Kunstpraxis in der Migrationsgesellschaft: Transkulturelle Handlungsstrategien der Brunnenpassage Wien [2., überarbeitete und erweiterte Auflage] 9783839455463

Der etablierte Kulturbereich steht vor einem Paradigmenwechsel. Im Zentrum steht der Anspruch, der Diversität der Bevölk

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Kunstpraxis in der Migrationsgesellschaft: Transkulturelle Handlungsstrategien der Brunnenpassage Wien [2., überarbeitete und erweiterte Auflage]
 9783839455463

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Die Brunnenpassage - Einleitende Worte
Thinking in Practice – Kontextualisierung der Brunnenpassage Wien
Transformative Practice – Das künstlerische Konzept der Brunnenpassage
Navigating Change – Strategische Partnerschaften und Impulse für die Kulturpolitik
Promising Practice – Konkrete Handlungsanleitung
Sharing Stories. Dinge Sprechen. – Ausstellung
Jump!Star – Virtuelle Kunstintervention
Not a Single Story – Kollektives Tagebuch
Zeit.Geschichten – Geschichtenspaziergänge
DJing für Frauen*
Ausnahmezustand Mensch Sein – Theaterproduktion
StraßenKunstFest
Gesangsprojekte
Piknik – Gemeinsam Frühstücken
Zwischen Nachbarn – Fotoausstellung
Cinemarkt – Kino
Nachwort
Kurzbiografien
Dank
Impressum

Citation preview

Kunstpraxis in der Migrationsgesellschaft Transkulturelle Handlungsstrategien der Brunnenpassage Wien 2., überarbeitete und erweiterte Ausgabe Ivana Pilić, Anne Wiederhold-Daryanavard (Hg.)

Inhaltsverzeichnis 5



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Die Brunnenpassage – Einleitende Worte Ivana Pilić, Anne Wiederhold-Daryanavard

Thinking in Practice – Kontextualisierung der Brunnenpassage Wien Zuzana Ernst, Ivana Pilić

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Transformative Practice – Das künstlerische Konzept der Brunnenpassage



Zuzana Ernst, Ivana Pilić, Anne Wiederhold-Daryanavard



37

Navigating Change – Strategische Partnerschaften und Impulse für die Kulturpolitik



Zuzana Ernst, Natalia Hecht, Ivana Pilić, Anne Wiederhold-Daryanavard



65

Promising Practice – Konkrete Handlungsanleitung

66

Sharing Stories. Dinge Sprechen. – Ausstellung



Elisabeth Bernroitner

84

Jump!Star – Virtuelle Kunstintervention



Zuzana Ernst

102

Not a Single Story – Kollektives Tagebuch



Zuzana Ernst, Natalia Hecht

118

Zeit.Geschichten – Geschichtenspaziergänge



Tilman Fromelt

134

DJing für Frauen*



Ivana Pilić, Anne Wiederhold-Daryanavard

148

Ausnahmezustand Mensch Sein – Theaterproduktion



Elisabeth Bernroitner

176

StraßenKunstFest



Gordana Crnko

192

Gesangsprojekte



Gordana Crnko

216

Piknik – Gemeinsam Frühstücken



Anne Wiederhold-Daryanavard

220

Zwischen Nachbarn – Fotoausstellung



Ivana Pilić, Anne Wiederhold-Daryanavard

226

Cinemarkt – Kino



Zuzana Ernst

236 Nachwort



Tania Bruguera

240 Kurzbiografien 242

Dank

243 Impressum

Ivana Pilić, Anne Wiederhold-Daryanavard

Die Brunnenpassage Einleitende Worte

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Die Brunnenpassage in Wien ist seit der Gründung im Jahr 2007 Labor transkultureller und partizipativer Kunstproduktion. In der ehemaligen Markthalle am Wiener Brunnenmarkt im 16. Wiener Gemeindebezirk ‚Ottakring‘ finden jährlich über 400 Veran­ staltungen statt. Das zeitgenössische, transdiziplinär kuratierte Programm reicht von Theater, Performance und Tanz über Musik­ formate bis hin zu bildender Kunst und Film. Die Halle wird für Proben, Workshops, Aufführungen und Diskussionen gleichermaßen genutzt. Jährlich gibt es vor Ort rund 32.000 Besucher­ *innen1. Es werden Eigen- und Koproduktionen realisiert, die in der Brunnen­passage, Open Air sowie in großen Kulturinstitutionen in der Innenstadt umgesetzt werden.

DER ORT

Die Brunnenpassage liegt am Wiener Brunnenmarkt im 16. Wiener Gemeindebezirk, welcher zu den längsten ständigen Straßenmärkten Europas gehört und für die hohe Frequenz an Passant*innen bekannt ist. Das Gebäude der Brunnenpassage steht inmitten eines großen, autofreien Marktplatzes und wurde ursprünglich als Markthalle errichtet. Der Komplex besteht aus einer 230 m2 großen Halle mit zwei angrenzenden Büroräumen. Durch die Architektur des Veranstaltungsraums mit seinen stufenlosen Zugängen und barrierereduzierten Toiletten ist das Gebäude auch für Menschen im Rollstuhl zugänglich. Die bauliche Transparenz und Niederschwelligkeit wirkt einladend und wird programmatisch genutzt. Vorbeigehende Passant*innen entdecken und besuchen die Brunnenpassage auch spontan. Die Lage am Markt, die auffällige, mehrsprachig gestaltete Außenfassade aus Glas und die Plakatständer vor dem Gebäude verstärken diese offene Wirkung. Eine diverse Bevölkerungsstruktur ist im migrationsgeprägten Arbeiter*innen-Stadtviertel rund um den Wiener Brunnenmarkt im Besonderen erlebbar. Ab 1997 wurden im Brunnenviertel eine kontinuierliche Förderung von Prozessen der Bürger*innen-­ Beteiligung zur Gebietsaufwertung ins Leben gerufen. Baumaß­nahmen sowie der Zuzug neuer kaufkräftiger Bevölkerungsgruppen hatten auch negative Auswirkungen, da etwa Mieterhöhungen zur Verdrängung finanz­schwacher Personen und Familien führten. Umso wichtiger ist es, dass die Brunnenpassage nicht kommerziell agiert und die unmittelbare Teilhabe der Nachbar*innen in ihrer Diversität fördert.

1 Der Stern (*) steht für Geschlechtervielfalt und soll der Zweigeschlechternorm sprachlich etwas entgegensetzen (Baumgartinger 2008: 35). Im Hinblick auf Benachteiligung und sexistische Diskriminierung gegenüber Menschen, die sich nicht in der Norm der Zweigeschlechtlichkeit verorten können oder wollen, sieht das Team der Brunnenpassage hier auch ihre Verantwortung gegenüber trans*, inter* und nicht-binären Menschen. Dabei sind wir uns dessen bewusst, dass die Auseinandersetzung mit Geschlechteridentitäten nicht zu den zentralen Expertisen der Brunnenpassage zählt. Über den intersektionalen Zugang  ist es allerdings ein wichtiger Aspekt im Arbeiten und der Identität der Brunnenpassage. Die Verwendung des Sterns steht für  die Vielfalt der Geschlechter und spiegelt einen weiteren Schritt im Sensibilisierungsprozess der sich stetig weiterentwickelnden Organisation wider. 

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DAS KÜNSTLERISCHE PROFIL

Die Heterogenität der Bevölkerung ist Ausgangspunkt für das künstlerische Konzept der Brunnenpassage. Dabei wird die ­Frage fokussiert, wie zeitgenössische Kunstproduktionen etabliert werden können, die für einen möglichst großen Teil der Wiener Stadtgesellschaft relevant sind. Durch das Experimentieren mit innovativen Formaten und transdisziplinären Methoden werden neue ästhetische Erfahrungen und Ausdrucksweisen kreiert. Die künstlerische Herangehensweise ist mehrsprachig, transkulturell, intergenerational und nach dem Prinzip Pay-as-you-can frei von finanziellen Barrieren. Produktionen und partizipative Formate entstehen in Zusammenarbeit von lokalen und internationalen Künstler*innen sowie der Zivilgesellschaft. Menschen unterschiedlicher biographischer Kontexte werden zu Protagonist*innen des künstlerischen Programms. Die Brunnenpassage übt sich darin, Barrieren zu reduzieren, vor allem für all jene, die von Ausschlussmechanismen betroffen sind. Bisher unterrepräsentierte Bevölkerungsgruppen und deren Multiplikator*innen werden wienweit aktiv und mit dem Ziel einer nachhaltigen Zusammenarbeit aufgesucht. Über Kunstprozesse ermöglicht der Veranstaltungsraum Verbindungen zwischen Individuen, die sonst im Alltag wenige Berührungspunkte aufweisen. Mit den heterogenen Mitwirkenden und dem Publikum entstehen neue kollektive Räume. Ein selbstbestimmtes Miteinander abseits von klassischen Zuteilungen wird ermöglicht und sozialer Zusammenhalt gestärkt. Die Kraft dieser Prozesse wird ästhetisch verarbeitet und mündet in Kunstproduktionen, die sich für eine Anerkennung der heterogenen Stadtgesellschaft stark machen.

DAS ZIEL

Die gesellschaftlichen Transformationsprozesse lösen zunehmend Auseinandersetzungen aus. Dabei sind zwei entgegengesetzte Kräfte am Wirken: eine Politik der Abschottung, die zurückkehren will zu den vermeintlich reinen Ursprüngen von Kultur und Gemeinschaft und damit verbunden eine stark ausgrenzende Vorstellung davon, wer ‚Wir‘ ist. Dieser Auffassung steht die Anerkennung heterogener Gesellschaften entgegen – und damit die Suche nach einer dynamischen und inklusiveren Praxis, die der gesellschaftlichen Vielheit gerecht wird. Die Brunnen­passage ist dem eigenen Selbstverständnis nach als offener Kunstraum zu begreifen, für manche Wiener*innen ­sicher auch als erster Moment von Teilhabe am kulturellen Leben der Stadt, und bildet dadurch eine Art Erstinstanz von Partizipationsmöglichkeit. Die Brunnenpassage beruft sich dabei auf den Artikel 27 der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen: 'Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen.' Künstlerische Qualität wird mit einer sozial- und kulturpolitischen Zielsetzung verbunden. Das künstlerische Feld – genauso wie die Gesellschaft selbst – ist nicht frei von gesellschaftlichen Machtverhältnissen, die in die Kulturproduktion und -rezeption ebenso eingeschrieben sind, wie sie in der Kulturförderung reproduziert werden. Die Brunnenpassage beschäftigt sich mit der Frage, wie durch künstlerische Produktion Praxen etabliert werden können, die den hierarchisierenden Machtverhältnissen der Gesellschaft entgegentreten und Verständigung, 7

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Aushandlung und Kommunikation zwischen sozialen Gruppen anstoßen. Dabei scheint es uns konzeptuell unerlässlich, diese Frage nicht nur auf die Publikumsarbeit zu reduzieren, sondern ebenfalls auf die Personalauswahl in allen Hierarchieebenen, die Künstler*innenauswahl in der Programmatik, die Stoffauswahl, die Entwicklung und Durchführung von neuen künstlerischen ­Formaten und die Weiterentwicklung von Partizipations­formen anzuwenden. Das Praxishandbuch stellt Akteur*innen, wie Künstler*innen, Kultur­schaffenden und Kulturpolitiker*innen Erfahrungen aus unserer täglichen Praxis zur Verfügung. Das Handbuch besteht aus drei Teilen: Mit Thinking in Practice möchten wir die Brunnen­ passage theoretisch kontextualisieren und grundsätzlicher besprechen. Das Kapitel Transformative Practice geht konkreter auf die Arbeitsweisen und Grundlagen des Kuratierens der Brunnenpassage ein. Im dritten Teil Navigating Change zeigen wir die konkrete Projektkonzeption und -umsetzung auf und veranschaulichen ausgewählte Beispiele aus der künstlerischen Praxis. Dabei werden Handlungsspielräume sowie Herausforderungen ­aufgezeigt.

ZENTRALE ARBEITSWEISEN Transdisziplinäres Kuratieren in der Brunnenpassage Erklärtes Ziel der Brunnenpassage ist das Kreieren neuer ästhetischer Erfahrungen in der Kunst, die der diversen Gesellschaft entsprechen. Diese Ästhetik ist geprägt von Transdisziplinarität, Mehrsprachigkeit, Einbindung von Künstler*innen unterschiedlicher Genres sowie Expert*innen ohne künstlerische Ausbildung und inhaltliche Multiperspektivität durch die verschiedensten biografischen Erfahrungen. Partizipation Das Programm ist konzeptuell hinsichtlich verschiedener Formen der Zugänglichkeit aufgebaut und erstreckt sich von offenen Workshops über geschlossene Formate bis hin zu Performances und Veranstaltungsreihen. Ebenso werden verstärkt Künste praktiziert, die einen kollektiven Schaffensprozess ermöglichen, statt auf solistische Ausdrucksweisen zu setzen. Mehrsprachigkeit Die Brunnenpassage arbeitet und experimentiert fortwährend mit Vielsprachigkeit in der Kunst, als ästhetischer Ausdruck, im Produktionsprozess sowie im Marketing und im Team. Zusätzlich wird Zugänglichkeit über Veranstaltungen erleichtert, die ohne ­gesprochene Sprache stattfinden (etwa im Tanz und Musikbereich). Kooperationen Kernkomptenz der Brunnenpassage sind Kooperationen. Hier ist ein doppelter Kooperationsansatz entscheidend, der sowohl die lokale Vernetzung als auch die Kooperation mit großen Kulturinstitutionen der Wiener Innenstadt umfasst. Neue Publika Die Brunnenpassage programmiert genreübergreifend, intergenerational und transkulturell. Dies erleichtert das Erreichen verschiedener Dialoggruppen. Bei der Bewerbung werden die zur Verfügung stehenden Ressourcen überwiegend dazu 8

­ erwendet, all jene Menschen zu erreichen, die Kulturinstitutiov nen bisher nicht nutzten. Beratung und Diskurs Die auf praktischer Arbeit basierende Expertise im Bereich ­Diversity & Arts hat in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit vieler Kunst- und Kulturinstitutionen, Stadtplanungsressorts und Stiftungen geweckt. Die Brunnenpassage ist zu einer konstanten Dialogpartnerin auf nationaler und internationaler Ebene geworden. Wissenstransfer Dieses Handbuch zeigt auf, wie Teilhabe möglich wird und wie Kunstprojekte im Konkreten organisiert werden können, die der Vielheit der Wiener Bevölkerung entsprechen. Als Ausgangspunkt der Expertise dienen hier die Erkenntnisse unserer künstlerischen und institutionellen Praxis, die seit der Gründung 2007 gewonnen wurden. Die Brunnenpassage versteht sich als lernender Raum, der durch die in Beziehung tretenden Menschen rund um den Brunnenmarkt entsprechende Modelle entwickelt und die eigenen Kunstformate in Hinblick auf Qualität und Teilhabemöglichkeiten reflektiert. Täglich treffen sich in der Brunnen­passage Menschen, um gemeinsam mit Künstler*innen zu proben, zu produzieren, auf der Bühne zu stehen und mit neuen künstlerischen Formaten zu experimentieren. Viele Erfahrungen in der alltäglichen Praxis werden durch die Besucher*­ innen und Mitwirkenden geäußert, vom Personal reflektiert und in Learnings verarbeitet. Das Wissen der diversen Perspektiven der Besucher*innen und Nutzer*innen ist die Basis des lebendigen Labors. Zuhören und Feedback sowie eine konstruktive Fehlerkultur sind die Grundlage unserer Arbeit. Ein wesentlicher Faktor für den Erfolg der Brunnenpassage ist die Diversität unseres Personals. Vielfältige Hintergründe und Erfahrungen ermöglichen unterschiedliche Blickwinkel und einen Lernprozess für die Gesamtorganisation, die sich dadurch stetig auf allen Ebenen weiterentwickelt. In der vorliegenden erweiterten Neuauflage wird daher dem Team der Brunnenpassage mehr Raum gegeben. Mitarbeiter*innen und Wegbegleiter*innen erscheinen hier als Autor*innen. Neben Aktualisierungen in Bezug auf die gegenwärtigen Debatten und neuere Literatur zeigen wir darüber hinaus auch Weiterentwicklungen der Brunnenpassage – wie die strategischen Partnerschaften und die neuen Produktionen – auf. Auch in der Struktur des Buches gibt es Neuerungen: So werden die deutsche und die englische Ausgabe diesmal separat erscheinen. Letztlich sind zur Inspiration auch viele neue Bilder der ­täglichen Arbeit vor Ort hinzugefügt worden. Wir wünschen eine anregende Lektüre! Die Herausgeberinnen Ivana Pilić und Anne Wiederhold-Daryanavard

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Zuzana Ernst, Ivana Pilić

Thinking in Practice Kontextualisierung der Brunnenpassage Wien

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Die Wiener Brunnenpassage ist ein Kunstort, der transdisziplinäre Formate entwickelt, erprobt und damit vielfältige Perspektiven sichtbar macht. Ein besonderer Fokus liegt auf künstlerischen Produktionen, die Teilhabe1 für marginalisierte Akteur*innen im Kulturbetrieb vorantreiben und breite Teile der Bevölkerung diskriminierungskritisch ansprechen. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf Mehrsprachigkeit gelegt, um rassistische Ausschlüsse und Barrieren abzubauen. Um kollaborative Schaffensprozesse mit unterschiedlichen Akteur*innen zu ermöglichen, werden Methoden der aufsuchenden Dialoggruppenarbeit angewandt und Synergien mit Multiplikator*innen gefunden. Die dezentrale Lage der Brunnenpassage wird hierbei für eine intensive Zusammenarbeit mit der Bevölkerung vor Ort genutzt. Das künstlerische Profil der Brunnenpassage fokussiert auf partizipative Formate mit (post-)migrantischer2 Ausrichtung sowie inhaltlicher Multiperspektivität, die gekennzeichnet ist durch die diversen Lebensrealitäten der teilnehmenden Akteur*innen. Im Folgenden werden kulturtheoretische Bezüge und künstlerisch-ästhetische Fragen thematisiert sowie institutio­nelle Zusammenhänge verdeutlicht, in denen sich der Kunstort Brunnen­passage bewegt, als auch existierende Ausschlussmechanismen im Kunst- und Kulturbetrieb aufgezeigt. Dabei werden zunächst – mit dem Fokus auf die historischen Bezüge einer ‚Kunst für alle‘ – ausgewählte kulturpolitische Spannungsfelder besprochen, welche die gegenwärtig fehlende Anerkennung und Repräsentation der Heterogenität der Bevölkerung im Kulturbetrieb sichtbar machen. Fragen rund um Prozess- oder Produktausrichtung werden historisch besprochen, um transformative Strömungen aufzuzeigen, die als Entgegnung zu einem elitären Kunstverständnis zu verstehen sind und die die Etablierung einer sozial engagierten Kunstpraxis vorangetrieben haben. Anschließend werden strukturelle Ausschlüsse im Kunstund Kulturbetrieb in Hinblick auf rassistische und klassistische Diskriminierung beleuchtet. In diesem Kontext werden Kunstpraktiken, Vermittlungsansätze und institutionelle Rahmen­ bedingungen besprochen, in denen sich (post-)migrantische und unterrepräsentierte Kunstschaffende heute bewegen aber auch neue Maßstäbe im Kulturbetrieb setzen.

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1 Der Begriff der Teilhabe bezeichnet die Möglichkeiten des Individuums, sich als Teil des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu begreifen und gestaltend darauf Einfluss zu nehmen. Der Begriff der kulturellen Teilhabe umfasst somit sowohl die Teilnahme an Kultur als auch die eigene kulturelle Produktion (Akbaba et al. 2009; Terkessidis 2012; Sharifi 2011; Zobl 2019). 2 Der Begriff ‚postmigrantisch‘ wurde von der Berliner Theaterintendantin Shermin Langhoff aufgegriffen und geprägt. Unter ‚postmigrantischer Kulturarbeit‘ ist jegliche Praxis zu verstehen, die Diversität als Teil der Gesellschaft (an)erkennt und fördert (Foroutan et al. 2015; Gouma/Neuhold/Valchars 2010). Die Autorinnen setzen an dieser Stelle das ‚post‘ im ‚postmigrantisch‘ jedoch bewusst in Klammer, da dem Begriff des ‚Postmigrantischen‘ eine Distanzierung vom Migrantischen eingeschrieben ist. Wir schließen hier an Paul Mecheril (2014) an, der die Frage ins Zentrum rückt, welche Gruppen wie und mit welchen Interessen ihre Version migrationsgesellschaftlicher Wirklichkeit hegemonial werden lassen können. Die politische und kulturelle Besetzung des Migrantischen steht damit im Vordergrund und nicht seine Überwindung.

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KUNST UND KULTUR FÜR ALLE

Der Begriff Kultur hat im allgemeinen Sprachgebrauch mehrere Bedeutungen und unterliegt einer Uneindeutigkeit, da er durch seine Breite sowohl den Bereich der Kunst wie auch diverse Lebensweisen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen beschreiben kann. Der für lange Zeit vorherrschende Kulturbegriff, der primär ‚Hochkultur‘ meinte – also den Musik- und Kunstgeschmack der Elite, der höher als andere Stile bewertet wird (Drüecke/Klaus 2019) –, wurde in den 1960/70er Jahren um soziale und politische Komponenten erweitert (Allmanritter/­ Siebenhaar 2010). Diese Erweiterung fokussierte u.a. auf die Demokratisierung des Kulturbetriebs. Ziele waren die Öffnung der etablierten Kulturinstitutionen für breite Bevölkerungs­ gruppen außerhalb elitärer Strukturen, eine ebenbürtige Teilhabe und eine thematischen Öffnung (ebd.). Experimentelle und zukunftsweisende Künstler*innen appellier­ ten für eine Verschmelzung von Kunst und Alltag der Bevöl­kerung und hinterfragten den werkzentrierten Kontext in Galerien und Ausstellungshäusern. In den 1950/60er Jahren widmeten sich viele Künstler*innen in den Vereinigten Staaten, Europa und ­Japan in ihrer Arbeit Fragen, die zu einer Distanzierung von der Verwertbarkeit im Kunsthandel aber auch zur Dekonstruktion der künstlerischen Praxis der Moderne beitrugen. Auseinandersetzungen beispielsweise der Fluxus-Bewegung, wie die Hinterfragung etablierter Ästhetiken der Kunstelite und alltagsfremder Mechanismen des Kunstmarktes, waren nicht grundlegend neu, sondern ein Wiederauftauchen und Weiterdenken von Konzepten der Futurist*innen, Dadaist*innen und Surrealist*innen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Smith 1998). Das öffentliche Verständnis von Kunst wurde damit erweitert, sodass neben Fragen der Ästhetik (und des Handwerks) das Konzept und der künstlerische Prozess zentraler betrachtet wurden (Higgins 2002). Der Prozess eines Werkes gewann dadurch größere Bedeutung als das fertige Produkt und war somit nicht länger Mittel zum Zweck, sondern Zweck in sich selbst. Kulturpolitisch zeigte sich der gesellschaftliche Demokratisierungsanspruch verstärkt im Leitsatz ‚Kunst für alle‘, mit dem ein gesellschaftspolitisch aufgeklärtes, emanzipatorisches Verständnis über soziokulturelle Praxen in den Kulturbetrieb einzog (Pilić 2019). Es etablierten sich zahlreiche sozio­kulturelle Institu­tionen, wie etwa das WUK in Wien, ein Verein zur Schaffung offener Kultur- und Werkstättenhäuser, oder 1975 das Kulturzentrum Spittelberg im Amerlinghaus in Wien. Diese Institutionen erhoben den Anspruch, über den Selbstbezug künstlerisch-ästhetischer Diskurse hinauszuweisen und gesellschaftliche wie politische Mitgestaltung zu reflektieren (Messner/Wrentschur 2011). Die rasche Ausbreitung soziokultureller Institutionen führte im deutschsprachigen Raum allerdings bereits in den 1990er Jahren zu kritischen internen Betrachtungen durch Projektakteur*innen und Kunstschaffende, in denen eine zunehmende Entpolitisierung und der Verlust emanzipatorischer Zielsetzung attestiert wurden (Wagner 2011). Auch die Frage, wer genau denn ‚alle‘ im Konzept ‚Kunst für alle‘ sind und wer ‚alle‘ sein könnten, stand von Beginn an nicht im Zentrum der Diskussion (Fehrmann 2013). Die sich daraus ergebenden Ausschlüsse zeigen sich bis heute im Kulturbetrieb und wirken 13

sich auf marginalisierte Kulturschaffende, Künstler*innen und Inhalte aus. Die Notwendigkeit einer diskriminierungskritischen Ausrichtung des Kulturbetriebs richtet sich dementsprechend sowohl an die etablierten Institutionen als auch an die freie Szene und die sozio­kulturellen Institutionen, da diese genauso wie die großen Institutionen von Rassismen und Ungleichheiten durchzogen sind (Moser 2019). Allerdings finden sich in der freien Kulturarbeit vor allem ab den 1990er Jahren auch all jene Kulturinstitutionen und Kulturschaffende, die sich für eine diskriminierungskritische und antirassistische Kunstpraxis engagieren. Als einige wenige Beispiele seien hier der seit 1996 bestehende Verein der jungen afrikanischen Diaspora Pamoja genannt, der Verein MAIZ in Linz mit seiner Performance- und Bildungsarbeit oder die Theaterarbeit der Initiative Minderheiten mit und über Roma (Dimitrova et al. 2018). Seit den 2000er Jahren erheben sich zunehmend Stimmen mit dem Ziel, die Gesellschaft aus der Perspektive der Migration in den Blick zu nehmen (Doğramacı 2018). Mit PIMP MY INTEGRATION initiierte Aslı Kişlal 2012 mit daskunst und der Garage X etwa eine Diskursreihe, um die Sichtbarkeit (post-) migrantischer Positionen in der Stadt zu stärken und politischen Forderungen Nachdruck zu verleihen.

KUNST ALS SOZIALE PRAXIS

Die Brunnenpassage versteht sich als Teil emanzipatorischer Praxen und verortet sich unter dem Begriff der ‚sozial engagierten Kunst‘.3 Das künstlerische Profil ist eng verbunden mit einer Ästhetik der sozialen Praxis, welche eine Kunst beschreibt, die kollaborativ, oft partizipatorisch ist und Menschen aus der Zivilgesellschaft als Produzent*innen und Akteur*innen einbezieht (Helguera 2011). Sie zielt darauf ab, sozialen und/oder politischen Wandel durch die Zusammenarbeit mit Individuen, Gemeinschaften und Institutionen im künstlerischen Prozess voranzutreiben (ebd.). Hierbei nimmt nicht nur der Prozess eines Werkes einen ebenso wichtigen Stellenwert ein wie das fertige Produkt, ­sondern das dialogische Prinzip von Prozessen steht zunehmend im Fokus (Kester 2004). Dies fasst die jüngere Entwicklung in der zeitgenössischen Kunst zusammen und kennzeichnet soziale Kunstpraxen, die Kompliz*innenschaft, Allianzenbildung, Partizipation und Kollaboration als ästhetische Phänomene begreifen (Krenn 2016). Der durch Künstler*innen geschaffene Dialog mit den Projektbeteiligten und den Rezipient*innen wird damit zum Ausgangspunkt des ästhetischen Interesses. Akteur*innen im künstlerischen Prozess setzen auf Beziehungen zu Einzelpersonen, Organisationen und Institutionen, die viele verschiedene Bereiche von Gemeinschaft abdecken, um gemeinsam Fragen sozialer Gerechtigkeit aufzuwerfen und zu erörtern (Kester 2004). Das Experimentieren und der Schaffensprozess sind zentrale Elemente der sozialen Praxis. Es entstehen neue ästhetische 3 Sozial engagierte Kunst durchrüttelt die Grundlagen des Kunst­diskurses und teilt Methoden und Absichten mit Bereichen, die weit über die Künste hinausgehen. Im Gegensatz zu ihren avantgardistischen Vorläufern wie dem Konstruktivismus, Futurismus oder Dadaismus ist sie nicht nur Kunstbewegung. Viel mehr weisen diese kulturellen Praxen auf neue Lebensweisen hin, die Partizipation betonen, Macht herausfordern und Disziplinen umfassen, die von Stadtplanung und Gemeinschaftsarbeit bis hin zu Theater und bildender Kunst reichen (Thompson 2011).

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Erfahrungen, die mit existierenden Mustern des etablierten, akademischen Kunstkanons brechen, mit Schwerpunkt auf Prozess, Ko-Kreation und Erleben statt auf Produkt und Zuschauen (Jackson 2011). Obwohl Ästhetik und Methodik widersprüchliche Interessen zu haben scheinen, ist es für sozial engagierte Kunst wichtig, beide zu vereinen. Die Methodik bezieht die Zivilgesellschaft ein und schafft Raum für kollaborative Prozesse. Die ­Ästhetik spielt wiederum eine große Rolle dabei, welche Wirkung ein Werk entfaltet und wie es interpretiert wird. Letztlich können beide Kategorien zusammenwirken und sich gegenseitig bereichern: Der ästhetische Wert eines künstlerischen Ansatzes kann seine soziale Funktion erhöhen, während die Methode die ästhetische Erfahrung durch öffentliches Engagement und ­Involvierungsstrategien steigern kann (Finkelpearl 2012). Kunst ist nicht nur eine Äußerung über die Gegenwart, sie kann auch Impulsgeberin für eine andere, bessere Zukunft sein. Daher gibt es nicht nur ein Recht, Kunst zu genießen, sondern auch eines, sie zu machen. (Bruguera 2012)

Die Brunnenpassage versteht sich als Kunstort, der über bisher dominierende künstlerische Praxen der Mehrheitsgesellschaft hinausgeht und sich inmitten der Gesellschaft verortet, um letztlich gesellschaftliche Prozesse in einer gemeinsamen Entwicklung zu gestalten und inhaltlich neu zu prägen. In kollaborativen und prozessorientierten Produktionen werden Inhalte dialogisch erarbeitet und geschärft. Menschen unterschiedlicher biographischer Kontexte werden – mit dem Selbstverständnis als Definierende statt Definierte – zu Protagonist*innen der künstlerischen Produktion. Ziel ist es, einen Denk- und Handlungsraum für ein heterogenes Kollektiv an Akteur*innen und Rezipient*innen zu ermöglichen, in dem neue Ausdrucksweisen und Ästhetiken abseits des etablierten Kunstkanons und jenseits ökonomischer Verwertbarkeit erprobt und umgesetzt werden. Dezidiertes Ziel ist dabei das Schaffen neuer ästhetischer Erfahrungen, entsprechend der Diversität der Gesellschaft. Kunst ist ein Weg, das eigene Denken und Handeln auszubilden, sich selbst und gleichzeitig auch ‚Andere‘ besser kennenzulernen, auch abseits von gesellschaftlichen Normierungen und Zuschreibungen (ebd.). In den Künsten haben Menschen die Möglichkeit, sich nicht nur über Sprache, sondern auch über ästhetische Formen auszudrücken. Ein Kunstwerk wird damit zu einer Akkumulation von Akteur*innen und Aktionen, die nicht nur verschiedene Arten von Teilhabe, sondern auch viele Individuen miteinander verbindet und neue kollektive Begegnung ermöglicht (Knobloch 2013).

EXKLUSION IM KULTURSEKTOR

Der kulturpolitische Auftrag an Kulturinstitutionen in Wien lautet, sich an die gesamte Bevölkerung zu richten, dennoch werden Menschen mit bildungsbenachteiligtem Hintergrund und von Rassismus betroffene Menschen bis heute vielfach von der Teilhabe an Kunst- und Kulturangeboten ausgeschlossen genauso wie aufgrund von Behinderungen oder Geschlechtsidentität (Pilić 2020). Da diese Ausschlüsse zusammenwirken, sind etwa Menschen, die ökonomisch benachteiligt und zugleich Rassismus ausgesetzt sind, im Kulturbetrieb eine besonders unterrepräsentierte Gruppe. Um Ausschlüsse genauer in den Blick zu nehmen, ist es wichtig neben rassistischer Diskriminierung 15

folglich auch andere Diskriminierungsformen zu berücksichtigen (Ahyoud et al. 2018). In diesem Handbuch wird reduktionistisch ebenfalls mit der Kategorie Migrant*innen gearbeitet, wenn im Praxisteil von einer Unterrepräsentation von Migrant*innen gesprochen wird. Eine Sichtweise, die Migrant*innen als homogene Gruppe annimmt, ist freilich verfehlt. Die mit Abstand größte Gruppe ausländischer Staatsangehöriger in Österreich sind rund 200.000 Deutsche, gefolgt von Menschen mit rumänischer, serbischer und ­türkischer Staatsangehörigkeit (Klimont et al. 2020). Wird hingegen der Migrationshintergrund berücksichtigt, bilden Menschen mit Wurzeln aus den neuen Ländern des ehemaligen Jugoslawiens mit über einer halben Million die größte Gruppe. Sie stehen für ein Viertel aller Menschen mit Migrationshintergrund in Österreich, gefolgt von nicht ganz 300.000 Menschen mit türkischem Background.4 Die knapp 80.000 in Wien lebenden serbischen Staatsbürger*innen bilden die größte Gruppe von Menschen mit nichtösterreichischem Pass in der Bundeshauptstadt, gefolgt von Deutschen und Türk*innen. Aufgeschlüsselt nach Herkunft leben rund 170.000 Menschen mit Migrationshintergrund aus Serbien/Kroatien/Bosnien-Herzegowina in Wien, gefolgt von rund 75.000 Menschen mit Wurzeln in der Türkei und rund 60.000 mit deutscher Herkunft (Boztepe 2019). Auffällig ist, dass das Durchschnittsalter der Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft in ganz Österreich deutlich unter jenem mit österreichischer Staatsbürgerschaft liegt (Klimont et al. 2020). In Wien haben außerdem zwei Drittel aller Kinder in der Volksschule (Grundschule) nicht Deutsch als Erstsprache.5 Mit der Kategorie Migrant*in können aber nicht zwingend strukturelle Diskriminierung oder Rassismuserfahrungen erfasst werden. Eine aus Deutschland stammende Muslima wird etwa im Vergleich zu einer Mehrheitsdeutschen in Österreich – die als weiß und zugehörig wahrgenommen wird – stärker von struk­ tureller Diskriminierung betroffen sein, auch wenn sie beide einen deutschen Reisepass haben. Der Migrationshintergrund sagt dementsprechend nicht zwingend aus, ob Menschen struktureller Diskriminierung ausgesetzt sind. Auch erleben zunehmend größere Gruppen in Österreich rassistische Ressentiments – ohne einen (vermeintlichen) Migrationshintergrund zu haben – und werden aufgrund ihrer Hautfarbe, Religionszugehörigkeit oder äußerlichen Erscheinung diskriminiert (Ahyoud 2018). Die Bezeichnung Migrant*innen wird im Kulturbetrieb darüber hinaus vor allem auf Publikumsebene verwendet, wo Nichtteilhabe zum Thema wird und Menschen erreicht werden sollen, die keinen Zugang zu Kunst haben. Hier handelt es sich dementsprechend nicht um Fragen von Migration, vielmehr vermengt sich die Frage nach Unterrepräsentation von Migrant*innen im Kulturbetrieb mit einer Diskussion rund um Bildungsfragen. 4 Bevölkerung mit Migrationshintergrund im Überblick (Jahresdurchschnitt 2019) Link: http://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_ gesellschaft/bevoelkerung/bevoelkerungsstruktur/bevoelkerung_nach_ migrationshintergrund/033240.html [Zugriff: 14.09.2020] 5 Agenda Austria (2018): Wo Deutsch die Fremdsprache ist. Grafiken Link: https://www.agenda-austria.at/grafiken/wo-deutsch-die-fremdspracheist/ [Zugriff: 14.09.2020]

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Studien zu Kulturnutzung – aufgeschlüsselt nach Geschlecht, Alter, Bildung und Migrationshintergrund – zeigen, dass der wesentlichste Einflussfaktor auf die Teilnahme im österreichischen Kulturbetrieb die höchste abgeschlossene Ausbildung ist. Die Frage, ob die Eltern eine tertiäre Bildung genossen haben, markiert den entscheidenden Faktor für die Teilnahme am Kulturleben, wobei das Gefälle beim Besuch von Oper und Theater besonders hoch ist (Schönherr/Oberhuber 2015) Dies deckt sich mit deutschen Untersuchungen, die nach sozialer Schicht (definiert gemäß Bildungsgrad) aufgeschlüsselt sind und zeigen, dass 76 Prozent der Bevölkerung, die an kulturellen Aktivitäten teilnehmen, Akademiker*innen sind oder zumindest eine höhere Schule abgeschlossen haben (Allmanritter 2009). Zu diesen Aktivitäten zählen Theater-, Museums- und Opernbesuche, die gemeinhin als ‚Hochkultur‘ gelten. Verbindet man diese Fakten zur Kulturnutzung mit dem Bildungsgrad der jeweiligen Herkunftsgruppe wird Ausschluss sichtbar. Im Schuljahr 2017/18 war der Anteil von Kindern mit türkischem Hintergrund in den Sonderschulen doppelt so hoch wie in den Volksschulen, in den AHS-Oberstufen (Gymnasien) aber nur halb so hoch. Für Kinder mit serbischem, kroatischem und bosnischem Hintergrund zeigen die Trends, wenngleich deutlich weniger stark ausgeprägt, in die gleiche Richtung (Radinger/ Sommer-Binder 2019). Laut etwas weiter zurückliegenden Erhebungen verfügen in Österreich nur fünf Prozent aller türkischstämmigen und nur sechs Prozent aller Migrant*innen aus den neuen Ländern des ehemaligen Jugoslawiens über einen Hochschulabschluss. Maturiert haben nur sechs Prozent aller türkischstämmigen und 13 Prozent aller Menschen aus den neuen Ländern des ehemaligen Jugoslawiens (Radinger/­SommerBinder 2013). Selbst wenn die Kategorie des Migrationshintergrunds ausgeblendet wird, sind schon rein aus Gründen der sozialen Zusammensetzung und des Bildungsgrades mindestens 80 Prozent dieser Gruppen nicht dazu prädestiniert, am bisherigen öffentlichen, kulturellen Leben der Stadt teilzuhaben. Eine spezifisch auf rassistischen Ausschluss basierende Marginalisierung in der Kulturnutzung, die zur sozio-ökonomischen hinzukommt, ist in diesen Daten noch gar nicht berücksichtigt. Ganz abgesehen davon, dass die vom Durchschnitt abweichende soziale Zusammensetzung dieser migrantischen Gruppen oder der hohe Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund in den Sonderschulen per se gesellschaftliche Komponenten struktureller Diskriminierung aufweist. Von Zugang zu künstlerischen Ausbildungswegen, zu öffentlichen Kulturförderungen und Positionen in Leitungen von Kulturinstitutionen, Jurys und Beiräten einmal ganz abgesehen. Die Brunnenpassage setzt auf ein breites Verständnis von Vielfalt, um in einer solidarischen künstlerischen Praxis mit all jenen zusammenzuarbeiten, die aufgrund unterschiedlicher Ausschlüsse nicht zur Mehrheitsgesellschaft gezählt werden. Die Einbeziehung bisher ausgegrenzter Bevölkerungsgruppen wird dabei auch ästhetisch – mit dem Ziel des Kreierens eines zeitgenössischen Abbildes der Gegenwart in der Kunst­produktion – verfolgt. Im Projekt Not a Single Story, welches im Praxisteil besprochen wird, wird dieser Ansatz besonders gut veranschaulicht. 17

ZUM DENKEN IN DICHOTOMIEN Konzepte wie ‚Integration‘ oder ‚interkultureller Dialog‘ bilden oftmals den Ausgangspunkt von Praxisleitfäden zur programmatischen Öffnung von Kulturinstitutionen (Moser 2019). Dabei soll etwa ein Dialog in Gang gebracht werden, der über die Reflexion eigener Positionen zu einem gegenseitigen Verstehen zwischen den im Ansatz als verschieden angesehenen Kulturen führt (Welsch 2009). Durch die Überbetonung dieser Verschiedenheit wird die Wahrnehmung vom vermeintlich ‚Eigenen‘ und einem imaginierten ‚Fremden‘ erzeugt. Kulturelle Vielfalt wird damit zum Nebeneinander von imaginierten Kulturen, die in sich als homogen angesehen werden, wodurch Differenzen, die in diesen gedachten Gruppen vorherrschen, ignoriert bleiben. In dieser Logik verkommt jedes Engagement auf einen Dialog zwischen denen, die als Norm gesetzt werden, und den ‚Anderen‘ (Said 1978). Konstruierte ‚Ihr-Wir‘-Konstellationen schaffen starre Konzepte, in denen beispielsweise Wesenszüge kulturell zugeordnet werden. Um diese Trennung zu überwinden und Stereotype nicht weiter zu verfestigen, ist die Reflexion und Dekonstruktion von solch allzu einfachen Gegensätzen zentral. Denn so kam es jahrelang beispielsweise durch gut gemeinte Initiativen und deren Thematisierung von ‚Migrant*innen‘ oder sozial benachteiligten Personen zur neuerlichen Instrumentalisierung eben dieser Gruppen und dadurch eher zu einer Verfestigung als zu einer Hinterfragung deren ‚Außenseiter*innentums‘ (Sharifi 2011). Für eine Kunstpraxis, die die Heterogenität der Bevölkerung zum Maßstab der eigenen Arbeit nimmt, reicht es nicht aus, alleine die Kategorie ‚kulturelle Herkunft‘ in den Blick zu nehmen. Wesentlich erscheint es vielmehr die Mehrdimensionalität sozialer Ungleichheit anzuerkennen und die Art, wie Menschen auf unterschiedliche Weise durch sexistische, klassistische, ­rassistische und bodyistische Verhältnisse betroffen sind (Ganz/ Hausotter 2019). Die Gestaltung von Vielheit muss demnach für das Individuum einen Rahmen schaffen, in dem klassische stereotype Zuordnungen aufgehoben werden, um freie Entfaltungsmöglichkeiten zu gewährleisten. In der Brunnenpassage wird primär auf transkulturelle Konzepte zurückgegriffen, die eine Überwindung von ‚Wir-Ihr’-Konstellationen vorantreiben und konzeptionell das Überschreiten von Grenzen befördern (Hoffmann/Benjamin 2015). Die Brunnenpassage verwendet den Begriff der Transkulturalität in der Tradition der Cultural Studies und postkolonialer Theorien (Castro Varela/Dhawan 2015). Der Fokus liegt dabei auf Machtrelationen, Ausbeutung, Hierarchien sowie In- und Exklusionen (Ha 2016). Damit lässt sich die Brunnenpassage in ihrem Selbstverständnis als politische Institution charakterisieren, die sich unterdrückten Subjektivitäten verpflichtet fühlt. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, gilt es, Machtverhältnisse und (re-) produzierte Verhältnisse von Dominanz in der Gesellschaft, aber auch in der internen künstlerischen Praxis, kritisch zu reflektieren. Erst durch die Überwindung von '(Nicht-)Wir-Zuschreibungen' (Mecheril 2016) und einer kritischen Hinterfragung von Macht und Abhängigkeit in der eigenen künstlerischen Praxis werden nicht eindeutig verortbare, fluide Identitäten zugelassen (Pilić 2017). 18

TRANSFORMATION/EN DES KULTURBETRIEBS

Neue Konzepte zur Öffnung von Kultureinrichtungen sind notwendig, um gebremste Teilhabe von breiten Teilen der Be­ völkerung zu überwinden. Eine Grundvoraussetzung für Veränderung ist nicht ausschließlich Modelle zu verfolgen, die sich lediglich auf Audience Development und Publikumsarbeit konzentrieren. Unter dem Begriff der Kunstvermittlung finden sich hierfür verschiedene Konzepte und Ideen (Ostertag 2012).

MG 1

Gegenwärtig wird zwischen vier Diskursen der Kunstvermittlung unterschieden: affirmativ, reproduktiv, dekonstruktiv und transformativ (Mörsch 2009). Diese Vermittlungskonzepte wechseln sich zwar gegenseitig ab, es werden jedoch bisher vornehmlich affirmative und reproduktive Vermittlungspraktiken angewandt. Dabei werden klare, vordefinierte Ziele verfolgt und die sogenannte ‚Hochkultur‘ wird vermittelt und reproduziert. Diese Modelle sind für einen Zugang, der auf Teilhabe und thematische Öffnung und Erweiterung abzielt, nur bedingt brauchbar. In dekonstruktiven und transformativen Ansätzen wird hingegen eine selbstreflexive Komponente eingeführt, durch die die Kultur­institutionen selbst hinterfragt werden. Machtverhält­ nisse werden erkannt und benannt, um Veränderung möglich zu machen. Das Ziel der Förderung von Kritikfähigkeit ist bereits im dekonstruktiven Ansatz zu finden. Im transformativen Modell wird darüber hinaus auch die Veränderung der Institution angestrebt (Mörsch 2009). Hier geht es weniger darum, bestimmte Gruppen an die Institution heranzuführen, als darum, die Institution selbst mit ihrem (städtischen) Umfeld vertraut zu machen und aus ihrer elitären Isolation herauszuholen. Institutionskritisch die eigenen Ausschlussmechanismen zu reflektieren erscheint als wesentliche Bedingung für eine Neuausrichtung von Kulturinstitutionen (Zobl 2019). Erst dadurch wird es möglich, von all jenen zu lernen, die von Zugangsbarrieren und Diskriminierung betroffen sind und die bisher im Kulturbetrieb nicht oder nur prekär anwesend waren (Aikins/Gyamerah 2016). Doch nicht nur der Zugang zu, sondern auch die Ermöglichung der Produktion von Kunst und Kultur stellen ein Grundrecht in demokratischen Gesellschaften dar (Zobl 2019). Im Kulturbereich wird zwar zum Beispiel im internationalen Festivalbetrieb an ein ‚kosmopolitisches‘ Künstler*innentum angeknüpft, lokal vorhandene Vielfalt wird jedoch auf der Ebene der Produzent*innen ebenfalls kaum wahrgenommen (Aikins/Gyamerah 2016). So findet etwa im künstlerischen Regelbetrieb kaum Interaktion mit (post-)migrantischen Künstler*innen statt, was zu einer mangeln­ den (Re-)Präsentation ihrer Arbeit auf den Bühnen der etablierten Kulturinstitutionen führt (Sharifi 2011). Von Diskriminierung betroffene Kunst- und Kulturschaffende arbeiten oft abseits der Netzwerke und Wahrnehmung der Institutionen, wodurch wichtige vorhandene Perspektiven in der Stadt im Kontext etablierter Räume unterrepräsentiert bleiben. Erst durch eine Öffnung der Kulturinstitutionen und durch die dezidierte und nachhaltige Förderung von bisher marginalisierten Künstler*innen und Kultur­ schaffenden sowie deren Initiativen und Einrichtungen kann diesem strukturellen Ausschluss begegnet werden. Die Brunnenpassage arbeitet aus diesem Grund auf allen institutionellen Ebenen – Personal, Programm und Publikum – mit einer 19

größtmöglichen Diversität an Menschen zusammen. Allianzen zwischen sozial engagierte Kunstproduktionen mit der lokalen Umgebung, aber auch mit etablierten Kulturinstitutionen, können allen Akteur*innen einen weiteren gegenseitigen Nutzen bringen. Aus diesem Grund geht die Brunnenpassage seit Anbeginn an Partnerschaften und Kooperationen mit großen Häusern und Festivals der Stadt ein, mit dem Bestreben beidseitig Brücken zu bauen und strukturelle diversitätssensible Veränderungen bei den etablierten Institutionen anzuregen. Dieser Aspekt wird im Kapitel Navigating Change im Detail erläutert.

RESÜMEE

Kunst- und Kulturarbeit schafft einen Mehrwert für Gesellschaft und Individuen. Die Herausforderung für den öffentlich finanzierten sowie den hochsubventionierten Kunst- und Kulturbetrieb ist es, Zugang zu Kunst und Kultur zu schaffen und Teilhabe von möglichst breiten Teilen der Bevölkerung zu gewährleisten. Die Notwendigkeit eines Umdenkens im Kunst- und Kulturbetrieb ist offenkundig, denn das Potenzial von Kunstpraxen der heterogenen Gesellschaft wird bis heute im Kunst- und Kultursektor nicht hinreichend erkannt. Besondere Beachtung muss der kritischen Analyse und dem Abbau diskriminierender Strukturen in all ihrer Vielschichtigkeit geschenkt werden. Es gilt, Machtverhältnisse und (re-)produzierte Ungleichheiten in der Gesellschaft als auch in der individuellen künstlerischen Praxis zu erkennen und diesen strukturell entgegenzuwirken. Ein Fokus auf Publikumsarbeit scheint hier viel zu kurz gegriffen, da das Hinterfragen der eigenen Praxis auch hinsichtlich der Produktion, der Diversität des Personals und neuer Ansätze und Themen in der Programmierung wesentliche Elemente einer diskriminierungskritischen Öffnung darstellen. Neben der Neuausrichtung der etablierten Kultur­ institutionen braucht es ebenso kulturpolitische Maß­nahmen, die Kunstpraxen forcieren, die über dezentrales und kollaboratives Arbeiten elitäre Bedeutungsproduktion transformieren. Praxen sozial engagierter Kunst brauchen nachhaltig verankerte Orte, in denen Begegnungen auf Augenhöhe möglich sind und in denen ‚Marginalisierte‘ nicht als ‚Andere‘ gesetzt werden. Erst dadurch wird ein egalitäres und solidarisches Miteinander möglich, um gemeinsam an neuen ästhetischen Erfahrungen zu arbeiten. So rücken im Kontext der Kunst als sozialer Praxis und dem damit einhergehenden prozessorientierten Denken die Perspektiven und Lernprozesse von Akteur*innen einer diversen Gesellschaft ins Zentrum. Alle diese Überlegungen dienen der Grundidee, nicht mehr in selbstreferenziellen Kunsträumen zu produzieren, die wiederum lediglich ein kleines Segment der Gesellschaft ansprechen und hauptsächlich von diesem ­genutzt werden. Die bisherigen Reflexionen sind grundlegendes Werkzeug, um Zugänglichkeit kritisch zu analysieren, gebremste Potentiale von Menschen zu aktivieren und Kunsträume zu ­ermöglichen, die zu Orten der Auseinandersetzung und als gesellschaftspolitische Handlungsräume produktiv gemacht werden.

