwarze Menschen in den USA. Er präzisiert diese Strategien in der Folge weiter: Und ir/und dann gabs halt für mich wie so drei Gruppen. Also ich kann mich entweder selbst so als Mzungu darstellen, ich mein, ich hab dann auch so, wenn Leute, wenn ich dann keine Lust hat zu reden, ähm, wenn grad irgendwie jemand so mich, ey, was geht ab? Hab ich dann halt so immer spaßhalber, ja, ich bin doch nur n Mzungu. Ich kann ja gar kein Kisuaheli. Halt auf Kisuaheli. Aber, ähm. Und wenn ich dir das wie so anbiete, in Anführungszeichen, wär das halt für mich okay. Äh, bei Kindern, die, die machen sich ja nich so Gedanken wie wir. Oder denk ich mal. Is das auch voll okay. Aber wenn halt irgendwie, ähm, ein erwachsener Mensch, äh, dem/mit dem ich seit fünf Minuten rede auf Kisuaheli, der halt merkt, dass ich mich da schon irgendwie bemühe, mich halt trotzdem noch immer so nennt, dann wars nichtsdestotrotz weiterhin so, dass ich mir irgendwie gedacht hab, was soll, was soll das jetzt von dir, das is doch total unnötig. Ähm, das, ja, verletzen is vielleicht n bisschen zu starkes Wort. Aber so, dass ich das einfach nich mag. (Kai: Z. 854-866)

9 Aneignungsweisen rassifizierter Zugehörigkeitskategorien der Mobilität

Die obige Passage macht deutlicher, wie und wieso Kai zwischen verschieden Menschen und Verhaltensweisen in Reaktion auf die Bezeichnung als Mzungu unterscheidet. Hier habe es »drei Gruppen« bzw. Interaktionsweisen gegeben. Eine erste Gruppe bzw. Strategie sei es gewesen, sich selbst in Kisuaheli als »Mzungu« vorzustellen, der kein Kisuaheli sprechen könne. Diese Strategie habe er insbesondere dann angewandt, wenn er keine Lust gehabt habe zu reden und er dennoch angesprochen worden sei. Dadurch dass er nun derjenige gewesen sei, der die Bezeichnung »Mzungu« ins Spiel gebracht habe, sei es in der Folge für ihn weniger problematisch bzw. »okay« gewesen, so adressiert zu werden. Als eine zweite Gruppe werden von Kai Kinder markiert, denen er das »Mzungu« habe nachsehen können, da Kinder sich »ja nich so Gedanken wie wir« machen würden. Für eine weitere »Gruppe« stehe »ein erwachsener Mensch«, mit dem Kai bereits seit einiger Zeit auf Kisuaheli rede. Dieser Mensch habe ja gemerkt, dass Kai Kisuaheli könne und sich bemühe. Wenn dieser ihn dennoch weiterhin als »Mzungu« bezeichnete, habe er dies als »verletzend« bzw. nicht schön empfunden. Kai unterscheidet in seinen Ausführungen zwischen eher unpersönlichen Kontakten und persönlicheren Kontakten, d.h. solchen, auf die er sich wenig, und solchen, auf die er sich weiter eingelassen habe. Während es ihm in Hinsicht auf Erstere möglich scheint, sich der Bezeichnung als »Mzungu« zu ermächtigen, indem er sie quasi anbietet und damit der Fremdbezeichnung zuvorkommt, so stört es ihn deutlich, von Personen, auf die er sich etwas mehr einlässt, als »Mzungu« bezeichnet zu werden, und es fehlt ihm in dieser Hinsicht eine vergleichbare Strategie. Auch wenn er zuvor festgestellt hat, es mit einem gesellschaftlichen Phänomen zu tun zu haben (20 Millionen Menschen), so nimmt er die Bezeichnung doch weiterhin auch persönlich. Eine weitere Umgangsweise beschreibt er in der Interaktion mit seiner Gastfamilie: so mei/so mein Gastvater, der ging damit relativ spaßig um und dann ist das auch absolut okay. Jetzt, wenn du dir jetzt nich irgendwo, ja. Weil der hat halt auch irgendwie so, ne, so, ja, hier, mein kleiner Weißer, mach mal das und so. Er hat mich zum Beispiel irgendwann angefangen, ähm, sozusagen, bist du Mzungu oder (unverständlich) heißt so, so fauler Sack. Hat er mich immer so morgens von der Arbeit: Na, weiß oder faul? Und dann hab ich halt auch so Sachen gesagt, wie, ja, wir Weißen sind doch eh alle faul und lassen nur irgendwie Leute arbeiten oder so. Das war dann also, das is dann auch okay./ I: (lacht) Okay./K.: Das war nur auch so n Running Gag geworden und dann

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irgendwann ham das auch irgendwie meine Geschwister übernommen. (Kai: Z. 917-927) Anders als zuvor von Kai beschrieben, scheint es keineswegs so gewesen zu sein, dass er in seiner Gastfamilie nicht als »Mzungu« adressiert worden ist. Allerdings beschreibt er hier eine sich von anderen Situationen unterscheidende, spielerische, neckende Umgangsweise mit der Anrufung, gegenüber der er sich nun ebenfalls spielerisch positionieren kann. Weil die ham dann, weißt du, die, die sehen dich dann halt auch, die sehen dich dann auch mehr, also, wenn man ja Leute kennenlernt, differenziert man die, also machst du die ja nicht mal an der Hautfarbe ab, sondern nur an ihrem Charakter im besten Fall. Ähm, und für die Familie war ich dann ja auch irgendwie so’n Mitglied. Wenn mich da einer so im Spaß irgendwie Mzungu nennt, ja, is dann ja, also dann hab ich die ja auch, so, du Afrikaner oder so. Is ja auch okay. (Kai: Z. 832-837) Die von Kai im Sinne einer spaßhaften Interaktion beschriebene Umgangsweise mit der Anrufung als Weiß, wird von ihm als akzeptable Form der Anrufung beschrieben. Vor allem führt Kai dies darauf zurück, dass er »Mitglied« der Gastfamilie gewesen sei. Diese habe ihn besser kennengelernt und daher nicht nur aufgrund seiner »Hautfarbe« beurteilt, sondern »im besten Fall« »nur« nach seinem »Charakter«. Gleichwohl beschreibt Kai auch hier ein Bemühen, sich gegenüber der Adressierung als »Mzungu« im Sinne einer Selbstwirksamkeit zu behaupten, indem er sie »spiegelt« und versucht, die Begegnung auf ›Augenhöhe‹ zu gestalten.

9.2.3

Interaktive Konsequenzen der Anrufung als »Mzungu«

Seine Anrufung als »Mzungu« bringt Kai mit verschiedenen interaktiven Konsequenzen in Verbindung. Beispielsweise erzählt er, dass sie die Auswahl derjenigen Kontakte angeleitet hat, mit denen er weitergehend »Konversation« gesucht habe: Ja, also, ähm, so zum Beispiel meine Freunde, so, jetzt zum Beispiel [Name], der hat mich dann also auch weiterhin Mzungu genannt. Manche waren dann auch wirklich, wenn man denen klar gesagt hat, bitte nenn mich nich so, dann, dann ging das auch. Aber es gab auch halt, die einfach intolerant blieben. Aber das sind jetzt auch dann nicht Leute, mit denen ich weiterhin täglich Konversation gesucht hab. (Kai: Z. 868-872)

9 Aneignungsweisen rassifizierter Zugehörigkeitskategorien der Mobilität

Mit Ausnahme eines Freundes, der ihn auch weiterhin »Mzungu« nennt und offensichtlich dennoch sein Freund blieb, unterscheidet er zwischen jenen, die aufhören, ihn mit »Mzungu« zu bezeichnen, wenn er sie darum gebeten habe, und jenen, die damit nicht aufgehört haben und mit denen er deswegen auch nicht weiter den Kontakt gesucht habe. Allerdings markiert er die Anrufung aufgrund von »Hautfarbe« nicht nur als Problem, sondern auch als hilfreich dabei, Menschen vor Ort kennenzulernen, da diese ihn interessanter gemacht habe: Ähm, aber auch das, ich mein, ich mein, man, man sucht sich ja auch Freunde auch jetzt nich so irgendwie im Katalog aus. Äh, also das entwickelt sich auch einfach. Aber halt teils wars halt schon, ich find so wegen der Hautfarbe und dann vielleicht auch, weil man irgendwie so die Sprache spricht, da is ja auch jetzt irgendwie nichts Verwerfliches, so interessanter. Äh, und, und auch so ne Sachen, man wird halt schon, ich sag mal, oft nach, ähm, s/so der Nummer oder so was gefragt und da war ich dann halt teils auch einfach so sehr ablehnend. So wie hier, ich kenn dich gar nich? Wer bist du? Was willst du? Aber wenn ich mich dann halt teils dann doch, was heißt dafür erbarmt hab, oder wenn ich dann doch so gesagt hab, ja, klar, hier hast du meine Nummer, wurd daraus dann halt auch einfach irgendwie doch irgendwie so, also [Name], bei wars ja so. Er hat so gesagt, gib mal deine Nummer, hab ich so, ja. Der meldet sich ja eh nich mehr, kann mir ja egal sein. Aber dann wurds halt doch irgendwie so was Schönes, Gutes draus. (Kai: Z. 581-598) Auch wenn »man« sich Freunde ja eigentlich nicht im »Katalog«, nach »Hautfarbe« und Sprachkenntnis, aussuche, so sei an solch einer Auswahl auch nicht prinzipiell etwas verwerflich. »[M]an« werde oft nach der »Nummer« gefragt, erzählt Kai und verallgemeinert hier, weil er davon ausgehen kann, dass sich die Erzählung nicht nur auf ihn allein bezieht, sondern für all jene (und auch mich, den Interviewer) mit gilt, die als »Mzungu« identifiziert werden können. Diesen Fragen gegenüber hat er sich, so seine Erzählung, i.d.R. sehr ablehnend verhalten. Wenn er sich dann doch darauf eingelassen – »erbarmt« – habe, sei aber doch »so was Schönes, Gutes draus« entstanden. Insbesondere vor dem Hintergrund der vorherigen Erzählung, in der die Identifizierung als »Mzungu« als »Hassobjekt« präsentiert wird, finde ich diese Sequenz sehr bedeutsam. Kai wird nämlich durch die Anrufung nicht wirklich ausgeschlossen, auch wenn er sich so fühlen mag und nicht untertauchen, wie alle anderen sein kann. Das als »Mzungu«-Angerufen-Werden führt also eher nicht zu Ausschluss, sondern dazu, interessant und gefragt zu sein: »[M]an«

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

möchte etwas mit ihm machen, und wenn er sich darauf einlässt, so ist dies auch mit Potenzial für eine gute Beziehung verbunden. Die Formulierung sich »erbarmt« zu haben, die Kai in diesem Zusammenhang benutzt, ist vermutlich kein Zufall, sondern vielmehr Kennzeichen der Ungleichheit dieser Interaktionsverhältnisse, in denen sich Kai in einer vergleichsweise mächtigen Position befindet, weil er darüber entscheiden kann und auch andauernd darüber entscheiden muss, mit wem er in Kontakt tritt. Diese Position scheint ihm gleichermaßen zu viel zu sein wie auch zu schmeicheln. An einer anderen Stelle des Interviews spricht Kai über weitere interaktive Aspekte, die mit dieser Anrufung verbunden waren. ja, okay, also, manche würden das dann vielleicht so auch, bisschen mit Rassismus in Verb/Verbindung bringen, aber einfach so, was uns, also jetzt so irgendwie Weißen eher zugeschrieben wird oder zugesprochen wird, ähm, nur kurz so als Ausflug dahin. Irgendwie, wenn man, wo ich jetzt hier im Bus aufstehen würde für ältere Leute, dass die dort halt für dich aufstehen auch. Also für mich is dann auch mal, ist auch mal’n Opa aufgestanden, was mir dann total unangenehm war. […] Also bei mir ist das halt auch einfach so, dass ich, ähm, bin ich, glaub ich, auch anders als andere im Jahrgang, die sich dann nochmal jetzt beim Bus irgendwie total schlecht gefühlt hatten, aber, wenn ich halt irgendwie einen anstrengenden Arbeitstag, hab ich mir dann auch, so, ja, sollen sie. Ich mein, ich kann mich setzen. Ähm, warum nicht? Also das war mir dann halt auch irgendwie so aus/hab ich mich auch so’n bisschen dann so drauf ausgeruht. (Kai: Z. 382-393) Einen solchen weiteren Aspekt findet Kai in Situationen der Privilegierung, d.h. an solchen Stellen, an dem ihm – vermutlich aufgrund seiner Anrufung als »Mzungu« – eine besondere Behandlung zu Teil wird. Er expliziert dies am Beispiel einer Situation in einem Bus. Während er »hier« im Bus für ältere Menschen aufstehen würde, so sei es ihm »dort« passiert, dass »die dort halt für dich aufstehen auch« und dass »auch mal n Opa« für ihn aufgestanden sei. Die Situation, in der der »Opa« für ihn aufgestanden ist, sei ihm zunächst »total unangenehm« gewesen. Das nimmt Kai zum Anlass, um mir zu erklären, dass er sich anders als »andere im Jahrgang« normalerweise grade nicht »total schlecht« dabei gefühlt habe, das Angebot, sich zu setzen, auch anzunehmen. Insbesondere nach einem langen Arbeitstag hat er stattdessen den Sitzplatz angenommen und sich keine weiteren Gedanken über die eventuell zugrunde liegende Struktur gemacht, deren Ausdruck die Praxis sein könnte. Dies steht auch in einem gewissen Widerspruch zum Wunsch, nicht als

9 Aneignungsweisen rassifizierter Zugehörigkeitskategorien der Mobilität

»Mzungu« aufzufallen und adressiert zu werden. Zwar scheint er die Situationen durchaus als ungerecht zu empfinden, er schafft es aber anscheinend müheloser als andere, sich von einer etwaigen Verantwortlichkeit den anderen Akteuren oder der Struktur gegenüber zu entbinden. Kai reflektiert diesen Aspekt mir gegenüber selbst: aber auch so dann mit diesem positiven Rassismusding. Ich hab ja eben das mit dem Bus gemeint. Ähm, und also das war halt dann auch so ne Sache, so zwischen, also mit/in mir selbst. Aber ich hab mich halt, ähm, jetzt nich so, weil ich irgendwie daran nichts ändern wollte oder so, aber ich hab mich selbst damit dann so n bisschen abgefunden. Aber mir auch gar keine, hatte auch gar keinen so großen Denkprozess in mir selbst, weil vielleicht bin ich dann einfach so bequem, ähm, dass ich dann halt einfach den Sitzplatz im Bus annehme, wenn/Also ich mein, ich muss es ja nich machen. Oder auch irgend/irgendwie, keine Ahnung, wenn, wenn du mir dann so irgendwie Essen anbietest, dass ich da auch irgendwie nich nein sag. Aber da wars dann halt auch, dass ich nich immer, ich kann, weil ich einfach nich deine Beweggründe oder die der Person kenne, auch gar nich immer hundertprozentig sagen kann, is das jetzt was wegen der Hautfarbe. Also es kann ja genauso gut sein, dass die Person am Tag drauf auch irgendwie immer ihren Sitz anbietet oder dass sie immer ihr Essen teilt oder […]. (Kai: Z. 890-901) Kai überlegt in dieser Sequenz weitergehend zu den Gründen, warum er bspw. den Sitzplatz im Bus einfach angenommen habe. Er verweist dabei darauf, keinen »so großen Denkprozess in mir selbst« gehabt zu haben. Nicht ein fehlendes Ungerechtigkeitsgefühl, sondern ein Abfinden mit der Anrufung in Tansania, eine gewisse Bequemlichkeit wie auch eine mögliche Unklarheit der Beweggründe der jeweiligen Menschen führt er zur Erklärung heran. Da sich die Beweggründe hinter den Handlungen nicht erkennen ließen, sei es immer auch möglich, dass die Situation überhaupt nichts mit Kais Weiß-Sein zu tun gehabt habe. So scheinen ihm immer auch andere Lesarten möglich und könnten es auch persönliche Eigenschaften der beteiligten Personen sein, die ausschlaggebender sind als die Adressierung seiner Person als Weiß. Diese weiteren Möglichkeiten zieht er auch bereits bei den zuvor diskutierten Beispielen, etwa der Kontaktaufnahme mit ihm, in Betracht. Hier war es einerseits die Identifikation als Weiß, die Kai benannt hat, daneben aber auch noch die Fähigkeit, die lokale Sprache zu sprechen. Das Kennzeichen von Interaktionsgeschehen, nicht eindeutig zu sein, ermöglicht insofern verschiedene Interpretationen.

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

9.2.4

Theoretisierender Einschub: Aspekte der Einschreibung von Rassismus in die Zugehörigkeitskontexte der Mobilität

Whiteness und das Selbstverständnis Europas als Kontext ohne Rassismus »Whiteness«, so erläutert Tißberger (2017: 96), bezeichnet eine »sprachliche und soziale Konstruktion«. Damit werde der symbolische Rahmen bezeichnet, innerhalb dessen sich bestimmte Rassekonstruktionen ausbilden und »von de[m] rassistische Subjektivierung ausgeht« (ebd.). Whiteness müsse als »strukturierendes Moment einer Herrschaftsdimension – einer rassistischen Matrix – verstanden [werden], von dem aus die Subjekte einer Gesellschaft an der Norm des Weißseins* gemessen, markiert und positioniert werden, wobei das Weißsein* als Norm unbenannt, unsichtbar und de-thematisiert bleibt« (ebd.: 96f.). Tißberger argumentiert, dass es ein Fehler wäre, anzunehmen, der kritischen Weißseinsforschung ginge es um die Beziehung zwischen »Weißen* und Schwarzen*« (ebd.) bzw. sie beschränke sich auf diese Beziehung. Vielmehr müsse »Whiteness« verstanden werden als das »symbolische Zentrum einer hegemonialen Ordnung, in der Menschen als Weiß* oder mehr oder weniger ›off white‹ positioniert werden« (ebd.). Die Kategorisierung als Weiß*4 sei darüber hinaus historisch und geografisch kontingent. Wie auch etwa Bojadçijev (2008: 50ff.) in Anlehnung an Allen (1998) im Hinblick auf das Beispiel der Geschichte der Beziehungen zwischen Irland und England nachweist, können allerdings auch Menschen, die »weiß* sind, […] als Fremde innerhalb einer weißen* Dominanzkultur« (Tißberger 2017: 96) konstruiert werden. Rassekonstruktionen sind also, das habe ich auch zuvor dargelegt (vgl. Kap. 3), kontingent und historisch wie kontextbedingt spezifisch. Ihre stärksten Pole bilden seit dem 19. Jahrhundert aber »die beiden Extrempole weiß-zivilisiert-europäisch vs. schwarz-primitiv-afrikanisch« (ebd.: 96), sodass unterschiedlich auf dieser Skala Positionierte mehr oder weniger stark Rassismen ausgesetzt sind. Whiteness, erläutert Tißberger (ebd.: 98), »ist zusammen mit dem Rassismus entstanden, als sein de-thematisiertes Machtzentrum – eine wirkmächtige Imagination, die kollektiv wie individuell wirkt, meist unbewusst«. Weiße* profitieren damit kollektiv von der 4

Ich verwende an dieser Stelle die Bezeichnung »Weiß*« anders, als zuvor und auch an späteren Stellen mit »*«, um bei der Verwendungsweise Tissbergers zu bleiben, die ich an dieser Stelle diskutiere.

