Selbst-Beherrschung im technischen und ökologischen Bereich: Selbststeuerung und Selbstregulierung in der Technikentwicklung und im Umweltschutz. Erstes Berliner Kolloquium der Gottlieb Daimler- und Karl Benz-Stiftung [1 ed.] 9783428493807, 9783428093809

Die wachsenden Sorgen, der Staat könne seinen Aufgaben nicht mehr nachkommen, insbesondere nicht mehr finanzieren, ergre

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Selbst-Beherrschung im technischen und ökologischen Bereich: Selbststeuerung und Selbstregulierung in der Technikentwicklung und im Umweltschutz. Erstes Berliner Kolloquium der Gottlieb Daimler- und Karl Benz-Stiftung [1 ed.]
 9783428493807, 9783428093809

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Selbst-Beherrschung im technischen und ökologischen Bereich

Schriften zum Umweltrecht Herausgegeben von Prof. Dr. M ich a e I Klo e p fe r, Berlin

Band 85

Selbst-Beherrschung im technischen und ökologischen Bereich Selbststeuerung und Selbstregulierung in der Technikentwicklung und im Umweltschutz Erstes Berliner Kolloquium der Gottlieb Daimler- und Karl Benz-Stiftung

Herausgegeben von Michael Kloepfer

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Selbst-Beherrschung im technischen und ökologischen Bereich: Selbststeuerung und Selbstregulierung in der Technikentwicklung und im Umweltschutz / hrsgo von Michael Kloepfero - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (000 Berliner Kolloquium der Gottlieb Daimler- und Karl BenzStiftung; 1) (Schriften zum Umweltrecht ; Bdo 85) ISBN 3-428-09380-1

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-4247 ISBN 3-428-09380-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Vorwort Die Selbstregulierung durch gesellschaftliche Kräfte - insbesondere im Umweltschutz und in der Technikkontrolle - kann eine Frage auf die Antwort sein, auf welche Weise wichtige Probleme des Gemeinwohls auch dann gelöst werden können, wenn sich der Staat in seiner Bemühung um "Verschlankung" aus derartigen Aufgaben als regulative Kraft zurückzieht. Selbstbeschränkungsabkommen, private technische Regelwerke und unternehmensinterne Leitlinien sind wichtige praktische Beispiele. Eine (Rück-?)Verlagerung von Regulierungsmacht auf die Gesellschaft kann jedoch nur dann zu akzeptablen Ergebnissen führen, wenn gesellschaftliche Selbstregulierung im Geiste der Verantwortung für das Gemeinwohl wahrgenommen wird. In diesem Sinne will der Begriff der Selbst-Beherrschung - in der bewußten Hervorhebung des Unterschieds zur Fremd-Beherrschung im Sinne staatlicher Herrschaft - sowohl den Mechanismus wie aber auch die legitimierende Idee von Selbstregulierungen insbesondere im Bereich des Umweltschutzes und der Technikkontrolle erfassen. Zu dieser Thematik fand am 29. und 30. Mai 1997 an der Humboldt-Universität zu Berlin eine Tagung zu dem Thema: "Selbst-Beherrschung im technischen und ökologischen Bereich" statt. Es handelte sich um das 1. Berliner Kolloquium der Gottlieb Daimler- und Karl Benz-Stiftung, das in Zusammenarbeit mit den Forschungszentren Umwe1trecht und Technikrecht an der Humboldt-Universität veranstaltet wurde. Der vorliegende Band enthält - teilweise in leicht überarbeiteter Form - die Referate der Berliner Tagung sowie eine kurze Einführung. Berlin, im April 1998

Michael Kloepfer

Inhaltsverzeichnis Einführung Michael Kloepfer

Einführung ........................ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Begrüßung Michael Kloepfer ............................. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gisbert Freiherr zu Putlitz ........... . ............................................. . ...

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Hans Meyer ...........................................................................

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I. Selbst-Beherrschung als Idee Wolfgang Huber

Selbstbeherrschung als Selbstbegrenzung. Das ethische Grundproblem des naturwissenschaftlich-technischen Zeitalters .................................................

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Wolfgang van den Daele

Regulierung, Selbstregulierung, Evolution - Grenzen der Steuerung sozialer Prozesse ................................................................................

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Joachim Jens Hesse

Selbst-Beherrschung als politische Idee

49

11. Selbstregulierung in der Technikentwicklung und im Umweltschutz 1. Private technische Regelwerke

Hubert P. Johann

Selbstregulierungen in unterschiedlichen Unternehmen und Institutionen............

67

8

Inhaltsverzeichnis

Helmut Reihlen

Private technische Regelwerke - Tatsächliche Erscheinungsfonnen und ökonomische Aspekte ........................................................................

75

Matthias Schmidt-Preuß

Private technische Regelwerke - Rechtliche und politische Fragen

89

2. Selbstverpflichtungen Dieter Cansier

Erscheinungsfonnen und ökonomische Aspekte von Selbstverpflichtungen ....... . .. 105 UdoDi Fabio

Selbstverpflichtungen der Wirtschaft - Grenzgänger zwischen Freiheit und Zwang .. 119

3. Selbstregulierung im Umweltschutz als politische GestaItungsaufgabe Horst Sendler

Selbstregulierung im Konzept des Umweltgesetzbuches ............................. 135 WaLter Leisner

Verfassungsgrenzen privater Selbstregulierung ...................................... 151 WaLter Hirche

Mehr Umweltschutz durch mehr Eigenverantwortung ............................... 163

Autoren- und Rednerverzeichnis . .. . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . 175

Einführung

Einführung Das stetige Anwachs~n staatlicher Aufgaben hat in jüngerer Zeit nicht nur die rechtsstaatlichen Bedenken gegenüber einer venneintlichen Allmacht des Staates wieder in Erinnerung gerufen, sondern sieht sich zunehmend auch ökonomischen Warnungen vor einer fehlenden Finanzierbarkeit des Staates ausgesetzt. Die drohende Zahlungsunfähigkeit des Staates macht die Frage nach einer Reduzierung seiner Aufgaben und damit seiner Ausgaben unverzichtbar. Hinzu kommen immer stärkere Sorgen über die zunehmende Unbeweglichkeit oder gar Handlungsunfahigkeit eines übersättigten "fetten Staates", dem nunmehr bekanntlich das Leitbild des "schlanken Staates" gegenübergestellt wird. Derzeit ergreift die Suche nach der geeigneten Aufgaben- und Ausgabendiät für den Staat auch die Technologiesteuerung und den Umweltschutz. Wie aber sollen Technologiesteuerung und Umweltschutz im "schlanken Staat" aussehen? Paßt dies überhaupt zusammen? Ist es zum Beispiel möglich, staatliche Regelungen zum Schutz der Ozonschicht durch gesellschaftliche Selbstverpflichtungen zu ersetzen? Oder zugespitzt gefragt: Kann die Technikkontrolle den technischen Organisationen und den Unternehmen selbst überlassen werden? Wie läßt sich in diesem Zusammenhang eine Idee der Selbstbeherrschung fonnulieren? Und wie wird eine solche "Selbstbeherrschung durch Selbstbegrenzung" aus praktischer und wissenschaftlicher, insbesondere aus ethischer, politologischer, soziologischer und juristischer Sicht, bewertet? Folgt aus der technischen Möglichkeit von Verfahren und der Erzeugbarkeit von Produkten bereits deren Legitimität? Ist nicht eine Selbstbegrenzung bei der Selbststeuerung erforderlich? Ist die Selbststeuerung nicht ein Lebensprinzip von Organen und Organisationen? Ist die Selbststeuerung gleichzusetzen mit der demokratischen Idee? Sind private technische Regelwerke von Unternehmen und technischen Organisationen geeignete Fonnen der Selbststeuerung? Oder führt dies zur kaum kontrollierbaren Herrschaft technischer Fachbruderschaften? Sind staatlich inspirierte Selbstverpflichtungen, sind Nonnsetzungsverträge zwischen gesellschaftlichen Kräften sinnvolle Alternativen für die staatliche Gesetzgebung? Führt das nicht zu einer partiellen Abdankung des parlamentarischen Gesetzgebers? Was bringt insoweit das neue Umweltgesetzbuch? Mit allen diesen Fragen beschäftigte sich das 1. Berliner Kolloquium der Gottlieb Daimler- und Karl Benz-Stiftung, das in diesem Jahr mit den neu gegründeten Forschungszentren Umweltrecht und Technikrecht am 29. und 30. Mai 1997 an der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand. Experten aus unterschiedlichen Disziplinen und Bereichen der Praxis diskutierten unter Berücksichtigung von ökonomischen und ökologischen Aspekten die Frage, wie zukünftige Rahmenbedingungen

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Einführung

der Technikentwicklung aussehen könnten. Der vorliegende Band gibt - in überarbeiteter Form - die Referate des Berliner Kolloquium wieder. Die Leitgedanken dieses Kolloquiums seien an dieser Stelle kurz skizziert: In den letzten Jahren ist immer deutlicher geworden, daß der Staat nicht mehr alle erforderlichen Umweltstandards selbst setzen oder gar über ihre Einhaltung wachen kann. Das Umwelt- und Technikrecht stößt zunehmend an Grenzen der Regelbarkeit, aber auch der Vollziehbarkeit. Je stärker die Erwartung an den Staat wächst, technische und ökologische Probleme umfassead zu bewältigen, desto mehr droht seine Handlungsfähigkeit abzunehmen. Mehr Staat bedeutet im Ergebnis keineswegs immer mehr und besseren Umweltschutz. Das bisherige Steuerungsmodell der Gebote und Verbote droht angesichts komplexer Problemlagen, bestehender Informationsdefizite und kaum noch zu überschauender Wirkungszusammenhänge zu versagen. Ein anschauliches Beispiel hierfür liefern die Probleme der Gentechnologie. Will sich der Staat aus Teilbereichen des Umweltschutzes und Technikkontrolle zurückziehen, muß er versuchen, diese Aufgaben auf nichtstaatliche Institutionen zu übertragen, die effektiven Umweltschutz und Technikkontrolle gewährleisten. Der Staat setzt daher mehr und mehr auf die Selbststeuerungspotentiale der an der Technikentwicklung und dem Umweltschutz beteiligten gesellschaftlichen Gruppen und Teilsysteme - wie zum Beispiel Wirtschaft, Wissenschaften und Verbände. Hieran knüpfte das Kolloquium mit dem Begriff der Selbst-Beherrschung an. Ein verantwortungsvoller Umgang mit den modemen Risiken macht vorrangig, jedoch nicht ausschließlich eigenverantwortliche Selbstbegrenzungen erforderlich. Unser bisheriges Denken ist stark von dem klassischen Rechtsgrundsatz geprägt, was nicht verboten ist, sei erlaubt. Eine solche Sichtweise übersieht, daß die Beteiligten häufig bereit sind, mehr als das rechtlich Gebotene für den Umweltschutz und die Technikkontrolle zu tun. Die Umweltleitlinien in der Wirtschaft belegen dies ebenso wie die freiwilligen Selbstverpflichtungen von Unternehmen z. B. zur Verringerung von Schadstoffausstößen oder zur Abfallverringerung und -verwertung. Das Kolloquium stellte die Grundfrage nach einer staatlich inspirierten oder nur geduldeten gesellschaftlichen Selbstbegrenzung. Gesellschaftliche Selbstbegrenzungen müssen häufig nicht erst neu erfunden oder geschaffen werden. Als Beispiele bereits bestehender privater Selbstregulierung seien nur die privaten technischen Regelwerke genannt, die in der Praxis eine zentrale Rolle spielen (z. B. DIN-Normen). Die Umweltpolitik setzt darüber hinaus immer häufiger auf Selbstverpflichtungen von Unternehmen und Unternehmensverbänden. Sie wurden im Kolloquium unter ökonomischen und rechtlichen Aspekte behandelt. Daß private Selbstregulierung keinen Verzicht auf staatliche Steuerung im Sinne eines "anything goes" bedeuten darf, vielmehr als politisch anspruchsvolle Gestaltungsaufgabe verstanden werden muß, rundete das Kolloquium thematisch ab. Vorgestellt wurden die Chancen einer rechtlichen "Steuerung privater Selbststeue-

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Einführung

rung" im Konzept des neuen Sachverständigenentwurfs zum Umweltgesetzbuch. Dieser das ganze Umweltrecht des Bundes erfassende Entwurf ist inzwischen vorgelegt worden und soll in einem ersten Teil bereits 1999 in Kraft treten. Ein wesentlicher Ansatz des Umweltgesetzbuchs ist die Sicherung des Prinzips der kontrollierten Eigenverantwortlichkeit. Die Stärkung des Betriebsbeauftragten, des Umwelt-Audits, aber auch die Beteiligung der Gesellschaft an Rechtssetzungsaufgaben sind wesentliche Beispiele hierfür. Dabei sieht der Entwurf - um nur ein besonders markantes Beispiel zu nennen - Rechtsetzungsverträge zwischen gesellschaftlichen Gruppen vor. Auf diese Weise werden die Techniksteuerung und der Umweltschutz - freilich in einem staatlichen Ordnungsrahmen und mit einem gesetzgeberischen Rückholrecht - weitgehend entstaatlicht. Recht wird nicht mehr nur in herkömmlichen Verfahren einseitig-hoheitlich gesetzt, sondern auch vertraglich ausgehandelt. Daß hierbei Verfassungsgrenzen sorgfältig zu beachten sind, liegt auf der Hand. In gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen muß insbesondere die Berücksichtigung der Gemeinwohlinteressen gewährleistet sein. Eine Ausweitung privater Normsetzung könnte die staatliche (vor allem umweltpolitische) Regelsetzung entlasten. Damit würde das Eigeninteresse der Betroffenen geweckt, deren Sachverstand mobilisiert und nutzbar gemacht sowie die Bereitschaft zur Normbefolgung erhöht werden. Gleichzeitig würde der Gesetz- und Verordnungsgeber von Regelungsaufgaben teilweise befreit. Der Staat könnte weitgehend auf eine Mißbrauchsaufsicht beschränkt und so auch finanziell entlastet werden. Sicherlich: Eine private Normsetzung wird zu einer höheren Differenzierung der Umwelt- und Technikstandards führen. Dies mag als unübersichtlich bedauert werden, aber birgt doch die Chance zu mehr ökologischer und ökonomischer Effizienz. Und schließlich könnte ein vorsichtiger Ausbau der Selbstregulierung im Umwelt- und Technikrecht dazu beitragen, die Akzeptanz für den Umweltschutz als wesentliche Erfolgsvoraussetzung jeder Umweltpolitik in einer Demokratie dauerhaft zu gewährleisten. Der Schritt zur notwendigen ökologischen Selbstbeherrschung sollte jedenfalls auch auf der Normsetzungsebene gewagt werden, indem für sie Freiräume und ein Ordnungsrahmen geschafft werden. Auch zukünftig wird die Frage noch zu diskutieren sein, ob es nicht gerade der "schlanke Staat" ist, der mit weniger staatlichen Ge- und Verboten letztlich mehr eigenverantworteten Umweltschutz und damit auch eine effektive Technikkontrolle erreichen kann. Der vorliegende Band möchte hier erste Orientierungspunkte setzen und einen Weg in die Zukunft weisen: Umweltschutz und Technikkontrolle sind schon heute Aufgaben von Staat und Gesellschaft. Die in der Praxis aber erst teilweise verwirklichte Idee der Selbstbeherrschung soll aufzeigen helfen, wie in einer modemen Gesellschaft ökologische und ökonomische Belange in einen verträglichen Ausgleich zu bringen sind. Michael Kloepfer

Begr üßun g

Begrüßung Meine Herren Präsidenten, meine sehr verehrten Damen und Herren, herzlich willkommen in Berlin, herzlich willkommen an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ich begrüße Sie zum 1. Berliner Kolloquium der Gottlieb Daimlerund Karl Benz-Stiftung, das in diesem Jahr in Zusammenarbeit mit den Forschungszentren Umweltrecht und Technikrecht veranstaltet wird. Diese neue Kolloquiumsreihe will - unter Beachtung der praktischen Umsetzbarkeit - zur geistigen Orientierung über Grundfragen einer naturwissenschaftlich-technisch geprägten Welt beitragen. Seien Sie willkommen in einem wissenschaftlichen Zentrum dieses Staates und dieser Stadt, der Humboldt-Universität zu Berlin. Mit anderen wissenschaftlichen Knotenpunkten Berlins - wie etwa der Technischen Universität und der Freien Universität - bietet die Humboldt-Universität die Chance, daß Berlin nicht nur politische, sondern auch geistige Hauptstadt Deutschlands wird oder - richtiger gesagt - bleibt. Sie sind durch die schöne Fassade dieses Gebäudes hierhergekommen. Diese Fassade ruft Erinnerungen an die große Zeit der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität wach, als diese Universität Weltruhm hatte und reich gesegnet mit weltbekannten Gelehrten und Nobelpreisträgern war. Zwischen 1933 und 1989 haben zwei - im Kern freilich unterschiedliche - Diktaturen dieser Spitzenuniversität und ihrer Hingabe an die Idee der freien Wissenschaft in weiten Bereichen schwersten Schaden zugefügt. Nach 1990 bemühten sich die übernommenen wie die neu hinzugekommenen Kollegen wieder an die große Vergangenheit der Berliner Universität vor 1933 anzuknüpfen. Denn die schöne Fassade der Humboldt-Universität muß mehr als eine solche sein. Diese Fassade gibt mit den Mitteln der Baukunst getragen von den Erfahrungen der Geschichte - ein Versprechen, das die Humboldt-Universität durch den Rang und die Qualität ihrer Arbeit einlösen muß. Wenn dies trotz vieler Schwierigkeien gelingt - und wir sind trotz aller Probleme auf einem guten Wege - ist die Humboldt-Universität wirklich in diesem Gebäude ganz zu Hause, denn dann entspricht der guten Form auch ein entsprechend guter Inhalt. Dieses Gelingen hängt zunächst einmal von uns selbst, den Angehörigen der Humboldt-Universität ab. Die notwendigen inhaltlichen Anstrengungen dieser Universität müssen sich u. a. verstärkt auf die Herausbildung eines eigenen unverwechselbaren wissenschaftlichen Profils richten. Ein wesentlicher Aspekt dieses Profils sollte der Zukunftsbezug der Arbeit sein. Wenn es der Humboldt-Universi2 Kloepfer

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Begrüßung

tät gelingt, Zukunftsthemen zu besetzen und erfolgreich zu bearbeiten, wird in der Zukunft niemand an der Humboldt-Universität vorbeikommen. Zu den wichtigsten Zukunftsthemen gehören nach wie vor insbesondere die Herausforderungen des Umweltschutzes und der modemen Technik. Aus dieser Einsicht sind die Forschungszentren Umweltrecht und Technikrecht gegründet worden, die ihre vielfältige Arbeit unterdessen aufgenommen haben. Neben den eigenen Anstrengungen der Universitätsangehörigen hat die Hilfe von außen für die Arbeit der Humboldt-Universität eine unschätzbare helfende Bedeutung. Insoweit sind wir der Gottlieb Daimler- und Karl Benz-Stiftung sehr dankbar für die namhafte Unterstützung, durch die diese Tagung erst möglich wurde. Die soeben beschworene Einheit von Form und Inhalt, d. h. letztlich die Wahrheit der Form, bestimmt auch - freilich in einem anderen Sinne - den Spannungsbogen unserer Tagung. Die zunehmend diskutierten vielfältigen Formen gesellschaftlicher Selbstregulierung - insbesondere technische Normung, Selbstverpflichtungen, Normsetzungsverträge zwischen Privaten - tragen ihre Rechtfertigung nicht in sich selbst. Sie können evtl. mit den Bemühungen um einen "schlanken Staat" begründet werden. Sie sind aber nur dann legitim, wenn sie von einer entsprechenden inhaltlichen Grundhaltung getragen werden. Dies ist eine der tragenden Ideen dieser auch interdisziplinär angelegten Tagung. Selbstbegrenzung bei Selbstregulierung wird damit zu einem zentralen Anliegen des Umweltschutzes und der Technikkontrolle der Zukunft. Das Projekt eines Umweltgesetzbuches wird dies teilweise umsetzen können, indem es vor allem einen verläßlichen Ordnungsrahmen für solche Se1bstregulierungen schafft. Ich wünsche uns allen einen interessanten und anregenden Diskurs zwischen Praxis und Wissenschaft, aber auch - interdisziplinär - zwischen den verschiedenen Wissenschaften selbst. Dabei sollte gerade in dieser Tagung bewußt bleiben, daß die Begegnung von Ideen immer auch eine Begegnung von Menschen selbst ist. Gerade auch deshalb sind Sie alle, meine Damen und Herren, von Herzen willkommen. Prof Dr. Michael Kloepfer

Humboldt-Universität zu Berlin

Herr Präsident Meyer, Herr Landesbischof Huber, lieber Herr Kollege Kloepfer, meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Dieses erste Berlin-Kolloquium der Gottlieb Dairnler- und Karl Benz-Stiftung unter dem Thema "Selbstbeherrschung im technischen und ökologischen Bereich" ist als Auftakt einer Reihe von Kolloquien gedacht, die die Stiftung in der Zukunft jährlich hier in Berlin veranstalten will. Diese wissenschaftlichen Veranstaltungen sollen thematisch auf das Betätigungsfeld der Stiftung abgestimmt werden, deren

Begrüßung

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Aufgabe es ist, durch die Förderung von Wissenschaft und Forschung zur Klärung der komplexen Wechselbeziehungen zwischen Mensch, Umwelt und Technik beizutragen. Im Namen des Kuratoriumsvorsitzenden der Stiftung, Herrn Professor Dr. Werner Breitschwerdt und im Namen meines Mitvorstandes Dr. Diethard Schade begrüße ich Sie sehr herzlich zu diesem ersten Berliner Kolloquium. Die Wahl von Berlin für diese Veranstaltung wurde mit Bedacht gewählt. In Berlin und seinem Großraum sind vier Universitäten, eine wissenschaftliche Akademie, zahlreiche Max-Planck-Institute und Institute der Blauen Liste, mehrere Großforschungseinrichtungen und bedeutende Forschungslabors der Industrie angesiedelt, die sich alle wissenschaftlicher Forschung widmen und eine hohe wissenschaftliche Kompetenz repräsentieren. Berlin als deutsche Hauptstadt ist aber auch Sitz der deutschen Regierung, was bedeutet, daß hier jene Persönlichkeiten aus Parlament, Behörden und öffentlichen Einrichtungen angesprochen werden können, die als Meinungsbildner und Entscheidungsträger der Politik in Deutschland eine wichtige Funktion ausüben. Deshalb wird hier in Berlin ein hoher Bedarf an Infonnationen und Orientierung zu solchen Themen bestehen, die besonders wichtig für die Zukunft unserer Gesellschaft sind. In der Erforschung der Wechselbeziehungen zwischen Mensch, Umwelt und Technik werden Themen angesprochen, die für die Regierung eines Landes von hoher Relevanz sind. Die gegenwärtigen und die vergangenen Forschungsschwerpunkte der Stiftung belegen dies eindrucksvoll, wie wir hier in Berlin anläßlich des zehnjährigen Jubiläums der Stiftung demonstrieren konnten. Der Forschungsschwerpunkt "Umweltstaat" unter der Leitung von Professor Kloepfer hat wichtige Anstöße und Beiträge für den Entwurf eines Umweltgesetzbuches geleistet. Das Forschungskolleg "Sicherheit in der Kommunikations- und Infonnationstechnik" wird die Datenschutzgesetzgebung in Deutschland ohne Zweifel beeinflussen. Mit dem Berliner Kolloquium will die Stiftung erreichen, daß ihre Forschungsergebnisse auch einem größeren Kreis von Interessierten bewußt werden und fruchtbare Diskussionen auslösen. Deshalb hoffe ich, daß die gegenwärtig laufenden Schwerpunkte "Globalisierung" und "Organisationslernen" ebensolche Auswirkungen haben werden, wie sie das stark durch Berliner Wissenschaftler geprägte Forschungskolleg "Lebensraum Stadt" und das Kolleg "Wandel und Beharrung in der Arbeitspolitik" bereits haben. Weil ich an dieser Stelle die Arbeit der Stiftung und ihre Forschungsschwerpunkte nicht weiter im Einzelnen erläutern kann, möchte Sie auf den Zweijahresbericht der Stiftung hinweisen, der während des Kolloquiums hier ausliegt und im übrigen jedem Interessierten auf Aufforderung zugesandt werden kann. Dieses Berliner Kolloquium markiert den Beginn einer fruchtbaren Diskussion von Themen, die von hoher Aktualität für die Gesellschaft sind und in den Schwerpunktsbereich der Arbeit der Gottlieb Daimler- und Karl Benz-Stiftung fallen. Ich danke der Humboldt-Universität zu Berlin und ihrem Präsidenten Professor Meyer dafür, daß wir hier abennals Gäste der Universität sein dürfen. Mein besonderer 2*

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Begrüßung

Dank geht an Herrn Professor Kloepfer, der die Initiative zu diesem Kolloquium ergriffen hat. Der Veranstaltung wünsche ich einen guten Verlauf, den Teilnehmern danke ich für ihre Mitwirkung.