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Zuzana Ernst, Ivana Pilić, Anne Wiederhold-Daryanavard

Transformative Practice –  Das künstlerische Konzept der Brunnenpassage

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Brunnenpassage Trailer Code scannen Video ansehen

Das Kreieren neuer ästhetischer Erfahrungen in der Kunst, die der diversen Gesellschaft entsprechen, ist Kernfokus der Brunnen­passage. Eine solche Ästhetik ist geprägt von Transdisziplinarität, Mehrsprachigkeit und Partizipation. Künstler*­ innen sowie Expert*innen ohne künstlerische Ausbildung werden konzeptionell involviert, um durch und mit dem Arbeiten an ­diversen biografischen Erfahrungen Multiperspektivität zu generieren. Die Brunnenpassage programmiert genreübergreifend und trans­kulturell. Dies erleichtert das Erreichen verschiedener ­Dialoggruppen und schafft breitere Kooperationsmöglichkeiten. Es werden nun im Folgenden die Grundlagen der künstlerischen Arbeitsweisen der Brunnenpassage erläutert.

DISKRIMINIERUNGSKRITISCHES KURATIEREN IN DER BRUNNENPASSAGE Die Inhalte der Brunnenpassage greifen aktuelle Debatten und häufig Themen zu Migrationsgesellschaft wie auch Diskriminierung und gesellschaftlichem Ausschluss auf. Damit wird die Anerkennung der Heterogenität vorangetrieben. Dies kann auch bedeuten, dass klassisches Material mehrsprachig wird und damit vielfältiger zugänglich ist. Oft sind die Kunstproduktionen altersübergreifend ausgerichtet und werden unter Beteiligung verschiedener Generationen umgesetzt. Zunehmend werden digitale Medien eingesetzt sowie neue Formate entwickelt und ausprobiert.

Zentrale Fragen werden jedem kuratorischen Prozess vorangestellt: Wer spricht? Wessen Geschichten werden aus welcher Perspektive erzählt? Wer leitet die Kunstproduktionen? Wie sind die Produktionsbedingungen? Welcher Zeitrahmen ist vorgesehen für die Recherche, das In-Beziehung-Treten mit Anrainer*­ innen und das Sammeln und Kreieren von Geschichten? Wie können Menschen mit vielen unterschiedlichen Perspektiven und biografischen Erfahrungen beteiligt werden?

Mir ist die Brunnenpassage persönlich wichtig, weil sie ein Ort ist, wo man einander begegnen kann, wie man sich sonst eigentlich nicht b ­ egegnet. Ruth Schöffl, UNHCR Ö ­ sterreich, Kooperations­partnerin bei Langer Tag der Flucht

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Im Rahmen der Veranstaltungen werden zuschreibende Bewertungen vermieden und jedes Individuum als Besucher*in oder Mitwirkende*r willkommen geheißen. Auf offensichtlich provokative Herangehensweise wird trotz deutlicher gesellschaftsund kulturpolitischer Positionierung weitgehend verzichtet, um Menschen mit unterschiedlichen Haltungen zu erreichen.

TRANSDISZIPLINARITÄT Die Brunnenpassage bietet Programm aus verschiedenen Disziplinen an: Von Theater und Tanz über Musik bis hin zu bildender Kunst und Film. Die Grenzen zwischen den einzelnen Genres werden nicht klar gezogen. Vielmehr wird versucht, zwischen den künstlerischen Disziplinen neue Zusammenhänge und ­Synergien

herzustellen. Die gängige Differenzierung zwischen der künstlerischen Produktion und der Vermittlung wird in der Brunnenpassage aufgehoben und damit Zugänglichkeit als Grundhaltung bereits im kuratorischen Prozess verankert. Die Zusammenarbeit mit Menschen vor Ort, mit anderen Institutionen und über die Grenzen des Kunstbetriebs und -diskurses hinweg ist für die Brunnenpassage unabdingbar, um als zeitgenössischer Kunstort dem Anspruch einer Kunstproduktion zu entsprechen, die der Heterogenität der Gesellschaft gerecht wird. Transdisziplinarität wird in der Brunnenpassage als Austausch und Zusammenarbeit zwischen Kunst und Gesellschaft, aber auch zwischen Theorie und Praxis verstanden – als Ansatz, Wissen und gesellschaftspolitische Inhalte mit Akteur*innen innerhalb als auch außerhalb des akademischen Kontextes zu verhandeln. Dabei wird in der Brunnenpassage Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Kunstgenres, genauso wie die Zusammenarbeit der Künste mit alltagspraktischen Kontexten, vorangetrieben.

Die Brunnenpassage soll in zehn Jahren am besten in jedem Bezirk sein.

Ula Schneider, künstlerische Leiterin des Festivals SOHO in Ottakring, Nachbarin und Kooperationspartnerin

Eigentlich liegt die Brunnenpassage in Wien, aber ich finde, sie liegt in der Mitte der Welt. Johnny Mhanna, Schauspieler

PARTIZIPATION

Das Programm ist konzeptuell hinsichtlich verschiedener ­Formen der Zugänglichkeit aufgebaut und erstreckt sich von

offenen Workshops über geschlossene Formate bis hin zu Performances und Veranstaltungsreihen. Ebenso werden verstärkt Künste praktiziert, die einen kollektiven Schaffensprozess ermöglichen, statt auf individuelle solistische Ausdrucksweisen zu setzen. Prozessorientiertes Arbeiten ist in allen Formaten und Produktionen zentral. Grundsätzlich lebt die Brunnen­passage von einem Prozess der Kunstproduktion, in dem Künstler*innen mit Menschen, die sich zuvor oftmals nicht aktiv mit Kunst auseinandergesetzt haben, in divergierender Intensität (zusammen-

Ich hoffe sehr, dass sich die Brunnenpassage in Wien multipliziert.

Michael Häupl, ehem. Wiener Bürgermeister

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...ein ganz besonderer Ort des Zusammenkommens über hochprofessionelle Kunst und Kultur.

Werner Binnenstein-Bachstein, Direktor Community Arts Lab, Initiator und Wegbegleiter der Brunnenpassage

...es ist ein Wunschplatz, ein Hoffnungsplatz für alle.

Hamayun Mohammed Eisa, Schauspieler und Dialoggruppenarbeiter in der Brunnenpassage

Ein Ort, wo man sich öffnen kann, anstatt zu schließen und zu sperren.

Sven Hartberger, ehem. Intendant des Klangforum Wien und Kooperationspartner beim Projekt Klangforumpassage

Die Brunnenpassage sollte in den nächsten Jahren einer der wichtigsten Kooperationspartner sein für die Hochburgen der Kultur.

Steven Engelsman, ehem. Direktor des Weltmuseums Wien und Kooperationspartner

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)­arbeiten. In vielen Programmen der Brunnen­passage wird den Teilnehmenden nicht die Rolle des Publikums zugewiesen, vielmehr werden über das aktive Kennenlernen und Ausüben einer künstlerischen Praxis die Besucher*innen selbst zu Akteur*innen. Partizipative Kunstproduktionen sowie Workshops sind daher ein substanzieller Bestandteil des Programms. Bei Workshops wird in der Konzeption zwischen zwei Formaten Touch & Go und Grab & Grow unterschieden. Unter Touch & Go-Formaten werden Workshops verstanden, bei denen die Teilnahme unverbindlich und ohne Voranmeldung möglich ist. Workshopreihen der Kategorie Touch & Go bauen bewusst nicht aufeinander auf, um jederzeit einen Quereinstieg zu ermöglichen. Trotzdem ermöglicht auch dieses Format bei regelmäßiger Teilnahme eine vertiefende Auseinandersetzung und Entwicklung auf individueller Basis. Unter Grab & Grow-Projekten werden Workshopreihen verstanden, in denen sich eine Gruppe formt und über einen längeren Zeitraum gemeinsam auf ein Ziel hinarbeitet. In den meisten Fällen ist das Endprodukt dieser Projekte eine Aufführung. Eine Anmeldung zu den Workshops und die hohe Verbindlichkeit bei der Teilnahme ermöglichen einen verbindlichen, gemeinsamen Prozess der Gruppe und wachsende künstlerische Qualität. Dabei wird vor allem die Vielfalt der Umgangssprachen berücksichtigt. Unter dem Aspekt des Zugangs bieten die verschiedenen Formate unterschiedliche Einstiegsmöglichkeiten. Während einige Menschen sich lieber unverbindlich an eine Kunstform herantasten, benötigen andere die Sicherheit eines verbindlichen Rahmens und einer festen Gruppe, um etwas Neues umzusetzen. Für die großen künstlerischen Eigenproduktionen werden potenzielle Mitwirkende häufig in den regelmäßigen oder offenen Formaten angesprochen. Das engmaschige Netzwerk und der jahrelange Kontakt zu unterschiedlichsten Teilnehmenden werden hierfür genutzt. Klassische Auswahlverfahren für Besetzungen werden vermieden, da sie eine Barriere darstellen

können. Kunstformen, die ohne große technische Ausstattung auskommen, werden zumeist bevorzugt. Komplexe Aufbauten, kostenintensives Equipment und zusätzliche Hemmschwellen durch notwendiges technisches Spezialwissen sollen vermieden werden. Bevorzugt werden Kunstformen, welche entweder ganz ohne Sprache Ausdruck finden oder die Arbeit mit Mehr­ sprachigkeit erlauben. Die Brunnenpassage agiert vor Ort am Wiener Brunnenmarkt, immer ohne festgelegten Eintritt, um Partizipation und Zugang für möglichst viele Teile der Bevölkerung zu ermöglichen. In den Kooperationen mit großen Kulturbetrieben werden die dortigen Ticketpreise angesetzt und wenn möglich im Hinblick auf Leist-

barkeit angepasst, je nach Bedarf werden auch Freikarten­ kontingente verhandelt.

MEHRSPRACHIGKEIT Teilhabe wird einerseits über Veranstaltungen möglich, die ohne gesprochene Sprache stattfinden (etwa Tanz- oder Stimmworkshops), andererseits wird kontinuierlich mit Vielsprachigkeit in der Kunst und im Produktionsprozess gearbeitet. Auf der

Bühne wird mit Mehrsprachigkeit experimentiert: So bedienen sich Performer*innen mehrerer Sprachen, ohne dabei mit direkter und simultaner Übersetzung zu arbeiten. Das Ziel ist, einen mehrsprachigen Raum erlebbar zu machen, in dem Verständnislücken erlaubt und neue Formen des Ausdrucks erwünscht sind. Viele Veranstaltungen finden darüber hinaus mehrsprachig statt, mit Simultan-Übersetzungen oder Untertitelungen. Teilweise wird zu Beginn die gemeinsame Umgangssprache geklärt, oft werden seitens der Brunnenpassage Live-Übersetzungen für Gastveranstaltungen oder mehrsprachige Moderation als auch die mehrsprachige Bewerbung finanziert. Außerdem werden Lesungen, Diskussionsveranstaltungen, Filmvorführungen als auch Theaterstücke und Feste von Kulturvereinen in nichtdeutscher Sprache programmiert. Diese werden dann auch in der jeweiligen Sprache beworben.

...eine Kultureinrichtung, eine Institution, ein Ort, ein Pool an Erfahrungen und Expertise, eine Geisteshaltung. Yvonne Gimpel, ehem. Österreichische UNESCO-Kommission und Kooperationspartnerin

Welche Sprachen gesprochen bzw. verwendet werden, richtet sich nach den meistgesprochenen Sprachen der Umgebung und in den jeweiligen Produktionen nach der Zusammensetzung der beteiligten Personen – alle Konstellationen sind denkbar. Übersetzungen von Ausschreibungen werden teilweise bewusst 29

Ich glaube, dass es für die Stadt, das Land und für die Menschen gut ist, wenn es solche Orte gibt, wo über Kultur Wesentliches ausgetauscht wird.

Michael Landau, Präsident der Caritas Österreich

genutzt, um Menschen mit spezifischen Sprachkenntnissen einzuladen. Deutsche Sprachkenntnisse sind selten Voraussetzung für die Mitwirkung, dennoch wird die Brunnenpassage immer wieder als Ort genannt, in dem Deutsch lernen nebenbei stattfindet. Im Team der freiwilligen Mitarbeiter*innen der Brunnenpassage finden sich auch immer wieder Sprachtandems zusammen. Gegenseitige Unterstützung durch Übersetzungen ist Teil des Alltags. Die Vielfalt der im Brunnenpassage-Team als auch die von den engagierten Künstler*innen gesprochenen Sprachen unterstützen bei der persönlichen Einladung von Mitwirkenden und Besucher*innen. Derzeit werden in der Brunnenpassage vom gesamten Team – vom angestellten Personal, der Technik und den freiwilligen Mitarbeiter*innen – folgende Sprachen gesprochen: Albanisch, Arabisch, Bosnisch, Chinesisch, Dari, Deutsch, Englisch, Farsi, Französisch, Georgisch, Hindi, Italienisch, Japanisch, Kurdisch, Kroatisch, Polnisch, Portugiesisch, Rumänisch, Russisch, Serbisch, Slowakisch, Spanisch, Tschechisch und Türkisch.

BEZIEHUNGS- UND BEWERBUNGSARBEIT Das Tolle an der Brunnenpassage ist: Es ist ein regionales Projekt am Yppenplatz, aber es bringt positive Vibes in die ganze Stadt.

Jürgen Czernohorszky, Wiener Stadtrat für Bildung, Integration, Jugend und Personal

Bei der Bewerbung der partizipativen Projekte und Veranstaltungen beschreitet die Brunnenpassage neue Wege: Die zur Verfügung stehenden Ressourcen werden überwiegend dazu verwendet, jene Menschen zu erreichen, die Kulturinstitutionen bisher wenig nutzen. Kulturaffine Besucher*innen, die aufgrund der gewünschten Vielfalt ebenso willkommen sind, holen erfahrungsgemäß selbst aktiv Informationen ein. Die monatlichen Spielpläne werden vornehmlich an Standorten der unmittelbaren Umgebung verteilt, unter anderem in Friseursalons, Arztpraxen und Bäckereien. Es wird stark auf direkte Ansprache und Mundpropaganda gesetzt und es werden oft gezielt Multiplikator*­ innen aus bestimmten Communities eingeladen. Flyer für Einzelveranstaltungen werden nur in Kleinauflagen produziert. Sie werden nicht – wie bei Kulturinstitutionen üblich – massenhaft gestreut, sondern dienen vielmehr als Einladung oder Erinnerung an das persönliche Gespräch. Fotos sind zur Überwindung

von Sprach- und Wissensbarrieren ein wichtiges Werbemittel. Nach dem Prinzip `what you see is what you get` werden vor allem Bildmotive gewählt, die einen unmittelbaren Eindruck von dem wiedergeben, was Teilnehmende bei den Veranstaltungen in der Brunnenpassage erwartet. Mitunter ist auch die auf den ­Veranstaltungsfotos sichtbare Vielfalt der Besucher*innen ein Türöffner für bestimmte Menschen, die sich auf diese Weise ­direkt angesprochen fühlen. Werbetexte sind oft auf Deutsch, immer wieder gibt es auch Drucksorten und Social-Media-Texte auf Englisch, Türkisch, Bosnisch, Kroatisch, Serbisch, Farsi und Arabisch sowie 30

­ eiteren Sprachen. Zusätzlich gibt es bei allen Drucksorten w mehr­sprachige Grafikelemente. Es bestehen Partnerschaften mit ausgewählten Medien in verschiedenen Sprachen. Die Veranstaltungen in der Brunnenpassage sind grundsätzlich allesamt ohne festgelegtem Eintritt. Es wird über Flyer um einen einmaligen oder regelmäßigen Beitrag für die Brunnenpassage geworben. Im Sinne des Pay-as-you-can-Prinzips machen die Flyer auch die Umverteilungsthematik deutlich.

TEAM Ein wesentlicher Faktor für den Erfolg der Brunnenpassage ist die Diversität der im Personal agierenden Menschen und eine gleichwertige Zusammenarbeit, soweit dies möglich ist. Durch die unterschiedlichen biografischen Erfahrungen fließen die verschiedenen Haltungen in die Erkenntnisse der lernenden Organisation ein. Vielfalt als Spiegel für die gesellschaftliche Realität beginnt immer im Kernteam des Personals. So erlauben in der Brunnenpassage diverse künstlerische und Bildungshintergründe des Angestellten-Personals sowie umfangreiche Sprachkenntnisse und Migrationserfahrungen unterschiedliche Blickwinkel und Anknüpfungspunkte für die kuratorischen Ziele

und für das Erreichen der Dialoggruppen. Viele Teammitglieder sind selbst Künstler*innen, kommen aus dem Bereich Schauspiel oder Szenografie, haben musikalischen, tänzerischen, bildnerischen oder grafischen Hintergrund, aber auch Sozialwissenschaftler*innen, Stadtplaner*innen und Techniker*­innen arbeiten in der Brunnenpassage. Alle eint das Interesse an transkultureller Kunstpraxis und/oder die (post-)migrantischen Lebensrealitäten. Grundsätzlich wird bei der Personalauswahl Kommunikationsfähigkeit sehr hoch geschrieben, da auch für die Besucher*innen durch den Kontakt mit dem Personal die Offenheit für Mehrsprachigkeit und eine einladende Haltung deutlich werden sollen. Die in der Brunnenpassage tätigen Künstler*­innen

Das Theaterstück behandelt die aktuellste aller Menschheitsfragen überhaupt: Wer bin ich in diesem Augenblick?

Karl Markovics, Schauspieler, Regisseur, Wegbereiter Ausnahmezustand Mensch Sein

In der Brunnenpassage sind alle gleichgestellt.

Agnes Brandstötter, freiwillige Mitarbeiterin der Brunnenpassage

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Die Brunnenpassage macht, was andere Kulturinstitutionen gerne können würden.

Angelika Fitz, Direktorin des Architekturzentrum Wien

müssen neben hohen künstlerischen Qualitäten auch Fähigkeiten im Bereich ‚Community Work‘ mitbringen. Es wird bei der Auswahl der engagierten Künstler*innen auf ­Diversität, Professionalität und auf Bekanntheit geachtet. Dies erleichtert oftmals das Erreichen unterschiedlicher Dialoggruppen. Ebenso erklärtes Ziel ist die Förderung bzw. Sichtbarmachung sogenannter (post-) migrantischer Künstler*innen in Wien.

Zusätzlich gibt es seit 2011 in der Brunnenpassage auch frei­willige Mitarbeiter*innen. Die Mitwirkenden des Freiwilligen-Teams sind nicht nur eine wichtige Unterstützung im reibungslosen Ablauf der einzelnen Veranstaltungen, sondern auch Multiplikator*innen. Unser Freiwilligen-Pool besteht aus über 30 Personen.

Ich glaube, dass man mit Kulturaktivitäten  (…)  am besten Zugang zueinander schafft (…)

Gerald Wirth, Künstlerischer Leiter der ­Wiener Sängerknaben und regel­ mäßiger Sing-Along Dirigent

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Die Gesamtorganisation versteht sich als lernende Institution, die sich durch strukturell verankerte Reflexionsprozesse stetig weiterentwickelt. Dieser Anspruch auf Reflexion manifestiert sich innerhalb der Institution in der Bedeutung wöchentlicher Team- und Programmsitzungen genauso wie in regelmäßigen Supervisionen. Austauschtreffen und gemeinsame Klausuren des Angestellten-Teams und den Freiwilligen sind ebenfalls Teil des Reflexionsprozesses. Diese werden für einen Wissens­ transfer zwischen Veranstaltungsraum und Büro genutzt. Im Rahmen bestimmter langfristiger Projekte – wie zum Beispiel Not a Single Story, welches im Praxisteil genauer erläutert wird – ist eine begleitende Evaluationsebene wichtiger Teil des Konzeptes. Somit werden Reflexionsräume in Form von individuellen Interviews oder Fokusgruppengesprächen mit den zentralen Projektakteur*innen in den Prozess eingeflochten, um persönlichen Inhalten, Erfahrungen und Meinungen im Projekt Raum zu geben und ihr Feedback in den Prozess einfließen zu lassen.

KOOPERATIONEN

Die Brunnenpassage ist auf eine starke nachbarschaftliche Anbindung im lokalen Umfeld - Gemeindebezirk ‚Ottakring‘ und angrenzende Nachbarbezirke - ausgerichtet. Gleichzeitig setzt die dezentral verortete Kulturinstitution konzeptionell auf Kooperationen mit großen Kultureinrichtungen der Innenstadt: Die Arbeit folgt damit einem doppelten Kooperationsansatz im unmittelbaren ‚Grätzl‘ als auch mit Akteur*innen des Wiener Kultur-

sektors der sogenannten ‚Hochkultur‘. Lokale Kooperationen der Brunnenpassage mit zahlreichen Kulturvereinen, kleinen lokalen Institutionen und (post-)migrantischen Initiativen sowie die Vernetzung mit der Gebietsbetreuung, dem Bezirk, den Kaufleuten des Brunnenmarkts, mit Glaubenshäusern, Schulen und Jugendzentren ermöglichen es, mit spezifische Dialoggruppen in Kontakt zu treten. Dazu kommen nachhaltige Kooperationen mit diversen wienweiten Vereinen und Multiplikator*innen. Auch werden für die lokale Vernetzung von der Brunnenpassage immer Diskussionsveranstaltungen rund um Fragestellungen zu Diversität und verwandten Themen wieder umgesetzt oder Raum für angefragte Gastveranstaltungen geboten. Damit werden Initiativen, die sich diskriminierungskritisch artikulieren zum Teil des regulären Programms. Eher selten und dann sehr bewusst finden auch Gast-Veranstaltungen mit Folklore-­Charakter statt, da diese teilweise zur erstmaligen Vernetzung und zu einer Annäherung mit bestimmten Kulturvereinen und lokalen Initiativen führen. Eine stetige Reflexion der eigenen institutionellen Offenheit ist darüber hinaus notwendig, um neue Initiativen willkommen zu heißen. Eine weitere konzeptionelle Säule stellen die Kooperationen und Partnerschaften der Brunnenpassage mit etablierten Kunstund Kulturinstitutionen der inneren Stadt dar. Diese erfolgen mit großen Häusern verschiedener Genres sowie mit Festivals. Kooperationen mit etablierten Kunst- und Kulturinstitutionen ermöglichen einen gegenseitigen Brückenschlag. Alteingesessene Institutionen bieten innovativen Produktionen und der Vielheit der mitwirkenden Menschen eine große Bühne, im Gegenzug wird ein kulturpolitisches Ziel verfolgt: Die Öffnung etablierter Kulturorte für neue Inhalte in den Produktionen, neue Mitwirkende und Publika, die über die Brunnenpassage und die vorhandene transkulturelle Kompetenz leichter erreicht werden. Essenziell erscheint, dass nicht im Sinne von Audience Development neue Bevölkerungsgruppen an klassische ‚Hochkultur‘-Formate herangeführt werden, sondern dass in den Kooperationen große Kulturräume mit der Brunnenpassage als lokal agierende Kulturinstitution nachhaltig zusammenarbeiten und somit neue Formate und neue Ästhetiken entstehen. Damit wird langfristig in die Kunstproduktion über die lokale Ebene ­hinaus Einfluss gewonnen. Oftmals werden Produktionen an beiden Orten – am Brunnenmarkt und in der Innenstadt – gezeigt. Die

Die Brunnenpassage hat einen Weg genommen, mit vielen großen Institution, die erst langsam aus einem gewissen Habitus heraus ihre gewohnten Pfade ver­lassen müssen (…) und darum geht es, dass wir neue soziale Räume schaffen, dass wir diese Vielstimmigkeit und diese wunderbare Diversität in dieser Stadt eben auch in der Kunst widerspiegeln Veronica Kaup-Hasler, Wiener Stadträtin für Kultur und Wissenschaft

Was die Brunnenpassage und das Wiener Konzerthaus eint, ist der Versuch, musikalische Exzellenz zu teilen.

Matthias Naske, Intendant des Wiener Konzerthauses und langjähriger Kooperationspartner

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Brunnenpassage Best of Testimonials Code scannen Video ansehen

Vernetzung mit Künstler*innen mit Migrationserfahrungen sowie das Aktivieren und Einbeziehen von bisher ausgegrenzten Publika wird zunehmend von den etablierten Kunstorten zur Erneuerung ihrer Programme und im Sinne einer transkulturellen Öffnung angefragt. Die Brunnenpassage hat sich aufgrund der Erfahrungen, die durch die mehrjährigen Kooperationen gesammelt wurden, dazu entschieden, mit ausgewählten Institutionen nachhaltigere, vertraglich fixierte Partnerschaften einzugehen. Der Konzeption und den Reflexionen der strategischen Partnerschaften ist in diesem Handbuch ein eigenes Kapitel gewidmet.

WEITERGABE DER EXPERTISE

Die Brunnenpassage ist zu einer konstanten Dialogpartnerin auf nationaler und internationaler Ebene geworden. Das umfangreiche Netzwerk zu (post-)migrantischen Künstler*innen sowie das Aktivieren und Einbeziehen von bisher nicht-­erreichten oder ausgegrenzten Publika ist eine Hauptkompetenz der Brunnenpassage. Spezifische partizipative Formate sowie die Methoden der aufsuchenden Dialoggruppenarbeit werden laufend weiterentwickelt. Das Teilen der gewonnenen Erfahrungen ist ein wesentlicher Teil der Arbeit geworden: Mitarbeiter*innen der Brunnenpassage werden häufig national und international zu Konferenzen, Tagungen und Podien als Referent*innen eingeladen. Zunehmend gibt es Anfragen für Beratungsleistungen von Kulturämtern und Kulturinstitutionen. Auch die internationale Vernetzung und Zusammenarbeit wurde in den letzten Jahren nachhaltig ausgebaut. So wurden etwa Expertinnen der Brunnenpassage als Vertretungen für das Kulturministerium Österreich in die OMC-Arbeitsgruppen der Europäischen Kommission entsandt (2011-2013 und 2015-2016; Anne Wiederhold und Ivana Pilić). Die Brunnenpassage wurde 2016 in das Internationale Netzwerk Trans Europe Halles (TEH) aufgenommen. Seit 2019 sind Expertinnen der Brunnenpassage Mitwirkende in der Arts Education Platform von TEH (Zuzana Ernst und Elisabeth Bernroitner). Die Brunnenpassage war diverse Male Partnerin in EU-Projekten, so u.a. ­Sheherazade,­ ­Creative Spaces und ‚Orfeo & Majnun‘. Mit Living Realities.

Changing Perceptions ist die Brunnenpassage 2017-2019 erstmalig Lead eines eigenen Creative Europe-Projektes geworden. Internationale Delegationen besuchen die Brunnenpassage, um sich von den spezifischen Methoden inspirieren zu lassen. Es entstehen Kooperationen mit international ­renommierten Künstler*innen wie Tania Bruguera, George ­Ferrandi oder Yo-Yo Ma. 2019 besuchte der UNO-General­sekretär António Guterres die Brunnenpassage.

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STRUKTUR UND ZUKÜNFTIGE WEITERENTWICKLUNG

Trägerorganisation der Brunnenpassage ist die Caritas Wien, welche auch das Gebäude und den Grund gekauft hat. Seit 2008 verfügt die Brunnenpassage über eine dauerhafte Spielstättengenehmigung als Kulturinstitution. Die Brunnenpassage finanziert sich aus Geldern der öffentlichen Hand sowie über Sponsor*innen, private Unterstützer*innen wie z.B. Stiftungen und freiwillige Unkostenbeiträge von Veranstaltungsbesucher*innen. Aufgrund der gesellschaftlichen Relevanz baute die Caritas Wien 2013 einen weiteren dezentralen Kunstraum am Viktor-Adler-Markt im 10. Wiener Gemeindebezirk – den Stand 129 – auf, wo unter der künstlerischen Leitung von Tilman ­Fromelt partizipative Formate für den dortigen Standort ent­ wickelt werden. 2020 wurde das Kulturhaus Brotfabrik eröffnet.

Der anvisierte Fokus der Brunnenpassage für die kommenden Jahre basiert auf folgenden wesentlichen Säulen: Die Koproduktionen mit großen Kulturinstitutionen der Wiener Innenstadt werden weiter ausgebaut. Das Kreieren transkultureller, zeitgenössischer Ästhetik und das Platzieren aktueller Themen in Bezug auf die diversen Lebensrealitäten stehen im Fokus. Die Produktionsbedingungen hinsichtlich Fragen der Umverteilung, Formatentwicklung, Mehrsprachigkeit und Diversität der Mitwirkenden auf allen Ebenen werden fortwährend evaluiert. Darüber hinaus werden der Aufbau neuer dezentraler Kunstorte und der nachhaltige Transfer der Arbeitsweise in andere Bezirke und in den ländlichen Raum angestrebt. Zunehmend gibt es Anfragen zu Diversitätsberatung für Kulturinstitutionen und kulturpolitische Ämter. Fortwährendes Ziel ist es, Kunsträume zu ermöglichen, die sich mit diversen Lebensrealitäten auseinandersetzen und als Handlungsräume in die Gesellschaft hineinwirken. 35

Zuzana Ernst, Natalia Hecht, Ivana Pilić, Anne Wiederhold-Daryanavard

Navigating Change –  Strategische Partnerschaften und Impulse für die Kulturpolitik

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Seit der Gründung der Brunnenpassage im Jahr 2007 wurden gemeinsam mit großen Kulturinstitutionen der Innenstadt viele erfolgreiche Produktionen gefeiert. Die Kooperationen ermöglichen einen gegenseitigen Brückenschlag: Ressourcenstarke Institutionen bieten innovativen Produktionen und den Mitwirkenden eine große Bühne und Sichtbarkeit. Im Gegenzug wird den etablierten Institutionen der Zugang zu neuen Inhalten, Künstler*innen und Publikumsgruppen ermöglicht. Für eine gleichberechtigte Partnerschaft, die bei den etablierten Kulturinstitutionen auch nachhaltige Veränderungen in Bezug auf ­Öffnungsprozesse für neue Inhalte, Dialoggruppen, Künstler*innen, Programme und mehr Diversität im Personal auslöst, war die Form der Kooperationen jedoch nicht ausreichend. Aus diesem Grund werden seit 2017 seitens der Brunnenpassage strategische Partnerschaften eingegangen, um sich diesen ­Herausforderungen gezielter zu widmen. Im Folgenden werden zunächst basierend auf der Evaluation des Partnerschaftsmodells Erfahrungen im Umgang mit ungleichen Partner*innen und sich daraus ergebende Lernfelder skizziert. Die Brunnenpassage versucht diversitätssensible Kunstpraxen über den eigenen Ort und die Partnerschaften hinaus voranzutreiben und nachhaltig in der Stadt zu verankern. Anregungen und Empfehlungen, die aus Sicht der Brunnenpassage für eine transkulturelle Öffnung im Kulturbetrieb notwendig sind, werden danach resümierend interessierten Akteur*innen vorgestellt.

STRATEGISCHE PARTNERSCHAFTEN - ÜBER KOOPERATIONEN HINAUSWIRKEN

2017 wurden auf Initiative der Brunnenpassage mit drei Institutionen strategische Partnerschaften mit einer Laufzeit von drei Jahren eingegangen: Mit dem Wiener Konzerthaus, dem Weltmuseum Wien sowie der Offenen Burg des Burgtheaters. Im Rahmen der Pressekonferenz zu ‚10 Jahre Brunnenpassage‘ im Herbst 2017 wurden in Anwesenheit der Intendant*innen bzw. künstlerischen Leiter*innen der drei Institutionen Matthias Naske, Steven Engelsman und Renate Aichinger sowie des ehemaligen Kulturministers Thomas Drozda und des damals amtierenden Kulturstadtrats Andreas Mailath-Pokorny die strategischen Partnerschaften vorgestellt. Intention dieser strategischen Partnerschaften ist das Umsetzen gemeinsamer Produktionen, aber auch das Anstoßen eines breiten Umdenkens im etablierten Kulturbetrieb, um die Anerkennung der Heterogenität der Bevölkerung in den etablierten Institutionen voranzutreiben. In einer mehrjährigen und damit nachhaltigen Zusammenarbeit werden Arbeitsgrundlagen für transkulturelle Kunstproduktionen entwickelt. Die strategischen Partnerschaften sind in umfangreichen schriftlichen Vereinbarungen definiert und unterzeichnet. Die jeweiligen Ziele entstehen in einem ausführlichen Prozess gemeinsam mit den Intendant*innen bzw. künstlerischen Leiter*innen der einzelnen Häuser.

ZIELE DER STRATEGISCHEN PARTNERSCHAFTEN

Die strategischen Partnerschaften haben zum Ziel, die Zusammenarbeit der Brunnenpassage mit den Institutionen der Innenstadt über punktuelle Kooperationen hinaus weiterzuentwickeln. Partnerschaften ermöglichen eine intensive, nach­haltige Veran38

kerung der Kollaboration. Damit wird eine Öffnung der Partnerinstitutionen gefördert: Die Heterogenität der Gesellschaft soll sich zukünftig auf möglichst vielen Ebenen der großen Partnerorganisation widerspiegeln. Es wird angestrebt, Inhalte zu etablieren, die für breite Teile der Bevölkerung interessant und relevant sind. In den Produktionen wird mit neuen transkulturellen, ästhetischen Erfahrungen experimentiert. Die aktive Teilnahme marginalisierter Gruppen, aber auch deren Selbstrepräsentation werden in der Kunstproduktion vorangetrieben. Marginalisierte Künstler*innen, Kurator*innen und Kulturschaffende werden verstärkt als Kulturproduzent*innen wahrgenommen und involviert; und neue und ­mehrsprachige Bewerbungsstrategien werden dadurch entwickelt. Ein weiterer wichtiger Aspekt des Öffnungsprozesses stellt die Sensibilisierung für diskriminierende Strukturen innerhalb der Institutionen, aber auch im Team dar, um ausschließenden ­Aspekten bei der Konzeption, Programmierung, Umsetzung und Bewerbung gewahr zu werden. Auch das gegenseitige, nachhaltige Kennenlernen auf der Personalebene zwischen den verpartnerten Institutionen erscheint als relevanter ­Aspekt, um ein Verständnis für die unterschiedlichen Arbeitsweisen und Fähigkeiten zu entwickeln. Damit können ­Synergien entstehen und Aufgaben entsprechend der jeweiligen Stärken über­nommen werden.

GEMEINSAME PRODUKTIONEN

Im Mittelpunkt der Partnerschaften steht die gemeinsame Kunstproduktion. Über die drei Jahre der strategischen Partnerschaften der Brunnenpassage mit dem Weltmuseum Wien, dem Wiener Konzerthaus und der Offenen Burg des Burgtheaters wurden mehrere große und kleine Produktionen umgesetzt. ­Exemplarisch sind hier einige konkrete Beispiele zwischen 2017 und 2020 genannt:

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JUMP!STAR SIMMERING: LISTENING OUT LOUD & DREAMING WILDLY 2019-2021

ist ein prozessorientiertes Kunstprojekt konzipiert durch ein transdisziplinäres Team. Ursprünglich in Wien im Stadtteil Simmering geplant, verschob es sich aufgrund der Covid 19-­Pandemie in den virtuellen Raum. In Form eines Zeitreise-Experimentes wurden Teilnehmende eingeladen der Gegenwart und Vergangenheit laut zuzuhören und kollektiv von einer besseren Zukunft zu träumen. Jump!Star Simmering ist eine Produktion der Brunnenpassage in Kooperation mit dem Weltmuseum Wien und der US-amerikanischen Künstlerin George Ferrandi. Unterstützt wurde das Projekt durch SHIFT Wien.

MUSIK FINDET STADT 2019

Das Stadtlabor Musik findet Stadt, das von der Brunnen­passage zusammen mit dem Wiener Konzerthaus organisiert wurde, lud mit temporären künstlerisch-urbanen Interventionen zum Mitmachen ein. In den Wiener Stadtteilen Simmering sowie ­Brigittenau wurden im Sinne kultureller Nahversorgung Räume für Begegnung sowie Orte von sozialer und kultureller Durchlässigkeit gestaltet. Eine Kooperation von Brunnenpassage und Wiener Konzerthaus. Musik findet Stadt ist Teil der Initiative Stadtlabore des Kulturstadtratsbüros der Stadt Wien.

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ORFEO & MAJNUN 2019

‚Orfeo & Majnun‘ ist ein partizipatives Musiktheaterprojekt, ­indem­ die Sage Orpheus und Eurydike mit der Liebesgeschichte zwischen Leila und Majnun verflochten wurde. Die Musik­ theaterproduktion beinhaltete einen umfangreichen partizipativen Prozess, u.a. mit dem Brunnenchor der Brunnenpassage, und mündete in einer Oper im Großen Saal des Konzerthauses sowie einem Straßenfest am Yppenplatz rund um die Brunnenpassage. Eine Produktion des Wiener Konzerthauses im Rahmen des EUProjektes ‚Orfeo & Majnun‘, in Kooperation mit Basis.Kultur.Wien und Brunnenpassage. Kofinanziert durch das Creative EuropeProgramm der Europäischen Union.

SHARING STORIES. DINGE SPRECHEN. 2017-2019

Sharing Stories. Dinge Sprechen. beschäftigte sich mit dem musealen Sammeln von Gegenwart und lud unterschiedliche Menschen dazu ein, einen für sie bedeutsamen Gegenstand zu bringen und dessen Geschichte zu erzählen. Ethnographische Museen tragen eine problematische Geschichte des ­Sammelns, Forschens und Präsentierens mit sich. Sharing Stories. Dinge sprechen. erzählte multiperspektivisch die Geschichte von 150 verschiedenen Objekten, ohne das Objekt selbst auszustellen und zeigte dadurch andere Praxen des Sammelns und Erzählens auf.  Sharing Stories. Dinge sprechen. wurde von einem kuratorischen Team bestehend aus Tal Adler (Künstler), Elisabeth ­Bernroitner (Brunnenpassage), Bianca Figl (Weltmuseum Wien) und Karin Schneider (Kulturvermittlerin) konzipiert und umgesetzt. Ein Projekt des Weltmuseums Wien in Zusammenarbeit mit der Brunnenpassage und weiteren Partnern: ImPulsTanz, Spacelab, TEDx Vienna, Volkskundemuseum, Caritas Haus Franz Borgia und ZOOM Kindermuseum.

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RAPCHOR seit 2018

Der Rapchor verbindet Rap und Hip Hop mit der Form des ­Chores. Geleitet von einer Rapperin und einer Chorleiterin, die als Team mit einer diversen Gruppe bereits seit 2018 wöchentlich proben. Die Gruppe schreibt eigene mehrsprachige ­Texte, komponiert die Songs und performt. Auftritte reichen vom ­Yppenplatz bis hin zur Bühne des Akademietheaters. Eine Produktion der Brunnenpassage, Auftritt im Rahmen von Stadtrecherchen des Burgtheater.

THEATER & FLUCHT 2018

Als Teil der Diskursreihe Arts Rights Justice organisierte die Brunnenpassage einen Theaterabend zum Thema Theater und Flucht in der Säulenhalle des Weltmuseum Wien. Die Theaterproduktion ‚Ein Staatenloser‘ zeigte biographisch bearbeitet, wie Zensur einen Künstler zur Flucht zwingt. Die anschließende Diskussion widmete sich thematisch der Darstellung von Flucht im Theater und den Repräsentationen und der Marginalisierung von geflüchteten Schauspieler*innen in Wiens Theaterlandschaft. Eine Impulsreihe der Brunnenpassage in Kooperation mit Arts Rights Justice, EU working group on human rights violations in the arts und UNESCO Kommission Österreich. Theater & Flucht fand in Kooperation mit dem Weltmuseum Wien statt.

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PARTNERSHIP COMPASS - EIN TOOL FÜR EVALUATION UND STRATEGIE Bereits nach dem ersten Pilotjahr 2017/2018 sind neben Erfolgen auch Fragen und Hürden sichtbar geworden. Evident waren die unterschiedlichen Arbeitsweisen, so etwa die notwendigen langfristigen Betriebsabläufe der großen Kulturinstitutionen oder auch der starke ökonomische Druck der etablierten Häuser im Gegensatz zum Pay-as-you-can-Prinzip der Brunnen­passage. 2019 entwickelte die Brunnenpassage deshalb als umfangreichen Steuerungsprozess das Tool Partnership Compass. Der Partnerschaftskompass wurde von Januar bis Dezember 2019 durchgeführt. Das Tool diente zur Halbzeit der strategischen Partnerschaften der Evaluation und Steuerung, um das gemeinsame Vorhaben und die eingangs definierten Ziele nach­zujustieren. Die Evaluation bezog die Analyse der Qualität der gemeinsamen Produktionen, Erfolgsaspekte und Heraus­ forderungen, Strukturen, Dynamiken und Prozesse der Zusammenarbeit mit ein, außerdem wurden Stärken und Verbesserungsbereiche identifiziert. Der Partnership Compass wurde in vier Schritte unterteilt: Analyse, Datenerhebung, ­Reflexion und Lernfelder. Schritt 1: Analyse Sämtliche schriftliche Dokumente, etwa die unterzeichneten Partnerschafts-Verträge, die Beschreibungen von gemeinsamen Produktionen, Pressetexte etc. wurden analysiert und entsprechend den vereinbarten strategischen Zielen der Partnerschaft bewertet.  Die für die Analyse angewandten Kategorien wurden von Natalia Hecht entwickelt und in Klausuren mit dem Team der Brunnenpassage diskutiert und ausgewählt. Folgende ­Kategorien lagen der Evaluation zu Grunde: Qualität in der trans­ kulturellen Ausrichtung, Ästhetik, Nachhaltigkeit, interne und externe Sichtbarkeit, Gleichberechtigung und Antidiskriminierung, Zugänglichkeit, Selbstrepräsentation, Partizipation, Empowerment und Co-Kreation.

Schritt 2: Datenerhebung In einem zweiten Schritt wurden 21 beteiligte Stakeholder*innen der jeweiligen Partnerschaften anhand eines leitfadengestützten Interviews umfangreich befragt, um ihre Perspektiven zu den Partnerschaftspraktiken zu erfassen und gleichzeitig ihre aktive Beteiligung, Reflexion und Teilhabe an der Generierung von Erkenntnissen zu fördern.  Die Gruppe der Befragten bestand aus Intendant*innen bzw. Leiter*innen der Institutionen, Teammitgliedern der Brunnenpassage, Mitarbeiter*innen von Partnerinstitutionen, politischen Entscheidungsträger*innen, Künstler*innen und künstlerischen Leiter*innen von Produk­ tionen, freiwilligen Mitarbeiter*innen, Projektteilnehmer*innen 44

und Multiplikator*innen mitwirkender Communities sowie ­beteiligten Kulturschaffenden und Kurator*innen. Um die Perspektiven der Teilnehmenden zu ihren Erlebnissen und Erfahrungen in der Mitwirkung der Produktionen stärker zu berücksichtigen, wurden darüber hinaus zusätzlich 18 Fokusgespräche sowie ein Fragebogen entwickelt, der von 70 Chorsänger*innen einer M ­ usiktheaterproduktion ausgefüllt wurde. Schritt 3: Reflexion Die 21 durchgeführten Interviews wurden vollständig trans­kri­ biert, die 18 Fokusgespräche mit den Teil­nehmenden dokumentiert und die 70 ausgefüllten Fragebögen der Chorsänger*innen ausgewertet. Zentrale Erkenntnisse wurden daraus extrahiert und schriftlich in einem Ergebnisdokument zusammengefasst. Während der gesamten Projektlaufzeit des Partnership Compass

wurden Zwischenergebnisse und offene Fragen in Klausuren intern mit dem Team der Brunnenpassage bearbeitet. Unregelmäßig gab es zusätzlich Reflexionstreffen der Brunnenpassage mit den jeweiligen Partnerinstitutionen. Vier Vernetzungs- und Reflexionstreffen fanden mit allen drei Institutionen gemeinsam statt. Schritt 4: Lernfelder Während der Umsetzung des Partnerschaftsmodells wurden viele Herausforderungen deutlich, die hier – im Sinne des ­Wissenstransfers der resultierenden Erfahrungen und als Anregung für Akteur*innen in Kooperationen und Partnerschaften – als Lernfelder beschrieben werden. 45

ALLGEMEINE LERNFELDER Rolle der Leitung und Offenheit für Selbstreflexion Nachhaltige Veränderungen innerhalb etablierter Institutionen können nur dann stattfinden, wenn der Wille zu Veränderung von der Leitungsebene ausgeht und klar gegeben ist. Eine ­konsequente Offenheit zur Selbstreflexion der Institution und der institutionellen Praktiken ist ein zentrales Moment für ­Veränderung, um einen Öffnungsprozess auf allen Ebenen zu ermöglichen. Selbstrepräsentation im Mitwirken Auf der Ebene der Mitwirkenden partizipativer Produktionen ­waren die Partnerschaftspraktiken erfolgreich, um unterrepräsentierten Gruppen den Zugang zu kulturellen Räumen zu erleichtern, zu denen sie zuvor keinen Zugang hatten. Die Selbstbefähigung und das Erreichen eines höheren Maßes an Selbstrepräsentation haben eine positive Auswirkung auf die Mitwirkenden.

Teilhabe statt Teilnahme Die Teilhabe wird manchmal als Teilnahme an bereits konzipierten Aktivitäten gesehen, nicht aber als Beteiligung in früheren Phasen des Prozesses. Damit ist es nicht möglich das Programm entsprechend den für bestimmte Gruppen relevanten Themen zu entwickeln. Bei einigen Produktionen im Laufe der drei Jahre waren bereits vor Beginn der Zusammenarbeit das Thema, der Zeitrahmen und/oder die beteiligten Künstler*innen seitens der großen Partnerinstitution festgelegt. Eine solche Vorgehensweise kann eine gleichberechtigte Zusammenarbeit und inhaltliche Mitgestaltung maßgeblich erschweren oder verhindern. Steuerung der Zugänglichkeit Workshop-Formate, die in der Innenstadt in den Institutionen stattfinden, erreichen üblicherweise vermehrt kulturaffine Teilnehmende. Um Gleichberechtigung im Zugang herzustellen, wurde teilweise mit Kontingenten für spezifische Dialoggruppen, z.B. gleichberechtigte Anzahl von Teilnehmer*innen aus dem Umfeld beider Partnerinstitutionen gearbeitet. Ebenso wurden mehrmonatige Workshop-Reihen an beiden Orten im wöchent­ lichen Wechsel durchgeführt, damit die Zugänglichkeit erleichtert wird. Arbeit mit Vielsprachigkeit In einigen Formaten war es wichtig und zielführend, mehrsprachig zu arbeiten. Dies führte teilweise zu Herausforderungen für die Marketing-Abteilungen der Partnerinstitutionen, welche nicht die dafür notwendigen Ressourcen innerhalb des Betriebs verankert haben – sei es die geeignete Software für nicht-­lateinische Schriftsysteme oder Personen innerhalb der Teams, welche ­flexibel die Übersetzung übernehmen können. Oftmals übernahm die Brunnenpassage aufgrund ihres diesbezüglichen Know-hows 46

und der vorhandenen Sprachressourcen im Team die Gestaltung von mehrsprachigen Drucksorten bei Partnerprojekten oder unterstützte bei Übersetzungen und Korrekturen. (Zeit-)Ressourcen Der gemeinsame, organisationsübergreifende Wissensaustausch erfordert die Bereitstellung von Ressourcen. Damit die Partnerschaften gelingen, sind Verantwortlichkeiten und Personalressourcen für die Koordinierung und Umsetzung der Partnerschaften, zusätzlich zu den Produktionsgeldern der gemeinsamen Vorhaben, zu schaffen. Außerdem sollten Strukturen für ein kontinuierliches Monitoring und die begleitende Evaluierung des gesamten Prozesses bereitgestellt werden, um konstruktiven Austausch zu ermöglichen. Zusammenarbeit, die auf Gleichberechtigung und gemeinsamen Zielen basiert, braucht vor allem Zeit für umsichtige Planung als auch Reflexion. Dies ist allerdings nicht immer möglich, wenn Produktions-Ergebnisse z.B. aufgrund von kurzfristig zugesagten Fördergeldern innerhalb eines sehr begrenzten Zeitrahmens benötigt werden. ­Darüber hinaus delegieren die Intendant*innen der großen ­Häuser phasenweise die Kommunikation betreffend Zusammenarbeit an ihre Vermittlungsabteilung, was die Verankerung der gemeinsamen Zielsetzungen in Bezug auf die Gesamtinstitution erschwert und den Wirkungsgrad der Partnerschaft innerhalb der Organisation auf den Outreach-Bereich limitiert.

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Umgang mit Machtunterschieden Die Umverteilung von Ressourcen zwischen Partner*innen mit ungleicher ökonomischer und symbolischer Macht ist eine notwendige Bedingung. Es bedarf des Bewusstseins für diese Ungleichheit der Partner*innen vor allem in Bezug auf Produktions­ bedingungen, um die Zusammenarbeit für alle beteiligten Partner*innen fair zu gestalten. Damit einhergehend ist die Anerkennung der Arbeitsmethoden und in diesem Fall der transkulturellen Kompetenz der Brunnenpassage durch die Partnerinstitutionen essenziell, um als kleine Institution nicht nur als Vermittlerin, für Audience Developement etwa, benutzt zu werden. Die Finanzierung der gemeinsamen Produktionen und die Frage einer möglichen finanziellen Umverteilung erwiesen sich nach der Evaluation zumeist als im Vorfeld nicht ausreichend geklärt. Für große Institutionen sind teilweise Fragen in Bezug auf den Umgang mit unterschiedlichen Eintrittspreisen oder auch freiem Eintritt entstanden. Der Verkaufs-Druck, unter dem die meisten Institutionen stehen, wurde oftmals deutlich. Eine wichtige schriftliche Grundlage für dieses Kapitel strate­ gische Partnerschaften ist u.a. der unveröffentlichte AbschlussReport des Partnership Compass geschrieben von Natalia Hecht, Brunnenpassage 2019. Der Partnership Compass wurde unter Projektleitung von Natalia Hecht entwickelt. Als Evaluationsteam waren von Seite der Brunnenpassage Elisabeth Bernroitner, ­Zuzana Ernst, Fariba Mosleh, Anne Wiederhold-Daryanavard, Gordana Crnko, Dilan Sengül, Elif Isik und Yamna Krasny beteiligt. Auch waren zwei Beraterinnen an der Toolentwicklung beteiligt: Ivana Pilić (Universität Salzburg und Universität Mozarteum Salzburg) und Alina Cibea (Sozialwissenschaftliche Forscherin).