9 Aneignungsweisen rassifizierter Zugehörigkeitskategorien der Mobilität

Ausbeutung Nicht-Weiße*r und dies werde gleichzeitig geleugnet, indem »Gleichheit, Teilhabe, gleiche Rechte und Zugang zu Ressourcen für alle« (ebd.: 102) suggeriert werde. Gerade diese Leugnung, das »De-Thematisieren des Machtverhältnisses«, ist es, welche die »Macht von Whiteness garantiert« (ebd.). So sei es Merkmal dieses Machtverhältnisses, dass Nicht-Weiße* gezwungen werden, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen, Weiße* aber die Wahl haben, »Rassismus wahrzunehmen und zu problematisieren« oder eben auch nicht und stattdessen von ihm zu »profitieren« (ebd.). In diesem Sinne beschreibt auch Dyer (2017: 1) als wesentliches Kennzeichen der »racial imaginery of white people«, sich nicht in rassifizierten Zugehörigkeitskategorien wahrzunehmen. Evident wird diese Eigenschaft Dyer folgend im Sprechen und Schreiben Weiß angerufener Menschen im »Westen«. Sie werde etwa sichtbar in der Wahrnehmung Weiß angerufener Menschen, nicht Weiß angerufen zu werden und Weiß-Sein mit Mensch-Sein im Generellen gleichsetzen zu können. Dies wird von Dyer (ebd.: 2, 9) als Ausdruck und Absicherung der speziellen Machtposition markiert, für die Weiß-Sein steht. So werde es aus dieser machtvollen Position heraus möglich zu glauben, jemand denke, fühle und agiere wie und für alle Menschen. Dyer weist auch auf Variationen in Hinsicht auf Macht innerhalb der »Weißen« Subjektposition hin, die entlang von Klasse, Geschlecht und weiteren Faktoren strukturiert sei. Lentin (2008: 489) folgend kennzeichnet es insbesondere den europäischen Kontext, sich als tolerant und demokratisch und als nicht-rassistisch und/oder sogar anti-rassistisch zu verstehen. Rassismus werde hier vorwiegend mit der Shoah und dem Nazi-Regime in Verbindung gebracht, als einmalige Ausnahme europäischer Politik/Geschichte gesehen und/oder in anderen Kontexten außerhalb Europas verortet. In dieser Sichtweise erscheint Europa durch eine einzigartige demokratische politische Kultur gegenüber anderen Teilen der Welt gekennzeichnet. Dies impliziert eine Superiorität, welche, ohne Thematisierung der fundamentalen Verwobenheit Europas mit dem Kolonialismus, auch weiterhin die Logik des kolonialen »white man’s burden« bedient. Auch Lentin (ebd.) versteht Rassismus nicht nur als biologischen Rassismus oder, wie bspw. im Kontext des »new racism«, vornehmlich als Rassismus ohne Rassen, der statt auf Biologie auf Kultur rekurriert (vgl. auch Balibar 1991). Sie versteht Rassismen stattdessen als historisch schon immer auf einer ganzen Reihe von kulturellen, biologischen und religiösen Referenzen beruhend, die miteinander verflochten und überaus dynamisch sind.

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Rassismus lässt sich insofern nicht als Ausnahme und in der Zeit des Nationalsozialismus verorten, sondern muss als strukturelles, kulturelles und politisches Produkt der europäischen Moderne verstanden werden. Rassekonstruktionen sind dann auch eine primäre Folie, vor deren Hintergrund die Zugehörigkeitskonstruktionen moderner Nationalstaaten stattfinden. Lentin diskutiert die politische Bedeutung des Konzeptes der »Rasse« für Nationalstaatenbildung. So kennzeichne es die Konstruktion von Nationalstaaten, Referenz auf Symbole zu nehmen, die dazu dienen, eine Gruppe von Menschen in Bezug auf einen gemeinsamen Ursprung zu einer essenziellen Gemeinschaft zu machen. Rassekonstruktionen, so Lentin (ebd.: 492f.) in Anlehnung an Balibar, dienen mitunter dazu, einen wissenschaftlichen »Beweis« für separat konstituierte und zunehmend hermetische Nationen zu liefern. In diesem Sinne argumentiert auch Hall (2008: 222), dass jene, die sich nicht in der imaginierten Tradition eines Nationalstaates wiederfänden, nicht richtig dazugehören könnten. Nationalstaaten erscheinen also zum Zweck des Einschlusses des »Eigenen« auf dem Ausschluss von »Anderen« gegründet. Rassismus ist weiterhin, wie bereits zuvor erläutert (siehe Kap. 3), eng verwoben mit dem Projekt der europäischen Aufklärung und sogar als ihr notwendiges Gegenbild zu verstehen. Diese »fundamentalen« Verbindungen von Rassekonstruktionen und europäischer Moderne geraten durch eine weitgehende Tilgung des kolonialen Rassismus aus der offiziellen europäischen Geschichtsschreibung aus dem Blick (vgl. Arndt 2017, Eggers 2017, Piesche 2017). In der Folge erscheint Rassismus nicht als strukturelles Element europäischer Moderne, sondern als Ausnahme und persönliche Einstellung bestimmter Individuen (vgl. Lentin 2008: 494). Weiterhin wird Rassismus vor dem Hintergrund der europäischen »silence about race« (ebd.) nicht als Rassismus thematisiert, sondern in Form von essenzialisierenden Vorstellungen von Kultur, Ethnizität, Religion usw. hervorgebracht, transformiert. D.h., Konzepte der Kultur, Ethnizität, Religion etc. nehmen den Platz von »Rasse« ein. Dies hat u.a. den Effekt, dass ihre Basis im strukturellen Rassismus schwerer zu thematisieren ist. Goldberg (2009: 25) folgend bedeutet die Ablehnung von rassistischen Kategorisierungen noch nicht die Überwindung des Rassismus, solange nicht auch die Strukturen angegangen worden sind, die der Rassismus legitimiert und die den Rassismus mit hervorgebracht haben. Dabei führe die Schwierigkeit, Rassismus zu benennen, mitunter auch dazu, dass die Geschichte des Rassismus und seine Fortführung und Einschreibung in die aktuellen sozialen und ökonomischen Strukturen nicht erinnert werde.

9 Aneignungsweisen rassifizierter Zugehörigkeitskategorien der Mobilität

Aspekte der (post-)kolonialen Geschichte Tansanias und Mosambiks und die Anrufung als »Mzungu« (»Mulungo«) Wie Kimambo, Maddox und Nyanto (2017: 2ff.) erläutern, ist das Gebiet, das heute als Tansania bezeichnet wird, seit über 5.000 Jahren von Menschen besiedelt. Ende des 19. Jahrhunderts wird das Gebiet des heutigen Tansanias zu einer deutschen (Festland) und einer britischen (die Insel Sansibar) Kolonie. Insbesondere gegen die deutsche Kolonialherrschaft gibt es andauernden Widerstand, der 1905 im Maji-Maji-Aufstand gipfelt, den das Deutsche Kaiserreich auf äußerst brutale Weise mit mehreren hunderttausenden Toten niederschlägt. Wie Kössler (2005: 30ff.) zeigt, sind strukturelle Nachwirkungen dieses Aufstandes im südlichen Tansania bis heute sichtbar. Im Anschluss an den Ersten Weltkrieg wird Tansania britische Kolonie und bleibt es bis 1963. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und der Wahrnehmung einer Verbindung von Kolonialismus und Kapitalismus, so argumentieren Kimambo, Maddox und Nyanto (2017: 5), entwickelt Tansania einen afrikanischen Sozialismus, unterstützt antikoloniale Kriege gegen die portugiesische Kolonialherrschaft in Mosambik, die bis 1975 andauert, und muss sich auch vermehrt gegen versuchte militärische Invasionen aus Mosambik und Uganda zur Wehr setzen. Seit dem Ende des Kalten Krieges findet eine verstärkte Integration in den Weltmarkt statt, die sich den Autor*innen zufolge u.a. auch in verstärkten materiellen Ungleichheiten innerhalb Tansanias äußert. Das heutige Mosambik wird im Zuge der Berlin-Konferenz im Jahr 1884 zu einer portugiesischen Kolonie, nachdem zuvor britische und französische Interessen mit portugiesischen konfligierten. Bis 1975, das auch das Jahr der portugiesischen Revolution ist, die direkt mit einem zu dieser Zeit in Mosambik stattfindenden Kolonialkrieg zusammenhängt, ist Mosambik portugiesische Kolonie. In den Jahren vor 1975 ist das Land in einen Widerstandskrieg gegen die portugiesische Kolonialherrschaft und kurz nach der Unabhängigkeit in einen Bürgerkrieg verwickelt, der erst 1992 sein Ende findet (vgl. Newitt 2017: 73ff., 173ff.).5

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Die Schwierigkeit, eine lange und komplizierte Geschichte auf ein paar wenige Absätze zu bringen, wird mir beim Schreiben deutlich. Die von mir hier dargestellte Geschichte fokussiert auf den Kolonialismus. Die Geschichte der Kontexte Tansania und Mosambik und ihrer Grenzen ist durch diesen auch wesentlich geprägt, haben doch »die« Europäer Grenzen gezogen, wo vorher keine bzw. andere Grenzen waren (vgl. Newitt 2017: 73ff.). Jedoch lassen sich die Geschichten auch früher beginnen und sich auch ganz anders, nicht nur aus europäischer Perspektive erzählen.

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Eriksson Baaz (2005: 68) zeigt in Referenz auf Mjema (1996: 15f.)6 , der sich mit der Wahrnehmung des deutschen Kolonialismus in Tansania durch die Tansanier*innen befasst, dass diese Geschichte für die Wahrnehmung des Globalen Nordens, der »Mzungu«, in Tansania weiterhin bedeutend ist. Vor dem Hintergrund der kolonialen Erfahrung, so erläutert Mjema, haben sich »mzungu (sing.)« und »wazungu (pl.)« als Bezeichnungen für Weiße Personen in Kisuaheli eingebürgert. Mjema betont im Kontext der Zeit nach der Unabhängigkeit die vorherrschende Assoziation von »Mzungu« mit Reichtum und Wohlstand/Erfolg und die Reichweite, in der sich die Bezeichnung »Mzungu« in den Sprachgebrauch eingeschrieben hat: From early encounters with Europe, as we had discussed earlier, the image that the African had formed of Europeans was that all of them are rich and therefore a source of material resources. This image still persists today, thereby giving the Europeans respect arising from their supposed economic endowment. I am saying supposed because this is one of the stereotypes that persists in Tanzania… The image of the European in Tanzania has had a profound impact on the language, Swahili. For someone to be called a Mzungu might be because that person always keeps time. Being a Mzungu also means having money. One can always hear statements like, »I have found a Mzungu who will buy my car«. This literally translated means that this person has found a customer who would buy his car. (Mjema 1996: 15, zitiert nach Eriksson Baaz 2005: 68) Die Bezeichnung »Mzungu«, darauf weist hier Mjema hin, hat sich derart in den tansanischen Sprachgebrauch eingeschrieben, dass sie auch umgangssprachlich in Assoziation mit Reichtum benutzt wird – »›I have found a Mzungu who will buy my car‹«. Neben diesen hier spielerisch gebrauchten und auf Ressourcenunterschiede verweisenden Assoziationen, die auf Bilder »der« Europäer*innen verweisen, gebe es auch konkretere Erinnerung an den deutschen Kolonialismus: [T]he Germans were infamous for their cruelty, due to their frequent use of corporal punishment and hanging, and […] they earned a reputation for being very strict – an image that has lived on in Swahili language, in which

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Leider war mir ein Zugang zur Originalquelle nicht möglich und ich las daher Mjema über Eriksson Baaz.

9 Aneignungsweisen rassifizierter Zugehörigkeitskategorien der Mobilität

old people today still refer to a strict person as being German (Mjerumani). (Eriksson Baaz 2005: 67, Mjema 1996 paraphrasierend) Der deutsche Kolonialismus bzw. die deutschen Kolonialisten sind auch im Vergleich zum nachfolgenden britischen Kolonialismus als besonders grausam und sehr streng in Erinnerung geblieben und dies spiegelt sich in der lokalen Sprache wider, wie in obigem Zitat durch eine spezielle Bezeichnung deutlich wird. Eriksson Baaz (ebd.: 69f.) weist vor dem Hintergrund ihrer eigenen Forschung darauf hin, dass bedeutsame Unterschiede in der Wahrnehmung von und Erwartung an Weiße(n) Entwicklungszusammenarbeiter*innen bestehen u.a. abhängig vom jeweiligen (Arbeits-)Kontext und vom Alter. So sei unter älteren Tansanier*innen eine Wahrnehmung der »Mzungu« als streng, »superior, able, trustworthy« sehr etabliert, aber unter Jüngeren würde das anders aussehen. Hier sei in vielen Fällen eine Anwesenheit Weißer Entwicklungszusammenarbeiter*innen eher nicht gewünscht. Auch sei es bedeutend, zu berücksichtigen, dass jeweils auch andere Erfahrungen mit »Wazungu« (der Plural von »Mzungu«) gemacht worden seien. Eriksson Baaz zitiert in diesem Zusammenhang auch aus einem Interview, in dem der*die Interviewte die Möglichkeit für Empowerment in der Erfahrung mit Entwicklungszusammenarbeiter*innen betont, insofern hier das rassifizierte stereotype Bild des*r Weißen Entwicklungszusammenarbeiter*in kollabiere: The ones who think that mzungu is God, OK, give them a mzungu, and they will learn with the process. So it goes like that. It is empowering in fact – in one way I think it is empowering. Because, sometimes, if we deny their right to see the mzungu and tell them… maybe people have to learn by seeing. (Ebd.: 70) Allerdings ist nach Eriksson Baaz Vorsicht geboten und nicht davon auszugehen, dass sich diese Vorstellungen der Weißen Überlegenheit so einfach auflösen ließen (ebd.). Da sich die Identitäten der entwicklungspolitischen Mobilität vor dem Hintergrund dominanter postkolonialer Diskurse artikulierten, sei vielmehr von einer Wiedereinschreibung des Verhältnisses dieser diskursiven Identitäten der Weißen Entwicklungszusammenarbeiter*innen und der Tansanier*innen auszugehen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund weiter bestehender ökonomischer Ungleichheiten. Die gewaltsame Geschichte der Beziehungen zwischen Deutschland/ Europa und Tansania/Afrika hat demnach auch in der Sprache deutliche Spuren hinterlassen. Gleiches lässt sich wohl auch für die Beziehungen

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

zwischen Portugal/Europa und Mosambik/Afrika sagen, wie die Erzählung Anns von der Markierung ihrer Mitfreiwilligen als »Mulungo« zeigen kann. Dabei bestehen deutliche Unterschiede zwischen der kolonialen und der postkolonialen Erfahrung. Während ältere Menschen die Zeit des Kolonialismus noch erlebt (und gegen diesen gekämpft) haben mögen, wenn auch nicht mehr unbedingt die Zeit des deutschen Kolonialismus, so setzten und setzen sich jüngere Menschen wohl teils in ein deutlich anderes Verhältnis zu dieser Zeitgeschichte. Ungleiche ökonomische Beziehungen, so wird deutlich, strukturieren aber auch weiterhin die Relation der Kontexte zueinander und die Interaktionen der Menschen, die sich in und zwischen ihnen bewegen.

9.3

Zwischenbetrachtung: Rassifizierte, kontextbedingte und kontextrelationale Zugehörigkeitsordnungen

In der bisherigen Betrachtung bin ich, vor dem Hintergrund der Erzählungen Kais und Anns, Erfahrungen der Anrufung und Positionierung in rassifizierten Zugehörigkeitskategorien genauer nachgegangen. Insbesondere an Anns Erfahrungen der Zugehörigkeit wird der faktischimaginäre Charakter (vgl. Kap. 2, Kap. 9.1.4) des Zugehörigkeitskontextes »Deutschland« deutlich, denn Ann ist in Deutschland geboren7 und aufgewachsen und macht in Deutschland dennoch nicht die Erfahrung fragloser Zugehörigkeit. Sie erzählt stattdessen von Erfahrungen der exotisierenden Besonderung, die nicht nur sie, sondern auch Freunde von ihr, die als Schwarze Deutsche angerufen werden und sich so positionieren, in unterschiedlicher Ausprägung mit ihr teilen und die sie auf die Anrufung als Schwarz/PoC zurückführt. Ann macht die Anrufung und Suche nach der eigenen Positionierung gegenüber dieser Anrufung zu einem zentralen Gegenstand unseres Interviews. Kai positioniert sich hingegen in einer aus Forscherperspektive privilegierten Position, insofern er, der in Tansania alltäglich als Weiß angerufen

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Ich möchte hier keinen Beitrag zur Debatte über ius soli (das ich zwar besser als) oder ius sanguinis (das ich völlig fehl am Platz finde) als Folien der Bestimmung legitimer Staatsangehörigkeit leisten. Der*die Leser*in möge etwa bei Benhabib (2008) zu dieser Diskussion weiterlesen. An dieser Stelle geht es mir vielmehr um die Bedeutung, die informellen Kriterien der Zugehörigkeit in der Feststellung von »fragloser« Zugehörigkeit zukommt.

9 Aneignungsweisen rassifizierter Zugehörigkeitskategorien der Mobilität

wurde, wenig Notwendigkeit darin sah, von sich aus mir gegenüber, als ebenfalls Weiß positioniertem Forscher, die rassifizierte Anrufung von selbst zum Thema zu machen. Die hegemonial/dominante Stellung und Positionierung in Deutschland war darüber hinaus kein Thema der Erzählung. In der Konsequenz, da Kai (und ich) keine rassifizierte Fremdheitserfahrung in Deutschland macht (machen), weil er (und ich) in dieser Hinsicht dominanzkulturell positioniert ist (sind), ist die Erzählung anders strukturiert, kann er sich (und ich mich) stärker als Weltbürger beschreiben und als solcher auftreten, rassifizierte Zugehörigkeitskategorien weitgehend unthematisiert lassen und, so sie sich nicht ignorieren lassen, in ihrer Legitimität in einer Weise befragen, welche die anrufenden Menschen als nicht »aufgeklärt« in Hinsicht auf »Race« kennzeichnet. Allerdings wurde in der Betrachtung aus rassismuskritischer Perspektive deutlich gemacht, dass der natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitskontext Deutschland auf eine Vielfalt an rassifizierten und in Hierarchie und Konkurrenz zueinander stehenden Zugehörigkeitskategorien zurückgreift. Damit korrespondiert auf Kais Seite, dass er sich mit seiner rassifizierten Stellung nicht weiter auseinanderzusetzen braucht, da sie in Deutschland für ihn keine relevant handlungseinschränkenden Wirkungen zeigt und er auch in Bezug auf Tansania davon ausgehen kann, seine privilegierte Positionierung sei eigentlich nebensächlich bzw. nicht existent. Ann ist demgegenüber die Rassifizierung des natio-ethno-kulturellen Kontextes Deutschland aufgrund ihrer Anrufung und Positionierung als Schwarz/PoC bewusst(er) und sie geht auch vor diesem Hintergrund mit einer deutlich anderen – ihre eigenen Privilegien reflektierenden und problematisierenden – Einstellung nach Mosambik und kritisiert auch in Deutschland die natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnung in ihrer Rassifizierung. Im Folgenden möchte ich diese Betrachtung etwas allgemeiner in Hinsicht auf die rassifizierte Codierung der Zugehörigkeitsordnungen Deutschland/Globaler Norden und Mosambik/Tansania/Globaler Süden reflektieren. In Hinsicht auf diese Ordnungen, so möchte ich argumentieren, zeigen sich in der vorhergehenden Betrachtung – noch etwas implizit gehalten – zwei Aspekte. Einerseits müssen die Anrufungen von denen Kai und Ann erzählen als in Relation zueinander stehend begriffen werden. Die rassifizierten Zugehörigkeitskategorien lassen sich auf unterschiedlichen Punkten einer Zugehörigkeitsskala mit Whiteness als Norm positionieren. Gleichzeitig besteht eine Schwierigkeit, Rassismus als bedeutsames Strukturmerkmal

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

der Konstitution von natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit zu benennen, zumindest aus privilegierter Perspektive. Die Erzählungen Anns und Kais machen jedoch deutlich, wie wesentlich Rassismus in die Imaginationen und Erfahrungen von Gleichheit und Differenz, von Zugehörigkeit und NichtSo-Zugehörigkeit eingeschrieben ist. Dabei kann der Zugehörigkeitskontext Deutschland/Europa/Globaler Norden als rassifiziert rekonstruiert werden. Aber nicht nur diese Zugehörigkeitsordnung kann als rassifiziert rekonstruiert werden, sondern auch diejenigen Tansanias und Mosambiks. Die Bedeutung, die darin verschiedenen Zugehörigkeitskategorien zukommt, und auch die Zugehörigkeitskategorien selbst gestalten sich jedoch von Kontext zu Kontext unterschiedlich, und zwar, so möchte ich argumentieren, in Abhängigkeit von der spezifischen Geschichte (der sozialen Auseinandersetzungen), die dem jeweiligen Zugehörigkeitskontext und seiner Relation zu anderen Teilen der Welt zugrunde liegt. Deutlich gemacht werden kann diese Kontextbedingtheit an vielen Stellen: Wenn Ann von ihrer Wohnsituation in einem reicheren Viertel in Mosambik erzählt und feststellt, dass dort Haushälterinnen durchweg Schwarze Mosambikanerinnen sind, die zu Fuß gehen, in dem sich also materielle Möglichkeiten und Rassismus in einer spezifischen Weise miteinander verbinden, die für Ann auffällig und/weil anders als für sie gewohnt ist. Wenn sie feststellt, in Mosambik als Südasiatin verortet zu werden, die einen spezifischen rassifizierten Platz in der Sozialstruktur Mosambiks einzunehmen scheinen, und diese Art der Verortung sie vor dem Hintergrund ihrer Erfahrung im Zugehörigkeitskontext Deutschland überrascht, in dem sie sich als Schwarz/ PoC angerufen sieht. Wenn Kai von den Markierungen als Weiß in Tansania erzählt und sich über diese empört, weil sie – so meine Lesart – in Deutschland für ihn nicht relevant sind, der Zugehörigkeitskontext Deutschland aber rassifiziert organisiert ist. Usw. Andererseits stehen aber nicht nur die jeweils kontextspezifisch ausgeprägten Zugehörigkeitskategorien, sondern auch die Zugehörigkeitskontexte selbst in Relation zueinander, nicht zuletzt indem sie aufeinander verweisen.8 Sie zeigen sich z.B. dann relational, wenn Ann in Deutschland rassifiziert mit Verweis auf einen Zugehörigkeitskontext außerhalb Deutschlands