Prof Dr. Dr. h. c. mult. Gisbert Frhr. zu Putlitz Geschäftsführender Vorsitzender der Gottlieb Dairnler- und Karl-Benz-Striftung

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich begrüße Sie alle im Namen der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie werden es mir nachsehen, wenn ich bei einem so prominenten Teilnehmerkreis nicht einzelne von Ihnen persönlich nenne, auch wenn ich eine Reihe von Gesichtern sehe, mit denen mich eine weit zurückliegende Bekanntschaft verbindet. Wir hatten eine Phase der Euphorie staatlicher Regulierungen, die wir weidlich ausgekostet haben. Neuen Problemen wurde mit neuen Gesetzen, neuen Verordnungen, neuen Richtlinien, neuen Verwaltungsakten zu Leibe gegangen. Mittlerweile dürften wir aber eine dreifache fatale Erkenntnis gewonnen haben, deren Konsequenzen zu überdenken sind. Die erste Erkenntnis: Gegen den unwilligen Bürger und seine Organisationen bedarf die Durchsetzung staatlicher Regulierungen eines Apparates, und wie wir staunend festgestellt haben, eines zunehmend größeren Apparates. Der aber braucht Geld und das ist immer weniger vorhanden. Die zweite Erkenntnis: Statt sich zum Beispiel dem Umweltschutz zu widmen, widmet sich der Unwillige sekundären Zielen. Er entwickelt Umgehungs strategien für die staatlichen Befehle, er wendet mit hohem Raffinement Verzögerungstaktiken an und, wenn all das nicht reicht, beginnt er das Spiel auf der reichhaltigen Tastatur des Rechtsschutzes, sei es nur, um Zeit zu gewinnen, sei es aber auch in der Erwartung, daß mit dem Verfließen der Zeit der Staat auch die Dringlichkeit seiner Befehle moderater sieht. Die dritte fatale Erkenntnis schließlich ist, daß die Komplexität der Erscheinungen die vollziehende und das heißt ja, die das Recht "durchsetzende" Verwaltung vorsichtig macht, weil sie der richtigen Entscheidung nicht mehr so sicher ist. Unter dem Druck auch ehrenwerter Interessen, vor der Unsicherheit richterlicher Erkenntnis und angesichts der - echten oder gespielten - Furcht vor Authaltungsprozessen, liegt es für die Verwaltung nahe, eine abwartende Haltung einzunehmen. Was liegt bei diesen drei fatalen Erkenntnisssen näher, als es umgekehrt zu versuchen: Das richtige Handeln bei den für Technik, Entwicklung und Umweltverbrauch Zuständigen selbst einzufordern, als eine ihnen aus eigenem Verstand und Gewissen zukommende und innerlich angemessene Entscheidung. Es ist schneller, billiger, intelligenter und effektiver, weil der Handelnde seine Möglichkeiten und das, was er in den sensiblen Gebieten anstellt, besser kennt als jeder Außenstehen-

Begriißung

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de und weil es verläßlicher ist, wenn die Entscheidung auf innerer Überzeugung beruht. Diese Idee ist - grosso modo - auch die Idee der Gründer dieser Universität, der Schleichermachers, Fichtes und Humboldts. Die Universität und mit ihr jene Verbindung von Forschung und Lehre sollte auch, ja vielleicht zuallererst, Menschen befähigen, die an sie gestellten Anforderungen zu bewältigen, und zwar aus eigener Erkenntnis und eigenem Antrieb. Zur Zeit sind wir dabei, das Land Berlin, also den Staat, zu überzeugen, daß wir, die Humboldt-Universität, diese Art der verantworteten Selbständigkeit gerne wahrnehmen wollen und daß uns der Staat ein wenig in die Mündigkeit entläßt, zu seinem und zu unserem Nutzen. Insofern tagen Sie in einem doppelten Sinne am richtigen Ort. Ich wünsche Ihnen, dem tatkräftigen Organisator dieser Tagung, dem Kollegen Kloepfer, und den Vertretern der großzügigen Stiftung einen fruchtbaren Verlauf der Tagung: Streiten Sie heftig, aber fair! Prof Dr. Dr. h. c. Hans Meyer Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin

I. Selbst-Beherrschung als Idee

Selbstbeherrschung als Selbstbegrenzung Das ethische Grundproblem des naturwissenschaftlich·technischen Zeitalters

Von Wolfgang Huber

Drei Thesen sollen einleitend beschreiben, worin ich das ethische Grundproblem des naturwissenschaftlich-technischen Zeitalters sehe: 1. Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik erweitert die Lebens- und Handlungsmöglichkeiten der Menschen in zuvor ungeahnter Weise; doch sie enthält zugleich ein hohes Gefahrenpotential für die nichtmenschliche Natur wie für die Lebensbedingungen jetziger und künftiger menschlicher Generationen. 2. Eine ethische Antwort auf das damit beschriebene Dilemma läßt sich nur geben, wenn die Eindämmung der Gefahrenpotentiale und die Verhinderung der zerstörerischen Folgen von Wissenschaft und Technik aus Freiheit möglich ist. Denn das Thema der Ethik ist das Handeln aus Freiheit. 3. Ein ethisches Konzept, das den Leitgedanken menschlicher Selbstbeherrschung mit dem Anspruch auf eine unumschränkte Herrschaft über die Natur verknüpft, stößt auf offenkundige Grenzen. Es muß überführt werden in ein Konzept, das die Selbstbeherrschung des Menschen auch als Selbstbegrenzung im Blick auf die Verfügungsansprüche gegenüber der Natur auslegt. Diese drei Thesen will ich erläutern, indem ich - notwendigerweise in groben Strichen - darlege, worin sich die Vorstellung von Selbstbeherrschung als Selbstbegrenzung unterscheidet von denjenigen Gedanken über die Selbstbeherrschung des Menschen, die uns aus der ethischen Tradition vertraut sind.

I. Selbstbeherrschung

Zunächst hat der Begriff der Selbstbeherrschung in der Tradition der Ethik eine eng umgrenzte Bedeutung. 1 Selbstbeherrschung, enkrateia, meint das ZurückdränI Vgl. J. Pieper, Zucht und Maß, 1960; N. North, Sophrosyne, Se1f-Knowledge and SelfRestraint in Greek Literature, 1966; M. Forschner, Besonnenheit, in: O. Höffe (Hrsg.), Lexikon der Ethik, 1977, S. 20 f.

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Wolfgang Huber

gen aller Arten von unvernünftigem Begehren. Grenzüberschreitungen werden vermieden, die gegen die menschliche Natur sind und der Vernunft widersprechen. In einem weiteren Sinn aber läßt sich der Begriff der Selbstbeherrschung auch mit der Tugend verknüpfen, die von den Griechen sophrosyne, Besonnenheit genannt wird. Besonnenheit (sophrosyne) als eine der vier Kardinaltugenden meint ursprünglich nicht in einem allgemeinen Sinn das vernünftig abwägende Verhalten im Gegensatz zu distanzlos unvermittelter Affektivität; sondern diese Tugend ist in der platonisch-aristotelischen Tradition der Ethik verstanden als Tugend des rechten Maßes im Verhältnis zu den natürlichen Bedingungen menschlichen Lebens und den damit verbundenen leiblichen Begierden. Vorausgesetzt ist in dieser Vorstellung von Selbstbeherrschung die Überordnung der Seele über den Leib. Die Seele ist die Instanz im Menschen, die für die Herrschaft des vernünftig-überlegenden Teils im Menschen über sein Begehrungsvermögen und alles Dranghafte verantwortlich ist. Nur in dem Maß, in dem eine solche Selbstbeherrschung gelingt, bewahrt der Mensch die Offenheit und Empfänglichkeit für die Welt der Ideen. Besonnenheit - so hat Aristoteles, in diesem Fall durchaus an Plato anknüpfend, gesagt - ist die Tugend der Mäßigkeit im Essen, Trinken und Zeugen, die richtige Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig gegenüber leiblicher Begierde und Lust, die Tugend einer vernunftgeleiteten Ordnung natürlichen Begehrens und Genießens. 2 Selbstbeherrschung in diesem weiteren Sinn urnfaßt also beides: das Zurückdrängen aller unvernünftigen und widernatürlichen Bestrebungen in sich selbst und den maßvollen Umgang mit den naturalen Bedingungen menschlichen Lebens. Unter den Bedingungen neuzeitlicher Ethik taucht der Gedanke der Selbstbeherrschung in veränderter Gestalt in der Vorstellung von der Selbstgesetzgebung der menschlichen Vernunft auf. Autonomie wird zum Leitbegriff der Ethik. 3 Die als Selbstbestimmung begriffene Freiheit wird zum anthropologischen Schlüsselbegriff. Die Unabhängigkeit von allen Fremdbestimmungen naturaler, sozialer und politischer Art macht die spezifische Würde menschlicher Existenz aus. Deshalb soll der Mensch sich keinen anderen Gesetzen unterwerfen müssen als denen, die er von sich selbst aus, kraft seiner eigenen Vernunft als notwendig erkennen und anerkennen kann. Kants spezifische Leistung besteht darin, diese Vorstellung von Selbstbeherrschung als Selbstbestimmung dadurch von jedem Gedanken an willkürliche Anarchie abzugrenzen, daß er auf der Allgemeinheit der menschlichen Vernunft insistiert. Nur derjenige Vernunftgebrauch ist legitim, der sich gegenüber der Allgemeinheit der Vernunft ausweisen kann. Nur diejenigen Maximen des eigenen Handeins können wirklich dem Anspruch der Selbstbestimmung genügen, von denen ich zugleich wollen kann, daß ihnen allgemeine Gültigkeit zukommt.

Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch III, 13 - 15. Zur Begriffsgeschichte vgl. die bahnbrechende Untersuchung von E. Feil, Antithetik neuzeitlicher Vernunft. .. Autonomie - Heteronomie" und ,,rational - irrational", 1987, S. 35 ff. 2

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Selbstbeherrschung als Selbstbegrenzung

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Die gerade skizzierte Tradition begründet die Leitvorstellung der Selbstbeherrschung im Selbstverhältnis des Menschen: in der Überordnung der Seele über den Leib, in der notwendigen Beherrschung der naturalen Antriebe und Begierden, in der Verantwortung des eigenen Freiheitsgebrauchs vor den Maßstäben der Vernunft. Es gibt jedoch daneben und in der europäischen Entwicklung vielfältig mit ihr verflochten eine andere Traditionslinie, in der die Notwendigkeit der Selbstbeherrschung nicht nur im Selbstverhältnis des Menschen, sondern im Verhältnis zum Mitmenschen und darüber hinaus im Gottesverhältnis begründet ist. Dieser Gedanke prägt sich in besonderer Weise in der jüdischen und christlichen Tradition aus. Selbstbeherrschung erscheint hier als freiwillige Selbstzurücknahme um des und der anderen willen. Der Dekalog läßt sich als Inbegriff der Regeln einer solchen freiwilligen Selbstzurücknahme um der anderen willen lesen. 4 Das Verhältnis der Generationen, die Ehe, die körperliche Integrität, der gute Ruf und das Eigentum sind diejenigen Lebensbezüge, um deren Achtung willen Akte der freiwilligen Selbstzurücknahme, also bewußte Selbstbegrenzungen eingefordert werden. Dem ist vorangestellt der Katalog derjenigen Selbstbegrenzungen, die um der Einzigkeit Gottes willen notwendig sind. Die Ehre Gottes und die Integrität des Mitmenschen sind die beiden Bezugspunkte einer Selbstbeherrschung, die den Charakter der Selbstbegrenzung annimmt. Im Neuen Testament wird diese Grundlinie im Doppelgebot der Liebe auf denkbar elementare Weise aufgenommen und positiv gewendet. Die Selbstbegrenzung wird jetzt erkennbar als ein notwendiges Element in einer positiven Beziehung, die als Liebe zu Gott und zum Mitmenschen bestimmt wird. Daß dabei ein positives Verhältnis des Menschen zu sich selbst keineswegs aus-, sondern eingeschlossen ist, zeigt sich daran, daß die Liebe zum Nächsten und die Liebe zu sich selbst ausdrücklich miteinander verbunden werden. 5 Die neuere Ethik hat der Selbstbestimmung des einzelnen weithin den Vorrang eingeräumt vor der Frage nach der freiwilligen Selbstzurücknahme um der Integrität der anderen und der Ehre Gottes willen. Zugleich hat sie die Selbstbestimmung des Menschen mit dem Anspruch auf eine unumschränkte Herrschaft über die Natur verbunden, die er als "Meister und Besitzer der Natur,,6 seinen Ansprüchen und Interessen dienstbar machen darf. Beide Grundpositionen sind in unserer Gegenwart in eine Krise geraten. Zum einen zeigt sich, daß eine rein individualistische Auffassung von Selbstbestimmung (oder Selbstverwirklichung) die Ressourcen aufzehrt, auf die das gemeinsame Leben angewiesen ist. Deshalb ist eine neue Debatte darüber in Gang gekommen, in welchem Verhältnis Freiheit und Verantwortung, individuelle Selbstbe4 V gl. exemplarisch F. Crüsemann, Bewahrung der Freiheit. Das Thema des Dekalogs in sozialgeschichtlicher Perspektive, 1983 sowie zum Begriff der "Selbstzurücknahme" M. Welker; Das Reich Gottes, in: Evangelische Theologie 52,1992, S. 497 ff. 5 Vgl. Matthäus 22,34 ff. 6 R. Descartes, Discours de la methode, 1960, S. 100.

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Wolfgang Huber

stimmung und Gemeinschaftsfähigkeit zueinander stehen. Die freiwillige Selbstzurücknahme im Verhältnis zu den Mitmenschen wird auf neue Weise zum Thema. Dem ist zum andern die Erfahrung zur Seite getreten, daß die Herrschaft des Menschen über die Natur sich in eine Gefährdung der Natur verwandeln kann, daß die vollständige Unterwerfung der Natur unter die Verfügungsinteressen des Menschen in Destruktion umzuschlagen vennag. Das hat eine Debatte darüber ausgelöst, ob der Herrschaft des Menschen über sich selbst nicht eine Selbstbegrenzung seiner Verfügungsansprüche über die Natur entsprechen muß. Die Selbstbegrenzung im Verhältnis zur Natur wird zum Thema. Zwei Prozesse ethischer Revision vollziehen sich gegenwärtig. Ein ethischer Individualismus wird durch Überlegungen zur Gemeinschaftsbedürftigkeit und Gemeinschaftsfähigkeit des Menschen korrigiert. Eine Ethik der Herrschaft über die Natur wird durch eine Ethik der Verantwortung für die Natur korrigiert. Nur die zweite dieser beiden Revisionen soll in den folgenden Überlegungen näher betrachtet werden.? 11. Selbstbegrenzung

Heute müssen Menschen sich mit ihren eingelebten, mehr oder minder beharrlichen ethischen Einstellungen in einer gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit orientieren, die in den Strudel rasanter Veränderungen geraten ist. Deren Tempo wird vor allem andern durch wissenschaftliche Entdeckungen und technische Innovationen bestimmt. Noch immer nimmt die Geschwindigkeit zu, mit der sich die Lebensumstände auf dem Globus insgesamt, aber insbesondere in den hochindustrialisierten Ländern umstülpen. Nuklearenergie, Gentechnologie, modeme Kommunikationstechniken, Infonnatik, künstliche Reproduktion und künstliche Intelligenz: so heißen die Signal worte für einen Wandel, der in seiner Rasanz und in seinen Ausmaßen von den meisten Menschen weder intellektuell noch moralisch bewältigt werden kann. Die großen Erfolge technologischer Entwicklung und gesellschaftlichen Aufschwungs sind mit negativen Auswirkungen scheinbar unauflöslich verquickt: mit Zerstörungen in der natürlichen Umwelt wie in der Sozialökologie der Menschen; mit der Gefährdung individueller Biographien, für die Rauschgiftkonsum und Alkoholismus als Indikatoren gelten können; mit dem Zerbrechen menschlicher Beziehungen, das durch die wachsenden Scheidungsraten nur zum Teil erfaßt wird. Auf der einen Seite werden die Lebenschancen und Lebenserwartungen gesteigert; 7 Zur ersten Revision verweise ich auf meinen Aufsatz: Kooperative Freiheit. Über die moralischen Grundlagen gesellschaftlicher Kooperation, in: M. Möhring-Hesse/B. Edmunds/Wo Schroeder (Hg.), Wohlstand trotz alledem. Alternativen zur Standortpolitik, München 1997, S. 143 ff. Zu der im Folgenden zu behandelnden Revision vgl. W. Huber, Selbstbegrenzung aus Freiheit. Über das ethische Grundproblem des technischen Zeitalters, in: Evangelische Theologie 52,1992, S. 128 ff.

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zugleich damit wachsen aber auch die Gefährdungen. Der Zuwachs an Lebensmöglichkeiten, so scheint es, ist ohne den Zuwachs an Risiken nicht zu haben. Kollektive Lebensrisiken sind das unmittelbare Produkt der technologischen Entwicklung. Soweit sie sich direkt aus wirtschaftlichem Handeln ergeben, wird ihre Unvermeidbarkeit aus Notwendigkeiten der Effizienz und der Wettbewerbsfähigkeit begründet. Viele Umweltgefährdungen entstehen freilich nicht aus einzelnen wirtschaftlichen Maßnahmen, sondern sind das nicht intendierte kollektive Resultat einer großen Zahl individueller Handlungen. Von diesen Risiken gilt deshalb, daß für sie das Verursacherprinzip nicht greift. Die Luftverschmutzung ist für diesen Zusammenhang von individuellen Handlungen und kollektivem Resultat ein eindrückliches Beispiel. Die gesellschaftliche Debatte gilt immer wieder neu der Frage, welche Risiken dieser Art im Zusammenhang mit technischen Entwicklungen vertretbar und hinnehmbar sind, wie also das Grenzrisiko technischer Entwicklungen zu definieren ist. Darüber besteht häufig ebensowenig Konsens wie über die Frage, ob die Risiken bestimmter Technologien tatsächlich über dieses Grenzrisiko hinausgehen. 8 Die Gefährdungen, die sich aus der heutigen Entwicklung von Wissenschaft, Technik und Konsum ergeben, sind dadurch bestimmt, daß sie sich zum Teil erst zeitversetzt auswirken. Man kann dies als intergenerationelle Verschiebung bezeichnen. Die Ursachen der heute erkennbaren Schädigungen von Waldgebieten liegen Jahre zurück; auch andere Umweltschäden kommen erst mit zeitlicher Verzögerung zum Vorschein. Die durch menschliches Handeln verursachten Klimaverschiebungen treten erst nach drei oder vier Jahrzehnten ein. Gefahrenprognosen, die sich auf eine entferntere Zukunft beziehen, sind jedoch nur schwer dazu geeignet, eine Umorientierung im Denken und Handeln einzuleiten. Denn die meisten Menschen sind eher bereit, auf gegenwärtige Gefahren zu reagieren, als ihr Handeln an künftigen Gefahren zu orientieren. Doch ein derartiges reaktives Handlungsmuster ist offenkundig unzureichend; es stellt sich vielmehr die Frage, ob die Menschheit die Fähigkeit zu antizipierendem Handeln entwickeln kann. Die Rasanz wissenschaftlich-technischer Entwicklungen hat Zweifel an dieser Fähigkeit geweckt. Insbesondere an den Beispielen der Nukleartechnik und der Gentechnik sind in den letzten Jahrzehnten die Aporien diskutiert worden, die entstehen, wenn technisches und ethisches Vermögen einander nicht korrespondieren, wenn den technisch entwickelten Möglichkeiten keine ethische Fähigkeit entspricht, mit ihnen verantwortlich umzugehen. Zum ersten Mal ist an diesen beiden Technologien die Möglichkeit am Horizont erschienen, daß die Menschheit über ihre eigene Existenz verfügt: sei es durch eine kollektive nukleare Selbstauslöschung, sei es dadurch, daß durch genetische Manipulation am Menschen eine posthumane Stufe der Evolution eingeleitet wird. 8 Zur Terminologie vgl. die Allgemeinen Leitsätze für das sicherheitsgerechte Gestalten technischer Erzeugnisse. Begriffe der Sicherheitstechnik. Grundbegriffe (DIN VDE 31 000, Teil 2: 1987 - 12), 1994.

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Nun sind die Ängste vor einer nuklearen Katastrophe mit dem Ende des OstWest-Konflikts in den Hintergrund getreten. Und die Sorgen vor der Anwendung der Gentechnik auf den Menschen erscheinen manchen einstweilen noch als übertrieben. Aber beide Entwicklungen haben dazu Anlaß gegeben, die ethische Frage radikaler zu stellen, als das zuvor geschehen ist. Manche Ethiker haben kühl erklärt, es sei das Recht jeder menschlichen Generation zu beschließen, die letzte zu sein. 9 So wie der individuelle Suizid als mögliches Resultat menschlicher Selbstbestimmung anerkannt werden müsse, so sei auch der kollektive Suizid als denkbares Ergebnis der gemeinsamen Selbstbestimmung der Menschheit gerechtfertigt. Andere haben gesagt, jede Generation trage von nun an Mitverantwortung dafür, daß menschliches Leben auch über die eigene Lebensspanne hinaus möglich bleibe. Die Verpflichtung, für die Permanenz menschlichen Lebens und für die Lebensbedingungen künftiger Generationen einzutreten, werde zum Maßstab menschlicher Verantwortung angesichts wissenschaftlich-technischer Entwicklungen. Eine dritte Gruppe schließlich sah auch in dieser Betrachtungsweise noch eine Form der Anthropozentrik am Werk, die als nicht zureichend anzusehen sei. Eine freiwillige Selbstzurücknahme um des Lebens und der Lebensbedingungen künftiger Generationen reiche nicht zu; Eingriffe in die Natur hätten nicht nur an den Lebensbedingungen künftiger Generationen, sondern auch an den Rechten beziehungsweise der Eigenwürde der Natur eine Grenze. Am leichtesten ist es, der ersten Position zu widersprechen. Nicht nur im Blick auf die gleichzeitig mit uns Lebenden, sondern auch im Blick auf künftige Generationen gilt: Wer Selbstbestimmung - und das heißt: Freiheit - als Ziel und Sinn menschlichen Lebens anerkannt wissen will, der muß nicht nur sich selbst darum bemühen, sein eigenes Leben nach Grundsätzen sittlicher Autonomie zu führen; er muß auch darauf verzichten, sich das Verfügungsrecht über fremdes Leben anzumaßen. Als universales Moralprinzip wird Selbstbestimmung nur dann anerkannt, wenn wir zur Selbstbegrenzung bereit und fahig sind. Selbstbegrenzung ist deshalb nicht ein Gegensatz menschlicher Freiheit, sondern deren Ausdruck. Freiheit zeigt sich gerade darin, daß Menschen das Interesse am eigenen Leben mit demjenigen an fremdem Leben verbinden, daß sie die Durchsetzung eigener Lebensinteressen aus Achtung vor fremdem Leben begrenzen. Eine Ethik, die den Gedanken menschlicher Autonomie wirklich ernst nimmt, verknüpft Selbstverwirklichung und Solidarität miteinander. Ihre grundlegende Einsicht heißt: Humanität zeigt sich in der Fähigkeit, das Interesse am eigenen Leben und die Achtung vor fremdem Leben miteinander zu verbinden. Nichts anderes sagt der Grundsatz der jüdischen und christlichen Ethik, der die Liebe zum anderen und die Liebe zum eigenen Leben auf eine Stufe stellt: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. ,,10 Dieser Grundsatz ist keineswegs auf den Nahbereich menschlichen Handeins beschränkt, sondern bezeichnet eine notwendige Voraussetzung für jeden menschlichen Freiheitsgebrauch. 9 10

B. Ackerman, Social lustice in the Liberal State, 1980, S. 216. 3. Mose 19,18; Matthäus 22,39.

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Für die jüdisch-christliche Tradition ist der Gedanke menschlicher Selbstbegrenzung in besonderer Weise im Schöpfungsgedanken verankert. Er schließt einen Begriff Gottes als des Schöpfers ein, der seine schöpferische Freiheit in einem Akt der Selbstbegrenzung verwirklicht. 11 Denn in der Schöpfung wählt der Schöpfer unter den möglichen Welten eine aus. Als Schöpfer steht er den Geschöpfen gegenüber, begrenzten, endlichen Wesen, die in ihrer Begrenztheit dennoch an einer unbegrenzten Würde Anteil haben: der Würde nämlich, Gottes Geschöpfe zu sein. Inmitten dieser Geschöpfe findet der Mensch sich vor, begrenzt und endlich auch er, und doch dazu befähigt, Gott aus eigenem Entschluß zu antworten: das Gott entsprechende Wesen, der zum Bild Gottes erschaffene Mensch. Ungleich plausibler als die Vorstellung von einem Recht der Menschheit auf einen kollektiven Suizid ist die These von der Verantwortung jeder Generation für die Permanenz menschlichen Lebens auf der Erde. Hans Jonas hat dieser Position die Gestalt eines Kategorischen Imperativs gegeben: "Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden; oder negativ ausgedrückt: Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für künftige Möglichkeiten solches Lebens.,,12 Worin ist dieser Imperativ begründet, dem Jonas auch die Fassung geben kann: "Gefährde nicht die Bedingungen für den indefiniten Fortbestand der Menschheit auf Erden"? Er führt ihn als Axiom ein und fügt hinzu, vielleicht sei dieser Imperativ "ohne Religion überhaupt nicht zu begründen".13 In der Tat. Ein "indefiniter", also unbegrenzter Fortbestand kann der Menschheit nur zugesprochen werden, wenn ihr eine Zukunft verheißen ist, die weiter reicht als die Aussichten menschlicher Geschichte selbst, die wir als unendliche ja gerade nicht zu denken vermögen. Jonas, der Anti-Utopiker, der unerbittliche Kritiker des "Prinzips Hoffnung", setzt mit seinem "Prinzip Verantwortung" selbst eine Zukunft voraus, über welche die Menschen nicht verfügen, vor der sie sich aber zu verantworten haben. Er, der alle religiösen Argumente aus seiner Ethik fernhalten will, sieht schließlich doch keinen Weg, wie er die Kategorie des Heiligen umgehen kann. 14 Das ist begreiflich. Denn wenn Menschen eine unbegrenzte Zukunft endlichen Lebens denken sollen, dann setzt dies einen ex-zentrischen Begriff dieses Lebens 11 Vgl. H. Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, 1987, S. 15 ff.; E. Jüngel, Gottes ursprüngliches Anfangen als schöpferische Selbstbegrenzung. Ein Beitrag zum Gespräch mit Hans Jonas über den "Gottesbegriff nach Auschwitz", in: ders., Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III, 1990, S. 151 ff.; W. Huber; Allmacht und Ohnmacht. Die Gottesfrage nach Auschwitz und Hiroshima, in: E. Blum u. a. (Hg.), Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte. FS für Rolf Rendtorff, 1990, S. 607 ff. 12 H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, 1979, S. 36. 13 Ebd. 14 "Wir müssen wieder Furcht und Zittern lernen und, selb'st ohne Gott, die Scheu vor dem Heiligen. Diesseits der Grenze, die es setzt, bleiben Aufgaben genug." (H. Jonas, Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung, 1985, S. 218).