ERFAHRUNG TEILEN Die (ersten) Ergebnisse der strategischen Partnerschaften wurden parallel zwischen 2017 und 2020 in Konferenzen, Vorträgen und Workshops in Österreich sowie international kontextualisiert und als methodischer Ansatz verbreitet, u.a.:

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2019 'What Design Can Do'-Conference, BreakoutSession Listening Out Loud, Mexico City (MEX)



2018 Kulturmanagement Forum ‚Wir können auch anders! Kulturbetriebe denken um‘, Institut für Kulturkonzepte, Wien



2018 Diversitätsentwicklung in Kunst- und Kulturinstitutionen: Nachfrage und Angebot der Stiftung Genshagen / Gemeinsame Einladung an Brunnenpassage & Stadtrecherchen des Burgtheaters, Genshagen (DE)



2018 Symposium 'The Art of Music Education' VI. Discovering Cultural Relations – Music Institutes in

Multi-Diverse Urban Societies, Körber Stiftung & ­Elbphilharmonie & European Concerthall Organisation/ Gemeinsame Einladung Brunnenpassage & Wiener Konzerthaus, Hamburg (DE) ―

2017 The 'Subjective Museum?' – The Impact of Participative Strategies on the Museum, Internationale Tagung des Historischen Museum Frankfurt / Gemeinsame Einladung Brunnenpassage & Welt­ museum Wien, Frankfurt (DE)

EMPFEHLUNGEN FÜR ZUKÜNFTIGE PARTNERSCHAFTSMODELLE Gemeinsame Visionsentwicklung und schriftliche Vereinbarung Die Partner*innen verschriftlichen die gemeinsame Vision für die Partnerschaft. An diesem Prozess sind bestenfalls mehrere Hierarchieebenen der Organisationen beteiligt. Die Rolle der Intendanz ist hierbei zentral. Wenn die Leitung nicht oder kaum einbezogen wird, läuft die Partnerschaft Gefahr zum Feigenblatt zu werden. Denkräume für neue Wege Eine regelmäßige Abklärung und ein klares Verständnis der Rollen und Erwartungen an den Prozess stellen sicher, dass die Partnerinstitutionen am gleichen Strang ziehen. Dafür braucht es regelmäßige Standortbestimmungen für die Bewältigung von 49

etwaigen Herausforderungen. Auch scheint es hilfreich, in unregelmäßigen Abständen konkrete Meilensteine zu definieren. Gegenseitiges Kennenlernen Zeitliche Ressourcen sind essenziell, um ausreichend Gelegenheiten zu haben, sich gegenseitig als agierendes Personal und als Organisationen kennen zu lernen. Die persönliche Vernetzung ist der Schlüssel zum Aufbau von Beziehungen für die gelungene Umsetzung der gemeinsamen Produktionen. Das Kennenlernen geschieht im besten Fall formell und informell, zentral und dezentral. Formelle Treffen im Sinne von Klausuren, Besprechungen und Workshops sind hilfreich, um einen regelmäßigen Austausch und die Professionalisierung der Partnerschaften voranzutreiben. Informellere Formen wie ein gemeinsames Essen, gemeinsame Konzert- oder Theaterbesuche bieten sich für die Beziehungsarbeit zusätzlich an. Um die Institutionen intensiver kennenzulernen, ist es ratsam sich im Wechsel an den verschiedenen Orten (zentral und dezentral) zu begegnen. Bei jedem Meeting sollte Zeit für gegenseitiges Feedback oder für Reflexion über die Wirksamkeit der Partnerschaft eingeräumt werden, nicht nur über den Fortschritt der aktuellen Projekte. Reflexion und Evaluation sind wesentliche Instrumente für Partnerschaften. Gemeinsames Nachdenken und eine etablierte Praxis der Reflexion sind unabdingbar, um die Ziele der gemeinsamen Kunstproduktion zu erreichen. Der Einsatz einer externen Prozessbegleitung oder verschiedener Methoden zur Erlangung von greifbaren und dokumentierbaren Ergebnissen ist ebenso hilfreich. Unterverträge Es empfiehlt sich, Vereinbarungen und Ziele für die gemeinsamen künstlerischen Produktionen in zusätzlichen Unterverträgen festzuhalten. Die schriftliche Vereinbarung könnte etwa die Verantwortlichkeiten hinsichtlich Ko-Kuration, Produktions­budget,

Öffentlichkeitsarbeit, Produktionsbedingungen (u.a. zeitlich und bezüglich Raumnutzung) beinhalten. Macht und Umverteilung Das Navigieren in einem Machtungleichgewicht zwischen Organisationen kann in Teams Stress erzeugen, wenn keine Reflexions- und Strategieentwicklungstools verfügbar sind. Machtunterschiede stellen auch im Kulturbereich einen sehr herausfordernden Aspekt von Partnerschaften dar. Die Zusammenarbeit zwischen kleineren und großen Institutionen erfordert die Entwicklung von interorganisatorischen Fähigkeiten: Fähigkeiten zur Steuerung von vorhandenen Machtungleichgewichten und Fähigkeiten zur Stärkung von vor allem der Identität der kleineren Institution und damit der involvierten Akteur*innen. Die Veränderung dieses Machtgefälles und ein Überdenken bisheriger Produktionsbedingungen ist entscheidend, um synergetische 50

Partnerschaften zu schaffen und eine nachhaltige Transformation der Kultureinrichtung zu ermöglichen. Austausch und Zusammenarbeit mit der Kulturpolitik Wenngleich die Partnerschaften auf Ebene der Institutionen eingegangen werden empfiehlt es sich, die kulturpolitischen Entscheidungsträger*innen von Beginn an mitzudenken und bestenfalls zu involvieren. Themen wie Kriterien zur Fördervergabe, Besetzungen von Beiräten, kulturpolitische Ausrichtungen wie dezentrale Kulturarbeit oder thematisch begleitende Arbeitsgruppen innerhalb städtischer Verwaltungsressorts können die verfolgten Ziele der strategischen Partnerschaften in der Wirksamkeit unterstützen.

RESÜMEE UND ERKENNTNISSE

Der Kultursektor wird sich zukünftig maßgeblich mit der Frage befassen, wie Kunst etabliert werden kann, die für die gesamte Bevölkerung relevant, breite Perspektiven ermöglicht und damit der Pluralität der Gesellschaft gerecht wird. Dies bedarf einer Transformation der Rahmenbedingungen für das künstlerische Schaffen. Einen einzig richtigen Weg hin zu dieser Vision gibt es selbstverständlich nicht und es gilt zu betonen, dass solche Veränderungsprozesse einen langen Atem brauchen. Am Anfang steht das eindeutige Bekenntnis, Transkulturalität in der eigenen Kunstpraxis zu verankern und umfassend auf allen internen Institutionsebenen ein Bewusstsein für die Notwendigkeit, Vorteile und Herausforderungen zu schaffen, um ein Umdenken zu ermöglichen. Die Langfristigkeit des Prozesses und eine notwendige Beharrlichkeit sind dabei vonnöten, da die gewünschten Veränderungen unterschiedlich schnell greifen. Eine Analyse der eigenen Institution stellt den Ausgangspunkt eines Öffnungsprozesses dar. Ein Wissen über Ausschlüsse, blockierte Teilhabemöglichkeiten und rassistische Bilder sollte

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vorhanden sein, um Konzepte und Ideen ausreichend reflektieren zu können und Stereotype nicht neu zu verfestigen. Programmatik Hinsichtlich der Programmgestaltung kann etwa die Frage bearbeitet werden, in welcher Weise das bisherige Programm­ angebot für Menschen mit unterschiedlichen sozialen oder kulturellen Hintergründen inhaltlich interessant ist; aber auch, wie das Programm zukünftig bei gleichbleibender Qualität für ein vielfältigeres Publikum relevanter werden kann. Es erscheint ebenfalls produktiv die zugrundeliegende Motivation hinter der Entscheidung für eine transkulturelle Öffnung näher zu beleuchten. Die Brunnenpassage beispielsweise hat sich konzeptuell Teilhabe und aktives Mitwirken in Kunstprozessen und das Kreieren neuer ästhetischer Erfahrungen zum Ziel gesetzt. Grundsätzlich können jedoch in anderen Fällen auch Konzepte passender erscheinen, die etwa mit Provokation und Intervention arbeiten und damit Themen platzieren und weniger am Dialog interessiert sind. Unterschiedliche Herangehensweisen und programmatische Methoden lassen sich nicht immer klar voneinander abgrenzen. Dennoch ist eine Entscheidung für den eigenen programmatischen Schwerpunkt wichtig, um ein passendes künstlerisches und transkulturelles Profil zu erarbeiten. Beim

Sammeln von Ideen und Entwickeln von Produktionskonzepten für das Programm ist es oft hilfreich abzugleichen, ob die angedachten Methoden mit den eigenen Standpunkten, dem vorhandenen Wissen und den vorhandenen Ressourcen harmonieren. Programmatisch sind Partnerschaften mit Institutionen der gewünschten Dialoggruppen sowie die Einbindung kultureller Mediator*innen sinnvolle Ansätze. Wesentlich scheint ein Hinaus­blicken über den eigenen Horizont. Dies gelingt durch das Agieren außerhalb des Gebäudes und das Erproben von Produktionen in Zusammenarbeit mit lokalen Kulturinitiativen und Botschafter*innen der jeweiligen Communitys vor Ort. Ziel ist die Förderung der Zusammenarbeit und der Ausbau von Plattformen für die Kooperation zwischen großen, kleinen und lokalen Kulturinitiativen, Botschafter*innen, Keyplayer*innen und Akteur*innen der jeweiligen Communitys. Personal In Bezug auf das Personal ist Diversität der Schlüssel zu jeglicher Veränderung. Nur wenn eine Vielfalt an Sprachen und sozio-kultur­ellen Erfahrungen innerhalb der Mitarbeiter*innen, und zwar auf allen Entscheidungsebenen (!), vorhanden ist, kann eine trans­kulturelle Ausrichtung der Institution ernsthaft entwickelt werden. Die Förderung diskriminierungskritischer Kompetenzen des vorhandenen Personals ist ein weiterer Anknüpfungspunkt. Eine grundsätzliche Sensibilisierung der wichtigsten Akteur*­innen, möglicherweise auch in Form von Trainings zu 52

individuellen Vorurteilen, Antirassismus, transkultureller Kommunikation und gezielte Fortbildungen hinsichtlich diskriminierungskritischer Kulturarbeit und spezieller Dialoggruppen sind erstrebenswert. Reflexionsebenen für die Umsetzungsschritte sollten auch strukturell verankert werden, um Erfolge und Misserfolge auswerten zu können. In Bezug auf das künstlerische Personal bzw. die engagierten Künstler*innen ist zu beachten, dass ein Interesse für das Arbeiten außerhalb des gewohnten (meist bildungsbürgerlichen) Kontextes vorhanden ist. Auch ein Wissen um verschiedene Lebensrealitäten und ein sensibler Umgang mit Differenzkategorien sind, genauso wie das Interesse, neue Perspektiven für die eigene Arbeit kennenzulernen, unerlässlich. Es erweist sich hierbei als hilfreich, mit den betreffenden Künstler*innen genaue Ziele sowie die geplante Arbeitsweise zu klären und diese auch während des Produktionsprozesses regelmäßig zu reflektieren. Damit sich die Produktion nicht in Zuschreibungen, Missverständnisse oder ein Zurückfallen in multikulturelle oder differenzierende Ausdrucksweisen entwickelt, braucht es eine prozesshafte Begleitung. Die Arbeitsgrundlage vor allem für (post-)migrantische Künstler*innen ist oftmals prekär. Darüber hinaus gibt es Anerken-

nungsschwierigkeiten aufgrund von Nostrifikation, Sprach­ barrieren oder im österreichischen Kunstkontext bisher weniger bekannten Genres oder Ausdrucksweisen. Viele Künstler*innen werden Bewertungen ausgesetzt, die mit ihrer Herkunft und nicht mit ihrer Kunst zusammenhängen. Diese diskriminierenden 53

Strukturen und Haltungen gilt es hinsichtlich des künstlerischen Personals und der Arbeitsbedingungen zu identifizieren und zu beseitigen. Diversität im Publikum Eine Grundhaltung, nicht nur für, sondern auch mit dem ­Publikum zu agieren, ist ein guter Ausgangspunkt. Je genauer die angestrebte Dialoggruppe definiert wird, desto eher besteht die Chance, diese auch zu erreichen. Mehr Wissen über neue Dialoggruppen kann durch unterschiedliche Vorgehensweisen gesammelt werden, etwa durch Umfragen, direkten Kontakt zu bisherigen Non-usern oder über Vereine und Expert*innen. (Post-)migrantische Künstler*innen können engagiert werden, um für neue Dialoggruppen interessant zu werden. Ebenso sind Kooperationen mit Vereinen, Institutionen etc. ein wichtiges Instrument. Finanzielle und physische Hindernisse, die bisher der Zugänglichkeit im Wege standen, können überdacht werden. Neue Wege der Bewerbung, neue Medienkooperationen und die Anwendung von Mehrsprachigkeit sind ebenfalls Tools, die es auszuprobieren gilt. Die eigene bisherige Bewerbungsstrategie kann überdacht und Texte angepasst werden. Das Arbeiten mit Bildern, Slogans und klaren Titeln unterstützt das Vorhaben, genauso wie mit Medien zu kooperieren, die von der gewünschten Dialoggruppe gelesen, gehört und gesehen werden. Für die angestrebten Publika sind gegebenenfalls Ticketkontingente hilfreich, im Falle von Workshop-Formaten kann die Anmeldung genutzt werden, um die Zusammensetzung der Teilnehmer*innen im Sinne einer Umverteilung bewusst zu steuern. Grundlage jeglicher Öffnung für neue Dialoggruppen ist die Bereitschaft für Beziehungsarbeit. Dabei sollten Sprachkenntnisse der Nationalsprache(n) nicht vorausgesetzt werden. Vielmehr ist das Arbeiten mit Übersetzungen in der Bewerbung oder im Idealfall vorhandene Sprachkenntnisse im Personal wichtig, um etwa mit Multiplikator*innen und Vereinen in Kon-

takt zu treten. Während in der Beziehungsarbeit über einzelne Multiplikator*­innen womöglich schneller als erwartet Vernetzung entsteht, gibt es ebenso Dialoggruppen, die über Jahre hinweg nur langsam erreicht werden. Grundsätzlich braucht es für auf­suchende Dialoggruppenarbeit und für Arbeit mit Mehrsprachigkeit mehr Zeit.

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MG 3

BG 5

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BG 3

Elisabeth Bernroitner, Gordana Crnko, Zuzana Ernst, Tilman Fromelt, Natalia Hecht, Ivana Pilić, Anne Wiederhold-Daryanavard

Promising Practices – Konkrete Handlungsanleitung

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Elisabeth Bernroitner

Sharing Stories. Dinge Sprechen. Ausstellung Projektzeitraum: 2014-2019 Ausstellung im Weltmuseum Wien: Oktober 2017-Februar 2019 Das Projekt Sharing Stories. Dinge sprechen. beschäftigte sich 2014-2019 als Kooperation zwischen dem Weltmuseum Wien (Projektleitung Bianca Figl), der Brunnenpassage (Elisabeth Bernroitner), dem Künstler Tal Adler und der Kunstvermittlerin Karin Schneider mit dem musealen Sammeln von Gegenwart.

IDEE UND KONZEPT Das Weltmuseum Wien beherbergt eine der weltweit umfanreichsten Sammlungen von ethnografischen Objekten, historischen Fotografien und Büchern. Als lebendiges Archiv bewahrt, vermittelt und erforscht das Museum das materielle und ­immaterielle Erbe von Österreichs (vor allem außereuropäischen) Kontakten durch Reisende und Forschende. Ethnographische Museen – wie das Weltmuseum – tragen eine problematische Geschichte des Sammelns, Forschens und Präsentierens mit sich. Viele der Objekte, die wir heute in solchen Museen finden, verweisen auf koloniale Aneignung und Gewalt. In Auseinandersetzung mit diesen

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kolonialen Erwerbsgeschichten und Fragen der Definitionsmacht experimentierte Sharing Stories. Dinge sprechen. mit alternativen Praxen des Sammelns und Erzählens, die auf freiwilligen Begegnungen und Gesprächen auf Augenhöhe basierten und eine Auflösung von eindimensionalen Erzählperspektiven zum Ziel hatten. Sharing Stories thematisiert als partizipatives Geschichten­ erzähl-Experiment nicht nur, welche zeitgenössischen Objekte gesammelt und ausgestellt werden, sondern vor allem auch, in welcher Weise dies geschieht: Wie können Geschichten unterschiedlicher Menschen so gezeigt werden, dass sie sich als Erzählende darin wiederfinden? Wie gehen wir sorgfältig und wertschätzend mit den Gegenständen der Menschen um? Wer ist ermächtigt über diese Gegenstände zu sprechen? Wie verändert sich der Blick auf Dinge, wenn unterschiedliche Sichtweisen zur Sprache kommen? Ausgangspunkt von Sharing Stories war es, durch unterschiedliche aber gleichwertige Geschichten die Vielschichtigkeit von Bedeutungen zu zeigen, die Dingen gegeben werden kann. Die Herangehensweise von Sharing Stories befragte auch kritisch übliche Praxen in kulturwissenschaftlichen Museen. In diesen waren und sind es oft nur die Stimmen der Wissenschaftler*innen und Kurator*innen, die die Herkunft und Bedeutung eines Objekts in Form scheinbar objektiver Beschriftungstafeln festlegen. Die Geschichten der Menschen, denen die Objekte gehör(t)en, gingen und gehen dabei genauso verloren, wie die Geschichte darüber, wie verschiedene Dinge überhaupt in das Museum gekommen sind. Gerade in einem Museum wie dem Weltmuseum Wien mit einer kolonialen Sammlungsgeschichte ist es wichtig, sich mit dieser kritisch auseinanderzusetzen und neue Praxen des Erzählens zu erproben.

UMSETZUNG

Nach einer intensiven Konzeptionsphase ab Herbst 2014 hat das interdisziplinäre, kollaborative Projekt  Sharing Stories. ­Dinge sprechen. unterschiedliche Menschen – im Rahmen von öffentlichen Calls wie auch persönlichen Gesprächen – dazu eingeladen, einen für sie bedeutenden Gegenstand zu bringen und dessen Geschichte zu erzählen. Um eine große Bandbreite an Geschichten und teilnehmenden Menschen zu erreichen, besuchte Sharing Stories innerhalb von zwei Jahren über 10 ­temporäre Stationen und arbeitete mit Kooperationspartner*innen wie dem Volkskundemuseum Wien, der arbeitsmarktpolitischen Einrichtung für Jugendliche Spacelab, dem Senior*innenheim Haus Franz Borgia der Caritas, dem ZOOM Kindermuseum oder der TEDx Konferenz in Wien zusammen. Ausgehend von einem für das Projekt entwickelten offenen Interviewformat entstanden 150 persönliche, reichhaltige und spannende Geschichten über einfache Alltagsdinge, wie einem Schlüssel oder einer Halskette, bis hin zu besonderen oder seltenen Objekten, wie der Schachtel eines verlorenen Films oder einer handgemachten Maske. Die Besitzer*innen der Dinge teilten Geschichten von Liebe und Freundschaft, Verlust und Sehnsucht, Zugehörigkeit und Fremdheit, von Glaube, Leidenschaft, Reisen und Abenteuer, Migration, Assimilation, Terror und Hoffnung. 67

In kritischer Auseinandersetzung mit klassisch ethnografischen Arbeitsweisen entwickelte das Team eine Interviewpraxis, die dem Konzept eines leitfadengestützten, narrativen Interviews folgte. Geprägt von dem Anspruch auf Augenhöhe zu kommunizieren und möglichst wenig Raum für unbedachte Zuschreibungen und Interpretationen des Gesagten durch den/die Interviewer*in zu lassen, orientierten sich die Interviews am Erzählrhythmus der Teilnehmenden, respektierten ihre Grenzen und gaben ihnen die Zeit, die sie beanspruchten. Offene Fragen ermöglichten freies Erzählen und um immer wieder das richtige Verständnis des ­Gesagten zu überprüfen wurden Kernaussagen seitens der Interviewenden noch einmal zusammenfassend wiederholt und um Bestätigung dieser gebeten. Jede der Geschichten wurde als Audio-Datei aufgenommen, frei transkribiert und – auf Wunsch auch unter der Wahrung von Anonymität – zusammen mit einem Objektfoto veröffentlicht. Die daraus entstandene Ausstellung wurde im und mit dem Weltmuseum Wien im Oktober 2017 (neu) eröffnet und zeigte bis ­Februar 2019 die gesamte Sammlung dieser Objekt­ geschichten. 20 davon wurden von Tal Adler im Detail ­porträtiert: als Foto­porträts an ihrem 'üblichen Aufenthaltsort' (zu Hause auf der Ablage, in einer Schachtel unter dem Bett, in der Tasche, der Hand oder auf dem eigenen Kopf) und in Form von Videointerviews mit ihren Besitzer*innen. Video-, Ton- und Text­statements wurden darüber hinaus auch von anderen Personen eingeholt, die über die Gegenstände aus ihrer eigenen Perspektive sprachen. Dadurch sollte anschaulich gemacht werden, dass es zu ein- und demselben Gegenstand viele Erzählungen geben kann. Um dieses Prinzip fortzuführen, gab es während der Dauer der

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Ausstellung für Interessierte nicht nur die Möglichkeit, weitere Gegenstände zu bringen und deren Geschichte zu erzählen, sondern auch bereits vorhandene Gegenstände aus ihrer persönlichen Sichtweise zu kommentieren und mit ihrer eigenen Geschichte zu bereichern. Multiperspektivität Das Prinzip der Multiperspektivität war eines der zentralen Anliegen des Projekts. Einerseits öffnete sich das Weltmuseum Wien – wie auch in anderen Museen gängige Praxis – für Perspektiven von außen und ermöglichte die Zusammenarbeit mit externen Kurator*innen, die in Rücksprache mit dem wissenschaftlichen Personal des Museums das Projekt inhaltlich, konzeptionell, kommunikativ, ästhetisch und organisatorisch umsetzten. Um Vielstimmigkeit zu ermöglichen wurde darüber hinaus aber auch der Prozess der Objektauswahl punktuell im Rahmen sogenannter Editorial Boards für interessierte Objektbringer*innen zugänglich gemacht, die in die kuratorischen Diskussionen miteinbezogen wurden. Zentral war jedoch vor allem die Umsetzung des multi­ perspektivischen Ansatzes im Rahmen der Ausstellungsgestaltung, indem für die Ausstellung exemplarisch zu 20 Objekten die Sichtweisen weiterer Menschen eingeholt und aufgezeichnet wurden. Es handelte sich um Personen, die zu den ausgewählten Gegenständen eigene Beiträge und Sichtweisen einbringen konnten – sei dies aufgrund ihres beruflichen (z.B. wissenschaftlichen) Kontexts oder auch aufgrund persönlicher Erfahrungen. Auch über die Museumswebsite sowie Social Media konnten interessierte Menschen eigene Geschichten, Anekdoten oder Erfahrungen mit den jeweiligen Gegenständen mitteilen. Ein und dieselbe Tanzmaske erhielt so zum Beispiel plötzlich viele unterschiedliche Geschichten. Durch diese unterschiedlichen aber gleichwertigen Geschichten wurde die Vielschichtigkeit von Bedeutung aufgezeigt, die Dingen gegeben werden kann. Damit wurden auch jene musealen oder wissenschaftlichen Praxen kritisch reflektiert, die kuratorisch-wissenschaftliche Erzählungen hierarchisch jenen überordnen, die von ehemaligen Objektbesitzer*innen beigesteuert werden um ein Objekt zu beschreiben. Reflexionen Als weiterer Aspekt war es dem Projekt ein Anliegen, einen diskursiven Raum für Reflexionen zum Begriff 'Kultur' zu öffnen. In einem Museum gezeigte Gegenstände sollen oft etwas über eine 'eigene' oder 'fremde' Kultur aussagen. Museen haben in ihrer Geschichte dazu beigetragen, Festschreibungen entlang der Achse 'Wir' und 'die Anderen' vorzunehmen und zu ­verbreiten. Ausgeklammert wurden dabei die Vielschichtigkeiten von Menschen, Dingen und Geschichten. Heute ist ein solcher Kulturbegriff meist einem Verständnis von Kultur als ­sozialer Praxis gewichen, welche sich stets verändert und nie für alle gleichermaßen gilt. Einige der Geschichtenbringer*­ innen von Sharing Stories wurden daher im Rahmen der Interviews vom Projektteam eingeladen, die eigene Definition von 'Kultur' ­offenzulegen, wenn diese selbst vom Begriff 'Kultur' Gebrauch machten. 69

Darüber hinaus hat Sharing Stories versucht durch begleitende Formate wie das Kultur-Roulette einen geographisch und homogen gedachten Kulturbegriff zu befragen, der automatisch zur Differenz 'Wir' und 'die Anderen' führt. Das Kultur-Roulette wurde vom Projektteam als Veranstaltungsformat entwickelt, um eine breite und diverse Öffentlichkeit in eine kritische Debatte zum Gebrauch gegenwärtiger Kultur-Begriffe zu involvieren und die oft ausgrenzenden politischen Implikationen eines ­unreflektiert verwendeten Kulturbegriffs fassen und benennen zu können. Oft widersprüchliche, manchmal verstörende Medien- und ­Literaturzitate zum Kulturbegriff wurden geladenen Gästen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen nach dem ­Zufallsprinzip in die Hände gespielt und ihnen sowie dem anwesenden Publikum im Sinne eines experimentellen ­Herantastens an den Begriff 'Kultur' frei zur Diskussion gestellt. In der Brunnenpassage führte die Durchführung zu einer Einbeziehung von Vertreter*innen der Volkshochschule Ottakring und des Romano-Centro in das Projekt; insbesondere im Volks­ kundemuseum gelang eine starke Einbindung der BPoC Community im Kontext der Ausstellung 'SchwarzÖsterreich', die zeitgleich dort stattfand. Pop-Up Museum Die ersten Objekt-Gespräche sollten ursprünglich in einem reisenden Geschichten-Container an unterschiedlichen Orten stattfinden. Bald zeigte sich jedoch, dass eine Anbindung an einen bereits bestehenden Treffpunkt für viele Menschen nieder­ schwelliger war, weshalb in der Brunnenpassage im Kontext der

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Ausstellung Da.Sein1 ein räumlich abgetrennter Bereich für die Sammlung von Geschichten eingerichtet wurde und die Einladung zum Gespräch über die direkte Ansprache während der Veranstaltungen des Rahmenprogramms erfolgte. Nach dem Sammeln erster Erfahrungen in der Brunnenpassage als Pilotstation und der Erkenntnis, dass es für gute und tiefgehende Gespräche von Vorteil ist, innerhalb dieser bestehenden Orte einen eigenen für diese Begegnungen vorgesehen Rückzugsraum zu schaffen, wurde für die weiteren Stationen von Sharing Stories ein Pop-Up Museum gestaltet, welches als mobile Interviewstation zum Gespräch einlud. Die bewegliche Stellwand diente nicht nur als Rahmen für Interviews, sondern machte mit Textbeiträgen, die in einem intensiven Co-WritingProzess verfasst wurden, auch auf die Problem- und Fragestellungen von Sharing Stories aufmerksam. Sie widmeten sich folgenden Fragestellungen: Wo sind die Objekte in dieser Ausstellung? Was ist Kultur? Wer spricht? Das mobile Pop-Up Museum erlaubte es nicht nur dem Projekt Sharing Stories, sondern auch dem Weltmuseum Wien während seiner (durch Umbauarbeiten bedingten) Schließzeit an unterschiedlichen Orten in der Stadt präsent zu sein und damit möglichst diverse Zielgruppen zu erreichen. Ausstellungsdesign & Display Als Resultat der mehrjährigen Recherche- und Projektphase entstand eine Ausstellung, die zeitgleich mit dem Weltmuseum Wien (neu)eröffnet wurde und über knapp 1,5 Jahre zu sehen war. Es handelte sich um eine Ausstellung ohne Objekte ­(diese waren ausschließlich fotografisch abgebildet) – was für ein ­Museum als Ort gegenständlicher Repräsentation und materieller Kultur eine außergewöhnliche Ausstellungspraxis war. Für das Kurator*innen-Team jedoch war dies in Anbetracht der kolonialen An- und Enteignungsgeschichten anthropologischer Museen und Sammlungen ein konsequenter Schritt. So wie es Grundsatz war, dass während des gesamten Geschichtensammlungsprozesses die mitgebrachten Objekte im Besitz der Geschichtenerzähler*innen blieben, war es auch der Anspruch für die Ausstellung eine Form zu finden, die es ermöglichte, dass die teilnehmenden Menschen ihre für sie bedeutsamen Objekte behalten konnten, ein Abbild dieser aber dennoch in Form künstlerischer Fotografien im Museum präsent war. Anstelle klassischer, textbasierter Beschriftungen handelte es sich bei den sogenannten Ausstellungsdisplays um interaktive Stationen, die nicht auf die allwissende, anonyme Autorität der Institution Museum verwiesen, sondern vielmehr Raum für vielschichtige, persönliche Geschichten ließen. Per Touchscreen anwählbare Videostatements der Objektbesitzer*innen aber auch Text-, Ton- und Videobeiträge von anderen Personen zu den jeweils selben Gegenständen legten dar, dass sich die Vielfalt von Geschichte und Gegenwart auch über den persönlichen Zugang erschließen lässt. 1 Die Ausstellung Da.Sein in der Brunnenpassage und der Künstler Klaus Kerstinger widmeten sich  der Mobilität von Menschen. Kuratorin: Ivana Pilić, Fotograf: René Huemer

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DIALOGGRUPPENARBEIT Der Bleistift ist ein Symbol für Bildung, Wissen, Macht und Widerstand. Mein Stift ist mein Widerstand. Mein Widerstand ist Rap.

Esra Özmen

Ich habe diesen Ring vor über 20 Jahren von meiner Mutter in Jerusalem geschenkt bekommen. Ich trage ihn täglich, er ist wie ein Teil meiner selbst.

Julia Mashkovich

Ich habe drei Heimaten, kann man so sagen. Wo ich geboren bin – das ist Georgien. Die zweite Heimat ist Israel, wo ich Kraft und Rückendeckung habe […]. Und die dritte Heimat, wo ich mein Brot verdiene und wo meine Kinder lernen, das ist Österreich. Und das kann mir keiner wegnehmen. Yaprak Tsatsashvily

Der Pass ist ein Schlüssel, der dir ermöglicht, frei zu reisen. Jasmin Winterhalder

Das Bild erinnert mich an meine Wurzeln. Wer seine Wurzeln kennt, kann besser im Leben stehen.

Mercy Dorcas Otieno

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Die Rolle der Brunnenpassage als Co-Kuratorin Im Folgenden wird genauer auf die Rolle und die Beiträge der Brunnenpassage eingegangen, für die Elisabeth Bernroitner als Teil eines kuratorischen Teams gemeinsam mit Tal Adler, ­Bianca Figl und Karin Schneider als Co-Kuratorin agierte. Jede*r ­dieser Kurator*innen gestaltete das Projekt und die Ausstellung in ­tragender Weise mit. Nachfolgend wird im ­Rahmen dieser ­Publikation der Fokus vor allem auf die Arbeit der Brunnen­ passage gelegt. Die Brunnenpassage war seit Anbeginn von  Sharing Stories. Dinge sprechen.  Kooperationspartnerin des Weltmuseums Wien. Im Rahmen dieser ersten institutionellen Zusammenarbeit war die Brunnenpassage Pilotstandort für die Sammlung von ­Geschichten und Objekten. Seit Ende 2014 stark in die Projektkonzeption sowie die Phase der Materialsammlung involviert wurde vor allem für die Einbringung von Diversitätsaspekten auf allen Projektebenen Sorge getragen. Die Durchführung als Geschichten-Sammelstation verlief außerordentlich erfolgreich, was vor allem der langjährigen Verankerung der Brunnen­ passage in der Nachbarschaft und der tiefgehenden Erfahrung mit ­Erzählarbeit zu verdanken ist und sich positiv auf die Akquise und den Erstkontakt mit den Projektteilnehmenden auswirkte. Als Projektpartnerin des Weltmuseums stellte die Brunnen­ passage vor allem ihre Expertise und ihr großes Netzwerk hinsichtlich transkultureller Zielgruppenarbeit zur Verfügung und war während der gesamten Projektphase 2015-2017 auch kuratorisch für die Ausarbeitung und Gestaltung der Ausstellung mitverantwortlich. Starker Fokus der Zusammenarbeit war seitens der Brunnenpassage die direkte niederschwellige Zusammenarbeit mit den beteiligten Menschen und Objektbesitzer*innen. Um wertschätzende Gespräche sowie einen respektvollen Umgang mit persönlichen Geschichten zu ermöglichen, war es der Brunnenpassage sowie dem gesamten kuratorischen Team wichtig neue Praxen des Erzählens zu erproben. Großes Anliegen der Brunnenpassage war es, dass auch die Geschichten jener Menschen Gehör finden, die ansonsten wenig Repräsentation in öffentlichen Institutionen erfahren. Die Brunnenpassage agierte hierbei, aber auch in Schlüsselmomenten wie der persönlichen Ansprache und Einladung von Projektteilnehmer*innen unterschiedlichster Hintergründe, dem Forcieren von freiem Eintritt zur Ausstellung für alle Geschichtenbringer*innen sowie der Projektverankerung in unterschiedlichen Communities und Mobilisierung für Vernissage und Abschlussveranstaltungen als Gatekeeperin und Initiatorin eines Brückenschlags zwischen großen Kulturinstitutionen, wie dem Weltmuseum Wien, und der Bevölkerung. Wenngleich in einem Projekt wie Sharing Stories jeder einzelne Schritt darauf hin befragt wird, inwieweit er Ver-Lernprozesse in Bezug auf althergebrachte museale Praxen und Selbstverständlichkeiten anstoßen kann, sind die Ansprüche an Denk- und Arbeitsweisen beim Übersetzungsprozess in einen historisch markierten Ausstellungsraum – wie das Weltmuseum Wien – ­herausfordernd. Die Ausstellung Sharing Stories bettete sich als Zäsur in den Kontext des Museums als Ort der Widersprüche

ein und setzte sich kritisch mit der Geschichte des Museums auseinander. Damit wurde Sharing Stories jedoch auch ein Teil dieser Museumspraxis.

FINANZIERUNG

Das Projekt Sharing Stories wurde vor allem vom Weltmuseum Wien im Rahmen gesonderter budgetärer Mittel als Vorbereitung auf und als Teil der Wiedereröffnung des Hauses finanziert. Dies bedeutete vor allem die Finanzierung der externen Kurator*innen-Gagen (darunter auch eine Mitarbeiterin der Brunnen­passage) sowie der Kosten der Ausstellungsumsetzung. Für die Brunnenpassage war die über die Projektteilnahme als Pilotstation hinausgehende Beteiligung als Projektpartnerin und Co-Kuratorin wichtige Grundlage und Bedingung der gleichberechtigten Zusammenarbeit.

POSTPRODUKTION

Für den Kontext der Ausstellung wurde ein Katalog mit der Sammlung aller Objekte und Geschichten erstellt, welcher im Anschluss um reflexive Texte der Kurator*innen ergänzt publiziert wurde. Die vollständige Objekt- und Geschichtensammlung ist als digitales Archiv darüber hinaus auf der Website des Weltmuseum Wien zu finden2. Sharing Stories. Dinge Sprechen. wurde vom Weltmuseum Wien und der Brunnenpassage u.a. 2017 gemeinsam auf der internationalen Tagung 'The Subjective Museum - Wie sich partizipative Strategien auf das Museum auswirken' im Historischen Museum Frankfurt präsentiert. Ein konkretes Ergebnis des Projekts ist die nachhaltige Zusammen­arbeit zwischen der Brunnenpassage und den Weltmuseum Wien im Rahmen einer auf drei Jahre angelegten ­strategischen Partnerschaft.

GESCHICHTENBRINGER*INNEN3

Ali Ahmadi, Alexander, Hussam Alsawah, Mercede Ameri, Amir, Anna, Maria Artacker, Claudia Augustat, Hannes Bauer, ­Beatríz, Ben, Annike Bertha & Aline Bertha, Reinhard Blumauer, ­Matthias Brandauer, Alexandra Bröckl, Julia Bruch, Buki, Dylan ­Butler, ­Deniz Cantutan, Ceren, Chloe, Cornelia Chmel, Christina, ­Daniel, ­Marie Dann, Alireza Daryanavard, Denis, ­Denise, ­Friedemann ­Derschmidt, Bernhard Derschmidt, Nino El DiLauro, Dimitrus, Horst Donal, Dora, Daniela Drüding, ­Editha, Elfriede, Melodi Elmas, Steven Engelsman, Nikolaus Epp, Eva, ­Fatousa, ­Farrokh Fattahi, Flora, Li Gerhalter, Baduc Gibaja, Robin ­Gleeson, ­Gefion  Gufler, Aylin Gunsam, Marion Haberl, Jonas Hadler, ­Malang Hakimi, Ekaterina Heider, Helmut, Ursula ­Hofbauer, ­Markus Holler, Katharina Hüttler, Donner Inge, ­Ingrid, Julian, Herbert Justnik, Marlene K., Bernd Kajtna, Hermann Kantner (Antiquariat ­Kantner), Karin, Katharina, Helga Kauer, Eva Kern, Kwang-Chul Kim, Clara Koch, Arkadiusz Kolodziej, Karl ­Koschek, Bettina ­Kovács, Birge Krondorfer, Ludwig 2 https://www.weltmuseumwien.at/wissenschaft-forschung/sharingstories/ #dinge-geschichten 3 Anmerkung: Die Geschichtenbringer*innen entschieden selbst, ob und wie sie namentlich angeführt sind.

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Kyral, ­Marlene Leichtfried, Lilo, Yasin M., Gertrude M., Gerda Madl, ­Noriko ­Mafune-Bachinger, Mela Maresch, Martin, Julia ­Mashkovich, David Mathews, Meli, Florine Michaud, Mihael, Miko, Mashid Moattar, Murat, Nicole, Nikola, Dominik Nikolic, Nina, Mag. E. Ortner, Mercy Dorcas Otieno, Esra Özmen, David P., Andrea Pammer, Iris Peschorn, Regina Picker, Christine Pillhofer, Barbara ­Pönighaus-Matuella, Friedl Preisl (Akkordeonfestival Wien), Martin Ptacnik, Andrey ­Pyshkin, Eugene Quin, Robby R., Roxy Rahel, Raoul Schmidt & Paolo ­Caneppele, Katharina Richter-Kovarik, Klaus Rink, Salomé ­Ritterband, Roni, Nathalie Rouanet, Johann Rumpf, Sarah B., Sarah F., Saskia, Marlene Scherf, ­Christian Schicklgruber, Bert Schifferdecker, Irene Schwarz, Uschi & Gus Seemann (eumigMuseum), Hakan Serdar, Hassan Shukria, Mario Sinnhofer, Slavica, Georg Spitaler, Andreas Spornberger, ­Gabrielle Chihan Stanley, Vasilia Stegic Sestan, Annemarie Steidl, SvenjArt, Teisha, Torsten, Yaprak Tsatsashvily, Cunyet Ucuncu, Wolfgang Alfred Unger, ­Alexander Urosevic, Abdula Ustrukhanov, Vaclav, Belén Vera, Veljko Vićentijević, ­Elisabetta Violante, Anna Voggeneder, Jennifer Vogtmann, ­Lauren Wagner, Yosi Wanunu, Michael Weichhardt, Zoe Sakura Minou Weingärtner, Jakub Weryk, Jasmin Winterhalder, Benjamin Wolfsbauer, Regina Wonisch, Stefanie Wuschitz, Kerem Yilmazer, Günther Zaviska, Julia Zeindl, Bettina Zorn, u. a.

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BETEILIGTE

Kuratorisches Team: Tal Adler, Elisabeth Bernroitner, Bianca Figl, Karin Schneider  Kuratorische Beratung: Claudia Augustat, Jani Kuhnt-Saptodewo  Inhaltliche Projektmitarbeit: Jeannette Mayer-Severyns, Ivana Pilić Künstlerisches Konzept: Tal Adler Sharing Stories. Dinge Sprechen  war ein Projekt des Welt­ museums Wien in Zusammenarbeit mit der Brunnenpassage und weiteren Partner*innen: ImPulsTanz, Spacelab, TEDx ­Vienna, Volks­kundemuseum, Caritas Haus Franz Borgia und ZOOM ­K indermuseum. 

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Zuzana Ernst

JUMP!STAR Simmering Virtuelles Kunstprojekt

JUMP!STAR Simmering Dokumentation Code scannen Video ansehen

2019 – 2021 JUMP!STAR Simmering war ein prozessorientiertes, ko-­kreatives Kunstprojekt, welches in enger Zusammenarbeit mit der USKünstlerin George Ferrandi entstand – lokal verankert und international zugleich. In Kollaboration mit einem transdisziplinären Künstler*innen-Team und dem Weltmuseum Wien sollte das Projekt ursprünglich im Wiener Außenbezirk Simmering kulminieren, ist aber aufgrund der sozialen Isolation während der Covid19 Pandemie online gegangen und hat dadurch eine weltweite ­Dimension angenommen. Mit 21 Days Listening Out Loud & Dreaming Wildly hostete das JUMP!STAR-Team von 13. April bis zum 3. Mai 2020 einen offenen digitalen Raum, in dem sich täglich Menschen aus Simmering/ Wien und verschiedenen Teilen der Welt über Gespräch, Tanz und Gesang miteinander verbinden konnten und ein langes DoppelUnendlichkeits-Seil flochten. Die individuellen Seilstücke der Teilnehmer*innen, die sie während des Lockdowns jeweils Zuhause

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geflochten haben, wurden dann im Sommer 2020 per Post an die Brunnenpassage gesendet. Das daraus zusammengesetzte gesamte Seil ist Symbol und verbindendes Dokument dieser außer­ gewöhnlichen Zeit. Nach der Quarantänezeit wurde im Herbst 2020 in Wien ein Seil-Fest in Simmering gefeiert, in dem alle Seilstücke zusammengeknüpft wurden. Das finale Objekt ist über 120m lang. Das Objekt wird im Weltmuseum Wien zusammen mit einer umfangreichen Dokumentation der JUMP!STAR-Produktion wie Soundelementen, Recherche-Arbeiten zu Pandemien und Fotografien sowie Zitaten der Mitwirkenden als Sonderausstellung neben der Prunktreppe in der Säulenhalle des Weltmuseum Wien ausgestellt.

IDEE UND KONZEPT

Ausgangspunkt des Projektes war die bisher kaum bekannte Tatsache, dass die Erde in 1000 Jahren einen neuen Nordstern haben wird1. Inspiriert von diesem Phänomen startete George Ferrandi 2017 die Initiative JUMP!STAR in New York und Kansas, USA, und brachte Communities, Künstler*innen und Wissen1 Beim Bau der Pyramiden thronte über uns nicht Polaris sondern ein anderer Nordstern. Ein durch Schwerkraft hervorgerufenes Taumeln in der Erdrotation (axiale Präzession) führt dazu, dass sich die Rotationsachse des Planeten über Jahrtausende hinweg von Polaris abwendet und auf einen neuen Nordstern ausrichtet. Errai alias Gamma Cephei wird in etwa 1000 Jahren den Polarstern als Erdnordstern ablösen.

Ich denke, dass Europa viel von seinem ursprünglichen Bezug zur Entstehung verloren hat. Ich denke, dass sie in einigen Teilen immer noch gefunden werden kann. Ich denke, dass kulturelle Aneignung eine sehr greifbare Sache ist. Es gibt eine Menge Touristen, die während der Sundance-Zeit hierherkommen, und das ist großartig. Ich meine, holt euch eure Verbindungen, aber begreift, dass das eine andere Form der Ausbeutung ist, dass ihr nur hierherkommt und euch nehmt, was ihr braucht, um wieder nach Hause zu gehen. Wenn ich jemanden sehe, sage ich ihm ganz direkt, was gibst du uns zurück? Warum bist du hier? Bist du wegen dir hier? Bist du wegen der Gemeinschaft hier?

Gitz Crazyboy, Kanada, 1. Mai 2020

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Ich flechte mit Papierstreifen, die ich auf einer Reise nach Japan bekommen habe. 2015 machte ich mit meiner Mutter eine Tour, um die Shibori-Techniken kennen zu lernen. Als wir eines der Studios, das wir besichtigten, verließen, bekamen wir diese Papierstreifen, die beim Nähen, Klemmen und Färben von Stoffstücken verwendet wurden, und ich hatte sie die ganze Zeit dabei. Das Double-Infinity-Seil scheint die perfekte Art zu sein, sie zu verarbeiten. Es ist wirklich schön, die Gelegenheit zu haben, mit diesen Stoffen, die eine so reiche Geschichte haben, etwas zu machen - ich freue mich, zu dem Projekt beizutragen.

Leah, USA, 21. April 2020

schaftler*innen zusammen, um sich gemeinsam die Frage zu stellen, wie zukünftige Generationen den Wandel unseres Nordsterns feiern könnten mit einem Gefühl der Verbundenheit, das Spaltungen überwinden kann. Das Projekt ist benannt nach der Astronomin Annie Jump Cannon, der gehörlosen amerikanischen Wissenschaftlerin, die das zeitgenössische Sternklassfikationssystem begründete. In our cultural imagination, the North Star plays the role of the singular thing that we can count on to always be in the same place […]. It’s been our literal and figurative guiding light for centuries, leading ships to ­shore, leading enslaved people to freedom along the Underground Railroad. How profoundly poetic to discover that, like everything in our bodies, our lives, our worlds, even the North Star changes. George Ferrandi zum Projekt, Interview im BOOM Magazin, Mai 2020, NYC

Die Brunnenpassage lud George Ferrandi ein, um als künstlerische Leiterin gemeinsam mit einem Team von lokalen Künstler*­ innen eine Iteration für Wien zu entwickeln. Diese war Teil der JUMP!STAR Reihe von sozial engagierten Kunstprojekten, die sich mit Visionen und Verantwortungen für eine bessere Zukunft auseinandersetzen. Um unser Verhältnis zur Zeit neu zu kalibrieren, ­schaffte­ JUMP!STAR Simmering mit 21 Days Listening Out Loud & ­Dreaming Wildly einen gemeinsamen Resonanzraum, in dem das Künstler*innen-Team und die Teilnehmer*innen aus Simmering

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als auch aus den verschiedensten Teilen der Welt, diesen historischen Moment im Jahr 2020 kollektiv aufarbeiten konnten – entgegen der gesellschaftlichen Beschleunigung und Kurzsichtigkeit sowie Isolation und Einsamkeit, hin zu einer Verantwortung für einander und die nachfolgenden Generationen. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Pandemie, des strukturellen Rassismus und der sukzessiven Zerstörung des Planeten widmeten sich die ­Projekt-Akteur*innen verbindenden und gemeinschafts­orientierten ­Strategien. Nicht zuletzt ginge es um die Frage, wie sich unsere Handlungen und Entscheidungen im Jetzt auf die physische und soziale Welt in naher und ferner Zukunft auswirken werden.

UMSETZUNG Ursprünglich war JUMP!STAR Simmering als ein viermonatiger Katalysator für einen der flächenmäßig größten Bezirke Wiens konzipiert. Zuerst wurde seitens der Brunnenpassage ein ­diverses Kernteam, spezialisiert in partizipativer und sozial engagierter Kunst, zusammengestellt, das aus der Choreografin und Tänzerin Karin Cheng, den dialogischen Künstler*innen und Performer*innen Teresa Distelberger und Mario Sinnhofer aka Touched, dem Sänger und Musiker Futurelove Sibanda, der Autorin und Politikwissenschaftlerin Anna Gaberscik und der

Unser Projekt kam zu einem Zeitpunkt, als die ­ge­samte Welt mit dem gleichen P ­ roblem konfrontiert wurde. Es spielte keine Rolle, ob man reich oder arm war. Oder ein Lehrer, oder eine Ärztin, oder irgendjemand... Wir hatten alle dieselbe ­Resonanz gegenüber dem, was vor sich ging.

Futurelove, Österreich, 3. Juli 2020

Wir müssen in der Lage sein, uns unsere Hoffnung vorzustellen, wie die Dinge in Zukunft sein werden, damit wir jetzt mit der Gestaltung dieser Zukunft beginnen können. Es wird zu unserem Recht und unserer Verantwortung, damit zu beginnen, uns die Zukunft vorzustellen, die wir uns erhoffen.

George, USA, 16. April 2020

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Als ich mitmachte und anderen Leuten zuhörte, die darüber sprachen, warum sie ihren speziellen Stoff gewählt haben, schämte ich mich irgendwie dafür, dass ich so geizig war. Das ist ein Aspekt, der mir bewußt wurde, dieses Ringen mit Großzügigkeit, Geben und Überfluss und auch der Wunsch, nichts auszugeben und zu konservieren, an den Dingen festzuhalten und zu sparen. Diese Gefühle wirken dual und gegensätzlich. Das ist für mich eine Art neues Bewusstsein, das durch die Teilnahme an diesem Projekt entstanden ist. Während ich versuche zu ergründen, wie ich diese beiden Aspekte in Einklang bringen kann, denke ich, dass ich etwas Neues lerne, aber ich bin mir noch nicht ganz sicher, was es ist.