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Adichie (2013) macht bspw. deutlich, wie die Erfahrung, »Schwarz« positioniert zu sein, erst in den USA für sie virulent und eine bedeutsame Kategorie wird, auf die sie sich beziehen muss, aber in Nigeria für sie keine Rolle gespielt hat und sie sich nicht als »Schwarz« positioniert gesehen hat. Die Positioniertheit und Selbstpositionierung in

9 Aneignungsweisen rassifizierter Zugehörigkeitskategorien der Mobilität

angerufen wird, obwohl der Kontext ihres bisherigen Lebens Deutschland ist, oder wenn sie in Mosambik mit Verweis auf Südasien angerufen wird. Sie zeigen sich des Weiteren auch dann relational, wenn die in Deutschland dominanzkulturelle Weiße Stellung Kais in Tansania auf einmal zu einer omnipräsenten Anrufung wird. Andersherum lässt sich vor dem Hintergrund der Betrachtungen vermuten, dass sich auch Tansanier*innen, je nach Stellung in Hinsicht auf Whiteness, im Zugehörigkeitskontext Deutschland deutlich(er) rassifiziert positioniert sehen. Diese Relationalität wird auf symbolischer Ebene in den Diskursen der entwicklungspolitischen Mobilität sichtbar, in welchen in spezifischer Weise auf die Differenz der Zugehörigkeitskontexte verwiesen wurde, eine Differenz, welche die Art der Mobilität als entwicklungspolitische oder besondere Erfahrungen versprechende begründete bzw. rechtfertigte. Prominent kommt das Verhältnis etwa in den Diskursen über die kulturelle (und materielle) Differenz der Kontexte zum Ausdruck. Ich habe oben bereits existierende Vorstellungen der Unterschiedlichkeit der Kontexte rekonstruiert, die Deutschland aufseiten des materiellen »Reichtums« (gegenüber Armut) und des »Hilfe« bzw. »Zusammenarbeit« oder »Partnerschaft« anbietenden Parts verorteten: Vorstellungen eines besonderen Erlebnisses, das im südlichen Afrika, anders als etwa in Australien, möglich scheint; Erwartungen an das Erlebnis eines Kulturschocks in Tansania, die auf die Diskurse über die kulturelle und materielle Differenz von Zugehörigkeitskontexten verweisen; Zuschreibungen von »Freiheit« und »Demokratie« zu Deutschland/Globaler Norden; usw. Diese Diskurse finden in meiner Lesart gewissermaßen ihren Spiegel in Erwartungen Kais und Anns an die weltwärts-Zeit. Die Relationen finden sich nicht nur symbolisch, sondern auch institutionell und ökonomisch gestützt und haben eine Geschichte und Gegenwart. Dass (Im-)Mobilitäten und Migrationen selten zufällig sind, sondern vor dem Hintergrund spezifischer Geschichte und Gegenwart der Relation der Kontexte stattfinden, habe ich bereits zuvor mit Verweis auf Castro Varela (2016) argumentiert (vgl. Kap. 3). Aspekte dieser Relation werden etwa in der institutionellen Förderung der Mobilität der weltwärts-Freiwilligen und der professionellen Entwicklungszusammenarbeit ohne gleichwertige bzw. gleichwertig gerahmte Mobilitätsformen in die andere Richtung erkennbar. Sie zeigen sich weiterhin in der bereits angesprochenen kolonialen Kontinuität in Kategorien rassifizierter Gruppenzugehörigkeit wird dadurch als kontextbedingt und kontextrelativ erkennbar.

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

den rassifizierten Anrufungspraktiken der Kontexte der Mobilität. Während in Tansania, wie ich in Rekurs auf Eriksson Baaz argumentiert habe, Diskurse über die »Weißen« im Generellen und die »Deutschen« im Speziellen existieren, die sich seit der Kolonialzeit gehalten und in den Sprachgebrauch eingeschrieben haben, erzählt auch Ann (Z.105ff.) in Hinsicht auf Mosambik von weiter existierenden Verbindungen zwischen Mosambik, Angola, Brasilien und Portugal (der ehemaligen Kolonialmacht in diesen Ländern). So habe es viele portugiesische Produkte zu kaufen sowie brasilianische Telenovelas und angolanische Musik in Mosambik zu sehen und hören gegeben. Auch berichtet sie von einem Bekannten, einem Freiwilligen mit »deutsch-portugiesischem« Hintergrund, bei dem sofort der mit dem Kolonialismus assoziierte portugiesische Akzent erkennbar gewesen sei. Dieser Freiwillige sei auf viel Abwehr gestoßen, weil der portugiesische Kolonialismus in Mosambik noch sehr präsent gewesen sei. Wenn Portugal thematisiert wurde, habe es eine »Anspannung oder irgendwie so (.) kein gutes Bild und keine gute Erinnerung« (Z. 1102) gegeben, erläutert sie. Dies sei auch bei jüngeren Mosambikaner*innen, die den Kolonialismus nicht mehr erlebt haben, der Fall gewesen. Ann erzählt in Hinsicht auf Mosambik, das neben portugiesischer auch deutsche Kolonialgeschichte hat, auch von einem Stück DDR-Geschichte, das ihr in Form einer Bewegung ehemaliger mosambikanischer Vertragsarbeiter*innen in der DDR begegnete, die auf die Auszahlung derjenigen Löhne warteten, welche ihnen bisher von der mosambikanischen und/oder deutschen Regierung vorenthalten wurden (Z. 871ff.). Auch hier kann ein spezifisch ungleiches Verhältnis erkennbar gemacht werden: Während die Geschichte mit bzw. in Deutschland für die betroffenen Mosambikaner*innen noch eine wichtige Rolle spielt, ja spielen muss, insofern hier Gehälter ausstehen, so ist die Geschichte mosambikanischer Vertragsarbeit in der DDR in der bundesdeutschen Erinnerung so gut wie nicht präsent (vgl. Goel 2013). Die Anrufungen in rassifizierten Identitätskategorien, die ich in den Erzählungen Anns und Kais rekonstruiere, können also als kontextbedingte und kontextrelationale Konstruktionen rassifizierter Differenz gelesen werden und das heißt, als Ausdruck des rassifizierten Charakters der Zugehörigkeitsordnungen innerhalb derer ihre Mobilität stattfindet. Zuvor habe ich argumentiert (vgl. auch Kap. 2), dass Zugehörigkeitsordnungen in unterschiedlicher Weise auf Rassifizierungsprozesse zurückgreifen, um Einund Ausschlüsse durchzusetzen. Diese beeinflussen dann die Möglichkeiten der individuellen Zugehörigkeitspositionierungen Kais und Anns. Auch wenn dies von Ann und Kai also nicht immer expliziert wurde, lässt sich als

9 Aneignungsweisen rassifizierter Zugehörigkeitskategorien der Mobilität

übergreifende Gemeinsamkeit der Erzählungen festhalten, dass die Rassifizierung der Kontexte ein die Mobilitäten und ihre Zugehörigkeitsordnungen dominant strukturierender Aspekt war. Dabei ließ sich eine hierarchische Relation feststellen, die sich auf die Geschichte und Gegenwart der (gewaltvollen) (post-)kolonialen Beziehungen der Kontexte zurückführen lässt. Wenn nun die weltwärts-Mobilität in Mosambik und Tansania privilegiert positioniert ist, anders als in Deutschland die tansanische oder mosambikanische Mobilität, kann dies als Ausdruck der institutionalisierten Mobilität wie auch des historischen und aktuellen Verhältnisses interpretiert werden, in dem die Kontexte zueinander stehen. Dieses Verhältnis, so habe ich mit Huffer zuvor argumentiert, mag sich mitunter auch in der und durch die Praxis der entwicklungspolitischen Mobilität legitimiert finden. Die Erzählungen über die weltwärts-Mobilitäten, so möchte ich festhalten, ließen rassifizierte und rassifizierende Diskurse der kulturellen und materiellen Differenz der Zugehörigkeitskontexte erkennbar werden. Diese dienen, wie ich zu zeigen versucht habe, der Herstellung ungleich verteilter Zugehörigkeit innerhalb der einzelnen Kontexte. Nicht zuletzt wurde darin aber auch die Relationalität von natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitskontexten sichtbarer, eine Relationalität, die auf die Geschichte und Gegenwart der ökonomischen, militärischen, entwicklungspolitischen usw. Verbindungen der Zugehörigkeitskontexte zurückgeht und die die Einstellung zu und Erwartungen an die Mobilität mit rahmte. Dies wurde durch den Einbezug der postkolonialen und rassismuskritischen Perspektive sichtbar gemacht, auch wenn eine Hervorhebung dieser Verbindungen nur ausschnittsweise geschehen konnte.

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10 Aneignungsweisen von Bildung im Kontext der Erzählungen der Mobilität

Vor dem Hintergrund der voranstehenden Kapitel möchte ich mich nun mit »Bildung« einem weiteren Topos meiner Arbeit nähern. Ich tue dies zunächst, indem ich Kais und Anns Antworten auf die Frage am Ende des Interviews nachgehe, was sie jeweils denken, aus ihrer Zeit »mitgenommen« zu haben. Diese Frage erachte ich in mehrfacher Hinsicht als interessant. Ich fand sie von Beginn an bedeutend, da ich mich ja in der vorliegenden Arbeit auch für Bildung interessiere, aber ebenso ambivalent, frage ich doch nach etwas, das ich erst untersuchen möchte, setze jedoch dessen Möglichkeit und Existenz in dieser Frage bereits voraus. Ich verstehe dies auch als Hinweis auf meine eigene Eingebundenheit in Diskurse der Möglichkeit von Bildung. Dazu, dass ich davon ausgehe, dass sich irgendetwas in welcher Form auch immer mitnehmen lässt, werden sich meine Gesprächspartner*innen also in irgendeiner Form verhalten müssen. Zudem ließe sich mit Schäfer (2011b: 9) argumentieren, dass sich im Reisen die archetypische Vorstellung der »bildenden Erfahrung« wiederfindet. So ließe sich annehmen, dass die Frage auf eine besondere Resonanz stoßen wird. Im Laufe der Zeit fand ich die Frage aus diesem Grund immer interessanter und bedeutsamer, insofern damit eben eine Antwort evoziert wird, die auf die Vorstellung der Möglichkeit von Bildung zurückgreift und diese im Kontext »solch« einer Zeit sogar gewissermaßen als »natürlich« annimmt. Nicht zuletzt hat es die Ausrichtung auf Lernen und Bildung auch bis in die weltwärts-Leitlinien geschafft (vgl. Kap. 2, Kap. 3). Die Möglichkeit von Bildung im Kontext der Mobilität findet sich also auch in die institutionelle Rahmung von weltwärts eingeschrieben. Ich gehe im Folgenden also zunächst Anns und Kais Antworten auf diese Frage nach, um sodann weitergehende Überlegungen zu Bildung anzustellen (vgl. Kap. 11).

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

10.1

(Re-)Positionierung gegenüber Rassismus (Ann)

ähmm äh, also ich glaub auf jeden Fall, ich hab, mir ist vieles danach halt sehr viel bewusster geworden auch dann auf bezogen auf mein Leben, was ich davor hier hatte, so ähm (.) und wie gesagt, halt durch diese Rückkehrarbeit, wo ich gemerkt hab, dass da Leute und weiter sich in bestimmten Organisationen zu bestimmten Themen engagieren und ich irgendwie halt aufmerksam geworden bin und einfach auch mehr drauf geguckt. (Ann: Z. 1204-1208) Ann scheint die Antwort auf meine Frage danach, was sie »mitgenommen« habe, zunächst nicht ganz leicht zu fallen bzw. ihre Antwort ist alles andere als eindeutig, wenn sie sagt, dass sie »glaube«, ihr sei etwas in Hinsicht auf ihr Leben »davor hier« »sehr viel« bewusster geworden. Wie bereits zu Beginn unseres Interviews verweist Ann auf die »Rückkehrarbeit« von weltwärts, durch die sie mit Menschen in Kontakt gekommen ist, die »sich in bestimmten Organisationen zu bestimmten Themen engagieren«, und die sie selbst aufmerksamer gemacht habe.

10.1.1

Gesteigerte Emotionalität gegenüber rassistischen Repräsentationen

Ann verweist auf mehrere Beispiele, etwa aus ihrer (Berufs-)Biografie, in denen ihr nun die Repräsentationen von Schwarzen Menschen als entweder fehlend oder als klischeehaft auffallen (vgl. Ann: Z. 1204-1225). Auch sie selbst, so erzählt sie, habe sich daran beteiligt und entsprechende Klischees bedient. Während Ann in der bisher interpretierten Erzählung den Fokus auf Aspekte legte, von denen sie angibt, sie seien ihr im Anschluss an die weltwärts-Zeit bewusster geworden, so verändert sich der Modus der Erzählung in den folgenden Passagen. Ann hebt nun hervor, eine gesteigerte Emotionalität entwickelt zu haben, in Hinsicht auf vorherrschende Repräsentationen von Schwarzen Menschen sowie der Kollaboration anderer – sowohl Weiß wie Schwarz und PoC positionierter Menschen – mit dieser Art der Repräsentation. Diese gesteigerte Emotionalität ärgere sie allerdings mitunter auch, insbesondere da es ihr nun schwerer falle, Abstand zu gewinnen, was ihr früher leichter gefallen sei: ja und ich merk auch, dass ich manchmal, und das ärgert mich dann manchmal bei manchen Sachen dann auch, weil das dann immer gleich so emotional irgendwie wir (…). (Ann: Z. 1238-1240)

10 Aneignungsweisen von Bildung im Kontext der Erzählungen der Mobilität

Oder: und sowas merk ich, dass ich bei manchmal in manchen Situation bei solchen Themen sofort, dass es viel dass gleich emotional total reagier und/I: mhm/A.: da dann nicht Abstand irgendwie gewinnen kann und das ärgert mich dann manchmal n bisschen und das war früher nich so sehr, das merk ich. (Ann: Z. 1260-1264) Ärger über eine bestimmte vorherrschende – rassifizierende – Repräsentation »Schwarzer Menschen und PoC« bemächtigt sich Anns mitunter, so erzählt sie in dieser Sequenz. Das gehe mit einer fehlenden »Kontrolle« einher, die sie dabei ebenso zu ärgern scheint, wie die Art der Repräsentation und die Kollaboration anderer mit der Repräsentation, die den Ärger bzw. »so ne richtige Aggression« auszulösen im Stande ist. Ann konkretisiert in dieser Passage, dass ein Unterschied zu früher nicht nur darin bestehe, dass ihr rassistische, klischeehafte Repräsentationen nun an Stellen auffielen, an denen dies zuvor nicht der Fall war, sondern auch darin, dass sie sehr emotional auf diese reagiere. Den Ärger über die Emotionalität bringt sie mit einer ihr nun fehlenden Möglichkeit zur Distanznahme in Verbindung. Der Grund für den Ärger über die veränderte, schwierigere Distanzierung bleibt dabei unbenannt.

10.1.2

Reflexion: Freunde und Rassifizierung

Im Anschluss greift Ann die zu Beginn und im Laufe des Interviews bereits an einigen Stellen angestellte biografische Spurensuche wieder auf und geht der Frage nach, inwiefern die rassifizierte und rassifizierende Anrufung Einfluss auf ihre biografischen Erfahrungen gehabt haben mag, diesmal in Hinsicht auf Freundschaften: ähm (…) ja (…) (…) mmm (…) ja und dass ich mir auch, dass ich auch gemerkt hab, so die Freunde (.) also ich will das auch (lacht) nicht nur auf die Hautfarbe beziehen, ich weiß auch nicht, ob das so wirklich so ausschlaggebend ist, aber ich hab gemerkt, dass die Freunde, die (kurze Pause, einatmen) für längere Zeit eng bei mir blieben d so äh, dass sie oft ähnliche Erfahrungen gemacht haben (Stimme wird höher) und vielleicht auch unbewusst oder aus, hmm also es sind viele von meinen Freunden sind, ähm, is ein Elternteil Schwarz, ein Elternteil Weiß fast immer (lachend) sind die Eltern getrennt, ähm, ich glaub, ich bin eine der einzigen, wo dann mmm ein Elternteil nich n neuen Partner oder andere Kinder noch daz mit ner anderen Frau hat ähm

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

(.) aber sonst sind viele Sachen sehr ähnlich so von unseren Geschichten und (.) ja ich fühl mich da oft halt sehr verstanden und ähm mich dann auf ne bestimmte Weise sehr wohl. (Ann: Z. 1227-1236) Zunächst schränkt sie ein, dass sie, was sie mir erzähle, »nicht nur auf die Hautfarbe beziehen« möchte, weil sie gar nicht genau wisse, ob Rassifizierung bzw. »Hautfarbe« eigentlich der bedeutendste Aspekt dabei sei. Wie bereits zuvor im Zusammenhang mit der Reflexion der Situation in der Grundschule und den Überlegungen zur Bedeutung rassifizierter Anrufung in dieser Zeit, bleibt Ann auch in dieser Sequenz in einem vorsichtigen, mehrdimensionalen Modus der Reflexion. Es sei aber auffallend, dass Freunde, die über längere Zeit hinweg enge Freunde blieben, »ähnliche Erfahrungen« in Hinsicht auf Anrufungen in rassifizierten Zugehörigkeitskategorien gemacht hätten. Die ähnlichen Erfahrungen bestünden darin, getrennte Eltern zu haben, wobei ein Elternteil jeweils Schwarz und einer Weiß seien. Unterschiede findet sie in Hinsicht auf neue Partner*innen und Kinder der Eltern, die die Eltern der Freunde bzw. die Väter, wie implizit deutlich wird, aber nicht ihre eigenen Eltern haben. Sie hebt aber hervor, dass Gefühle des VerstandenSeins und Wohlfühlens, die sie mit diesen Freunden in Verbindung bringt, sich auch auf die ähnlichen Geschichten zurückführen ließen. Ob es unbewusst geschehe, dass diejenigen Freunde, die mit ihr diese Erfahrungen teilen, sie deswegen länger begleiteten, könne sie nicht genau sagen. Auch wenn sie vorsichtig bleibt, die geteilte Biografie in rassifizierten Verhältnissen und ihre Auswirkungen auf Eltern und Kinder für die Auswahl und das Wohlfühlen im Kontext ihrer Freundschaften verantwortlich zu machen, so scheint sie diese aber andererseits auch mit Sicherheit nicht für irrelevant zu halten.