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selbst voraus. Ex-zentrisch - das soll heißen: nicht um sich selbst zentriert, nicht in sich selbst ruhend, sondern auf anderes bezogen. Der Grundsatz christlicher Ethik, an den heute wieder zu erinnern ist, heißt: Ich bin nur Leben, wenn ich auf fremdes Leben bezogen bin, auf Leben, das über mein Leben hinausgeht und es zugleich begrenzt. 15 Radikal ist dieser Charakter alles Lebens im Gottesbewußtsein gedacht. Ich bin Leben, weil ich mich Gott verdanke und aus seinem Geist lebe. Darin ist eine Freiheit begründet, die sich in der Rücksicht auf anderes Leben Ausdruck verschafft. Deshalb ist die Möglichkeit künftigen Lebens eine Schranke für meine heutigen Handlungen. Gerade Jonas' Versuch, das "Prinzip Verantwortung" aus einer säkularen Metaphysik zu begründen, drängt auf das Resultat hin: Nur das Gottesbewußtsein ist stark genug, den Verfügungsansprüchen der Menschen Schranken zu setzen. 16 Jonas freilich umgeht diesen Schluß. Deshalb kann er sich auch nicht der Frage zuwenden, vor wem Menschen Verantwortung tragen; er muß sich ganz auf die Frage beschränken, für wen sie Verantwortung zu übernehmen haben. Von dem Doppelsinn des Wortes "Verantwortung", womit Rechenschaft und Fürsorge zugleich bezeichnet werden,17 bleibt bei ihm nur die Fürsorge zurück. Das hat schwerwiegende Folgen. Jonas denkt Verantwortung immer als einseitiges, nichtreziprokes Verhältnis. Die Fürsorge von Eltern für ihre Kinder und das stellvertretende Handeln des "Staatsmannes" für seine Untertanen gelten ihm als die klassischen Beispiele für Verantwortung. 18 Er begreift Verantwortung also als ein Herrschaftsverhältnis, innerhalb dessen Gegenseitigkeit nicht aufkommen kann. Gewiß gegen seine Intention gewinnt das ethische Konzept, für das er sich einsetzt, ein elitäres, tendenziell undemokratisches Gefälle. Das zeigt sich besonders deutlich, wenn er von der "Totalität" der Verantwortungen in der Eltern- und Politikerrolle spricht und das folgendermaßen erläutert: "Damit meinen wir, daß diese Verantwortungen das totale Sein ihrer Objekte umspannen, das heißt, alle Aspekte derselben, von der nackten Existenz bis zu den höchsten Interessen." 19 Mit der Einsicht, daß alle Verantwortung Selbstbegrenzung zur Voraussetzung hat, ist eine solche Totalisierung des Verantwortungs begriffs freilich nicht zu ver15 Vgl. in diesem Zusammenhang die beachtenswerte Diskussion von Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben bei U. H. J. Körtner, Ehrfurcht vor dem Leben - Verantwortung für das Leben. Bedeutung und Problematik der Ethik Albert Schweitzers, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 85, 1988, S. 329 ff. 16 Zur metaphysischen Begründung des Verantwortungsbegriffs bei Hans Jonas vgl. insbesondere W. E. Müller, Der Begriff der Verantwortung bei Hans Jonas, 1988. 17 Da beide auf die Identität der handelnden Person zurückbezogen sind, bildet Selbstbestimmung notwendigerweise eine dritte Dimension der Verantwortung; vgl. W. Huber/H.-R. Reuter, Friedensethik, 1990, S. 256 ff. 18 Jonas, Das Prinzip Verantwortung, 1979, S. 178 ff.; vgl. W. Huber, Sozialethik als Verantwortungsethik, in: ders., Konflikt und Konsens. Studien zur Ethik der Verantwortung, 1990, 135 (146 f.). 19 a.a.O, S. 189.

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einbaren. Ihr kann man nur entgehen, wenn man von Verantwortung dialogisch denkt. Daß der Mensch Verantwortung trägt, ist nicht das erste, was über ihn zu sagen ist; dem geht schon immer voraus, daß er angeredet wird und dieser Ansprache zu entsprechen lernt. Angesprochen wird er von Menschen, mit denen ihn gemeinsames Leben verbindet, von der außermenschlichen Natur, die seine Wahrnehmung wachruft, von dem göttlichen Geist, der ihm zum Bewußtsein seiner Würde verhilft. Weil der Mensch schon angesprochen ist, bevor er zu antworten weiß, bildet die Selbstbegrenzung die erste Pflicht seiner Freiheit. Welche Rücksichten kommen ins Spiel, wenn wir fragen, wo der menschlichen Entfaltung Grenzen zu ziehen sind? Mit dieser Frage wenden wir uns der Auseinandersetzung um das dritte Antwortmodell zu. Es sagt, es reiche nicht, menschliche Verantwortung auf die Zukunft menschlichen Lebens auszurichten. Es gehe vielmehr darum, eine eigenständige Würde der Natur als Grenze solchen HandeIns anzuerkennen. Wo in der Ethik von Selbstbegrenzung die Rede ist, wird sie in aller Regel anthropozentrisch begründet: Die Freiheit des anderen Menschen bildet die Grenze meiner Freiheit. Auch Jonas antwortet so, zieht die Linien solcher Rücksichtnahme auf fremdes menschliches Leben aber in die Zukunft hinein: Der künftige Bestand menschlichen Lebens setzt heutigem Handeln Grenzen. Die Anthropozentrik, die auch noch aus dieser Formulierung spricht, ist weit mehr als nur ein philosophisches Phänomen. Sie prägt das praktische Verhalten gegenüber der Natur, die nur als Grundlage menschlichen Lebens wahrgenommen und anerkannt wird. Noch der rechtliche Schutz der nichtmenschlichen Natur, wie ihn viele Rechtsordnungen vorsehen, wird dem menschlichen Lebensinteresse unterstellt. Das Grundgesetz scheint in seiner neuen Bestimmung über den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen darüber hinauszugehen. Denn in dem neu eingefügten Artikel 20 a heißt es: "Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung." Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen hat auch und das heißt doch: nicht nur an der Verantwortung für die künftigen Generationen sein Maß. Diese Formulierung ist offen für den Gedanken, daß der Respekt vor der Würde der Natur den Menschen unabhängig von ihrem Eigennutz Grenzen setzt. 20

20 Vgl. W. Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, 1996, S.301 ff.

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Regulierung, Selbstregulierung, Evolution Grenzen der Steuerung sozialer Prozesse Von Wolfgang van den Daele

I.Steuerungsansprüche Daß die Menschen ihre Geschichte nicht nur machen, sondern mit Willen und Bewußtsein machen (Karl Marx, 18. Brumaire), ist ein alter Traum und ein unaufgebbarer Anspruch der Aufklärung. Gesellschaften sollen ihren Wandel steuern, also beispielweise Kriege vermeiden, Menschenrechte verwirklichen, Solidarität herstellen, die natürliche Umwelt erhalten. Adressat der Steuerungsansprüche ist die Politik, und jeder, der nicht ein zynisches Verhältnis zur Politik hat, muß mit der Unterstellung der Steuerungsfähigkeit arbeiten. Aber in welchem Sinne sind soziale Prozesse "steuerbar"? Wie weit kann Steuerung gehen? Zeigt nicht gerade die modeme Technikentwicklung, die eine Reihe der Probleme, vor denen wir stehen, zumindest mitverursacht (Umweltzerstörung, Rüstungswettlauf, Umbrüche auf dem Arbeitsmarkt, Risikokonflikte), daß die Politik relativ machtlos ist? Offenkundig brechen immer neue Technikschübe schicksalsgleich über die Gesellschaft herein, ohne daß daran viel zu steuern wäre. Die Gentechnik ist das jüngste, der Computer sicher das dramatischste Beispiel. Selbstverständlich ist technischer Wandel kein Naturereignis, sondern ein sozialer Prozeß, über den.irgendwo in der Gesellschaft entschieden wird. Aber solche Entscheidungen fallen offenbar immer woanders und jedenfalls nicht dort, wo man selbst handeln und seine Stimme erheben kann. Und die Politik vermittelt nicht den Eindruck, als führe sie Regie. Eher läuft sie dem technischen Wandel fördernd, regulierend und - mit steigendem Aufwand - kompensierend hinterher (van den Daele 1993). Der Verdacht drängt sich auf, daß wir, ganz im Gegensatz zu den Versprechungen von Aufklärung und Modernisierung, die Kontrolle über die Bedingungen unserer Existenz zunehmend verlieren, weil es keine Instanz gibt, von der aus die sozialen Prozesse, die in der Gesellschaft losgetreten werden, gewissermaßen reflexiv wieder eingefangen werden können. Die folgenden Bemerkungen nehmen aus soziologischer Perspektive zu den Steuerungsproblemen Stellung. Sie gehen der Frage nach, ob und unter welchen Bedingungen soziale Prozesse einer Eigenlogik folgen, die sich externer Kontrolle entzieht. Ausgangspunkt ist das Systemkonzept. 3*

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Wolfgang van den Daele 11. Steuerung von Systemen

Systeme, d. h. in sich geschlossene, organisierte Ganzheiten, die klar von ihrer Umwelt abgegrenzt sind, werfen besondere Steuerungsprobleme auf. Diese Behauptung ist erläuterungs bedürftig. Offenbar gibt es Systeme, die problemlos von außen steuerbar sind. Ein Auto ist zweifellos ein System, in dem viele Komponenten funktional so auf einen Zweck hin organisiert sind, daß das Ganze sprichwörtlich mehr ist als die bloße Summe seiner Teile. Zum Auto aber gehören Lenkungsmechanismen, über die sich ein Fahrer gleichsam an die Spitze des Systems setzen und es nach Belieben bewegen oder anhalten und nach links oder rechts steuern kann. Die Strukturen des Systems setzen einschränkende Bedingungen für die Operationen des Systems (ohne Benzin kann man nicht fahren). Aber das System operiert nicht nach eigenen, internen Vorgaben, sondern nach denen des Fahrers. Der Wille des Fahrers ist der Wille des Autos. Das genaue Gegenbeispiel sind Personen. Sie sind gewissermaßen Systeme "ohne Lenkrad". Alle Erziehungsprozesse zeigen, daß Personen nicht wie Autos steuerbar sind. Man kann sich in diesem Fall nicht einfach von außen an die Spitze des Systems setzen. Fremder Steuerungswille greift nicht unmittelbar auf das Operieren des Systems durch. Hegel hat diesen Sachverhalt in seiner Dialektik von Herr und Knecht durchgespielt. Zwar befiehlt der Herr dem Knecht; ob aber geschieht, was der Herr will, entscheidet der Knecht. Der Herr kann auf den Knecht einwirken, aber nicht seinen eigenen Willen an die Stelle des Willens des Knechts setzen. Daher hängt letztlich der Herr vom Knecht ab. Streng genommen steuert der Knecht sich immer selbst; der Herr kann ihn nur steuern, indem er die Selbststeuerung des Knechts beeinflußt. Natürlich ist solcher Einfluß möglich. Aber nicht der Wille des Herrn, sondern seine Macht, letztlich also die Drohung mit physischer Gewalt, bewirkt, daß der Knecht schließlich auch "von selbst" will, was der Herr will. Bei Systemen vom Typus der Person bedarf es eines besonderen Übersetzungsmechanismus, der die externe Fremdsteuerung (Befehl des Herrn) in eine interne Selbststeuerung (eigener Wille des Knechts) übersetzt. Die Soziologie hat in der Theorie der Kommunikationsmedien eine Vielfalt solcher Übersetzungmechanismen untersucht, neben Macht (Drohung mit Gewalt) auch Liebe (Gefühlsbindung), Intellekt (Einsicht in die Geltung von Argumenten), Geld (Eigeninteresse), Wertbindung. Alle diese Mechanismen übersetzen äußere Einflüsse auf Systeme in interne Systernregulierung. Sie funktionieren nur, soweit das System über das entsprechende "Sensorium" verfügt. Die Systemstrukturen legen fest, welche Umwelt wahrgenommen wird. Was nicht wahrgenommen werden kann, kann gleichwohl (für das Überleben des Systems) folgenreich werden, aber es kann nicht in Selbststeuerung des Systems übersetzt und in systeminternen Operationen verarbeitet werden. Dieses Verhältnis von "Außen" und "Innen", von Systemumwelt und Systemdynamik, hat man im Auge, wenn man von der Selbstreferentialität oder operativen

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Geschlossenheit von Systemen spricht (Luhmann 1984). Damit kennzeichnet man Systeme, die autonom in dem Sinne sind, daß sie nicht nur eigene Strukturen aufweisen (die hat auch jedes Auto), sondern auf die eigenen Operationen reagieren. Autonome Systeme kann man streng genommen nicht wirklich von außen steuern, man kann nur die Selbststeuerung des Systems von außen konditionieren. Das aber ist der Versuch, das System dazu zu bringen, daß es nach Maßgabe seiner eigenen Dynamik (und im Rahmen interner Wahrnehmung der Umwelt) Systemprozesse in Gang setzt, die den durch die Steuerung intendierten Output ergeben. Solche Konditionierung wird um so besser gelingen, je transparenter das System für den Außenbeobachter ist. Komplexe Systeme sind jedoch häufig "opak". Man kennt weder alle Regeln, nach denen sie "ticken", noch läßt sich genau feststellen, in welchem Zustand sich das System gerade befindet, wenn von außen auf es eingewirkt wird. Von diesem Zustand aber hängt ab, mit welchem Output das System auf einen gegebenen Input antwortet. Opak sind in diesem Sinne nicht nur Personen, sondern auch Maschinen, die auf sich selbst reagieren, beispielsweise Automaten, die auf externe Impulse mit Operationen reagieren, die von dem gerade realisierten Systemzustand abhängen. Heinz von Foerster (1985) hat solche Systeme "nicht-triviale Maschinen" genannt; ihr Verhalten ist pfadabhängig und unvorhersehbar. Ein Auto ist demgegenüber eine "triviale Maschine". Soziale Systeme (etwa Gemeinschaften wie die Familie, Organisationen wie Unternehmen oder Universitäten und Funktionssysteme wie Wissenschaft oder Wirtschaft) sind keine Personen mit eigenem Willen, aber sie sind auch keine trivialen Maschinen, die man mit Hilfe eines Lenkrads steuern kann. Wenn man die sozialen Akteure als Adressaten der politischen Steuerung begreift, hat man es zumindest mit dem "Eigensinn" von Personen zu tun, der sich u. a. darin äußern kann, daß Akteure auf den Versuch einer politischen Steuerung mit Änderungen ihres Verhaltens reagieren, die den Steuerungsimpuls ins Leere laufen lassen. Aber auch wo akteursübergreifende soziale Systeme der Steuerungsaddressat sind, steht die Politik nicht vor der Gesellschaft wie der Fahrer vor dem Auto. Ob sie wenigstens wie der Herr vor dem Knecht steht, hängt vom Grad der Autonomie sozialer Systeme ab. Dieser aber hat historisch ständig zugenommen.

III. Differenzierung und Autonomie sozialer Systeme

Die Entwicklung moderner Gesellschaften ist mit der Einführung von Unterscheidungen in die Gesellschaft verknüpft, durch die wichtige soziale Prozesse oder Sphären voneinander getrennt werden und Autonomie gewinnen. Die Unterscheidungen liegen auf mindestens drei Ebenen: (1) Auf der Ebene der Bewertungskriterien werden "Rationalitäten" voneinander getrennt. Das Wahre, das Gute und das Schöne bilden getrennte Welten, die nicht ineinander überführbar oder wechselseitig substitutierbar sind. Max Weber spricht

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von der Differenzierung der Wertsphären, Niklas Luhmann von spezifischen Kodes der Kommunikation. Danach kann die Plausibilität wissenschaftlicher Theorien nicht mehr an der Übereinstimmung mit religiöser Offenbarung oder ihrem Beitrag zur Sinngebung menschlicher Existenz gemessen werden (Weber nennt das "Entzauberung"); der Geltung des Rechts kann nicht einfach Moral entgegengehalten werden; ökonomische Rentabilität oder Effizienz hängen nicht von politischen Zielen ab. (2) Auf der Ebene von Handlungsprogrammen setzt sich funktionale Spezialisierung durch. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung reproduziert die Trennung der Rationalitäten. Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Erziehung, Religion, Kunst werden besondere Handlungsfelder, die von spezialisierten Akteuren (Unternehmern, Wissenschaftlern, Juristen etc.) getragen werden, die jeweils unterschiedlichen Orientierungen und Zielen folgen. Der Ausgleich dieser unterschiedlichen Orientierungen und Ziele liegt grundsätzlich außerhalb des Horizontes der spezialisierten Handlungsfelder. (3) Auf struktureller Ebene wird die funktionale Spezialisierung durch organisatorische Trennungen begünstigt (der Betrieb wird von der Familie getrennt, die Universität von der Kirche und der Staatsbürokratie). Und sie wird durch Institutionalisierungen abgesichert: durch die Etablierung von Märkten (durch Privateigentum und Gewerbefreiheit / Deregulierung), durch besondere Berufsrollen und Professionalisierung, durch neue Netzwerke und Gemeinschaften (beispielsweise die internationale scientific community). Im Zuge dieser Differenzierungsprozesse entstehen verselbständigte soziale Teilsysteme von hoher Selektivität (Einseitigkeit) und eben deshalb hoher Leistungsfähigkeit. Experimentelle Wissenschaft und kapitalistische Wirtschaft sind die Prototypen dieser Teilsysteme. Sie maximieren nach eigener Logik "Wahrheit" im Sinne von Prognosefähigkeit und "Effizienz" im Sinne von profitabler Kapitalverwertung. Und sie tun dies - wenn man sie läßt - ohne jede Rücksicht auf andere Zwecke in der Gesellschaft, als ihre eigenen. Für das Wachstum von Erkenntnis und von Produktivität gibt es innerhalb der ausdifferenzierten Wissenschaft und Wirtschaft keine Stoppregeln. Systemintern verarbeitet die Wissenschaft nur Wissenschaft und die Wirtschaft nur Wirtschaft; alle anderen Folgen sind "externe Effekte", die an den Rest der Gesellschaft ausgelagert werden. Dort kommen sie als Ressourcen an, die genutzt werden können oder als Kosten (Probleme, Schäden, Risiken), die bewältigt bzw. getragen werden müssen. Daß eine Erkenntnis mißbraucht werden kann, taucht in der Wissenschaft nicht wiederum als Erkenntnisproblem auf. Daß Rationalisierungprozesse ganze Regionen arbeitslos machen können, verdirbt in der kapitalistischen Ökonomie nicht die Effizienzrechnung. Die Technik selbst ist kein autonomes Teilsystem der Gesellschaft, das sich nach eigener Dynamik entfaltet. Aber sie ist in solche Teilsysteme eingebaut. Die Wissenschaft liefert ständig neue technische Optionen, denn alle experimentellen Wahrheiten sind potentielle Techniken. Die kapitalistische Wirtschaft garantiert

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die Umsetzung in Innovation, denn im Wettbewerb müssen Unternehmen bei Strafe des ökonomischen Untergangs versuchen, die Produktivität zu steigern. Unter Innovationsdruck stehen auch die Professionen, etwa die Medizin, in denen Problemlösungen chronisch knapp sind, und die deshalb ihre Praktiken laufend dem Stand des Expertenwissens anpassen müssen. Im Ergebnis haben modeme Gesellschaften in ihren Strukturen eine technische Dynamik verankert, die historisch konkurrenzlos leistungsfähig ist, aber zugleich in steigendem Maße Folgeprobleme auslöst, die an der Quelle dieser Dynamik in der Regel weder wahrgenommen, noch bearbeitet werden. Diese Folgeprobleme lösen sekundäre Steuerungs- und Kontrollansprüche aus, für die das politische System der Hauptaddressat wird.

IV. Systemtheoretischer Steuerungspessimismus Die Politik erzeugt bestimmungsgemäß kollektive, also gesamtgesellschaftlich verbindliche Entscheidungen. Das schließt grundsätzlich das Mandat ein, soziale Prozesse hierarchisch, also von oben her zu steuern. Gegenüber ausdifferenzierten, se1bstreferentiell operierenden Teilsystemen ist dieses Mandat jedoch begrenzt. Zum einen ist die Autonomie dieser Systeme nicht nur faktisch sondern auch legitimatorisch, nämlich durch die Werteordnung und das Verfassungsrecht (Institutsgarantien und Grundrechte) als Struktur der Gesellschaft verankert. Das schließt politische Revisionen nicht aus, setzt sie aber unter erhöhten Begründungszwang und entzieht sie dem "Tagesgeschäft" der institutionellen Politik. Zum anderen aber (und das ist der wichtigere Punkt) bleibt die Politik auf die Leistungen der Teilsysteme angewiesen und kann diese nicht selbst erbringen. Es liegt auf der Hand, daß Märkte überlegen sind, wenn es darum geht, knappe Ressourcen kostengünstig und bedarfsgerecht zu verteilen, und daß die Bürokratien der Wissenschaftspolitik nicht die innovativen Funktionen von Wissenschaft und privater Wirtschaft ersetzen können. Sofern die Politik die Leistungen der Systeme erhalten will, darf sie daher nicht durch Steuerung deren Autonomie außer Kraft setzen. In der Systemtheorie wird dieser Befund zu einem radikalen Steuerungspessimismus verdichtet. Staatliche Politik kann unter der Voraussetzung gesellschaftlicher Differenzierung an der Eigendynamik und der Selektivität funktionaler Teilsysteme nicht wirklich etwas ändern. Die Politik wird selbst ein Teilsystems, das gewissermaßen aus der Überordnung über die Gesellschaft in die Horizontale rutscht: als ein System neben anderen. Modeme Gesellschaften werden als Gesellschaften ohne Spitze und Zentrum begriffen (Willke 1992). Die Politik produziert zwar nach wie vor kollektiv verbindliche Entscheidungen, aber was sie damit in den ausdifferenzierten Systemen auslöst, bestimmt sich nach den Wahrnehmungsund Verarbeitungsmöglichkeiten dieser Systeme, nicht nach den Intentionen der Politik.