Diane, Kanada, 22. April 2020

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Anthropologin und Kulturvermittlerin des Weltmuseums Wien Bianca Figl bestand. Der ko-kreative Prozess startete im Februar 2020 mit einem intensiven dreitägigen KickOff Workshop, der von Komala Amorim, Expertin für gemeinschaftliche Heilungsprozesse, Ritualentwicklung und transformative Arbeit geleitet wurde. Der Workshop war als Training und Teambuilding für das Kernteam und einen erweiterten Kreis von Schlüsselpersonen aus Organisationen und Gruppen in Simmering konzipiert. Ziel war es, eine gemeinsame Basis und inhaltliche Schärfung für die Zusammenarbeit zu entwickeln. Resultierend aus dem Workshop und zahlreichen Konzeptentwicklungstreffen mit dem gesamten Kernteam wurde ein Score (Grundschema) für die ko-kreative Zusammenarbeit entwickelt, an der sich jede*r Künstler*in bei der Konzipierung des partizipativen Prozesses mit den Gruppen in Simmering orientieren konnte, während innerhalb der gegebenen Struktur Raum für künstlerische Freiheit gegeben war.

URSPRÜNGLICHES KONZEPT Angeleitet durch das gemeinsame Narrativ und die Frage­ stellungen begab sich das Kernteam mit lokalen Gruppen und Bewohner*innen in Simmering in einem ko-kreativen Prozess, um neue Riten und Traditionen für die ferne Zukunft zu erfinden. Die entwickelten Workshops und Veranstaltungen mit den

Simmeringer Gruppen waren für die Monate Februar bis Anfang Mai 2020 geplant und hatten die Entwicklung von Tanz-­ Choreografien, Klatschspielen, Liedern und Erzählungen zum Ziel, welche abschließend Teil von großen öffentlichen Ereignissen werden sollten, als Skizzen neu-erfundener Traditionen, welche an die nächsten Generationen weitergegeben werden können. In Kooperation mit unterschiedlichen lokalen Gruppen und mit den thematischen Schwerpunkten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wurde auf drei kulminierende Veranstaltungen hin­gearbeitet. Übersicht der lokalen Partner*innen Musikschule Simmering (Big Band, Vocal Jazz Ensemble, World Music-Klasse, Computermusik-Klasse, Projektwoche in der Musik­schule mit Schüler*innen der Gottschalkgasse), Queerdance im Gemeindebau, Ghana Minstrel Choir, Koyo Taylor, G11 – Bundesrealgymnasium Geringergasse (Musikklasse, Theaterklasse), welTraum, Radical Fearies, Studio Chor, BZ Gleich­ stellungshaus, Pensionist*innen Clubs in Simmering Als verbindendes Element aller drei Veranstaltungen wurde ein großes doppeltes Unendlichkeitssymbol entwickelt, welches in Workshop-Reihen mit lokalen Gruppen und in künstlerischen Formaten (Performances verbunden mit Workshops und ­Diskurs) im öffentlichen Raum in Simmering entstehen sollte, um die Bewohner*innen von Simmering miteinzubinden, deren In-

Ich liebe diese Art der Interaktion, weil ich verschiedene Menschen, verschiedene Gesichter anschauen kann. Ich kann Sie anstarren. Ich kann mich wirklich konzentrieren und die Einzigartigkeit und die Schönheit jeder Person hier wirklich spüren. Wir sind wahrlich so schön.

Diane, Kanada, 1. Mai 2020

Technologie ist ein Mittel, das sich verändert und Veränderungen bewirken wird. Wir verlassen uns auch immer mehr auf unsere inneren Fähigkeiten. Und dies wird definitiv notwendig sein, auch zu verstehen, was es bedeutet, mit der größeren Realität in Harmonie zu sein. Eine globale, kollektive Staatsbürgerschaft, die auch schon jetzt existiert.

Angelo, Philippinen, 2. Mai 2020

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Jump!Star Intro-Video Code scannen Video ansehen

Jeden Tag, jeden Monat kommt eine neue Inspiration. Wenn neue Dinge in deinem Leben geschehen, entstehen von irgendwoher auch neue Lösungen.

Maria, Österreich, 22. April 2020

put und somit eine Vielzahl an Stimmen in den Prozess ein­fließen zu lassen. Das Seil auf dem Boden aufgelegt, sollte die partizipative Bühne bilden. Innerhalb dieser DoppelunendlichkeitsMarkierung wurden Performances, Auftritte und experimentelle partizipative Formate als Teil des Gesamtkunstwerks konzipiert. Adaptierung/Transformation aufgrund sozialer Isolation: 21 Tage Lautes Zuhören & Wildes Träumen Als der erste Erlass der Regierung zum Veranstaltungsverbot Anfang März 2020 in Kraft trat beschloss das Kernteam von JUMP!STAR, dass es wichtiger denn je war, mit dem Projekt auch in diesen herausfordernden Zeiten weiterzumachen. Innerhalb weniger Tage wurde eine Adaptierung kollektiv im Team ent­wickelt und ein Social Media Experte als Berater für diese herausfordernde Transformation hinzugezogen. Zur Einführung in das Projekt und Kommunikation wurde ein kurzes Animationsvideo entwickelt.

REALISIERUNG

Ich denke, dass uns diese sehr seltsame Situation auf eine Weise miteinander in Verbindung bringt, wie wir es noch nie zuvor erlebt haben. Wir sitzen hier alle vor unseren Computern, und wir flechten einfach nur und wissen nicht, was im Leben passieren wird. Aber wir kommen uns näher, durch unsere kollektive, ich schätze…Seltsamkeit. Anna, Österreich, 15. April 2020

Jeden Tag von 13. April bis 3. Mai 2020 und immer zwischen 17:00 und 18:20 wurde ein frei zugänglicher virtueller Begegnungsraum geöffnet, in dem sich Menschen aus aller Welt einfinden konnten, um 80 Minuten miteinander zu verbringen. Die Entscheidung für dieses tägliche Format über den Zeitraum von 21 Tagen basierte auf der Idee, dass es bekanntlich 21 Tage erfordert, um eine neue Gewohnheit zu etablieren. Die Regelmäßigkeit und klare Grundstruktur, welche kollektiv im Kernteam entwickelt wurde, als auch die Offenheit nur punktuell oder für kurze Teile der Sessions dazu zu stoßen, ermöglichte es den Teilnehmer*innen, dass sie individuell entscheiden konnten in welcher Intensität sie an dem Prozess teilhaben wollten bzw. konnten. Virtueller Resonanzraum Unter besonderer Anleitung der Künstler*innen wurden jeden Tag alle Teilnehmer*innen eingeladen, an Gesprächen teilzuhaben und einander laut zuzuhören. Nachdem sie an Segmenten eines langen Seils flochten und anschließend beim gemein­ samen sprangen und sangen, träumten sie wild und formulierten Wünsche für die Zukunft. Ablauf

Auch wenn ich traurig bin, versuche ich meine Traurigkeit zu genießen. Auch das ist ein schönes Gefühl. Ich nutze es, um glücklich zu sein. Es ist genug mit Traurigkeit und genug mit Krieg.

Mohamad, Österreich, 18. April 2020

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17-18 Uhr Double-Infinity Seilkränzchen Jeden Tag ab 17.00 Uhr MEZ / 11.00 Uhr EST begrüßten abwechselnd Teresa Distelberger, Mario Sinnhofer aka Touched und George Ferrandi die Teilnehmer*innen im digitalen Raum und luden ein, alte Kleidungs- und Stoffreste in Streifen zu schneiden und zu einem langen Seil zu flechten. Während des Flechtens leiteten sie zum gemeinsamen Atmen und Austausch ein. Jeder Tag war einem anderen Thema gewidmet, jedoch immer in Bezug zu dieser außergewöhnlichen Zeit. Ziel war es diesen herausfordernden Moment gemeinsam zu verarbeiten und anzufangen, darüber nachzudenken, wie er unsere Hoffnungen für die Zukunft prägt. Ab der zweiten Woche wurden gezielt spezielle Gäste zum Gespräch eingeladen. Neben internationalen Gästen aus Mexico, Canada, den Philippinen und Tanzania wurde ein besonderer Schwerpunkt auf Künstler*innen und Aktivist*innen aus Simmering gelegt, um trotz der ­digitalen

weltweiten Verbindung, weiterhin die Wurzeln in Simmering zu schlagen und die begonnene Beziehungsarbeit fortzusetzen. Durch Gespräche über Herausforderungen, Chancen, Wirkungsfelder und Träume konnte ein wertvoller Einblick in das aktuelle Leben der Menschen im Bezirk erhalten werden. Die Gedanken und Emotionen wurden symbolisch in die Seilsegmente eingeflochten. Diese wurden nach Abschluss der 21 Tage eingesammelt per Post an die Brunnenpassage geschickt und zu einem riesigen verbindenden Seil zusammen­geflochten. 18-18:10 Uhr JUMP! Im Anschluss an das Flechten leitete jeden Tag Karin Cheng die JUMP! Session an, mit einer simple Spring-Choreografie immer zum selben Song der JUMP!STAR Komponistin Mirah. Das zweite Lied wurde von den Teilnehmer*innen vorgeschlagen und Raum zum freien Tanzen, Experimentieren und Interagieren auf der digitalen Tanzfläche. JUMP! war ein wichtiger Moment, um sich über Bewegung zu verbinden, und so den Körper wie den Beitrag jedes*jeder einzelnen zu spüren. Zusätzlich wurden die Akteur*innen eingeladen, ihre eigenen persönlichen oder globalen Wünsche und Ziele zu teilen und für diese zu springen.

1000 Jahre, 10x100 Jahre ist eine unglaublich lange Zeit. Die Entwicklung wird immer schneller, aber jetzt gerade ist die Menschheit draufgekommen, dass es nicht so weiter geht, immer höher, weiter, immer mehr zu machen. Ich glaube, dass in 1000 Jahren der Geist oder die geistige Seite mehr in den Vordergrund rücken wird, als die technische. Ich stelle mir in 1000 Jahren eine geistige Welt vor.

Hanka, Österreich, 2. Mai 2020

18:10-18:20 Uhr Into the Future / Are you ready? Der Musiker Futurelove Sibanda komponierte die JUMP!STAR Simmering Hymne Are You Ready? und sang 21 Tage lang dasselbe Lied, als Sing Along und Ritual, um die neue Welt willkommen zu heißen und dankbar sowie verbunden mit der Vergangenheit und Gegenwart zu sein. Ab Tag 11 lud er die Teilnehmer*innen ein, das Lied in der eigenen Sprache aufzunehmen und ihm zurückzuschicken, um es einzu­studieren. In der abschließenden Session performte Futurelove das Lied in 15 verschiedenen

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Sprachen, unter anderem auf Rumänisch, Tagalog, Bulgarisch, Ndebele, Indonesisch und Swahili. Jump!Star Degrees of Seperation Code scannen Booklet ansehen

Ich unterrichte nicht mehr unbedingt Skulptur. In all den Kursen, die ich habe, bringen wir uns gegenseitig bei, wie man inmitten von all dem was gerade passiert, Schönheit findet.

Carole, USA, 14. April 2020

Was mich ärgert, ist, dass ich mich privilegiert fühle. Ich bin ein privilegierter Mensch und lebe in einer Blase. Ich habe das Gefühl, dass ich in einem Paralleluniversum lebe. Der ganze Planet ist krank. Aber wir schauen auf unsere kleine Welt und versuchen, sie in Ordnung zu bringen und vorwärts zu kommen, aber wir ziehen nicht die Lehren, die wir jetzt ziehen sollten.

Fred, Luxemburg, 19. April 2020

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Zusätzlich zu den täglichen Live-Sessions gab es außerdem zwei weitere Teilhabemöglichkeiten. Einerseits die vierteilige Artikelserie Degrees of Separation von Anna Gaberscik, die die sozialen und politischen Implikationen der sozialen Distan­ zierung im Laufe der Geschichte untersucht und während der 21 Tage veröffentlicht wurde. Am Ende jedes Beitrags wurden die Leser*innen eingeladen auf gezielte Fragen künstlerisch zu reagieren. Anderseits rief Bianca Figl mit Sounds of Now zum Sammeln von Klängen und Geräuschen auf, die markant für die außer­gewöhnliche Zeit des Lockdowns sind. Die eingeschickten Sounds wurden Teil des JUMP!STAR Archivs und zu einem Klangteppich zusammen­gewoben, welcher im Rahmen des abschließenden Festes ­präsentiert wurde. Dieses Material, samt des kollektiv entstandenen Double-­InfinitySeils und der Videodokumentation der virtuellen ­Sessions ­werden ab Dezember 2020 als Dokument dieser schwierigen Momente der Gegenwart im Weltmuseum Wien ausgestellt und ins Archiv des ethnographischen Museums aufgenommen.

PARTNERSCHAFTEN

Die Zusammenarbeit der Brunnenpassage mit dem Welt­museum Wien basiert auf einer langjährigen Partnerschaft. Ziel der ­strategischen Partnerschaften ist es, wechselseitige Brücken zwischen den großen Kunstinstitutionen der Wiener Innenstadt und der Wiener Bevölkerung in ihrer Pluralität zu schlagen und den Wissenstransfer zwischen den Institutionen zu vertiefen. Die langjährige Expertise der Brunnenpassage in dezentraler Kunstproduktion garantiert die aktive Beteiligung großer Teile der Wohnbevölkerung des 11. Bezirks. Alle Aktivitäten wurden unter künstlerischer Leitung von George Ferrandi von professionellen Künstler*innen durchgeführt, die auf sozial engagierte Kunstprozesse spezialisiert sind. Das Weltmuseum Wien wurde durch die Kuratorin und Kulturvermittlerin Bianca Figl repräsentiert. Ursprünglich waren fünf weitere Mitarbeiter*innen der Kultur­vermittlung des Weltmuseum Wien in JUMP!STAR involviert. Das Ziel war eine spezielle JUMP!STAR Führung zu entwickeln, die an den aktuellen Restitutionsdiskurs anknüpft und so nach­haltig nach Projektabschluss im Museum angeboten werden kann. Dies konnte aufgrund der Covid19 Pandemie und der damit verbundenen reduzierten Personalressourcen seitens des Museums nicht umgesetzt werden.

DIALOGGRUPPENARBEIT

Basierend auf der langjährigen Praxis der Brunnenpassage am Brunnenmarkt wurden die Methoden und Expertise an einem neuen Ort angewandt. Das Projekt verfolgte einen altersübergreifenden Ansatz und zielte darauf ab, mit möglichst vielen lokalen Initiativen, Schulen und Vereinen zusammenzuarbeiten und über die Vernetzung eine Grundlage für Folgeprojekte zu schaffen. Es konnten Kooperationen mit Simmeringer Schulen, Kulturinitiativen und sozialen Einrichtungen initiiert werden. Die lokalen Gruppen wurden mit Künstler*innen aus dem Kernteam gepaart und gezielte Workshopreihen konzipiert. Nach den ersten Vorbereitungstreffen trat allerdings die soziale Isolation ein

und verhinderte alle geplanten physischen Aktionen vor Ort. Die Transformation des Projektes in den digitalen Raum ­stellte eine große Hürde für die Beziehungsarbeit und Einbindung aller involvierten Teilnehmer*innen dar. Aufgrund technischer Barrieren als auch der Pandemie geschuldeten persönlichen Herausforderungen konnten nur wenige der Akteur*innen involviert werden. Während das digitale Format eine weltweite Reichweite ermöglichte, bemühte sich das Projektteam stetig um die Einbindung von Akteur*innen aus dem Bezirk. Es wurde ein Aufruf für Künstler*innen aus Simmering gestartet, welche als Special Guests im Rahmen der 21 Tage Lautes Zuhören & Wildes Träumen auftraten und Einblicke in ihre aktuelle Lebensrealität gaben. Diese zogen wiederum neue Teilnehmer*innen aus ihrem Umfeld an. Trotz der erfolgreichen digitalen Adaptierung des Projektes in dieser außergewöhnlichen Zeit der Isolierung, war es unabdingbarer Bestandteil des Konzeptes ein physisches Event vor Ort umzusetzen, sobald öffentliche Veranstaltungen wieder sicher und möglich waren. Ein Seil-Fest in Simmering im Herbst 2020 bot den Beteiligten die Gelegenheit zusammenzukommen und das Projekt gemeinsam abzuschließen.

FINANZIERUNG

JUMP!STAR Simmering ist eine Produktion der Brunnen­ passage in Kooperation mit dem Weltmuseum Wien und der US Künstlerin George Ferrandi. Die Basisfinanzierung für das Projekt kam durch SHIFT, eine Förderung der basis.kultur.wien, zustande. Die Partnerinstitution Weltmuseum Wien stellte ein kleines zusätzliches Produktionsbudget bereit. Aufgrund von mangelnder Personalressourcen seitens des Wiener Konzerthauses und divergierender Erwartungen in der Projektkonzeption stieg das Wiener Konzerthaus als Projektpartner im Februar 2020 aus, was inmitten der Umsetzungsphase, nach Abschluss der Künstler*innenverträge, eine große Herausforderung darstellte. Das Weltmuseum Wien musste zudem, bedingt durch die Pandemie und die damit verbundenen ­finanziellen Einbußen, ihren Teil des Produktionsbudgets reduzieren. Das Projekt durchlief somit in diesen herausfordernden Zeiten zu der inhaltlichen Adaptierung auch eine maßgebliche Rekalibrierung des Budgets. Alle Künstler*innenverträge und Honorarabsprachen konnten dennoch durch die Einsparung von Sachkosten eingehalten werden.

Ich denke, um in der Zeit voranzuschreiten, müssen wir auch in der Zeit zurückgehen.

Amelia, USA, 2. Mai 2002

Es gibt eine digitale Diskrepanz, die die Menschen nicht wahrhaben wollen, dass nicht jede*r eine Webcam oder einen Computer hat, der über die nötige Bandbreite verfügt oder genügend Computer im Haushalt. [...] Es gibt bestimmte Lebensrealitäten in der gegenwärtigen Situation, an die sich Institutionen und Einzelpersonen erst gewöhnen müssen. [...] Die Dinge sind jetzt anders. Die Menschen müssen erkennen, dass all diese Technologie und auch deren Schönheit mit Bescheidenheit und Geduld behandelt werden müssen. Nathan, USA, 13. April 2020

BETEILIGTE

JUMP!STAR Simmering Team Künstlerische Leitung: George Ferrandi Double-Infinity-Seilkränzchen: Teresa Distelberger, Mario Sinnhofer aka Touched JUMP! Choreografie: Karin Cheng Are You Ready? Sing Along: Futurelove Sibanda Degrees of Separation: Anna Gaberscik Sounds of Now: Bianca Figl Produktionsleitung, Kuration: Zuzana Ernst

Anmerkung:Während des Projekts wurden die Zitate über die sozialen Medien verbreitet. Die Teilnehmer*innen haben sich aus diesem Grund für eine anonymisierte Variante ­entschieden. Deshalb werden nur die Vornamen aufgelistet.

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Produktionsassistenz: Melika Ramic Ausstellungsproduktion: Bianca Figl Support Inhaltliche Begleitung: Anne Wiederhold-Daryanavard Social Media: David Mathews Social Media Beratung: Matthias Haas Kommunikation: Fariba Mosleh Live-Übersetzung: Yamna Krasny Tools für Konzeptentwicklung: Komala Amorim Scores Input: Julia Höfler Weltmuseum Wien: Petra Fuchs-Jebinger, Mela Maresch Special Guests 21 Days Listening Out Loud & Dreaming Wildly Angelo P. Herrera (Friedensaktivist bei 'Bridges of Inter-cultural harmony Inc. BINHI BRIDGES’, Manila, Philippinen) Ava Farajpoory, Sarah Barisic, Raphael Pollak (Initiator*innen des ‘Simmeringer Gabenzaun’, Junge Generation Simmering) Esref (Rapper, Eastblok Family, Simmering) Gabriel (Breakdancer, Eastblok Family, Simmering) Gitz Crazyboy (Kanadisch-indigener Autor, Schauspieler, ­ Aktivist aus Calgary, Kanada) Gözde Taskaya (Rapperin, Aktivistin, Simmering) Maria Susmakova (Tänzerin, Choreografin, Simmering) Mata Hari (Aktivist, Mitbegründer von 'Radical Faeries Vienna') Perseida Tenorio Toledo (Aktivistin and Mitbegründerin der NGO ,Una mano para Oaxaca' aus Oaxaca, Mexiko) Robert Newframer (Breakdancer, Simmering) Samuel Terence aka Sam Alive (Tänzer, Simmering) Thadi Alawi (Tänzer, Kulturarbeiter aus Dar es Salaam, Tanzania) Willi Stelzhammer (Psychotherapeut, Kulturarbeiter bei welTraum Simmering) Eine Produktion der Brunnenpassage in Kooperation mit dem Weltmuseum Wien und der US Künstlerin George Ferrandi. ­Unterstützt durch SHIFT.

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Zuzana Ernst, Natalia Hecht

Not a Single Story Kollektives Tagebuch Im Rahmen des kollaborativen Kunstprojekts ZukunftsKwizin 2016-2019 Geschichten sind wichtig. Viele Geschichten sind wichtig. Geschichten wurden benutzt um zu enteignen und zu verleumden. Aber Geschichten können auch genutzt werden um zu befähigen und zu humanisieren. [...] Wenn wir die einzige Geschichte ablehnen, wenn wir realisieren, dass es niemals nur eine einzige Geschichte gibt, über keinen Ort, dann erobern wir ein Stück vom Paradies zurück. (Chimamanda N. Adichie)

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Not a Single Story – Kollektives Tagebuch bezieht sich auf Chimamanda N. Adichie's Essay ‚Die Gefahr einer einzigen ­Geschichte‘, worin sie über die Tendenz zu generalisieren und einseitig Schlüsse zu ziehen spricht. Not a Single Story stellt eine Strategie dar, die das Singuläre mit dem Kollektiven konfrontiert, ein Bewusstsein für die Komplexität von Individuen schafft und dabei auf kollektive Bearbeitung setzt: Menschen kommen selbst zu Wort und die Geschichten von Teilnehmerinnen* aus unterschiedlichen biografischen Kontexten werden aufgezeigt.

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IDEE UND KONZEPT

Not a Single Story – Kollektives Tagebuch ist ein Resultat des dreijährigen ko-kreativen Prozesses von ZukunftsKwizin1, einem Kunstprojekt mit jungen Frauen*, das einen feministischen, transkulturellen und ästhetischen Ansatz zum Thema Exil wählte. Mittels künstlerischer Methoden wurden Fragen des Ankommens in Wien erforscht und Stereotypen hinterfragt, ästhetisch verarbeitet, transformiert und öffentlich präsentiert. Die Brunnenpassage initiierte das Projekt 2016 in Reaktion auf den langen Sommer der Flucht 2015, um langfristige Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen sich jungen Frauen* mit Fluchterfahrung auf kreative und resiliente Weise mit der Gestaltung ihrer persönlichen Zukunft auseinandersetzen konnten. Die Zusammenarbeit mit der Bildungseinrichtung #QualifyForHope2 über den gesamten Projektzeitraum hinweg war essentiell für die Kontinuität der Teilnehmerinnen*, was einen tiefgehenden Prozess für alle Beteiligten ermöglichte. Die über 70 Mitwirkenden bildeten eine diverse Gruppe mit vielen unterschied­ lichen Lebenserfahrungen, Interessen und Herausforderungen. Im Laufe des Projektzeitraums wurden konkrete Produktionen realisiert, die das Publikum einluden, sich mit spezifischem und oft ignoriertem Wissen auseinanderzusetzen. Gezielte 1 Kwizin bedeutet 'Küche' auf Haitianisch. Während des Kolonialismus wurden bewusst Personen mit unterschiedlichen Erstsprachen nach Haiti gebracht, um die Kommunikation zwischen den versklavten Menschen zu unterbinden. Als Reaktion darauf entwickelten die Menschen die Kreolsprache. Eine Sprache voller Kraft und Widerstand.

1

2 #QualifyForHope ist ein Bildungsprojekt für Mädchen und junge Frauen mit geringen Deutschkenntnissen. Es dient der Vorbereitung auf (Aus-) Bildung in Österreich und der Vorbereitung auf den Einstieg in den gegenwärtigen Arbeitsmarkt.

Identität Widerstand Zuhause Liebe

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Selbstdefinitionen, Gender, Schönheit

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Machtdekonstruktion, Freiheit, Kraft

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Sicherheit, Flucht, Selbstrepräsentation

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Selbstliebe, Generationen

Leben

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Überleben, Verlust, Mut

Neudenken

Dekonstruieren, Verlernen, Formen

Identity Resistance At Home Love Self-definitions, Gender, Beauty

Power Deconstruction, Freedom, Strength

Safety, Refuge, Self-representation

Self-love, Generations

Life

Survival, Loss, Courage

Re-imagine Deconstruct, Unlearn, Shape

­ artner*innenschaften und Kooperationen wurden initiiert, die P einen direkten Dialog mit der Stadtgesellschaft und die Sichtbarmachung der verhandelten Themen anstrebten. So entstand unter anderem 2017 in Zusammenarbeit mit dem Architektur­ zentrum Wien die urbane Intervention ,Public Lunch in der Freien Mitte‘. Im Rahmen der internationalen Artist Residency ,Care and Repair. Sorgetragen für die Stadt‘ am Nordbahnhof erarbeitete die Gruppe ein öffentliches Event zu Fragen der Gastgeber*­ innenschaft und lud die Nachbar*innen zu einem ungewöhnlichen Mittagessen ein. Als Location wurde ein verlassener Verbindungstunnel zwischen dem neuen Stadtentwicklungsgebiet des Nordbahnhofgeländes und dem Grätzl, wo sich das Bildungszentrum befindet, gewählt. Die Initiative untersuchte Formen der geteilten Gastgeber*innenschaft zwischen neuen und alteingesessenen Anrainer*innen, als möglicher Ansatz für transkulturelle und soziale Koproduktionen. Die Resultate wurden im Rahmen der Ausstellung ,Critical Care‘ im Architektur­ zentrum Wien präsentiert, welche anschließend in Berlin, Dresden, Dornbirn und Zürich tourte. Im Februar 2018 fand als zweite Kooperation eine Projektwoche im Weltmuseum Wien statt. Eine Gruppe von 40 Frauen* arbeitete gemeinsam mit drei Künstler*innen zu den Schlüssel­themen Exil, Identität und Gender. Sie entwickelten ein skulpturales Werk, das im Weltmuseum ausgestellt wurde, welches sich mit multiplen Schichten von Identität auseinandersetze. Abschließend fand eine performative Führung statt, in der die Frauen* zu ausgewählten Artefakten im Museum mit ihren Körpern Stellung nahmen und dadurch in Form einer symbolischen Gegenreaktion in einen Dialog mit ihnen traten und dies anschließend in der Gruppe reflektierten. Das Publikum wurde eingeladen mitzugehen und über eigene Bewegungen Teil der Aktionen zu sein. Die Auseinandersetzung zu Themen wie Exil, Identität und ­Gender wurden im Rahmen von ,StadtRecherchen‘ der Offenen Burg des Burgtheater weiterbearbeitet. In einer intensiven Workshopreihe erarbeiteten die Teilnehmenden eine Performance mit dem Titel Paper Passengers, in welcher lebensgroße Papierpuppen aus persönlichen Dokumentkopien des Asylprozesses wie unzählige Formulare, übersetzte Zeugnisse, Geburtsurkunden u.ä. geschaffen und im Akademietheater uraufgeführt wurden. Not a Single Story – Kollektives Tagebuch war 2019 das abschließende Projekt dieser Reihe von vielseitigen Produktionen, mit dem Ziel einen guten Abschluss für das dreijährige gemeinsame Arbeiten zu finden, ein nachhaltiges Produkt dieses Prozesses zu schaffen und die Inhalte und Erfahrungen einer breiten

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Öffent­lichkeit sichtbar zu machen. Das Projekt ZukunftsKwizin (2016-2019) war somit die Grundlage für die Erarbeitung des kollektiven Tagebuch-Projektes. Die mehrjährigen wöchentlichen Workshopreihen bearbeiteten Themen wie Identität, Liebe, Überleben, Lernen und Verlernen. Diese Themen manifestierten sich anhand von Auszügen aus persönlichen Tagebucheinträgen der Teilnehmenden, den kollektiv erarbeiteten Zeichnungen, Statements zu der Bedeutung von Verschriftlichung oder kritischen Fragestellungen. Die Reflexionen wurden mit freien, leeren Seiten verwoben, um Raum für die Schreibpraxen der Leser*innen zu bieten. Resultat ist ein kollektives Tagebuch mit starken Zitaten, das allen Leser*innen und insbesondere Frauen* Mut machen soll. Darüber hinaus stellt das Buch als künstlerische Dokumentation und Produkt zugleich einen wertvollen Output des dreijährigen Prozesses dar, welches von den Leser*innen und Schreiber*­ innen weitergetragen wird.

UMSETZUNG

Das Tagebuch-Projekt entstand aus der dreijährigen ProjektZusammenarbeit mit jungen Frauen* im Projekt Zukunfts­Kwizin. Die Mitwirkenden wurden über die Kooperation mit dem Bildungsprogramm #QualifyForHope erreicht. Die mehrjährige Zusammenarbeit ermöglichte eine intensive und nachhaltige Konzeptionierung. Wöchentliche Workshopreihen, geleitet von der Projektleiterin Natalia Hecht aus dem BrunnenpassageTeam, die selbst Psychologin und Künstlerin ist, wurden in den regulären Schulunterricht von #QualifyForHope eingebettet. Die Produktion von Not a Single Story – Kollektives Tagebuch war eine wichtige und bewusste Entscheidung, um diesen wertvollen mehrjährigen Prozess in ein nachhaltiges Produkt zu übersetzen. 40 Frauen* haben an dem Tagebuch-Projekt teilgenommen und dieses aktiv mitgestaltet, 14 Frauen* schrieben aktiv mit. Viele haben sich dadurch ihren Traum erfüllt, ein Buch zu schreiben und zu veröffentlichen. Für die Konzeption und Umsetzung des Tagebuchs wurde ein mehrmonatiger, kollaborativer Gestaltungsprozess aufgesetzt. Die erste Phase bestand aus sieben dreistündigen Workshops, in denen die Autorinnen* eine intensive Recherche über feministische Literatur, Tagebuch-Formate, Gedichte und Aufbereitung von fotografischen Materialien durchführten, um darüber einen Zugang zu eigenen Kollagen, Zeichnungen, Texten und letztlich Tagebucheinträgen zu kommen. In zwangloser Atmosphäre wurden zahlreiche Ausdrucksformen ausprobiert, um Vertrauen

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in die eigene Arbeit aufzubauen und eine bewusste Auswahl an Repräsentationsmitteln zu wählen. Da manche Themen zum Teil aufgrund der persönlichen Lebens­ erfahrungen nicht oder nur sehr schwer artikuliert werden konnten, gab es die Möglichkeit, sich körperlich auszudrücken und Bilder zu schaffen, die viel Bedeutung in sich trugen. Als Impuls wurden in jedem Workshop Werke von wichtigen feministischen, internationalen Künstler*innen besprochen. Teil des Gestaltungsprozesses war es, von der inneren Welt der Frauen* zu einem gesellschaftlichen Ausdruck ihrer Stimmen zu gelangen: von der individuellen, privaten Sphäre des Tagebuchs zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit kollektiven Themen. Deswegen wurde graduell, besonders gegen Ende des Prozesses, im öffentlichen Raum gearbeitet und ausprobiert, wie die persönlichen Meinungen Impulse für kollektive Bearbeitung und Gespräche eine Plattform bieten können. Alle diese Schritte erlaubten der Gruppe zu spüren, wie ihre persönliche Realität in Verbindung mit ihrer Umwelt steht. Dabei wurde mit den Autor­ innen* gemeinsam reflektiert und ihnen die Entscheidung überlassen, was sie von ihrem persönlichen Leben und Tagebucheinträgen nach außen tragen möchten, in welcher Form und aus welcher Motivation heraus. Wichtige Fragen, die in den Workshops entstanden: Was ist ein Tagebuch? Warum schreibe ich? Wie würde ein kollektives Tagebuch der gesamten Menschheit aussehen? Von welchen Erfahrungen würde es erzählen? Wie definiere ich mich selbst? Werde ich von außen definiert? Von wem? Was ist Gender für mich? Wie definiere ich Schönheit? Was ist Widerstand? Was ist Zuhause? Was ist Liebe? Welche Frauen* geben mir Kraft? Was ist Überleben? Was bedeutet Mut? Das Workshopformat wurde durch Einzelgespräche und Tagebuchreflexionsstunden mit Natalia Hecht, der Projektleiterin, ergänzt, in denen die Teilnehmerinnen* die Möglichkeit hatten, 106

sich mit individuellen ästhetischen und sozialen Fragen auseinanderzusetzen. Während die Workshops die kollektive und individuelle Reflexion ermöglichten, konzentrierten sich die Einzel-Gespräche auf die persönlichen Tagebucheinträge. Aus den Gesprächen entstand ein konzeptueller Rahmen, in dem die privaten Erfahrungen wieder zu einer Gesamterfahrung in Form von Diskussionen und performativen Lesungen innerhalb der Gruppe zusammengeführt wurden. Als große Inspiration und Basis für Not a Single Story – Kollektives Tagebuch wurden Original-Tagebucheinträge der Teilnehmerin Wasan Alali herangezogen. Aufgrund ihres persönlichen Interesses am Schreiben involvierte sich Wasan besonders intensiv an diesem Projekt und schlug selbst vor, ihre Originaleinträge in das kollektive Tagebuchkonzept zu verweben. Ihr eigenes Tagebuch enthielt Einträge seit 2011, als die Autorin erst zehn Jahre alt war. Zu dieser Zeit lebte sie in Al Raqqa, Syrien, wo sie geboren wurde und aufwuchs, bis sie 2015 nach Österreich flüchten musste. Das Tagebuch gehörte davor ihrem Vater, der darin Texte und Gedichte über Liebe verfasste. Als er es ihr eines Tages schenkte, begann sie ihre Erlebnisse niederzuschreiben. Damals gab es noch keinen Krieg. Manchmal gab es längere Unterbrechungen zwischen Einträgen, da sie auf ihrer Flucht durch mehrere Länder das Notizbuch nicht selbst mitnehmen und es erst später wieder über Umwege zurückbekommen konnte. In einem begleiteten Reflexionsprozess entschied Wasan sechs Einträge ihres persönlichen Tagebuchs zu veröffentlichen – mit der Motivation, dass ihre Geschichte als Impuls für einen kritischen Denk­prozess ­dienen würde. Der Reflexionsprozess war herausfordernd und komplex, auch weil das Original-Tagebuch auf Arabisch geschrieben war, das kollektive Tagebuch jedoch auf Deutsch und Englisch gedruckt werden sollte. Ein Großteil der Gespräche ­beinhaltete sensible Übersetzungsarbeit und war von langen Diskussionen, über Wörter und deren Kapazität, spezifische Gefühle auszudrücken, geprägt. Es wurde im Zuge dieser Gespräche auch darüber entschieden, welche Teile veröffentlicht und welche aus persönlichen Gründen privat bleiben sollten. Die Inhalte von Not a Single Story - Kollektives Tagebuch sind in sechs Kapitel strukturiert: Identität, Widerstand, Zuhause, ­Liebe, Leben und Neudenken. Zwischen jedem Kapitel ist ein Tagebucheintrag von Wasan Alali eingebettet und bietet Einblick in eine konkrete Lebensrealität, während die einzelnen Kapitel Fragen und Denkräume öffnen und zur aktiven Auseinandersetzung mit den Themen einladen. In jedem Kapitel finden sich Auszüge aus persönlichen Statements und kritischen Fragestellungen der jungen Frauen* und kollektiv erarbeitete Zeichnungen. Diese sind verwoben mit freien, leeren Seiten, um Platz für die eigene Schreibpraxis der Leser*innen zu bieten und im Sinne der ‚Gefahr der einzigen Geschichte‘ Raum und Bewusstsein für eine kollektive Geschichtserzählung aufmachen. Zwei Vorwörter dienen der Verortung: einerseits ‚Mein Tagebuch – ein mobiles Zuhause‘ von Luna Al-Mousli um die persönliche Praxis des Tagebuchschreibens zu unterstreichen und andererseits ‚Eine Seite, nicht für mich alleine‘ von Marty Huber, in der das Potenzial der kollektiven Praxis im Kontext des ­feministischen Widerstands hervorgehoben wird. 107

Das Design des Buchs entstand in Zusammenarbeit mit der Künstlerin Eleni Palles. Es war ein kollaborativer Prozess, in dem die Autorinnen* gemeinsam mit der Künstlerin über Typographie, Art der Zeichnungen, Kapitel-Aufbau und allgemeiner Ästhetik entschieden. Die Zeichnungen sind aus performativen Fotografien entstanden, in denen die unterschiedlichen Botschaften und Gefühle der Autorinnen* mit dem eigenen Körper ausgedrückt wurden. Es war eine bewusste Entscheidung, nicht mit den Fotografien selbst, sondern mit Zeichnungen zu arbeiten, um die Arbeit auf eine Abstraktionsebene zu heben, die die direkte Verbindung zu bestimmten Personen auflöst und damit eine Überwindung der Identifikation mit einzelnen Schicksalsgeschichten ermöglicht. Das Buch wurde im Herbst 2019 in Kooperation mit der WIENWOCHE – Festival für Kunst und Aktivismus in der Brunnen­passage präsentiert. In Kooperation mit der WIENWOCHE wurde eine Presse- und Social-Media-Strategie erstellt, um das Buch in der Öffentlichkeit zu präsentieren und zu verbreiten. Die Buchpräsentation beinhaltete unter anderem Lesungen von Buchfragmenten in einem multilingualen Setting. Die Podiumsdiskussion mit Luna Al-Mousli, Amani Abuzahra, Natalia Hecht und Wasan Alali wurde von Djamila Grandits moderiert. Die weiteren Autorinnen Khadija Chikh Abdulrahman, Safa Alhamwi, Alanoud Alhariri, Saly Brim, Yamam Dawa, Ayaa Foheil, Hayfa Haci, Telli Hasan, Jawana Maamo, Krisangela Toloza, Jovana Vucinic, Duha Ibrahim, Rouaa Ajouri, Salwa Dawalibi, Taqwa Alkhatib waren bei der Präsentation ebenfalls anwesend und wurden dem Publikum vorgestellt. Das Buch wurde positiv rezipiert und einige Personen schickten Fotos von ausgefüllten Reflexionsteilen des Buchs zurück an das Team. Die Wirkung des Projekts wurde durch Einzelgespräche und Gruppenreflexionen und -beobachtungen erhoben.

FINANZIERUNG

Die Grundfinanzierung für ZukunftsKwizin wurde vom Kulturministerium bereitgestellt, wodurch hauptsächlich die Personalkosten der Projektleiterin über drei Jahre gedeckt wurden. Die Kooperationspartnerin #QualifyForHope steuerte einen Teil der Materialkosten hinzu und profitierte von den finanzierten Personalressourcen. Die Produktionskosten für das Buch inkl. Grafik und Druck konnten über eine Förderung der HIL Foundation gedeckt werden. Die Buchpräsentation fand in Kooperation mit der WIENWOCHE statt, welche die Kosten der Veranstaltung inkl. Honorare der Rednerinnen* und der Moderation übernahmen.

BETEILIGTE

Idee, Konzept ZukunftsKwizin und Not a Single Story: Natalia Hecht, Zuzana Ernst, Anne Wiederhold-Daryanavard Künstlerische Leitung: Natalia Hecht Autorinnen* Not a Single Story: Khadija Chikh Abdulrahman, Safa Alhamwi, Alanoud Alhariri, Saly Brim, Yamam Dawa, Ayaa Foheil, Hayfa Haci, Telli Hasan, Jawana Maamo, Krisangela Toloza, Jovana Vucinic, Duha Ibrahim, Rouaa Ajouri, Salwa Dawalibi, Taqwa Alkhatib, Wasan Alali

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Zitate von Teilnehmerinnen* Ich habe gelernt, dass ­andere Menschen auch ähnliche G ­ efühle und Fragen wie ich haben. Ich hätte nie geglaubt, dass ich ein Buch schreiben ­könnte oder würde. Ich glaube es fast noch nicht, aber jetzt habe ich unser Buch in der Hand. Mein Name steht das als ­Autorin und es ist ein unglaubliches Gefühl. Ich habe meinem großen Bruder gesagt, dass ich ein Buch schreiben würde und er hat gelacht und mir nicht geglaubt. Er hat gesagt… du, wirst ein Buch schreiben? Und heute gehe ich nachhause mit einem Buch, das ich geschrieben habe, und ich bringe es ihm als Geschenk. Ich habe nie geglaubt, dass es jemanden interessieren könnte, was ich denke, was ich fühle, was ich erlebt habe. Es hat mich total überrascht, dass so viele Menschen Interesse an meinem Leben haben. Ich fühle mich stolz. Wir haben bewiesen, dass wir mutig sind, intelligent und stark. Wir haben ein Buch geschrieben. Es ist so besonders zu sehen, dass jetzt andere Menschen motiviert werden im kollektiven Tagebuch weiter ihre eigenen Ideen und Gefühle zu schreiben. Meine Erfahrungen haben jetzt eine neue Rolle.

Vorwort: Luna Al-Mousli, Marty Huber Tagebucheinträge und redaktionelle Mitarbeit: Wasan Alali Grafik: Eleni Palles Institutionelle Begleitung: Claudia Posekany, Lubna Al Soufi Lektorat: Ammar Alabd Alhamid, Fesih Alpagu, Chris Dake-Outhet, Mark Eichhorn, Elif Işık

Ich habe gelernt, dass ich stark bin. Dass ich mich nicht vergessen sollte. Ich habe bemerkt, dass ich viel verlernen sollte. Es ist wichtig, sich selbst zu fragen: Geht man weiter mit den Sachen, die man gelernt hat? Oder will ich anders Leben? Ich will selber entscheiden was für mich besser ist. Man kann alles neu denken und transformieren.

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Wie Wiebefreie befreieich ichmich michvon vonGewalt? Gewalt? Wo Wofühle fühleich ichmich michsicher? sicher?

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3

How Howdo doI free I freemyself myselffrom fromviolence? violence? Where Wheredo doI feel I feelsafe? safe?

Id Id

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Selbstdefinitio

4

3

2

1

Self-definition

Neudenken Re-imagine

6

5

Dekonstruieren, Verlernen, Formen

Deconstruct, Unlearn, Shape

dentität dentity

definitionen, Gender, Schönheit

efinitions, Gender, Beauty

n ne

Tilman Fromelt

Zeit.Geschichten Geschichtenspaziergänge am Brunnenmarkt November 2009 bis März 2011 Das Format Zeit.Geschichten wurde entwickelt, um biografische Geschichten von Menschen rund um den Brunnenmarkt künstlerisch aufzuarbeiten. Diese persönlichen Geschichten wurden aneinandergereiht und als Geschichtenspaziergänge inszeniert. Das Publikum wanderte von Geschichte zu Geschichte und von Ort zu Ort. Die biografischen Geschichten wurden später im Buch Zeit.Geschichten festgehalten, wodurch ein kleiner Teil zu einer lokalen Geschichte ,von unten' beigetragen wurde.

IDEE UND KONZEPT

Biographische Geschichten sind wichtige Fragmente von Geschichtsschreibung, die oftmals vom Mehrheitsdiskurs ausgeklammert werden. Für das Format Zeit.Geschichten wurde das Erzählen als zugängliche Kommunikationsform verwendet, um Menschen als ,Sprechende' zu erreichen. Alle Menschen haben eine Geschichte zu erzählen, aber nicht alle Geschichten eignen sich, um auf einer großen Bühne präsentiert zu werden. Zudem treten auch nicht alle Erzählenden mit persönlichen Erlebnissen gerne ins Scheinwerferlicht. Der künstlerische Rahmen sah deshalb vor, dass Menschen eine Geschichte aus ihrem Leben an selbst gewählten Orten vor einem kleinen Publikum von acht bis zwölf Personen erzählen.

Damit sollte ein persönlicher und intimer Charakter der Erzähl­ situation ermöglicht werden. Die Kunst des Erzählens sollte dabei nicht im Vordergrund stehen, sondern die Authentizität der Erzählungen. Die Zuhörenden, das Publikum wanderte von Jahr zu Jahr, von Ort zu Ort und von Geschichte zu Geschichte. Fünf 118

bis sechs persönliche Geschichten ergaben in ihrer Gesamtheit ein abendfüllendes Programm von eineinhalb Stunden. Es fanden zumeist mehrere Geschichtenspaziergänge pro Abend, teilweise auch mit unterschiedlichen Touren, statt.

PROGRAMMATISCHE EINBETTUNG

Die Auseinandersetzung mit mündlichem Erzählen und Geschichten war in den Jahren 2009-2013 ein programmatischer Schwerpunkt der Brunnenpassage. Dazu zählten die Gastspielreihe Die Kunst des Erzählens mit Auftritten von professionellen nationalen und internationalen Erzählkünstler*innen (u.a. ­Saddek el Kebir, Parvis Mamnun, Jan Blake, Alexander ­Kostinskij, Odile Néri-Kaiser, Ferrucio Cainero, Peter Chand), das partizipative Format Erzählsession, eine Reihe von Workshops für Erwachsene und eine Erzählwoche für Kinder sowie das Projekt Freiraum Erzählen in Schulen. 2012-2014 folgte die Teilnahme an dem EU-Projekt Sheherazade zur Erforschung der Erzählkunst als Tool in der Erwachsenenbildung. Da in vielen Erzählformaten die mündliche Überlieferung von Märchen und Mythen aus verschiedensten Kulturen oder auch das Erfinden fiktiver Geschichten im Vordergrund stand, entwickelte sich das Interesse einer Einbindung biografischer Erzählungen, dem mit Zeit.Geschichten nachgekommen wurde.

Es geht um Kunst, so viel ist klar, aber nicht um langweilige, verstaubte Bilder wie oft im Museum, sondern um das Projekt Zeit.Geschichten, bei dem Jugendliche mit Passanten und Lokalbesitzern über ihr Leben sprechen.

Kurier, 2011

Dann endlich geht es raus auf die Straße und in das erste Geschäft, in dem die Jugendlichen leider kein Glück haben: Der Besitzer hat zu viel Stress und will eigentlich auch gar nichts von ihrem Kunstprojekt wissen. Weitere zwei 'Niederlagen' folgen, bis wir schließlich in der Kaffee-Konditorei 'Haci Baba' landen und ein langes Gespräch mit dem Besitzer geführt wird. Die Jugendlichen sprechen mit dem Mann auf Türkisch, also kann ich nichts von dem verstehen, was er erzählt, aber an seinen funkelnden Augen, seinem Grinsen und vor allem dem Lachen der Interviewer erkenne ich, dass seine Geschichte sehr interessant und amüsant sein muss. Kurier, 2011

UMSETZUNG

In Zeit.Geschichten – Geschichtenspaziergänge am Brunnenmarkt ging es konzeptuell darum, die Biografie einzelner Menschen als wichtigen Teil von Geschichtsschreibung wahrzunehmen. Im Vordergrund stand das selbstbestimmte Teilen der 119

eigenen Biografie in unveränderter Form und so authentisch­ wie möglich.

ERZÄHLER*INNEN

Es ist eine schöne Erfahrung, diese Geschichten aus den Leben anderer Menschen zu hören, du kannst auch immer wieder daraus was für dein eigenes Leben lernen.

Feride Güneş, Stipendiatin 2011

Bei der Auswahl der Erzählenden eines Rundgangs wurde auf Diversität geachtet. So wurden unter anderem Geschichten erzählt, die das Ankommen in Wien thematisieren, den Hochzeitstag oder Anekdoten vom Ottakringer Würstelstand. Primäres Ziel der Brunnenpassage ist es, vor allem Menschen in Sprecher*­ innenpositionen zu setzen, die sonst wenig Raum für Artikulation in der Mehrheitsgesellschaft bekommen: etwa Menschen mit Fluchterfahrung, die häufig wenig Freiraum für selbstständige Ausdrucksmöglichkeiten bekommen. Oft werden Schicksalsgeschichten von außen durch Journalist*innen erzählt oder von Behörden abgefragt. Bei Zeit.Geschichten findet keine Zuschreibung statt, die Erzählenden entscheiden, welche Geschichte sie aus ihrem Leben gerne anderen erzählen wollen. Wegen des extravaganten Settings nahmen vor allem kunstaffine Menschen teil. Umso wichtiger war es, auf die Zusammensetzung der Erzählenden zu achten, damit es nicht etwa zu einer ,Migrant*innen'-erzählen-vor-,Österreicher*innen'-Tour wird. Ein weiterer Aspekt war das Kennenlernen und der Austausch in der Nachbar*innenschaft. Häufig sind Erzählende selbst nach ihrem

Auftritt beim Spaziergang mitgegangen, um anderen Erzähler*innen zuzuhören. Die kurzen Wege zwischen den einzelnen Geschichten sind ebenfalls wichtig, um die letzte Geschichte zu verarbeiten und sich auf die neue vorzubereiten. Manche ­Zuhörer*innen haben im Rahmen des Projekts zum ersten Mal ein Lokal oder Geschäft in der Umgebung betreten, in dem sie noch nie zuvor waren.