10.1.3

Bewusstsein und Bedürfnis: Die Bedeutung Südasiens

Ann erzählt von Bekannten aus ihrem Umkreis, von denen derzeit viele in den Urlaub nach Südasien reisen und davon mit Begeisterung berichten würden. Dabei bringt sie Bedauern darüber zum Ausdruck, selbst so wenig über Südasien zu wissen, während sie von anderen begeisterte Berichte darüber hören muss. Ich habe dies bereits zuvor aufgegriffen. und dann hat merk ich auch, ich hatte oft jetzt die Gelegenheit eigentlich gehabt und/I: mhm/A.: es hätte zeitlich und finanziell super geklappt, was worans sonst vielleicht gescheitert wäre und ich hab immer versu immer n Grund gefunden, es doch nicht zu machen und irgendwie, weil ich (.) auch

10 Aneignungsweisen von Bildung im Kontext der Erzählungen der Mobilität

irgendwie n bissen Angst hab oder auch nicht genau nicht alleine hinreisen möchte, aber auch nicht genau weiß, mit weeem, weil ich es dann doch für mich erfahren möchte so und ich will aber auf keinen Fall mit meinem Vater, weiß ich irgendwie ich will, dass ähm (.) mmm/I: mhm/A.: ja ich wills einerseits alleine aber irgendwie doch jemanden haben, wo ich weiß, er der kommt aus meiner Welt irgendwie und da kann ich kann ich dann jederzeit irgendwie ins sichere Umfeld so zurück, ja, und ähm das Bedürfnis hatt ich davoor gar nicht so oder hab ichs (unverständlich) kam immer da, ich war eh nur zweima, aber ich dacht mir so, ja wir fahrn in Urlaub halt so, ähm, gesehen und ja Cousinen treffen und so, aber/I: mhm/A.: so wirklich auch als Teil meiner Familie, da is einfach der (.) Bezug nicht so da, ja und das ist halt irgendwie so nach Mosambik so diese Sachen sind äh ja sehr aktueller geworden als davor und mir einfach mehr bewusst auch geworden das ja. (Ann: Z. 1274-1295) Nun sei es aber so, dass sich ihr bereits vielfältige Möglichkeiten dazu geboten hätten, nach Südasien zu reisen, es auch zeitlich und finanziell gepasst habe, sie jedoch immer einen Grund gefunden habe, dies dennoch nicht zu tun. Es sei irgendwie eine »Angst« vor der Reise da, die sie bisher daran gehindert habe. Zudem brauche sie eine Person, die sie begleite, die nicht ihr eigener Vater sei und aus »meiner Welt« komme, um es ihr zu ermöglichen, immer »ins sichere Umfeld« zurückkehren zu können. Irgendeine Gefahr und Befürchtung verknüpft Ann mit der Reise in das Land der Herkunft ihres Vaters bzw., wie sie zuvor argumentierte, wo ein »Teil von ihr selbst« herkommt. Eine Gefahr, die dem Bedürfnis, nach Südasien zu reisen, gegenüberzustehen scheint, das, so erzählt sie, deutlich aktueller geworden ist. Das Bedürfnis, Südasien kennenzulernen, wird von ihr als etwas markiert, das sich erst vor dem Hintergrund ihrer Zeit in Mosambik entwickelt hat. Zuvor sei der Ort der Herkunft des Vaters für sie ein Urlaubsort gewesen, an dem sie erst zweimal gewesen sei und zu dem dann natürlich auch das Treffen von Cousinen dazugehört habe, zu denen ihr aber der Bezug fehle. Dieser Ort ist nun mit Bedeutung aufgeladen, einer Bedeutung, die sie mit einer Vorsicht vor der Konfrontation mit Südasien artikuliert. Diese Vorsicht hat, so macht sie deutlich, damit zu tun, dass sie nicht weiß, was sie in der Auseinandersetzung mit diesem »Teil ihrer selbst« erwarten muss. Dass sie ihren Vater dabei nicht im Kontext des »sicheren Umfeld[es]« positioniert, ist ein Zeichen für dessen vermutlich eher geringe Präsenz in Anns Leben, aber auch für die Bedeutung, die der rassifizierte Diskurs über Zugehörigkeit gewonnen haben mag.

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

10.1.4

Bildungstheoretisch orientierte Lesart der Positionierung Anns

Ann erzählt von ihrer Suche nach der biografischen Bedeutung ihrer spezifischen Anrufung als Schwarz/PoC und des sich so Positionierens. Sie markiert den Kontakt mit einer Gruppe Menschen, die die Selbstpositionierung und Anrufung als Schwarz und/oder PoC thematisiert und reflektiert und deren Mitglieder ebenfalls an einem entwicklungspolitischen Freiwilligendienst teilgenommen haben, als wichtig für diese Auseinandersetzung. Den Kontakt mit den Menschen dieser Gruppe bringt sie mit einem gesteigerten Interesse, einem Gefühl des Verstanden-Werdens und des Sich-Identifizieren-Könnens in Verbindung. Sie markiert ihn demnach in meiner Lesart des Transkripts als bedeutsamen Auslöser für die Reflexionen und Auseinandersetzungen, von denen sie mir im Interview berichtet. Ann erzählt mir daran anschließend in bewertend reflektierender Einstellung von Ausschnitten aus ihrer Biografie und der weltwärts-Zeit. Sie unterzieht diese dabei – in Hinsicht auf die weltwärts-Zeit weniger dominant – einer Re-Evaluation bezüglich der Bedeutung, die ihrer eigenen Anrufung als Schwarz/PoC zukommt, und vermittelt mir den Eindruck, auf der Suche danach zu sein, wie sie sich selbst in Bezug auf rassifizierte Anrufungen positioniert bzw. positionieren möchte bzw. welche Möglichkeiten der Positionierung ihr vor dem Hintergrund der Anrufungen gegeben sind. In der Diskussion und Interpretation der Erzählungen ist auch zu berücksichtigen, dass ich selbst dominanzkulturell Weiß und männlich positioniert bin und damit auch die Gefahr besteht, dass ich mich in eine von Eggers beschriebene Produktion rassistischen Wissens einreihe, des »›Sprechen-Über‹ rassistisch markierte Subjekte[,] und mich dabei »hierarchisch als Wissende[r]« (Eggers 2017: 62) positioniere. Welche rassifizierten Wissensstrukturen der Migrationsgesellschaft ich dabei wieder mit hervorbringe, ist eine bedeutende Frage, ebenso wie die, welchen Einfluss meine Zugehörigkeiten auf die Erzählung Anns gehabt haben mögen. Auf diese Fragen lässt sich nur schwerlich eine eindeutige Antwort geben. In den Reflexionen jedenfalls, von denen sie mir erzählt, verdeutlicht Ann, so wie ich ihre Erzählung interpretiere, dass sie ihre Erfahrungen in den Kontext rassistischer Diskriminierung einordnen kann, aber dabei gleichzeitig auch Unterschiede zu den Erfahrungen anderer feststellt. Daraus ergibt sich für sie (und/oder für mich) eine Frage nach dem Wie der eigenen Betroffenheit von der Rassifizierung der natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnungen. Von dieser Frage und der reflektierenden Suche danach, diese besser zu verstehen, berichtet sie mir.

10 Aneignungsweisen von Bildung im Kontext der Erzählungen der Mobilität

In den Reflexionen von Biografie und weltwärts-Zeit werden Aspekte dieser spezifischen Anrufung und ihrer spezifischen Positionierung rekonstruierbar. In Mosambik, so meine Interpretation, wird Ann vor dem Hintergrund der nicht eintreffenden Erwartung, in der »Masse« untergehen zu können, die zugehörigkeitskontextspezifische Struktur von Rassifizierung bewusster. Diese Erfahrung bringt sie dazu, der Bedeutung südasiatisch-deutscher Rassismuserfahrung in Deutschland genauer nachzugehen. Ich habe die kontextund zeitbedingten Variationen der Rassifizierung sozialer Strukturen in Rekurs auf Harrison, Eriksson Baaz und Jolly (vgl. Kap. 2, Kap. 3) zuvor beschrieben und möchte unter Verweis auf Harrison noch einmal daran erinnern: »[E]ach nation state, each political system, each cultural system necessarily constructs a unique racialized social structure, a particular complex of racial meanings and identities« (Winant 1994: 123, zitiert nach Harrison 2002: 151). Unter Rekurs auf Goel hatte ich zudem argumentiert, dass auch im natioethno-kulturellen Zugehörigkeitskontext Deutschland unterschiedlich konstruierte rassifizierte Gruppen hervorgebracht werden (vgl. Kap. 9). In dieser Lesart der Erzählung Anns lassen sich dann Bildungsprozesse rekonstruieren, und zwar als Prozesse, die vor dem Hintergrund der Frage nach der eigenen Anrufung und Positionierung in rassifizierten Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen stattfinden und diese in ihrer Gewaltförmigkeit und Konsequenz für Ann selbst befragen. Diese Bildungsprozesse können als transformativ beschrieben werden, weil sie Auswirkungen auf die Positionierung Anns haben. So interpretiere ich Anns Erzählung, dass ihr rassistische Repräsentationen, die ihr vor der weltwärts-Zeit und dem Kontakt mit der Gruppe so nicht aufgefallen seien, sie ihre eigene biografische Komplizenschaft mit rassistisch konnotierten Repräsentationen nun aber bemerke. Dass sie angibt, diese Rassismuserfahrungen vor der weltwärts-Zeit nicht thematisiert zu haben, ließe sich vor dem Hintergrund der vorangehenden Diskussion auch so verstehen, dass dies mit der Diskreditierung von »Rasse«Kategorien in Deutschland und einem korrespondierenden »Verlernen« ihrer Relevanz zu tun hat. Die Auskünfte über ihr Aufwachsen ließen sich dann in Charakterisierungen der deutschen/europäischen Gegenwart einordnen, die sich noch immer dadurch auszeichnet, die Präsenz von Rassismus im Alltag häufig zu verleugnen. Das vorherrschende Verständnis des Zugehörigkeitskontextes Deutschland als ein Kontext ohne Rassismus mag es Ann in dieser Lesart schwer machen, sich mit der Bedeutung der rassifizierten Positioniertheit für sie selbst auseinanderzusetzen bzw. entsprechende Situationen in dieser Hinsicht zu interpretieren, im Sinne von: Wo es keinen strukturel-

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

len Rassismus gibt, kann ich auch keine Rassismuserfahrungen machen. Um mit Ahmed (2007: 157) zu sprechen: »Whiteness is only invisible for those who inhabit it, or those who get so used to its inhabitance that they learn not to see it, even when they are not it.« Wie Linnemann, Mecheril und Nikolenko (2013: 12) argumentieren, ist darüber hinaus Rassismus auch für Personen, die Rassismuserfahrungen machen, nicht immer ein einfaches Gesprächsthema: »Denn das Gewahrwerden eigener Rassismuserfahrungen kann eine Ernüchterung im Hinblick auf die eigene gesellschaftliche Position nach sich ziehen und auch mit Erinnerungen an schmerzvolle Erfahrungen verknüpft sein.« Insofern ist es eine mögliche Lesart, dass die Auseinandersetzung mit Rassismuserfahrungen auch der Ressourcen für die Auseinandersetzung bedarf, da in dieser Auseinandersetzung eigene strukturelle Benachteiligungen wie auch interaktionelle (De-)Privilegierungen deutlich werden. Ann präsentiert sich darüber hinaus in der Reflexion ihrer eigenen Anrufung als selbstwirksam(er) und handlungsfähig(er) (als andere), indem sie auf ihre Ressourcen/Privilegien verweist, die sie in ihrem Zugang zu formaler Bildung, zur weltwärts-Mobilität, in biografischen, ökonomischen und sozialen Ressourcen sieht. Dabei präsentiert sie den Erfahrungsaustauch in einer Gruppe als soziale Ressource und sodann als bedeutsamen Hintergrund und Anstoß für die Befragung ihrer eigenen rassifizierten Positionierung. Dies scheint wichtig zu sein. So weisen etwa Castro Varela und Dhawan (2004: 221) auf die Bedeutung hin, die Ressourcen als »Widerstandpotentiale« im Kontext von »Vulnerabilität« zukommt. Gleichzeitig präsentiert sich Ann als im Vergleich zu Freunden und Bekannten, die sich ebenfalls Schwarz und/oder PoC positionieren oder positioniert sehen, als relativ privilegiert. Die weltwärtsErfahrung mag ebenfalls einen Teil zu dieser Positionierung beitragen, insofern Ann davon erzählt, dass ihr in diesem Zusammenhang ihre eigene Zugehörigkeit zum natio-ethno-kulturellen Kontext Deutschland/Globalen Norden bewusster geworden sei, auch und vor allem, indem sie sich als privilegiert erlebt habe. Ann bleibt gleichzeitig nicht nur bei dieser Problematisierung von Rassismus in Hinsicht auf ihre Selbst- und Fremdverhältnisse stehen, sondern problematisiert auch Weltverhältnisse in Form von strukturellem Rassismus. In diesem Zusammenhang erzählt sie, auf ihr eigenes früheres Selbst reflektierend, von biografischer Komplizenschaft mit rassistisch konnotierten Repräsentationen von als Schwarz und PoC angerufenen Menschen. Sie ärgere sich nun anders als früher über diese Repräsentationen sowie darüber, wenn die Art der rassifizierten Repräsentation von den Akteur*innen nicht

10 Aneignungsweisen von Bildung im Kontext der Erzählungen der Mobilität

bemerkt werde und/oder in denen – von der rassistischen Repräsentation negativ – Betroffene diese stereotype »Rolle« mitspielen. Etwas, dass sie, wie sie selbstkritisch anmerkt, selbst zuvor auch gemacht habe. Sie macht dabei die Bedeutung von Repräsentation im Kontext von Verteilungsgerechtigkeit zum Thema, die etwa Fraser (2009) thematisiert und die Auseinandersetzungen um Teilhabe und Zugehörigkeit (Hall 2008) zukommt. Diese ist seit einiger Zeit auch bedeutender Aspekt der Kämpfe um natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit. Wie Hall in Hinsicht auf Großbritannien argumentiert, kommt der Art der Repräsentation wesentliche Bedeutung für die Möglichkeiten der Zugehörigkeit in natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnungen zu: Even so called »civic« states, like Britain, are deeply embedded in specific »ethnic« or cultural meanings which give the abstract idea of the nation its lived »content«. The National Heritage is a powerful source of such meanings. It follows that those who cannot see themselves reflected in its mirror cannot properly »belong«. (Hall 2008: 74) Anns Erzählung möchte ich mit der Perspektive auf Bildung als eine verstehen, in der sie von bedeutsamen (Re-)Positionierungen in Hinsicht auf ihren Selbstbezug berichtet. Sie problematisiert dabei die rassifizierte Ausgestaltung von Fremd- und Weltverhältnissen, geht ihrer eigenen Positioniertheit darin nach und problematisiert auch die Anrufung und Positionierung anderer in dieser Hinsicht. Sie erzählt, sich durch Erfahrungen und den Austausch über Erfahrungen Wissen angeeignet zu haben, und dies führt zu einer anderen Verortung in Hinsicht auf sich selbst, andere und die Welt, die sodann auf die Legitimität ihrer Rassifizierung hin befragt wird und deren Rassifizierungsprozesse auf allen drei Ebenen, auf ihren eigenen früheren und aktuellen biografischen Lebenskontext bezogen, problematisiert werden. Bedeutsam scheint mir zudem der von ihr entschuldigend angeführte Verweis auf Emotionalität zu sein, die sich gesteigert habe. Dem möchte ich weiter unten etwas genauer nachgehen (vgl. Kap. 11).

10.2

(Re-)Positionierung gegenüber (antimuslimischem) Rassismus (Kai)

Kai markiert meine Frage danach, was er »mitgenommen« habe, als eine »schwere Frage, die er nicht so einfach beantworten könne:

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Ja, das is halt irgendwie so was, wo ich auch jetzt nach wie viel, August, so vier, fü/vier, viereinhalb Monaten, ähm, halt irgendwie noch immer nich so ne Antwort drauf geben kann. Weil, aber f/weil ich denk mir oder vielleicht schütz ich mich sogar so n bisschen hinter der Aussage, dass sich das noch zeigen wird. Ähm, aber was ich so irgendwie mitnehm, ja, also find ich halt echt ne schwere Frage zu beantworten und ich kanns auch nich so gut, aber […]. (Kai: Z. 698-702) Zwar scheint er der Relevanz meiner Nachfrage zuzustimmen, gleichzeitig verweist er auf einen zeitlichen Aspekt »viereinhalb Monate«, der es ihm bisher »noch immer nicht« erlaube, eine Antwort auf meine Frage zu geben. Diese Erläuterung deutet darauf hin, dass ich nicht der Erste bin, der ihn danach fragt, was er aus seiner Zeit mitgenommen habe. Vielmehr scheint es, als spräche ich etwas an, das ihn selbst beschäftigt und nach dem ihn auch andere Menschen fragen oder über das andere Menschen – bspw. andere Freiwillige – untereinander und/oder mit Kai sprechen würden. Kai stellt in dieser Sequenz selbst Überlegung zu seiner Aussage an, es werde sich noch zeigen, was er mitgenommen habe. Eventuell sei es so, dass er sich »hinter der Aussage« »schütz[e]«. Was für eines Schutzes es aber in dieser Hinsicht bedürfen könnte, das bleibt offen. Die Verbindung von Selbstschutz mit der Schwierigkeit und/oder Vermeidung einer konkreteren Antwort auf meine Frage ist bemerkenswert. Was könnte passieren, wenn Kai dauerhaft nicht wissen sollte, was er »mitgenommen« hat? Welche Gefahr, welcher Makel würde dort lauern – im Nicht-Wissen? Welche Gefahr, welcher Makel in einer vorschnellen, erst auf viereinhalb Monate zurückgreifen könnenden Antwort? Oder weiß Kai eigentlich, was er »mitgenommen« hat, aber das Sprechen darüber ist aus irgendeinem Grund – zum Beispiel mir gegenüber – schwierig, könnte vielleicht nicht verstanden oder missverstanden werden und/oder nicht den Erwartungen an das entsprechen, was sich eigentlich »mitnehmen« lassen müsste? Gleichzeitig bestätigt Kai die Relevanz meiner Frage und positioniert sich selbst affirmativ gegenüber einer Erwartung an ihn, etwas »mitnehmen« zu müssen. Nur der Inhalt des Mitnehmens und die zeitliche Dimension der Möglichkeit, dazu etwas zu sagen, werden als schwierig markiert. Das »aber« am Ende der Passage deutet allerdings darauf hin, dass nun dennoch eine genauere Antwort folgen wird.

10 Aneignungsweisen von Bildung im Kontext der Erzählungen der Mobilität

10.2.1

Offensichtlich und weniger offensichtlich »Mitgebrachtes«

Zwar unterbreche ich anscheinend den Erzählansatz, der sich im »aber« äußert, mit dem die vorherige Passage endet, indem ich Kai vorschlage, eine eigene, bessere Frage zu stellen, wenn er dies möchte. Kai lehnt dies aber ab und nimmt den Erzählstrang stattdessen wieder auf: I: Stell, Stell einfach deine eigene Frage, die besser wäre/K. Nee, nee, also ich kann ja schon dazu noch, also, was ich halt so, ich hab einfach für mich so offensichtliche Sachen zum Beispiel bis dato so mitgebracht, ähm, einfach irgendwie so n, so n Interesse an der Kultur. Ähm, das, was bei mir so hängen geblieben is einfach. Ich würd sagen, dass ich durch meine Begegnungen einfach offener wurde. Ähm, aber das kann man ja auch irgendwie auf Reisen einfach so haben. Aber ich, ich merk halt, dass ich, ähm, aber wenn ich das so sag, find ich das auch immer n bisschen blöd, wie sich das anhört, aber so n bisschen, ähm, mit Ungerechtigkeit. Also so, so mit diesem Armutsbegriff. Das dann einfach, keine Ahnung, wenn das jetzt dann meine Mitbewohnerin dann so leichtfertig benutzt, find ich das halt einfach irgendwie auch so n bisschen den Leuten gegenüber ungerecht. Wenn die sich, ähm, weißt du, wenn du so über die urteilst, ohne halt wirklich was zu wissen. Ich mein, ich weiß selbst nichts und jetzt so nach nem Jahr. Das is irgendwie so wie bei, ne, Freunde finden, dass man einfach nach so kurzer Zeit, das is ja wirklich so nichts, ähm, so groß drüber urteilen kann. (Kai: Z. 703-716) In Hinsicht auf Sachen, die er »mitgebracht« habe, verweist er zunächst auf »so offensichtliche Sachen«. Bspw. sei »so n Interesse an der Kultur« bei ihm »hängen geblieben« und er sei durch seine »Begegnungen einfach offener« geworden. Allerdings schränkt er die Relevanz dessen für eine Antwort auf meine Frage insofern ein, dass er angibt, ein »Offener- Werden« sei kein Spezifikum der Mobilität, von der er berichte, sondern könne Ergebnis von Reisen im Generellen sein. Offensichtlich scheint das »Offener-Werden« insofern zu sein, als es auf etablierte Diskurse über die Begleiterscheinungen von Reisen verweist, etwa auf eine etablierte Vorstellung, dass die Begegnung mit Fremden und Reisen bildet. Denn ein Interesse und ein Offener-Werden scheint mir nur bedingt offen sichtbar zu sein und vielmehr auf eine allgemein geteilte Annahme zu verweisen, dass, wer reist, eben offener werde. Offensichtlich ist dies also deshalb, weil ja jede*r um diese »Sache« weiß.