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Natürlich bleibt es immer eine politische Option, die Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme zurückzunehmen. Das kann "pathologische" Formen annehmen, etwa wenn das Politbüro die Entscheidung trifft, daß im Wissenschaftssystem Lyssenkoismus und nicht die Mendel / Morgan-Genetik als richtige Theorie der Vererbung zugrunde zu legen ist. Aber die Politik kann auch einfach bestimmte Aktivitäten aus dem Kreislauf des ökonomischen Systems herausnehmen und im Staatshaushalt ansiedeln - was gegenwärtig in erheblichem Umfang beispielsweise für die Landwirtschaft und den Kohlebergbau gilt. Eigentlich wird hier aber nicht das (ausdifferenzierte) Wirtschaftssystem gesteuert, sondern durch ein anderes ersetzt - mit der Folge, daß die Risiken der Ressourcenbeschaffung nunmehr beim Staat liegen. In bezug auf die Eigendynamik autonomer Teilsysteme schließt die Systemtheorie eine direkte Steuerung geradezu begrifflich aus. Einfluß kann nur über "strukturelle Kopplung" gewonnen werden: Die Politik muß in der Umwelt der Systeme "Signale" (Randbedingungen / Anreize) setzen, um die Systeme zu veranlassen, ihre eigenen Strukturen so umzustellen, daß die Systemleistungen sich den politischen Zielen annähern. Ob das geschieht, entscheiden die Systeme. Die Politik kann nur bedingt antizipieren, ob die Signale zum System passen und wie das System reagieren wird. Autonome Systeme sind dynamisch und gewissermaßen immer schon weiter als die politischen Impulse. Hinzu kommt, daß die gesellschaftlichen Teilsysteme (besonders deutlich im Fall der Wissenschaft und der Wirtschaft) international operieren, sich also gewissermaßen auf der Ebene der Weltgesellschaft bewegen. Die Politik aber operiert im wesentlichen auf der Ebene des Nationalstaates und hat schon deshalb keine Aussicht, die Dynamik der Systeme steuernd einzufangen. Die Systemtheorie leugnet nicht, daß die Ausdifferenzierung autonomer Teilsysteme in gesellschaftlichen Kommunikationen in Frage gestellt wird. Die Amoralität moderner Wissenschaft und die Asozialität kapitalistischen Wirtschaftens sind ein Dauerthema intellektueller und politischer Reflexion und die Zielscheibe verbreiteten Ressentiments in der Bevölkerung. Nach der Theorie ist jedoch davon auszugehen, daß solche Kritik nicht sonderlich folgenreich ist, da die Gesellschaft Autonomie der Teilsysteme als dominante institutionelle und kulturelle Infrastruktur verankert hat und von den Leistungen dieser Systeme zunehmend abhängig wird. Mit dem ihm eigenen, etwas zynischen Realismus konstatiert Luhmann (1986), daß mit einer Zunahme moralischer Anklagen gewiß zu rechnen sei, daß diese aber wohl ohne große Resonanz an den Mauem der Systeme verhallen würden.

v. Politische Handlungsspielräume Man wird die Implikationen einer soziologischen Theorie nicht mit empirischer Gesellschaftsdiagnose verwechseln dürfen. Die radikale systemtheoretische Ent-

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wertung von Politik wird der Realität staatlicher Steuerung kaum gerecht. Tatsächlich zieht das politische System dem eigensinnigen Operieren autonomer Gesellschaftssysteme in vieler Hinsicht Grenzen, die gesamtgesellschaftliche Rücksichten zur Geltung bingen (Moral, Gemeinwohl, durch die Mehrheit sanktionierte gesellschaftliche Ziele). In aller Regel geschieht das durch die Setzung von Recht. Diese Grenzziehungen lösen häufig ordnungspolitisches "Geschrei" aus. Aber sie sind im allgemeinen weder so abwegig wie die politische Steuerung von Wahrheit im Fall des Lyssenkoismus, noch laufen sie auf Entdifferenzierung hinaus, wie bei der Übernahme der Landwirtschaft in den Staatshaushalt. Offenbar ist die Politik durchaus in der Lage, durch geeignete Randbedingungen Systeme so zu steuern, daß deren Eigendynamik erhalten bleibt, aber so umgestellt wird, daß unerwünschte externe Effekte minimiert werden. Dies zeigt sich gerade auch an der Umweltpolitik. Bei aller Kritik, die man im einzelnen haben mag, ist sie ein Beispiel dafür, in wie starkem Maße der ökonomische Zugriff auf natürliche Ressourcen politisch gesteuert werden kann (bis hin zu öffentlichen Bewirtschaftungsregimen für wichtige Umweltmedien), ohne die Wirtschaft zu zerstören oder zu verstaatlichen (van der Daele 1996). Daß selbstreferentiell operierende Systeme nicht direkt, sondern nur indirekt über Kopplung - beeinflußt werden können, bleibt sicher richtig. Aber diese Kopplung verliert ihr Geheimnis, wenn man konkrete Organisationen betrachtet (also etwa Unternehmen, Universitäten, Forschungsinstitute), in denen Systemoperationen ablaufen. Solche Organisationen haben Strukturen für die geregelte Wahrnehmung der externen Randbedingungen von Systemoperationen: Betriebs- und Personalräte, Rechtsabteilungen, Umweltbeauftragte, Öffentlichkeitsreferate etc. Dies sind gewissermaßen Öffnungen, über die das System seine gesellschaftliche Umwelt systematisch beobachtet. Ob man auf der Ebene der Organisationen von informationell und operativ geschlossenen Systemen sprechen kann, ist die Frage. Konzerne sind Hybridgebilde, die in verschiedenen Systemen gleichzeitig operieren: Vorwiegend, aber nicht ausschließlich, in der Wirtschaft (mit Produktion und Absatz) und gleichzeitig auch in der Wissenschaft (mit Forschung und Entwicklung) und in der Politik (mit Öffentlichkeitsarbeit und Lobbying). Schließlich muß zwar immer noch "Äußeres" in "Inneres" übersetzt werden, d. h. aus der Beobachtung der Rechtsentwicklung, der Entdeckungen der Wissenschaft, der Stimmungen der öffentlichen Meinung und der politischen Trends müssen Konsequenzen für ökonomisches Handeln abgeleitet werden. Daß dafür im Prinzip geeignete und schnelle Übersetzungsmechanismen zur Verfügung stehen, ist auf der Ebene der Interaktion in Organisationen offensichtlich - und wirft nicht die Probleme auf, die das Bild von einer bloßen Koevolution von Politik und Wirtschaft suggeriert, die als autonome Teilsysteme nebeneinander herdriften und sich allenfalls ungezielt wechselseitig anregen oder "irritieren" können. Welche politischen Impulse die Systeme qua Eigendynamik abweisen müssen, welche sie absorbieren können, ist (in gewissen Grenzen) eine empirische Frage, die nicht durch die Systemtheorie vorentschieden werden kann. Sie hängt vom

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Grad der Ausdifferenzierung oder der Autonomie der Systeme ab. Und hier wird man unterscheiden müssen. Die Ausdifferenzierung ist strikt in bezug auf die Bewertungskriterien (Rationalitätskonzepte und Kodes). Daß in modemen Gesellschaften auf Moral rekurriert wird, um zwischen wahr und falsch zu unterscheiden, oder auf politische Entscheidung, um Rentabilität zu definieren, ist wohl tatsächlich ausgeschlossen. Alle Versuche, eine "alternative" Wissenschaft zu entwickeln, die die moralische Neutralität oder Amoralität objektiver Erkenntnis korrigiert, haben zu nichts geführt. Im Ergebnis ist es immer dabei geblieben, daß die Erkenntnis neutral ist und nur die Anwendung und die Auswahl der Untersuchungsthemen an Moral gemessen werden können. Auch wird niemand im Ernst davon ausgehen, daß eine gesetzliche Mietpreisbindung die Kosten für den Wohnungsbau senkt. Die Anerkennung dieser Unterscheidungen trennt aber Wissenschaft und Wirtschaft zunächst nur analytisch von Politik; die Kriterien der Bewertung realer Prozesse (für den Beobachter) werden ausdifferenziert. Wie weit die realen Prozesse, d. h. die in der Gesellschaft etablierten Handlungsprogramme ebenfalls funktional ausdifferenziert sind, ist eine andere Frage. Sie hängt davon ab, wo die "Realität" sozialer Prozesse anzusiedeln ist - in den gesellschaftlichen Teilsystemen selbst oder in Organisationen und Interaktionen (sozialen Beziehungen). Stellt man auf soziale Rollen und Organisationen ab, wird deutlich, daß die Ausdifferenzierung auf der Ebene der realisierten Handlungsprogramme sehr viel weicher ist als auf der Ebene der Bewertungskriterien. Auch hier mag es einen Trend zu funktionaler Differenzierung geben, aber der ist keineswegs vollständig durchgesetzt - und es gibt Gegentrends. In welchem Umfang die Handlungsprogramme funktional "gereinigt" und selbstreferentiell geschlossen werden, ist eine empirische und historische Frage. Die strikte Selektivität der Kodes der Kommunikation bedingt nicht notwendigerweise auch eine strikte Selektivität der institutionalisierten Kommunikationen. In keinem Unternehmen geht es nur um Rentabilität, in keinem Forschungsinstitut nur um Erkenntnis. In funktional spezifizierten Organisationen gibt es Spielräume für Nicht-Funktionales, und es gibt immer ein heterogenes Personal, in dem sich Koalitionspartner für "externe" Interessen oder Ziele finden. Unternehmen können sozialpolitische Aspekte berücksichtigen, aus politischen Gründen nationale Standorte bevorzugen, mit "grünen" Strategien sympathisieren. Forschungsinstitute können soziale Verantwortung für die Wissenschaft übernehmen, sich in Ethikkommissionen engagieren, an Technikfolgenabschätzung teilnehmen etc. All das gilt zwar nur in den Grenzen, die durch die primären Funktionen gezogen sind. Aber, abgesehen davon, daß die Trennung der Kodes nicht verletzt werden darf, ist selten eindeutig, wo genau diese Grenzen liegen. Man kann jedenfalls davon ausgehen, daß Rücksichten der "Sozialverträglichkeit" in Unternehmens strategien eingebaut werden können, ohne in Widerspruch zur Funktionsfähigkeit der Ökonomie zu geraten, und daß man Wissenschaftlern weitere öffentliche Rechtfertigungslasten und Kontrollen auferlegen kann, ohne die Autonomie der Erkenntnissuche zu zerstören. Auch die ausschließliche Orientierung an shareholder value (Aktionärsrendite), die

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sich in den großen Konzernen auszubreiten scheint, ist vennutlich nicht unabweisbare ökonomische Notwendigkeit, sondern eine bloß mögliche - und insofern politisch beeinfIußbare - Option der Unternehmensstrategie. Insoweit dürfte es auch bei Handlungsprogrammen, die funktional spezifiziert sind und autonomes, selbstreferentielles Operieren voraussetzen, Spielräume für politische Steuerung geben. Solche Steuerung muß nicht notwendigerweise über staatliche Regulierung laufen. Es gibt innerorganisatorische Selbstregulierungspotentiale (in Anpassung an den wahrgenommenen Druck der öffentlichen Meinung, als Reaktion auf Protestbewegungen und die Drohung von Marktboykotten), und es gibt (über das klassische Beispiel der Tarifverhandlungen hinaus) Ansätze zur Regulierung durch zivilgesellschaftliche Aushandlungsprozesse (z. B. Umweltpakte). Im allgemeinen ist jedoch irgendein Rekurs aufrechtliche Regelung unvermeidbar, nicht nur, weil allein dadurch hinreichender politischer Druck entfaltet werden kann, sondern weil nur so gewährleistet wird, daß die Kosten einer Regulierung allgemein, also konkurrenzneutral getragen werden müssen. Handlungsspielräume, die auf der Ebene nationalstaatlicher Regulierung bestehen, sind allerdings leicht zu unterlaufen, sobald die Systemdynamiken auf der Ebene der Weltgesellschaft operieren und daher jederzeit ausweichen können. In dieser Hinsicht muß die Politik gewissennaßen "nachrüsten" und der Globalisierung der Systemoperationen in Wirtschaft und Wissenschaft die Globalisierung von "Regimen" entgegensetzten. Das geschieht bereits in erheblichem Umfang. Als Indikator können die mehr als 1000 völkerrechtlichen Verträge gelten, die in den letzten Jahrzehnten geschlossen worden sind, um länderübergreifende Umweltprobleme zu regeln. Zweifellos aber hinkt die Politik der gesellschaftlichen Dynamik weit hinterher - auch wenn das Tempo, in dem sich internationale Regulierung herausbildet, in historischer Perspektive beeindruckend ist.

VI. Politik und Technikdynamik

Kann sich Politik im Rahmen der beschriebenen Handlungsspielräume an die Spitze der Technikdynamik oder besser noch: vor die Technikdynamik setzen? Etwa in dem Sinne, daß Innovation, also die Veränderung der Gesellschaft durch die Einführung von neuer Technik, unter den Vorbehalt kollektiv verbindlicher, demokratisch legitimierter Entscheidung gestellt wird? Damit ist nicht zu rechnen. Die Entstehung des Neuen entzieht sich jeder Kontrolle, was die Dynamik von Optionen betrifft. Jede neue Erkenntnis ist potentiell neue Technik. Weiter noch: Bekannte Techniken enthalten unbekannte innovative Potentiale, die sich realisieren lassen, indem man die Technik aus dem vertrauten Anwendungskontext herauslöst und in einen anderen setzt; schon ein neuer Blick auf Altes kann Neues erzeugen. Optionen entstehen tatsächlich auf der Ebene der Weltgesellschaft. Was irgendwo erfunden oder gedacht wird, steht überall zur Verfügung. Keine Gesell-

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schaft kann sich daher gegen das Wachstum technischer Möglichkeiten immunisieren. Solange es irgendwo auf der Welt Wissenschaft, Kreativität und technisches Experimentieren gibt, muß überall jederzeit damit gerechnet werden, daß plötzlich etwas "geht", was vorher nicht ging, und daß aus Grenzen, die man hinnehmen muß, Optionen werden, über die man entscheiden muß. Die Politik kann nur Anwendungskontrolle betreiben. Sie kann aus der Menge der Optionen, die ihr unkontrollierbar vorgegeben werden, auswählen - einige befördern, andere ausschließen. Dabei muß nach unserer Verfassungslage nicht die Einführung, sondern die Einschränkung neuer Technik ~esondere begründet werden. Jede Einschränkung zählt als Freiheitsbeschränkung, die gerechtfertigt werden muß. In aller Regel muß man auf den Schutz wichtiger Rechtsgüter der Gemeinschaft vor Gefahren und Risiken verweisen; im Zweifel kann eine Technik eingeführt werden. Diese Verteilung der "Beweislast" begünstigt Innovation. In ihr spiegelt sich die Verankerung der Autonomie von Wissenschaft, Wirtschaft und professioneller Praxis im System individueller Rechte. Natürlich kann auch diese Beweislastverteilung im Prinzip politisch zur Disposition gestellt werden - aber eben nur im Prinzip. So ist in der Auseinandersetzung über die Gentechnik gefordert worden, die staatliche Kontrolle bei der Zulassung neuer Technik auszudehnen und nicht nur die Sicherheit und gegebenenfalls auch die Wirksamkeit und Qualität der Technik, sondern auch den gesellschaftlichen Bedarf zu prüfen (siehe van den Daele 1997). Durchgesetzt hat sich diese Forderung nicht':' obwohl in einigen Ländern (Österreich, Norwegen) entsprechende Klauseln in die Gentechnikgesetze aufgenommen wurden. Eine solche Bedarfskontrolle müßte Alternativen der technischen Entwicklung abwägen: Welche Technik brauchen wir? Ist das Neue wirklich besser als das Alte? Wie wollen wir in Zukuft leben? Aus Rechtsstaatsgründen könnten diese Abwägungen sicher nicht ad hoc von irgendwelchen Regulierungsbehörden vorgenommen werden; sie müßten durch Parlamentsbeschluß oder durch Referendum erfolgen. Sie würden im Ergebnis auf eine politische Bewirtschaftung des gesellschaftlichen Status quo hinauslaufen: keine Innovation ohne staatliche Genehmigung. Damit wäre die Ausdifferenzierung der Wirtschaft faktisch zurückgenommen. Alle wesentlichen Investitionsentscheidungen gerieten unter den Vorbehalt staatlicher Planung - was zugleich die wirtschaftlichen Risiken zu Risiken der Politik machen würde. Eine solche Politisierung mag in spektakulären Einzelfällen denkbar sein - und könnte dazu führen, daß in einer Gesellschaft eine Innovation einfach deshalb ausgeschlossen wird, weil die politische Mehrheit sie nicht will. (Das könnte beispielsweise das Referendum ergeben, in dem 1998 in der Schweiz über weite Bereiche der Gentechnik abgestimmt werden wird.) Kaum denkbar ist jedoch, daß in modernen Gesellschaften (nach dem wirtschaftlichen und politischen Fiasko der sozialistischen Zentralplanung) flächendeckend auf ein solches Prinzip umgestellt wird. Jedenfalls sind die dafür notwendigen parlamentarischen (bei uns: verfassungs-

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ändernden) Mehrheiten nirgends absehbar. Es wird also dabei bleiben, daß die Politik die Technikentwicklung nur punktuell im vorhinein, also gewissermaßen "präventiv" kontrollieren kann. Im übrigen wird sie die in der Gesellschaft induzierte Innovationsdynamik laufen lassen müssen und ihr kompensatorisch (anpassend oder korrigierend) hinterherarbeiten.

VII. Technikdynamik und Moral

Bisweilen erwecken die öffentlichen Auseinandersetzungen über neue Technik den Eindruck, als gäbe es einen Konflikt zwischen der Eigendynamik autonomer Systeme und der gesellschaftlichen Moral. Wäre dem Selbstlauf immer weiterer Technisierung Einhalt zu gebieten, wenn es nur gelänge, gegenüber dem ,,kalten" Funktionieren von moderner Wissenschaft und kapitalistischer Wirtschaft moralische Werte zur Geltung zu bringen? Darin kann das Problem kaum liegen. Die Vorstellung, daß die Technik die Moral überrolle, weil alles, was machbar ist, schließlich auch gemacht werde, ist ziemlich unsinnig. Es kann keine Rede davon sein, daß alles Machbare legitimerweise gemacht werden kann. Für alle Techniken gibt es klare moralische Schranken, auch für Technik in Wissenschaft und Wirtschaft. Bestimmte Experimente mit Tieren oder Menschen (inkl. menschliche Embryonen) sind ausgeschlossen, Handel mit menschlichen Organen ist unzulässig; gefährliche Produkte können nicht beliebig vermarktet werden, sittenwidrige Patente werden nicht erteilt. Richtig ist allerdings: Wenn etwas technisch möglich wird, entfallen die Grenzen des faktischen Könnens, an ihre Stelle treten normative Schranken des moralischen und rechtlichen Sollens, die nicht mit der Automatik von Naturgesetzen wirken, sondern durch abweichendes Verhalten verletzt werden können. Die immer wieder beschwörend gestellte Frage, ob wir denn alles dürfen, was wir können, ist rein rhetorisch. Die Antwort ist immer: Nein! Das Problem liegt jedoch darin, daß der moralische Konsens in der Gesellschaft weitreichende Einschränkungen der Technik gar nicht hergibt. Dieser Konsens kodifiziert Grundwerte und Minimalbedingungen des menschlichen Zusammenlebens, wie sie beispielsweise in den Menschenrechtskatalogen der Verfassung repräsentiert sind. Was darüber hinausgeht, und wie konkurrierende Werte auszugleichen sind, wird zwar ebenfalls mit moralischer Emphase, aber ohne Aussicht auf Konsens thematisiert. Es fällt in modemen Gesellschaft in einen Pluralismus verschiedener Moralen (Plural!), in dem, was für den einen kategorische Pflicht ist, für den anderen bloß eine wählbare politische Option sein kann. Ein einschlägiges Beispiel ist die sogenannte Bioethik, von der vielfach erwartet wird, sie werde moralische Dämme gegen die um sich greifende Technisierung der lebendigen Natur (in der Fortpflanzungsmedizin und Gentechnik) errichten. Was herauskommt, ist aber tatsächlich nur eine Ethik auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Moralische Verbote, die die Autonomie des Menschen schützen, als Pa-

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tient oder als Forschungsgegenstand, sind in der Regel ebenso unstreitig wie (eben deshalb auch) unproblematisch. Alle subtilere oder "heroischere" Moral bleibt jedoch kontrovers: Ist es überhaupt erlaubt, Lebewesen gentechnisch zu manipulieren? Sind Patente auf Pflanzen sittenwidrig? Rechtfertigen medizinische Zwecke jeden Eingriff? Darf die menschliche Natur (mit Einwilligung der Betroffenen) biotechnisch rekonstruiert werden? Über diese Fragen zerfällt die Gesellschaft gewissermaßen in Gläubige und Ungläubige. Und die Gläubigen müssen die Existenz von Ungläubigen aushalten. Jedenfalls können sie eine restriktive Regelung nicht im Namen der in der Gesellschaft anerkannten Moral einklagen; die Regelung muß als Freiheitsbegrenzung besonders gerechtfertigt werden. Im Ergebnis stellt die Bioethik zwar radikale Fragen, aber sie gibt keine radikalen Antworten: Sie differenziert zwischen zulässigen und unzulässigen Eingriffen, führt Risiko-Nutzen-Abwägungen ein, wehrt klare Mißbräuche ab. Dadurch aber öffnet sie den neuen Techniken, indem sie sie moralisch kanalisiert, den Weg in die Gesellschaft. Hinzu kommt, daß in der Wertehierarchie unserer Kultur Leben und Gesundheit des Menschen den höchsten Rang einnehmen. Das bedeutet aber, daß sich jeder, der dafür plädiert, auf eine möglicherweise medizinisch relevante Technik zu verzichten, letztlich auch moralisch "in die Ecke" manövriert. Daß man, um der immer weiteren Technisierung des Lebens Einhalt zu gebieten, in Kauf nehmen sollte, daß Menschen vermeidbares Leiden ertragen und gegebenenfalls daran sterben müssen, läßt sich nicht verteidigen. Im übrigen würde eine solche Regelung absehbar nur zu Patiententourismus in andere Länder führen, die weniger rigide Moralvorstellungen durchsetzen. Die Berufung auf die in der Gesellschaft geltende Moral ist daher nicht nur ein Mittel, die Dynamik der Technikentwicklung zu begrenzen. Sie ist ebenso ein Vehikel, diese Dynamik anzuheizen und Innovation freizusetzen - ganz unabhängig von und zusätzlich zu der Autonomie in Wissenschaft und Wirtschaft.

VIII. Fazit: Politische Steuerung als Beteiligung an gesellschaftlicher Evolution

Die Hoffnung auf eine politische Steuerung des sozialen Wandels ist streng genommen verfehlt. Technische Entwicklung, ökonomische Chancen, Wertewandel, Änderungen der Präferenzen und des Verhaltens von Menschen lassen sich nicht vom politischen System aus, also durch Verfahren kollektiver Entscheidung, in Regie nehmen. Die Politik kann ausgewählte externe Effekte korrigieren, die autonom operierende gesellschaftliche Akteure oder Teilsysteme erzeugen. Dadurch aber wird sie selbst andere externe Effekte erzeugen, die ihrerseits unbeabsichtigten sozialen Wandel induzieren. Politik steuert nicht die Evolution der Gesellschaft; sie ist eine Form, sich an dieser Evolution zu beteiligen. Das Bild einer Gesellschaft ohne Zentrum und Spitze, die sich durch die Koevolution ihrer Teilsysteme bewegt, trifft insofern den Kern der Dinge.

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Das kann natürlich kein Grund sein, auf erkannte Fehlentwicklungen in der Gesellschaft nicht mit politischen Entscheidungen zu reagieren. Aber die Tatsache, daß überhaupt externe Effekte ausgelöst werden, kann nicht schon als Fehlentwicklung begriffen werden. Die Möglichkeit, Folgen für andere zu setzen, ohne dafür verantwortlich zu sein, ist konstitutiv für jedes Freiheitskonzept. Die moralische Forderung, daß alle für alles Verantwortung übernehmen sollten, hebt sich selbst auf, da sie Handlungsfähigkeit ausschließt. Wo immer man individuelle Freiheiten einräumt, muß man mit gesellschaftlichen "Kosten" rechnen; beispielsweise können die Institutionen der Altersversorgung unter Anpassungsdruck geraten, weil die Menschen sich häufiger scheiden lassen und weniger Kinder bekommen. Sofern man irgendeine Form von Autonomie für Wissenschaft oder Wirtschaft anerkennt, muß man hinnehmen, daß gesellschaftliche "Kosten" der Innovation entstehen; Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von "Wahrheitsschäden"; man könnte "Produktivitätsschäden" hinzufügen. Die Frage kann also nur sein, wo in der Gesellschaft die Freiheitsräume liegen sollen, von denen aus solche Kosten erzeugt werden dürfen. Daß Wissenschaft und Wirtschaft hierzu als autonome Teilsysteme in ähnlicher Weise freigesetzt werden müssen wie Individuen zur privaten Entfaltung ihrer Persönlichkeit, ist sicher nicht zwingend. Andererseits ist ebensowenig zwingend, daß allein Politik, also ein demokratisches Verfahren kollektiver Entscheidung, die Form ist, in der eine Gesellschaft legitimerweise mit unabsehbaren Folgen für ihre weitere Entwicklung auf sich selbst einwirken kann.

Literaturverzeichnis van den Daele, W. (1993): Restriktive oder konstruktive Technikpolitik? In: Wolfgang Krohn, Georg Krücken (Hg.) (1993): Riskante Technologien: Reflexion und Regulation. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 284 - 304.