REALISIERUNG

Der intensivste Teil der Arbeit war es, Menschen am Brunnenmarkt zu finden, die sich dazu bereit erklärten, eine persönliche Geschichte zu teilen. Das Format zu erklären war hier besonders herausfordernd. Die im Team vorhandenen Sprachkenntnisse waren für die Kontaktaufnahme entscheidend. In der Regel 120

gab es ein halbes Jahr Vorlaufzeit mit unregelmäßig intensiver ­Koordinationsarbeit, bevor Zeit.Geschichten zur Aufführung gebracht wurde. Am Aufführungstag selbst traf sich das Publikum bei der Brunnenpassage, hier wurde das Format noch einmal kurz erklärt und die Route besprochen. Zwei Organisationspersonen waren für einen Abend das Minimum, da die eine die Zuhörenden während des Spaziergangs führte und sie zum jeweils nächsten Ort brachte und die zweite Person kontrollierte, ob die Erzählenden den Termin in der vereinbarten Location einhielten und erschienen. Im Notfall konnte die Projektorganisation sonst die Route umlenken, damit die Zuhörenden einen ungestörten Ablauf genießen konnten. Im Anschluss an den Spaziergang haben sich alle nochmals in der Brunnenpassage getroffen, teilweise sind auch die Erzählenden hinzugestoßen, und haben gemeinsam Tee getrunken und, wenn Interesse bestand, miteinander weitergesprochen.

DIALOGGRUPPENARBEIT Formate wie Zeit.Geschichten erlauben es, Menschen gezielt anzusprechen. Fünf bis sechs Geschichten werden bei einem Spaziergang erzählt und gerade hier ist es wichtig, darauf zu achten, dass sich lustige, stolze, erschreckende und andere. Geschichten abwechseln, damit gerade Menschen aus unter­

repräsentierten Gruppen nicht auf ,Opfer'-Geschichten reduziert werden. Die Projektidee zu vermitteln ist herausfordernd, doch auch die Suche nach der jeweiligen Geschichte erweist sich als anspruchsvoll. Viele Menschen glauben, dass sie keine spannende Geschichte zu erzählen haben. Hierbei half es, ein spezielles Ereignis aus einem Jahr zu erfragen, wie etwa die Geburt des Kindes, die Eröffnung des Friseursalons, das Ankommen in Wien etc. War die Geschichte gefunden, wurde sie zumeist in wiederholten Treffen ein paar Mal durchgegangen und auf fünf bis zehn Minuten Redezeit reduziert. Das gezielte Nachfragen aber auch das Bestärken bestimmter Teile der ­Geschichte half dabei, diese im Dialog zu verdichten und konsistenter zu machen. Dies verlangte Empathie und ein Wissen um den Aufbau und die Struktur von Geschichten. 121

2011 wurde Zeit.Geschichten in Kooperation mit Start Wien ­(Stipendien für engagierte Schülerinnen und Schüler mit ­Migrations­hintergrund) durchgeführt. Für die Brunnenpassage war das eine erstrebenswerte Kooperation, da die Stipendiat*­ innen durch die zahlreichen von ihnen gesprochenen Sprachen zu einer größeren Bandbreite an Geschichten beitrugen und das Erzählen in verschiedenen Sprachen ermöglichten. Darüber hinaus wurden mit den Stipendiat*innen Workshops durchgeführt, um sie auf ihre Aufgabe vorzubereiten. Da diesmal keine professionellen Dramaturg*innen die Geschichten sammelten, war ein weiterer Arbeitsschritt für die Zusammenstellung der Routen nötig und auch die Verlässlichkeit der Vereinbarungen musste zusätzlich überprüft werden.

FINANZIERUNG Der Aufwand, Menschen zu finden, die eine Geschichte erzählen wollen, und das Verdichten der Geschichten ist sehr arbeits­ intensiv und erfordert damit ausreichende Personalressourcen. In einem Jahr wurde die Produktion durch einen Sponsor (die Crespo-Foundation) finanziell unterstützt, dies inkludierte auch die Arbeit mit den vierzig Stipendiat*innen und die Herausgabe einer Buchdokumentation wurde möglich.

POSTPRODUKTION Bei einem Format wie Zeit.Geschichten wird mit einzelnen Menschen eine Beziehung eingegangen. Deshalb ist es unerlässlich, nach dem gemeinsamen Prozess in Kontakt zu bleiben: sich zu bedanken, rückzufragen, wie die Veranstaltung empfunden wurde etc. Je nach Bedarf sollte auch langfristiger Zeit für Beziehungsarbeit eingeplant werden, da während des Prozesses ein Vertrauensverhältnis aufgebaut wurde, auf das manche Erzählende nach Ende des Projektes zurückgreifen wollten. Für Zeit. Geschichten braucht es grundsätzlich einen sensiblen Umgang und viel Fingerspitzengefühl. Bei vorheriger Einwilligung wurden die Geschichten im O-Ton mitgeschnitten, woraus dann die Transkripte für das Buch ­erstellt wurden. Ein Buch mit den Geschichten der Menschen steht und fällt mit den Kapazitäten und der Finanzierung, die zur Verfügung stehen. Eine Herausforderung bzgl. der Verschriftlichung war es, die Authentizität der Geschichten nicht durch ein exaktes Hochdeutsch, das so nicht gesprochen wird, zu zerstören. Im Buch Zeit.Geschichten wurden deshalb die Dialekte und Akzente beibehalten und erst nach Rücksprache mit den Erzählenden in das Buch aufgenommen.

BETEILIGTE

Idee und künstlerische Leitung: Tilman Fromelt Sammeln der Geschichten, Transkription und Führungen der Touren: Burek Büyük, Mustafa Cihangir, Tilman Fromelt, Vanja Fuchs-Grgurevic, Lia Kraus, Gülüzar Bozkurt, Hüseyin Onur Becid, Demet Serin u. v. m. Projektkoordination mit den Stipendiat*innen: Ivana Pilić

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Ein Geschichtenspaziergang Geschichten zum Nachlesen

1976 - VON SCHWEINEN, DAMEN UND DAUERWELLEN Erzählt von Nesli Avcı Das hier [Eingangsbereich vom Restaurant Etap, Neulerchenfelder­ straße, Anm.] war ja früher ein Friseurgeschäft. Hier war ein Saal, und da war auch ein kleiner Saal, und auf der hinteren Seite war eine kleine Umkleidekabine. Das ganz hinten, das war noch ein Garten. Hier im Friseursalon Stampfer habe ich 1976 gelernt, später ausgelernt, und dann praktisch drei Jahre gearbeitet. Dann ist meine Chefin leider in Pension gegangen. Das war ein reines Friseurgeschäft nur für Damen. Da konnte höchstens ein Mann reinkommen und seine Frau abholen. Aber sonst durfte kein Mann herein, nicht einmal der Herr Stampfer. Die Tochter von Frau Stampfer war die Christa Stampfer, die Fernsehsprecherin, die kennen Sie vielleicht noch. Die Christa Stampfer, die hat jahrelang 'Licht ins Dunkel' gemacht. Wenn wir gefragt wurden, wie alt sie ist, hat man immer müssen sagen: 'Sie ist 35'. Wir mussten immer sagen, sie is’ 35. Natürlich war sie mehr, aber sie wollte ihr Alter nicht preisgeben. Bis mich eine Kundin aufmerksam gemacht hat: 'Jetzt frag’ ich dich jedes Jahr, wie alt sie ist, und du sagst immer 35.' Das hatte ich nicht gedacht, dass sie jedes Jahr fragt und sich das merkt. Aber wir mussten immer sagen, sie ist 35. Früher war hier auch eine Wendeltreppe, da ist sie auch immer raufgegangen, und öfter halt frisiert runtergekommen. Da oben ging es zu der Wohnung von der Christa Stampfer und von der Mutter. Ich habe da nebenan in dem Solichhaus gewohnt, das war ein Fleischhauer. Da sind die Schweine lebendig noch hingebracht worden und sind hinten geschlachtet worden. Die Schweine sind dann manchmal weggelaufen. Da hat man sie dann auf der Gasse suchen müssen, oder irgendwie unter’s Auto oder so. Das war schon lustig. Die Schweine haben genau gewusst, wenn sie da reinkommen, dann is’ es aus. Und dann haben sie geschrien schon morgens früh um fünf. Da war die Lieferung. Rinder sind auch geliefert worden, nur schon geschlachtet. Natürlich hat es gerochen, es hat auch Kakerlaken gegeben, es hat auch Mäuse gegeben. Ziemlich lang’ noch sind die geschlachtet worden. Dann ist es irgendwie verboten gewesen. Wenn wir in der Früh schon die Schweine gehört haben – die haben sich irgendwo versteckt, oder wollten nicht rein –, all das zu hören ist auch nicht sehr schön. Es sind Tiere. Wenn man die hört... Gut, dass ich die Kühe nie gehört habe, weil sonst, glaub’ ich, hätt’ ich kein Tier gegessen. Ja, oder wenn’s Schafe gewesen wären. Also, das Solich 123

war sehr bekannt. Und wenn die dann zur Maniküre ’kommen sind, Finger­nägel machen, dann ist da drunter Fleisch rausgekommen. Ja. Wir haben müssen alles machen. Und der Brunnenmarkt war ja so, früher war’n hier fast nur Österreicher, die sind auch immer alle zu uns gekommen. Die älteren Damen. Die Kartoffelfrauen. Da kam dann unter den Fingernägeln immer Erde raus, ne, die war’n immer so schwarz. Dort hinten auf der linken Seite war der Waschbereich, da haben wir den Damen die Haare gewaschen. Wenn wir dann gefragt haben, wann sich die Damen zuletzt die Haare gewaschen haben, kam es schon vor, dass eine sagte: 'Ich war doch vor drei Monaten hier...' Ja, das war nicht so wie heute. Da waren schon viele Sachen dabei. Einmal hat eine Kollegin eine Kundin mit einer Dauerwelle vergessen, ja, und nach einer gewissen Zeit hab’ ich sie aufmerksam gemacht. Hat sie gemeint, die braucht noch. Und nach ’ner Zeit is’ ihr aufgefallen, die ist schon seit zwei Stunden dort gesessen. Ich hab’ müssen dann die Dauerwelle waschen, und dann sind die von alleine runtergekommen. Die Haare. Geh’n alle raus. Naja, alle, in dem Sinne, die brechen halt ab. Da wo man halt spannt, da sind sie abgebrochen. Ja. Gott sei Dank hat sie einige Längen behalten, dass man’s noch ein bisschen bedecken kann. Sie hat zwar getobt und geschrien, aber man kann’s nicht rückgängig machen. Sie hat eine zeitlang, bis die Haare nachgewachsen sind, immer alles umsonst bekommen. Und sie ist eigentlich bei uns geblieben. Oder wir haben gehabt eine Dame, die hatte eine kleine Boutique, und die Frau hat einen kleinen Hund gehabt. Die hat genau gewusst, ich hab’ Angst. Und wenn ich angefangen habe zu maniküren, dann hat er mir die Zähne gezeigt. Und ich bin da so gesessen und hab’ immer gezittert. Da waren viele Sachen dabei… Oder die Angestellten, wo ich damals angefangen habe zu lernen, wollten sich einen Gag machen, 1. April, was mach’ ma? Das Lehrmädchen! Haben mich einkaufen geschickt. Damals am Brunnenmarkt, da war so ein Milchgeschäft. Und haben von mir verlangt: 10 dag geschnittenen Liptauer. Damals wusste ich ja nicht einmal, was Liptauer überhaupt ist. Ich bin dann hin’gangen und habe 10 dag geschnittenen Liptauer verlangt. Und die ham natürlich alle angefangen zu lachen und haben sich lustig über mich gemacht. Und ich musste fast jeden Tag hingeh’n. Einkaufen. 'Gibt’s heuer wieder geschnittenen Liptauer?' Das is’ drei Jahre so gegangen. Meine Lehrzeit, ja. Ich habe wirklich sehr viel erlebt...

2006 - DER RISS Erzählt von Iris Sitte Ich bin’s. Das Jahr 2006, der Lungenriss. Ein Halleluja auf diesen Lungenriss! Ich war ungefähr 27 Jahre Prostituierte, schwerstens alkoholabhängig, ungefähr 17 Jahre davon auch medikamentenabhängig. Ich konnte mich an nichts erinnern, als ich zu mir kam, schrie ich vor Schmerzen. Ich bin mit der Rettung ins Spital, und sie wussten gleich, dass es ein Lungenriss war. Sie haben mich lungengeröngt, und es war so an die 10 cm ein Riss. Es ging um Leben und Tod. Die nächste Möglich­ keit wär’ gewesen, mir da ein Loch rein zu bohren. Damit die Luft entweichen kann. Damit eben das Herz nicht zusammenfällt und die Luft überhaupt... oh Gott. Nun gut. Normal hätt’ ich im Spital bleiben müssen, und ich hab’ mir eigentlich gedacht, nein, und ich hab’ die Ärztin überzeugen können, wenn ich jetzt wirklich sterben sollte, dann geh’ ich nach Hause und sterb’ bei meinen Tieren. Ich hab’ kleine Hündchen – super, super Wesen. Ich hab’ dann eruiert, was überhaupt passiert ist. Es war mein letzter Arbeitstag. Mein letzter Tag mit Alkohol. Gott sei Dank. Ich hab’ das dann alles eruiert, der Schlüssel war da, das Geld war nicht da, mein Handy war nicht da, es war weg. Ich hab’ keinen Plan gehabt, ich dürfte an dem Abend so ungefähr 700 Euro verdient 124

haben, sieben Flaschen Champagner getrunken haben. Ich konnte mich an nichts mehr erinnern. Es war 15. Oktober. Mein Nachbar, der unten im Parterre gewohnt hat, der die Fenster zu hatte, der hat dann einen Knall gehört. Ich bin aus’m Taxi ausgestiegen und bin mit der linken Rückenseite auf die Bürgersteigkante geflogen. Und dann hat’s mir die Lunge zerrissen. Ich war 27 Jahr... ich war eine Alkoholikerin, eine feuchte Alkoholikerin. Ich war in Kalksburg, ich war bei den anonymen Alkoholikern. Ich hab’ mir das immer wieder vorgenommen, i hab’ ganz wenig liabe Leut’. Die haben sich den Mund fusslig geredet. Ich hab’ immer gedacht, ich schaff’ das. Ich frag’ mich heut’, wie blöd war ich eigentlich, eine Prostituierte, ja. Hat’s am Abend angefangen, schon beim Schminken und mich verkleiden, hab’ ich mich übergeben müssen, ja. Und eine Prostituierte verdient ein Geld, ich sag’s jetzt ganz brutal, mit Schnackseln. Aber auch mit Alkohol trinken. So. Jetzt bin ich dort hin gegangen. Bin an der Straße gestanden. Am Gürtel. Die 'Grande Dame'. Verkleidet. Lange Haare. Alles super. Was war in mir drinnen? War kein Geschäft, war ich frustriert. War ich auf Ablehnung. Musst’ die Leut’ anreden. Ist kein Geschäft gewesen, war natürlich ein Grund da zum Trinken. Du bist frustriert. War ein Geschäft, musst’ ich ja auch trinken. Nicht nur, um Geld zu verdienen, sondern um das überhaupt zu verkraften. Ich hatte kein Geld, ich hatte nix. Verdient hab’ ich Lawinen in meinem Leben. Es war, es ist immer ärger geworden. Nun gut, ich bin zu Haus’ gelegen. Nach einer Woche war der Riss auf 7 cm. Nach noch einer Woche war der auf 3 cm, und nach drei Wochen war die Lunge zu. Super. Und ich bin daheim gelegen und hab’ gedacht, hoffentlich werd’ ich bald gesund, weil ich brauch’ ja Geld zum Essen. Und nach 14 Tagen, wie ich da gelegen bin daheim, bin ich um 4 in der Früh munter geworden. Meine Wohnung ist eigentlich nur bestanden aus 257 Perücken in allen Farben, in allen Längen, in allen Variationen, und alle Stöckelschuhe und so weiter. Und es war mir ein Bedürfnis, einen Müllsack zu nehmen, zumindestens das letzte Gewand, weil alles konnte ich nicht, da hatte ich nicht die Kraft dazu, weil die Lunge war ja noch nicht in Ordnung, und das in den Müllsack zu geben, und bin damit in den Park gegangen und hab’ das in den Park gelegt. Und hab’ gewartet bis um halb acht in der Früh. Also hab’ mich in die Straßenbahn gesetzt. Bin auf die Polizei am Deutschmeisterplatz. Das ist eine Kontrollstelle. Ich hab’ immer geschützt gearbeitet, auf das hab’ ich wenigstens Wert gelegt, wenn ich b’soffen war, dann hab’ ich nix mehr gearbeitet, weil dann ist die Aggression rausgekommen. Auf jeden Fall, um acht bin ich dann dort gestanden. Und hab’ gesagt, da ist meine Karte, ich mach’ jetzt noch meine letzten zwei Abschlussuntersuchungen, und stand da. Kein Geld, Mietschulden bei meinem Vermieter, ich wusste nichts, ich bin zum Sozialamt gegangen, dort wurd’ ich kritisch angeschaut. Dann ham mi die Leut’ g’fragt: 'Was woll’n Sie von uns?' Die Tränen sind mir so obig’rannt, und i hab’ g’sagt: 'I will einfach a bissl leben. I will einfach leben irgendwie!'

2010 – WIEDERSEHEN Erzählt von Angelika Högn Es war voriges Jahr, der 12. Juni, das weiß ich noch ganz genau, weil ich am 12. Juni auf Urlaub fliegen hätte sollen – nach Spanien. Der Vulkan hat mir leider einen Strich durch die Rechnung gemacht. Und somit habe ich alle Vorbereitungen gecancelt, und hab mich spontan entschlossen, zum Alexander Goebel zu gehen. Dazu muss ich sagen, dass ich in jungen Jahren, also als wir 18 waren, meine Freunde und ich ’ne Jugendband hatten und wir Musik gemacht haben, Auftritte. Ich war damals die Freundin vom Sänger, hab’n Background gesung’n, hab Management gemacht. Musik und Kunst hat mich irgendwie nie losgelassen, also hat mich mein Leben lang begleitet. Somit habe ich mich auf dieses Event sehr gefreut, und war total begeistert vom Alexander Goebel mit seinen 57, was er da geleistet hat. Es war eine tolle Show. So bin ich sehr beschwingt nach Hause gegangn, zu Fuß, es war ja im Metropol, und hing so meinen Gedanken nach, und war damals seit 2004 mehr oder minder Single, und bin durch meinen Schwager auf eine Internetseite gekommen, die sich 'groups' nennt. Das ist keine Single125

Seite, sondern 'groups' verbindet Leute, die gleiche Interessen haben, natürlich können auch Verbindungen entstehen, aber da die Grundidee ist, ich geh gern ins Kabarett, wer geht mit? Nur meine Hauptinteressen sind Film und Musik, und das ist auch net so weit gesät. Bin aber durch diese Seite zu meinem jetzigen Hobby gekommen, zum Hörspiel. Arbeite jetzt in der Hörspielwerkstatt mit. Und für diese Internetseite kann man natürlich auch ein Profil erstellen mit allen seinen Hobbies, no na ned, damit die anderen wissen, wos ma eb’n gern macht. Und auch Fotos reinstellen, und ich hab immer auf eine Seite, facebook oder so, Fotos gestellt, hab auch eines von den alten reingestellt, weils ma sehr guad gefallen hat. So geh i nach Haus, mittlerweile war schon der 13. Juni, so halb eins in der Früh – sehr wichtig dieses Datum! Hab mich sofort hinter den PC geklemmt, hab ma g’dacht, Musiker muss her. Ja, weil es ist wirklich wichtig, dass Grundinteressen, die man hat, zumindest gleich sand. Man muss net alles gemeinsam machen, aber die Grundinteressen. Und des woar bei mir immer sehr schwierig, jemanden zu finden, der diese Liebe mit mir teilt. Setz mich zum PC, öffne diese 'groups'-Seite, wander so über die Gruppen und treffe auf jemanden, der auch schreibt, dass er gern Musik macht, Kabarett etc. Er schreibt, dass er gerne Menschen um sich hätte, die auch gerne singen und mit ihm Musik machen. Er ist Tischlermeister. Foto hab ich nicht erkannt, hab mir auch nichts gedacht dabei. Irgendwie hat mich das nicht losgelassen. Bin immer wieder zu diesem Profil hingewandert, hab mir gedacht, mein Gott, bin so begeistert von diesem Goebel-Konzert, schreib ihm einfach: 'Was für Musik machst du denn? Würd mich interessieren, komm gerade von einem super Event.' Bekomm sofort eine Antwort: 'Danke für deine Zeilen. Muss dazu sagen, dass ich ein Deja-Vu-Erlebnis hatte, als ich deine Fotos sah, denn das Schwarz-Weiß-Foto erinnert mich an ein liebes Mädel, das in einer Band, in der ich einmal Schlagzeug gespielt habe, die Freundin vom Sänger war und Background gesungen hat. Aber das kannst nicht du sein…' Er würd sich aber freuen, wieder von mir zu hören, und so weiter. 'Liebe Grüße, Richard.' Und wie ich lese; 'Liebe Grüße Richard', hab ich sofort gewusst, das ist der Schlagzeuger unserer Band. Und ich hab sofort geantwortet 'wenn du mit dem lieben Mädel die Angie – haben sie damals zu mir gesagt – vom Klaus meinst, dann bin ich es.' Na also da kam zurück: 'Ich packs nicht, ich glaubs nicht, wie und warum?' Und war also wirklich witzig und haben dann eine halbe Stunde lang hin und her gemailt und die Nummern getauscht. Haben telefoniert und haben uns dann ein paar Tage später verabredet zu einem Kaffee. Haben uns beim Kaffee erzählt, was halt so im Leben passiert ist. Er ist halt den 'normalen' Weg gegangen – verheiratet, jetzt geschieden und Tochter. Ich bin doch eher den Musik-Weg gegangen. Haben dann noch miteinander Abend gegessen und uns dann für den nächsten Tag verabredet bei mir: Mal Fotos anzuschauen und mal auszutauschen. Ich habe mein Tagebuch gefunden, ich habe fünf Tagebücher ausgeschrieben, und hab dann festgestellt, dass wir uns am 13.11.1974 das erste Mal gesehen haben, also darum der 13., also sehr sehr lange her. Es hat sich auch herausgestellt, dass er damals schon verliebt in mich war. Ich habe ihn sehr nett gefunden, weil damals kam ja immer – das steht ja im Tagebuch – die Frage, ja mit wem wärst du zusammen, wenn nicht mit Klaus. Ja was dann ja auch noch sehr nett war, als wir Fotos ausgetauscht haben: ich habe beim ersten Treffen immer geschaut wie groß sind die Männer. Man sieht es eh hier, ich erzähle keine Lüge, weil ich wissen wollte, muss ich hohe Schuhe tragen, flache Schuhe tragen. Er ist halt sehr groß, und das war also er, ich habe ihm halt gesagt schau, und er sagte, na wie groß? Aja, das bin ja wirklich ich! Und ich, aja wirklich, das passt! – Und da war der erste Kuss nach 30 Jahren. Und wie man dann hört, diese Lippen wollte ich schon immer küssen, das war auch ganz toll. Es war einfach wirklich super. Seitdem, also am 13., am Sonntag, läuft es wirklich toll. Wir sind es langsam angegangen, wir haben versucht, uns kennenzulernen, wir reden sehr viel. Wir arbeiten aktiv am Hörspiel, er hat in seiner Wohnung noch ein Studio, wo wir die ganzen Hörspielaufnahmen machen, die Rollen 126

einsprechen, ich schreibe Skripte. Wir machen das Rollensprechen gemeinsam. Wir machen Musik mit der Tochter gemeinsam, wir schneiden die Hörspiele. Und nebenbei hab ich auch auf meine alten Tage tanzen gelernt, weil er das goldene Abzeichen hat. Seit er 18 ist tanzt er erfolgreich und da wollte ich noch mit ihm mithalten können. Wir waren noch beim Flamenco-Workshop, das hat uns sehr gut gefallen und ja. Wir sind Seelenverwandte, haben vor, gemeinsam alt zu werden, haben auch noch so im Hinterkopf diese Alten (…) in Spanien mit vielen Tieren und Benefizlesungen und Benefizkonzerten, um den Tieren zu helfen oder armen Menschen. In irgendeinem Dorf, wo alle Menschen zusammen kommen können. Das ist so ein gemeinsamer Traum, also es ist wirklich sehr viel Gemeinsames da. Ich sag halt, es ist Schicksal, das kann nicht unbedingt Zufall sein, oder Zufall – es fällt einem zu.

2007 - MOE`S FLUCHT Erzählt von Mojtaba Tavolki Also, mein Name ist Mojtaba eigentlich, und seitdem ich bei Start1 bin, werde ich Moe genannt. Ich erzähle euch heute eine Geschichte von meiner Flucht. Ich komme ursprünglich aus Afghanistan, bin seit 2007 in Österreich, und ich erzähle die Geschichte, wie ich von Afghanistan nach Österreich gekommen bin. Die ganze Reise wurde eigentlich schwarz durchgeführt und natürlich mit einem Schlepper. Wir sind zuerst von Afghanistan Richtung Iran gefahren, von dort Richtung Türkei, dann über das Schwarze Meer nach Griechenland, Italien und dann am Ende nach Österreich. Die ganze Flucht hat bei mir so ein halbes Jahr gedauert. Wir sind im Winter geflüchtet, und die ganze Flucht war extremst schlimm, wegen der Kälte. Am Weg sind halt viele krank geworden einfach und es gab auch schlimme Fälle. Während der Flucht haben wir auch zu Fuß gehen müssen, teilweise mit LKWs und so. Es waren mehr als 50 Leute, die geflüchtet sind. Den Schlepper hamma in Persien kennen gelernt, der uns dann bis zur Türkei geführt hat. Wie wir in die Türkei gekommen sind, haben wir dann mit einem Schlauchboot über das Schwarze Meer bis Griechenland fahren müssen. In Griechenland wurden wir von der Polizei verhaftet, weil wir keine Ausweise hatten, und dann haben sie uns in ein Lager, wo die Flüchtlinge halt gesammelt werden, gebracht. Da haben sie uns dann Ausweise gegeben. Wir sind mit einem großen Schiff Richtung Athen gefahren. Von Athen sind wir mit’m Zug Richtung Patras gefahren, wo die Schiffe halten und Richtung Italien fahren. Dort hamma uns unterhalb von einem LKW verstecken müssen, der nach Italien gefahren ist. Das hat so 30 Stunden lang gedauert, als wir halt am Schiff waren – die ganze Zeit unter dem LKW, auf dem Metallstück zwischen den Rädern. Da hamma uns aufgehalten 30 Stunden lang, ohne uns zu bewegen oder irgendwas zu essen. Dann waren wir in Italien, und von dort sind wir 1 START – Stipendium für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund.

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nach Rom gefahren. In Rom gibt es einen Park, wo sich die Flüchtlinge treffen. Dort haben sie uns ein Ticket besorgt. Warum ich eigentlich nach Österreich gekommen bin? Der Grund war, dass viele gesagt haben, wenn man nach Österreich kommt, hat man eine bessere Chance zu überleben und ein besseres Leben, ein glückliches. Deshalb bin ich nach Österreich gekommen. Wie wir in Österreich angekommen sind, wurden wir von der Polizei verhaftet und nach Traiskirchen gebracht. Von dort wurden wir dann in ein Jugendheim geschickt. Ich wurde dann nach Mödling gebracht. Seit 2007 bin ich in Österreich. Zwei Jahre lang hatte ich keinen Kontakt mit meiner Familie – überhaupt keinen. In der Zwischenzeit, also 2007, habe ich eine österreichische Familie kennengelernt, also durch Connecting People. Dann war ich eine zeitlang bei denen, habe bei denen gewohnt und bin auch in die Schule gegangen – ganz normal. Mit Hilfe meiner Patenfamilie und durch das Rote Kreuz habe ich meine Familie gefunden, in Pakistan. Ich habe Kontakt aufgenommen, und in der Zwischenzeit habe ich den Status 'subsidiärer Schutz' bekommen, womit ich in Österreich bleiben durfte, darf. Das wird dann jedes Jahr verlängert, für ein Jahr. Dadurch konnte ich auch meine Familie nachbringen, wir haben die Familienzusammenführung gemacht. Das wurde positiv entschieden. Meine Familie ist vor sechs Monaten nach Österreich gekommen. Wir sind jetzt sozusagen glücklich wieder. Ganz am Anfang war’s urüberraschend, dass in Österreich eine ganz andere Sprache gesprochen wird, weil ich gedacht habe, es wird Englisch gesprochen hier. Ich hab’ keinen verstanden am Anfang. Ich hab’ mich auf Englisch unterhalten, und die haben was anderes gesagt. Und dann habe ich sie gefragt, und die haben g’sagt: 'Ja, das ist eine andere Sprache!' Und dann hab’ ich gesagt, okay, die muss ich jetzt, wenn ich in Österreich bleiben will, lernen. Darum hab’ ich mich dann auf die Sprache konzentriert und nebenbei die Schule besucht und andere Dinge gemacht, wie Fußballspielen und Freunde treffen. Das Glück, das ich hatte, ist eben, dass ich die österreichische Familie bekommen habe, weil durch sie habe ich ur viel erreicht, und ohne sie hätte ich viele Schwierigkeiten gehabt. Seit 2010 bin ich beim STARTStipendium dabei, was mir auch extrem viel hilft und bedeutet und mich unterstützt bei allen Problemen. Und jetzt gehen meine Geschwister in die Schule. Wir sind eine sechs­ köpfige Familie. Vier Geschwister hab’ ich noch, drei Schwestern und ­einen Bruder, meine Mutter ist noch da. Und die gehen alle in die ­Schule. Meine Mutter besucht einen Deutschkurs. Sie hat sich mittlerweile schon in Österreich eingelebt.

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Ivana Pilić, Anne Wiederhold-Daryanavard

DJing für Frauen* November 2009 bis 2018 DJing ist ein fester Bestandteil der Populärkultur und längst als eigenständige Kunstform – vor allem auch im Zusammenhang mit Musikproduktion – anerkannt. Häufig wird DJing in Kombination mit Tanz, Videokunst, Poetry Slam, Rap bis hin zu klassischer Musik eingesetzt. Diese Interdisziplinarität entspricht dem Konzept der Brunnenpassage und bietet viele Anknüpfungspunkte an andere Kunstformate. Die Ausbildung weiblicher DJn*s ist dazu geeignet, überkommene Rollenklischees aufzubrechen, darüber hinaus wird das Stadtleben durch musikalische Vielfalt bereichert.

IDEE UND KONZEPT Das DJing-Projekt in der Brunnenpassage richtet sich an junge Frauen zwischen 16 und 30 Jahren. Diese sollten in der Musikszene gefördert werden, um sich in einem Metier zu verwirk­ lichen, welches 2009, als das Projekt gestartet wurde, sonst eher männlichen Altersgenossen vorbehalten war.

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DJing für Frauen* war das erste frauenspezifische Projekt der Brunnenpassage. Ziel war es, einen geschützten Rahmen zu schaffen, um junge Frauen gerade in dieser auf Technik ausgerichteten Disziplin zu fördern. Das Herausbilden eines eigenen Musikstils genauso wie Live-Performances tragen stark zur Persönlichkeitsentwicklung bei: Junge Frauen trauten sich selbst mehr zu, bekamen über die Gruppe Sicherheit und damit eine Leichtigkeit im Experimentieren. Der Umgang mit technischem Equipment, ein Kennenlernen der wichtigsten Musikprogramme, aber auch der Kontakt mit Profi-DJn*s war für viele jungen Frauen von Bedeutung. Um finanzielle Barrieren abzubauen, wurde den Frauen* sämtliches technisches Equipment sowie die dazugehörige Software von der Brunnenpassage zur Verfügung gestellt. Um Zugang auf unterschiedlichen Ebenen und langfristige Perspektiven für die Musikszene zu ermöglichen, wurden drei DJing Formate konzipiert. ―

Let´s DJn* ermöglicht eine erste Annäherung an das DJing.



Die DJn* Klasse ist als halbjährige Basisausbildung konzipiert, welche 2009 in der Brunnenpassage sowie 2016 im Stand 129 am Viktor-Adler-Markt umgesetzt wurde.

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Das DJn* Kollektiv Brunnhilde 2010-2017 ist als Unterstützung in der professionellen künstlerischen Karriere entstanden.

Let´s DJn* Seit 2009

Die Brunnenpassage hat mein ganzes Leben verändert. Ich habe mich als Mensch verändert, meine komplette Einstellung. Ich bin aufgeblüht! Petra Grošinić: DJn* Kollektiv Brunnhilde

Lässig. Für die Einstimmung im MuseumsQuartier sorgte das DJn Kollektiv Brunnhilde. Kurier, 2013

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Diese Schnupper-Workshops waren als Einstieg ins DJing gedacht und ermöglichten ein erstes Kennenlernen der DJingTechniken. Interessierte junge Frauen konnten sich an den Turntables ausprobieren oder auch nur zuschauen. Die Workshops fanden alle paar Wochen statt und dauerten zumeist drei Stunden. ­Einige Frauen kamen mehrmals zu den Workshops, bevor sie sich entschieden, das DJing intensiver zu erlernen. Die Einstiegsworkshops wurden von DJn*s des Kollektivs ­Brunnhilde geleitet. Zu speziellen Fachthemen wie Musikproduktion oder Scratchen wurden Gastdozent*innen eingeladen und auch die DJn*s des Kollektivs Brunnhilde nahmen an diesen Weiter­ bildungen teil.

DJn* Klasse November 2009 bis Juni 2010 sowie Januar bis Juli 2016 Eine halbjährige Workshopreihe wurde entwickelt, setzte auf hohe Verbindlichkeit und barg als geschlossene Gruppe ein

hohes künstlerisches Entwicklungspotenzial. Die DJ*n Klasse wurde inhaltlich von zwei renommierten DJn*s geleitet, die ihr künstlerisches und technisches Wissen in Workshops vermitteln. Ziel der Workshopreihe war es, einer Gruppe von je 20 jungen Frauen aus unterschiedlichen sozio-kulturellen Hintergründen im Alter von 16 und 30 Jahren im DJing eine Basisausbildung zu ermöglichen. Nach einer offenen Schnupperphase wurde die Klasse geschlossen. Die Ausbildungsmodule unterteilten sich in wöchentliche Proben in der Brunnenpassage sowie in intensive Ausbildungseinheiten an Wochenenden. Den Absolventinnen* wurde zunächst der Umgang mit Schallplatten und Plattenspielern, DJ*n-geeigneten CD-Playern sowie DJ*n-Software und PA-Technik nähergebracht. Ebenso wurden Module zu allgemeiner Musikkunde, Programmierung, Musikproduktion und Selbstmarketing gehalten. Bereits während der Ausbildung fanden regelmäßig Auftritte statt. DJn* Kollektiv Brunnhilde 2011 bis 2018 Die Begeisterung für das DJing war bei einigen Frauen der ersten DJn* Klasse der Brunnenpassage unerwartet groß. Deshalb wurde Anfang 2011 von interessierten Absolventinnen* das DJn* Kollektiv Brunnhilde gegründet. Ziel war dabei, die DJn*s in ihrem professionellen Werdegang zu unterstützen und die Kraft des Kollektivs zu nutzen. Die Brunnenpassage vermittelte Buchungen für Auftritte, ermöglicht einen künstlerischen Austausch, bot auf Wunsch Fortbildungen zu Fachthemen an, ­organisierte Veranstaltungen mit dem KunstKamion – der mobilen Bühne der Brunnenpassage – und war im Bereich des Marketings unterstützend tätig. Die DJn*s des Kollektivs Brunnhilde wurden von der Brunnenpassage für interne sowie externe Auftritte bezahlt. Einige DJn*s des Kollektivs Brunnhilde bestreiten sogar mittlerweile einen Teil ihrer Lebenskosten mit ihrer Musik. Brunnhilde war als Kollektiv umgekehrt ein musikalisches Aushängeschild der Brunnenpassage, bereicherte das hauseigene Programm mit DJn*-Lines und war in der Wiener Frauen*-­Musikszene eine wichtige Playerin. Die stilistische Bandbreite reichte von Hip-Hop/Soul, Oriental und Balkan, bis zu Minimal, Techno und House. Seit 2011 wurden die DJn*s für mehr als 1000 Auftritte und Workshops als ­Kollektiv Brunnhilde gebucht. Häufig fanden Auftritte mehrerer DJn*s vom Kollektiv Brunnhilde an einem Abend statt, auch wurde zunehmend mit Multi-DJing gearbeitet. Das Kollektiv Brunnhilde hat u. a. folgende Orte bespielt: Museumsquartier (Eröffnung des ImpulsTanzFestivals), Popfest am Karlsplatz, Rote Bar, Ost Klub, Pratersauna, Café Leopold, brut/Künstlerhaus, Rathaus, Parlament, rhiz, fluc, Volksgarten, Donauinselfest, Soho in Ottakring, Events der Wiener Festwochen ITC, Forum Alpbach und Linzfest sowie internationale Orte wie u.a. bei der Pride in Zürich. Folgende künstlerische Kooperationen wurden seitens der Brunnenpassage unter anderem eingegangen: ―

Zusammenarbeit mit den Wiener Festwochen ITC und der Street Academy (2010-2012)



,Das ist mein Ding' mit den Wiener Festwochen ITC und Dschungel Wien (2010) 137

DJn-Kollektiv Brunnhilde rockten die Pratersauna.

Society 24, Gegen die männliche Dominanz in der Szene. ORF, 2012



Mitwirkung bei Events von femous (2012)



,Waschen-Macht-Sound' Produktion der WIENWOCHE (2012)



KunstMobil: Workshops und Auftritte (2013/2014)



Visual- und DJing-Workshopreihe gemeinsam mit der Kunstvermittlung des mumok (2014)



Ausnahmezustand Mensch Sein, Klanggestaltung und Live-DJing: DJn* Kollektiv Brunnhilde (Petra Grošinić, Theda Schifferdecker, Christina Steyskal/ Schlagzeug) im Rahmen der Theaterproduktion der Brunnenpassage in Kooperation mit dem Wiener Volkstheater (2014)



,Fremdenzimmer' Theaterproduktion mit Theda Schifferdecker (2015)

Das DJn* Kollektiv Brunnhilde wurde 2011 mit dem internationalen Preis ‚faktor kunst‘ der deutschen Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft ausgezeichnet. 2014 wurde nach dem Vorbild der DJn* Klasse eine Ausbildung in Graz initiiert. Aufgrund des großen Erfolgs und der gesellschaftlichen Veränderung, dass mittlerweile über die Jahre des Projektverlaufs viel mehr Frauen* hinter den Turntablen stehen als noch 2009, hat die Brunnenpassage zu Gunsten anderer neuer Projekte 2018 die DJing-Formate und das DJn* Kollektiv Brunnhilde in Rück­sprache mit den DJn*s beendet. Einerseits war das für alle mit großer Trauer verbunden, andererseits jedoch auch mit großer Freude, da einige der Frauen* inzwischen eine große Bekanntheit innerhalb der DJn* Szene erlangt haben und sie* die Institution Brunnenpassage schlichtweg nicht mehr als Unterstützung brauchen.

UMSETZUNG

Konzeptuell war DJing für die Brunnenpassage als Genre interessant, weil es leicht mit anderen Kunstformen kombiniert werden kann. In der Brunnenpassage sind sowohl in Tanzformaten als auch in der Theaterproduktion künstlerische Kollaborationen mit den DJn*s gelungen. Darüber hinaus erschien die Entwicklung eines Programmbereichs, welcher sich ausschließlich an Frauen* richtet, in der Zielgruppenarbeit interessant. Auch wenn beim DJing der Einsatz von technischem Equipment sehr hoch ist und DJing zumeist von Einzelpersonen ausgeübt wird,

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war ein Format, das so stark auf die Förderung von jungen Frauen und deren Stärkung abzielte, für die Brunnenpassage von hoher Relevanz. Die Projektentstehung erfolgte durch eine Kooperation mit den Wiener Festwochen / Into the City und einem DJn*-Schnupperworkshop mit DJ Ipek aus Berlin. Im Anschluss entstand gemeinsam mit DJ Ipek die Idee, zu ­diesem intensiveren Projekt, zumal einzelne Interessierte ­bereits artikulierten, dass sie über die Einstiegsworkshops hinaus gerne mehr lernen wollten.

KÜNSTLERINNEN Es wurden mit DJ Ipek und DJn Sweet Susie zwei geeignete ­Dozentinnen engagiert, die einerseits selbst exzellente DJn*s sind und andererseits Erfahrung im Unterrichten mitbrachten. Das genaue Curriculum wurde gemeinsam mit den Dozentinnen festgelegt. Wichtig war auch die gute Vernetzung der Dozentinnen für erste Auftrittsmöglichkeiten. Häufig begleiteten die Dozent­innen die Teilnehmerinnen* der DJn* Klasse zu deren ersten Auftritten, um anschließend die Erfahrungen auszuwerten. Die jungen Frauen* wiederum hatten mehrmals die Gelegenheit, ihre Lehrgangsleiterinnen live bei Auftritten auf der Bühne zu erleben und ihnen buchstäblich über die Schulter zu schauen.

PERSONAL Für die Gesamtkoordination der DJn*-Ausbildung stand der Brunnenpassage eine 20-Stunden-Kraft zur Verfügung, die selbst DJn* war und damit über ausreichendes Wissen verfügte. Zu Beginn wurde sämtliches Equipment angeschafft und die Lagerung, Wartung, Transportmöglichkeiten und Versicherung organisiert. Während anfangs das Technikpersonal der Brunnenpassage noch stark eingebunden war, wurde zunehmend Verantwortung auf die Frauen der DJn* Klasse übertragen, ­sodass sie mit der Zeit selbstständig für die Proben das Equipment aufund abbauen konnten. Die wöchentlichen Proben fanden ohne die Dozentinnen, jedoch in Begleitung der Projektleitung in der Brunnenpassage statt.

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FINANZIERUNG

In Bezug auf Fördergeber*innen ist im Falle der DJn* Klasse Sponsoring ebenso möglich wie auch das Ansuchen spezifischer Frauenprojekttöpfe. Es wurden auch Sachsponsorings eingegangen, in denen Rabatte für technisches Equipment oder Equipment-Spenden stattfanden. Die erste DJn* Klasse wurde über ein Sponsoring (Western Union) unterstützt.

DIALOGGRUPPENARBEIT

Die Bewerbung fand in mehreren Sprachen statt. Fotos mit Role­models, Videos und Audiofiles sowie Social Media waren hier besonders wichtig. Das erfolgreichste Mittel war allerdings die persönliche Ansprache der einzelnen Frauen* und immer wieder war ein Ermutigen zur Teilnahme für einige Frauen* entscheidend. Das Erreichen der gewünschten Zielgruppe und das Zusammenstellen der DJn* Klasse war in der Aufbauphase die schwierigste Hürde. Im Sinne eines Diversitäts-Anspruches ist es ratsam, die Zielgruppe im Vorhinein so konkret wie möglich zu skizzieren: Vom gewünschten Altersspektrum über die ­sozialen Verschiedenheiten und die angestrebte Mehrsprachigkeit, bis hin zum Einzugsgebiet. Besonderes Augenmerk sollte darauf gerichtet sein, Frauen* zu erreichen, deren Chancen in der Gesellschaft begrenzt werden und die so von einer ­intensiven Förder­struktur profitieren können. Wenn die vielfältige Zusammensetzung der Teilnehmerinnen* nicht auf Anhieb erreicht wird, ist es wichtig, die Anmeldefrist zu verlängern. Eine Steuerung der Zusammensetzung der Gruppe wird dadurch möglich. Die Verbindlichkeit in der Gruppe während der Ausbildung ist eine permanente Herausforderung. Wichtig ist es darüber hinaus, den Teilnehmerinnen* keine zu großen Erwartungen, wie etwa ,Wir machen dich zum Star', zu machen und gleichzeitig das notwendige Eigenengagement zu verdeutlichen.

BETEILIGTE

Idee und Konzept: Özlem Sümerol, Anne Wiederhold-Daryanavard Künstlerische Leitung der DJn*-Klasse: DJ Ipek/Ipek Ipekçioğlu und DJn Sweet Susie/Susanne Rogenhofer Projektleitung: Elif Işık, Ivana Pilić, Zuzana Ernst, Dilan Sengül Assistenz: Petra Grošinić

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Brunnhilde Code scannen Video ansehen

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Elisabeth Bernroitner

Ausnahmezustand Mensch Sein von Clemens Mädge nach William Shakespeares ,Der Sturm' Uraufführung Eine Koproduktion von Volkstheater und Brunnenpassage Begleitet und unterstützt von Karl Markovics Produktionssponsoring Bank Austria Februar 2012 – Mai 2014 Die Brunnenpassage brachte eine Theaterproduktion mit 30 Darsteller*innen auf die Bühne des Volkstheaters. Nach ­Shakespeares ,Der Sturm' erarbeitete ein internationales Künstler*innen-Team um Regisseur Daniel Wahl die Inszenierung mit Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichem Alter. Das Stück von Clemens Mädge mit dem Titel Ausnahmezustand Mensch Sein wurde am 4. April 2014 in neun Sprachen uraufgeführt. Weitere Vorstellungen folgten am 5., und am 6. April sowie am 16. Mai 2014 im Volkstheater.

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IDEE UND KONZEPT

Das Theaterprojekt entstand auf Initiative der Bank Austria, des langjährigen Hauptsponsors in der Brunnenpassage, mit dem Vorschlag eines gemeinsamen Projekts mit Regisseur und Schauspieler Karl Markovics. In ersten gemeinsamen Gesprächen entstand die Idee, unter der künstlerischen Leitung der Brunnenpassage ein Theaterstück zu entwickeln, bei dem Karl Markovics sich in der Rolle eines Unterstützers und Wegbereiters einbringen würde. Mit Ausnahmezustand Mensch Sein hat die Brunnenpassage erstmalig ein Theaterstück produziert. Als Spielort wurde seitens der Brunnenpassage eine große Innenstadt-Theaterbühne gesucht. Nach mehreren Anläufen wurde die Kooperation mit dem Volkstheater eingegangen, welche sich als äußerst gelungen erwies. Seitens der Brunnenpassage wurde das künstlerische Grundkonzept entwickelt, die Regie und das künstlerische Leitungsteam engagiert. Die Grundlage der Inszenierung war William Shakespeares letztes Theaterstück ,Der Sturm'. Bewusst wurde hier auf offensichtliche ,Migrationsthemen' als Träger der Handlung verzichtet. Auf Basis der Geschichte rund um Prospero schuf der Autor Clemens Mädge eine zeitgenössische Neubearbeitung, welche durch die laufende Probenarbeit mit den Darsteller*innen der Brunnenpassage inspiriert wurde. Ziel war erstmalig eine große Gruppe von langjährigen Mitwirkenden aus den verschiedenen Projekten der Brunnenpassage, wie dem Brunnenchor, Groove!, den Dance Classes und dem DJn* ­Kollektiv Brunnhilde in einem intensiven und über eineinhalb Jahre andauernden Produktionsprozess zusammenzubringen. Im Gespräch zur Idee

Carolin Vikoler mit Anne Wiederhold-Daryanavard Kann man sich aus der freien Szene kommend sofort ein Projekt auf der Volkstheaterbühne vorstellen, für tausend Zuschauer*innen, die räumlich aus den verschiedensten Blickwinkeln schauen? Wie stellt man dafür ein Team zusammen? In der Brunnenpassage haben wir unter anderem als Konzept, große Bühnen zu ,stürmen' und seit 2007 arbeiten wir beispielsweise mit den Wiener Festwochen oder dem Wiener Konzerthaus zusammen. Für dieses Projekt haben wir uns für den Schweizer Regisseur Daniel Wahl entschieden. Er hat viel mit großen Ensembles und auch mit Laien inszeniert, beispielsweise am Schauspielhaus Hamburg gearbeitet und hat Erfahrungen mit großen Stadt- und Staatstheaterbühnen. Er arbeitet oft im Team und brachte Benjamin Brodbeck (musikalische Leitung) und Viva Schudt (Bühne und Kostüm) mit. Wir einigten uns sehr früh auf Shakespeares Sturm als Ausgangsbasis, dann kam Clemens Mädge als Autor dazu. Für die Proben mit vielen Menschen war es sehr hilfreich, dass das künstlerische Leitungsteam schon zusammengearbeitet hat und das Ensemble beim Proben auch teilweise in Untergruppen aufteilen konnte. Die Dramaturgie machte Vanja Fuchs, die auch schon in Story­telling-Formaten der Brunnenpassage mitgearbeit hat. Außerdem war uns eine Anbindung an Wien sehr wichtig. Wie habt ihr die Darsteller*innen ausgewählt und wie werden diese 30 gezahlt? 149

Impulse anderer Art. Ein Projekt voll Herzblut! [...] großer Applaus! Die Krone, 6.4.14

Live-Musik des (sehr guten) DJing Kollektivs Brunnhilde.

Kurier, 7.4.14

Für knappe eineinhalb Stunden trifft hier Shakespeare auf den jungen, kreativen Geist der Brunnenpassage.

Kosmo, 3.4.14

Eigenwillige Adaption als ­atmosphärisch dichtes und berührendes Spektakel.

Die Furche, 10.4.14

In einer eigenen Fassung von Shakespeares ’Der Sturm’ agieren 30 Laienspieler in einem professionellen Rahmen, viel Applaus. Der Standard, 7.4.14

Das Volkstheater im Ausnahmezustand. Diese [...] Aufführung war nicht nur gut gemeint, sondern gut gemacht.

Die Presse, 6.4.14

[...] versucht mit 30 Personen unterschiedlichster Herkunft eine neue Ästhetik.