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Darauffolgend kommt Kai – sehr vorsichtig und zurückhaltend, es ein »bisschen blöd« findend, wie sich das »anhört« – darauf zu sprechen, dass »etwas mit Ungerechtigkeit« vielleicht etwas sei, das er mitgebracht habe. Was er damit meint, verdeutlicht er zunächst mit Verweis auf seine Mitbewohnerin, die den Armutsbegriff »so leichtfertig« benutze. Diesen leichtfertigen Umgang empfinde er als »so n bisschen den Leuten gegenüber ungerecht«. Kai begründet dieses Ungerechtigkeitsgefühl damit, dass hier ein Urteil getroffen werde, ohne »wirklich was zu wissen«, und fügt erklärend hinzu, selbst auch »nach nem Jahr« »nichts« zu wissen und deshalb auch nicht »groß« darüber urteilen zu können. Dies sei wie bei einer Freundschaft, über die sich auch nicht »nach so kurzer Zeit« groß urteilen lasse. »Ungerechtigkeit« und »Armut« werden an dieser Stelle von Kai nicht in genereller Hinsicht thematisiert, d.h., nicht Armut im Generellen ist Gegenstand der Argumentation, sondern Armut als etwas, das mit dem südlichen Afrika verbunden und Deutschland hierzulande vergleichend gegenübergestellt wird. Er empfinde eine solche Kennzeichnung als arm den »Leuten gegenüber ungerecht«, weil dieses Urteil getroffen werde, ohne überhaupt wirklich etwas zu wissen. Dabei kennzeichnet er sich selbst ebenfalls als unwissend und nicht berechtigt, ein Urteil zu treffen. Diese Beurteilung anderer Kontexte jedoch, die er am Beispiel seiner Mitbewohnerin verdeutlicht, scheint ihm in Deutschland des Öfteren zu begegnen. Das Beispiel steht vermutlich exemplarisch für eine häufiger vorkommende Situation. Zudem markiert Kai es als eines, das für eine veränderte Haltung steht, für etwas, das er mitgenommen habe. Vorher, so lässt sich also folgern, habe er diese relationale Thematisierung von Armut »dort« nicht als problematisch angesehen.

10.2.2

Identifikation mit der Gastfamilie und Problematisierung von Pauschalisierungen

Kai spricht noch weitergehend zu »Sachen«, die er »mitgenommen« habe. Er bringt diese nun in Verbindung mit »Zugehörigkeit«: Äh, und so, so mit dieser, das fällt dann vielleicht auch so mit Zugehörigkeit zusammen. [wegen Anonymisierung weggelassen] Und ich hab dann wie so ne, ähm, Kollektivbindung an Muslime an sich. Halt, wenn, wenn jetzt halt, jetzt, sage ich mal, du würdest jetzt was über Muslime sagen, geht mir das halt schon nach und ich werd dann vielleicht auch nich mehr so rational sein, einfach, weil das dann für mich auch wie, ähm, n Angriff. Also je nachdem,

10 Aneignungsweisen von Bildung im Kontext der Erzählungen der Mobilität

wie dus formulierst, so n Angriff gegen den Glauben eines Teils meiner Familie is. (Kai: Z. 716-722) Während Kai zuvor über Ungerechtigkeit und in diesem Zusammenhang über das Beispiel Armut als etwas gesprochen hatte, über das sich nur schwerlich angemessen ein Urteil fällen lasse, zu dem er aber dennoch aufgefordert werde, erzählt er von einer »wie so ne, ähm, Kollektivbindung an Muslime an sich«. Diese führe dazu, unter Umständen »nich mehr so rational sein« zu können, wenn jemand etwas über Muslim*innen sagen würde, das er – in Abhängigkeit von der Art der Formulierung – als Angriff gegen den Glauben eines Teils seiner Familie empfände. In dieser Sequenz stellt Kai die Identifikation mit seiner Gastfamilie als sehr weitreichend dar. Sie ist nicht mehr »nur« seine Gastfamilie, sondern wird zu seiner Familie. Diese Identifikation mit seiner (Gast-)Familie führt zu seiner Positionierung, die dazu führt, dass er sich verpflichtet fühlt, sie bzw. ihren Glauben zu verteidigen und gegen als problematisch empfundene Aussagen vorzugehen. Dabei steht weniger seine spezifische (Gast-)Familie im Vordergrund, sondern vielmehr der »Glauben« der (Gast-)Familie. Also da, ich mein, das is auch einfach so n Grund, warum ich […] einfach mehr darüber erfahren will. Und ich finde, ähm, also, ne, es gibt halt hier einfach diese Debatte. Das is jetzt einfach, das is ja täglich in den Medien und immer, wenn ich halt irgendwie so was dagegen hör, is das halt wirklich für mich, ich/das is dann so in meinem Kopf, nich, dass du jetzt nur unbedingt was gegen die Angehörigen dieser Religion sagst, sondern dass du wirklich, das is ja einfach nen Teil von/Also ich seh die auch jetzt noch so als Teil meiner Familie. Zwar jetzt irgendwie anders als meinen Vater, aber nichtsdestotrotz gehören die halt zu mir. Und das is halt dann schon wie so was gegen die direkt. Ähm, und obwohl ich jetzt nicht Muslim bin, fühl ich mich einfach auch so mit denen verbunden. (Kai: Z. 726-734) Den »Glauben« seiner (Gast-)Familie markiert Kai zunächst als für sich persönlich bedeutsam. Er gehe diesem nach, wolle mehr darüber erfahren und das habe ihn auch weitergehend in seinem Leben beeinflusst. Kai kommt sodann auf »diese Debatte« »hier« zu sprechen. Etwas, »das«, sei »täglich in den Medien«, womit er auf »den« Islam verweist, weil er im Folgenden wieder zum Thema macht, sich angegriffen zu fühlen, wenn »ich halt irgendwie was dagegen hör«, und dieses »das« in Hinweis auf Angehörige der Religion (Muslim*innen) konkretisiert. Es schließt sich eine Argumentation an, in

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

der Kai mir noch einmal detaillierter erläutert, von welcher Relevanz seine Identifikation mit der (Gast-)Familie in dieser Sache für ihn sei. Zwar sei die Zugehörigkeit zu dieser irgendwie anders als zu seinem »Vater«, aber dennoch gehöre die Gastfamilie »zu mir«, sehe er sie als »Teil meiner Familie«. Aus diesem Grund, weil dieser Teil seiner Familie muslimisch sei, fühle er sich auch mit Muslim*innen verbunden, selbst wenn er selbst nicht »Muslim« sei. In weiteren Passagen des Interviews kommt Kai auf konkrete Beispiele zu sprechen, die er nun als problematisch empfinde bzw. von denen er sich angegriffen fühle. Das sind pauschalisierende Repräsentationen des Islam und Aussagen von Bekannten aus seinem Freundeskreis, die diese Pauschalisierungen unproblematisch finden würden. Diese Pauschalisierungen, so erzählt Kai, würden ihn weit mehr als zuvor beschäftigen und »mitnehmen«, vor allem, »dass die dann über so n Kamm geschert werden« (Kai: Z. 740). Kai verweist in diesem Zusammenhang neben als problematisch empfundenen Gesprächen mit seiner Familie, seiner Freundin und Bekannten erneut auf die »täglich[e Debatte] in den Medien« (Z. 728) und beispielhaft auf die mediale Darstellung eines Anschlages in Frankreich, der schnell von Politiker*innen und Medien als »islamischer Terroranschlag« (Z. 746) markiert worden sei, und zwar noch bevor es überhaupt genaueres Hintergrundwissen gegeben habe. Das Bild, das Kai von seiner Gastfamilie hat, den Glauben, den er dort kennengelernt hat, stellt er also Aussagen, Diskursen, Repräsentationsweisen des Islam in Deutschland gegenüber. Diese findet er problematisch. Sie treffen nicht zu und stimmen nicht mit seiner Erfahrung überein und deshalb und aufgrund seiner Identifikation mit der (Gast-)Familie muss diese des Öfteren von ihm »verteidigt« werden. Die Empfindung dieser Aussagen und Diskurse als problematisch bzw. Angriff wird von Kai als etwas präsentiert, das sich durch seine weltwärts-Zeit verändert habe, und kann insofern ebenfalls als Antwort auf meine Frage danach verstanden werden, was er denn aus dieser Zeit für sich mitgenommen habe. Während er insbesondere Diskurse über den Islam hervorhebt, geht die Konsequenz der Identifikation mit seiner Gastfamilie doch auch darüber hinaus: Ähm, das is’ halt, ich denk jetzt immer, wenn irgendwie so was verallgemeinert wird, sei’s jetzt die Muslime, aber genauso, wenn du jetzt so sagst, die Afrikaner. Ähm, hab ich dann halt immer, ne, das Bild meiner Familie im Kopf, wie ich dort gelebt hab, wie ich die Leute kennengelernt hab und setz

10 Aneignungsweisen von Bildung im Kontext der Erzählungen der Mobilität

das dann halt damit in Vergleich und es is’ dann halt oft einfach so, wo ich mir denk, nee. (Kai: Z. 776-781) Immer wenn etwas verallgemeinert werde, so argumentiert er nun und bezieht sich auf Verallgemeinerungen über Afrika, vergleiche er diese mit dem Bild, das er von seiner Familie im Kopf habe, damit, wie er selbst »dort« gelebt und die Leute kennengelernt habe. Vor diesem Hintergrund seien auch weitere Aussagen, etwa über »die Afrikaner«, häufig solche, »wo ich mir denk, nee«. Aus der Erzählung Kais lassen sich Rückschlüsse darauf ziehen, dass ihm Aussagen über »den« Islam, »die« Afrikaner*innen, »die« Armut des Öfteren in Deutschland in einer Art und Weise begegnen, die er vor dem Hintergrund seiner Erfahrung und Identifikation mit der (Gast-)Familie als problematisch empfindet.

10.2.3

Bildungstheoretisch orientierte Lesart der Positionierung Kais

Meine Frage, was er »mitgenommen« habe, regt Kai an, davon zu berichten, dass ihm im Anschluss an seine weltwärts-Zeit Diskurse in Deutschland über »den« Islam als problematisch auffielen. Er verweist dazu auf als problematisch empfundene Gespräche mit seiner Familie, seiner Freundin und Bekannten in Deutschland, auf tägliche Debatten über den Islam in den Medien sowie auf die Darstellung eines Anschlages in Frankreich, der schnell von Politiker*innen und Medien als »islamischer Terroranschlag« (Z. 739) markiert worden sei, noch bevor es überhaupt genaueres Wissen dazu gegeben habe. Er erzählt, sich von diesen Repräsentationen wie auch von den Aussagen anderer Leute über den Islam selbst angegriffen und »mitgenommen« zu fühlen und in solchen Situationen »nich mehr so rational« (Z. 713) sein zu können. Vor allem, so gibt er an, störe es ihn, »dass die dann über so n Kamm geschert werden« (Z. 733f.). Kai setzt seine veränderte Positionierung zuvorderst mit einem Zugehörigkeitsgefühl zu seiner Gastfamilie in Zusammenhang, mit der er auch weiter in Kontakt stehe und die er als »einfach nen Teil« von sich beschreibt. Er bringt die Konsequenzen dieses Gefühls der Zugehörigkeit zu seiner Gastfamilie für eine sich verändernde Lesart von Diskursen in Deutschland mit folgender Formulierung auf den Punkt: »Und ich hab dann wie so ne, ähm, Kollektivbindung an Muslime an sich« (Z. 711f.). Allerdings bezieht sich die Problematisierung von vorherrschenden Diskursen nicht nur auf »den« Islam, sondern auch auf weitere »Ungerechtigkeiten«, die er etwa an Diskursen über Armut und Pauschalisierungen über »die« Afrikaner fest-

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

macht. Die Erzählung lässt insofern den Eindruck entstehen, dass Kai sich gegenüber seiner Familie, Bekannten und medialen Diskursen in Deutschland nach seiner weltwärts-Zeit anders positioniert, als dies zuvor der Fall gewesen ist. Zentral wird von ihm in diesem Zusammenhang die Identifikation mit seiner Gastfamilie gesetzt, in die er sich aufgenommen fühlt bzw. die er als seine Familie annimmt. Er markiert in unserem Interview auch einen Moment, der von ihm wie eine Art Initiation erzählt und sehr emotional dargestellt wird, wie ein Übergang vom Gast zum Familienmitglied, in dem er auch die Bedeutung einer islamischen religiösen Tradition kennen und schätzen lernt: Das war ab Ende [Datum] und da war ich halt den kompletten [Monat] weg […] und kam dann halt wieder zu Hause an (.) und wo ich dann auch einfach, also da, ich hab in dem Jahr, ich glaub, nur zwei, drei Mal geweint, aber das war dann zum Beispiel auch son Moment, wo ich dann halt einfach so von allen so herzlich wieder empfangen wurd und wir haben dich so vermisst. Dann kamen halt so Sachen hinzu, wie es war halt während Ramadan, es war, ich glaub, zufällig Freitag, weshalb s noch mehr Leute als sonst waren. Und dann ham wir, ich glaub, mit 40 Leuten da so gegessen. Das war halt super schön und irgendwie ab dem Zeitpunkt bin ich wirklich kaum noch in die Stadt gefahren. (Kai: Z. 498-506) Die Bedeutung dieser Aufnahme in die Gastfamilie wird bestärkt durch meine Beobachtung in der Interviewsituation, dass Kai beim Sprechen über seine Gastfamilie sehr emotional wird und an dieser Stelle den Tränen nahe zu sein scheint. Was Kai nun an vorherrschenden Diskursen in Deutschland über »den« Islam benennt, ohne dass er es selbst so bezeichnen würde, lässt sich aus rassismuskritischer Perspektive als gesellschaftlich virulenter antimuslimischer Rassismus kennzeichnen (vgl. Attia 2017: 181; Attia/Keskinkiliç 2016; Messerschmidt 2008). Der antimuslimische Rassismus, darauf weisen Attia und Keskinkiliç (2016: 177) hin, kann auf eine lange Geschichte zurückblicken, mindestens bis ins 16. Jahrhundert, bspw. die rassistische Begründung der Christianisierung der iberischen Halbinsel im Zuge des katholischspanischen Krieges gegen die arabisch-muslimische Herrschaft. Im heutigen Deutschland steht den Autor*innen zufolge antimuslimischer Rassismus im Zusammenhang mit dominanzkulturellem Othering. Das bedeutet, wie ich zuvor in Anlehnung an Mecheril erläutert habe, dass antimuslimischer

10 Aneignungsweisen von Bildung im Kontext der Erzählungen der Mobilität

Rassismus im Zusammenhang mit der (Re-)Produktion spezifischer Zugehörigkeitsverständnisse und strukturell ungleicher Ressourcenverteilungen steht. Dazu Attia: »[D]er tradierte Orientalismus als antimuslimischer Rassismus in postkolonialen und postnazistischen Gesellschaften1 [wird] im Zusammenwirken mit Migrations- und Erinnerungspolitik als dominanzkulturelles Othering und gesellschaftliches Machtverhältnis erneuert« (Attia 2017: 181). Die Wirksamkeit dieser antimuslimischen Diskurse zeigt sich vielerorts, etwa in Debatten über sogenannte »Leitkultur«, die durch die »Islamisierung Europas« infrage stehe (vgl. Attia/Keskinkiliç 2016: 179), in Organisationen wie PEGIDA (»Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes«), in der Zuschreibung von übergriffiger Sexualität (Boulila/Carri 2017), in der Behauptung, der Islam passe nicht zu Deutschland (vgl. Foroutan/Ghamlouche 2011) usw. Diese Diskurse haben nach dem 11. September 2001 noch einmal an Dynamik auch innerhalb von Kreisen ehemals etablierter deutscher feministischer Linker gewonnen (vgl. Eggers 2017: 69). Ebenso weist Messerschmidt (2008: 43) darauf hin, dass sich Rassismus in Deutschland vornehmlich mit Verweis auf Kultur artikuliert, an koloniale Muster der »Über- und Unterlegenheit« anschließt und sich hier insbesondere in der »öffentlich praktizierte[n] Dichotomisierung von Muslimen und Nicht-Muslimen, bei der Muslime als potenziell bedrohlich repräsentiert werden« äußert. Gleichzeitig erläutert sie (ebd.), dass der Diskurs über »Muslim*innen« eher nicht als Rassismus erkannt wird, sondern gerade die Behauptung »kultureller Unvereinbarkeit« es ermögliche, »Rassismus unsichtbar werden zu lassen, ihn gar für überwunden halten zu können und sich doch der im rassistischen Diskurs herausgebildeten Vorstellungen von den Identitäten Anderer zu bedienen«. Rassismus, so Messerschmidt (2008: 43), sei weitgehend normalisiert, »alltäglich und banal« geworden. Als normalisierte Praxis fällt Rassismus vielen Menschen, die nicht-muslimisch und dominanzkulturell positioniert sind, nicht weiter auf. Attia (2017: 191) hebt wiederum die Bedeutung hervor, die dem Einsatz gegen die Diskreditierung von Muslim*innen sowohl von Muslim*innen als auch Nicht-Muslim*innen für die Dekonstruktion des antimuslimischen Rassismus und für die Verschiebung der Grenzen zwischen »›dem Eigenen‹ und ›dem Anderen‹« zukommt. 1

Es fehlt hier der Hinweis auf die sozialistische Geschichte Deutschlands. Es müsste eigentlich heißen: in postsozialistischen und postkolonialen und postnazistischen Gesellschaften.

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Die weltwärts-Zeit und seine Erfahrungen während dieser Zeit markiert Kai als etwas, an das er sich erinnert, wenn er mit rassistischen Diskursen über »die Muslime«, über »Armut« oder über »die Afrikaner« konfrontiert wird. Er erläutert, diese Diskurse mit seinen in dieser Zeit gemachten Erfahrungen bzw. mit seiner Erfahrung in der Gastfamilie zu vergleichen und unpassende Generalisierungen zu bemerken, wenn die Diskurse nicht mit seinem Bild im »Kopf« kongruent sind. Mecheril (2010: 12) schreibt, dass Migration natio-ethno-kulturelle Grenzziehungen problematisiere, und zwar weil symbolische Zugehörigkeitsordnungen, die auf geografische Kontexte der Migration in rassifizierender Art und Weise zur Etablierung der Ordnung verweisen, durch Migration und die Forderung nach Anerkennung der Zugehörigkeit herausgefordert würden. Anders und doch ähnlich, so ließe sich nun argumentieren, sind spezifische Rassifizierungsprozesse der natioethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnung Deutschland durch die Mobilität bzw. die Deutung der Erfahrung der Mobilität Kais durch Kai (und dann mich) herausgefordert. Die persönliche Erfahrung und Identifikation mit den von den Diskursen beschriebenen Menschen und ihrer Religion führt bei Kai, so lese ich seine Aussagen, zu Irritationen in Hinsicht auf spezifische rassifizierte vorherrschende natio-ethno-kulturelle Grenzziehungen und korrespondierende hegemoniale Unterscheidungen im Zugehörigkeitskontext Deutschland. Kais (Re-)Positionierung bezüglich dieser Diskurse und Praktiken lässt sich dann in einen Zusammenhang mit Bildung setzen, wie sie in dieser Arbeit verstanden wird, und zwar weil sie die natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnung Deutschlands in Hinsicht auf anti-muslimische Diskurse und Diskurse über Armut und Afrika problematisiert und sich Kai dadurch in ein anderes Verhältnis zu dieser Ordnung, ihren Diskursen und den diese vertretenden, für ihn relevanten anderen setzt. Zudem erzählt er, das Interesse an seiner Gastfamilie und ihrer Religion auch weiterzuverfolgen. Hier lässt sich dann auch von transformativen Prozessen sprechen, die sein Verhältnis zu sich selbst, zu anderen und zu Weltverhältnissen betreffen.