- (1996): Soziologische Beobachtung und ökologische Krise. In: Andreas Diekmann, Carlo C. Jaeger (Hg.) (1996): Umweltsoziologie. Sonderheft 36/1996 Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 420 - 440. - (1997): Risikodiskussionen am "Runden Tisch". Partizipative Technikfolgenabschätzung zu gentechnisch erzeugten herbizidresistenten Pflanzen. In: Renate Martinsen (Hg.) (1997): Politik und Biotechnologie. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, S. 281 - 301 von Foerster, H. (1985): Sicht und Einsicht. Braunschweig: Vieweg. Luhmann, N. (1984): Soziale Systeme. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

- (1986): Ökologische Kommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag. Willke, H. (1992): Ironie des Staates. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Selbst-Beherrschung als politische Idee Von Joachim Jens Hesse I. Eingeladen, über das Thema "Selbst-Beherrschung als politische Idee" zu referieren, ist zunächst zu klären, wie dieser - nicht nur orthographisch auffällige Titel zu verstehen ist. Dabei erweist schon ein erster Zugang, daß Selbstbeherrschung wenigstens in einer doppelten Bedeutung anzusprechen ist: zum einen als Selbstbeherrschung im Sinne auszuschöpfender Eigen- und Fachkompetenz, also des aktiven Einbringens, der Ausnutzung individueller und gruppenbezogener Gestaltungspotentiale, auch eines besonderen Wissens - etwa bei einzelnen Funktionsträgern, aber auch in Unternehmen und Verbänden; und zum anderen Selbstbeherrschung als Zurücknahme und "Zügelung", als bewußte Beschränkung also mit dem staatlichen Bereich als Beispiel. Nähert man sich dem Thema auf dieser begrifflichen Ebene, wäre darüber hinaus zwischen normativen und funktionalen Dimensionen zu unterscheiden. Normativ ginge es um den Glauben an Autonomie, Selbstbestimmung, das Selbsthilfepotential, die Kompetenz, die Erfahrung, auch die Selbstverwirklichung des einzelnen oder von Gruppen (womit auf die demokratietheoretische Dimension des Themas abgestellt würde)l, während funktional die Frage nach der individuellen und gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit sowie den Handlungsvoraussetzungen zu stellen wäre. Hier findet sich dann auch jene Schnittstelle, bei der es darum geht, mit den offensichtlicher werdenden Grenzen der klassischen staatlichen Steuerungsmittel 2 umzugehen, dem Bedeutungsverlust regulativer Politik,,3 entgegenzuI Eine sehr ausdifferenzierte Literatur findet sich hier zum einen im demokratietheoretischen Bereich, zum anderen als Reaktion auf den Bedeutungsgewinn alternativer politischer Gruppierungen in den achtziger Jahren. Als Einführung sind mit Blick auf den erstgenannten Aspekt zu benennen: F. W. Scharpf, Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, 1972, sowie U. Rödel/G. Frankenberg/H. Dubiel, Die demokratische Frage, 1989. Zur Rolle sozialer Bewegungen für Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik sei auf F. Neidhardt (Hrsg.), Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1994, Sonderheft 34, verwiesen. 2 Zu den Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Steuerung aus sozialwissenschaftlicher Sicht: K. König/N. Dose, Instrumente und Formen staatlichen HandeIns, 1993, sowie A. Benz, Kooperative Verwaltung. Funktionen, Voraussetzungen und Folgen, 1994. 3 So schon R. Mayntz: "Regulative Politik in der Krise?", in: J. Matthes (Hrsg.), Sozialer Wandel in Westeuropa, Verhandlungen des 19. Deutschen Soziologentages, 1979, S. 55 ff.

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wirken oder ihm doch zumindest analytisch wie empirisch zu entsprechen. Dabei ist dann auszuloten, inwieweit denn Alternativen oder Ergänzungen zum einseitig hoheitlichen Staats- und Verwaltungshandeln erkennbar sind, zumal gerade im Umwelt- und Technikbereich die Komplexität der zu lösenden Probleme, Akzeptanzfragen und Informationsdefizite sowie nicht zuletzt auch Finanzierungsprobleme effektive Regelungen immer: häufiger behindern, sie zum Teil gar unmöglich machen. Hier wäre in der Tat zu fragen, ob ökologische Eigenprüfungen von Unternehmen (über ein Öko-Audit oder Umweltbilanzen) oder ob Eigenregulierungen (über einen Ausbau von Umweltschutzleitlinien durch Unternehmen und Verbände) Platz greifen könnten4 , inwieweit ganz generell Verhandlungslösungen zwischen Öffentlichen und Privaten verstärkt eingesetzt werden sollten5 und ob und wie einer weiteren Verlagerung staatlicher Aufgaben einschließlich einer Normsetzung durch Private6 das Wort zu reden wäre. Ziel ist meist der Abbau von Regelungs- und Vollzugsschwierigkeiten durch einvernehmliche Lösungen und die Nutzung der Fachkenntnis der Regulierten. 7 Dabei wurden entsprechende Überlegungen bislang allerdings vor allem mit Blick auf eine Kooperation beim Vollzug einzelner Politiken angestellt; eine erweiterte Kooperation bei der Normsetzung selbst 4 Vgl. M. Kloepfer, Umweltinfonnationen durch Unternehmen. Wettbewerbsrecht, ÖkoAudit, Umweltberichterstattung als Regelungsansätze für das Recht externer unternehmerischer Umweltinfonnationen, Natur und Recht, 1993, S. 353 ff.; G. Haurand/P. Pulte, Umweltaudit: Nonnen, Hinweise und Erläuterungen, Neue Wirtschafts-Briefe, 1996; P. Dilly, Handbuch Umweltaudit, 1996; J. Schumacher, Umweltaudit: Gesetze und Rechtsverordnungen, 1996; M. SietzlW. D. Sondermann, Umwelt-Audit und Umwelthaftung: Anleitung zur Risikominimierung, Vorsorge und Produktqualitätssicherung in der Betriebspraxis, 1990. 5 Grundlegend auch für die spätere, weiter ausdifferenzierende Literatur: E.-H. Ritter, Der kooperative Staat, Archiv des öffentlichen Rechts, 104 (1979), S. 389 ff. 6 Die Verlagerung staatlicher Aufgaben in den privaten Bereich wird seit Jahren einschlägig diskutiert. Die ordnungspolitische Besetzung des Themas seit Anfang der achtziger Jahre hat in einem ersten Schritt jedoch lediglich dazu geführt, die Frage nach den Handlungsmöglichkeiten des politischen Systems vergleichsweise eindimensional im Rahmen von Privatisierungs- und Deregulierungspolitiken zu diskutieren (vgl. dazu Deregulierungskommission. Unabhängige Expertenkommission zum Abbau marktwidriger Regulierungen, Marktöffnung und Wettbewerb, 1991; E. S. Savas, Privatization: The Key to Better Government, 1987; R. Harrisl A. Seldon, Over-ruled on Welfare, 1979. Sowohl Problemstellungen als auch Lösungsmöglichkeiten sind jedoch vielschichtiger zu sehen. So wäre die Dichotomie zwischen öffentlich und privat zu erledigenden Aufgabenbereichen zu ergänzen um die Möglichkeiten staatlicher Gewährleistungs- und Ergänzungsaufgaben, verbunden mit der Frage nach der Leistungstiefe im öffentlichen Sektor; hinzu tritt die Einsicht in die mögliche (und faktische) Pluralität der Träger öffentlicher Aufgaben; vgl. G. F. Schuppert, Privatisierung und Regulierung - Vorüberlegungen zu einer Theorie der Regulierung im kooperativen Verwaltungsstaat. Europäisches Zentrum für Staatswissenschaften und Staatspraxis. Discussion Paper Nr. 8, 1996; F. Naschold u. a., Leistungstiefe im öffentlichen Sektor. Erfahrungen, Konzepte, Methoden, 1996. 7 Vgl. u. a. W. Hoffmann-RiemIE. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Konfliktbewältigung durch Verhandlungen. Bd. 1, 1990; A. BenzlW. Seibel (Hrsg.), Zwischen Kooperation und Korruption. Abweichendes Verhalten in der Verwaltung, 1992; N. DoselR. Voigt (Hrsg.), Kooperatives Recht, 1995.

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fand hingegen ein nur unzureichendes Interesse von praxisbezogener Wissenschaft und wissenschaftsbezogener Praxis. 8 Der "Wandel vom normierenden zum paktierenden Staat,,9, um den Veranstalter zu zitieren, ist unterwegs, aber sicher noch nicht vollzogen. Selbstbeherrschung ist auch hier in der eingangs benannten doppelten Bedeutung zu sehen, also zum einen als Einbringung eigener und bislang eher un- oder unterausgeschöpfter Kapazität und Kompetenz und zum zweiten als Zurücknahme und Eingrenzung dort, wo Steuerungsansprüche nicht wirklich eingelöst werden können, wo man nicht zu Unrecht von einer "Steuerungsillusion,,10 staatlichen Handelns spricht. Dabei ist mit Blick auf den Staat und seine Einrichtungen hinzuzufügen, daß die benannte Selbstbeherrschung sicher beides verlangt: Im originär staatlichen Bereich sollte und muß der Staat Letztinstanz bleiben, der die "KompetenzKompetenz" zukommt, um den an ihn gerichteten Anforderungen und den von ihm erwarteten Sicherungsleistungen zu entsprechen. Diese Selbstbeherrschung setzt jedoch die andere voraus: Der Staat muß und sollte seine Grenzen kennen - und sie dann auch benennen. Aufgaben, die er nach der vorliegenden empirischen Erfahrung oder aller Voraussicht nach nicht wird lösen können, untergraben die Akzeptanz und die Legitimation des Gemeinwesens, seiner Einrichtungen und Akteure. Ein sich selbst beherrschender Staat ist hier also im positiven Sinne das Gegenstück zum "überforderten" und/ oder sich "selbst überfordernden Staat" I I.

11. Wie sieht es nun mit Blick auf diese "doppelte" Selbstbeherrschung tatsächlich aus? Was ist erwartbar, welche Handlungsmöglichkeiten und Grenzen, welche Chancen und Risiken stellen sich? In historischer Perspektive ist hier zunächst daran zu erinnern, daß die Herausbildung des Staates als gleichsam kollektiver Handlungsform bekanntlich der Erfahrung der Glaubenskriege folgte und von autonomen Sphären von Staat und Gesellschaft ausging. 12 Staat als Herrschaft also und Gesellschaft als die der Herrschaft unterworfene Sphäre. In Deutschland, anders etwa als in Frankreich und Großbritannien, mißglückte dann die "Demokratisie8 Vgl. G. Lübbe-Wolff, Das Kooperationsprinzip im Umweltrecht, in: A. Benz/W. Seibel (FN 7). Aus Sicht der Praxis: M. Bulling, Kooperatives Verwaltungshandeln in der Verwaltungspraxis, Die öffentliche Verwaltung, 1989, S. 277 ff. 9 M. Kloepfer, Umweltrecht, 1989, § 3 Rdnr. 45. 10 H. Willke, Entzauberung des Staates. Grundlinien einer systemtheoretischen Argumentation, in: T. Ellwein/J. J. Hesse/R. Mayntz/F. W. Scharpf (Hrsg.): Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft, 1987. 11 Vgl. dazu T. Ellwein/J. J. Hesse, Der überforderte Staat, 1994. 12 Ausführlicher hierzu: D. Grimm, Der Staat in kontinentaleuropäischer Tradition, in: R. Voigt (Hrsg.): Abkehr vorn Staat - Rückkehr zum Staat, 1993, sowie ders., Staat und Gesellschaft, in: T. Ellwein / J. J. Hesse (Hrsg.): Staatswissenschaften: Vergessene Disziplin oder neue Herausforderung?, 1990.

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rung" dieses Verhältnisses. Statt der Teilhabe an der öffentlichen Gewalt erlangte das Bürgertum die Freiheit vor der öffentlichen Gewalt. Der Rechtsstaat entstand als Idealvorstellung der deutschen Staatsrechtslehre. Der Staat wurde dabei als der Gesellschaft übergeordnet begriffen, Staat und Gesellschaft blieben getrennte Sphären, eine Argumentation, die sich durchaus auch heute noch findet 13. Damit verbunden waren dann auch entsprechende Steuerungs- und Regelungserwartungen an den Staat; er wurde als gleichsam omnipotente autonome Steuerungsinstanz begriffen. Gleichwohl wurde rasch deutlich, daß von diesem fragwürdigen Idealbild Abstand zu nehmen war. Die gesellschaftlichen Akteure wurden zunehmend im politischen Bereich tätig, vor allem natürlich über die sogenannten intermediären Einrichtungen, also Parteien, Verbände und Medien. 14 Zugleich kam es zu einer deutlichen Expansion staatlicher Aufgaben in den gesellschaftlichen Bereich hinein. Zu verweisen ist hier auf die mit dem Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozeß verbundene Ausweitung der staatlichen Verantwortung auch auf soziale Belange; auf den Einbezug der wirtschaftlichen Entwicklung in die staatliche Verantwortung nach den Wirtschaftskrisen der zwanziger und dreißiger Jahre (und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs); schließlich auf die immer weitere Ausweitung des staatlichen Steuerungsanspruches auch und gerade in zukunftsrelevante Bereiche hinein, vor allem mit Blick auf Umwelt und Technik. Aktuellster Ausdruck dieses Denkens ist sicher die Bildung eines "Zukunftsministeriums" auf Bundesebene. Zur Sicherung von Rechten trat also die Erfüllung von Leistungen und schließlich die Zukunftsvorsorge. Dabei geriet der Staat zusehends in die Rolle des "Großversicherers". 15 Mit dieser Ausweitung von Staatsaufgaben ging dann gleichzeitig die schrittweise eingeschränkte Wirkung des traditionellen staatlichen Steuerungsinstrumentariums einher. Der rechtliche Zwang, das klassische Steuerungsinstrument, verlor und verliert an Bedeutung. 16 So wurde auch in funktionaler Hinsicht sichtbar, daß komplexe, sehr veränderliche Materien sich einer detaillierten Regelung entziehen, 13 Aus Sicht der Staatsrechtslehre siehe J. lsensee, Staat und Verfassung, in: Ders./P. Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts, 1987. Beiträge zur Debatte um das Verhältnis von Staat und Gesellschaft aus Sicht der Rechts- und Sozialwissenschaften finden sich in E.W. Böckenförde (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, 1986. 14 Aus der Perspektive eines Dualismus von Staat und Gesellschaft stellt sich diese Entwicklung problematisch dar. Der überparteiliche, angeblich keiner besonderen Gruppe verbundene Staat verfügt nach dieser Sichtweise - im Gegensatz zur Gesellschaft als Summe individueller Egoismen und Parteilichkeiten - über eine eigene Wertewelt. Der Antiparteienaffekt und die Verbändephobie, .die in Deutschland lange Zeit vorherrschten, lassen sich darauf zurückführen. Vgl. J. J. Hesse/T. Ellwein, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland. 8. Aufl., 1997, S. 129 ff. IS J. J. Hesse, Verhandlungslösungen und kooperativer Staat. Plädoyer für einen erweiterten Blick in die Praxis, in: W. Hoffmann-Riem IE. Schmidt-Aßmann (FN 7). 16 Vgl. dazu die Beiträge in R. Voigt (Hrsg.), Abschied vom Recht?, 1983, sowie ders. (Hrsg.), Recht als Instrument der Politik, 1986.

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vor allem dann, wenn positive Handlungen angestrebt werden und Einzelfallentscheidungen an Gewicht gewinnen. Die Konkretisierung rechtlicher Normen geschieht zumeist erst im Vollzug. 17 Der erste Versuch, den damit verbundenen Steuerungsverlust wieder auszugleichen, erfolgte über den Ausweis finanzieller Anreize. Aber auch dieses Instrument erwies sich keineswegs als universell anwendbar. Neben der nur begrenzten Verfügbarkeit von bereitzustellenden Ressourcen erwies es sich auch in der Wirkungsweise als begrenzt. Zwar konnte es nun gelingen, die Staatsbürger zu positiven Handlungen im Sinne des Staates zu veranlassen, jedoch nur insoweit, als sich die erwünschte Steuerungswirkung auf durch Ressourcen bestimmte Verhaltensprämissen bezog. Vor allem zeigten sich aber auch hier reichlich unsichere Steuerungswirkungen, die sich in einem hohen Maß an erkennbaren Mitnahmeeffekten in zahlreichen Bereichen dokumentierten. 18 Die Erkenntnis, daß sowohl regulative als auch finanzielle Instrumente situativ angepaßt und präzisiert werden müssen, daß der Erfolg des staatlichen Handeins abhängig ist von der Mitwirkungsbereitschaft der Beteiligten und Betroffenen, daß somit ein wechselseitiger Lem- und Kommunikationsprozeß zwischen Staat und Adressaten vollzogen werden muß, erklärt, daß man schließlich auf der Suche nach neuen Handlungsformen eine verstärkte Kooperation zwischen den Beteiligten diskutierte und der "verhandelnde Staat" zu einer Größe in der Literatur wurde. 19 Die dabei immer wieder ins Feld geführten Gründe, warum der Staat sich auf Kooperation einlassen solle, sind die in der Tat nicht zu leugnenden Informationsdefizite und die zunehmenden Vollzugs- wie Umsetzungsprobleme in fragmentierten Gesellschaften. In einer Zwischenzusammenfassung ist für die Einschätzung künftigen staatlichen Handeins deshalb von folgenden grundlegenden Überlegungen auszugehen 2o : • Danach gilt der Wohlfahrtsstaat der 50er und 60er Jahre aufgrund des inzwischen wesentlich differenzierteren Parteienwettbewerbs, der offensichtlichen sozialen Kosten der Industrialisierung und überholter staatlicher Paradigmen (Staat als omnipotente autonome Steuerungsinstanz einer Gesellschaft) als eine eher historische Zwischenphase in der Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft. 17 So verweist etwa der damalige Präsident des Bundesverwaltungsgerichts auf die bekannten Mängel beim Norrnvollzug, auf eine deutlich eingeschränkte Rationalität des Normenbestandes, auf eine mangelnde Verläßlichkeit und Kalkulierbarkeit des Rechts sowie generell auf eine Abschwächung des Rechtsbewußtseins und der Gesetzesloyalität. Zusammenfassend hierzu: H. Sendler, 40 Jahre Rechtsstaat des Grundgesetzes: Mehr Schatten als Licht?, Die öffentliche Verwaltung, 1989, S. 482 ff. 18 Vgl. A. Benz (FN 2). 19 Siehe u. a. N. Dose, Die verhandelnde Verwaltung - Eine empirische Untersuchung über den Vollzug des Immissionsschutzrechts, 1997. 20 J. J. Hesse, Aufgaben einer Staatslehre heute, in: T. Ellwein/J. J. HesseIR. Mayntz/F. W. Scharpf (FN 10).

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• Die Staatsfunktionen verschieben sich zunehmend vom Leistungs- zum Steuerungs- und Ordnungsstaat im Sinne der Organisation gesellschaftlicher Interaktions-, Produktions- und Entscheidungsprozesse. • Dabei verlagern sich die Leistungsfunktionen zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auf dezentrale politisch-administrative Ebenen, die das Leistungsangebot den sich differenzierenden Ansprüchen präziser anzupassen vermögen, die Nachfrage wirksamer in die Angebotsgestaltung einbeziehen können und besser als zentralstaatliche Institutionen in der Lage sind, die erforderlichen Akzeptanz- und Konsensbildungsprozesse zu gestalten. • Die Autonomie des Staates - obwohl faktisch nie gegeben, wenngleich von den Handlungsträgern subjektiv so empfunden - wird immer weiter zugunsten kooperativer Strukturen zwischen Staat und gesellschaftlichen Handlungsträgern aufgelöst; die Aufgabe des Staates konzentriert sich danach auf die Wahrnehmung von Führungsfunktionen: Kooperation, Koordination und Moderation stehen dabei im Vordergrund. • Dieser Kooperationsbedarf entspringt aber durchaus auch staatlichen Eigeninteressen: zur Sicherung der finanziellen Voraussetzungen staatlichen HandeIns (Steuennoral, Abdeckung öffentlicher Aufgaben über Entgeltfinanzierungen), zur Verhinderung von Legitimationsverlusten ("anonymer Staat", "Großbürokratie", Infonnationsmißbrauch) und zur Verbesserung der Vollzugseffizienz (Verhinderung von Regelungsmißbrauch durch Adressaten, Gewährleistung von Kooperationsbereitschaft, Sicherung von Interaktionsstrukturen). • Die gesellschaftliche Komplexität, die unübersehbare Optionenmehrung individueller Interessendurchsetzung als Folge neuer Techniken und Technologien, die Unsicherheit über Wirkungs verläufe gesellschaftlicher Großentscheidungen (etwa im Bereich der Infonnationstechnik, der Kernenergie, der Rüstungswirtschaft etc.) erhöhen ständig die individuellen Risiken. Der Staat tritt aber immer häufiger in die angesprochene Rolle des "Großversicherers", der allerdings nicht nachträglich Schäden beseitigen, sondern sie präventiv verhindern soll. Das setzt vorausschauende Planung, Risikokalkulation und neue Verfahren der Entscheidungsvorbereitung voraus, die ohne gesellschaftliche Konsensbildung wiederum nicht funktionsfähig werden. • Gesellschaftliche Konsensbildung schließlich wird - bei zunehmender Desintegration durch gesellschaftliche Subkulturen, dezentrale Steuerungsstrukturen und gruppengebundene "Weltbilder" - immer mehr zum knappen Gut. Die Konsensbildungskosten wachsen progressiv, wenn jeweils problembezogene Übereinstimmungen hergestellt werden müssen, ein differenzierter Grundkonsens also fehlt. Aufgabe des Staates wird es dann, die Kosten der Konsensbildung zu senken, sei es durch neue Organisationsfonnen im Bereich der Willensbildung und Entscheidung, sei es durch Erneuerung eines differenzierten Grundkonsenses.

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Diese Prämissen bestimmen latent bereits heute staatliches Handeln, jedoch zeigen die Handlungsstrukturen, daß politisch-administrative Steuerungsprozesse sich nur schwer hierauf "einlassen" können. Sie werden beherrscht vom schnellen, vorzeigbaren, mediengerechten Erfolg, der tagespolitische Pragmatik an die Stelle mittelfristigen strategischen Handeins setzt. Vereinfacht und generalisiert formuliert bleibt politisches Handeln dabei charakterisiert durch sektorale, fragmentierte Politikwahrnehmung und -bearbeitung, durch reaktive Politikformulierung gegenüber sektoral artikulierten und von sektoralisierten Interessen durchsetzten Problemdeutungen, schließlich durch erratische Reaktionen, die häufig eher fremdbestimmt sind (von denen, die Probleme erzeugen oder sie zumindest politisieren können), als daß sie von den politischen Handlungsträgem planvoll gesteuert werden. Als Korrektiv dazu wurde bereits in den 60er Jahren die staatliche aufgabenbezogene Planung eingeführt, die aber von vergleichsweise idealtypischen Vorstellungen gesamthafter Politikbearbeitung ausging und an institutionellen wie politischen Widerständen scheiterte. So entstanden Gegenpositionen, die stärker auf eine Selbststeuerung sozialer Systeme setzten, sei es über den Markt (Privatisierung, Entstaatlichung, Deregulierung), sei es über kleine soziale Netzwerke (Dezentralisierung, genossenschaftliche Selbsthilfe), sei es (im Wege höherer Rationalität der gesellschaftlichen Handlungsträger) über Selbstdisziplinierung im "wohlverstandenen Eigeninteresse" (Anspruchsreduktion, Selbstkontrolle von Gruppen, "diskursiver Konsens"). Diese Positionen gehen jedoch nicht selten von einem illusionären Gesellschafts- und Politikverständnis aus, da sie gesellschaftliche Rationalitätssteigerungen empfehlen, ohne die damit wachsenden Kosten der Konsensbildung zu berücksichtigen; integrierte Aufgabenplanung durch einen Abbau politisch-administrativer Arbeitsteilung anstreben, ohne die informatorischen und konsensbezogenen Vorteile der Arbeitsteilung in Rechnung zu stellen; dezentrale Selbststeuerung und Selbst-Beherrschung propagieren, ohne zu erkennen, daß ausdifferenzierte Gesellschaften und pluralistisch-fragmentierte Institutionensysteme einen wachsenden Kollektivbedarf der Steuerung, Planung und Konsensbildung erzeugen. Daher bietet sich auch ein eher pragmatischer Ansatz an, der politikfeldbezogen vorgeht, aber versucht, die einer ,,rationalen" Politikbearbeitung entgegenstehenden Widerstände (aus verflochtenen institutionalisierten Zuständigkeiten, aus der Heterogenität und Vielfalt privater wie öffentlicher Entscheidungsträger, aus materiellen Entscheidungskonflikten über Ressourcen, Kompetenzen und andere Handlungsvorteile) konstruktiv aufzugreifen und zu nutzen. Staatliche Politik wäre danach primär als Führungsaufgabe zu verstehen, der drei gleichsam "strategische" Funktionen zuzuordnen sind: • eine Orientierungsfunktion zur Bestimmung und Definition von Problemen, zur Festlegung von "Fluchtlinien" des Handeins und zur Präzisierung der erwartbaren (und nachprüfbaren) Handlungsergebnisse; • eine Organisationsfunktion, die sicherstellen muß, daß alle wichtigen Handlungsträger für eine Aufgabe mobilisiert und zu gemeinsamer Handlung zusammengeführt werden (der Staat! die öffentliche Hand kann immer weniger alle

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Joachim Jens Hesse Probleme einer Gesellschaft an sich ziehen und aus eigener Kraft zu lösen versuchen, da die Problemfelder nur zu einem Teil von Variablen gebildet werden, auf die der Staat direkt Einfluß nehmen kann; darüber hinaus verfügen Private über ein zunehmend wachsendes Störpotential, das sie - auch ungewollt, etwa durch egoistisches Verhalten - gegen den Staat einsetzen);

• eine Vermittlungsfunktion, die zur Aufgabe hat, Konsens und Akzeptanz für gemeinsame Handlungswege zu schaffen und die verschiedenen Handlungsträger zu motivieren. Die Orientierungsfunktion geht davon aus, daß die Arbeitsteilung der Gesellschaft und die Erkenntnis, daß in komplexen Gesellschaften Entscheidungen / Handlungen lange Wirkungsketten auslösen, deren Ergebnisse häufig Folgeprobleme schaffen, den Staat immer mehr in Steuerungsfunktionen gedrängt hat, die eine Vielzahl von Adressaten beeinflussen müssen. Orientierung geben heißt dann: Probleme frühzeitig aufzugreifen und zu benennen, Optionen für die Problembearbeitung zu schaffen, Ziele und Leitlinien für Problemlösungen zu bezeichnen und Handlungen daraufhin abzuschätzen, welche ungewollten Folgewirkungen sie haben ("Aktivitätsfolgenabschätzung": Umweltverträglichkeitsprüfung, Technologiefolgenabschätzung, Sozialverträglichkeitsprüfung, Raumverträglichkeitsprüfung). Orientierung ist aber nicht nur handlungsstrategisch zu verstehen, sondern wirkt auch auf die Grundwerte einer Gesellschaft ein, die letztlich den Möglichkeitsrahmen des Handeins mitbestimmen, aber auch Voraussetzung für kollektives Handeln sind (etwa: Solidarität). Die Organisationsfunktion stellt gleichsam das materielle Korrelat zur Orientierungsfunktion dar. Sie unterscheidet die Organisation von Interaktionsprozessen zur Konsensfindung und Akzeptanzgewinnung und die Organisation der Kompetenz- und Ressourcenbereitsstellung, um kollektives Handeln materiell möglich zu machen. Die interaktionsbezogene Organisationsfunktion kann dabei politische Verhandlungssysteme zum Gegenstand haben (zu nennen sind etwa konzertierte Aktionen, Regionalkonferenzen und ähnliches) oder aber ordnungspolitische Regelungen schaffen, die das Handeln Dritter strukturell gestalten (Marktordnungen als Beispiel). Die Vermittlungsfunktion schließlich verweist darauf, daß kollektives Handeln nicht nur initiiert, sondern auch motiviert und moderiert werden muß, zumal der Staat immer stärker auf die Mitwirkung von Privaten oder nichtstaatlichen Organisationen angewiesen ist, denen gegenüber Weisungen / Gebote / Verbote häufig wirkungslos bleiben, weil sie von den Adressaten unterlaufen bzw. von den ausführenden Behörden nicht adäquat umgesetzt werden. Vermittlung besteht dann nicht nur in der Verkündung von Zielen, Programmen oder in der Gewinnung von Kooperationspartnern, es geht vielmehr auch um den Einbezug derer, die an der kollektiven Aktion beteiligt sind - und dies bereits bei der Entwicklung und Planung von Zielen und Maßnahmen. Die Aufgabe ist sowohl intern (bezogen auf öffentliche Handlungsträger) als auch extern (bezogen auf nichtstaatliche Handlungsträger) zu

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realisieren. Sie kann umgesetzt werden über Beratungsleistungen, Überzeugungsarbeit, Tauschhandlungen und Verhandlungsprozesse. Die Wahrnehmung der Vermittlungsfunktion geht dabei häufig weit über den Informationsaustausch hinaus, meist handelt es sich auch um einen Prozeß politischer Konfliktregelung, der wiederum Rückwirkungen auf die Organisationsfunktion haben kann. Die Wahrnehmung aller drei genannten Funktionen, die den Staat als "kooperativen Staat" ausweisen, könnte dazu beitragen, Probleme früher aufzugreifen und damit den Staat wieder zum "Herrn des Verfahrens" (allerdings in einem veränderten Verständnis) zu machen. Dies bezieht sich sowohl auf den Zeitpunkt der Problembearbeitung, die zieladäquate und ressourcenschonende Gestaltung von Problemlösungen sowie schließlich auch auf die Schnelligkeit, die Treffsicherheit und die Dauerhaftigkeit von Problemlösungen.