Ö1, 4.4.14

Ausnahmezustand Mensch Sein bringt interkulturelles Leben auf die große Bühne. Falter, 2.4.14

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Die Spieler*innen wirken mitunter bereits seit Jahren wöchentlich in Musik-, Tanz- und Gesangsprojekten der Brunnenpassage mit. Die meisten sind erstmalig Teil einer Theaterproduktion. Wir haben kein klassisches Casting gemacht, sondern viele unterschiedliche Menschen, die wir über die Jahre unserer Arbeit kennengelernt haben, gezielt angesprochen. In der Brunnenpassage ist die Teilnahme immer kostenlos und Menschen nehmen teil, weil sie Interesse und Lust haben. Die Spieler*innen bekommen eine Aufwandsentschädigung. Das übliche Korsett von Probenzeiten und Anwesenheit ist durch die Freiwilligkeit aufgeweicht und nicht so strikt zu sehen, wie bei einer regulären Theaterproduktion. Dies bedeutet vor allem viel organisatorisches Geschick im Projektteam. Worum dreht sich Ausnahmezustand Mensch Sein? Es ist eine Reise ins zerwühlte Innere, ein wilder Ritt durch die Windungen eines sturmgepeitschten Hirns. Prospero, Herzog von Mailand, ist Dreh- und Angelpunkt des Geschehens auf der Insel. Prosperos Kopf ist also der eigentliche Schauplatz des Stücks. Alle sind ein Teil von Prospero: alle werden zu einem. Es gibt viele Sprechchorpassagen. Und der eine zerlegt sich in viele Einzelteile um zu überleben. Ein Mensch durchlebt in seinem Inneren alle Ausnahmezustände, die viele verschiedene Menschen erlebt haben. Angelehnt an Shakespeares Vorlage, doch nicht im Sinne einer werk- und wortgetreuen Inszenierung,

werden auch individuelle Erfahrungen von Ausnahmezuständen im Mensch Sein auf der Bühne bearbeitet. Musik und Sounds sind in der Inszenierung sehr präsent. Versteht sich die Brunnenpassage als postmigrantischer ­Kulturraum? Die Brunnenpassage ist ein postmigrantischer Kulturraum. Wir setzen auf Verbindungen zwischen Menschen, die über Kunstprozesse aktiviert werden, aber ohne Identitäten anrufen zu müssen. Die Idee ist simpel, aber wirkmächtig. In der Brunnenpassage spielen Zuordnungen keine Rolle, die Menschen kommen, machen mit und sind in diesen Momenten Sänger*innen, Tänzer*innen etc. Wir stehen für niederschwelligen Zugang zu Kunst, weil wir vor allem jene besonders ansprechen wollen, die keinen Zugang zu diversen ,Hochkultur'-Orten haben. Dies

­ etrifft oftmals Menschen mit Migrationserfahrungen, aber b nicht nur. Die Brunnenpassage nimmt sich vielmehr die Menschen rund um den Brunnenmarkt zum Vorbild und möchte, dass sich die Heterogenität auch in den Veranstaltungen wiederfindet. Spezifische aufsuchende Dialoggruppenarbeit ist ein großer Teil unserer Arbeit. Unsere partizipativen Produktionen sind konzipiert in Kooperation mit großen Kulturinstitutionen der so genannten ,Hochkultur'. Wir arbeiten seit 2007 täglich und nachhaltig an Theorie und Praxis transkultureller Kunstproduktion, zu Fragen der Diversitätsentwicklung in der Kulturpolitik sowie an einer Kunst als Menschenrecht. Auszüge aus dem Interview 'Ausnahmezustand Mensch Sein eine Kooperation zwischen Brunnenpassage und Volkstheater Wien', in gift-Zeitschrift für freies Theater, 02/2014

Im Gespräch zur Regie

Dylan Butler (Brunnenpassage) mit dem Regisseur Daniel Wahl Wie kam es dazu, den ,Sturm' von Shakespeare neu zu ­erzählen? Wenn ich die Möglichkeit habe, mit Menschen aus so vielen verschiedenen Kulturen zu arbeiten, stellt sich mir eigentlich zentral die Frage, was ist überhaupt 'Mensch Sein'? Und wie verhält sich mensch in extremen Situationen? Da ist mir ­Shakespeare’s ,Sturm' eingefallen. Ich habe den gelesen und gedacht: ,Das finde ich toll!' Das aus einer Gruppe heraus zu erzählen und mit

den ganzen Figuren, die bei Shakespeare vorkommen, das sind alles Figuren, die in zum Teil homöopathischen Dosen in mir vorhanden sind. Wie würden Sie den Titel ,Ausnahmezustand Mensch Sein' erklären?

Ausnahmezustand Mensch Sein: neun Sprachen auf der Bühne.

da Standard, 2.4.14

Das Volkstheater präsentiert [...] ein spektakuläres Unterfangen: Gemeinsam mit dem KunstSozialRaum Brunnenpassage.

Die Bühne, April 14

Die Performance handelt von einer Reise, der Suche nach Antworten, der Frage nach Identitäten und Abhängigkeiten.

Karl Markovics in Schau­ fenster. Die Presse, 14.3.14

Shakespeare, so wie Sie ihn noch nie gesehen haben. Vom Brunnenmarkt ans Volkstheater.

Art live, 28.1.14

Brunnenpassage scheint nun salonfähig zu sein für die große Bühne.

Ö1, 20.4.14

Jeder von uns lebt irgendwie in mehr oder weniger geregelten Bahnen, in denen er sich zurechtfindet. Was passiert, wenn das eben außer Kontrolle gerät? Und was bleibt an Kultur, was bleibt an Zivilisation? Was passiert mit einem Menschen, wenn er nicht mehr in seiner Normalität funktionieren darf? Und das merken wir ja auch, dieser Ausnahmezustand, das muss nicht ­Fukushima sein, das muss keine Flutwelle sein. Das kann eine ganz kleine alltägliche Sache sein, wo das eigene System überlastet ist, Stress bekommt und dann wieder auf so ganz 151

komisches Gelerntes zurückgreifen muss. Das hat mich primär interessiert und deshalb dieser Titel ,Ausnahmezustand', was natürlich mit Prospero zu tun hat: Das ist ein Ausnahmezustand, wenn man von der eigenen Familie verraten wird und im Grunde in die Verbannung geschickt, ausgesetzt wird mit seiner dreijährigen Tochter. Was kann man sich Schlimmeres vorstellen? Deshalb die Frage, was mit einem Menschen passiert, wenn er die Möglichkeit bekommt, sich zu rächen. Greift er wieder auf bekannte Muster zurück? Behandelt er Menschen genauso, wie er selbst behandelt wurde? Das zu untersuchen mit dieser ­Gruppe, war eigentlich die Idee. Welchen Stellenwert hat Community Art in der Theaterwelt? Ich glaube, wenn sich das Theater nicht dafür öffnet, dann werden sich die Menschen in einer Stadt irgendwann fragen: Wozu geben wir Geld aus für dieses alte Theater? Ich glaube, so wie die Gesellschaft sich verändert, verändert sich auch Kultur.

Was war für Sie der Reiz, die Regie in diesem Theaterprojekt zu übernehmen? Hier an diesem Projekt ist natürlich das Tolle, dass auch Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturkreisen aufeinandertreffen, die ganz anders geprägt oder sozialisiert sind, aus ganz anderen Lebensentwürfen kommen. Da finde ich total interessant einfach zu sehen: Wie arbeiten Menschen zusammen? Wo gibt es Schwierigkeiten? Ist die Sprache manchmal viel hinderlicher, als wenn man einfach über den Körper arbeitet? Trotzdem muss man auf eine gewisse Weise miteinander kommunizieren. Das war letztendlich schon der Hauptpunkt, warum ich das Gefühl hatte, hier handelt es sich um ein tolles Projekt. Einfach mal zu versuchen, mit 30 Leuten aus ganz unterschiedlich Richtungen zu arbeiten, und zu sehen, wo kommen wir da hin, mit diesem Unternehmen. Auszüge aus einem Interview für die Videodokumentation.

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Im Gespräch zum Stück

Vanja Fuchs (Dramaturgie) mit dem Autor Clemens Mädge Wenn man mit wenigen Worten beschreiben müsste, was im Theater im Allgemeinen passiert, wäre die Formulierung „Ausnahmezustand Mensch Sein“ doch sehr treffend – auf der Bühne geht es ja meist darum, menschliche (Ausnahme)Zustände unter bestimmten Bedingungen zu zeigen. Was für Ausnahmezustände haben dich konkret an Shakespeares ‚Sturm‘ interessiert? Natürlich ziemlich viele, schon aufgrund dessen, dass Shakespeare in den ‚Sturm‘ so relativ alles an verschiedenen Motiven reingepackt hat, was es gibt. Zum einen geht es um Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit – aber wie definiert man das? Wir fühlen uns in der ‚normalen‘ Welt auch häufig ungerecht behandelt, obwohl es oft gar nicht der Fall ist. Inwieweit lässt sich das verschärfen? Und dann gibt es innerhalb des Stücks diese Sehnsüchte von verschiedenen Personen, ihre Wünsche und die Frage, wie komme ich da überhaupt hin, mir diesen Wunsch zu erfüllen. Was ich besonders an Prospero interessant fand

– einerseits dieses 'ich will, ich will!' und 'ich möchte, und mir steht es auch zu', aber ich tue eigentlich nichts dafür. Also, ich fühle mich ungerecht behandelt und bin deshalb Opfer, aber anstatt zu sagen: 'Ok, ich wurde so und so behandelt und ich muss das jetzt selber ändern, vielleicht auch mein Denken selber ändern', suche ich Gründe oder suche Wege, um andere Leute zu ­bestrafen. Die ,Storyline'̛ in deinem Stück weicht zwar nicht radikal von Shakespeares Vorlage ab, es gibt aber eine große Änderung in der Art, wie hier verschiedene Erzählperspektiven verwendet werden. Ausnahmezustand Mensch Sein wird von vielen Stimmen erzählt. Daniel (Wahl, Anm.) und ich haben uns überlegt, wie wir da rangehen wollen. Wir wollten nicht einfach nur den ‚Sturm‘ nacherzählen, sondern haben uns gefragt, worum es da ­eigentlich geht. Sprich, wir haben im ‚Sturm‘ so neun, zehn Rollen festgelegt und der Rest ist eher Beiwerk oder spielt die Seemannscrew. Wir sind zu diesem Ausgangspunkt gekommen, dass es sich im Grunde nur um eine Figur handelt, 153

dass es nur Prospero ist. Prospero oder wer auch immer das ist – 'wir' eben, jeder für sich einzeln und gleichzeitig mit vielen Stimmen. Das kennen wir von uns selber: Insgesamt haben wir einen Charakter, aber dieser Charakter ist in viele kleine Teile zersplittert. Und das war unser Grund, unser Ausgang für das Stück. Wir wollten ein Innenleben zeigen, einen inneren Kampf oder einen inneren Prozess zwischen einzelnen Fraktionen, die

aber alle in einer Person sind. Wie es auch in der Ankündigung stand: dreißig werden zu eins und eins wird zu dreißig. Das Stück ist nicht nur im stillen Kämmerlein entstanden, sondern entwickelte sich nach und nach, während der ersten Proben und durch Begegnungen mit den Darsteller*innen. Was ändert sich, wenn man als Autor so stark in den Probenprozess involviert ist? Was hast du in den Text mitgenommen? Für mich ändert sich das total, weil es eine ganz andere Erfahrung ist. Bis jetzt habe ich einfach Stücke geschrieben, die waren dann fertig und wurden aufgeführt. In diesem Fall kam mir das aber eher hinderlich vor. Wir sind ja so richtig steinbruchmäßig an den ‚Sturm‘ herangegangen, haben den Text zurechtgeklopft und zerrissen. Darum habe ich mir gedacht, ich kann jetzt nicht schon mit einem kompletten Stück ankommen, weil das nur ein Auswendiglernen wäre. Es ging auch darum, sich mit diesen dreißig Leuten zu verbinden und nicht zu sagen: 'Wir proben jetzt sechs Wochen und dann ist es gut', sondern einen Prozess daraus zu machen. Wir haben anfangs noch ganz ohne Text geprobt und dann hab ich begonnen zu schreiben und hab gemerkt, dass man nicht durchrasen darf, um das Stück fertigzumachen, sondern immer so ein bisschen peu à peu vorankommen. Weil wir auch nicht professionelle Schauspieler haben, wo ich sagen kann, ich kann dir jetzt eine Dreiviertelseite Monolog geben, und du spielst mir das so toll, dass ich im Stuhl wegschmelze. Es hat mich immer wieder inspiriert, was die Leute bei diesen ersten Proben von sich aus gemacht haben. Die einsame Insel, auf der Prospero gestrandet ist, wird wohl kein Navigerät finden können. Wo liegt sie denn? Ich glaube, die einsame Insel liegt in einem selbst. Die liegt in einer Millionenstadt oder sie liegt auch in einem kleinen Dorf. Unter drei Millionen Menschen in Berlin oder fast zwei ­Millionen 154

in Wien kann man auch auf einer einsamen Insel sein. Man kann sich tagtäglich in der Stadt bewegen und trotzdem keinen Kontakt zu irgendwem haben. Es gibt in jedem Menschen eine kleine einsame Insel und man muss Sorge dafür tragen, dass diese nicht zu groß wird. Auszüge aus dem Interview 'Die einsame Insel liegt in einem Selbst', im Programmheft Ausnahmezustand Mensch Sein

Darsteller*innen Pranjal Arya, Johanna Bernroitner, Agnes Distelberger, ­Hamayun Mohammed Eisa, Sanja Govorčin, Vedrana Govorčin, Xenia Gschnitzer, Alexander Hajos, Maria Hruschka, Andrea ­Kapferer, Bockwoon Lahlal Chung, Shaina Lo Ian Ieng, ­Angelika Luger, Christian Mitterlechner, Agnes Ofner, María Verónica ­Pereira, Emil Purtscheller, Ilga Purtscheller, Laura Roche, ­Regina ­Rosenauer, Sonnhild Schwarz, Alexandra Skrabal, Susanna Skrabal, Natalie Sopuchova, Franz Sramek, Miriam Torwesten, Jasmin Winterhalder. Klanggestaltung und Live-DJing Kollektiv Brunnhilde: Petra Grošinić, Theda Schifferdecker, Christina Steyskal (Schlagzeug) Beteiligte Regie: Daniel Wahl Autor: Clemens Mädge Dramaturgie: Vanja Fuchs Bühne: Viva Schudt Kostüme: Viva Schudt, Katharina Kappert Musik und Komposition: Benjamin Brodbeck Lichtdesign: Bert Schifferdecker Video: Dylan Butler Konzeption: Anne Wiederhold-Daryanavard unter Mitwirkung von Elisabeth Bernroitner und Tilman Fromelt Produktionsleitung: Elisabeth Bernroitner Produktionsassistenz: Dylan Butler Regieassistenz: Suzie Lebrun Regieassistenz Bühnenproben: Suzie Lebrun, Philipp Ehman 155

Bühnenbildassistenz: Tamara Raunjak Inspizienz: Sigmar Kusdas Bühnenbildhospitanz: Simone Arora Kostümhospitanz: Almasa Jerlagic Produktionshospitanz: Christina Pröll Technische Beratung: Bert Schifferdecker Technische Unterstützung: Richard Bruzek Organisatorische Mitarbeit: Julia Tauber-Lewisch Mitarbeit Zielgruppenarbeit: Fariba Mosleh

UMSETZUNG Die Brunnenpassage war seit ihrer Gründung mehrfach in Musikund Tanzproduktionen auf großen Bühnen und in Konzertsälen der Wiener Innenstadt involviert. Der Wunsch, in einer Eigenproduktion langjährige Mitwirkende verschiedener Formate der Brunnenpassage (Tanz, Gesang, DJing) gemeinsam auf die Büh-

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ne zu bringen, traf sich ideal mit der Initiative der Bank ­Austria, Produktionsmittel zur Verfügung zu stellen. Für Ausnahme­ zustand Mensch Sein wurden konzeptuell die zu erreichenden Zielgruppen auf zwei Ebenen definiert. Einerseits waren die beteiligten Darsteller*innen hinsichtlich ihrer sozio-kulturellen Diversität sowie ihrer vielseitigen Mitwirkung in bisherigen Formaten der Brunnenpassage wichtige Zielgruppe, andererseits sollte ein heterogenes Publikum erreicht werden. Das Grundkonzept zur Theaterproduktion wurde seitens der Brunnenpassage entworfen und es wurden Ziele formuliert, die den Rahmen für das Künstler*innen-Team setzten: etwa die Einbindung verschiedener Ausdrucksweisen wie Sprechen, Gesang, Tanz, DJing und auch die Mehrsprachigkeit im Inszenierungskonzept. Die Idee war, die vielen Umgangssprachen der Darsteller*innen auf der Bühne zum Ausdruck zu bringen, ohne sie in exotisierender Manier zur Schau zu stellen. Ohne Zuschreibungen und Schicksalsberichte von Individuen sollten die unterschiedlichen Hintergründe über Mehrsprachigkeit verhandelt und in einen Sprach-Klangteppich verwoben werden. Der Prozess sollte Begegnung zwischen allen Mitwirkenden initiieren und die Impulse des Aufeinandertreffens wiederum für die künstlerische Produktion nutzbar machen. Darüber hinaus galt es als Herausforderung, eine geeignete Spielstätte zu finden und eine Entscheidung bezüglich des Künstler*innenTeams zu treffen. Ausnahmezustand Mensch Sein wurde von Anfang an für eine große Stadt- oder Nationaltheaterbühne konzipiert, um kulturpolitisch transkulturelle Impulse zu setzen. Ein großes Haus zu finden erwies sich als äußerst herausfordernd. So wurde zunächst ein etabliertes Wiener Theater angefragt, welches in unmittelbarer Nähe der Brunnenpassage liegt, von der Publikums­ struktur jedoch weit davon entfernt ist. Nach anfänglicher Planung wurde nach einem halben Jahr die Zusammenarbeit seitens des Theaters wieder aufgelöst. Dies geschah aus verschiedenen, unter anderem auch finanziellen Gründen. Letztlich konnte das Volkstheater für das Vorhaben als Ko­ operations­partner gewonnen werden, was sich als sehr gelungen erwies.

KÜNSTLER*INNEN

Durch eine umfangreiche Recherche und persönliche Gespräche mit mehreren Regisseur*innen entschied sich die Brunnenpassage für eine Zusammenarbeit mit dem Schweizer ­Regisseur Daniel Wahl. Als Auswahlkriterien galten hier umfangreiche Erfahrung in der Regiearbeit mit großen Ensembles und bereits erfolgte Theaterproduktionen mit Laien-Darsteller*innen ­sowie Inszenierungen auf Staatstheaterbühnen. Mit Daniel Wahl wurden als Team Viva Schudt als Bühnenbildnerin sowie der ­Komponist und Musiker Benjamin Brodbeck für die musikalische Gesamtleitung engagiert. Im gemeinsamen Prozess wurde Shakespeares 'Der Sturm' als Ausgangsbasis für das Stück gewählt und Clemens Mädge als Autor angefragt. Das Engagieren eines Künstler*innen-Teams, das bereits miteinander gearbeitet hatte, war für einen eingespielten Produktionsprozess Bedingung. 159

Zum Team stieß auf Wunsch der Brunnenpassage die in Wien ansässige Dramaturgin Vanja Fuchs hinzu. Aufgrund früherer gemeinsamer Projekte stellte sie eine wichtige Schnittstelle zwischen leitendem Künstler*innenteam und Brunnenpassage, aber auch zur Wiener Theaterszene dar. Das Proben in Anwesenheit mehrerer Künstler*innen verschiedener Kunstdisziplinen erwies sich in der Arbeit mit der großen Gruppe von Laiendarsteller*innen unterstützend, ebenso wie das Arbeiten in Untergruppen. Bert Schifferdecker, damaliger technischer Leiter der Brunnenpassage, hat den gesamten Probenprozess als technischer Berater unterstützt und ist als Lichtdesigner zum Künstler*innenteam hinzugestoßen. Ergänzt wurde das Regieteam zu einem späteren Zeitpunkt um Kostümbildnerin Katharina Kappert, die als Mitarbeiterin des Volkstheaters als wichtige Anbindung dorthin fungierte. Suzie Lebrun wurde von der Brunnenpassage als Regieassistentin eingebracht.

INSZENIERUNG

Ausgangsbasis für diese Produktion waren die Arbeitsgrundlagen der Brunnenpassage, die Inszenierung wurde durch den Regisseur und das künstlerische Team erarbeitet. Angelehnt an Shakespeares Vorlage, doch nicht im Sinne einer werk- und wortgetreuen Inszenierung, wurden auch individuelle Erfahrungen der Darsteller*innen künstlerisch bearbeitet. Innerhalb des Stücks gab es keine klaren Rollen, alle Darsteller*innen waren ein Teil von Prospero - alle wurden zu einem. Und der Eine zerlegte sich in viele Einzelteile, um zu überleben. Ein Mensch durchlebt in seinem Inneren alle Ausnahmezustände, die viele verschiedene Menschen erlebt haben. So gab es in der Inszenierung viele Sprechchorpassagen, Musik und Sounds waren sehr präsent. Das räumliche Arbeiten mit Gruppe versus Einzelnen tauchte immer wieder auf. Hinsichtlich des Bühnenbildes wurde von Bühnenbildnerin Viva Schudt stark auf die Arbeit mit Wasser zurückgegriffen, sowie vermehrt Lichtprojektionen umgesetzt.

DIE DARSTELLER*INNEN

Die Gruppe der Darsteller*innen setzte sich aus 30 Personen zusammen: Schüler*innen, Student*innen, Menschen mit und ohne offizieller Arbeit(-serlaubnis), mit und ohne Migrationsoder Fluchterfahrungen, Pensionist*innen, Angestellte etc. Der jüngste Darsteller war 14 und die älteste 61 Jahre alt. Teil des Ensembles auf der Bühne waren ebenfalls drei DJn*s aus dem Kollektiv Brunnhilde. Im Falle von Ausnahmezustand Mensch Sein wurde bewusst auf eine öffentliche Ausschreibung oder ein Casting verzichtet. Alle Darsteller*innen, viele darunter langjährige Mitwirkende an den Projekten der Brunnenpassage, wurden persönlich eingeladen. Die Suche der Darsteller*innen hat von November 2012 bis März 2013 in der Brunnenpassage stattgefunden. Es wurden keine Vorerfahrungen auf der Bühne oder andere Kompetenzen vorausgesetzt. Die Brunnenpassage hat für dieses Projekt unter den Besucher*innen des regulären Programms gezielt Interessierte angesprochen und somit eine sehr engagierte und vielfältige Gruppe zusammengestellt. Die Gruppe, wie sie am Premierenabend des 4. April 2014 schließlich auf der Bühne stand, hat sich über die Projektlaufzeit immer wieder gewandelt. Angefangen 160

estAdo de eXcePciÓn estreno ABs

oluto

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BÝt cˇlove˘kem PremiÉrA: 4. duBnA 2014

deBut: 4 de ABril de 2014 Adaptación de la obra de William shakespeare la tempestad

˘ de stAreA de urgentA ,

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˘ PremierA

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Premiera: 04 kWieCien´ 2014 na podstawie sztuki Burza autorstwa Williama szekspira

dupa˘ furtuna de William shakespeare

¡teAtro PArA todos!

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teatr Dla WsZystkiCh !

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Premiere: 4. APril 2014

Premiere: 4th APril 2014

Biti cˇovjek

urAufführ

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first rePres

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from the tempest by William shakespeare

nach William shakespeares der sturm

theAter für Alle!

A PrvA izvedB

PremijerA: 4. APril 2014

PremiÈre

Ation rePrÉsent

d’Être humAin PremiÈre: 4 Avril 2014

prema drami Williama shakespearea oluja

Adapté de la tempête de William shakespeare

thÉâtre Pour tous!

kAzAlište zA sve!

theAtre for everyone!

l’ÉtAt d’urgence

紧急状态-

人 道

首演

首演日期: 2014年4月4日

비상 상태에 있는 되는 로 공개 상연

가장 최초

인간의 모습 - 은 첫공연은 2014년, 4월, 4일입니다 윌리암 세익스피어의 원 작품 폭풍 을 주제로 한 작품입니다

改编自威廉·莎士比亚-暴风雨

大众的剧场!

누구나를 위한 연극입니다

HIỆN TRẠNG ĐÁNG BÁO ĐỘNG: KHỞI DIỄ

statO Di emergenZa:

N

NHÂN TÍNH

Prima ass

KHỞI DIỄN VÀO NGÀY: 4/4/2014

DeBUttO : 4 aPrile 2014

Vở kịch của William Shakespeare BÃO TỐ

Da la tempesta di William shakespeare

teatrO Per tUtti!

RẠp HÁT cHO mọI NHÀ!

UsnaameZUÄstanD UrUFFüeri

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renDkÍVU˝li ÁllaPOt ˝ emUtatÓ OsB

mÄnsCh si

emBernek lenni

Prömiere: 4. aPril 2014

Premier: 2014 ÁPrilis 4.

nach äm sturm vom William shakespeare

theater Für alli!

OlUta

essere UOmO

William shakespeare a Vihar címu˝ drámája után

sZinhÁZat minDenknek!

i Z JemnO s ta n Je PraiZVeDB

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Biti CˇlOVek Premiera: 4. aPril 2014 Po igri Williama shakespearja Vihar

ˇ Za Vse! gleDaliŠCe

Olag˘anüstü hal

. insan Olmak . . ilk temsil

. . Prömiyer: 4 nisan 2014

William shakespeare´in Firtina´ya göre

. . . herkes için tiyatrO!

hatte das Projekt mit einer Gruppe von etwa 60 Personen. Wie bei Projekten dieser Art üblich, gab es starke Schwankungen in der Teilnehmer*innenzahl. So war zum Beispiel für eine Vielzahl von Beteiligten der anfänglichen Gruppe das Projekt zu intensiv, und die langen Probenblöcke sehr fordernd. Manche konnten ihre berufliche Tätigkeit und ihr Privatleben nicht mit diesem hohen Zeitaufwand vereinbaren. Im Sommer 2013 verließen drei Darsteller*innen die Gruppe, da der intensivste Probenblock von Mitte Juli bis Mitte August stattfand und somit ungewollt auf die Zeit des Fastenmonats Ramadan fiel. Aufgrund des Fastens und der sehr heißen Sommertemperaturen war es ihnen nicht mehr möglich am Probenprozess teilzunehmen. Als Arbeitssprachen des Projekts wurden Deutsch und Englisch gewählt. Daniel Wahl hat während der Probenblöcke wichtige Textpassage und Anweisungen ins Englische übersetzt, zusätz-

lich dolmetschten die Darsteller*innen untereinander. Dies war für einige dennoch eine große Herausforderung und für einzelne ein Grund aus dem Probenprozess auszusteigen. Für einen Darsteller mit geringen Deutsch- und Englischkenntnissen wurde die Gesamtheit des von Clemens Mädge verfassten Textes auf Dari übersetzt, um das Verständnis und die Nachvollziehbarkeit des Textes zu gewährleisten. Für ihre Teilnahme erhielten die Darsteller*innen eine Aufwandsentschädigung. Das üblicherweise im professionellen Produktionsbetrieb strikte Korsett von Probenzeiten und Anwesenheitsplicht wurde mit Rücksicht auf die verschiedenen Lebensrealitäten der Darsteller*innen aufgeweicht, was vor allem viel organisatorisches Geschick im Produktionsteam erforderte. Seitens der Brunnenpassage wurden die DJn*s des Kollektivs Brunnhilde in die Theaterproduktion eingebunden. Im Zentrum stand eine künstlerisch-emanzipatorische Zielsetzung, um die DJn*s unter der Leitung von Benjamin Brodbeck verstärkt in die Musikproduktion zu involvieren. Petra Grošinić, Theda ­Schifferdecker und Christina Steyskal aus dem DJn* Kollektiv Brunnhilde brachten sich künstlerisch im Bereich der Klanggestaltung und des Live-DJings ein. Christina Steyskal spielte darüber hinaus auch live am Schlagzeug. 162

REALISIERUNG Für die Gesamtkoordination war eine hauptverantwortliche Produktionsleitung unabdingbar, die Dreh- und Angelscheibe der Kommunikation war und auf organisatorischer Ebene sämtliche Probenpläne, Termine, Deadlines sowie das Budget überblickte. Die Produktionsleitung war darüber hinaus für die Kommunikation zwischen der Brunnenpassage und dem Künstler*innen-Team verantwortlich. Ferner war die permanente inhaltliche Abstimmung zwischen den Zielen der Brunnenpassage und den Kooperationspartner*innen Teil der Agenda. Der Auswahlprozess sowie die Betreuung und Unterstützung der Darsteller*innen durch die Produktionsassistenz waren besonders arbeitsintensiv. Mit dem Bestreben neue Publika zu erreichen hat die Brunnenpassage gemeinsam mit dem Volkstheater ein eigenes Werbekonzept ent­wickelt. Die Probephasen fanden an insgesamt 53 Tagen in

Blöcken statt. Es wurden verschiedene Proberäume genutzt, bei freien Kapazitäten auch die Brunnenpassage. Im Juli und ­August 2013 fand der intensivste Probenblock im Hundsturm, einer ­Bühne­des Volkstheaters, statt. Die Inszenierung des Stücks wurde während der Endproben finalisiert. Diese fanden zwei Wochen vor der P­remiere im vollständigen Bühnenbild auf der Hauptbühne des Volkstheaters statt. Licht- und Tondesign sowie die ­Kostüme wurden in der Phase der Endproben fertiggestellt. Zwischen den Probephasen organisierte die Brunnenpassage wöchentliche Theaterworkshops exklusiv für die Darsteller*innen. Diese dienten dem Training von Körper und Stimme und hatten unter anderem zum Ziel, den Zusammenhalt der Gruppe und das Selbstver­trauen der Einzelnen zu stärken. Darüber hinaus fanden Termine für Textproben und zu chorischem Sprechen statt.

DIALOGGRUPPENARBEIT

Für Ausnahmezustand Mensch Sein war die Diversität in der Zusammen­setzung der Gruppe der Darsteller*innen von großer Bedeutung. Auf kulturpolitischer Ebene war eine Öffnung des Volks­theaters für neue Publika das Ziel. Von Beginn an lag ein Schwerpunkt in der gemeinsamen ­Öffent­lichkeitsarbeit mit dem Volkstheater und der Bank Austria. 163

Im Oktober 2013 und somit bereits sechs Monate vor der Premiere wurde eine gemeinsame Pressekonferenz von den Presseabteilungen der Caritas Wien, des Volkstheaters und der Bank Austria in der Roten Bar des Volkstheaters abgehalten. Karl Markovics stellte sich für die Öffentlichkeitsarbeit zur Verfügung. Es wurden Pressemappen in den Sprachen Deutsch, Englisch, Bosnisch/­ Kroatisch/Serbisch und Türkisch sowie ein Trailer produziert. Dank der guten Zusammenarbeit aller drei Institutionen, wurden bereits die Proben immer wieder von Journalist*innen unterschiedlicher Tageszeitungen und Magazine begleitet und überwältigend viele Artikel publiziert. Um Menschen unterschiedlicher Erstsprachen anzusprechen, wurden seitens der Brunnenpassage neben dem allgemeinen Einladungsflyer mit mehrsprachigem Slogan auch Werbeträger (Sticker und Poster) in 19 Sprachen produziert, die ab dem Zeitpunkt der Pressekonferenz in Wien gestreut wurden. Die Auswahl an Sprachen ergab sich aus der Gesamtheit der auf der Bühne und in der Crew gesprochenen Sprachen. Ergänzend wurde der Schwerpunkt auf die Vernetzung mit unterschiedlichen Multi­ plikator*innen gelegt, wodurch (post-)migrantische Kulturvereine, ­befreundete Künstler*innen, Botschaftsvertretungen und bekannte Personen aus Kunst- und Kulturpolitik eingeladen wurden. Generell gilt für alle Veranstaltungen der Brunnenpassage vor Ort am Brunnenmarkt, dass der Eintritt kostenlos ist. Im Falle von Ausnahmezustand Mensch Sein war es bedeutsam, Wege zu finden, die für manche unüberwindbare finanzielle Hürde der

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Eintrittskarte im Volkstheater aus dem Weg zu räumen und die Schwelle durch Freikartenkontingente und große Kontingente an Kulturpass-Karten möglichst niedrig zu halten. Neben der finanziellen Barriere sind es jedoch auch andere Hemm- und Schwellenängste, die daran hindern an kulturellen Veranstaltungen teilzunehmen. Der Kartenvorverkauf verlief über die üblichen Wege des Volkstheaters, wobei auch ein großer Anteil an Kartenkontigenten an Kund*innen der Bank Austria vergeben wurde. Die Brunnenpassage hatte ebenfalls eigene Kartenkontingente und veranstaltete auch am Brunnenmarkt einen Vorverkauf. Darüber hinaus wurde dankenswerterweise ein Extrakontingent an Kulturpass-Karten zur Verfügung gestellt.

FINANZIERUNG

Bei der Theaterproduktion war die solide Finanzierung durch den Sponsor Bank Austria Voraussetzung. Im Falle der Brunnenpassage hätte eine Großproduktion dieses Umfangs nicht über die Basisfinanzierung der Institution abgedeckt werden können. Trotz abgesicherter Finanzierung waren die internen Personalressourcen durch das Projekt sehr strapaziert.

POSTPRODUKTION

Das Theaterstück Ausnahmezustand Mensch Sein hat sich während der Projektlaufzeit von fast zwei Jahren bis zur ­Premiere laufend weiterentwickelt, dies wurde seitens der Brunnen­ passage umfassend durch Fotos, Videos von Proben und

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Aufführungen sowie Interviews auf der Website dokumentiert. ­Darüber hinaus wurde der Produktionsprozess über acht Monate von ORF III dokumentiert, die Premiere mitgeschnitten und im Nachhinein eine 20-minütige Dokumentation ausgestrahlt. Nach der letzten Vorstellung folgten viele Nachbereitungen wie die Durchführung der Endabrechnung, Lagerung des Bühnenbildes, Erstellung eines Pressespiegels, Danksagungen an alle Beteiligten, Anfertigung eines Fotobuches für die Mitwirkenden, Nachbereitungstreffen der Darsteller*innen etc. Die beteiligten Darsteller*innen nehmen nach Abschluss der Theaterproduktion größtenteils weiter an Brunnenpassage-Formaten teil. Aufgrund vielseitiger Anfragen wurde in der Brunnenpassage ein Theaterund Performancebereich etabliert, im Rahmen dessen sowohl neue Koproduktionen erarbeitet werden als auch eine monatliche Theater- und Performancegastspiele präsentiert und ­monatliche Theater-Workshops angeboten werden. Wichtig war es mir das Projekt zu unterstützen, weil ich am eigenen Leib erfahren habe, was Theater mit einem Menschen macht. Was die Beschäftigung mit den Urgedanken der Menschheit macht: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? – und das sind auch die Urgedanken des Theaters, was das mit jemandem macht. Darum fand ich dieses ­Projekt auch so spannend, weil es Menschen sind, die keine professio­ nellen Schauspieler*innen sind. (...) Idealerweise kann Begegnung oder Beschäftigung mit Theater eine wahrhaftigere Auseinandersetzung mit dem Leben, mit dem eigenen Ich bringen. Karl Markovics, 2014

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ORF III - Dokumentation Ausnahmezustand Mensch Sein Code scannen Video ansehen

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Gordana Crnko

StraßenKunstFest Seit Juni 2013 jährlich Das StraßenKunstFest ist ein Projekt, das 2013 auf Initiative der Interessensgemeinschaft der Kaufleute im Brunnenviertel und der Brunnenpassage entstanden ist. Seitdem findet das Fest einmal im Jahr statt. Ganztägig wird an einem Samstag im Juni für die Bewohner*innen rund um den Brunnenmarkt an mehreren im Markt bzw. im Yppenpark platzierten Spielorten ein umfangreiches Programm geboten mit Klanginseln, mobilen Straßen-, Musik-, Zirkus- und Tanz-Acts, einem Kunstmarkt und vielen Möglichkeiten zum Mitmachen.

IDEE UND KONZEPT

Die Besonderheit dieses Festes ist die Kooperation sehr vieler lokaler Initiativen und Organisationen im Brunnenviertel, die zu diesem Anlass zum allerersten Mal in dieser Größenordnung zustande kam. Die Interessensgemeinschaft der Kaufleute im Brunnen­viertel (IG Brunnenviertel) organisiert federführend das Fest in Kooperation mit dem Bezirk Ottakring, der Gebiets­ betreuung 7/8/16 (GB*west), NONO, ::Kunst-Projekte::, dem

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­ iener­Markt­management, der MA59 - Marktservice & LebensW mittelsicherheit und den Wiener Einkaufsstraßen (WKO im Bezirk). Die künst­lerische Leitung übernahm von Anfang an die Leiterin des Musikbereichs der Brunnenpassage, die auch als Mitinitiatorin des Festes fungierte. Konzeptuell steht das Ineinanderfließen von Kunst und Alltag im Vordergrund. Die Künstler*innen ­treten­großteils direkt auf der Straße auf, die Trennung zwischen Publikum und Bühne wird weitestgehend aufgelöst und Zugangsschwellen auf ein Minimum reduziert. Partizipative Konzepte sowie Workshop- und Mitmachformate sind zentrale Punkte des bunten Treibens. Das erste Fest im Juni 2013 wurde zunächst noch als ein einmaliges Ereignis konzipiert. Angefangen hat es damit, dass die IG Brunnenviertel nach einem Sommer-Pendant für das seit einigen Jahren stattfindende Herbstfest gesucht hat. ­Parallel hatte die Brunnenpassage eine kleine Veranstaltung mit Straßen­musiker*innen geplant, die bei schönem Wetter in der Umgebung der Brunnenpassage stattfinden sollte. Bei einem Kaffeeplausch wurde die Idee geboren, dass sich die beiden Konzepte sehr gut miteinander kombinieren ließen. Die positiven Rückmeldungen der Besucher*innen und aller Beteiligten im Anschluss an das erste Fest führten zu der Entscheidung, das StraßenKunstFest regelmäßig jährlich zu veranstalten.

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Das StraßenKunstFest fand in den ersten Jahren Open Air über den ganzen Tag verteilt entlang des Brunnenmarkts statt und erstreckte sich von der Ottakringerstraße bis hin zur Grundsteingasse. Ab 2016 hat sich das Geschehen in den oberen Teil des Marktes verlagert und findet mittlerweile hauptsächlich im Park am Yppenplatz und den angrenzenden Straßenzügen statt. Zeitlich wurde der Schwerpunkt für das künstlerische Programm in den Nachmittag bzw. Abend gelegt. Jedes Jahr nehmen mehr als 300 Mitwirkende am Programm teil. Tausende Besucher*innen und Passant*innen sind über den Tag verteilt Teil des Festes. Viele Einzelpersonen und Initiativen wirken ehrenamtlich mit.

UMSETZUNG

Das Fest wurde im ersten Jahr des Bestehens ab Februar bis zum Festtag im Juni parallel zu allen anderen laufenden Musikprojekten der Brunnenpassage sehr kurzfristig organisiert. Über die Jahre kamen immer mehr Erfahrungswerte dazu, sodass sich die Organisation mit den Kooperationspartner*innen immer ­besser eingespielt hat. Mindestens ein halbes Jahr Vorbereitungszeit ist für ein StraßenKunstFest dieser Größenordnung unabdingbar. Einer der Grundgedanken ist, über das Fest viele alte und neue lokale Partner*innen (besser) kennenzulernen und zu vernetzen. Darüber hinaus können mit einem solchen Format Impulse in der lokalen Umgebung gesetzt werden. Orte, die von bestimmten Personengruppen frequentiert werden, können durch anregendes Programm für weitere Menschen interessant werden, wodurch öffentliche Räume heterogener gestaltet werden können. Ein partizipatives Projekt, das von so vielen Initiativen mitgetragen wird, fördert die Identifikation und erreicht sehr viele Menschen unterschiedlicher Communities. Jedes Jahr kommen neue Partner*innen dazu, in den meisten Fällen bleiben diese auch für die nächsten Jahre in das Festgeschehen involviert. Somit wächst das Netzwerk der Mitwirkenden jedes Jahr aufs Neue. Durch die vielen Vorbereitungstreffen und das gemeinsame Tun entsteht Raum, sich besser kennenzulernen, was dem nachbarschaftlichen Miteinander für den gemeinsamen Alltag nachhaltig sehr dienlich ist.

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KÜNSTLER*INNEN UND INITIATIVEN Ziel des Festes ist es unter anderem möglichst viele lokal ­ansässige Künstler*innen, Vereine in der Umgebung – insbesondere Kultur- und Migrant*innenvereine – jedoch auch Pensionist*­innenvereine, Restaurantbesitzer*innen, Volkshochschulen, Sprachschulen aber auch Marktstandbetreiber*innen etc. zu kontaktieren und sie zu ermutigen, sich beim StraßenKunstFest zu beteiligen. Vernetzung funktioniert generell über einen konkreten Anlass wesentlich besser als ohne einen solchen. Die betreffenden Gespräche finden das ganze Jahr statt, im Grunde hört die Vernetzungsarbeit in der Umgebung nie auf. Für die Brunnenpassage ist das StraßenKunstFest außerdem eine wunderbare Gelegenheit, viele Künstler*innen, Initiativen und Projekte kennenzulernen, die vielleicht auf Dauer für eine Zusammenarbeit interessant sind. Auf lokaler Ebene geht es in einem ersten Schritt um die Einbindung möglichst vieler unterschiedlicher Communities. In einem zweiten Schritt ist es entscheidend, ein qualitatives künstlerisches Programm zu kuratieren. So leben im Brunnenviertel viele großartige Künstler*innen, dazu werden auch noch einige überregionale Bands, Tanzkompanien oder Artist*innen engagiert. Entsprechend den zahlreich vertretenen Communities am Brunnen­markt wird besonderer Wert darauf gelegt, Künstler*innen mit unterschiedlichen Backgrounds auftreten zu lassen. Diese bringen oftmals ihr Stammpublikum mit, welches sich anschließend weitere Programmpunkte ansieht bzw. an Workshops teilnimmt. Und genau hier liegen die Hauptziele des StraßenKunstFests: Einbindung verschiedener Communities, mit gleichzeitigem Erschaffen von Begegnungsorten in den sonst relativ strikt regulierten öffentlichen Räumen. Und das geht in alle Richtungen: Es wurde schon zu Davul & Zurna getanzt, aber auch Wiener Lieder (mit-)gesungen, Puppenbauworkshop abgehalten und ein Jazzkonzert am Flügel gespielt – das StraßenKunstFest ist für alle da. 179

REALISIERUNG Ein Open-Air-Event dieser Größenordnung bedarf eines enormen Koordinationsaufwandes. Die umfangreiche Arbeit ist aller­ dings immer als langfristige Vernetzung anzusehen. Diverse technische Fragen, behördliche Genehmigungen, Bewerbung und logistische Planungen werden von den Kooperations­ partner*innen und der Brunnenpassage gemeinsam organisiert. Im Falle von Schlechtwetter sind Möglichkeiten zum Ausweichen einzuplanen, genauso wie Räume für die Künstler*innen mit ­ihren Utensilien und Instrumenten. Zentral ist das Vorhandensein eines übersichtichen Plans und umfangreicher Checklisten für alle Beteiligten. Eine minutiöse Planung hat zum einen natürlich den Zweck für die reibungslosen technischen Abläufe zu sorgen. Viele Wege müssen gleichzeitig erledigt werden, Umbauten finden oft gehäuft statt, zeitliche Verschiebungen sind nicht zu vermeiden und müssen daher von Anfang an mitbedacht werden. Zum ­anderen dient die detailverliebte Planung dem paradoxen Sinn, nach außen hin den Eindruck von Spontanität zu erzeugen. So werden häufig sogenannte Walking Acts auf nicht gekennzeich-

neten Spielorten eingeplant: Künstler*innen treten wie aus dem Nichts auf, ohne Ankündigung spielen sie einen kurzen Act oder laden Passant*innen zum Mitmachen ein. Dadurch wirkt das Fest sehr spontan und voller Überraschungen, dies funktioniert jedoch nur wenn alle Einzelteile perfekt in einander greifen und zeitliche Abläufe genau aufeinander abgestimmt sind. Unterstützt wird dieser Effekt auch durch die Kommunikation des Programms. Es werden zwar bei den einzelnen Spielorten Plakate zur Orientierung aufgestellt, an denen die Acts in der richtigen Reihenfolge angeführt sind. Es gibt aber darüber hinaus keinen exakten Festival-Plan auf dem man alle Einzelheiten erkennen kann. Dadurch soll eine Einladung kommuniziert werden, sich auf das Geschehen einzulassen, ohne auf die Uhr zu schauen. Alle Acts finden aus diesem Grund mehrmals statt, auch damit wird den Besucher*innen der Druck abgenommen, eine Aufführung ‚erwischen‘ zu müssen. 180

Von der Ästhetik her lebt das Fest von einem Wohnzimmer-Flair. Bühnen sind in dem wörtlichen Sinne nicht vorhanden, es gibt mehrere Spielorte, die alle als unterschiedliche Wohnzimmer eingerichtet werden. Auch die sogenannte Hauptbühne besteht aus keinen klassischen Bühnenelementen, sondern aus einer großen hölzernen Sitzfläche, die mitten im Park steht und auf der sich wunderbar spielen lässt. Schon mehrere Monate vor dem Fest wird mit dem Sammeln der Möbel angefangen, von Sofas bis Wohnzimmertischchen. Teppiche aller Art sind besonders gefragt. Die fixen Spielorte werden liebevoll als Wohn­zimmer gestaltet. Auch am Spielort selbst sitzen die Künstler*innen wenn möglich auf einem Fauteuil und haben eine Stehlampe als Beleuchtung dabei. Die Zuschauer*innen haben die Wahl, zwischen unterschiedlichen Wohnzimmermöbeln ihren Sitzplatz zu wählen. Es werden darüber hinaus auch ein paar Wohnzimmer Inseln aufgebaut ohne dass ein fixes Programm vor Ort stattfindet. Damit werden bewusst Möglichkeiten geschaffen, sich den öffentlichen Raum zu nehmen, die Umgebung als eigenes Wohnzimmer zu verstehen, und ohne Konsumzwang, ein ­gutes Gespräch in gemütlicher Atmosphäre zu führen, aber auch selbst ein Lied zu singen oder auf einer mitgebrachten Gitarre etwas

vorzuspielen. Durch diese Gestaltung und gezielte Verwendung der schon vorhandenen Elemente in der Umgebung wirkt das ganze Fest sehr freundlich und einladend, es gibt kaum Hürden zu überwinden.

THEMENSCHWERPUNKTE Das Programm des StraßenKunstFests ist jedes Jahr sehr ­divers, ganz unterschiedliche Acts werden geplant. Jedes Jahr gibt es jedoch einen Themenschwerpunkt, von dem sich die meisten Künstler*innen inspirieren lassen. Im ersten Jahr lag der Fokus auf ‚Straßenmusik‘, es folgten Schwerpunkte wie ‚Tanz‘ oder ‚Zirkus‘. Im Jahr 2015 war das Thema des StrassenKunstFests ‚Spiel‘. Sowohl ein Urban Game, das sich über mehrere Stunden erstreckte und große Teile des Festes integrierte, wie auch eine Spielestraße – ein extra bei diesem Fest für den Verkehr gesperrter Straßenabschnitt mit Spielgelegenheiten von Tischtennis bis Riesenmikado – waren integriert. Ein spezieller 181

­ rogrammpunkt beim StraßenKunstFest 2015 war das Hosten P des ersten ‚European Musical Saw‘ Festivals, das zum ersten Mal in dieser Form, unter der Organisation von Andreas Fitzner, die ­Größen der Kunstform ‚Singende Säge‘ aus der ganzen Welt nach Wien brachte. Im Jahr 2017 hieß das Motto ‚Wort.Sprache.Stimme‘. Das ­Programm umfasste viele Projekte, die sich mit den unterschiedlichen Sprachen des Viertels befassten. Das Stationen-Theaterstück Shalom Habibi umspielte das Geschehen. Besonders hervorgehoben hat sich das StraßenKunstFest des Jahres 2019, als das Fest im Rahmen des partizipativen Musiktheaterprojekts ‚Orfeo & Majnun‘ unter dem Motto ‚Love, Loss & Longing‘ erstmalig an zwei Tagen veranstaltet wurde. Das Fest fand 2019 neben der Zusammenarbeit mit den lokalen Partner*­ innen, zusätzlich in Kooperation mit dem Wiener Konzerthaus und Basis.Kultur.Wien/WIR SIND WIEN.FESTIVAL im Rahmen des EU-Projekts ‚Orfeo & Majnun‘ statt, welches durch das Creative Europe Programm der Europäischen Union kofinanziert wurde. Von Januar bis Juni 2019 wurden dafür vom Wiener Konzerthaus, der Basis.Kultur.Wien und der Brunnenpassage Workshops über die Themen ‚Love, Loss & Longing‘ in zahlreichen Genres wie Tanz, Musik, Poetry Slam, Virtual Reality, Film, Pantomime u. a. an vielen Orten in Wien umgesetzt. Im Rahmen des StraßenKunstFests wurden diese, sowie eine Vielzahl weiterer künstlerischer Beiträge, abschließend auf mehreren Bühnen verteilt aufgeführt. Das partizipative Musiktheaterprojekt ‚Orfeo & Majnun‘ verband die Sage ‚Orpheus und Eurydike‘ mit der Liebes­geschichte ‚Leila und Majnun‘. Den Abschluss dieses Projekts bildete die Österreich-­Premiere der Oper ‚Orfeo & Majnun‘, die am 10. Juni 2019 im Wiener Konzerthaus aufgeführt wurde. Auch der Brunnen­chor (siehe Kapitel Gesangsprojekte) war bei dieser Aufführung auf der Bühne des Wiener Konzerthauses mit dabei.