11 Schlussbetrachtung

Bisher habe ich Diskurse der entwicklungspolitischen Mobilität bzw. des allgemeinen Mobilitätsraumes anhand der Aneignungsweisen dieser Diskurse rekonstruiert. In diesem Zusammenhang habe ich auch explizite Aneignungsweisen von Bildung diskutiert. Dabei habe ich mich unter anderem an Schäfers (2011a: 137) Argument orientiert, dass eine Orientierung am »Bildungsversprechen« nicht bedeutet, dass eine »Subjektwerdung jenseits der Macht« vollzogen wird, sondern vielmehr auch als »aktive Funktion der Unterwerfung« verstanden werden kann, und zwar beispielsweise, indem sich das Subjekt »zum Ort einer ständigen Selbstprüfung macht und an der ständigen Selbstvervollkommnung im Medium des Wissens arbeitet«. Dieser Lesart folgend sind die auf fruchtbaren Boden fallende Frage danach, was »mitgenommen« wurde, und die produktive Beantwortung dieser Frage durch Ann und Kai auch als Hinweis auf die Wirkmächtigkeit eines spezifisch verstandenen Bildungsversprechens deutbar. Ein gemeinsamer Bezugspunkt von Ann, Kai und mir im Gespräch scheint zu sein, dass wir meinen zu wissen, dass sich im Kontext der Mobilität etwas lernen lassen muss und dass man sich natürlich in ständigen Prozessen der Weiterentwicklung bzw. Selbstvervollkommnung befindet. Zwar äußern Kai und Ann jeweils auch Schwierigkeiten in der Formulierung ihrer Antworten, problematisieren aber weder die Frage in ihrer Legitimität noch bleiben sie Antworten schuldig. Vielmehr erzählen sie in einer Art und Weise, die nahelegt, dass die Frage nach Bildung sie selbst beschäftigt und nicht erst durch mich an sie herangetragen wird. Nun habe ich in der Arbeit Bildung als etwas verstanden, dass »jegliche Versuche insbesondere einer empirischen Festschreibung von Bildung im Sinne der Feststellung »›Das ist Bildung‹« (Schäfer 2009: 71ff. zitiert nach Rose 2012: 393) ablehnt. Stattdessen, so habe ich argumentiert, müsse Bildung als politisch verstanden und das heißt in Zusammenhang mit jeweiligen Ar-

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

ten der Gestaltung von Gemeinschaft gesetzt werden. Gerade weil aus der hier angelegten Theorieperspektive in Anlehnung an Laclau, Mouffe und Hall Subjektwerdung immer nur innerhalb und nicht außerhalb der Macht möglich wird, Machtverhältnisse aber nicht eindeutig, sondern von Vielfalt, Brüchen und Kämpfen gekennzeichnet sind, müsse die normative Dimension dessen, wofür sich mit der Perspektive auf Bildung eingesetzt werde, offengelegt werden. Rucker und Anhalt (2017: 45) folgend habe ich mich zudem für Bildung als Konzept interessiert, dass »Prozesse der Ordnungsbildung« in den Fokus rückt, der »Entstehung, Aufrechterhaltung und Veränderung von Ordnungen«. Ich hatte diese vor dem Hintergrund der migrationspädagogisch ausgerichteten Problemstellung als Auseinandersetzung mit rassifizierten Zugehörigkeitsordnungen bestimmt, innerhalb derer unterschiedlich natio-ethno-kulturell (rassifiziert) positionierte, migrationsgesellschaftliche Subjekte hervorgebracht werden bzw. diese lernen, sich innerhalb spezifisch machtvoll vorstrukturierter Ordnungen »als migrationsgesellschaftliche spezifische Subjekte zu denken, als solche zu handeln und sich auf gesellschaftliche Bedingungen zu beziehen« (Mecheril, Thomas-Olalde, Melter, Arens, Romaner 2013: 17). Deshalb habe ich zunächst in theoretischer Hinsicht die fokussierte Art der Mobilität in ihrer Stellung innerhalb der migrationsgesellschaftlichen Zugehörigkeitsordnung betrachtet und sie dabei aus rassismuskritischer Perspektive in ihrer kolonialen Geschichte verortet. Den Erzählungen habe ich mich sodann in rekonstruktiver Einstellung genähert, um, theoretisch sensibilisiert, die Erzählungen als spezifische Aneignungsweisen migrationsgesellschaftlicher Diskurse innerhalb der entwicklungspolitischen Mobilität betrachten zu können. Das bedeutet, dass ich die Erzählungen von der Mobilität, anders als dies viele vorhandene Forschungen zu dieser Mobilität tun, als Aneignungen migrationsgesellschaftlicher Differenzordnungen verstanden habe. Innerhalb dieser bringen sich die Subjekte als bestimmte Subjekte hervor, die eine bestimmte Stellung einnehmen und sich darin positionieren. In den Erzählungen kommen in meinem Verständnis Diskurse über Raum zum Ausdruck und werden angeeignet, die Auskunft über die migrationsgesellschaftliche Zugehörigkeitsordnung Deutschland und ihre Aneignung durch Subjekte geben. Insofern spiegeln sich in den Erzählungen Diskurse der Migrationsgesellschaft Deutschland über deren Rolle in der globalen Geografie mit Konsequenzen für die lokale, regionale und globale Verteilung von Zugehörigkeit. Von besonderem Interesse scheint mir dabei, dass die Erzählungen über die Mobilität vorherrschende Diskurse der Migrationsgesellschaft über geografische Orte außerhalb der natio-ethno-kulturellen

11 Schlussbetrachtung

Zugehörigkeitsordnung aufgreifen. Gerade das »Außen«, so habe ich mit Laclau, Mouffe und Hall argumentiert, ist für die Selbstkonstitution der Zugehörigkeitsordnung mit konstitutiv und daher auch in der Forschung von besonderem Interesse. Dabei handelt es sich bei den Erzählungen jeweils um Momentaufnahmen, um spezifische Hervorbringungen und Aneignungen von Diskursen im Gespräch, die dabei auch auf Diskurse außerhalb des Gesprächs verweisen. Im Folgenden möchte ich nun noch einmal die von mir rekonstruierten Aneignungsweisen Anns und Kais von rassifizierten Diskursen der Migrationsgesellschaft bzw. ihrer entwicklungspolitischen (Freiwilligen-)Mobilität auch neben den expliziten Äußerungen zu Bildung mit der Perspektive auf potenzielle Bildungsprozesse beleuchten. D.h., ich möchte die Rekonstruktionen noch einmal daraufhin betrachten, wie sich Ann und Kai jeweils gegenüber vorherrschenden Diskursen und Anrufungen positionieren und wo bzw. wann sie aus diesen Positionierungen, neben einer generellen Handlungsfähigkeit den Anrufungen gegenüber, in der hier angelegten Lesart so etwas wie Bildungsprozesse als Problematisierungen der migrationsgesellschaftlichen Differenzordnung gerieren.

11.1

Weitere ausgewählte, bildungstheoretisch relevante Aspekte der Aneignungsweisen der entwicklungspolitischen Mobilität

Zuvor habe ich, vor dem Hintergrund meiner im Interview geäußerten Aufforderung zu einer Bildungserzählung, bildungstheoretisch orientierte Lesarten der Aneignungsweisen Kais und Anns vorgeschlagen, die ich deshalb in den Kontext von Bildung gesetzt habe, weil sie die migrationsgesellschaftliche Differenzordnung in ihrer Gewaltförmigkeit bzw. die Ungleichverteilung von Zugehörigkeit in Zusammenhang mit rassifizierten Diskursen problematisierten. Diese Lesarten bezogen sich dabei nicht explizit auf den größeren Zusammenhang der Erzählungen. Neben den von Ann, Kai und mir explizit in den Kontext Bildung gerückten Äußerungen habe ich allerdings in der vorangehenden Betrachtung eine ganze Reihe von Aneignungsweisen, d.h. Positionierungen gegenüber Anrufungen/Diskursen, rekonstruiert, die ambivalent erscheinen und sowohl als Brüche mit vorherrschenden Diskursen als auch als Wiedereinschreibung gedeutet werden können. Aneignung gelingt dabei nie einfach, sondern zeigt sich als äußerst komplex und mit viel Spielraum für individuelle Artikulationen ausgestattet.

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

Ann und Kai präsentieren sich in den von mir rekonstruierten Erzählungen als in konstanten Prozessen der Standortbestimmung, der wertenden Positionierungspraxis befindlich. Es lässt sich argumentieren, dass diese nicht nur einfach wertend, sondern an möglichst positiv konnotierter eigener Positionierung ausgerichtet sind. Das ist m.E. bemerkenswert, wenn der Fokus auf Machtverhältnisse gelegt wird. Denn dabei werden, wie auch Fischer (2015: 189) in ihrer Studie »Anerkennung – Macht – Hierarchie« mit Bezug zu Hierarchien argumentiert, hierarchisch niedrigere Positionen eher zurückgewiesen und stattdessen »Selbstbeschreibungen [ins Zentrum gerückt], die sich nicht auf eine hierarchisch niedrige Position der Schwäche beziehen, sondern über eigensinnige Selbstaufwertungen Stärke generieren«. Nun habe dies allerdings häufig den Effekt, Hierarchien, die etwa in problematischen Situationen zu Tage treten, eher zu bestätigen, statt sie zu problematisieren. Die (Nicht- bzw. De-)Thematisierung hierarchischer Verhältnisse in der Erzählung von Selbstverhältnissen mag in diesem Sinne mitunter Bildungsprozessen, wie ich sie in dieser Arbeit verstehe, entgegenstehen. Für (Nicht bzw. De-)Thematisierungen mit diesen Effekten finden sich vielfältige Beispiele, etwa in Bezugnahmen auf vorherrschende Diskurse der »kulturellen« Differenz und der Kulturalisierung von Situationen, in denen sich sonst genauer mit der eigenen (und global-gesellschaftlichen) Stellung beschäftigt werden müsste. Beispielsweise rekonstruiere ich Praktiken Kais, in denen er als ausschließend empfundene Praktiken seiner Gastbrüder, die auch als Verweis auf Hierarchien der Mobilität gedeutet werden könnten, mit Bezug auf Diskurse kultureller Differenz thematisierte. Damit thematisiert er dann nicht die strukturelle Ebene der Mobilität, die Hinweise auf eine Divergenz zwischen Anspruch der »Integration« und den Möglichkeiten der eigenen Eingebundenheit hätte geben können. Mitunter war, so ließe sich argumentieren, in der Erzählung von Selbstverhältnissen – der möglichst positiv konnotierten Positionierung – aber auch die Möglichkeit von weitergehenden Bildungsprozessen angelegt, die in meiner Lesart zu Neubewertungen von Zugehörigkeitsdiskursen führen. Dies scheint in der vorliegenden Studie eng an Erfahrungen gebunden, die Ann und/oder Kai das Gefühl gaben, wertgeschätzt, verstanden bzw. Mitglied einer bestimmten Gemeinschaft zu sein, was auch in den Zusammenhang mit Fremdverhältnissen gesetzt werden kann. Hier zeigt sich, dass Selbst- und Fremdverhältnisse eng miteinander verbunden sind. Denn die Erzählung von Selbstverhältnissen war auf den Vergleich mit anderen angewiesen, durch den die (möglichst positiv konnotierten) Selbstpositionierungen möglich

11 Schlussbetrachtung

wurden. Die Bedeutung von Fremdverhältnissen zeigte sich darüber hinaus auch in der Art und Weise, in der die von mir Interviewten unterschiedlich rassifiziert durch andere und rahmende Diskurse angerufen wurden, wodurch auch die Rahmen der Erzählung der Selbstverhältnisse in den Interviews abgesteckt wurden. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal an die Kritik erinnern, die Hall (2012: 29f.) und Mecheril (2017: 77) an Laclaus und Mouffes Ansatz formuliert hatten, nämlich, diese würden in ihrer Konzeptualisierung des Subjektes die Hervorbringung mit unterschiedlichen Mängeln behafteter Subjekte in rassifizierten Ordnungen außer Acht lassen. In diesem Zusammenhang scheint ein wichtiges Moment von Fremdverhältnissen, das sich in den vorhergehenden Rekonstruktionen zeigte. Sowohl Ann als auch Kai präsentierten vor allem solche Positionierungen als bedeutsam in Hinsicht auf die Problematisierung von Hierarchien, in denen die Selbstpositionierung und die Anrufung in einem Verhältnis zueinander standen, das von ihnen als Gefühl des Angenommen-Seins, Mitglied-Seins oder Verstanden-Seins beschrieben wurde. Damit verbanden beide dann weitere Suchbewegungen und Identifikationsprozesse und mitunter auch Ressourcen für (Re-)Positionierungen gegenüber vorherrschenden Anrufungen bzw. Diskursen. Weltverhältnisse, d.h. hier die Thematisierung von Strukturen der Welt, Institutionen und Normen, ließen sich in den Erzählungen ebenfalls vielfältig rekonstruieren. Auf sie wurde sich etwa bezogen als Möglichkeit von besonderer Erfahrung (Kai), als Verhältnisse, die von materieller Ungleichheit geprägt sind, welche als ungerecht empfunden werden (Kai und Ann), gegen die sich aber als Einzelne*r wenig tun lässt, sowie als rassifizierte Struktur, die zu spezifischen Selbst- und Fremdverhältnissen führt, zu rassismusbezogener Besonderung in Deutschland (Ann) und Tansania/Mosambik (Kai/Ann). Neben dieserart Bezugnahmen auf Weltverhältnisse nahmen diejenigen Verhältnisse in den Erzählungen wenig bis keinen Raum ein und riefen keinen Widerspruch hervor, die nicht als unterdrückend bzw. diskriminierend erfahren wurden. Das bedeutet nun nicht, wie die vorhergehende Analyse zeigte, dass sie nicht prinzipiell als gewaltsam und als Unterdrückungsverhältnisse gelesen werden können und/oder sollten. Die vorherrschenden Weltverhältnisse als Unterdrückungsverhältnisse zu verstehen, scheint allerdings nicht immer die naheliegendste Lesart gewesen zu sein. Dennoch zeigte sich in den Positionierungen der Interviewten immer eine Ambivalenz, die sowohl eine Bestätigung vorherrschender Verhältnisse als auch ihre Problematisierung ermöglichte. Es ließen sich immer Gründe finden, sich als nicht so und

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

in dieser Art und Weise von ungleichen – rassifizierten – Weltverhältnissen betroffen zu präsentieren, wie auch Gründe, dem genauer nachzugehen. Insbesondere eine Vielfalt an Identifikationsmöglichkeiten und eine damit korrespondierende Vielfalt der Möglichkeiten zur Vernähung mit dem Diskurs scheinen dafür verantwortlich. Die Rekonstruktion der Aneignungsweisen der Mobilität durch Ann und Kai kann hervorheben, dass die Möglichkeit für Bildungsprozesse potenziell an vielen Stellen angelegt ist. Ob aus den Möglichkeiten aber weitergehende Befragungen und Problematisierungen der rassifizierten Zugehörigkeitsordnungen folgen, scheint in keinem dieser Fälle notwendig angelegt, aber auch nicht ausgeschlossen. Es handelt sich vielmehr um eine Vielzahl an Faktoren, die dazu führen, rassifiziert strukturierte Selbst- Fremd und/oder Weltverhältnisse zu problematisieren. Ann erzählt von einer (hier nicht abschließend aufzuführenden) Vielfalt an Faktoren für diese Auseinandersetzung: Von der für sie selbst biografisch relevanten Suche nach dem Vater, von der Erfahrung der eigenen rassifizierten Anrufung, von einem Interesse an der Auseinandersetzung mit dieser Anrufung und von der Suche nach dem sich demgegenüber Positionieren, als auch von aus durch den Kontakt mit anderen entspringenden spezifischen Ressourcen. Kai präsentiert eine (hier nicht abschließend aufzuführende) Vielfalt an Faktoren: ein generelles Interesse, eine Zukunftsperspektive für sich zu entwickeln bzw. etwas Besonderes für sich zu finden, was nicht jeder macht; eine (unscharfen) Positionierung in Hinsicht auf Gerechtigkeit; ein entstehendes Verbundenheitsgefühl mit seiner Gastfamilie usw. Diese artikulative Verkettung von Elementen, die vor dem Hintergrund vorherrschender Diskurse für Kai und Ann möglich wird, könnten von ihnen dabei auch anders sortiert werden und werden dies auch sicherlich, beispielsweise in einem anderen Gespräch, mit eine*r/m andere*n Gesprächspartner*in und/oder zu einer anderen Zeit und in einem anderen sozialen Kontext. Es wäre daher richtig, sie strategisch zu begreifen, und falsch, sie als fest gefügt zu verstehen. In der Diskussion von Laclau und Mouffe hatte ich außerdem Arndts Überlegungen zu möglichen Weiterentwicklungen der Subjekttheorie vorgestellt, die sich insbesondere auf eine Konkretisierung der Möglichkeiten für ontische Dislokationen bezog (vgl. Kap. 4). Arndt (2008: 54) stellt Überlegungen dazu an, dass etwa Interaktionen mit anderen dislozierende Wirkungen zeigen können, wenn bzw. da in Interaktionen »unterschiedliche partikulare Ordnungen zusammentreffen« und in den Momenten, in denen Subjekte in ein Gespräch eintreten, diese unterschiedlichen partikularen Ordnungen

11 Schlussbetrachtung

auch Gegenstand einer »gemeinsamen Reartikulation« sein könnten. Während Arndt über Interaktionen im Generellen schreibt, muss in dieser Studie genauer differenziert werden. Nicht Interaktionen im Generellen, sondern vor allem solche, die Ann und Kai als besonders bedeutsam für sich selbst präsentierten, hoben sie als bedeutsam für (Re-)Artikulationen hervor. In diesem Zusammenhang betonten sowohl Kai als auch Ann Emotionalität sowie soziale Gemeinschaft als wichtige Anstöße. Im Folgenden möchte ich daher insbesondere auf diese zwei Aspekte einen Blick werfen, bevor ich zu einigen abschließenden Überlegungen übergehe.

11.2

Aspekte des Nexus zwischen Emotion und Rationalität als Bildungs- und als Herrschaftsmoment

Sowohl Ann als auch Kai heben in ihrer Erzählung zu Bildung eine gesteigerte Emotionalität in Hinsicht auf jene gesellschaftlichen Verhältnisse hervor, die ihnen nunmehr – so erzählen sie im Sinne eines Entwicklungsprozesses – als problematisch auffallen, d.h. in diesen Fällen aus analytischer Perspektive als rassistische Repräsentationen und Kollaborationen. Sie betonen, nicht mehr so rational bleiben zu können wie zuvor, sondern emotional zu werden, wenn ihnen diese Repräsentationen und Kollaborationen nun auffallen. In dieser Aussage scheinen sie sich dabei auch gegenüber einem Diskurs zu positionieren (in rechtfertigender Art und Weise), der Rationalität gegenüber Emotionalität präferiert. Das wird insbesondere dadurch deutlich, dass Ann darauf hinweist, sich über die fehlende Möglichkeit zur Distanznahme zu ärgern, welche sie mit einer gesteigerten Emotionalität verbindet, und auch Kai es für nötig hält, eine emotionale Reaktion auf einen als solchen empfundenen Angriff auf seine Gastfamilie mir gegenüber entschuldigend zu erklären (vgl. Kap. 10). Gleichzeitig wird es durch den Bezug auf Emotion möglich, eine veränderte Positionierung hervorzuheben, die mit der Referenz auf Rationalität vielleicht nicht derart formulierbar wäre. Deshalb möchte ich im Folgenden einen etwas weitergehenden Blick auf Emotion und Rationalität im Kontext von Bildung und im Kontext von Rassifizierung werfen. Der hier thematisierte Gegensatz zwischen Rationalität und Emotionalität scheint – als hegemonisierter Gegensatz – auch für eine weitergehende Diskussion von Bildungsprozessen nicht unbedeutend. So haben etwa Huber & Krause (2018: 3) darauf hingewiesen, dass Emotionalität als Aspekt in der

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung kaum zu finden sei, weil sich die Erziehungswissenschaft in ihrer Historie darum bemühte, sich von anderen Disziplinen abzugrenzen, und dieses »Konzept« lieber anderen Disziplinen überlassen habe. Als wesentlich markieren sie vor diesem Hintergrund die Artikulation von Bildung mit Vernunft. Bildung sei im Dienst der »Vernunft« als »Bändigung von Trieben«, als »Kalmierung und Sublimierung von Gefühlen«, konzipiert worden. Dies habe auch für heutige Ideen der Bildung Konsequenzen. Ahmed (2013: 195) weist auf den Universalismus kantscher Prägung als Ursache für eine wesensmäßige Unterscheidung zwischen Emotion und Rationalität hin (vgl. auch Reichenbach 2018: 30). Emotionen, so argumentiert sie, wurden in dieser Tradition als irrational und als Hindernis für gutes Urteilen und Gerechtigkeit konzipiert. Diese Trennung von Emotionalität und Rationalität beschreibt Ahmed nun als in einer Komplizenschaft zu Othering und in kolonialer Kontinuität stehend: Indeed, it is the hierarchies established by such models, which allows women and racial others to be seen as less moral, as less capable of making judgements: it is such others, of course, who are often presented as being ›swayed by their emotions‹. […] The model which empties all emotion out of the process of making judgements is also the model that justifies the relegation of others to the sphere of nature. (Ahmed 2013: 195) Die Orientierung an Rationalität und ihre Abgrenzung gegenüber Emotionalität ist nach Ahmed mehr als nur ein »vergessener Zusammenhang« (Huber/ Krause 2018: 3). Diese etabliert vielmehr auch eine Hierarchie, die im Verweis auf Andere – Ahmed weist auf »women and racial others« hin –, die als weniger fähig, rationale Urteile zu fällen, begriffen werden, hervorgebracht werden. Die Emotionen überkommen dann die zur Selbstkonstitution der Zugehörigkeitsordnung im Außen verorteten »Anderen«, Emotionen, die im Bereich der »Natur« verortet werden. D.h., die Trennung von Rationalität und Emotionalität ist in dieser Lesart auch wesentlicher legitimatorischer Bestandteil einer rassifizierenden und vergeschlechtlichenden Praxis der Hierarchisierung von Menschen. In diesem Sinne weisen Castro Varela und Dhawan (2004: 221) auf eine Dynamik hin, mit der das Benennen von Rassismus häufig zum Schweigen gebracht werde. Demnach werden »wütende Reden von Schwarzen Frauen zu einer Sache des Temperaments erklärt und das Benennen rassistischer Übergriffe als unerklärlich beschrieben oder einer unakzeptablen Empfindlichkeit zugesprochen« (ebd.). Ärger und Emotionalität