III. Bei der Umsetzung solcher Überlegungen in das Feld der Umwelt- und Technikentwicklung ist allerdings - wie angesprochen - zu unterscheiden zwischen der Kooperation im Vollzug und der Kooperation im Prozeß der Normsetzung. In beiden Bereichen stellen sich gewichtige Probleme: Bei einer erweiterten Kooperation im Bereich der Normsetzung gilt es mitzubedenken, daß es zwar normativ erwünscht, faktisch aber kaum möglich sein dürfte, alle relevanten- Akteursgruppen an Regelungsverfahren zu beteiligen. Auch Expertenwissen ist selten wertfrei und bereits die - demokratisch nicht legitimierte Auswahl von Beteiligten kann somit für das Verhandlungsergebnis bestimmend sein. Auch wäre hier zu fragen, ob die Annahme, nach der staatliche Verwaltungen zu einer erweiterten Form der Informationsverarbeitung nicht in der Lage seien, zutreffend ist. Insbesondere wäre zu prüfen, ob es sich bei solchen Behauptungen nicht auch um eine Art von "self-fulfilling prophecy" handeln könnte: Ist das Wissen von außen zu beziehen, muß es in der Verwaltung nicht bereitgestellt werden. Es bleibt die Frage, inwieweit sich ein dieserart "verschlankter" Staat damit abhängig macht von externem Sachverstand und letztlich Kernbereiche staatlichen Handelns ganz an Private abtritt. Wie können zudem demokratische Gesichtspunkte so eingebracht werden, daß die im Grundgesetz vorgesehenen Verfahren der politischen Willens bildung nicht übergangen werden und nicht zum "Auswandern der Politik aus den für sie eigentlich vorgesehenen Institutionen und Verfahrenswegen,,21 führen, daß Selbstbeherrschung somit nicht zu unguten Externalisierungsund Diskriminierungsprozessen führt? Es sollte inzwischen deutlich geworden sein, daß hier nicht gleichsam naiv davon ausgegangen werden kann, daß der Prozeß der politischen Willens bildung ausschließlich im parlamentarischen Raum 21 So C. Offe, Countdown für das sozialliberale Regierungsbündnis, in: Links 14 (1982), S. 14 - 16, allerdings mit einem etwas anderen Schwerpunkt.

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stattfindet. Aber gerade wenn die prinzipielle Notwendigkeit vor- und außerparlamentarischer Problembearbeitung und notwendiger Komplexitätsreduktion erkannt ist, muß über die Grenzen des daraus folgenden Bedeutungsverlustes zentraler Verfassungseinrichtungen diskutiert werden. 22 Bei der Kooperation im Vollzug ist demgegenüber zu fragen, ob mit der erkennbaren "Aufweichung" der rechtlichen Zwangsgewalt nicht auch das häufig angesprochene "Einreißen brüchiger Dämme" verbunden sein könnte. Hoheitliches Verwaltungshandeln ist deshalb nicht vorschnell als "vormodern" und unangemessen abzuqualifizieren, vor allem solange sich alternative Instrumente noch nicht bewährt haben. Entscheidet man sich für die Kooperation, bleibt die Frage, wie der Interessenausgleich aller Beteiligter tatsächlich sicherzustellen ist. Das Problem der asymmetrischen Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung, vor allem aber einer asymmetrischen Interessenberücksichtigung, bleibt auch bei kooperativen Formen des Staats- und Verwaltungshandelns bestehen. 23 Werden schließlich alle Beteiligten gleichermaßen berücksichtigt, können die Transaktionskosten dieser Verhandlungen potentiell ins Unermeßliche steigen. 24 Erneut: An dieser Stelle sollen Verhandlungslösungen nicht pauschal abgelehnt werden; im Gegenteil. Gerade deshalb aber ist es wichtig, zwischen der Kritik am Risiko einseitiger Interessenberücksichtigung durch informelles Verwaltungshandeln und den steigenden Transaktionskosten einerseits und der Kritik an Verhandlungslösungen andererseits zu unterscheiden. Nur so scheint es möglich, Kriterien für eine angemessene Einschätzung von Form und Reichweite staatlicher Steuerung zu entwickeln. Dem folgend ist zunächst festzustellen, daß eher "weiche" Formen des HandeIns sicher eine interessante Ergänzung des herkömmlichen Instrumentariums darstellen. Den erwartbaren Vorteilen von Verhandlungslösungen stehen allerdings auch Kosten (sowohl in demokratietheoretischer Sicht wie nach Effizienzüberlegungen) gegenüber. Bei der Einschätzung der damit verbundenen Handlungspotentiale sollte man sich somit immer der Grenzen bewußt sein, den Blick auch auf potentielle Schwächen veränderter Handlungsmuster richten. 25

22 Vgl. dazu V. Schneider; Infonnelle Austauschbeziehungen in der Politikfonnulierung. Das Beispiel des Chemikaliengesetzes, in: A. Benz/W. Seibel (FN 7). 23 Sehr skeptisch gegenüber den Möglichkeiten, Infonnationsasymmetrien durch Kooperation aufzulösen, zeigt sich G. Lübbe-Wolf! (FN 8). Ihr widerspricht - im selben Band - N. Dose, Nonnanpassung durch Verhandlungen mit der Ordnungsverwaltung, in: A. Benz/W. Seihei (FN 7). 24 Vgl. F. W. Scharpf, Die Handlungsfähigkeit des Staates am Ende des 21. Jahrhunderts, Politische Vierteljahresschrift 4 (1991), S. 661 ff. Scharpf empfiehlt für diesen Fall die Androhung der Rückkehr zum einseitig-hoheitlichen Handeln, "Verhandlungen im Schatten der Hierarchie". 25 So auch W. Hoffmann-Riem, Verhandlungslösungen und Mittlereinsatz im Bereich der Verwaltung: Eine vergleichende Einführung, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann (FN 7).

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IV. Was erwartet uns in den kommenden Jahren? Zunächst wäre im Anschluß an die Einführung zwischen zwei Handlungsebenen zu unterscheiden: Dabei ginge es zum einen um das Nutzen des Potentials in Unternehmen und Verbänden, wobei hier die Rückbindung an den politischen Prozeß, die staatliche Regelung, jeweils mitzubedenken wäre (eine logische Konsequenz der bisherigen Ausführungen). Zum zweiten ginge es um die Frage, inwieweit nicht auch eine konsequente Staatsreform im Sinne einer Regierungs- und Verwaltungsreform die angesprochenen Probleme aufnehmen und produktiv wenden könnte. Um bei letzterem anzusetzen: Hier ist zunächst darauf hinzuweisen, daß möglicherweise überprüfungsbedürftige Positionen in der Diskussion erkennbar sind, zumindest dann, wenn sie den Nationalstaat bereits als gleichsam "absterbende Kategorie" und damit auch seine Handlungsformen als "Auslaufmodelle" kennzeichnen. Dies wäre aus meiner Sicht eine fahrlässige und falsche Wahrnehmung dessen, was wir im Moment im Bereich der Steuerungsdiskussion erkennen und was auch bei Auseinandersetzungen um "Selbst-Beherrschung als politische Idee" eine Rolle spielen sollte. Ohne im einzelnen auf diesen Aspekt eingehen zu wollen, darf ich eine für mich treffende Formulierung von Hans Magnus Enzensberger zitieren, der schon 1991 in seinem bekanntgewordenen Utopie-Aufsatz26 formulierte: ,,Jedenfalls gibt es in Europa keinen Staat mehr, der von seinen Bürgern erwartet, daß sie an ihn ,glauben', und selbst der dreisteste Regierungssprecher geriete ins Stottern, müßte er Hegels Diktum wiederholen, der Staat sei ,der erscheinende Gott'. Mit dem Nimbus ist auch die Hörigkeit verschwunden. - Doch wie im Märchen folgt der Wunsch vorstellung das Dementi auf dem Fuß. Denn der entzauberte Staat ist weit davon entfernt, abzusterben. Zwar ist die Behauptung, irgendein Individuum könne ,die Richtlinien der Politik bestimmen', zur reinen Fiktion geworden; aber zugleich breitet sich die ,Administration von Sachen' immer weiter aus. Eher netzförrnig als hierarchisch überziehen immer weitergehende Regeln das Ganze. Mit zunehmender Komplexität und wachsenden Risiken steigt auch ein Bedarf an Versicherungen aller Art, der privatwirtschaftlich nicht zu decken ist. Insofern hinkt die beliebte und folgenlose Kritik an einer ,Bürokratie', die nur dem heimlichen Herzenswunsch einer instabilen Gesellschaft Rechnung trägt." Dies als Hintergrund, als notwendiges caveat nutzend, wird man heute darauf verweisen können, daß Regierungs- und Verwaltungsreformen von den hier angesprochenen Problemen relativ weit entfernt sind. Zwar werden Reformvorstellungen seit Jahrzehnten diskutiert, letztlich aber weitgehend ergebnislos. Die aktuelle Reformdiskussion droht, ähnlich zu versanden. Der Ruf nach dem "schlanken Staat" ist zwar Legion, gleichwohl fehlt es an der Umsetzung konkreter Politiken. Wer ist nicht für die Nutzung privatwirtschaftlicher Erkenntnisse im öffentlichen Sektor, wer will nicht ein leistungs- und kostenbewußtes Denken in den Amts26

Nachdruck in: H. M. Enzensberger, Zickzack: Aufsätze, 1997.

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stuben der Republik, wer spricht sich nicht für schnellere und problemorientiertere Verfahren aus?27 Gleichwohl wird von den vorliegenden Handlungsempfehlungen kaum etwas umgesetzt, übertreffen sich die politischen Parteien an Deklarationen, bleiben die deutsche Ministerialbürokratie, ihre Verfahren und Instrumente faktisch auf dem Stand der sechziger Jahre. 28 Dabei erkennen wir im übrigen so etwas wie eine Bewegung von "unten" nach "oben" - in gebietskörperschaftlichen Kategorien gedacht. Während die Kommunen unter dem Druck der Ressourcenknappheit noch am ehesten bereit sind, sich Innovationen in ihrem Verwaltungshandeln zu öffnen (entsprechende Differenzierungen erweisen sich hier als äußerst angezeigt), hinken die Länder beträchtlich hinterher; der Bund ist bis heute weitgehend inaktiv. 29 Auch der vorn Sachverständigenrat "Schlanker Staat" initiierte Düsseldorfer Kongreß vor einigen Wochen, von dem sich die Verantwortlichen einen Durchbruch erhofften, kann sicher nicht als problemlösend eingeschätzt werden. Der eigentliche Hintergrund ist hier, daß die Bestandspflege in Deutschland noch immer vor der Institutionenpflege rangiert. 3o Der Widerstand gegen emstzunehmende Reformen beginnt dabei "oben", wobei sich die Führungsschwäche der Politik im Umgang mit sich selbst und den Ministerien dokumentiert. 3l Ein Eichamt kann man auflösen oder auch neuen Verfahren zuführen, Ministerien hingegen sind wehrhafte Gebilde. Dies wird mit dem täglichen Widerstand Bonner Amtsträger gegen den Umzug nach Berlin in besonderer Weise deutlich. 32 27 Die politische Beliebigkeit solcher Forderungen zeigt sich in der Tatsache, daß sie sich in austauschbarer Weise in Publikationen fast aller im Bundestag vertretenen Parteien finden. So stellt die SPD-Kommission ..Fortschritt 2000" fest, daß ..gesellschaftliche Aufgaben nicht zwangsläufig vom Staat selbst erledigt werden [müssen]" und fordert den ..Abbau von Überbürokratisierung und Überregulierung". Ähnliches findet sich nahezu wortgleich im Zwischenbericht des beim Innenministerium angesiedelten und CDU-dominierten Sachverständigenrates ..Schlanker Staat". Selbst in der Dokumentation ..Grüne Ideen zur Verwaltungs- und Haushaltsreform" werden dem Abschnitt ..Effizienzsteigerung durch Deregulierung" drei Seiten eingeräumt. 28 Aufschlußreich ist auch der Vergleich der aktuellen Berichte und Gutachten zur Verwaltungsreform mit den Berichten der verschiedenen Reformkommissionen auf Länderebene in den achtziger Jahren (zusammengefaßt in H. Helmrich (Hrsg.), Entbürokratisierung. Dokumentation und Analyse, 1989). Vieles erweist sich als schlichte Wiedervorlage. 29 Einen Überblick über den Stand der Reformbemühungen der Kommunen bietet der Deutsche Städtetag, Städte auf dem Reformweg. Materialien zur Verwaltungsreform, 1996. Reformvorhaben auf Länderebene werden diskutiert in: F. Behrens u. a. (Hrsg.), Den Staat neu denken. Reformperspektiven für die Landesverwaltungen, 1995; den Stand der Reformdiskussion zeigt M. Bürsch, Die Modernisierung der deutschen Landesverwaltungen. Zum Stand der Verwaltungsreform in den 16 Ländern. Gutachten für die Friedrich-Ebert-Stiftung, 1996. Für den Bund ist auf die periodisch aktualisierten Zwischenberichte des genannten Sachverständigenrates ,,schlanker Staat" zu verweisen. 30 T. Ellwein/J. J. Hesse (FN I). 3l In einem Beitrag für die Frankfurter Rundschau (20. 5. 1996) haben Thomas Ellwein und der Autor hierfür die zwar unappetitliche, aber treffende Metapher .. Der Fisch stinkt vom Kopf her" eingeführt.

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Im übrigen verbleibt die angemahnte Aufgabenkritik ohne wirkliches Ergebnis, da sie nicht umgesetzt wird. 33 Koalitions- und klientelbedingte Rücksichtnahmen bleiben so die entscheidenden Kategorien. Und was letztlich Verfahrensvereinfachungen anlangt, so sind diese bislang im wesentlichen ohne Mut. Sie werden bekanntlich einerseits durch eine größere Selbständigkeit der Vollzugsebenen und den damit verbundenen Abbau von Zwischenebenen und Verflechtungen und andererseits durch eine konkrete Überprüfung von Verfahrensvorschriften erreicht. 34 Ziel dieser Überprüfung sollte dabei die Vereinfachung der allgemeinen Verfahrensregeln und eine Rückführung besonderer Verfahrensvorschriften sein. 35 Diese Forderung richtet sich zunächst und vor allem an den Bundesgesetzgeber. Er provoziert mit der Aufnahme von Verfahrensregeln in Gesetze den Erlaß nachfolgender Verwaltungsvorschriften. Die hierauf zielenden Empfehlungen sind bis heute ohne Substanz. Die Vorstellungen zur Reduzierung von Verwaltungsvorschriften und zum Abbau von Standards geben nur das wieder, was seit vielen Jahren konsequenzlos diskutiert wird. Die Empfehlungen zahlreicher Kommissionen blieben auch hier ohne Ergebnis. Das läßt sich besonders anschaulich an einem Vorschlag des Sachverständigenrates "Schlanker Staat" zur Reduzierung von Verwaltungsvorschriften zeigen, in dem es in der ersten Zeile heißt: "Die Bundesregierung wird aufgefordert, ihren Kabinettsbeschluß vom 20. Dezember 1989 konsequent umzusetzen. " Daß diese Aussage siebeneinhalb Jahre nach dem angesprochenen Kabinettsbeschluß nötig erscheint, bedarf keiner weiteren Kommentierung. Von Selbstbeherrschung kann hier sicher nicht die Rede sein, oder nur in pervertierter Form. Zu Forderungen an den Bundesgesetzgeber tritt im übrigen die Empfehlung an die Landespolitik, die Vorschriftenproduktion durch Begründungszwänge zu erschweren, einen Teil der Verwaltungsvorschriften für befristet zu erklären, die jährlich erscheinenden Gültigkeitsverzeichnisse zu verbessern und Zurückhaltung bei der konkreten Verfahrensanweisung zu üben. Die ständig beschworene Deregulierung öffentlichen Handeins muß dabei nun wirklich in der Verwaltung beginnen, wenn auch extern etwas bewirkt werden soll. 32 Die offensichtlichen Versäumnisse im Rahmen des Berlin-Umzuges haben inzwischen zu einer Rüge des Bundesrechnungshofes geführt. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 30. 1. 1997: "Die meisten Ministerien wollen mehr Personal". 33 Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist das Ausscheiden des Leiters des niedersächsischen "Sachverständigenrates Verwaltungsreform" aus diesem Gremium. Die düsteren Prognosen über die haushaltpolitischen Notwendigkeiten einer Aufgabenkritik hatten zu offenem Streit mit Ministerpräsident Gerhard Schröder geführt, der eine präzise Analyse der finanziellen Situation als "politischen Quatsch" abtat. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.2.1997: "Beim Blick in die Zukunft ist Klarheit gänzlich unerwünscht." 34 Vgl. T. Ellwein/J. J. Hesse, Staatsreform in Deutschland - das Beispiel Hessen, 1997, sowie S. Stöbe IR. Brandel, Die Zukunft der Bezirksregierungen. Modemisierungsperspektiyen für die staatliche Mittelinstanz, 1996. 35 Siehe hierzu T. Ellwein, Verwaltung und Verwaltungsvorschriften: Notwendigkeit und Chance der Vorschriftenvereinfachung, 1989.

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Deregulierung sollte im übrigen nicht nur auf eine Verminderung des Vorschriftenbestandes zielen. Es geht auch und gerade um die inhaltliche Vorschriftenbereinigung. Unsere Gesetzes- und Verordnungsblätter (oder Staatsanzeiger) ähneln erschreckend denen des 18. oder frühen 19. Jahrhunderts. Einzelprodukte und "Schnellschüsse" (auch im Umweltbereich) dominieren; die Regelung im gegebenen Zusammenhang ist selten, weil schwierig. Von der Ministerialverwaltung ist aber zu erwarten, daß sie solche Schwierigkeiten meistert und nicht die eigene Ausdifferenzierung und Spezialisierung zum Diktat für den nachgeordneten Bereich und für den Bürger macht. Exakt dafür leisten wir sie uns. Der Raum für Selbstbegrenzung ist hier sicher noch unterausgeschöpft. Soweit der Blick auf den Staat. Was nun Selbstbeherrschung, Selbststeuerung und Selbst-Regulierung im Unternehmens- und Verbandsbereich anlangt, erlaube ich mir mit Blick auf das sich abzeichnende Umweltbetriebsrecht 36 gleichfalls einige Fragezeichen. Zwar finden sich Ansätze gesellschaftlicher Selbststeuerung auch in zahlreichen Teilbereichen des Rechts (im Arbeitsrecht etwa), doch geht es jetzt um genuin neue Handlungsformen, die an die Stelle staatlicher Normierung und Überwachung die eigenverantwortliche Selbstregulierung und Selbstkontrolle der Privaten setzen wollen. Das darin zum Ausdruck kommende Kooperationsprinzip verweist zu Recht darauf, daß Umweltschutz eben nicht allein Aufgabe des Staates sein kann und deshalb auch nicht einseitig gegenüber den Wirtschaftssubjekten und der Gesellschaft durchzusetzen ist, sondern in Zusammenarbeit mit den Betroffenen umgesetzt werden sollte. Um Vollzugsprobleme dabei durch einvernehmliche Lösungen abzubauen, kommt dem Sachverstand aus dem gesellschaftlich-privaten Bereich Bedeutung zu, zumal hier etwa Umweltverbände und die zu regulierende oder zu steuernde Wirtschaft meist über bessere Informationen verfügen als die staatlichen Einrichtungen. Gleichwohl sind den Chancen einer solchen Vorgehensweise auch Risiken und Grenzen gegenüberzustellen. Dies gilt zunächst für diskussionswürdige Analogieschlüsse in der rechtspolitischen Diskussion (etwa für den Verweis auf die Arbeit von Wasser- und Bodenverbänden, die dazu geführt hat, die Idee einer Steuerung des Umweltschutzes durch autonome Rechtsetzung über diese Verbände hinaus zu verallgemeinern 37), sodann für jene Grenzen, die zu beachten sind, wenn der Gesetzgeber rechtlich verselbständigten Verwaltungseinheiten Satzungsautonomie verleihen will, und schließlich für die Frage, ob bestehende Ansätze der privaten technischen Normsetzung und der Selbstverpflichtungen auszubauen sind, gegebenenfalls ergänzt um neue Wege wie normersetzende Verträge, Satzungen durch 36 M. Kloepfer/T. Elsner, Selbstregulierung im Umwelt- und Technikrecht. Perspektiven einer kooperativen Normsetzung, Deutsches Verwaltungsblatt, 1996, S. 964 ff.; M. Kloepfer, Umweltinformationen durch Unternehmen, Natur und Recht, 1993, S. 353 ff. 37 M. Kloepfer/T. Elsner (FN 36); G. Wagner, Kollektives Umwelthaftungsrecht auf genossenschaftlicher Grundlage, 1990; A. Endres/K. Holms-Müller, Die deutschen Wasserverbände als Vorbild für Umweltgenossenschaften?, in: A. Endres/P. Marburger (Hrsg.), Umweltschutz durch gesellschaftliche Selbststeuerung, 1993.