FINANZIERUNG

Es gibt seitens der Bezirksvertretung Ottakring, Bezirksvor­ste­ her Franz Prokop, sowie aus Mitteln der Stadt Wien durch die Wirtschaftsagentur Wien, mit Unterstützung der Wirtschafts­ kammer Wien ein kleines Budget, welches größtenteils eher geringe Gagen für die Künstler*innen abdeckt. Die Programm182

Organisation wird von der Brunnenpassage finanziert. Es gibt hilfreiche Sachspenden, Essens- und Getränkebons werden von der IG Brunnenviertel für die mitwirkenden Künstler*innen und die freiwilligen Helfer*innen zur Verfügung gestellt. Das StraßenKunstFest lässt sich falls nötig mit erstaunlich wenig Budget realisieren, jedoch sind Zeitressourcen in der Organisation über ein halbes Jahr Voraussetzung. Manchmal bekommen einzelne Projekte eine Extraförderung für die Aufführungen im öffentlichen Raum und können aus diesem Grund beim StraßenKunstFest stattfinden, da sie ohne die externe Finanzierung mit dem bescheidenen Fest-Budget nicht realisierbar wären. 2019 wurden durch die Mitwirkung der Brunnenpassage bei der Pro­ duktion Orfeo & Majnun des Wiener Konzerthauses zusätzliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt.

POSTPRODUKTION Im Anschluss an das Fest findet weiterhin eine Vernetzung ­zwischen den Akteur*innen statt. Zunächst gilt es, allen Beteiligten Dank auszusprechen, Feedback der Künstler*innen einzu­holen, Schwächen bei der Realisierung herauszufiltern und den ganzen Prozess intern zu reflektieren. Die Anrainer*innen und andere Beteiligte kennen einander nun besser als vorher und es ist wichtig diese Kontakte zu pflegen. Oft entstehen über eine erste Zusammenarbeit neue Projekte und es besteht mit einzelnen Künstler*innen beidseitig großes Interesse an ­Folgeproduktionen. Einzelne Programmpunkte können in das Folgeprogramm der Brunnenpassage einfließen. Wesentlich ist ein Feedback von den freiwilligen Mitarbeiter*­ innen einzuholen, da sie sehr viel zur Realisierung des Festes beigetragen haben und jährlich Arbeitsschritte für die Zukunft verbessert werden sollten. Es hat sich bewährt, auch schriftlich um Feedback zu bitten, um dieses gleich zu dokumentieren. Seit 2014 wird jedes Jahr eine Video-Dokumentation in Form eines

2- bis 3-minütigen Zusammenschnitts erstellt. Dieses ­Video zeigt die jeweiligen Highlights des Festes und wird außer­dem für die Ankündigungen im Folgejahr auf allen virtuellen ­Kanälen verwendet.

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BETEILIGTE Das StraßenKunstFest ist eine Kooperation der Brunnenpassage mit der IG Brunnenviertel, der GB*west, dem Bezirk Ottakring, NONO, der MA59 - Marktservice & Lebensmittelsicherheit, der WKO im Bezirk und vielen anderen. Gefördert durch die Bezirksvertretung Ottakring, Bezirksvorsteher Franz Prokop. Gefördert aus Mitteln der Stadt Wien durch die Wirtschafts­ agentur Wien. Ein Fonds der Stadt Wien mit Unterstützung der Wirtschaftskammer Wien. Künstlerische Leitung: Gordana Crnko Beteiligte Künstler*innen, Projekte & Initiativen Academia Flamenca, Adama Dicko Seno Blues, Aerdung, Aftermath Dislocation Principle / Jimmy Cauty, Alessandra Tirendi, Alexia Chrisomalli, Ali Ay, Alireza Daryanavard & (DARYA), Ammar Alabd Alhamid, ARTA, Artis Astra, Aşkın & Coşkun, A Wiener halal!, Aybike Kaya, Banda Caburé, Barka, Basma Jabr, Belle Etage Streettheater, BildSprachBox, Billy & Johnny, Blickwinkel - Comic Street, BO3 & friends urban dance, Brigitta Maczek & Mona Hollerweger, Brunnenchor, Burning Börnie, Café Olga Sanchéz, Charlotte Ruth, Chega de Soro, Chilifish, Christian Bakanic, Circus Luftikus/JUVIVO 15, Dagmar Benda, DanceJam featuring VHS 17, Das Institut für Sprachkunst der Angewandten, Das Modular Synthesizer Ensemble, David Schweighart, Der Schwarm, de YPPIES, Didie Caria, Die Ungeraden, Die Wödmasta, DJn* Kollektiv Brunnhilde, [dunkelbunt] DJ Set, Duo Inverso, Duo Schlader-Oslansky, ELEMU-Chor der Volkschule Grubergasse / Leitung Rafael Neira Wolf, Esmeraldas Taxi, EsRAP, Fábio Coutinho Altenburg, Fesih Alpagu, Fii, Florian Kalaivanan & Ruth Biller & andere vom C³ = Curious Circus Collective, Florian Nitsch & Fariba Mosleh, Frauen in Weiß / Leitung Ivana Ferencova, Fruit & Flower, Futurelove Sibanda, Fuzzy Riot, Georg Baum, Golnar & Mahan Duo, Groove!, Halay City Marathon, HALS, Hans Tschiritsch, imPrOP / Leitung Helene Griesslehner, I Parea, Ismar & Friends, Jazzkovsky, Jeanskamel, Judith Aguilar, Jugendorchester Ragazzi Musicali, Juliett Prohaska, Karim Chajry & Maghreb Vibration Trio, Karin LaBel, Kaveri & Philipp Sageder, Kid Pex, Kinderchor, Kroatischer Sport- und Kulturverein Busovača, KunstMeeting, KunstKamion, La Masutra, Lina Maria Venegas, Luis Widmoser & Karin Cheng, LutherBandAdults, Madera Vienna, Manuel Wagner, Maracatu Renascente, Maria Thornton, Marie Spaemann, Marijan Raunikar, Markt_platz, Martha Jarolim, Marwan Abado, Masala Brass Kollektiv, Michael Fischer, Michael Pöllman, Microsoccer, Minimal Twango, Monakultur, Moneim Adwan, Moneka Group, Moša Šišic & The Gipsy Express, MusikarbeiterInnenkapelle, Musikkapelle Söchau / Leitung Antonio Lizarraga, Musisches Zentrum Wien, Onon Muren & Chiao-Hua Chang, Orchester des Musikzweiges des Gymnasiums Boerhaavegasse / Leitung Peter Manhart, Orquesta Típica ViTa MusicA, Parkbetreuung der Kinderfreunde, Passion Artists / Leitung Sabina Zapior & Dante Valdes & Stephen Ellery, Peña Flamenca La Granaina Wien, peu à peu!, Pfao!, Phone 3 Phone, Play Together Now, Princesse Angine, Puzzle People, Rap Chor, Recycling-Kosmos, Richard Bruzek, Roma Verein Vida Pavlović, Romy Kolb, RONJA* & Pavel Shalman Duett, Salam Hawara, Schayhan Kashemi, Shalom Habibi, Sheri Avraham, Shiho Mizoguchi, Soia & Vale, Stefan Fraunberger, 184

street game conspiracy, Studierende der Abteilung Tanz der MUK Privatuniversität Wien / Leitung Elena Luptak & Esther Balfe & Saskia Tindle & Nora Schnabl & Virginie Roy & Christina Medina & Nikolaus Selimov & Marijke Wagner & Jolantha Seyfried, Superar-Chöre der Volkschulen Wichtelgasse und Gaullachergasse, Superar Musikgruppe von Back on Stage 16/17, SuperSoulMe, Susita Fink, Tahereh Nourani-Mokaramdous, Taiwan Chor in Wien / Leitung Ruei-Ran Wu, Tangomolino, Tanz die Toleranz, Tanzkaraoke Cie. Willi Dorner, textstrom Poetry Slam, The First European Musical Saw Festival, THE JamKat PROJECT, Tischfussballbund Wien, Trickfilmprojekt Unerhört, Trio Amarcord, Uli Scherer & Wolfgang Puschnig, Ulli Fuchs, Ulrike Wieser & Karoline Grün, Verein Cocon, Verein GIN, Verein Töchter der Kunst, VHS Ottakring, Via Lentia, Vila Madalena, Waltraud Brauner, Wiener Spielwut, Yu Chen, Yuki liest, Zauber der Sitar, ZukunftsKwizin u.a.

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Gordana Crnko

Gesangsprojekte in der Brunnenpassage Seit 2007 fortlaufend Singen ist eine der ältesten Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen. Es wirkt unmittelbar und intensiv und ermöglicht sowohl einen individuellen Ausdruck als auch Kommunikation untereinander. Gemeinsames Singen schafft trotz Sprachbarrieren ein Miteinander und bietet sich schon deshalb als künstlerische Form für die Brunnenpassage an. Damit stellen die Gesangsprojekte einen elementaren Programmbereich in der Brunnenpassage dar.

IDEE UND KONZEPT

Die Angebote beim Gesang sind hinsichtlich der Zugänglichkeit aufgebaut und erstrecken sich von offenen Workshops über geschlossene Gruppen bis hin zu partizipativen Konzertformaten. Stilistisch wird im ganzen Musikbereich der Schwerpunkt auf inter­disziplinäre und transkulturelle Projekte gesetzt, öfters entlang der Schnittstelle zwischen zeitgenössischen und traditionellen Aufführungspraxen. Dieses Konzept wird auch beim Kuratieren

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der Gesangsformate verfolgt und versucht damit neue, spannende Ästhetiken entstehen zu lassen, aber auch einen einfachen Einstieg für ganz unterschiedliche Teilnehmer*innen zu schaffen. Die Brunnenpassage setzt bewusst auf kollektive Formate, in denen sich Menschen mit und ohne Erfahrungen gleichermaßen einbringen können. Der besondere Fokus liegt darauf, Menschen, die bisher kaum Gelegenheit hatten sich mit Gesang näher zu beschäftigen, abzuholen und ihnen einen lustvollen Einstieg sowie in späterer Folge die problemlose Teilnahme an einem der angebotenen Formate zu ermöglichen. Vorerfahrungen sind ­keine Bedingung zur Teilnahme, genauso wenig wie musikalische Kenntnisse wie etwa Notenlesen. Hier die einzelnen Formate im Überblick: ―

Stimm Workshops ist eine offene Stimm-Trainingsreihe für alle Gesanginteressierten.



Chöre Brunnenchor ist ein geschlossenes, altersübergreifendes aufbauendes Format. Kinderchor ist ein Angebot für Kinder zwischen 6-11 Jahren. Rap Chor spricht hauptsächlich Jugendliche und junge Erwachsene an.

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Sing Alongs ermöglichen als Kooperationsformat den Brückenschlag zwischen der Brunnenpassage und dem Wiener Konzerthaus.

Während Stimm Workshops leicht zugänglich und unverbindlich sind, haben die drei Chorformate einen höheren, wenn auch nicht gleich ausgeprägten Verbindlichkeitsgrad. Die Sing Along Produktionen ermöglichen den Sänger*innen des Brunnenchors sowie vielen Besucher*innen der Brunnenpassage, Teil eines besonderen Konzerterlebnisses zu sein.

STIMM WORKSHOPS

Stimm Workshops finden seit 2009 wöchentlich für je eine Stunde in der Brunnenpassage statt. Das (Neu-)Entdecken der eigenen Stimme und die Freude am Singen werden durch ­wechselnde Gesangsdozent*innen und Stimmtrainer*innen vermittelt. Das Spektrum reicht von Atemtechniken und Körperarbeit über Rhythmusübungen oder Grundlagen des Obertongesangs bis hin zu einfachen Kanons und gemeinsamem Improvisieren. Vorerfahrungen und Anmeldung sind nicht notwendig. Entstanden ist das zusätzliche Angebot durch das rasche Wachstum des Brunnenchors und die Herausforderung, neuen Interessierten mit unterschiedlichen Vorerfahrungen zu begegnen. Stimm Workshops sind nicht als reines Angebot für Anfänger*innen zu verstehen. Viele Mitglieder des Brunnenchors nehmen regel­ mäßig an Stimm Workshops teil und nutzen die Veranstaltung als Warm-up für die anschließend stattfindende Chorprobe. Auch ein anderer Aspekt macht Stimm Workshops zu einem sehr wertvollen Instrument für den ganzen Musikbereich der Brunnen­ passage: Durch das Prinzip der wechselnden Tutor*innen eignen sich Stimm Workshops sehr gut dazu neue Künstler*innen im Bereich Gesang praxisorientiert kennenzulernen. Die wöchentliche Teilnehmer*innenanzahl liegt bei 20-40 Personen.

BRUNNENCHOR

Brunnenchor Stadt Wien Beitrag Code scannen Video ansehen

Der Brunnenchor wurde im Herbst 2007 gegründet und ist somit eines der ältesten Projekte der Brunnenpassage. Während die erste Chorprobe 2007 mit insgesamt 8 interessierten Sänger*­ innen stattfand besteht der Chor mittlerweile aus etwa 120 Sänger*­innen, die gemeinsam wöchentlich proben und regelmäßig Konzerte veranstalten. Das Repertoire ist sehr breit gefächert - jährlich werden ein bis zwei Programme zusammengestellt, deren Schwerpunkte stilistisch, durch eine Zeitepoche oder durch ein inhaltliches Thema definiert sein können. Ein Markenzeichen des Brunnenchors sind die vielen Sprachen in denen gesungen wird. Im Durchschnitt finden jährlich 11 Auftritte statt, sei es im Wiener Konzerthaus, bei der Langen Nacht der Kirchen, im Schauspielhaus, Open Air am Markt oder im Gemeindebau, im Semperdepot oder im Waschsalon in der Ottakringer Straße. In den ausgewählten künstlerischen Kooperationen spiegelt sich das breitgefächerte Repertoire des Brunnenchors wider: ―

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Regelmäßige Höhepunkte waren seit 2009 die zweimal jährlich stattfindenden Sing Along Konzerte im Mozartsaal des Wiener Konzerthauses und in der Brunnenpassage



Kooperation mit dem Wiener Konzerthaus bei der Musiktheaterproduktion ‚Orfeo & Majnun‘ (2019)



Auftritt am Heldenplatz beim Lichtermeer für Ute Bock (2018)



Auftritt im Rahmen des Festivals Urbanize! (2016)



Auftritt im Rahmen von Bath Fringe Festival (2015)



Mitwirkung bei der Kundgebung One Billion Rising vor dem Wiener Parlament (2015)



Auftritt in der Urania mit Elżbieta Towarnicka im Rahmen des Let’s Cee Film Festivals (2014)



Mitwirkung bei der Theaterproduktion ‚Die Ereignisse‘ im Schauspielhaus Wien (2013)



Gemeinschaftskonzerte mit dem Vienna Improvisers Orchestra u. a. mit Limpe Fuchs und Michael Fischer im Rahmen von Wien Modern (2012)



Aufnahmen für eine Videoinstallation im Rahmen der Ausstellung ‚In Arbeit‘ im Technischen Museum Wien (2011)



Gemeinschaftskonzert mit den Wiener Sänger­knaben in der Brunnenpassage (2011)



Auftritt im Rahmen der Tanzshow Colour your Life der Brunnenpassage mit der Company IYASA (2010)



Kooperation mit den Wiener Festwochen/Into the City mit Ex-Yugo-Kultsänger Vlada Divljan bei der Eröffnung von Soho in Ottakring (2010)

KINDERCHOR Seit Oktober 2016 finden in der Brunnenpassage einmal pro Woche regelmäßig die Proben des Kinderchors statt. Ge­sungen werden Kinderlieder aus aller Welt, in vielen verschiedenen Sprachen. Bei der Auswahl des Repertoires werden jeweils die aktuell bei den Sänger*innen vorhandenen Sprachen ein­ bezogen. Der Kinderchor setzt sich aus 20-30 Kindern im Alter von 6 bis 11 Jahren, sowie aus 6-10 Musikbuddies zusammen. Musikbuddies sind Studierende der Wirtschaftsuniversität Wien, die gemeinsam mit den Kindern singen und darüber hinaus auch kleinere organisatorische Aufgaben sowie Betreuungspflichten übernehmen. Dieses Projekt arbeitet Semesterweise und endet jeweils mit zwei bis drei Auftritten.

Kinderchor WUtv Beitrag Code scannen Video ansehen

Der Grundstein für dieses Projekt wurde in ‚Lernen macht Schule‘ gelegt, eine Initiative, die sich seit 2010 für die gleichen Chancen auf Bildung für Kinder aus allen Bevölkerungsgruppen stark macht. Diese Initiative wurde von der Caritas Wien und der Wirtschaftsuniversität Wien gestartet und wird von REWE International AG monetär unterstützt. Die Brunnenpassage wurde als Kooperationspartnerin angefragt.

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RAP CHOR Singen ist einfach. Doch gibt es immer tausend Gründe, das Einfache nicht zu tun: Man fühlt sich blöd, spürt sich nicht richtig, will keinen Fehler machen, geniert sich, vertraut dem Nebenstehenden nicht. Ergibt, in Summe, eines der Grundübel unseres Zusammenlebens. Dann aber ist, am Dienstag der vergangenen Woche, Sing-along in der Brunnenpassage, und auf einmal haben alle Grundübel Pause. Alte und Junge, Trainingsanzüge und Sakkos, Stecktücher und Stoppelglatzen, die einen stopfen noch rasch Pizzareste in den

Mund, die anderen haben schon brav die Noten aufgefaltet. Mittendrin: Bratsche, Gitarre, Dudelsack, Monika Jeschko, Leiterin der Konzerthausjugend, und Gerald Wirth, Leiter der Wiener Sängerknaben. Wir singen ’Carrickfergus’, ’Whiskey in the Jar’ und andere irische Lieder. Der Rhythmus ist präzise, der Raum vibriert, und plötzlich ist alles ganz einfach. Aber ja, jeder Mensch kann singen! […] Ganz einfach ist das. Und doch so revolutionär.

Sibylle Hamann im Falter, 2014

Rap Chor ist das jüngste Projekt im Gesangsbereich der Brunnen­ passage. Gestartet wurde Rap Chor von Esra Özmen (EsRAP) und Betül Seyma Küpeli (Shayma) im Frühjahr 2018. Die beiden Gründerinnen wandten sich für organisatorische, technische und räumliche Unterstützung an die Brunnenpassage. Im Juni 2018 fand der erste große Auftritt im Rahmen der Kooperation mit den StadtRecherchen des Burgtheaters statt. Das Projekt wurde ab Herbst 2018 unter veränderter Leitung mit Jana Dolečki und Esra Özmen fortgesetzt, zunehmend entwickelte sich die Zusammenarbeit auch auf inhaltlicher und künstlerischer Ebene. Die Proben finden wöchentlich statt, Teilnehmer*innen schreiben die Texte der Songs selbst, am Ende jedes Semesters werden Auftritte geplant. Die Gruppe besteht aus fünf bis 30 Teilnehmer*innen mit zum Teil recht großer Fluktuation. Hauptsächlich als Angebot für Jugendliche und junge Erwachsene geplant, finden sich beim Rap Chor immer wieder Teilnehmer*innen ganz unterschiedlichen Alters.

SING ALONG

Sing Along ist ein partizipatives Konzertformat, das seit 2009 in Kooperation mit dem Wiener Konzerthaus stattfindet. Die Besucher*innen bekommen zu Beginn des Abends je ein eigenes Lieder­buch und werden aktiv zum Mitsingen eingeladen. Die Konzerte werden sowohl im Mozartsaal des Wiener Konzerthauses und als Stehkonzert in der Brunnenpassage dargeboten. Sing Along Produktionen sind damit ein wichtiger Brückenschlag. Der Brunnenchor bereitet sich im Vorfeld etwa zwei Monate lang auf das Sing Along vor, um dann zusammen mit einer Band das Publikum beim gemeinsamen Singen während des Konzerts zu unterstützen. Dabei mischt sich der Chor unter das Publikum, die Grenzen zwischen Präsentation und Rezeption werden aufgelöst. Die Konzerte haben in der Brunnenpassage mittlerweile regelrechten Kultcharakter und sprechen sowohl Stammbesucher*­ innen als auch neue Interessierte an. Die Sing Along Reihe hat für Brunnenchor-Sänger*innen einen besonderen Stellenwert, da einige durch diese Kooperation zum ersten Mal in Kontakt mit dem Wiener Konzerthaus gekommen sind.

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Bisher fanden folgende Sing Along Produktionen in Kooperation zwischen Wiener Konzerthaus und der Brunnenpassage statt: ―

Sing Along Alla Turca (Oktober 2009)



Sing Along Beatles (Oktober 2010)



Sing Along Wiener Lied (März 2011)



Sing Along Singers & Songwriters (Oktober 2011)



Sing Along Viva México! (März 2012)



Sing Along Weihnachtsoratorium (Dezember 2012), im großen Saal des Wiener Konzerthauses



Sing Along Africa (März 2013)



Sing Along Family (Oktober 2013)



Sing Along Celtic Ireland (März 2014)



Sing Along Jerusalem (Oktober 2014)



Sing Along Spirituals & Gospels (März 2015)



Sing Along América Latina (Oktober 2015)



Sing Along Family (April 2016)



Sing Along Aven Roma (Oktober 2016)



Sing Along Around the World (Oktober 2017)



Sing Along American Songbook (März 2018)



Sing Along Bella Italia (Oktober 2018)



Sing Along Traditional (März 2019)



Sing Along Karibik (Oktober 2019)

Die Gesangsformate der Brunnenpassage interagieren mit­ einander und bauen konzeptuell aufeinander auf. Sie ergänzen einander und bieten durch die große Bandbreite vielfältige Einstiegs- und Teilnahmemöglichkeiten. Im Folgenden werden die Chorformate der Brunnenpassage näher erläutert.

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UMSETZUNG

Chöre als kollektive Musikformate zu wählen liegt auf der Hand. Ein Chor kann viele unterschiedliche Menschen zusammenbringen, ist in der Lage sich zu einem hohen künstlerischen Level zu entwickeln, erzeugt einen hohen Identifikationsgrad und weist wenige Zugangshürden auf. So wurde der Brunnenchor recht schnell nach der Gründung der Brunnenpassage 2007 ins Leben gerufen. Die Idee war ein höheres musikalisches Niveau zu erreichen, als in einem zeitlich begrenzten Workshopformat möglich wäre. Eine möglichst ­große Dialoggruppe sowie großes Potenzial in der Sichtbarkeit nach Außen, aber auch die technisch relativ ein­fache Realisierbarkeit waren weitere Motive. Die Idee in der Brunnenpassage auch einen Chor für Kinder anzubieten stand schon sehr lange im Raum, gescheitert ist dieses Vorhaben vorerst an finanziellen Hürden. Durch die Anfrage von ,Lernen macht Schule' im Herbst 2016 stand dem Kinderchor nichts mehr im Wege. Die Chor-Angebote der Brunnenpassage wurden im Frühjahr 2018 durch den Rap Chor ergänzt. Somit hat sich das Gesangsangebot durch ein Format erweitert, das sowohl eine starke individuelle Verwirklichung wie auch einen intensiven ko-kreativen chorischen Prozess in der Gruppe ermöglicht. Die beiden Gründerinnen Esra Özmen und Betül Seyma Küpeli haben den Fokus besonders stark auf die Teilnahme (junger) Frauen gelegt.

KÜNSTLER*INNEN

Bei der Auswahl der Künstler*innen in der Brunnenpassage gibt es einige Parameter, die bei allen Formaten greifen, ganz gleich um welchen Stil, welches Genre oder welche Kunstrichtung es sich handelt. Es geht dabei um eine hohe künstlerische ­Integrität und Authentizität, um die Erfahrung in kollektiven Schaffensprozessen, sowie um die Offenheit für neue und transformative Herangehensweisen. Genauso haben sich eine hohe Flexibilität sowie die Bereitschaft an Reflexionsprozessen teilzunehmen als sehr nützlich erwiesen. Bei den Chorleiter*innen der Brunnenpassage ist zusätzlich die Methodenvielfalt ganz wesentlich, da die teilweise sehr großen Unterschiede bei den Musikkenntnissen der Sänger*innen in allen drei Chören die Chorleiter*innen ganz besonders herausfordern. Auch die Balance zwischen einem prozessorientierten Ansatz, der es erlaubt auf die Teilnehmenden einzugehen und dem Auftrag, eine Aufführung zu ermöglichen, ist nicht einfach

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zu halten. Die Chorleiter*innen versuchen die individuellen Bedürf­nisse für das jeweilige persönliche Wachstum zu berücksichtigen. Gleichzeitig sollten aber auch für alle Teilnehmer*­ innen ihren Fähigkeiten entsprechend die passenden Aufgaben im großen Bild gefunden werden, damit das Endprodukt eine ausreichende Qualität aufweist. Bei Gruppen, die über einen längeren Zeitraum zusammenarbeiten und wachsen, entsteht ein erhöhter Kommunikationsbedarf auf persönlicher Ebene. Schlussendlich brauchen also die Chorleiter*innen ein hohes Level an sozialer Kompetenz sowie Belastbarkeit, um auch diesen Aspekt gut zu meistern. Die Chorleitung des Brunnenchors hat von Anfang an der Komponist und Dirigent Ilker Ülsezer inne. Das gemeinsame Wachsen über die Jahre hat große Vorteile für die Weiterentwicklung. Der Dirigent kennt den Chor in- und auswendig, viele Abläufe funktionieren fast automatisiert, auch die mittlerweile sehr familiäre Atmosphäre hilft bei der Verwirklichung der angepeilten Ziele. Selbstverständlich spielen aber auch die temporären Projekte mit anderen Chorleiter*innen eine wichtige Rolle. Die Gruppendynamik wird belebt, die Routine unterbrochen. Die Gastchorleiter*innen bringen ein frisches Ohr mit und nehmen kleine Schwächen ganz anders wahr. Die große Herausforderung beim Kinderchor ist die extrem hohe Diversität der Gruppe an sich. Dadurch macht sich der Spannungsbogen zwischen projektorientiertem Zeitplan und prozessorientierter Pädagogik hier am meisten bemerkbar. Die Chorleitung des Kinderchors übernahm von Anfang an die Chorleiterin Jana Dolečki, die am Anfang vom Co-Chorleiter Artur Bobrowski und später Frenk Lebel unterstützt wurde. Seit Frühjahr 2019 wird Jana Dolečki durch den Gitarristen Mike Hellinger musikalisch unterstützt. Die beiden Gründerinnen Esra Özmen (EsRAP) und Betül Seyma Küpeli (Shayma) waren bei der Rap Chor Gründung im Frühjahr 2018 schon seit vielen Jahren ein fixer Bestandteil der Wiener Alternativ-, Künstler*innen-, Migrant*innen- und Musikszene. Gerade bei diesem Projekt spielt diese Verankerung in den relevanten künstlerischen Kreisen der Stadt eine wesentliche ­Rolle. Abseits der Erfahrungen zB. in der Workshopleitung, ist die Vorbildfunktion der Leiter*innen bei einem Projekt, das einen großen Beitrag im Sinne der Selbstermächtigung leistet, ein ­wesentlicher Bestandteil der Expertise. Auf Betül Seyma Küpeli folgte im Herbst 2018 Jana Dolečki als Co-Leiterin des Rap Chors. Während Esra Özmen für die ­Texte

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Die Leute hier sind sehr nett und es gibt viele Freundschaften.

H. Ezgi Karakas Schüller, ­Brunnenchor

und Grooves zuständig ist und oft mit den Teilnehmer*innen auch in Einzelsettings intensiv arbeitet, unterstützt Jana Dolečki bei den Arrangements und den chorischen Songteilen. Die Leitung des Musikbereichs der Brunnenpassage ist letztlich für das gesamte Musikprogramm und die Involvierung aller Chorformate, sowie für die gemeinsame programmatische Ausrichtung in der jeweiligen Saison verantwortlich. Oft erfolgen Vorschläge durch die Chorleiter*innen oder die Kooperationspartner*innen, die es dann abzustimmen und zu kuratieren gilt.

EINSTIEG Singen verbindet uns!

Vedrana Kočevar, Brunnenchor

Diese Lieder sind nicht nur Lieder, sondern auch Kultur von einem anderen Land. (…) Gemeinsam zu singen, ist ein wunderschönes Erlebnis. Wenn ich alleine singe, singe ich nur Tenor. Aber beim gemeinsamen Singen, singen wir zusammen erste, zweite, dritte Stimme und Bass und es klingt sehr schön.

Oluchukwu Akusinanwa, ­Brunnenchor

Der Brunnenchor ist in der Anfangszeit als offener Chor gegründet worden. Interessierte konnten bei den jeweiligen Abendproben einfach vorbeischauen und mitsingen. Dieses offene Prinzip funktionierte sehr gut, solange die Anzahl an Sänger*innen sowie die vorhandenen Aufritte überschaubar blieben. Sehr bald hat sich aber eine starke Dynamik beim Brunnenchor entwickelt, immer mehr Interessierte kamen dazu, und es gab immer mehr Auftrittsanfragen. Dadurch wurde es notwendig, Einstiegsmöglichkeiten in den Chor zu regulieren. Ein erster Schritt war es, den Einstieg nur beim Beginn eines neuen Projektes zu ermöglichen, konkret wurde ein Einstieg dadurch zwei bis vier Mal pro Jahr möglich. Seit 2014 musste der Brunnenchor wegen der großen Anzahl der Sänger*innen geschlossen werden, seitdem erfolgt im Sinne der Diversität die Vergabe von Restplätzen jeweils beim Beginn eines neuen Projekts. Beim Kinderchor sind die Einstiegsmöglichkeiten durch die Schul- bzw. Studiensemester sehr klar reguliert. Ein Einstieg in den Kinderchor ist für die Kinder somit jeweils am Anfang des Schuljahres im September sowie nach den Semesterschulferien im März möglich. Die meisten Kinder steigen jedoch im September ein und bleiben bis zum Ende des Schuljahres dabei. Für die Musikbuddies ist es ebenso möglich jeweils am Anfang des Studiensemesters in den Chor einzusteigen. Die meisten Student*innen bleiben im Schnitt zwei Semester dabei, was die Übergangszeiten, vor allem im September, wo die Fluktuation in der Gruppe am größten ist, sehr erleichtert. Von den drei Brunnenpassage-Chören ist der Rap Chor bei weitem die offenste Gruppe. Zwar wird auch hier jeweils am Semesteranfang ein Aufruf nach neuen Teilnehmer*innen gestartet, jedoch sind die Einstiege über das ganze Jahr und nahezu in jeder Phase der Proben möglich. Nur kurz vor einem Auftritt wird von einem Einstieg abgeraten und auf die Zeit nach dem Auftritt verwiesen, aber auch hier handelt es sich meistens um maximal ein paar Wochen Wartezeit. Diese Flexibilität ist beim Rap Chor der Größe der Gruppe geschuldet, da es sich dabei um die kleinste Gruppe von den drei Chören handelt. Diese überschaubare Größe des Rap Chors ermöglicht eine sehr intensive persönliche Begleitung der Einsteiger*innen auch ohne Beeinträchtigung der Gruppe. Dieser Umstand hängt aber auch mit der Einzigartigkeit des Rap Chors zusammen – es ist möglich sich beim Schreiben von Texten, beim Solo-Rap und auch bei den chorischen Teilen zu beteiligen. Die Teilnehmer*innen entscheiden bei welchen Aspekten sie teilnehmen wollen und können und finden somit einen einfachen Einstieg in nahezu jeder Probenphase.

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ZUGÄNGLICHKEIT

Die Gesangsprojekte der Brunnenpassage sind frei zugänglich, es gibt keine Qualifikationen, die nachgewiesen werden müssen, kein Vorsingen. Alle dürfen mitmachen, mehr noch, die Angebote sollten die Menschen ansprechen, die bisher nicht die Möglichkeit hatten an ähnlichen Formaten teilzunehmen. Das hat natürlich weitreichende Konsequenzen, die von Anfang an mitbedacht werden müssen. So zeigen sich zum Beispiel zwischen den Sänger*innen aller drei Chöre sehr große Unterschiede in ihrem Können, sei es die Intonation, das Gefühl für Rhythmus, Fähigkeit zum Texten, musikalische Bildung usw. ­Dadurch ist es sehr herausfordernd ein Programm zu konzipieren, das sowohl für die fortgeschrittenen Teilnehmer*innen nicht zu einfach, wie auch für die Anfänger*innen nicht zu schwierig ist und dabei eine allgemeine Qualitätsverbesserung im Sinne aller zu erreichen. Dies geschieht bei den drei Chören auf jeweils für sie geeignete Art und Weise.

Es gibt in Wien einfach keinen vergleichbaren Ort. Ich finde, jeder Bezirk sollte eine Brunnenpassage haben.

Oyuna Bazarragchaa, Brunnenchor

Beim Brunnenchor gibt es bei Bedarf für die neuen Sänger*­innen extra Proben, um den Neuen einen schnellen und problemlosen Einstieg in das Repertoire zu ermöglichen. Zu diesen extra ­Proben werden auch die Sänger*innen eingeladen, die sich bei den regulären Proben schwer tun, dem Lerntempo zu folgen. Sie erhalten somit zusätzliche notwendige Zeit, um die Lieder einzustudieren, ohne bei den allgemeinen Proben die ganze Gruppe aufzuhalten. Abgesehen davon gibt es neben den wöchentlichen Proben, Auftritten und Projekten des Brunnen­chors auch immer wieder Workshops zu unterschiedlichen Themen, wie Intonation, Rhythmus u.a. Auch im Kinderchor gibt es gravierende Unterschiede bei den musikalischen Vorerfahrungen der Teilnehmer*innen. Einige der Kinder kommen aus bildungsbürgerlichen Familien, haben in ihrer Freizeit schon viele unterschiedliche, darunter auch musikalische Aktivitäten verfolgt, einige spielen schon seit mehreren Jahren Instrumente oder bekommen Gesangsunterricht. Beim Kinderchor nehmen auch viele Kinder mit Fluchterfahrung teil, einige davon hatten davor noch niemals Musikunterricht, weder in Theorie noch Praxis. Gerade in dieser diversen Gruppe gilt es alle Kinder gleichermaßen abzuholen und in die Proben zu integrieren. Dies geschieht durch den zum größten Teil prozessorientierten Arbeitsansatz und einen lustvollen und spielerischen Zugang. Dennoch gibt es natürlich auch Platz und Möglichkeiten für Förderung auf individueller Basis: so singen z.B. fortgeschrittene Kinder Solo-Sequenzen, wenn sie das möchten, auch im Rahmen der regelmäßig stattfindenden Auftritte. Auch die Studierenden bringen ganz unterschiedliches musikalisches Können mit, hier ist es aber leichter damit umzugehen, denn für die Studierenden steht ihr soziales Engagement bei der Teilnahme an diesem Projekt im Vordergrund.

Der Brunnenchor ist ein Ort für mich um Menschen kennen­zulernen und um mich auszutauschen.

Anil Üver, ­Brunnenchor

Die Brunnenpassage ist für mich ein offenes Zuhause. Ich kann dort so viel lernen, was ich für mein Leben gerne tue.

Mona Hollerweger, ­Brunnenchor

Die Unterschiede zwischen den Rap Chor Teilnehmer*innen sind wahrscheinlich im Vergleich zu den anderen Chören am größten, denn beim Rap Chor gibt es einiges, was an Können bzw. Talent mitgebracht werden kann: Singen, Rappen, Texten, Performen. Die Teilnehmer*innen unterscheiden sich nicht nur durch ihre Fähigkeiten, sondern auch sehr stark durch die Erfahrung, die sie mitbringen. So sind im Rap Chor Frauen dabei, die schon seit mehreren Jahren ihre eigenen Texte schreiben 205

Am besten gefallen mir an den Proben die Schritte die wir machen und die Lieder.

Kind/Kinderchor

und rappen, gleichzeitig gibt es Teilnehmer*innen, für die Raum­ einnahme eine sehr neue Erfahrung ist. Auch hier gilt es die Proben so zu gestalten, dass alle Interessierte ihren Platz mit ihrer eigenen Geschwindigkeit finden können. Beim Rap Chor gelingt das aufgrund der unterschiedlichen Betätigungsmöglichkeiten auch sehr gut – die einen möchten hauptsächlich beim Schreiben der Texte mitwirken, die anderen stehen gerne im Rampenlicht und rappen ihre Texte lautstark ins Mikrofon. Abschließend ist hier nochmals die Wichtigkeit der ergänzenden Angebote hervorzuheben. Wie schon erwähnt, wurde das Format Stimm Workshops als Folge des starken Zuwachses an Sänger*innen und der dadurch immer größer werdenden Niveauunterschiede im Brunnenchor entwickelt. Es ging natür­ lich auch darum, ein weiteres, unverbindlicheres Format im Gesangsbereich anzubieten, aber auch darum, ein Ausweichformat zu haben, auf welches man Interessierte bis zur nächsten Einstiegsmöglichkeit verweisen kann. Häufig besuchen Interessierte über einige Monate regelmäßig Stimm Workshops und steigen danach mit einem ganz anderen Level in den Chor ein. Sänger*innen werden manchmal aber auch direkt darauf angesprochen und eingeladen für einige Wochen Stimm Workshops zu besuchen, um besser mit den anderen Sänger*innen mit­halten zu können.

BETREUUNG

Die Musikbuddys kümmern sich darum, dass die Kinder,­ die hier in der Brunnen­passage im Kinderchor singen, sicher zur Brunnenpassage kommen, sich wohl fühlen. Adrian Jagow, Musikbuddy

Der technische Aufwand für alle drei Chöre hält sich grundsätzlich in Grenzen. Der Brunnenchor braucht ein Klavier und ein Mikrofon bei den Proben. Auch Auftritte lassen sich in der Regel ohne größere technische Herausforderungen meistern. Ähnlich verhält es sich auch beim Kinderchor, in diesem Fall braucht es bei den Proben ebenso ein Mikrofon und einen Gitarrenverstärker, bei den Auftritten ist selten mehr notwendig. Etwas anders ist die Lage beim Rap Chor. Hier gibt es andere Anforderungen, wegen des knappen Budgets ist es aber notwendig bei den Proben die Lösungen sehr kostengünstig zu suchen. Alle Teilnehmer*innen bräuchten ein eigenes Mikrofon, am besten schon während der Probezeit, um auf die Bühnensituation gut vorbereitet zu werden. Dies ist aber leider nur selten möglich, zum einen aus finanziellen Gründen, zum anderen müssen die Proben des Rap Chors teilweise wegen anderer gleichzeitig stattfindenden Veranstaltungen in andere Proberäume aus­gelagert werden, in denen oft eine hohe Lautstärke leider nicht erlaubt ist. Genau umgekehrt verhält es sich mit dem Ausmaß an logistischer und persönlicher Betreuung, die in die Chöre investiert

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werden muss. Zwischen den Leiter*innen des Rap Chors und der Leitung des Musikbereichs der Brunnenpassage findet zwar ein regelmäßiger Austausch statt, der Rap Chor agiert aber relativ selbstständig. Bei dem Kinder- und Brunnenchor sieht es anders aus. An erster Stelle muss die wöchentliche Betreuung während den Proben erwähnt werden. Noten werden kopiert, ­Ansagen erfolgen, Termin- und Anwesenheitslisten werden verwaltet. Des Weiteren gilt es, ständigen Kontakt zu den Kooperationspartner*innen zu halten und Produktionsund Konzertanfragen zu bearbeiten. Repertoirefragen müssen geklärt werden, Programme für die Auftritte fixiert, Konzepte für die nächsten ­Monate erstellt, gemeinsame Projekte entwickelt werden. Auf keinen Fall darf aber die Betreuung der Teilnehmer*­innen unterschätzt werden, der man sowohl beim Brunnenchor wie auch beim Kinderchor einen großen Raum einräumen muss. Beim Brunnenchor geht es dabei hauptsächlich um die Kom­ munikation mit einer großen Anzahl an Menschen. Emails beantworten, inhaltliche Diskussionen führen, Beschwerden nachgehen aber auch für die persönlichen Probleme ein offenes Ohr haben – die Kommunikation mit um die 120 Menschen ist in der Tat sehr herausfordernd und kostet einiges an Zeit. Mittlerweile recht anspruchsvoll ist auch die Beantwortung der häufigen Einstiegsanfragen. Seit einigen Jahren ist der Brunnenchor geschlossen und somit müssen die meisten Anfragen negativ beantwortet werden, was im Kontext der Brunnenpassage an sich nicht einfach ist. Einige Interessent*innen zeigen dafür auch recht wenig Verständnis, allerdings nehmen die meisten dann doch bei anderen offenen Projekten teil.

Ich will hier Singen üben. Und wir haben Auftritte. Und das macht Spaß.

Kind/Kinderchor

Einer der schönsten ­Momente ist, wenn die Kinder zu dir kommen, dich umarmen und fragen, wie es dir geht. Und von sich selber viel erzählen. Und wenn du mit denen nach Hause gehst, lernst du sie einfach viel besser kennen, woher sie kommen, was sie gerne machen. Jana Hagenauer, Musikbuddy

Die Herausforderung beim Betreuungsaufwand des ­K inder­chors ergibt sich zum größten Teil aus seiner ganz besonderen Gruppenzusammensetzung. Projekte für Kinder sind an sich sehr ­betreuungsintensiv, es braucht hier zusätzliche Ressourcen für die Kommunikation mit den Eltern. Für einige Kinder, vor allem aber für ihre Eltern, ist die Teilnahme an Freizeitaktivitäten keine Selbstverständlichkeit. Hier braucht es viel Beziehungs- und Überzeugungsarbeit, um den Kindern die Teilhabe an kulturellen Aktivitäten zu ermöglichen. Einige Kinder müssen zum Beispiel aus Wohnheimen abgeholt und zur Probe, sowie nach der Probe nach Hause begleitet werden. Das ist die Grundvoraussetzung für ihre Teilnahme, denn öfters ist das Angebot des Abholens und Nachhause-Bringens die einzige Möglichkeit die Eltern von der Teilnahme ihrer Kinder am Kinderchor zu überzeugen.

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Die andere wichtige zu betreuende Gruppe sind die Studierenden der Wirtschaftsuniversität Wien, die Musikbuddies. Das Projekt ,Lernen macht Schule‘ basiert auf der Grundidee des Voneinander-Lernens. So profitieren die Kinder durch die Vorbildfunktion der Buddies, umgekehrt erwerben die Studierenden auch wichtige Fähigkeiten durch das Übernehmen der Verantwortung in der Gruppe. Für einige Studierende sind die Einblicke in ganz andere Lebenswelten gänzlich neu, weshalb es bei der Überwindung der Unsicherheiten unterstützend zur Seite zu stehen gilt. Zusätzlich finden in regelmäßigen Abständen Workshop-Angebote und gezielte Gruppen-Coachings statt, in denen die eigenen Rollen reflektiert und die Gruppendynamiken evaluiert werden.

CHÖRE ALS BOTSCHAFTER*INNEN UNTERWEGS

Gesangschöre erfreuen sich in den letzten Jahren zunehmender Beliebtheit: sie haben eine ausgleichende Wirkung in den von Zeitdruck geprägten modernen Gesellschaften, sie fördern den sozialen Zusammenhalt und das gemeinsame Singen verbindet über sprachlichen Barrieren hinweg. Dazu kommt eine weitere wunderbare Eigenschaft der Chöre in ihrer Wirkung nach Außen: Sie eignen sich großartig als Botschafter*innen, sowohl in ihrer Gruppengestalt bei Auftritten, Konzerten und bei der Mitwirkung

an verschiedenen Projekten, wie auch in allen ihren kleinsten Teilen, durch alle Sänger*innen, die als Multiplikator*innen gesehen werden können. Der Brunnenchor hat von Beginn an mit Konzerten auf sich aufmerksam gemacht und ist als mobiles Musikformat häufig auch andernorts als Botschafter für die Brunnenpassage unterwegs, auch über die Grenzen Wiens und Österreichs hinaus. Auch der Kinderchor erhält regelmäßig mehr Anfragen für Auftritte als die zeitlichen Ressourcen es ermöglichen. Auch hier ist die Botschafter-Funktion sehr stark, durch die Verbindungen mit großen Organisationen wie der Wirtschaftsuniversität Wien und der REWE Gruppe. So singt der Kinderchor immer wieder in riesigen Hallen vor sehr vielen Zuhörer*innen. Für die ,coolen' Locations und Anlässe wird meistens der Rap Chor angefragt. Mit den drei Chören hat die Brunnenpassage also für jede Anfrage, für alle 208

Altersgruppen, für nahezu alle Eventualitäten jeweils das passende Format anzubieten. Als wichtige Botschafter*innen sind auch alle einzelnen Teilnehmer*innen der drei Chöre zu verstehen. Seit der Gründung haben über die Jahre mehr als 700 verschiedene Menschen im Brunnenchor gesungen, weitere 200 befinden sich auf der Warteliste für den Einstieg. In den acht bisherigen Semestern des Kinderchors waren an die 120 Kinder mit ihren Familien im engen Austausch mit der Brunnenpassage. Das Angebot des Rap Chors haben bis inklusive Sommersemester 2020 knapp an die vierzig Personen genutzt.

BEDEUTUNG

Der Brunnenchor ist das Projekt der Brunnenpassage, an dem wöchentlich die meisten Menschen mitwirken können. Manche Sänger*innen beteiligen sich seit seiner Gründung am Brunnenchor. Es sind aus der Gruppe viele Freundschaften erwachsen. Viele Mitglieder des Freiwilligenteams der Brunnen­passage sind als Brunnenchor-Sänger*innen das erste Mal in Kontakt mit der Brunnenpassage gekommen und umgekehrt. Durch die jahrelange Verbindung fühlen sich ­viele Sänger*innen in der Brunnen­passage wie zu Hause, der Raum wird häufig als ein ,zweites Wohnzimmer‘ bezeichnet. Diese recht große Gruppe bildet einen Basis-Pool der Unter-

Der Rap Chor will vor allem zeigen, dass man mittels eines Mediums wie Rap auf politische, gesellschaftliche Problemstellungen reagieren, Widerstand leisten und für Themen, die im öffentlichen Raum nicht sichtbar sind oder bewusst unsichtbar gemacht werden, Gehör schaffen kann. Häufig behandelte Themen sind der alltägliche Rassismus, die strukturellen und institutionellen Diskriminierungen, aber auch die Fragestellung des Herrschaftlichen (der Hegemonie) sowohl im System als auch in der eigenen Familie.

Betül Seyma Kupeli (Shayma) und Esra Özmen (EsRAP) http://smallforms.org/rapchor/ Nov 2020

stützer*innen der Brunnenpassage, die man bei speziellen Anfragen als erstes informieren und bei Vernetzungsanliegen immer wieder involvieren kann. Sänger*innen des Brunnenchors bilden auch die größte Dauer-Spender*innen Gruppe. Alle diese Faktoren erzeugen eine große Verbindlichkeit und ganz besondere Qualität, wodurch die Sänger*innen des Brunnenchors die Brunnenpassage seit vielen Jahren nach Innen und nach Außen prägen. Das Außerordentliche beim Kinderchor ist die Wechselwirkung zwischen Kindern und Musikbuddies. Einige der Kinder haben wegen ihrer Herkunft viele Hürden auf dem Weg in ihre Zukunft zu überwinden. So ist für sie die Teilnahme an Freizeit­aktivitäten aber auch höhere Bildung keine Selbstverständlichkeit. Im Kinder­chor profitieren sie im Kontakt zu den Studierenden stark durch die positiven Rollenbilder und lernen für sich die Teilhabe 209

an gesellschaftlichen Ressourcen zu beanspruchen. Die Studierenden werden sich durch den Kontakt zu den Kindern und ihren Familien über die gesellschaftlichen Realitäten bewusst, die sie in ihrem sonstigen Alltag meistens nicht bewusst wahrnehmen würden. Gerade bei den Studienrichtungen der Wirtschaftsuniversität, bei denen soziale Gerechtigkeit und Stärkung der sozialen Kohäsion keine zentrale Rolle spielen, sorgt dieser Effekt für eine deutliche Erweiterung des Horizonts und wirkt somit nachhaltig sowohl auf die persönliche Entwicklung der Studierenden wie auch auf ihren beruflichen Weg. Die Teilnahme am Musikbuddy-Projekt kann als freies Wahlfach im Ausmaß von 3 ECTS pro Semester im Rahmen des Studiums an der Wirtschaftsuniversität anerkannt werden. So wie beim Brunnenchor und Kinderchor Gruppenprozesse sehr stark im Vordergrund stehen, ist die Arbeit beim Rap Chor sehr stark auf den Inhalt ausgerichtet. Selbstgeschriebene ­Texte, Themen, die nach Außen kommuniziert werden müssen – die Vermittlung der Inhalte ist wesentlich und steht ganz zentral im Mittelpunkt der Probenarbeit. Eine große Wichtigkeit hat die Stärkung des Selbstbildes, sich den Raum zu nehmen, um eigene Anliegen deutlich zu kommunizieren, was vor allem für junge Menschen und ganz besonders Frauen ein großes Anliegen ist. Die Kombination aus dem individuellen Zugang zum Rap durch das autonome Schreiben auf der einen und dem ko-kreativen chorischem Prozess in der Gruppe auf der anderen Seite macht dieses Format einzigartig und ermöglicht das Entstehen ganz neuer kollektiver Herangehensweisen.

FINANZIERUNG Die Brunnenpassage hat den Brunnenchor 2007 gegründet, wobei damals noch sehr wenige Produktionsmittel zur Verfügung standen. Ein Klavier wurde über einen Spendenaufruf second hand erstanden, Gesangsmappen und Noten gehörten zur Grundausstattung. Regelmäßige Kosten ergeben sich aus der Bezahlung des Chorleiters und der alltäglichen Projektorganisation bzw. -betreuung. Darüber hinaus sind Eigenproduktionen, die zum Beispiel Musiker*innen erfordern, extra zu finanzieren.

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Für den regelmäßigen Probenbetrieb scheinen die Kosten auf den ersten Blick nicht besonders hoch zu sein. Zu bedenken ist jedoch, dass die Chorproben nahezu das ganze Jahr statt­ finden. Die Honorare für die Chorleiter*innen sind also dauerhafte Ausgaben, die das Musikbudget stark beanspruchen. Der Kinderchor hat darüber hinaus bei weitem größere Aus­ gaben durch die intensive Betreuung der Teilnehmer*innen und den enormen organisatorischen Aufwand. Eine Finanzierung durch die Brunnenpassage ohne Unterstützung der Initiative ,Lernen macht Schule' wäre auf keinen Fall möglich. Eine Selbstfinanzierung ist bei allen drei Chören nahezu ausgeschlossen. Viele der Teilnehmer*innen haben bei den Chören der Brunnenpassage einen Ort gefunden, wo sie ohne die finanzielle Belastung durch die vorgeschriebenen Teilnahmegebühren mitmachen können. Die größten freiwilligen Spenden-Einnahmen teilnehmerseitig sind beim Brunnenchor zu verzeichnen. Diese Einnahmen reichen nicht aus um die Kosten des Brunnenchors zu decken, sie sind aber auch nicht zu vernachlässigen.