11 Schlussbetrachtung

können damit gegen diejenigen gewendet werden, die Rassismuserfahrungen thematisieren. Hier zeigt sich dann vor dem Hintergrund der obigen Erläuterungen eine Kontinuität des Rekurses auf Emotion zur (De-)Legitimierung von Zugehörigkeitsforderungen. Ein Ärger über den Ärger, von dem Ann erzählt, ließe sich in dieser Lesart ambivalent und mehrdeutig als einer deuten, der sich aus der Kenntnis einer Praxis der Entwertung emotional vorgebrachter Argumente entfaltet und/oder der sich zur gleichen Zeit an vorherrschenden Diskursen der Bildung im Sinne der Rationalität ausrichtet und Emotion daher auch selbst problematisiert. Deutlich wird dabei die Tragweite, mit der sich Diskurse über Rationalität und die Abwertung von Emotionalität in Weltverhältnisse eingeschrieben haben. Bspw. findet sich die Unterscheidung zwischen Emotionalität und Rationalität durchaus auch in anerkannten Rechtsdiskursen wieder. So ist etwa das »Handeln im Affekt« Teil der deutschen Rechtsprechung und wird im Falle einer Straftat nicht oder nur milder bestraft, als wenn rationales Handeln erkennbar wäre (vgl. Clemm 2020: 81). Während einerseits, wie ich soeben argumentiert habe, Emotionalität abgewertet werden kann, liegt im Verweis auf diese auch eine Ressource. Wenn Kai angibt, nicht anders zu können, als emotional zu werden, so ist dies gewissermaßen durch das (rechtlich) institutionell etablierte Verständnis von Handeln gedeckt und legitimiert. Es mag angesichts Kais dominanzkultureller Position schwieriger sein, seine emotionalen Reaktionen als »unakzeptable Empfindlichkeit« abzuwerten. Es kommt daher auch darauf an, von wo aus eine emotionale Reaktion geäußert wird und ob die betreffende Person über die Emotionalität rassifizierend abgewertet werden kann oder nicht. Ahmed (2013: 196) weist auf einen weiteren Aspekt im Zusammenhang von gesellschaftlicher Position und Emotion hin. Sie argumentiert, dass die Infragestellung etablierter – hegemonialer – sozialer Normen häufig mit einer veränderten affektiven Relation zu eben diesen Normen verbunden sei. Teil dieser affektiven Veränderung sei es, die »Kosten«, d.h. die negativen Konsequenzen der Normen, zu »fühlen«. Sie markiert Gefühle in diesem Zusammenhang als zentrales Moment von Kämpfen gegen Ungerechtigkeit, ohne sie als Ausgangspunkt dieser Kämpfe zu verstehen. Die veränderte affektive Relation zu den Normen führe vielmehr dazu, dass die Effekte der Wiederholung bestimmter Praxen (und nicht anderer) gefühlt werden würden: [C]hallenging social norms involves having a different affective relation to those norms, partly by ›feeling‹ their costs as collective loss. This argument

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(Selbst-)Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft

certainly makes ›feeling‹ crucial to the struggle against injustice, but in a way that does not take feeling as the ground for action, but as an effect of the repetition of some actions rather than others. (Ahmed 2013: 196) Reichenbach (2018: 37) argumentiert, dass negative Gefühle »aufgrund der Erfahrung mangelnder sozialer Anerkennung und mangelnder persönlicher Autonomie entstehen« können. Solange die »sozial Schwächeren und Missachteten sich ihren Misserfolg selbst zuschreiben«, bedeute dies eine Stärkung der Position der »sozial Stärkeren und Mächtigeren«. Wenn sich diese Deutung aber verändere, veränderten sich auch die Gefühle und führten zur Infragestellung vorherrschender Normen und Vorschriften. In diesem Sinne seien gesellschaftliche Verhältnisse immer als gewaltvoll zu begreifen. Herrschaft sei dabei immer auch auf die Kontrolle der Gefühle angewiesen. Gefühle und Emotionen erscheinen in der obigen Diskussion als wichtiger Bestandteil der Aufrechterhaltung und Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse. Die Abwertung von Emotionalität ist einerseits mit der Geschichte des Rassismus und der Geschlechterverhältnisse verbunden. Andererseits zeitigen strukturell ungleiche gesellschaftliche Positionen auch persönliche Effekte, die in Momenten der Umorientierung auch zu sich verändernden Gefühlslagen gegenüber diesen Strukturen fügen mögen. Allerdings, darauf weist Ahmed (2013: 202) für den hier verfolgten theoretischen Zugang anschlussfähig hin, folgt aus der Verwobenheit von Gerechtigkeit und »feelings« keine notwendige (politische) Praxis: »Justice is not simply a feeling. And feelings are not always just. But justice involves feelings, which move us across the surfaces of the world, creating ripples in the intimate contours of our lives. Where we go, with these feelings, remains an open question.« Die offen bleibende Frage nach der (politischen) Richtung, in die diese »Gefühle« gelenkt werden, hat etwa Eribon (2016) eindrucksvoll am Beispiel der sich wandelnden politischen Affiliationen des französischen Arbeitermilieus argumentiert. Ob die insofern auch »gefühlte« Ungerechtigkeit also dazu führt, sich dem einen oder anderen Diskurs zu verschreiben, der einen oder anderen Handlungsweise nachzugehen, die eine oder andere Partei zu wählen, bleibt eine offene Frage. Da sich Bildung, so wie ich sie in dieser Arbeit verstehe, allerdings auf die Problematisierung von Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen als solche der Unterdrückung bezieht, liegt in der Verwobenheit von »Gerechtigkeit« und »Gefühlen« eine wichtige Aufmerksamkeitsrichtung für die Bildungstheorie und -forschung. Denn gesellschaftliche Verhältnisse scheinen mit Gefühlslagen verbunden zu sein und ein sich (vor dem

11 Schlussbetrachtung

Hintergrund von Solidarisierungsprozessen) verändernder Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse mag auch (die Interpretation der) Gefühlslagen gegenüber diesen Verhältnissen verändern.

11.3

Bildung als Identifikationsprozess, Solidarisierung »beyond« natio-ethno-kultureller Migrationsgesellschaft

In Rekurs auf Laclau, Mouffe und Hall habe ich zuvor eine politische Lesart von Subjekt- und Weltverhältnissen und von Bildung konzipiert. Diskursive Verhältnisse erscheinen bei diesen Autor*innen als Ergebnis und Gegenstand sozialer Auseinandersetzungen. Die Veränderung von diskursiven Verhältnissen ist auf politische Organisation angewiesen, mit der sich wiederum dafür eingesetzt werden kann, alternative Vorstellungen gesellschaftlicher Verhältnisse zu etablieren. Politische Organisation geht dabei aus postfundamentalistischer Perspektive nicht auf eine natürliche, essenziell gegebene Interessengemeinschaft zurück. Aus dieser Perspektive habe ich zuvor auch die etablierte Differenzierung zwischen Mobilität und Migration als gesellschaftlich bearbeitete Form räumlicher Bewegung verstanden (vgl. Kap. 2). Bewertungen von Raum und von Bewegung im Raum, so habe ich argumentiert, werden mit Verweis auf etablierte Kategorien sozialer Ungleichheit kontinuierlich (wieder) hergestellt, sind aber nicht gegeben. Sie verändern sich, wie sich auch die gesellschaftlichen und räumlichen Ordnungen wandeln. Nicht zuletzt aus diesem Grund habe ich auch die Forschung zur weltwärts-Mobilität als eine begriffen, die sich auch mit der Frage beschäftigen sollte, wie darin Vorstellungen von Raum hervorgebracht werden und was für ein Bild der Zugehörigkeitsordnungen der Mobilität dabei vermittelt wird (vgl. etwa Kap. 9 und 10). Diese Aspekte lassen sich bereits mit der Perspektive auf Bildung als Momente der Entstehung und Aufrechterhaltung von Ordnung fassen. Ich interessiere mich aber auch für solche, an denen sich Transformationen von Ordnung zeigen mögen. Insbesondere zwei Momente möchte ich in diesem Zusammenhang zunächst hervorheben. Das ist zum einen die sich für Ann verändernde Vorstellung der Bedeutung der Kategorie »Race« innerhalb des Mobilitätsraumes. Während zunächst mit »Race« eine universell geteilte Erfahrung bzw. gegebene Gemeinschaft assoziiert wird, so verändert sich dies in Anns Erzählung hin zu einem spezifischeren Verständnis der Zusammenhänge von »Race« und Raum. Dieser Prozess scheint dabei nicht von der Iden-

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tifikation mit einer Gemeinschaft, in der sich Ann zur Erfahrung der rassifizierten Anrufung austauscht, trennbar zu sein. Das ist zum anderen die Erzählung Kais, sich aufgrund der Aufnahme in seine Gastfamilie in Tansania anders zu rassifizierenden Diskursen in Deutschland zu verhalten und sich nun innerhalb des Zugehörigkeitskontexts Deutschland für ihm angemessener, gerechter erscheinende Repräsentationen einzusetzen. In irgendeiner Art und Weise wird dabei jeweils von Umdeutungen von Diskursen über den Mobilitätsraum und den natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitskontext Deutschland erzählt, die sich vor dem Hintergrund neuer Identifikationen ergeben, die sich über natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnungen hinweg bewegen. Diese Identifikationsprozesse, die ich in Auseinandersetzung mit den Transkripten rekonstruiert habe, möchte ich aus einer postfundamentalistischen Perspektive nun noch einmal betrachten. Dazu möchte ich zunächst kurz auf ein postfundamentalistisches Verständnis von Solidarität rekurrieren, welches mir für die Diskussion dieser Identifikationsprozesse fruchtbar scheint. Eine solches Verständnis liege, so argumentiert Featherstone (2012: 20ff.), nur selten aktuellen Konzeptionen von Solidarität zugrunde, und verdeutlicht dies am Beispiel namhafter Theoretiker. Durkheim etwa unterscheide zwischen organischer und mechanischer Solidarität und assoziiere diese mit »modernen« und »traditionellen« Gesellschaften. Während mechanische Solidarität traditionellen Gesellschaften eigen sei und als präformiertes, automatisches Ergebnis geteilter sozialer Position gesehen werden könne, sei organische Solidarität auf die Arbeitsteilung moderner Gesellschaften zurückzuführen. Solidarität reflektiere in seiner organischen Variante eine spezifische, geteilte Position in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung (vgl. Featherstone 2012: 20). Dieserart würden auch jene marxistischen und/oder feministischen Ansätze argumentieren, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse oder einem bestimmten Geschlecht mit automatischen, inneren Kapazitäten für Solidarität in Verbindung brächten. Gegenüber diesen Ansätzen, die Solidarität als bereits gegeben annehmen würden, seien jene Ansätze zu sehen, die sich damit auseinandersetzen, wie Solidarität konstruiert bzw. hergestellt werde (ebd.). Postkoloniale feministische Theoretiker*innen, wie etwa Mohanty (2003), zeigten für das Beispiel der feministischen Bewegung(en), dass die Annahme gegebener universeller »Schwesternschaft« (»sisterhood«), basierend auf der gemeinsamen Zugehörigkeit zur Geschlechtskategorie »Frau«, problematisch sei, wenn dabei bestehende Machtasymmetrien verschleiert würden. So könne, wenn sich etwa

11 Schlussbetrachtung

Weiße westliche Feministinnen auf universelle »Schwesternschaft« (»sisterhood«) bezögen und dabei die Ungleichheitsachse »Race« vergäßen, Solidaritätskonstruktionen problematisch werden, weil dabei die Spannungen und Konflikte, die diesen Solidaritätskonstruktionen zugrunde liegen, aus den Augen gerieten (vgl. Featherstone 2012: 21). Oder wie es Yuval-Davis (2011: 7) ausdrückt: »To be a woman will be different whether you are middle class or working class, a member of the hegemonic majority or a racialized minority, living in the city or in the country, young or old, gay or straight, etc«. Andere Theoretiker*innen, wie etwa Rorty, der ansonsten für ein progressives Verständnis von Solidarität stehe, das Partikularität, Limitiertheit, Situiertheit und Kontingenz berücksichtige, und der sich für die Ausweitung von Solidarität auf immer weiter Bereiche ausspreche, griffen auf ein Verständnis von Gemeinschaft als präexistent zurück (vgl. Featherstone 2012: 22). Dies komme etwa zum Ausdruck, wenn er argumentiere, dass die Ausweitung von Solidarität darauf angewiesen sei, »unsere« Gemeinsamkeiten mit jenen, die »wir« als different sehen, zu suchen (und zu finden). Dagegen sei aus postfundamentalistischer Perspektive einzuwenden, dass innerhalb von solidarischen Praktiken politische Vergemeinschaftung erst aktiv gestiftet werde. Bestimmte, oft als fundamental angenommene, Eigenschaften seien also weniger gegeben, sondern Ergebnis einer (solidarischen) Praxis, die jene gemeinsame Werte und Identifikationen als Teil dieser Praxis erst hervorbringe. Insofern müsse Solidarität als transformativer Prozess verstanden werden, der sich im Kontext von Aushandlungen und Wiederaushandlung von Formen politischer Identifikation ergebe (vgl. Featherstone 2012: 37). Anstelle eines Universalismus als Bedingung für solidarische Praktiken stehe nun ein Verständnis von Universalismus, das durch politische Beziehungen und Auseinandersetzungen geformt werde und das jeweils in den politischen Auseinandersetzungen auch Gegenstand derselben sei. Gleiches gelte für die Verständnisse von Raum, die alles andere als gegeben seien, sondern ebenfalls Gegenstand der Kämpfe. Gerade die Überwindung und Infragestellung nationalstaatlicher Grenzen zeichne Solidarität häufig aus. Daneben sei es wichtig zu berücksichtigen, dass, wenn Solidarität erst hervorgebracht und dabei Gemeinschaft und Beziehung zwischen Orten erst gestiftet werden müsse, es sich auch um leidenschaftliche, emotionale, intime Angelegenheiten handele und sich nicht von einer rationalen, funktionalistischen Interessensvertretung reden lasse:

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These connections, as the disputes over them emphasize, were formed through passionate, antagonistic forms of identification. This presents challenges for understanding solidarity. Solidarity has frequently been understood as bearing primarily on the »rational economic interests« of workers and other groups. Such practices have also been evaluated in rather functionalist terms, such as whether they advance workers’ interests in specific contexts […]. Solidarity here becomes theorized primarily as a means to specific ends. Locating solidarities as part of the ongoing production of relations between places and sites offers different possibilities. This challenges perceptions of solidarity which are limited to fixed, rational relations. Rather, connections can be shaped in more emotional and intimate ways. (Featherstone 2012: 35-36) Vor diesem Hintergrund möchte ich argumentieren, dass sich die Identifikationsprozesse, die Ann und Kai beschreiben, auch in den Kontext der (Re-)Imagination von Raum setzen lassen. Dann stellt sich die Frage, was für ein Raumverständnis in der Mobilität hervorgebracht wird. Ich habe argumentiert, dass die Aneignung von Diskursen über Raum ambivalent zu verstehen ist, dass in der Mobilität, die ich fokussiere, sowohl vorherrschende Raumvorstellungen wieder hervorgebracht werden als auch alternative Vorstellungen entstehen. Auch wenn sie vielleicht nicht in den Kontext politischer Kämpfe fallen, wie sie normalerweise mit dem Bereich der Solidarität assoziiert werden, und wenn Kais Einsatz für seine Familie in Tansania nicht unbedingt mit den Interessen seiner Familie zu tun hat, er für sie sprechen mag, ohne darum gebeten worden zu sein, sie von den Diskursen in Deutschland nicht so viel mitbekommen mag, so ist doch eine emotionale Verbundenheit und eine Identifikation mit ihren Lebenspraktiken Hintergrund der Problematisierung vorherrschender Artikulationen von Zugehörigkeit und Raum in Deutschland. Diese vorherrschenden Artikulationen werden in ihrer Problematisierung dem zuvor vorgestellten Verständnis von Solidarität entsprechend auch aktiv bearbeitet bzw. umgearbeitet. Ann erzählt deutlicher von politischer Organisation, von der aktiven Hervorbringung solidarischer Identifikation mit Menschen, die wie sie von rassifizierten Anrufungen berichten. In ihrer Erzählung legt sie dar, die Bedeutung von Rassifizierungsprozessen in Deutschland nicht zuletzt aufgrund ihrer Erfahrung in Mosambik anders zu betrachten als zuvor. Auch hier findet eine

11 Schlussbetrachtung

Bearbeitung der Vorstellungen von Zugehörigkeit und Raum und damit in Verbindung stehenden Rassifizierungsprozessen statt. Identifikationsprozesse, so mein Argument, sind mehr und/oder weniger bewusst politisch. Sie haben Konsequenzen für die Art und Weise, wie aktuelle Ordnungen betrachtet werden, ob sie akzeptiert oder problematisiert und befragt werden. Identifikationsprozesse sind dabei, so die Interpretation dieser Arbeit, auch auf die Erfahrung von Wertschätzung, von Emotionalität im Austausch mit anderen angewiesen bzw. diese Erfahrungen sind wesentlicher Teil von Identifikationsprozessen. Dabei ist wiederum nicht voherzusehen, was aus diesen Prozessen folgt, ob die Subjekte sich kritisch mit der Bedeutung gegebener rassifizierter Verhältnisse für sich selbst und/oder mit anderen auseinandersetzen und/oder diese eher fortschreiben. Bedeutsam finde ich es zudem, mit Castro Varela und Dhawan (2004: 222) auf die Möglichkeit hinzuweisen, dass sich etwa durch veränderte persönliche Zuordnungen – bspw. in Hinsicht auf politische Positionierung oder durch eine veränderte Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen – auch die Betroffenheit von Ein- und Ausschließungsprozessen verschieben mag.