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Umweltgebietsverbände oder umweltschutzbezogene Nachbarschaftsverträge. Diese Überlegungen sollen hier nur angesprochen werden. Gleichwohl ist darauf zu verweisen, daß zu den Potentialen der Selbstbeherrschung und damit einer Entlastung der staatlichen Regelsetzung durchaus auch die Grenzen eines gleichsam selbstverwalteten Umweltschutzes hinzuzudenken sind. Natürlich ist die Weckung des Eigeninteresses von Betroffenen positiv zu werten, gilt gleiches für die Mobilisierung spezifischen Sachverstandes und wird vielleicht auch die Bereitschaft zur Norrnbefolgung auf diesem Wege gesteigert. Allerdings erscheint es mir fraglich, umstandslos zu erwarten, daß der Staat als Gesetz- und Verordnungsgeber sich hier von Regelungsaufgaben befreien kann, gerade in noch nicht routinisierten Aufgabenbereichen. Natürlich ist denkbar, daß er sich eher auf eine Mißbrauchsaufsicht beschränkt, doch wäre gleichzeitig wiederum hinzuzudenken, daß mit den angesprochenen Verfahren meist auch eine größere Differenzierung von Umweltstandards verbunden sein wird. Dies wiederum kann effizienzsteigernd wirken, aber auch Disparitäten schaffen, die dann wieder Regelungsbedarf erfordern. Es wäre also jeweils abzuwägen, wo Effizienz- und Akzeptanzüberlegungen gegenüber Sicherungsaufgaben nicht zurückzutreten haben, aber durch diese doch begrenzt werden müßten. 38

V. In zusammenfassender Würdigung dürfte einer verstärkten ökologischen Selbstbeherrschung ein beträchtliches Potential innewohnen, das gleichwohl nicht überschätzt werden sollte. Ich verweise deshalb auf die vorgestellte "doppelte Interpretation" des mir aufgegebenen Begriffs. Auch ist hinzuzufügen, daß man mit einer wie hier geführten Diskussion den Staat nicht aus seiner Verpflichtung entlassen sollte, sein Handlungspotential und seine Handlungsforrnen neuzeitlichen Bedingungen anzupassen und dabei selbstverständlich jene Möglichkeiten auszuschöpfen, die in einer erweiterten Selbstregulierung durch Wirtschaft und Gesellschaft angelegt sind. In diesem Sinne ist die Diskussion um Regierungs- und Verwaltungsreforrnen und hier vor allem die Frage der Vorschriftenentwicklung und die Entwicklung einer neuen "Regelungskultur" den uns hier und heute interessierenden Themen an die Seite zu stellen. Es erschiene mir voreilig, ausschließlich auf 38 Die staatliche Aufgabenerfüllung sollte idealerweise jedem dieser Kriterien (Effizienz, Akzeptanz und Sicherheit) entsprechen. Es ist jedoch möglich, Aufgabengruppen zu identifizieren, in denen die Erfüllung eines einzelnen Kriteriums die bei den anderen überragt. So sollten die Müllabfuhr und andere öffentliche Dienstleistungsbetriebe vor allem effizient arbeiten; Genehmigungsverfahren und Auftragserteilungen sind unter dem Kriterium der Rechtmäßigkeit zu beurteilen; Aufgaben des Katastrophenschutzes und der Feuerwehr schließlich sollten in erster Linie mit absoluter Sicherheit erledigt werden. Vgl. C. Hood, A Public Management For All Seasons? In: Public Administration 2 (1991), S. 3 ff. Gerade im Bereich des Umweltschutzes kann es deshalb nicht um pauschale Lösungsvorschläge für komplexe Probleme gehen; die jeweiligen Anforderungen des Einzelfalls sind zu berücksichtigen.

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private und gesellschaftliche Selbstbeherrschung zu setzen. Die auf beiden Seiten gegebenen Potentiale zu nutzen, könnte ein aussichtsreicheres Unterfangen darstellen. Die offensichtlichen Komplementaritäten zwischen einer Verfahrensreform auf der einen (der staatlichen) Seite und einer Ausschöpfung von Selbstregulierungspotentialen auf der anderen (der privaten) Seite wären produktiv zu nutzen.

11. Selbstregulierung in der Technikentwicklung und im Umweltschutz 1. Private technische Regelwerke

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Selbstregulierungen in unterschiedlichen Unternehmen und Institutionen Von Hubert P. Johann

Ich behandle das Thema aus der Sicht des Ingenieurs der betrieblichen Praxis und als Vertreter der gewerblichen Wirtschaft. Damit möchte ich zugleich auch auf den Rahmen hinweisen, der für meine Ausführungen gilt. Dieser ist gekennzeichnet durch die technischen und wirtschaftlichen Bedingungen betrieblicher Entscheidungen. Öffentlich bekannte, private technische Regelwerke haben ihren Ursprung überwiegend im Bereich der Technik. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, daß die Geschichte der menschlichen Gesellschaft bereits seit vielen 100 Jahren den hippokratischen Eid der Ärzte, die Ordensregeln der Klöster oder auch die Regularien der Zünfte im Sinne berufsethischer Kodizes als Selbstregulierung von Gemeinschaften kennt. Am Anfang steht in der Regel eine Idee für eine gemeinsame Vereinbarung gleichgesinnter Kreise zu einem sozialen, ethischen oder technischen Sachverhalt. So war es auch mit einem Selbstregulierungprozeß zum Beginn einer wichtigen Etappe der technischen Entwicklung, bei der Nutzung der Dampfkraft. Im vorigen Jahrhundert, beim Aufbruch in das Industriezeitalter, verbreiteten Dampfkesselexplosionen in der Gesellschaft Angst und Schrecken; nach dem damaligen Kenntnisstand durchaus vergleichbar mit der heutzutage weit verbreiteten Angst bei der friedlichen Nutzung der Kemenrgie. Die revolutionäre Technik der Dampfmaschine hatte allein in ihrem Erfinderland Großbritannien bis 1870 mehr als 5000 Menschen das Leben gekostet. Als dann der Siegeszug der Dampfmaschine Deutschland erreichte und auch hierzulande Kessel explodierten, kam es 1872 im heutigen Wuppertal zu einem historischen Treffen. Im Hotel "Vogler" gründeten der Tuchfabrikant Gustav Schließer und 79 Kollegen den "Verein zur Überwachung der Dampfkessel in den Kreisen Elberfeld und Barmen", den ersten Dampfkessel-Überwachungsverein CDUV) im Rheinland. Ziel dieses Vereins war es, technische Regeln und Standards für den Bau und den Betrieb dieser Anlagen zu erarbeiten, sowie auch Regelungen zu vereinbaren, wie diese im Betrieb zu überprüfen wären, damit eine allgemein gewünschte Sicherheit gewährleistet werden könnte. Diese Selbstregulierung als Antwort auf die Herausforderung sozialer, ethischer und technischer Probleme entsprach einer Nutzung 5*

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und Ausschöpfung der Eigenkompetenz sowie einer selbstverantworteten Handlung im Rahmen der gegebenen Wirtschaftsordnung. Im Sinne der Selbstregulierung und Eigenverantwortlichkeit hat die Wirtschaft also schon im vergangenen Jahrhundert begonnen, in technisch-wissenschaftlichen Vereinigungen den in der Praxis erkennbaren Notwendigkeiten nach Regelungen und Richtlinien für die Fertigung und für den Betrieb von Maschinen und Anlagen nachzukommen. Während in den Gremien des VDI und DIN, die von Vertretern der betrieblichen Praxis besetzt waren, die Facharbeiten zunächst auf die Beschreibung von technischen Verfahrensweisen fokussiert waren, trat, bedingt durch Betriebsunfälle beim Umgang mit bestimmten Maschinen, Anlagen und Stoffen, der Arbeitssicherheitsaspekt in den Mittelpunkt der Arbeiten. Heutzutage spielt ohne Zweifel die Inanspruchnahme der Umwelt eine vorrangige Rolle, wenn von Standards im allgemeinen und von Umweltstandards im besonderen die Rede ist. Im Sinne einer vorab wichtigen Unterscheidung zwischen Technikstandards und Umweltstandards muß das Verbindende und das Unterscheidende dieser hier parallel eingebrachten Begriffe für eine normierte Beschränkung herausgestellt werden. Technische Regeln haben einen allgemein verbindlichen Wert - übrigens auch im rechtlichen Sinn - damit für Hersteller und Anwender von Anlagen eine Mindestgewähr für einwandfreies technisches Verhalten, was z. B. Leistung, Sicherheit und Austauschbarkeit von Verschleißteilen betrifft, gegeben ist. Diese Regeln, die allgemeinen Grundsätze und Richtlinien, werden in Fachgremien im Sinne eines Selbstregulierungsprozesses erarbeitet. Rahmen und Ziele der Richtlinienarbeit für technische Standards werden z. B. in der VDI-Richtlinie 1000 "Richtlinienarbeit Grundsätze und Anleitungen" als die für alle Richtlinienarbeiten in den Fachgliederungen bindende Anleitung vorgegeben. Ganz allgemein ist das vom VDI angestrebte Ziel, Regeln der Technik in freiwilliger Selbstverantwortung der beteiligten Fachleute zu erarbeiten. Diese Richtlinienarbeiten sind für die betriebliche Praxis Rahmen und Maßstab für einwandfreies technisches Vorgehen. In allen Fachgremien z. B. des VDI, ATV, werden in ehrenamtlicher Arbeit diese Grundlagen für technische Standards erarbeitet, als Entwurf veröffentlicht und nach Ablauf der Einspruchsfrist und ggfs. "Änderungs beratung" als gültig vom jeweiligen Fachgremium erklärt.

Die Gliederungen und Aussagen dieser Richtlinien sind allgemein vergleichbar. Es sind z. B. generell folgende Inhalte, die wiederum in einer Richtlinie zur Regelung der Selbstregulierungsaktivitäten verbindlich festgelegt wurden, - lt. VDI 1000 - abzuhandeln: • Richtungsweisende Arbeitsunterlagen und Entscheidungshilfen • Beschreiben des Standes der Technik laufender und zukünftiger Entwicklungen • Behandeln technisch-wissenschaftlicher und technisch-wirtschaftlicher Fragen • Aufstellen von Beurteilungs- und Bewertungskriterien

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• Fördern von Erfahrungsaustausch und Technologietransfer • Impulse für technische Entwicklungen und Ordnungsprinzipien Darüber hinaus kann von VDI-Richtlinien erwartet werden, daß im Bedarfsfall nationale, europäische und auch internationale Regeln der Technik interpretiert, erläutert oder ergänzt werden. Richtlinienarbeiten dienen in der Regel als Vorlage für die nationalen Standpunkte bei der Erarbeitung von technisch-wissenschaftlichen Normen des DIN. Technische Standards im Sinne von Normen - also in einer über Richtlinien hinausgehenden allgemein bindenden Aussage - hat in Deutschland auf der Grundlage eines 1975 geschlossenen Normenvertrages das Deutsche Institutfür Nonnung e. v., Berlin. Nach den Vorgaben der DIN 820 "Nonnungsarbeit" wird hier in Form von allgemein verbindlichen Normen die technische Infrastruktur Deutschlands durch Fixierung des aktuellen Standes der Technik festgestellt und dokumentiert. Es soll an dieser Stelle der Hinweis nicht fehlen, daß angesichts der wachsenden Bedeutung harmonierender technischer Normen für Wirtschaft und Umwelt, die Möglichkeiten zur Verwirklichung von nationalen Umweltschutzzielen im Rahmen der Europäischen Normung genutzt werden, so z. B. das Einbringen der BS (British Standard) 7750 in die Verordnung EWG 1836 von 1993 zur freiwilligen Einrichtung eines Umweltmanagementsystems und des Öko-Audits. Konsequent und von vielen Mitgliedstaaten gewollt, kann damit ein Beschleunigungseffekt bei der Vollendung des Binnenmarktes, der wirksame Abbau (nationaler) technischer Handelshemmnisse und nicht zuletzt auch die Entlastung des Gemeinschaftsgesetzgebers von technischen Detailregelungen erreicht werden. Als weitere mögliche Vorteile dieser "Arbeitsteilung" zwischen dem Gesetzgeber einerseits und den Selbstverwaltungsorganisationen der Wirtschaft andererseits (die in der Regel für ihre staatsentlastenden Tätigkeiten finanziell unterstützt werden) sind es aus der betrieblichen Sicht - neben anderen, kleineren Vorteilen - vor allem die erarbeiteten praxisnahen Lösungen, die durch die in der Regel ehrenamtlichen Mitarbeiter aus der betrieblichen Praxis eine große Akzeptanz bei der betroffenen Wirtschaft genießen. Es ist zweifellos ein Grenzfall selbstregulierender Maßnahmen, wenn hierbei der nationale Standpunkt international zur Diskussion gestellt oder verbreitet werden soll, weil hierbei der Staat und seine Interessen eine wichtige Rolle spielen. So auch dann, wenn es um Grundsatzfragen geht. Der Staat, dem der Schutz der Bürger und deren Gesundheit obliegt, stützt sich bei der Formulierung von Rechtsvorschriften, worin Umweltstandards zur Sicherung dieser Staatsaufgaben verbindlich vorgegeben werden, z. B. auf technische Standards für Maschinen und Anlagen, die zur Erreichung der Umweltziele erfüllt werden müssen, um die Einwirkungen auf Menschen und Umweltgüter auf ein unschädliches Maß zu beschränken. Insoweit sind selbstregulierende Instrumente der Wirtschaft auch als staatsentlastende Grundlagenarbeiten anzusehen.

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Die beiden Grundkategorien sind einerseits hoheitliche Umweltstandards und andererseits nichthoheitliche Umweltstandards. Hoheitliche Umweltstandards sind in Rechtsvorschriften (Gesetz, Rechtsverordnung, Verwaltungsvorschriften) festgelegt (Abb.). Verbindlichkeitstypen von Umweltstandards

Umweltstandards

I Hoheitliche Umweltstandards

(Grenzwert, Richtwert) festgelegt in: Gesetz, Rechtsverordnung, Verwaltungsvorschrift

I

I Nichthoheitliche Umweltstandards

(private, halbstaatliche) festgelegt in: Richtlinie, Norm, Handlungsempfehlung, Beurteilungshilfe, Merkblatt

Umweltstandards werden in Grenz- und Richtwerte unterschieden. Grenzwerte sind Umweltstandards, die für die Adressaten zwingende Verhaltensanforderungen festlegen. Richtwerte sind empfohlene Werte, die bei der medien- und schutzgutbezogenen Beurteilung von Umweltbelastungen durch die Behörden als Maßstäbe dienen. Sie haben je nach Ausgestaltung einen unterschiedlichen Geltungsanspruch; danach bestimmt sich, ob der betreffende Richtwert in der Regel maßgeblich ist oder nur ein Indiz, einen groben Anhalt oder gar nur eine bloße Hilfe für die Beurteilung bildet. Die nichthoheitlichen Umweltstandards umfassen demgegenüber diejenigen Standards, die nicht in Rechtsvorschriften festgelegt sind. Sie werden von privatrechtlich organisierten Sachverständigengremien (z. B. ATV, DFG, VDI, DIN) nicht nur erarbeitet, sondern werden auch fortlaufend dem Stand der Technik entsprechend geändert und ergänzt. Nichthoheitliche Umweltstandards sind z. B. auch Werte, die von Zusammenschlüssen von Trägem öffentlicher Aufgaben, öffentlichrechtlichen Sachverständigengremien und vergleichbaren Einrichtungen empfohlen werden. Sie werden als Normen, Richtlinien, Handlungsempfehlungen, Beurteilungshilfen und als Merkblätter herausgegeben. So werden z. B. Technische Standards aus privaten technischen Regelwerken abgeleitet und dienen als Grundlage von Umweltstandards. Diese müssen von da-

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her ganz anderen Maßstäben gerecht werden. Es geht also nicht nur um eine Selbstverwaltung der Technik, sondern darüber hinaus um den gesetzlich unterstützten Vollzug von technischen Maßnahmen zum Schutz von Mensch und Umwelt durch rechtsverbindliche Standards. Es geht also um den Kemansatz deutscher Sicherheits- und Umweltpolitik. Im Sinne einer dauerhaften und umweltgerechten Entwicklung ist dies die Festlegung von Umweltzielen mittels handlungsorientierter Beschreibung der angestrebten Umweltqualität. Nachdem ich die Selbstregulierungsaktivitäten der gewerblichen Wirtschaft in der Technikentwicklung und im Umweltschutz im allgemeinen vorgestellt habe und auch die Schnittstellen in staatlichen hoheitlichen Regulierungen aufgezeigt habe, will ich einige Beispiele für selbstregulierende Vorgänge in der Wirtschaft im allgemeinen und bei Mannesmann im besonderen anführen. Ich beginne mit den "Codes of Ethics", die in der internationalen Handelskammer erarbeitet wurden. Diese anspruchsvollen Leitsätze oder besser gesagt Handlungsanleitungen für umweltgerechtes Verhalten der Industrie weltweit wurden Anfang der 70er Jahre in der "Environmental Commis sion" der ICC (International Chamber of Commerce) von zahlreichen Industrievertretern aus allen bei der ICC akkreditierten Ländern erarbeitet. Diese "Codes of Ethics" sind die Vorgedanken eines weltweit besser bekannten Papiers, das anläßlich der Rio-Konferenz 1992 von den beteiligten Staaten in der "Agenda 21" niedergeschrieben wurde. Die Umsetzung dieser "Codes of Ethics" in praktikable betriebliche Handlungshilfen für eine umweltorientierte Unternehmensführung erfolgte auf dieser Grundlage. Es war die erste Öko-Audit-Anleitung, die in Deutschland von den im internationalen Kreis der ICC beteiligten Industrievertretern - von Herrn Dr. Meurin, RWE, und von mir - im Eigenverlag der deutschen Sektion der Internationalen Handelskammer veröffentlicht wurde. Das war im Jahr 1974. Aufbauend auf den Arbeitsergebnissen dieses internationalen Kreises bei der ICC entstand 1993 die "Verordnung (EWG) Nr. 1836/93 des Rates vom 29. Juni 1993 über die freiwillige Beteiligung gewerblicher Unternehmen an einem Gemeinschaftssystem für das Umweltmanagement und die Umweltbetriebsprüfung". (Besser bekannt als Öko-Audit-VO). Der Gedanke der Öko-Auditierung wurde auch von der weltweit bekannten "International Standard Organisation (ISO)" aufgegriffen und in den letzten Jahren mit internationaler Zustimmung in der ISO 14001 ff. verabschiedet. Einige Jahre zuvor war bereits zur Vereinbarung einer international gültigen Qualitätskontrolle die ISO 9001 ff. verabschiedet worden, deren Einhaltung im Betrieb in bestimmten Zeitabständen von dazu qualifizierten Institutionen überprüft wird. Abschließend gebe ich Ihnen mit der Darstellung und Erörterung einer Selbstregulierung in Sachen Umweltschutz im Mannesmann-Konzern einen Überblick,

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wie Unternehmen bei ihren Entscheidungen Prioritäten und Rahmenbedingungen setzen, um, wie in diesem Fall, das Gebot der Zukunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit nach innen und außen zu beachten.

Leitsätze zum Umweltschutz bei Mannesmann

"Wer im Betrieb das Sagen hat, muß auch etwas vom Umweltschutz verstehen". Denn nur wer etwas vom Umweltschutz versteht, • kann Belastungen der Umwelt durch Produkte und Produktionsverfahren erkennen und bewerten, • kennt Vermeidungs- und Minderungsmaßnahmen, • hält die einschlägigen Umweltvorschriften ein. Umweltschutz ist integrierter Bestandteil aller Entscheidungen im Unternehmen. 1) Entwicklung von Produkten, Umwelttechnologien und Dienstleistungen

Bei der Produktentwicklung ist zu berücksichtigen, daß die Produkte umweltverträglich hergestellt, verwendet, verwertet und entsorgt werden können. Neue Umwelttechnologien sollen den Stand der Technik weiterführen. Dienstleistungen sind fachgerecht und unter Berücksichtigung des vorbeugenden Umweltschutzes durchzuführen. 2) Produktionsveifahren

Produktions verfahren sind anzustreben, die energie- und rohstoffoptimiert durchgeführt werden können und zugleich eine Wiederverwendung ermöglichen. 3) Stoffsubstitution

Schadstoffbefrachtete Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe sollen möglichst durch umweltverträglichere Alternativen ersetzt werden.

4) Kompetenz der Mitarbeiter

Die Mitarbeiter sind zu qualifizieren und zu motivieren, damit sie im Bewußtsein für eine gesunde Umwelt kompetent und verantwortungsvoll handeln und den betrieblichen Umweltschutz mitgestaltend kontinuierlich verbessern.

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Es war meine Aufgabe, Sie über Selbstregulierungen in der Technik und im Umweltschutz im allgemeinen sowie über Selbstregulierungsaktivitäten im Mannesmann-Konzern im besonderen zu informieren. Dieser Überblick kann nur als Ausschnitt des vorgegebenen Themas betrachtet werden, vor allem aber wollte ich sowohl meine betrieblichen Erfahrungen als auch meine Erkenntnisse aus der Mitarbeit in einigen nationalen und internationalen Arbeitskreisen, in denen Selbstregulierungsmaßnahmen für die Wirtschaft entwickelt werden, in dieses Re" ferat einbringen. Ich wollte deutlich machen, daß Selbstregulierungsaktivitäten sich immer dann entwickeln können, wenn Ordnungsaufgaben - etwa durch technische, soziale oder ethische Rahmenbedingungen - nicht oder nicht in praktikablen Maßstäben vorgegeben wurden und als betriebsnahe Lösungen existieren. Im Fall der angesprochenen freiwilligen Auditierung nach ISO 14000 ff. (oder EMAS) kann davon ausgegangen werden, daß der Wunsch nach internationalen Rahmenbedingungen für einen funktionierenden Wettbewerb existierte und Lösungen gefunden werden mußten. Die spontane Beteiligung an diesem System geschah in Deutschland nicht ohne die betrieblicherseits gehegte Hoffnung, der Staat möge sich aus der nationalen Überreglementierung durch ordnungspolitische Vorgaben zurückziehen - also eine Deregulierungsphase einleiten. Deregulierung kann im weitesten Sinne durch Selbstregulierung aufgefangen werden und zur Förderung des Wettbewerbs beitragen. Selbstregulierung - auch das ist bekannt - kann nicht beliebig weit ausgedehnt werden und staatliche sowie überstaatliche Regulierung in jedem Fall überflüssig machen. Die positiven Beispiele des industriellen Generalthemas "Beherrschte Prozesse" im internationalen Qualitätsauditing der ISO 9000 ff. müssen jedoch wegen ihres Erfolges ebenso gelobt werden wie die Vorgaben im Rahmen des ,Responsible care' der chemischen Industrie sowie die moralischen Verhaltenskodizes der Wirtschafts akteure an den Finanzmärkten (Insider-Informationen) oder wie das Vertrauen auf den Ehrenkodex des Berufsstandes der Wirtschaftsprüfer. Schließlich möchte ich als Grenzfall oder Sonderfall selbstregulierender Instrumente in der Wirtschaft den Bereich der internationalen Konventionen ansprechen, z. B. Klimakonvention, Konvention gegen Desertifikation, die "Treibgaskonvention", die FFH-Konvention u.v. mehr. Diese Konventionen sind zwar keine reinen Selbstregulierungsinstrumente der "Nichtregierungsorganisationen', weil vorrangig staatliche Stellen mit der Abfassung befaßt waren. Als Sonderfall privater Regel werke sollen Konventionen erwähnt werden, die übrigens in den Niederlanden sich einer großen Beliebtheit erfreuen, wenn es um bilaterale Vereinbarungen zwischen Wirtschaftsunternehmen und Behörden geht. In Brasilien in unseren Unternehmen werden diese regulativen Umweltinstrumente "Termo de Compromisso" genannt. Sie beinhalten vereinbarte Ziele unter besonderer Berücksichtigung ökonomischer betrieblicher Bedingungen sowie deren soziale Konsequenzen. Ohne Selbstregulierung müßten nicht nur die Entwicklung der Technik, sondern auch die Erfolge der gewerblichen Wirtschaft in Frage gestellt werden. Wir arbei-

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ten in der betrieblichen Praxis mit mehr als 2400 DIN-Normen, ISO- und EN-Normen, umfangreichen Unfallverhütungsvorschriften (UVV's) und zahllosen Merkblättern der Berufsgenossenschaften. Technische Prozesse werden damit beherrscht, menschliches Verhalten organisiert und reglementiert zum Wohle des Menschen, der Prosperität von Wirtschaft und Handel sowie zur Sicherung der Zukunft nachfolgender Generationen. Die kundigen Thebaner unter Ihnen bitte ich um Nachsicht für die meist vereinfachte Darstellung komplexer Sachverhalte. Um die gleiche Nachsicht bitte ich all diejenigen, die meine Ausführungen wegen der Darstellung von manchen Einzelheiten für eine "deformation professionnelle" halten.

Private technische Regelwerke Tatsächliche Erscheinungsformen und ökonomische Aspekte Von Helmut Reihlen Ziel dieses Vortrages ist, die Tradition, den gegenwärtigen Status und die Ziele privater technischer Regelwerke am Beispiel des DIN Deutsches Institut für Normung e.Y. darzustellen. Dies ist zugleich auch ein Bericht über das Hineinwachsen der technischen Regelsetzung in eine europäische und eine weltweite Dimension.