CREDITS

Kuratierung und Leitung Musikbereich: Gordana Crnko

Stimm Workshops Leiter*innen: Artur Bobrowski, Alexia Chrisomalli, Julie Karagouni, Ines Popović, Christian Recklies, Golnar Shahyar, Futurelove Sibanda, Ilker Ülsezer, Sabina Zapiór

Brunnenchor Chorleiter: Ilker Ülsezer Gast-Chorleiter*innen: Bassem Akiki, Maria Craffonara, Stephen Delaney, Michael Fischer, Stefan Foidl, Su Hart, Antonio Lizarraga, Gerald Wirth Workshopleitung: Artur Bobrowski (Improvisation), Jelena Mortigija-Reiter (Rhythmus), Philipp Sageder (Bodypercussion/ Rhythmus), Golnar Shahyar (Improvisation), Saeid Tehrani (Bodypercussion), Damien Tresanini (Choreografie), Sabina Zapiór (Intonation) 211

Kinderchor Chorleiter*innen: Jana Dolečki, Artur Bobrowski, Frenk Lebel Musikalische Begleitung: Mike Hellinger Rap Chor Chorleiter*innen: Esra Özmen, Betül Seyma Küpeli, Jana Dolečki Sing Along Leiter*innen: Maria Craffonara, Heinz Ferlesch, Rafael NeiraWolf, Gerald Wirth Moderation: Monika Jeschko Für das Sing Along Africa fand eine Zusammenarbeit zwischen dem Brunnenchor und dem Ghana Minstrel Choir statt, Sing Along Alla Turca wurde in Zusammenarbeit mit dem Istanbul Kulturverein verwirklicht. Musiker*innen: Thomas Castañeda, Maria Craffonara, Miguel Delaquin, Lorenzo Gangi, Andreas Hellweger, Katharina Hofbauer, Karin Hopferwieser, Rafael Neira-Wolf, Albin Paulus, Michael Prowaznik, Mark Royce, Simon Schellnegger, Bastian Stein, Emanuel Toifl, Richard Winkler, Nikola Zarić u. a.

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Anne Wiederhold-Daryanavard

Piknik Gemeinsam Frühstücken Seit 2007 fortlaufend monatlich Gemeinsames Frühstücken ermöglicht ein erstes gegenseitiges Kennenlernen zwischen Menschen. Ziel dieses Formats ist es, über eine gemütliche Atmosphäre eine Begegnung von Nachbar*innen rund um den Brunnenmarkt und Mitarbeiter*innen der Brunnenpassage zu schaffen. Beim gemeinsamen Frühstück gibt es Raum für Diskussionen, Fragen zur Brunnenpassage, neue Ideen oder auch Kritik. Piknik stellt eines der zugänglichsten Formate des Brunnenpassage-Programms dar.

IDEE UND KONZEPT Piknik ist das einzige nicht-künstlerische regelmäßige Format der Brunnenpassage. Es wurde etabliert, um in unverbindlicher Atmosphäre und einem Raum ohne Konsumzwang Gespräche führen zu können. Piknik erfreut sich von Anfang an großer Beliebt­heit. Über das Jahr verteilt gibt es zumeist zwei bis drei Termine mit Zusatzprogramm, wie kleinen Konzerten (u.a. Oud, Akkordeon), DJ-Lines und Lesungen. Unregelmäßig gibt es ­bestimmte kulinarische Schwerpunkte. Das Frühstücken und der Austausch stehen jedoch im Vordergrund und sollen nicht durch das Programm überlagert werden.

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Eingeladen wird unter folgendem Motto: Pack dein Marmeladenglas oder ein paar Oliven ein und bring dein Frühstück mit in die Brunnenpassage. Dort findet sich sicher jemand, der Börek und Kuchen dabei hat! Getränke und Geschirr stellen wir. Mit dem Piknik bietet sich eine gute Gelegenheit der Begegnung und des gegenseitigen Kennenlernens. Wer mehr über die Brunnenpassage erfahren möchte, sollte diese Gelegenheit nutzen.

UMSETZUNG

Ziel des Piknik war es von beginn an, eine offene Austauschplattform für Besucher*innen zum Programm und zum Konzept der Brunnenpassage zu schaffen, sowie ein Kennenlernen des Personals der Brunnenpassage zu ermöglichen. Während grundsätzlich immer die Bürotür offen ist und Ideen eingebracht werden können, ist das Piknik ein ungezwungener Rahmen, Mitarbeiter*innen der Brunnenpassage sowie andere Besucher*innen kennenzulernen. Das Piknik wurde in der Pilotphase konzipiert, als die Brunnenpassage über nahezu kein projekt-ungebundenes Programm-Budget verfügte. Aufgrund des großen Erfolgs wurde das Projekt über die Jahre beibehalten. Seit Gründung des Freiwilligenteams ist das Piknik mehr und mehr zu einem nahezu selbstorganisierten Projekt der Freiwilligen Mitarbeiter*innen der Brunnenpassage, unterstützt vom Technikpersonal, geworden.

REALISIERUNG

Jeden ersten Sonntag im Monat findet das dreistündige ­offene Frühstück statt. Besucher*innen werden eingeladen, selbst etwas zum offenen Buffet beizusteuern. Die Brunnenpassage ­organisiert ebenfalls Frühstück und Getränke, vor allem Lebens-

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mittel wie Brot, Butter und Obst. Es ist eine lange Frühstückstafel aufgebaut, Mitarbeiter*innen kümmern sich um die Vorbereitung des Buffets, Kaffees und Samowars. Während in der Anfangszeit zunächst maximal zwanzig Personen pro Piknik kamen, sind Sonntage mit über 100 Besucher*innen keine Seltenheit mehr. Immer wieder gab es auch Open Air Pikniks, diese sind jedoch im Vorfeld mit Genehmigungen verbunden. Anfangs gab es besonders zur kalten Jahreszeit herausfordernde Situationen: Zum Beispiel warteten mehrere Male bis zu 40 hungrige Menschen vor der Tür, die das Buffet nach Eröffnung in einer halben Stunde aufgegessen hatten. Innerhalb des Teams wurden diese Vorfälle lange diskutiert und es wurde nach einem Umgang damit gesucht. Die Betroffenen wurden auf die nächstgelegene Ausspeisungsstelle aufmerksam gemacht, da das Piknik diese Form der Unterstützung nicht ersetzen kann. Piknik ist ein monatlich stattfindendes Projekt und damit für eine strukturelle und nachhaltige Direkthilfe ungeeignet. Weil immer wieder Besucher*innen ohne selbst mitgebrachtes Essen erscheinen, stellt die Brunnenpassage seit diesem Zeitpunkt mehr Essen bereit, damit stets genug Frühstück für alle Gäste vorhanden ist. Neben vielen Stammgästen, die seit Jahren teilweise monatlich zum Piknik kommen, finden sich oft Familien, Gruppen, Freund*innen und viele neue Einzelpersonen ein. Es gibt bewusst Programmformate der Brunnenpassage, die Sonntags im Anschluss an das Piknik stattfinden, um einen Einstieg zu erleichtern. So sind u.a. die monatlichen Theater­ workshops am Tag des Pikniks programmiert.

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FINANZIERUNG

Piknik kommt mit einem sehr geringen Budget aus. Neben dem Raum, in dem das Piknik stattfindet, braucht es lediglich eine Ausstattung an Sitzgelegenheiten und Geschirr. Auch der Einkauf für das Frühstück ist je nach Besucher*innenzahl variabel.

DIALOGGRUPPENARBEIT

Das Piknik wird mit mehrsprachigen Flyern und Plakaten beworben, lebt aber vor allem von der Mund-zu-Mund-­Propaganda. Auch Passant*innen, die sonntags an der Markthalle vorbeischlendern, kommen oft spontan auf einen Kaffee herein. Eine Zeit lang wurde das Piknik vom Team der Brunnenpassage genutzt, um sich mit lokalen Initiativen zu vernetzen: unterschiedliche Dialoggruppen aus der Umgebung wurden offiziell zum Frühstücken eingeladen, um sich so in ungezwungener Atmosphäre auszutauschen. Immer wieder entstehen beim ­Piknik Projektideen und auch selbstorganisierte Praxen wie ein anschließender gemeinsamer Waldspaziergang, der lange Zeit im Anschluss unabhängig vom Brunnen­passage-Programm stattfand. Ebenso bildeten sich immer wieder Sprachtandems und andere nachbarschaftliche Vernetzungen.

BETEILIGTE Idee: Ahmet Zavlak und Hanna Swoboda Leitung: Rotierend Mitarbeiter*innen des kuratorischen Teams der Brunnenpassage sowie seit 2012 vor allem das Freiwilligenteam der Brunnenpassage

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Ivana Pilić, Anne Wiederhold-Daryanavard

Zwischen Nachbarn Fotoausstellung im Rahmen von eyes on – Monat der Fotografie Juni - Dezember 2010 Die Brunnenpassage konzipierte die Fotoausstellung Zwischen Nachbarn, um neue Begegnungsmöglichkeiten am Brunnenmarkt zu schaffen. Im Rahmen von eyes on – Monat der Fotografie lud die Brunnenpassage den Fotografen Ulrich Eigner ein, Menschen zu porträtieren, die am Yppenplatz im Brunnenviertel wohnen. Die Ausstellung fand im November 2010 während eyes on – Monat der Fotografie in der Brunnenpassage statt. Darüber hinaus gab es begleitende Rahmenveranstaltungen – mit der Idee, einen Austausch innerhalb der Nachbarschaft und mit der Brunnenpassage zu ermöglichen.

IDEE UND KONZEPT

Alle Nachbar*innen rund um die Brunnenpassage, die auf den Marktplatz blicken, wurden eingeladen, am Fotoprojekt teilzunehmen. Ein Ziel galt dem Kennenlernen der Nachbar*innen untereinander, denn viele hatten noch kaum miteinander gesprochen. Außerdem stand das Sichtbarmachen der Bewohner*­innen in ihrer Individualität und ein Aufbrechen des Nebeneinanders im Mittelpunkt. Die Vielfalt an unterschiedlichen Menschen in ihren persönlichen Lebensräumen sollte durch Environmental Portraits gezeigt werden. Diese Form der Fotografie ist dadurch gekennzeichnet, dass das Fotografieren in persönlicher Umgebung stattfindet, wie zum Beispiel zu Hause, bei der Arbeit oder in bestimmten Situationen, die das Leben eines Menschen wiedergeben. Das Individuum kann sich durch diese Form der Fotografie im Vergleich zu Bildern, die etwa im Fotostudio entstehen, selbstbestimmter präsentieren und darstellen. Ein weiterer Anspruch des Projekts war es, als Kunstinstitution die direkten Anrainer*innen aufzusuchen. Kontakt sollte so vor allem mit jenen hergestellt ­werden, die den Weg in die Brunnenpassage noch nie angetreten hatten – sei es aus Unsicherheit, Desinteresse oder Ablehnung. Viele Nachbar*innen kamen dadurch erstmalig ins Gespräch mit Mitarbeiter*innen der Brunnenpassage. Zahlreiche Menschen haben während der Entstehung des Projekts bewiesen, dass sie aufeinander zugehen und sich kennenlernen wollten. Auch weit über das Projekt hinaus ist dadurch zu unzähligen Anrainer*­ innen ein persönlicher Kontakt entstanden.

AUSSTELLUNG

Die Ausstellung hatte neben der Fotografie ein eigenes künstlerisches Raumkonzept. Die Brunnenpassage wurde mit einer bühnenbildartigen Ausstattung in zwei Wohnräume unterteilt, ein Wohnzimmer und ein Esszimmer. An den Wänden der gestalteten Zimmer hingen die Porträts. Die in den Zimmern befindlichen Möbel (Sessel, Sofa, Tisch, Stühle etc.) ermöglichten 220

den Besucher*innen ein Verweilen und sich wie zuhause zu fühlen. Die Raumgestaltung unterstützte die Veranstaltungen des Rahmenprogramms. Die Fotografien wurden durch Aus­ stellungsobjekte – persönliche Gegenstände der Teilnehmenden – ergänzt, die den Wohnraum-Charakter der Kulisse verstärkten. Ein weiteres Ausstellungselement war ein Fotoalbum, in dem jedem Teilnehmenden eine Seite gewidmet wurde. Eine Videoinstallation mit Interviews der Beteiligten über das Zusammenleben und ein Erläuterungstext in vier Sprachen ergänzten das Konzept. Zur Vernissage wurden die portraitierten Nachbar*innen persönlich eingeladen, genauso wie zu den einzelnen Begleitveranstaltungen. Während der zweiwöchigen Ausstellungsdauer fanden folgende Rahmenveranstaltungen statt: Führungen in der Ausstellung, gemeinsames Piknik in der Ausstellung, ein Kaffee­ kränzchen, ein Hauskonzert, ein Filmabend und ein ­Dinner. Die Ausstellung wurde aufgenommen in den Katalog von eyes on – Monat der Fotografie 2010.

UMSETZUNG In der Ausstellung Zwischen Nachbarn ging es konzeptuell um eine ,Personalisierung': Darum, den Nachbar*innen ein Gesicht zu geben. Die Brunnenpassage als Ausstellungsort diente hier als neutraler und zugänglicher Raum für ein Kennenlernen und setzte den künstlerischen Rahmen. Sprachbarrieren oder auch Vorurteile, die kein Miteinander zulassen, wurden überwunden.

KÜNSTLER Die Entscheidung mit dem Fotografen Ulrich Eigner zu arbeiten erfolgte neben der Qualität seiner Arbeit auch wegen seiner ­Erfahrung im Bereich der Environmental Portraits. Es brauchte eine künstlerische Persönlichkeit, die sehr offen auf unterschiedlichste Menschen zugehen kann und die Sensibilität mitbringt, Menschen in ihrer persönlichen Umgebung zu fotografieren, die größtenteils keine Erfahrung mit professionellen Fotoshootings mitbrachten. Beim Fotografieren selbst waren zumeist nur der Fotograf und die Projektleiterin anwesend. 221

REALISIERUNG

Die Projektleitung war mit etwa zehn Stunden wöchentlich von Juni bis Dezember für die Gesamtorganisation tätig. Der Fotograf war somit weniger mit den organisatorischen Aufgaben ­betraut. Zunächst wurden Hauspläne über den Bezirk oder die Gebietsbetreuung organisiert. Der aufwendigste Teil des Projektes war es, die Bewohner*innen zu erreichen. Erleichtert wurde dies teilweise durch die Kontaktaufnahme mit den Hausbesitzer*­ innen bzw. der Hausverwaltung, die über das Projekt informiert wurden und die manchmal ihre Hilfe anboten. Der Prozess erstreckte sich über mehrere Monate. Der zweite organisatorische Aufwand lag in der Ausstellungskonzeption. In diesem Fall war die Einbindung eines professionellen Bühnenbildners wichtig. Der Bau der Ausstellungszimmer wurde vom Technikpersonal der Brunnenpassage vorge­nommen. ­Parallel wurden partizipative Elemente für das Rahmenprogramm entwickelt und programmiert.

DIALOGGRUPPENARBEIT

Innerhalb des Projektverlaufs gab es zwei Phasen. Zunächst galt es, die Teilnehmer*innen zu erreichen und zum Fotoprojekt einzuladen. Dafür wurden Handzettel in allen Häusern und Wohnungstüren rund um den Yppenplatz aufgehängt. Das ­eigentliche Bekanntmachen des Projekts erfolgte durch persönliche Gespräche. Dafür wurde im Team von Haustür zu Haustür gegangen. In einigen Fällen wurde auf die Mehr­sprachigkeit im Team zurückgegriffen, um in Beziehung treten zu können. Diese Phase erstreckte sich insgesamt über ­mehrere Monate und gab auch einen guten Einblick darüber, wie die direkten Anrainer*innen die Brunnenpassage wahrnahmen. Nachdem die Protagonist*innen gefunden waren wurden die Termine für die Fotoshootings vereinbart. Parallel hierzu wurden bereits bekannte Anrainer*innen im Team ,gesammelt', die direkt angesprochen wurden. Die Vernissage und die Ausstellung selbst wurden über Flyer und Plakate beworben. Durch die persönliche Involvierung brachten alle Protagonist*innen, die porträtiert wurden, viele Besucher*­ innen mit, da sie ihren Freund*innen, Familien und Bekannten die Ausstellung zeigen wollten. Über den Kooperationspartner eyes on – Monat der Fotografie fand auch eine überregionale Bewerbung statt.

FINANZIERUNG

Die Ausstellung wurde über den Kooperationspartner eyes on – Monat der Fotografie mitfinanziert. Es wurde parallel Crowd­funding betrieben und erfolgreich abgeschlossen. Die Projektleitung und die beteiligte Technik sowie das Betreuungspersonal während der Ausstellungszeiten wurden seitens der Brunnenpassage finanziert.

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POSTPRODUKTION

Es erfolgte eine Dokumentation im Katalog von eyes on – ­Monat der Fotografie 2010. Den beteiligten Menschen wurde teil­ weise bereits während der Ausstellung mit einem gemeinsamen Abendessen gedankt. Die Fotografien wurden größtenteils im Anschluss an die Ausstellung den mitwirkenden Nachbar*innen geschenkt. Besonders bemerkenswert sind jene Kontakte, die nach Jahren noch immer vorhanden sind und sich beachtlich weiterentwickelt haben. So wurde über Zwischen Nachbarn der Kontakt zu einer indischen Tänzerin aufgebaut, die erst seit ­Kurzem am Yppenplatz und in Wien wohnte und die seither ­regel­mäßig in der Brunnenpassage performt.

BETEILIGTE

Idee und Konzept: Tilman Fromelt, Anne Wiederhold-Daryanavard Fotograf: Ulrich Eigner Projektleitung, Kuration: Ivana Pilić Ausstellungskonzeption und Bühnenbild: Ivana Pilić und Bert Schifferdecker

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Ivana Pilić, Anne Wiederhold-Daryanavard

Cinemarkt Kino in der Brunnenpassage Seit 2009 sieben bis neun Mal pro Jahr In Kooperation mit St. Balbach Art Produktion Cinemarkt ist eine monatliche Kinoreihe, bei der in der Brunnenpassage Filme in Originalfassung mit Untertitel gezeigt werden. Anschließend finden Diskussionen mit Filmschaffenden und Expert*­innen oder Konzerte statt. Dieses Format bietet einerseits einen besonders leichten Zugang zur Brunnenpassage, als auch eine Plattform für politischen Diskurs. Pro Jahr werden mit dem Kinoformat über 1000 Menschen erreicht.

IDEE UND KONZEPT

Kino ist in nahezu allen Ländern bekannt und beliebt. Primäres Ziel von Cinemarkt ist es, vielen Menschen ein qualitativ hochwertiges Kinoangebot zu bieten. Es gibt viele Besucher*innen, die erstmalig über einen Kinoabend mit der Brunnenpassage in Kontakt kommen. Es ist wesentlich einfacher, in einem Kinosaal zu sitzen und einer Filmpräsentation zu folgen als an einem partizipativen Workshop aktiv teilzunehmen. Mit Cinemarkt gelingt es der Brunnenpassage darüber hinaus, politische Fragen zu Migration, Flucht und Rassismus ebenso wie Spielfilme von österreichischen Filmemacher*innen mit Migrationsgeschichte bekannt zu machen und zur Diskussion zu stellen. Im Anschluss an die meisten Filmvorführungen finden Diskussionen mit den Protagonist*innen der Filme bzw. mit Initiativen, die in Wien zu

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den bearbeiteten Themen aktiv sind, statt. Die inhaltliche Stärke der Kinoreihe liegt in der Vielfalt von Themen und Stilen. Alle Filme eint der Einspruch gegen Klischees und ein Aufzeigen von ­Ungerechtigkeiten. Darüber hinaus werden durch Previews Filme vor Kinostart in der Brunnenpassage gezeigt. Als Standort von this human world - Internationales Filmfestival der Menschenrechte und ehemals dem Let‘s CEE Festival werden auch Festivalfilme am Yppenplatz gezeigt und einem breiteren Publikum zugänglich gemacht.

UMSETZUNG

Cinemarkt teilt sich konzeptuell in zwei Ebenen. Einerseits soll über die Originalfassungen und das offene Setting ein leichter Einstieg zum Programm der Brunnenpassage gewährleistet werden. Andererseits werden politische Themen rund um Diskriminierung, Menschenrechte, marginalisierte Gruppen etc. für alle Bevölkerungsgruppen in Hinblick auf eine Sensibilisierung für ein spezielles Thema zugänglich gemacht.

REALISIERUNG

Die aufwendigste Vorbereitung für die Kinoreihe ist das Kuratieren selbst. Die Auswahl wird immer wieder im thematischen Zusammenhang mit anderen programmatischen Schwerpunkten der Brunnenpassage getroffen. Einige Filme werden von außen an die Brunnenpassage herangetragen, da Filmemacher*innen selbst oder die Verleihe mittlerweile die Brunnenpassage als attrak­tive Location außerhalb der klassischen Kinos betrachten. Das Suchen und Einladen von Expert*innen nimmt ­weitere Zeit­ressourcen in Anspruch. Der Filmverleih wird über die Kooperations­partner*innen abgewickelt.

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Seit der Saison 2013/2014 besteht eine Kooperation mit ‘this ­human world – International Human Rights Film Festival’ und seit 2018 vertiefte sich diese über die inhaltliche Zusammenarbeit im Rahmen der Impulsreihe Arts, Rights, Justice. Seit 2015 besteht eine weitere Kooperation im Rahmen der 16 Tage gegen Gewalt an Frauen und Mädchen mit Klappe auf! und dem Medienprojekt frauenpolitisch aktiver Organisationen in Zusammenarbeit mit dem Animationsfestival Tricky Women. Bei der Veranstaltung selbst hilft das Freiwilligen-Team der Brunnenpassage mit und versorgt die Gäste mit Getränken und Popcorn. Auch nach Film- und Diskussionsende gibt es Zeit zum Verweilen und über das Gesehene informell zu diskutieren.

FINANZIERUNG

Cinemarkt wird in Kooperation mit St. Balbach Art Produktion veranstaltet. Es gibt ein jährliches Projektbudget seitens der Brunnenpassage. Bei Cinemarkt wird um freiwillige Beiträge ­gebeten und unregelmäßig kommen wechselnde Sponsor*innen hinzu, welche sich zumeist über einen Werbetrailer vor der Filmvorführung präsentieren.

DIALOGGRUPPENARBEIT

Cinemarkt wird zumeist nach thematischer Ausrichtung beworben. Häufig ist durch die Originalsprache des jeweiligen Films

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oder dessen Inhalt eine bestimmte Community besonders ­interessiert. Cinemarkt wird über Poster rund um den Brunnenmarkt beworben und zusätzlich über eine relativ kleine Stückzahl an Flyern, welche teilweise in den Originalsprachen des Films produziert werden und über Multiplikator*innen gezielt verteilt werden. Anwesende Künstler*innen laden gelegentlich weitere Zuseher*innen ein. Die Kooperationspartner*innen bewerben die Vorstellung zusätzlich über einen eigenen News­ letter, Social Media und die Presse. Auswahl gezeigter und diskutierter Filme ―

Born in Evin (Maryam Zaree | Deutschland/ Österreich 2019 | Deutsch)



Espero Tua (Re)volta (Eliza Capai | Brasilien 2019 | Portugiesisch)



this human world - International Human Rights Film Festival



Jesus shows you the way to the highway (Miguel Llansó | USA 2019 | Englisch) /slash Filmfestival



JOY (Sudabeh Mortezai | Österreich 2018 | Englisch/ Deutsch)



Matangi/Maya/M.I.A. (Steve Loveridge | USA/ England 2018 | Englisch/Tamil)

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Rafiki (Wanuri Kahiu | Kenia/ Südafrika/ Frankreich/ Niederlande/Deutschland 2018 | englisch-swahilische ­Originalfassung mit deutschen Untertiteln)



Weapon of Choice (Eva Hausberger, Fritz Ofner | Österreich 2018 | Englisch/Deutsch)



Ciao Chérie (Nina Kusturica | Österreich 2017 | Französisch/ Deutsch/ Englisch/ Romanes/ Serbisch/ Dari/ Somalisch/ Japanisch/ Italienisch/ Kurdisch)



City of Ghosts  (Matthew Heineman | USA 2017 | Arabisch/Englisch)



Die Migrantigen (Arman T. Riahi | Österreich 2017 | Deutsch)



Dil Leyla (Aslı Özarslan | Deutschland 2017 | Türkisch, Deutsch)



Silvana (Mika Gustafson, Olivia Kastebring, Chistina Tsiobanelis | Schweden 2017 | Schwedisch mit englischen Untertiteln)



The Congo Tribunal (Milo Rau | Schweiz/ Deutschland 2017 | Swahili/ Lingála/ Französisch/ Deutsch/ Englisch)



When God Sleeps (Till Schauder | USA/ Deutschland 2017 | Deutsch)



Whose Streets? (Sabaah Folayan | USA 2017 | Englisch)



Albüm (Mehmet Can Mertoglu | Türkei/ Frankreich/ Rumänien 2016 | Türkisch mit englischen Untertiteln)



The Citizen (Roland Vranik | Ungarn 2016 | Ungarisch mit englischen Untertiteln)



Unten (Đorđe Čenić/ Hermann Peseckas | Österreich 2016 | Deutsch/Bosnisch mit deutschen Untertiteln)



Fang den Haider (Nathalie Borgers | Österreich/ Belgien /Frankreich 2015 | Deutsch)



Last Shelter (G. I. Hauzenberger | Österreich 2015 | Farsi/Urdu/Englisch)



Mustang (Deniz Gamze Ergüven | Türkei/ Frankreich 2015 | Türkisch mit deutschen Untertitlen)



Paradise! Paradise! (Kurdwin Ayub | Österreich 2015 | Arabisch/Deutsch/Kurdisch mit englischen Untertiteln)



Sonita (Rokhsareh Ghaem Maghami | Deutschland/ Iran/ Schweiz 2015 | Englisch/Farsi/Dari mit englischen Untertiteln)



Taxi Teheran (Jafar Panahi | Iran 2015 | Farsi mit deutschen Untertiteln)



Jakarta Disorder - Ist Demokratie möglich? (Ascan Breuer/ Viktor Jaschke | Jakarta 2012 | Indonesisch mit deutschen Untertiteln)



Pirates of Salé (Rosa Rogers/ Merième Addou | England/ Marokko 2014 | Arabisch mit englischen Untertiteln)



Everyday Rebellion (Arash & Arman T. Riahi | Deutschland/ Österreich/ Schweiz/ Griechenland/ Belgien 2013 | Englisch)

Anwesende Gäste: Kurdwin Ayub (Filmregisseurin), Ute Bock (Verein Flüchtlings­ projekt Ute Bock), Renate Blum (LEFÖ, Beratung, Bildung und Begleitung für Migrantinnen), Abou Bossou (Kulturarbeiter), Ascan Breuer (Filmregisseur), Eric Bwire (LGBTI-Aktivist), Nelson Carr (Campaigner #aufstehn), Đorđe Čenić (Filmregisseur), Andrea Eraslan-Weninger (Integrationshaus), Hussam Eesa (Aktivist, Raqqa is Being Slaughtered Silently), Ilkim Erdost (ehem. Direktorin VHS Ottakring, Geschäftsführerin des Vereins Wiener Jugendzentren), EsRaP (Esra und Enes Özmen, Musikduo), Sina Farahmandnia (PROSA), Nora Friedl (no racism), Heinz Fronek (Asylkoordination Österreich), Faris Cuchi Gezahegn (LGBTIQ+ Aktivist, Afro Rainbow Austria), Djamila Grandits (Kuratorin, Kulturar­beiterin, ehem. Leiterin this human world, Cine­Collective), Jelena Gučanin (Journalistin), Gerald Igor Hauzenberger (Filmregisseur), Alev Irmak (Schauspielerin), Tomáš Kaminský (Filmproduzent), Dilara Karabayir (Schauspielerin), Belinda Kazeem (Kulturtheoretikerin), Kenan Kiliç (Filmregisseur), Aslı Kışlal (Schauspielerin und Regisseurin), Daniela Krömer (Ludwig Boltzmann Institut), Kokavere Lavutára (Band), Nina Kusturica (Filmregisseurin), Ulrike Lunacek (ehem. Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments), Angela Magenheimer (Ehe ohne Grenzen), Mahnaz Mohammadi (Filmemacherin), Rubina Möhring (Journalistin und Präsidentin von "Reporter ohne Grenzen"), Anna Müller-Funk (Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte), Murathan Muslu (Schauspieler), Javad Namaki (Schauspieler), Shahin Najafi (Aktivist, Musiker), Michael Reimon (  Autor, ehemaliger Journalist, Politiker, Mitglied des EU-Parlament), Arash T. Riahi (Filmregisseur), Arman T. Riahi (Filmregisseur), Anja Salomonowitz (Filmregisseurin), Renata Schmidtkunz (Redakteurin, Filmemacherin, Moderatorin beim ORF), Marco Schreuder (LGBTI-Aktivist und Politiker), Moša Šišic (Musiker), Harri Stojka (Musiker), Petra Sußner (Asylrechtsexpertin), Hüseyin Tabak (Filmregisseur), Jaroslav Vojtek (Filmregisseur)

BETEILIGTE

Idee: Anne Wiederhold-Daryanavard und Andreas Kous Projektleitung: Rainer Zeitlinger, Ivana Pilić, Zuzana Ernst, David Mathews Mitarbeit: Freiwilligenteam der Brunnenpassage Filmvorführung: St. Balbach Art Produktion

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Tania Bruguera

Manifesto on Artists' Rights Art is not a luxury. Art is a basic social need to which everyone has a right. Art is a way of building thought, of being aware of oneself and of the others at the same time. It is a methodology in constant transformation for the search of a here and now. Art is an invitation to question; it is the social place of doubt, of wanting to understand and wanting to change reality. Art is not only a statement of the present, it is also a call for a different future, a better one. Therefore, it is a right not only to enjoy art, but to be able to create it. Art is a common good that does not have to be entirely under­ stood in the moment one finds it. Art is a space of vulnerability from which what is social is ­de­constructed to construct what is human. Artists not only have the right to dissent, but the duty to do so. Artists have the right to dissent not only from affective, moral, philosophical, or cultural aspects, but also from economic and political ones. Artists have the right to disagree with power, with the status quo. Artists have the right to be respected and protected when they dissent. The governments of nations where artists work have the duty to protect their right to dissent because that is their social function: to question and address what is difficult to confront. Without the possibility to dissent, an artist becomes an administrator of technical goods, behaves like a consumption manufacturer and transforms into a jester. It is a sad society where this is all social awareness creates. Artists also have the right to be understood in the complexity of their dissent. An artist should not be judged first and discussed later. Artists should not be sent to jail because of proposing a ‘different’ reality, for sharing their ideas, for wanting to strike up a conversation on the way the present unfolds. If the artist’s proposal is not understood, it should be discussed by all, not censored by a few. If one publicly expresses and evinces ideas in a different way from that of those in power, governments, corporations and religious institutions too easily declare that one is irresponsible, wanting to use guilt and incite the masses to violent reactions as their best defense strategy, instead of processing criticism and calling for public debate. Nothing justifies the use of violence against an idea or the person suggesting it. Governments have the duty to provide a space for self-criticism in which they are accountable for their actions, a space where the people can question them. No government is infallible; no human being – even if elected – has the right to talk for all the citizens. No social solution is permanent and it is the artists who 236

have the opportunity and the duty to suggest the imagery of ­other social alternatives, of using their communication tools from a space of sensitive responsibility. Artists suggest a meta-reality, a potential future to be experienced in the present. They suggest experimenting with a moment which has not yet arrived, a situation of ‘what if that were this way’. Therefore, they cannot be judged from spaces in the past, from laws trying to preserve what is already established. Governments must stop fearing ideas. Governments, corporations (today they are like alternative ­governments) and religious institutions are not the only ones with a right to build a future; this is the right of citizens, and artists are active citizens. That is why artists have the right and the responsibility not only to think up a different and better world, but to try to build it. Artists have the right to be artivists (part artists/part activists), because they are an active part of civil society, because art is a safe space from which people can debate, interpret, build, and educate. This space must be defended because it benefits us all: art is a social tool. Governments should not control art and artists. They should protect them. Artists have the right not to be censored when gestating their work or during the research process of conceiving it. Artists have the right to create the work they want to create, with no limits; they have the duty to be responsible without self-­censorship. Society has the right to have its public spaces as spaces for creativity and artistic expression, since they also are collective spaces for knowledge and debate. Public space belongs to civic society, not to governments, corporations, or religious institutions. Freedom of artistic expression does not emerge spontaneously. It is something one learns to reach leaving behind pressure, emotional blackmail, censorship, and self-censorship. This is a difficult process that should be respected and appreciated. Artistic censorship not only affects artists but the community as well, because it creates an atmosphere of fear and self-­censorship paralyzing the possibility of exercising critical thinking. To think differently from those in power does not make you ­irresponsible. In moments of high sensitivity (wars, legislative changes, ­political transitions), it is the duty of the government to protect and guarantee dissident, questioning voices, because these are moments in which one cannot do away with rationality and critical thought and it is sometimes only through art that many emerging ideas can make a public appearance. Without dissent there is no chance of progress. Socially committed artists talk about difficult moments, deal with sensitive topics, but, unlike journalists, they have no ­legal protection when doing their work. Unlike corporations, they have no significant economic backing. Unlike governments, they have no political power. Art is a social work based on a practice that makes artists vulnerable and, as is the case with journalists, corporations, and governmental or religious 237

i­nstitutions, they have the right to be protected because they are doing a public service. The right to decide the value of an artistic statement is not a right of those in power. It is not the right of governments, of corporations, of religious institutions to define what art is. It is the right of artists to define what art is for them. Art is a complex product without a single and final interpretation. Artists have the right of not having their oeuvre reduced or simplified as a schematic interpretation which may be manipulated by those in power to provoke and, consequently, result in public offenses directed to the artists, so as to invalidate their proposals. To create a space for dialogue and not for violence against works of art questioning established ideas and realities, governments should provide educational platforms from which artistic prac­ tice may be better understood. We must be cautious about the increasing criminalization of ­socially committed artistic creation under the rationale of national security and the need to control information because of political reasons with the purpose of censuring artists. There are many types of strategies for political censorship. ­Political censorship is not only exercised through direct political pressure, but censuring the access to economic support, creating a bureaucratic censorship postponing production processes, marginalizing the visibility of a project by drawing artists away from legitimization and distribution circuits; controlling the right to travel, deciding who has the right to talk on what subjects; and, at times, even using ‘popular sensitivity’ as censorship. All these are decisions taken and conducted from political power so as not to be challenged. The process of discovering a different society, the inner negotiation required to understand the place of arrival and the place one has left, is inherent to contemporary condition, which is, increasingly, a migrant condition. This is a condition that artists embody and on which they have the right to express. After all, a national culture is the hybridization of the image those who do not live in the country have of it and all present day by day build, wherever they have originally come from. We cannot ask artists, whose work is to question society, to keep silent and resort to self-censorship once they cross a territorial border. Artists have the right not to be fragmented as human beings or as social beings. Artistic expression is a space to challenge meanings, to defy what is imaginable. This is what, as times goes by, is recognized as culture. A society with freedom of artistic expression is a healthier ­society. It is a society where citizens allow themselves to dream of a better world where they have a place. It is a society that expresses itself better, because it expresses itself in its entire complexity.

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There is no other type of practice in the public sphere providing the qualities of the space created by art. That is why this space must be protected. Governments have the duty to protect all their citizens, ­including those who may be considered uncomfortable because they question the government or what is socially established. Critical thinking is a civic right which becomes evident in artistic practices. That is why, when threatened, we should not talk of censorship, but of the violation of artists' rights.

Words read in ‘Expert Meeting on Artistic Freedom and Cultural Rights’ Hall # 21, Palais des Nations, seat of the United Nations Organization Geneva, December 6, 2012

Tania Bruguera ist Künstlerin und Aktivistin aus Kuba. „Bruguera verwendet den Begriff „Arte Útil“: Kunst als ­Werkzeug, um gesellschaftliche Zusammenhänge zu verändern. Aus ­Zusehenden werden Bürger*innen. Aus Teilnahme ein politischer Effekt.“1 2020 und 2021 war die Brunnenpassage Kooperationspartner bei einer geplanten Produktion der Wiener Festwochen unter Künstlerischer Leitung von Tania Bruguera. Wegen der Pandemie musste die Produktion nach umfangreicher Vorbereitung verschoben werden. Tania Bruguera hatte der Brunnenpassage ein Vorwort für ­dieses Buch zugesagt. Aufgrund politischer Proteste von Künstler*­ innen in Kuba und massiver wochenlanger Repressionen gegen unter anderem Tania Bruguera, hat sie dieses Vorhaben nicht umsetzen können und uns gebeten stattdessen eine Rede, die sie 2012 in Genf im Rahmen des ‘Expert Meeting on Artistic Freedom and Cultural Rights’ der Organisation der Vereinten Nationen gehalten hat, abzudrucken. Wir bedanken uns für die Erlaubnis der Veröffentlichung von Tania Brugueras Rede und dieses starke, nach wie vor hochaktuelle Statement zu künstlerischer Freiheit!

1 https://www.festwochen.at/schule-fuer-integration Februar 2021

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Kurzbiografien Elisabeth Bernroitner ist seit 2011 in der Brunnenpassage tätig, seit 2014 als Leiterin und Kuratorin des Theater- & Performancebereichs. Bis Ende 2019 im Vorstand der IG Kultur Wien und von 2016 bis 2018 künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin von PANGEA. Werkstatt der Kulturen der Welt. Davor Projektleiterin am Tanzquartier Wien. Theaterwissenschaftlerin und Kulturanthropologin, MA Performance Art Practices sowie Ausbildungen in den Bereichen Dramaturgie, Kulturmanagement, Diversity Management. Arbeitsschwerpunkte: (post-)migrantische zeitgenössische Kunstpraxen, postkoloniale Strategien, Diversitätsentwicklung in Kulturinstitutionen, Transkultur und diskriminierungskritische Agenda, dezentrale Kulturarbeit und Soziokultur, Partizipation, Co-Creation. Gordana Crnko arbeitet seit 2011 in der Brunnenpassage als Kuratorin und Leiterin des Musikbereichs. 2013 Mitinitiatorin und seitdem künstlerische Leitung des StraßenKunstFest am Brunnenmarkt. Zuvor verschiedene nationale und internationale Tätigkeiten im Kunst- und Kulturbereich. Inhaltliche Interessen & Arbeitsschwerpunkte: Schnittstellen zwischen traditionellen und zeitgenössischen Aufführungspraxen, Soziodynamik & ­Entscheidungsprozesse in heterogenen (Groß-)Gruppen, Interdisziplinarität. Zuzana Ernst ist seit 2016 stellvertretende Künstlerische Leitung der Brunnenpassage. Ihr Fokus richtet sich auf gemeinschaftsorientierte Praxen an der Schnittstelle von zeitgenössischer Kunst und politisch-partizipativer Kulturarbeit. Seit 2019 ist sie Vorstandsmitglied der IG Kultur Wien, seit 2017 Lektorin an der Akademie der bildenden Künste, Institut für künstlerisches Lehramt. Als Szenografin und Gründungsmitglied der trans­ disziplinären Performancegruppe tangent.COLLABORATIONS widmet sie sich seit 2012 Methoden der Publikumspartizipation und kollaborativen Stückentwicklung. Tilman Fromelt ist Programmleiter vom Kulturhaus Brotfabrik. Zuvor war er maßgeblich von 2008 bis 2013 an der Konzeption der Brunnenpassage beteiligt und widmete sich dann dem ­Aufbau des Kunst- und Kulturraums Stand 129 am Wiener ViktorAdler-Markt, der auch heute noch als Spielstätte des Kulturhaus Brotfabrik geführt wird. Vor seinem Wechsel nach Wien war er in Deutschland an diversen Bühnen als Schauspieler und als ­Trainer in der Erwachsenenbildung tätig. Natalia Hecht  ist eine transdisziplinäre Künstlerin, Psychologin, Aktivistin und Expertin für Community Arts aus Argentinien, die seit 2008 in Wien lebt. Im Zentrum ihrer künstlerischen Praxis stehen poetische, partizipatorische Co-Kreations- und Reflexions­prozesse mit Communities, die mit unterschiedlichen gesellschaftspolitischen und ökologischen Herausforderungen ­konfrontiert sind. Durch Zusammenarbeit, ästhetischem ­Handeln und kritischer sozialer Reflexion werden zentrale Themen wie Transkultur, Feminismus, Inklusion, Umweltkrise, Gesundheit oder Migration erforscht, um kollektive und persönliche Pro­zesse der Resilienz, Verbindung, Selbstrepräsentation und  Trans­ formation  zu initiieren. Als langjährige Kulturarbeiterin entwirft und leitet sie Evaluierungsprozesse im Kunst- und Kultursektor mit Schwerpunkt auf nachhaltigen Partnerschaften und institutioneller Öffnung für Vielfalt und Wandel. 240

Ivana Pilić ist freie Kuratorin und Kulturwissenschaftlerin. Derzeit promoviert sie an der interuniversitären Einrichtung Wissenschaft und Kunst der Universität Salzburg und des Mozarteums zu diskriminierungskritischen Kunstpraxen. Davor war sie Künstlerische Leiterin in der Brunnenpassage. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Erforschung transkultureller Formate und der Entwicklung von diversitätskritischen Konzepten im Kulturbetrieb. Sie ist Vorstandsmitglied der WIENWOCHE – Festival für Kunst und Aktivismus. Ivana Pilić ist außerdem als Jurorin tätig u.a. im Tandem Interkultur der Kulturstiftung Pro Helvetia und in Beiräten und Gremien aktiv, u.a. für die Europäische ­Kommission als Expertin für Interkulturellen Dialog. Anne  Wiederhold-Daryanavard  ist  Schauspielerin,  Organisationspsychologin, Mitgründerin und Künstlerische Leiterin der Brunnenpassage.  Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der ­Formatentwicklung transkultureller Kunst, im Bereich der sozial engagierten Kunst, Diversitätsentwicklung in der Kulturpolitik sowie im experimentellen und dokumentarischen Theater. Anne Wiederhold-Daryanavard arbeitet als Jurorin sowie in Gremien u.a. für die Europäische Kommission als Expertin für Diversität im Kulturbetrieb. Sie wird national und international für Vortrags­ tätigkeiten und Beratung angefragt.  Seit 2020 ist sie Mitglied des Stiftungsbeirats des Volkstheater Wien.

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Dank

Ein großer Dank gilt unserer Trägerorganisation der Caritas Wien – Herrn Direktor Michael Landau und der Geschäftsführung für das Vertrauen in unsere Arbeit, die unermüdliche finanzielle Unterstützung und für die inhaltliche und künstlerische Freiheit. Einen besonderen Dank möchten wir Werner Binnenstein-Bachstein aussprechen, der die Brunnenpassage in seiner damaligen Funktion als Generalsekretär der Caritas Wien 2007 initiiert hat und auch gegenwärtig ein wichtiger Unterstützer und Begleiter unserer Arbeit ist. Danke an alle Wegbegleiter*innen in der Caritas Wien, stellvertretend für viele möchten wir hier Georg Irsa, Sabine Gretner, Florian Pomper und Monica Delgadillo Aguilar, Tilman Fromelt sowie Julia M. Tauber explizit namentlich nennen. Wir bedanken uns für die langjährigen Förderungen und den inhaltlichen Austausch bei der Kulturabteilung und der Magistrats­abteilung für Diversität und Integration der Stadt Wien, sowie der Bezirksvertretung Ottakring und vor allem bei unserem Bezirks­vorsteher Franz Prokop und allen Sponsoren und Spender*innen. Dank insbesondere an Frau Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler und Frau Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer. Danke an das Bundesministerium für Kunst und Kultur, besonders hervorheben möchten wir Frau Kathrin Kneissel, Leiterin der Abteilung IV/10: Kunst und Kultur: Europäische und internationale Kulturpolitik im Bundes­ministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport, für die vielen anregenden Gespräche, den Zuspruch und die finanzielle Ermöglichung der ersten und zweiten Auflage von Kunstpraxis in der Migrationsgesellschaft. Bedanken möchten wir uns von Herzen beim wundervollen ­BrunnenpassageTeam: Elisabeth Bernroitner, Richard Bruzek, Züleyha Celiksu, Gordana Crnko, Gerald Deimbacher, Robert Duncombe, Hamayun Mohammad Eisa, Zuzana Ernst, Elif Ișık, Mushtaq Faizrahman Khani, Yamna Krasny, Aysel Kutan, David Mathews, Fariba Mosleh, Michael Podgorac, Rodrigo Martinez Rivas, David Garcia Santos, Kanako Sekine. Ein herzlicher Dank auch an die Freiwilligen Mitarbeiter*innen: Mustafa Abdullah, Yasser Amin, Younes Asalforoosh, Nateghian Asghar, Ghassan Bobed, Ali Delemi, Eraghi Farideh, Farshan Forouzi, Sepideh Forouzi, Martina Forstner, Zahra Ghafarian, Ulrich Glatz, Ali Jafari, Nevin Kabak, Walter Lehrer, Elisabeth Mitterlechner, Lale Dokhte Malek Mohammady, Masoud Naderi Maralani, Romaine Ouattara, Maral Peiravyfaroji, Fakhrisadat Hashemi Petroudi, Mahmud Reza, Mahmud Rezaie, Regina Rosenauer, Hashmatullah Safi, Zeinali Sajad, Fereshteh Sotoodeh Sarteli, Hedwig Seyr-Glatz, Azizollah Shariati, Mehri Sheykhi, Maher Zaher, Nourian Zahra, Ali Zarghami. Sowie beim ehemaligen Team: Husseín Abdulaim, Kinan Ahmad, Bairak Alaisamee, Ammar Alabd Alhamid, Hayder Alchaabwi, Ibrahim Al Samarai, Mohamad Alsalm, Hussam Alsawah, Katharina Augendopler, Sheri Avraham, Jaber Barchin, Ibrahim Bah, Beate Bauer, Julian Beyer, Dylan Butler, Mustafa Cihangir, Alireza Daryanavard, Gassama Dembo, Karoline Exner, Lana Fallaha, Stefanie Fischer, Mahsa Ghafarian, Amin Ghazipour, Djamila Grandits, Petra Grosinic, Vian Hasan, Ruth Haselmair, Natalia Hecht, Mahmud Abdul Jalil, Mohammad Abdul Jalil, Ernestine Kadlec, Marlene Kalnein, Dila Kaplan, AnnaMaria Kemethofet-Waliczky, Klaus Kerstinger, Seda Kocabas, Leonie Markovics, Vinka Mlakic, Hayder Munshed, Enana Najm, Marzieh NazaryniaI, Ahmed Al Obaidi, Tatjana Okresek, Dawoud Palo, Ognjen Petkovic, Sara Karami Olia, Ovido Pop, Hayder Quasim, Melika Ramic, David Robinson, Carolina RosalesFarias, Lucia Rosati, Marcos Rondon, Moustafa Sahune, Dilan Sengül, Natalie Sopuchova, Özlem Sümerol, Ṣafak Suppan, Theda Schifferdecker, Hannah Swoboda, Ahmet Zavlak, Rainer Zeitlinger, Rachid Zinaladin. Der größte Dank gilt allen Künstler*innen, Mitwirkenden und Besucher*innen, unseren Nachbar*innen und Kooperations­partner*innen für die vielen gemeinsamen Jahre, die schönen Erfahrungen und das gute Miteinander.

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Impressum

Kunstpraxis in der Migrationsgesellschaft Transkulturelle Handlungsstrategien der Brunnenpassage Wien Ivana Pilić, Anne Wiederhold-Daryanavard (Hg.) 2., überarbeitete und erweiterte Ausgabe Autor*innen: Elisabeth Bernroitner, Gordana Crnko, Zuzana Ernst, Tilman Fromelt, Natalia Hecht, Ivana Pilić, Anne Wiederhold-Daryanavard Fotografie: Tal Adler (Seite 78/79, Seite 80/81, Seite 82/83), Karin Cheng (Seite 58/59), Ulrich Eigner (Seite 224), Niko Havranek / Burgtheater (Seite 48/49), Igor Ripak (Seite 62/63, Seite 142/143, Seite 144/145, Seite 179, Seite 201 (links), Seite 228/229, Seite 230/231), He Shao Hui (Ausschnitt Seite 40, Seite 86/87, Seite 88/89, Seite 96/97, Seite 98/99), KHM-Museumsverband (Seite 66, Seite 68, sowie Ausschnitte auf Seite 41 und Seite 74/75), Oreste Schaller (Seite 170/171). Alle weiteren Fotos von Bert Schifferdecker. Illustrationen: George Ferrandi (Ausschnitt auf Seite 40, Seite 91, Seite 100/101) Eleni Palles (Seite 102/103, Seite 109, Seite 114/115) Louis Hofbauer (Seite 138/139) Grafik: Louis Hofbauer Cover Design und Kelim Patterns: Stefan Wirnsperger Administrative Mitarbeit: Elif Ișık Inhaltliches Lektorat Hauptkapitel: Persson Perry Baumgartinger Lektorat Promising Practice: Fanny Müller-Uri Korrektorat Deutsch: Niki Kubaczek, transversal texts (transversal.at) Druck: Gerin Print-ISBN 978-3-8376-5546-9 https://doi.org/10.14361/9783839455463 PDF-ISBN 978-3-8394-5546-3 © Brunnenpassage Brunnengasse 71/Yppenplatz, 1160 Wien Wien 2021

Das Buch ist gefördert von:

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