11.4

Ein grundloser Schluss

Rieger-Ladich (2020: 186) beschreibt es als eine der größten Herausforderungen der gegenwärtigen Bildungstheorie, »dem verführerischen Glanz binärer Unterscheidungen zu wiederstehen – und mit der Gleichzeitigkeit von Phänomenen zu rechnen, die im abendländischen Denken meist einander gegenübergestellt wurden«. Es gehe etwa darum, Bildungseinrichtungen nicht nur als Kollaborateure eines »globalisierten Kapitalismus« (ebd. 184) oder als Orte der Möglichkeiten, an denen Widerständiges entsteht, in den Blick zu nehmen und, wie es häufig geschehe, die eine oder andere Dimension singulär zu fokussieren, sondern beide Aspekte in ihrer Gleichzeitigkeit zu denken. Weder sollte ein autonomes Individuum noch eine allmächtige Struktur behauptet, sondern beide Phänomene in ihrer gegenseitigen Bedingtheit gedacht und untersucht werden. Zu Beginn der vorliegenden Arbeit hatte ich auf Mecheril (2016) Bezug nehmend hervorgehoben, dass sich migrationspädagogische Forschung dafür interessieren sollte, wie in migrationsgesellschaftlichen Verhältnissen natio-ethno-kulturell (rassifiziert) positionierte Subjekte hervorgebracht werden und wie diese lernen, sich als bestimmte Subjekte zu denken,

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dementsprechend zu handeln und sich auf die jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen zu beziehen. Ich hatte sodann die Fragerichtung in der vorliegenden Arbeit auf einen spezifischen migrationsgesellschaftlichen Kontext, die weltwärts-Mobilität, bezogen. Dabei habe ich mich nicht nur für diese Mobilität interessiert, sondern vielmehr den Blick auch auf folgende Fragestellungen gerichtet: Was für ein Bild von der Konstitution derjenigen Zugehörigkeitsordnungen ergibt sich, in denen Subjekte sich bildend Zugehörigkeitserfahrungen machen und zu denen sie sich ins Verhältnis setzen? Wie finden sich die Erzählenden in rassifizierten Zugehörigkeitsordnungen angerufen und wie positionieren sie sich? Können Bildungsprozesse in den Aneignungsweisen der vorherrschenden Zugehörigkeitsordnungen der Mobilität rekonstruiert werden? Und wie lassen sich diese konzeptualisieren? In der Forschung interessierte ich mich daher entsprechend RiegerLadichs oben formulierter Herausforderung für Ordnungen und Subjekte in ihrer Relationalität und Kontingenz, weil und insofern sie sich als eine migrationspädagogische Forschung positioniert. Mit Mecheril kann die migrationspädagogische analytische Perspektive noch einmal hervorgehoben werden. Diese zeichnet sich durch […] die Analyse migrationsgesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen [aus], jener beispielsweise symbolischen Sinn- und Bedeutungsstrukturen, die Menschen im Hinblick auf die Möglichkeit einer freieren Existenz behindern, ihre Würde einschränken und sie entmündigen sowie die Analyse der Praktiken der Legitimierung von Herrschaftsverhältnissen (etwa: Universalisierung [des Partikularen]; Naturalisierung (des Kulturellen); Vernotwendigung (des Kontingenten); Normativierung (des Empirischen); Essentialisierung (des Relationalen). (Mecheril 2020: 66) Eine Subjektivierungs- und Bildungsforschung in Anlehnung an postfundamentalistische Ansätze und insbesondere an Laclau, Mouffe und Hall bietet sich m.E. an, diesen von Rieger-Ladich und Mecheril formulierten Anforderungen zu begegnen. Denn postfundamentalistische Perspektiven, für die jene Autor*innen stehen, sind in ihrem Ausgehen von einer prinzipiellen Grundlosigkeit des Sozialen – und damit auch des Subjekts – geeignet, die Gleichzeitigkeit von Phänomenen zu berücksichtigen. Anstelle von Bildung, Freiheit usw. als »transzendenten Bezugspunkten« (Schäfer 2011a: 104) auszugehen, deren Bedeutung und Möglichkeit gegeben ist, wird aus der Perspektive der vorliegenden Arbeit danach gefragt, wie »in einem Raum sozialer Auseinandersetzungen ›transzendente Bezugspunk-

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te‹ hervorgebracht werden«. Signifikanten wie Bildung, Freiheit usw. sind in Schäfers Worten daher immer nur als »›quasi-transzendentale[…]‹ Bezugspunkte« (ebd.: 111) zu verstehen. Sie seien quasi-transzendental, da sie immer von ihrer Grundlosigkeit unterlaufen würden und sie etwas durch und durch Uneinheitliches als Einheitliches repräsentieren. Um ihre Ausgestaltung wird dabei kontinuierlich gerungen, was sichtbar gemacht werden kann, wenn Konzepte nicht als gegeben angenommen werden. Mit Schäfer lässt sich dies etwa am Beispiel der gegenwärtigen politischen Bedeutungsverschiebungen von Bildung verdeutlichen. Im Zuge internationaler Vergleichsuntersuchungen des Schulwesens sei Bildung zu einem »fundamentalen Problem der heutigen deutschen Gesellschaft« (ebd.:112) stilisiert geworden. Von Bildung scheine »die Frage der sozialen Gerechtigkeit, das Glück der individuellen Zukünfte, der Wirtschaftsstandort Deutschland im Horizont der Globalisierung und vieles mehr, wenn nicht alles abzuhängen« (ebd.). Planbarkeitsund Machtbarkeitserwartungen seien dabei in den Vordergrund gerückt und andere Bedeutungen, wie Selbstbestimmung, Individualität. Persönlichkeit etc., in den Hintergrund gedrängt worden. Andere zuvor in Differenz zu Bildung gesetzte Kategorien seien zudem in Bildung aufgegangen, bspw. Qualifikation, Wissen, Lernen, Erfahrung. Hier sei ein Beispiel für die »entleerende Durchsetzung eines Signifikanten in einem Netz anderer ebenfalls unbestimmt bleibender Signifikanten (…): Nation, Globalisierung, Zukunft, Reform usw.« (ebd.: 113) zu finden. Was hier als Notwendigkeit präsentiert werde, sei in Wirklichkeit Ergebnis und andauernder Prozess erfolgreicher Hegemonisierung, in dessen Zuge alternative Vorstellungen von Bildung weitgehend verdrängt worden seien. Ricken (2019: 109) argumentiert in ähnlicher Richtung, dass »[die] in ›Bildung‹ implizierte Normativität […] selbst Teil des Problems [sei] – und das insbesondere dadurch, dass sie individualtheoretisch verfasst und letztliche eng an Leistung gebunden ist.« Alternative Vorstellungen von Bildung sind in postfundamentalistischer Lesart zwar randständiger geworden (vgl. Fuchs 2011: 49), lassen sich aber auch nie völlig verdrängen und auch die momentan vorherrschende Ausdeutung von Bildung und ihre Nähe zu Qualifikation, Lernen, Wissen müssen als nicht fest gefügt begriffen werden. Um sie kann und wird vielmehr gerungen werden. Dies umso mehr, je weniger die Konzepte in den Bereich des Selbstverständlichen fallen. Die Frage nach dem Spezifischen des Bildungsversprechens ist in diesem Sinne immer auch als Frage nach seinem »spezifischen Ort und [der] spezifische[n] Funktion des Imaginären« (Schäfer 2011a: 137) zu verstehen und

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daher auch immer wieder neu zu stellen und zu beantworten. Es gibt in diesem Verständnis nicht »die« Bildung, wohl aber Bildung in spezifischer, umkämpfter Funktion und in Zusammenhang mit der Etablierung jeweils spezifischer, umkämpfter Ordnungen stehend. Nicht zuletzt aus diesem Grund habe ich die im ersten Kapitel dieser Arbeit bspw. von Fuchs formulierte Anforderung der normativen Auszeichnung von Bildung politisch verstanden. Denn was, so möchte ich fragen, ist eine normative Auszeichnung anderes als eine Verortung im Raum des Politischen, als ein Einsatz für die eine oder die andere grundlose aber gut begründete Form der Ausgestaltung des Sozialen? In dieser Lesart, in der es nicht »die« Bildung gibt, wohl aber einen wohl begründeten, wenn auch letztlich grundlosen, Einsatz für eine bestimme Lesart und ein bestimmtes Verständnis von Bildung, gibt es auch nicht »die« Emotion und »die« Bewusstheit, auf die sich Kai und Ann beziehen, wohl aber bestimmte vorherrschende Deutungen von und daher Möglichkeiten des Verweises auf und der Artikulation mit Emotion und Bewusstheit usw. Wohlgemerkt scheint es wichtig, in diesen Überlegungen, die über Konsequenzen der prinzipiellen Grundlosigkeit nachdenken, die unterschiedlich privilegierten Möglichkeiten einzubeziehen, die Subjekten vor dem Hintergrund der ungleichen Verteilung von Ressourcen in ihrer Vernähung mit dem Diskurs zur Verfügung stehen. Aus diesem Grund könne, so kritisieren Geipel und Mecheril (2015: 53) an Butler, nicht etwa einfach generell »Postsouveränität als Bildungsziel« ausgewiesen werden. Denn dabei werde vergessen, dass postsouverän nur werden könne, wer vorher einigermaßen souverän gewesen sei. Es werde in einem generellen Anspruch der Post-Souveränität also die soziale Exklusivität und Partikularität von Souveränität vernachlässigt: Dort wo Präsouveränität die Erfahrungen und Selbstweisen von Menschen maßgeblich strukturiert, ist ein Bildungsziel, das vorsieht, die eigene Souveränität zu verlieren, nicht nur paradox (wie kann ich etwas verlieren, was ich nicht besitze?), sondern auch zynisch. Da, wo (Bürger-)Rechte stark eingeschränkt sind und informelle Ausschlüsse signifikant wirksam sind (Flucht und Migration), lautet eine Aufgabe von Bildung wohl auch: Räume schaffen, in denen Menschen ein Gespür und eine Sprache dafür entwickeln, dass ihnen das Recht auf das zusteht, was theoretisch unterkomplex und wohl auch irreführend Selbstbestimmung genannt wird. (Geipel und Mecheril 2015: 53) Dieser Einwand von Geipel und Mecheril scheint mir bedeutend. Zu häufig, so möchte ich noch einmal ein bereits zuvor angeführtes Argument aufgreifen,

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gerät aus dem Blick, dass es nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Kolonialismus und der Rassifizierung von Zugehörigkeitsordnungen spezifische Ungleichheiten gibt, die dazu führen, dass »Souveränität«, »Post-Souveränität«, »Selbstbestimmung« aus verschiedenen Perspektiven unterschiedlich angemessene Zielvorstellungen sind. Aus rassismuskritischer Perspektive scheinen daher sowohl mehr Postsouveränität als auch mehr Souveränität angemessene Bildungsziele zu sein, in Abhängigkeit von den jeweiligen strukturellen Positionen, von denen ausgegangen wird. In einem nicht-essenzialistischen Verständnis davon, »wie Macht in die Möglichkeiten der Menschen, ihr Leben auf würdige und sichere Art zu verbringen, eindringt, sie beschneidet und sich ihrer bemächtigt« (Grossberg 1999: 62, zitiert nach Mecheril 2020: 60), ist zudem nicht festgefügt, »was ›freiere Existenz‹, ›Behinderung‹, ›Würde‹ und ›Entmündigung‹« (Mecheril 2020: 66) konkret bedeuten. Vielmehr müssen diese Bedeutungen als sich wandelnd und immer vor dem Hintergrund der jeweiligen gesellschaftlichen und empirischen Bedingungen betrachtet werden. Ich hoffe in dieser Arbeit gezeigt haben zu können, dass die weltwärts-Mobilität einen sehr interessanten Fokus für die Thematisierung von migrationsgesellschaftlichen Verhältnissen und die Thematisierung von Bildungsprozessen darstellt. Einerseits, weil hiermit eine privilegierte Mobilität in den Blick rückt, die – als privilegierte Mobilität – eher selten zum Gegenstand kritischer Migrationsforschung wird, die sich i.d.R. (immer noch) stärker mit Kategorien räumlicher Bewegung beschäftigt, welche als Migration markiert wird. Diese Mobilität ist als migrationsgesellschaftlicher Kontext aber von migrationsgesellschaftlichen Differenzordnungen geprägt und diese werden in ihr aufgerufen und spezifisch angeeignet. Andererseits lassen sich im Kontext dieser Mobilität spezifische Irritationen der gewohnten Selbstpositionierungen rekonstruieren, die mitunter auch zur Befragung der Rassifizierungsprozesse im natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitskontext Deutschland führen. Es scheint mir bedeutsam, an dieser Stelle noch einmal darauf hinzuweisen, dass geografische Ordnungen aus Sicht der kritischen Migrationsgesellschaftsforschung immer auch an Prozesse des Otherings gekoppelt sind, die mit Imaginationen der Bedeutung der Relation geografischer Herkünfte in Zusammenhang stehen. Die Hervorbringung neuer, alternativer Vorstellungen der Verbundenheit zwischen (Menschen in) geografischen Kontexten – die sich in den Erzählungen rekonstruieren ließen – scheint vor diesem Hintergrund aus migrationspädagogischer Perspektive sehr bedeutsam. Zwar folgt

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daraus nicht notwendigerweise auch ein Einsatz für weniger gewaltvolle Verhältnisse, es bieten sich aber, wie sich in Anschluss an Featherstone argumentieren ließe, sehr wohl Möglichkeiten dazu. So geht, wie ich weiter oben argumentiert habe, Featherstone (2012: 35) in seiner Cultural Studies orientierten Thematisierung von Solidarität davon aus, dass diese als Teil einer fortlaufenden Hervorbringung der Beziehung zwischen Orten begriffen werden müsse und dass so auch die Hervorbringung alternativer Verständnisse zwischen Orten bedeutsam sei. Vor dem Hintergrund der nicht notwendigen Organisation der globalen Beziehungen als basierend auf Kapitalismus und Rassismus scheint die alternative Erfahrung dieser Relationen ein möglicher Ausgangspunkt für die kritische Auseinandersetzung mit ihrer Konstitution zu sein. Bereits in der Diskussion der kolonialen Ordnungen wurde deutlich, dass diese unsicher und kontingent waren und viel Aufwand betrieben werden musste und betrieben wurde, um die rassistisch strukturierte Ordnung aufrecht zu erhalten. Einerseits, so habe ich argumentiert, bringt die entwicklungspolitische Mobilität globale Vorstellungen der hierarchischen Relation zwischen Kontexten erneut hervor. Andererseits ist diese Mobilität aber auch in sich widersprüchlich, was insbesondere für die entwicklungspolitische Freiwilligenmobilität gilt, die sich etwa in Widersprüchen zwischen dem Anspruch zu »helfen« und erfahrener Kompetenzlosigkeit und/oder Wünschen danach, eine gute Zeit zu haben und sich zu integrieren, und der Erfahrung der Positioniertheit in einer rassifizierten Ordnung äußert. So ist sowohl Bestätigung und Wiedereinschreibung rassifizierter Zugehörigkeitsordnungen als auch Potenzial für ihre Kritik Teil der Mobilität. Vor allem die aus dieser Widersprüchlichkeit folgende Möglichkeit, alternative Lesarten vorherrschender Diskurse zu entwickeln, die auch die von mir Interviewten ins Zentrum ihrer (Re-)Positionierungserzählungen stellen, scheint mir ein wichtiger Anknüpfungspunkt für weitere Überlegungen. Von besonderer Bedeutung waren dabei – in bildungstheoretischer Lesart – solche Interaktionen mit anderen, in denen sich die Akteur*innen verstanden, wertgeschätzt und gewürdigt »fühlten« und die sie – daher – als Ressourcen für kritische Positionierungen gegenüber vorherrschenden Zugehörigkeitsordnungen nutzten. Da ich im Rekurs auf Ahmed und Breitenbach argumentiert habe, dass hierarchische Strukturierung selbst in sedimentierten Formen »gefühlt« wird, scheint mir die Orientierung an »Freiere[r] Existenz«, weniger »Behinderung«, mehr »Würde«, weniger »Entmündigung« ein wichtiger empirischer Ankerpunkt für bildungstheoretisch orientierte Forschun-

11 Schlussbetrachtung

gen. Es scheint lohnenswert, diesen Zusammenhängen auch in zukünftigen Bildungsforschungen weiter nachzugehen.

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Danksagung

Ich freue mich, nun an einem Punkt angelangt zu sein, an dem ich mich bedanken kann. Bedanken bei all jenen, die meine Dissertation in den letzten Jahren begleitet haben, ohne die diese Arbeit nie zustande gekommen wäre und die mich unterstützt, zum Nachdenken angeregt, herausgefordert, abgelenkt und mitunter auch ausgehalten haben. Ganz besonders möchte ich mich bei meinen beiden Betreuer*innen Paul Mecheril und Anna Amelina bedanken. Danke euch beiden für eure Geduld und für die immer konstruktive Kritik, die meine Arbeit, obwohl sie sicherlich weiterhin durch nicht zu behebende Unvollständigkeit gekennzeichnet ist, mit Sicherheit um vieles besser hat werden lassen. Danke, Paul, dass du mich mit deinen Anregungen, kritischen Nachfragen und der Motivation zur Weiterarbeit begleitet hast. Selbst dann, wenn ich wieder eine neue Schleife gedreht habe, und danke auch dafür, dass du mich genauso gerne selbst in eine weitere Reflexionsrunde geschickt hast. Danke, Anna, dass du meine Arbeit begleitet und mir den Glauben an ihre Machbarkeit (wieder) gegeben hast. Danke auch insbesondere für die Zeit zum Denken und zum Finalisieren meiner Dissertation neben meiner Arbeit, das ist alles andere als selbstverständlich. Vielen Dank auch an Katharina Kriegel-Schmidt, die mir in ihrer Zeit am Fachgebiet ebenfalls Begleitung, Reflexionsmöglichkeit und Raum für das Anfertigen dieser Arbeit gegeben hat. Vielen Dank an die Mitglieder der Forschungswerkstatt Migration und Bildung, die mir immer ein wichtiger und anregender Zusammenhang des Austausches, des Nach- und Weiterdenkens und der Interpretation war und ist und an der ich in der letzten Zeit leider viel zu wenig teilnehmen konnte. Danke Alisha, Arzu, Baris, Daniel, Gerd, Jan, Laila, Marie, Matthias, Nadine, Natascha, Rhadika, Saphira, Tobi und allen anderen, die hier unerwähnt bleiben, für eure Perspektiven und den Austausch, der mir wichtig war und ist, und von dem ich viel profitiert habe. Vielen Dank an die Mitglieder der Inter-

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pretationswerkstatt »Leuchtfeuer«, an Julia, Katja, Leonie und Michaela, die mir bei der Interpretation meines Materials immens geholfen haben und ein wichtiger Raum des Austauschs aber auch der Kontinuität der Arbeit an der Dissertation für mich waren. Danke an Daniel, Friz, Jan, Katharina, Klaus, Lucia, Nadine, Thomas, Tobi für das intensive Lesen von Passagen dieses Buches. Ihr habt geholfen, den Text besser zu machen! Besonderer Dank geht an Daniel, Lucia und Thomas, die mir eine große Hilfe im Austausch zu meinen Texten waren – vor allem in der finalen Phase. Tausend Dank, lieber Jo, für die zeitaufwendige und gründliche Korrektur des finalen Manuskriptes, für dessen Fehler ich weiterhin alleinige Verantwortung trage. Danke an meine Studierenden, die mich zu vielen Überarbeitungen, zum Nachdenken und Neudenken angeregt haben und weiter anregen. Danke all jenen, die ich hier vergessen und die dennoch Wichtiges zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben. Den von mir Interviewten danke ich, dass ich euch interviewen und aus den daraus hervorgehenden Transkripten Interpretationstexte erstellen durfte! Danke auch den freundlichen und hilfsbereiten Menschen in NGOs, die mir dabei geholfen haben, Kontakte zu euch herzustellen. Ganz besonderer Dank gilt meiner Familie, meinen Eltern und meiner Schwester. Ein großes Danke auch an meine beiden Kindern, ohne die ich es nicht geschafft hätte, diese Arbeit zu schreiben, die mich immer wieder auf den Boden der Tatsachen geholt und trotz denen diese Arbeit fertig geworden ist.

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Handbuch Transdisziplinäre Didaktik August 2021, 472 S., kart., Dispersionsbindung, 7 Farbabbildungen 39,00 € (DE), 978-3-8376-5565-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5565-4 EPUB: ISBN 978-3-7328-5565-0

Andreas de Bruin

Mindfulness and Meditation at University 10 Years of the Munich Model April 2021, 216 p., pb. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5696-1 E-Book: available as free open access publication PDF: ISBN 978-3-8394-5696-5

Andreas Germershausen, Wilfried Kruse

Ausbildung statt Ausgrenzung Wie interkulturelle Öffnung und Diversity-Orientierung in Berlins Öffentlichem Dienst und in Landesbetrieben gelingen können April 2021, 222 S., kart., Dispersionsbindung, 8 Farbabbildungen 25,00 € (DE), 978-3-8376-5567-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5567-8

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Pädagogik Andreas de Bruin

Achtsamkeit und Meditation im Hochschulkontext 10 Jahre Münchner Modell Februar 2021, 216 S., kart., durchgängig vierfarbig 20,00 € (DE), 978-3-8376-5638-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5638-5

Ivana Pilic, Anne Wiederhold-Daryanavard (eds.)

Art Practices in the Migration Society Transcultural Strategies in Action at Brunnenpassage in Vienna March 2021, 244 p., pb. 29,00 € (DE), 978-3-8376-5620-6 E-Book: PDF: 25,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5620-0

Melanie Groß, Katrin Niedenthal (Hg.)

Geschlecht: divers Die »Dritte Option« im Personenstandsgesetz – Perspektiven für die Soziale Arbeit Februar 2021, 264 S., kart., Dispersionsbindung, 1 SW-Abbildung 34,00 € (DE), 978-3-8376-5341-0 E-Book: PDF: 33,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5341-4

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