I. Technik bedarf gesellschaftlicher Steuerung

Wir leben in einer von Technik geprägten Welt. Die positiven Wirkungen der Technik sind offenkundig. Auf sie möchten selbst ihre schärfsten Kritiker nicht verzichten. In den Industrienationen gehören Hungersnöte und mühselige körperliche Arbeit weitgehend der Vergangenheit an. Ohne den Einsatz der Technik könnte unsere Erde ihre Bewohner nicht ernähren. Im zweiten Kapitel des ersten Mosebuches heißt es: "Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, daß er ihn bebaute und bewahrte." Weltweit, vor allem in den wohlhabenderen Industrienationen, wächst das Bewußtsein, daß wir den Auftrag des Bewahrens des uns anvertrauten Gartens versäumen könnten. Technische Systeme haben außer den erwünschten Wirkungen häufig auch unerwünschte Folgen für den Menschen und seine Umwelt. Die modeme Technik mit ihrer systematischen und groß angelegten Umgestaltung der Natur bedarf wegen ihrer zeitlich und räumlich weitreichenden Auswirkungen auf Gesellschaft und Umwelt deshalb einer Bewertung und einer sorgfältigen Abwägung von Nutzen und Risiko, die auf übergeordnete, zeitlich und räumlich entfernte Zusammmenhänge Rücksicht nimmt. Wir brauchen Technik, aber wir müssen bestimmen, was naturverträgliche, menschenverträgliche und zukunftsverträgliche Technik ist. Nach der einschlägigen Richtlinie VDI 3780 des Vereins Deutscher Ingenieure - aus dessen Reihen vor 80 Jahren auch das heutige DIN entstanden ist - ist die Technikbewertung das planmäßige, systematische, organisierte Vorgehen, das - den Stand einer Technik und ihre Entwicklungsmöglichkeiten analysiert,

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- unmittelbare und mittelbare technische, wirtschaftliche, gesundheitliche, ökologische, humane, soziale und andere Folgen dieser Technik und mögliche Alternativen abschätzt, - aufgrund definierter Ziele und Werte diese Folgen beurteilt oder auch weitere wünschenswerte Entwicklungen fordert, - Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten daraus herleitet und ausarbeitet, so daß begründete Entscheidungen ermöglicht und gegebenenfalls durch geeignete Institutionen getroffen und verwirklicht werden können." Zu diesen Institutionen gehört auch das DIN Deutsches Institut für Normung e.Y. Ziel allen technischen Handeins soll es sein, die menschlichen Lebensmöglichkeiten durch Entwicklung und sinnvolle Anwendung technischer Mittel zu sichern und zu verbessern. Dabei besteht die fachliche Aufgabe zunächst darin, geeignete technische Systeme zu entwickeln und deren Funktionsfähigkeit sicherzustellen. Darüber hinaus gilt es, einen sinnvollen Gebrauch von den stets nur in begrenztem Umfang zur Verfügung stehenden Mitteln - Rohstoffe, Energie, Arbeit, Zeit und Kapital - zu machen. Die Auswahl der technischen Möglichkeiten hat deshalb zunächst nach Kriterien der Wirtschaftlichkeit zu erfolgen. Technische Systeme und ihre Funktionsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit sind kein Selbstzweck. Sie stehen im Dienst übergeordneter Ziele und Werte: Wohlstand, Sicherheit, Gesundheit, Umweltqualität, Persönlichkeitsentfaltung und GeseIlschaftsqualität. Entscheidungen über solche Ziele sind gesamtgesellschaftliche Aufgaben.

11. Technikbewertung ist eine öffentliche, jedoch nicht ausschließlich staatliche Aufgabe

Nicht alle öffentlichen Aufgaben müssen durch den Staat im Sinne einer zentralen gesellschaftlichen Steuerungsinstanz wahrgenommen werden. Anstelle einer staatlichen Intervention können auch gesellschaftliche Selbstregulierungsprozesse - z. B. die Normung - genutzt werden, solange sie in einem fairen Verfahren für die Allgemeinheit akzeptable Ergebnisse erbringen. In den Sozialwissenschaften wird dieses Thema verstärkt diskutiert, wobei Fragen nach der Effizienz staatlicher und nach der demokratischen Legitimierung nichtstaatlicher Regulierungsprozesse gestellt werden. Es gehört zum Selbstverständnis unseres Landes und in steigendem Maße auch zum Selbstverständnis der Europäischen Union, daß es Aufgabe der Selbstverwaltung aller Betroffenen ist, Probleme im Umgang mit der Technik zu erkennen und Lösungen zu vereinbaren. Mit dem schweren Geschütz der Rechtsetzung sollte der Staat nur intervenieren, wenn die Selbst-Beherrschung der Akteure nicht funktioniert, sei es, weil trotz Regelungsbedarfs überhaupt keine Normen aufgestellt wer-

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den, sei es, weil bei der Nonnung die Interessen der schwächeren Partner - der Verbraucher, der kleinen Unternehmen, der Umwelt, der Allgemeinheit - vernachlässigt werden. Auch dann sollte sich der Gesetzgeber darauf beschränken, die zwingenden Erfordernisse der öffentlichen Gesundheit, der technischen Sicherheit und des Umwelt- und Verbraucherschutzes in allgemeinen Rechtsbegriffen vorzugeben. Wie aber diese Vorgaben und mit welchen Instrumenten sie erreicht werden, sollte der Selbstverwaltung der Interessierten überlassen bleiben. Dies entspricht dem Selbstverständnis eines demokratischen Gemeinwesens mündiger Bürger; politologisch gesprochen, es entspricht dem Subsidiaritätsprinzip. Obendrein ist es billiger und angesichts des sich ständig verändernden Standes technischer und wissenschaftlicher Erkenntnis und angesichts der sich ständig wandelnden weltwirtschaftlichen Bedingungen besser geeignet, sich diesen Wandlungen anzupassen. In hochentwickelten Industrieländern werden Fragen der Technikentwicklung und -anwendung in privatrechtlichen Institutionen behandelt. In Deutschland ist vor allem das DIN auf dem Gebiet der technischen Regelsetzung tätig. Es ist für das Deutsche Nonnenwerk mit insgesamt 25000 DIN-Nonnen verantwortlich.

IH. DIN-Normen entstehen durch Zusammenarbeit aller Betroffenen

Nach seiner Satzung ist das DIN Deutsches Institut für Nonnung e.Y. ein technisch-wissenschaftlicher Verein mit Sitz in Berlin. Das DIN verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke, indem es durch Gemeinschaftsarbeit der interessierten Kreise zum Nutzen der Allgemeinheit Deutsche Nonnen oder andere Arbeitsergebnisse, die der Rationalisierung, der Qualitätssicherung, dem Umweltschutz, der Sicherheit und der Verständigung in Wirtschaft, Technik, Wissenschaft, Verwaltung und Öffentlichkeit dienen, aufstellt, sie veröffentlicht und ihre Anwendung fördert. Dementsprechend vollzieht sich die Nonnungsarbeit nach einer Reihe von Grundsätzen (Abbildung 1): Freiwilligkeit (sowohl hinsichtlich Mitarbeit wie auch hinsichtlich Anwendung der Ergebnisse), Beteiligung der Öffentlichkeit (durch Ankündigung der Vorhaben und Veröffentlichung der Entwürfe), Mitwirkung aller interessierten Kreise, Konsens über die gefundene Lösung, Einheitlichkeit und Widerspruchsfreiheit des Nonnenwerkes, Ausrichtung des Nonn-Inhaltes am Stand von Wissenschaft und Technik, an den wirtschaftlichen Gegebenheiten und am allgemeinen Nutzen, Internationalität. Die DIN-Nonnen kommen nach einem Verfahren zustande, das allen Interessierten die Möglichkeit zur Mitwirkung bietet. Waren dies ursprünglich vorwiegend Interessenten aus Wirtschaft und Staat, so sind heute auch Gewerkschaften, Berufsgenossenschaften, Wissenschaft, Verbraucher, Umweltschützer, freie Berufe und andere Gruppen vertreten.

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- Freiwilligkeit - Öffentlichkeit - Beteiligung aller interessierten Kreise - Konsens - Einheitlichkeit und Widerspruchsfreiheit - Ausrichten am Stand von Wissenschaft und Technik - Ausrichten an den wirtschaftlichen Gegebenheiten - Ausrichten am allgemeinen Nutzen - Internationalität

Abbildung 1: Grundsätze der Normungsarbeit

Jedermann kann die Erarbeitung einer DIN-Norm beantragen. Die Norm wird dann in einem Arbeitsausschuß von Fachleuten aus den interessierten Kreisen erarbeitet. Der Arbeitsausschuß sucht im Konsens die optimale Lösung. Die Zusammensetzung eines Arbeitsausschusses muß die unterschiedlichen Interessen angemessen berücksichtigen. Die Vertreter der interessierten Kreise müssen von diesen autorisiert sein. Wo allgemeine Interessen der breiten Öffentlichkeit betroffen sind, kann es für die Beteiligten mitunter schwierig sein, sich sachkundig zu artikulieren. In solchen Fällen ist zentrale Unterstützung angesagt; der Verbraucherrat, die Kommission Sicherheitstechnik und die Koordinierungsstelle Umweltschutz im DIN sind bewährte Beispiele hierfür. Die vorgesehene Fassung jeder DIN-Norm wird vor ihrer endgültigen Festlegung der Öffentlichkeit zur Stellungnahme vorgelegt. Einsprüche sind unter Einladung des Einsprechenden zu verhandeln. Dieser kann ein Schlichtungs- und Schiedsverfahren einleiten, wenn sein Einspruch verworfen wird. Die Normenprüfstelle wacht über die Einhaltung der Regeln und Grundsätze der Normungsarbeit. Bestehende DIN-Normen werden spätestens alle fünf Jahre überprüft, ob sie noch gebraucht werden und ob sie dem Stand der Technik entsprechen.

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Zur Durchführung seiner Aufgaben beschäftigt das DIN 1000 hauptamtliche Mitarbeiter. In seinen 4000 Ausschüssen sind 34 000 Fachleute ehrenamtlich tätig. Die 34 000 ehrenamtlichen Mitarbeiter kommen, weil sie die Interessen der sie entsendenden Häuser vertreten wollen. Die 1000 hauptamtlichen Mitarbeiter werden finanziert zu 2/3 aus den Erlösen des Verkaufs von Normen und Fortbildungsdienstleistungen des DIN und zu je 1/6 aus Zuwendungen des Staates und der Wirtschaft. Diese werden dem DIN dafür gewährt, daß das DIN bestimmte Themen auf die Tagesordnung setzt und am Ende des ordnungsgemäßen Verfahrens geeignete Normen vorlegt. Mit der Finanzierung der Normungsarbeit des DIN ist kein Einfluß auf die Inhalte der Normen verbunden. IV. DIN-Normen berücksichtigen europäische und internationale Entwicklungen Ursprünglich war das DIN im wesentlichen das nationale Forum, auf dem die Werknormen der Hersteller und die technischen Anforderungen privater und öffentlicher Anwender abgestimmt wurden. Bald kam die Beteiligung an der internationalen Normung in der ISO, der Internationalen Organisation für Normung, und der IEC, der Internationalen Elektrotechnischen Kommission, hinzu. Seit den 80er Jahren hat sich die europäische Harmonisierung durch CEN, das Europäische Komitee für Normung, und CENELEC, das Europäische Komitee für Elektrotechnische Normung, zwischen die internationale und die nationale Normung geschoben (Abbildung 2). ISO und IEC, CEN und CENELEC sowie das in diesem Rahmen noch zu erwähnende Europäische Institut für Telekommunikationsnormen ETSI sind wie das DIN private Institutionen.

Problemorientierter Konkretlslerungsgrad

GUltlgkeltsdauer Kompromlß

Internationale Normen ISOIIEC

Annäherung an den neuesten Erkenntnisstand der Technik

ische Normen CEN/CENELEC/ETSI

Verbindlichkeit fOr das Unternehmen

Werknormen Innerbetriebliche Normen

Abbildung 2: Nonnenpyramide

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Im letzten Jahrzehnt hat es dramatische Umschichtungen gegeben (Abbildung 3). Vor zehn Jahren hatten etwa 80 Prozent der Normungsvorhaben rein nationalen Charakter, jetzt entfällt die Hälfte auf die europäische Normung und ein weiteres Viertel auf die internationale Normung. Insbesondere das Europäische Normenwerk ersetzt die rein nationalen Normen (Abbildung 4).

100

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Internallonal. Vorhaben

1984

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1986

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Abbildung 3: Normungsarbeit des DIN - Anzahl der Vorhaben

Anzahl

25000 .



Il]] Europäische Projekte

Europäische Normen

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20000

15000

10000

5000 .

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1988 1989

1990

1991

1992 1993

1994

1995

1996

1997

Abbildung 4: Entwicklung der europäischen Normung in CEN/CENELECIETSI und Anzahl der DIN-Normen

Jahr

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Das internationale und europäische Nonnungsverfahren entspricht in entscheidenden Punkten dem Nonnungsverfahren des DIN. Es gibt aber eine wichtige Unterscheidung: In den internationalen und europäischen Gremien sind nicht die einzelnen Gruppeninteressen vertreten, sondern nationale Delegationen, die dort den Standpunkt ihres Landes zur Geltung bringen. Die Europäische Union wird auf die voraussehbare Zukunft ein Europa der Vaterländer bleiben, eine Gemeinschaft, die wichtige Fragen gemeinsam regelt und dabei auf die innere Zustimmung ihrer Mitglieder angewiesen bleibt. Europa wird keine zentralstaatlichen Strukturen aufbauen, sondern auf subsidiärer Mitwirkung beruhen. Dies gilt auch für die Nonnung. Das DIN ist der nationale Sammelpunkt aller deutschen Interessen und das Sprachrohr in den europäischen und internationalen Nonnungsgremien. Bei der Erarbeitung des technischen Inhaltes einer Europäischen oder Internationalen Nonn wird der Konsens der beteiligten Experten gesucht, über das fertige Ergebnis anschließend nach Ländern abgestimmt, international mit einer Stimme je Land, europäisch in Anlehnung an den EG-Vertrag mit Stimmengewichtung. So ist eine Europäische Nonn bei einer Mehrheit von 71 % angenommen. Deutschland hat 10 Stimmen, Österreich 4 Stimmen, Island 1 Stimme (bei insgesamt ca. 100 Stimmen). Eine mit dem hohen Quorum von 71 % angenommene Europäische Nonn muß von allen Mitgliedsländern übernommen werden, auch von denen, die dagegen gestimmt haben. Zusätzlich müssen entgegenstehende nationale Nonnen zurückgezogen werden. Eine solche Übernahmeverpflichtung gibt es gegenüber den Internationalen Nonnen nicht, deshalb ihre fonnale Übernahme in das europäische Normenwerk. Die Sekretariate der internationalen und europäischen Technischen Komitees, in denen die Nonn-Inhalte erarbeitet werden, werden dezentral von den nationalen Nonnungsinstituten betreut. Das DIN trägt international wie europäisch einen bedeutenden Anteil der Arbeiten.

V. DIN-Normen bringen volkswirtschaftlichen Nutzen

Technische Nonnung bedeutet volkswirtschaftlichen Nutzen: ursprünglich Rationalisierung, Qualität und Verständigung, sehr bald auch Verbraucherschutz, Arbeitsschutz und Umweltschutz. Nonnen legen den Stand der Technik dar, sie öffnen damit Märkte und vennitteln technisches Wissen. Fragt man nach der Wirtschaftlichkeit der Nonnung, so gilt: Häufig ist der Nutzen qualifizierbar, aber nur schwer quantifizierbar. Am einfachsten erschließt sich der Nutzen der Nonnung dem nichtgewerblichen Endverbraucher, wenn man an Beispiele wie die wohl bekannteste Nonn über die Papierfonnate denkt. Das Sei6 K10epfer

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tenverhältnis aller Formate ist gleich. Das Folgeformat entsteht durch Halbieren des Ausgangsformates. Dessen Fläche AO ist 1m2 • Hat der Verbraucher einen A4-Schreibblock gekauft, braucht er sich keine Gedanken mehr über die passenden Ordner, Heftlöcher, Briefumschläge und anderes mehr bis hin zu den Schreibmaschinen und den Büroschränken zu machen. Er darf erwarten, daß alles paßt. Beide, der Ökologe und der Ökonom, dürfen zufrieden sein. Alle Formate entstehen aus dem Ursprungsformat ohne jeden Verschnitt. In der Wirtschaft wird bei der Nutzenbetrachtung der Normung spezifischer nachgefragt. Auch hier ist der Nutzen der Normung sofort erkennbar und zeigt sich in Verringerung der Typenvielfalt bestimmter Teile, geringerem Arbeitsaufwand und geringeren Einkaufspreisen genormter Teile, vereinfachter Zeichnungserstellung, besserer inner- und außerbetrieblicher Kommunikation, reduzierten Entwicklungskosten und anderem mehr. Sichere Maschinen verringern die Unfallquote und erhöhen die Maschinenlaufzeiten. Managementsysteme nach DIN EN ISO 9000 oder DIN EN ISO 14001 klären die Verantwort1ichkeiten und machen Fehler, wenn sie denn auftreten, rückverfolgbar. In den 70er Jahren wurden wesentliche Untersuchungen durchgeführt und Abschätzungen erarbeitet, die von ihrer Substanz her noch immer gelten und die Größenordnungen gut wiedergeben. So wird der volkswirtschaftliche Nutzen der Normung von verschiedenen Autoren mit etwa 1 bis 1,5 % des Bruttosozialproduktes angegeben. In Deutschland bewirkt nach einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung die Normung einen Nutzen von jährlich 30 Mrd. DM. Dem stehen Kosten in Höhe von 4,4 Mrd. DM gegenüber. Etwa die Hälfte der Kosten entfallen auf die Tätigkeit der ehrenamtlichen Mitarbeiter in den Normenausschüssen, die zweite Hälfte auf die betriebliche und behördliche Nutzung und Anwendung der Normen, nur etwa 220 Mio. DM auf die hauptamtliche Betreuung der Normungsarbeit und den Druck bzw. die elektronische Speicherung und den Vertrieb der Normen.

VI. DIN·Normen sind anerkannte Regeln der Technik

DIN-Normen gelten aufgrund ihres Zustandekommens als anerkannte Regeln der Technik, als Festlegungen, deren Inhalt von der Mehrheit der Fachleute als zutreffende Beschreibung des Standes der Technik zum Zeitpunkt der Veröffentlichung anerkannt wird. Die Anwendung von DIN-Normen steht jedermann frei. Sie sind Empfehlungen der Fachwelt für einwandfreies technisches Verhalten im Regelfall. Sie werden angewandt, solange dies vernünftig ist. DIN-Normen sind eine, nicht die einzige Erkenntnisquelle für technisch ordnungsgemäßes Handl?ln. Das DIN empfiehlt auch dem Parlament und der Regierung, bei der Regelung technischen Verhaltens auf DIN-Normen Bezug zu nehmen. Vom Staat gesetzte Rechtsnormen und technische Normen privaten Ursprungs müssen angesichts der gesellschaftlichen Folgen technischen Handeins miteinander verknüpft sein. DIN-

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Normen werden bei der Rechtsetzung und von Gerichten bei der Rechtsprechung herangezogen, häufig unter Verwendung einer Generalklausei wie "Stand der Technik" und eines konkretisierenden Verweises durch den Gesetzgeber auf einzelne DIN-Normen. So hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung im Rahmen des Gesetzes über technische Arbeitsmittel über 1000 DIN-Normen als anerkannte Regeln der Sicherheitstechnik bezeichnet. Die dabei verwendete Generalklausei erlaubt eine dynamische Anpassung an den Stand der Technik und die internationale und europäische Weiterentwicklung und Harmonisierung technischer Regeln. Sie wird in ähnlicher Form z. B. in den Bauordnungen der Länder oder im Immissionschutzgesetz verwendet. Die Normerfüllung ist eine beispielhafte, nicht die einzige Art der Gesetzeserfüllung. Wer die Anforderungen des Gesetzes auf andere Weise als die in der Norm beschriebene erfüllt, ist frei, dies zu tun. Er unterliegt dann allerdings einer besonderen Beweislast. Aber die Norm behindert auf diese Weise nicht die Weiterentwicklung technischer Produkte und Verfahren. Angesichts dieser Situation war es zweckmäßig, das Verhältnis zwischen Staat und Normung zu klären. Bei der Entscheidung über die Frage, ob dies durch Gesetz oder Vertrag geschehen sollte, haben die Bundesregierung und das DIN der flexibleren Form des Vertrages den Vorzug gegeben. Im 1975 abgeschlossenen Normenvertrag erkennt die Bundesregierung das DIN als zuständige deutsche Normenorganisation und als deutsche Vertretung in den nichtstaatlichen supranationalen Normenorganisationen an. Die Bundesregierung anerkennt, daß das Verfahren der Normung, wie es das DIN, seiner eigenen Norm DIN 820 folgend, praktiziert, den Anforderungen des Gemeinwohls genügt. Das DIN verpflichtet sich, in seiner Tätigkeit öffentliche Belange zu berücksichtigen, faire Verfahrensregeln zu praktizieren und die Öffentlichkeit über seine Tätigkeit detailliert zu informieren. Die Regierung hat Mitwirkungsrechte, wie andere Partner an der Normung auch, jedoch kein Bestimmungs- oder Vetorecht. Sie bleibt selbstverständlich frei, sich die Ergebnisse der Normungsarbeit zu eigen zu machen oder auch nicht. Alles Dinge, die das DIN auch lange vor Abschluß des Normenvertrages praktiziert hat. Die meisten Autoren, die sich zum Thema Normung und Recht äußern, stimmen darin überein, daß auf eine Delegation technischer Regelsetzung auf Institutionen wie das DIN Deutsches Institut für Normung e.Y. letztlich nicht verzichtet werden kann, um einerseits den Gesetzgeber zu entlasten und andererseits die technische Entwicklung zu fördern, zumindest nicht zu behindern. Auf einigen Gebieten ist die Entwicklungsgeschwindigkeit technischer Systeme so hoch, daß mit Hilfe der traditionellen Normung diese nicht mehr mit der gebotenen Schnelligkeit begleitet werden können. Ferner sind Innovationen vielfach durch eine hohe Systemkomplexität geprägt. Ihre Funktionsfähigkeit erfordert vor der Praxiseinführung normative Strukturen. Diese schnellen Innovationen sind insbesondere durch viele iterative Entwicklungsschritte gekennzeichnet, die zunächst 6*

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nicht zu einem zeitlich stabilen, in DIN-Nonnen zu dokumentierenden "Stand der Technik" führen. Deshalb bietet das DIN auch die Möglichkeit, auf Grund eines vereinfachten Erarbeitungsverfahrens nonnative Dokumente (Vornonnen, DIN-Fachberichte, Publicly Available Specifications [PAS]) schneller, d. h. begleitend zur technischen Entwicklung zu erarbeiten. Vornonnen bedürfen keiner Entwurfsveröffentlichung. Die Schlichtungsprozeduren sind gestrafft. Kritisch muß man anmerken: Diese Beschleunigung des Verfahrens mag sachlich geboten sein, aber sie geht zu Lasten der Öffentlichkeit des Verfahrens. Somit können bereits im Bereich von Forschungs- und Entwicklungsarbeiten Strukturempfehlungen erarbeitet werden, die die zukünftige Produkt- und Systementwicklung fördern und die Systembeteiligung auch kleiner Firmen ennöglichen. Es geht um Festlegungen während des Entwicklungsprozesses selbst, die ihrerseits Ausgangspunkte für weitere Entwicklungsschritte sein können. Damit wird der Zeitpunkt der Nonnungstätigkeit stark nach vorn verlagert. Das DIN bietet diese Instrumente unter dem Namen Entwicklungsbegleitende Nonnung an. Bisher saßen im Rahmen der traditionellen Nonnung hauptsächlich die Praktiker am "runden Tisch" des DIN. Die entwicklungsbegleitende Nonnung wird von dem Forschungs- und Entwicklungspersonal getragen. Dies setzt ein Umdenken der interessierten Kreise voraus, weil bisher die Nonnung als Rationalisierungsinstrument in Bereichen ausgereifter Techniken angesehen wurde. Jetzt wird sie auch ein Instrument für schnelle Entwicklungen und Technologietransfer. Ziel ist, nicht mehr nur die erreichten Fortschritte der technischen Entwicklung festzuhalten und in Fonn von technischen Regeln zu dokumentieren, sondern integraler Bestandteil der technischen Neuerungen zu werden. Somit wird der Wissens- und Technologietransfer in Gebieten mit hohem Innovationsgrad gefördert und beschleunigt. Technische Nonnung wird Teil der langfristigen Unternehmensstrategie.

VII. Europa nutzt Europäische Normen zur technischen Harmonisierung

Auch in der Europäischen Union (und in der Rest-EFTA) sind Gesetzgeber, Behörden, und das heißt der Europäische Rat und die Europäische Kommission, an der Nonnung interessiert und ein betroffener Kreis wie alle anderen Teilnehmer am Nonnungsgeschehen. Sie können Nonnen vorschlagen, daran mitarbeiten, dazu Stellung nehmen und sich ihrer schließlich bedienen. Insbesondere wird der Bezug auf Nonnen im Rahmen der europäischen Rechtsetzung zur Ausfüllung der grundlegenden Anforderungen der Richtlinien im Rahmen des "Neuen Konzepts" verwendet. Ursprünglich nahm die europäische Harmonisierung der technischen Vorschriften von der Nonnung, abgesehen von einzelnen starren Verweisen, keine Notiz.

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1973 benutzte die Niederspannungsrichtlinie erstmals eine Generalklausei, indem sie auf den Stand der europäischen elektrotechnischen Sicherheitstechnik verwies. 1985 beschloß der Rat das "Neue Konzept auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und der Normung", das die Grundlage des heutigen partnerschaftlichen Verhältnisses zwischen der EU und den europäischen Normenorganisationen geworden ist. Das Neue Konzept ermöglicht, jeweils durch die Veröffentlichung einer einzigen Richtlinie eine große Zahl von Produkten zu erfassen, für die sich gemeinsame grundlegende Anforderungen beschreiben lassen. Die jeweilige Europäische Richtlinie enthält die grundlegenden Anforderungen. Sie muß von den Mitgliedstaaten inhaltlich in nationales Recht umgesetzt werden. Die grundlegenden Anforderungen legen die Schutzziele fest. Diese fallen in die Verantwortung des Gesetzgebers und dürfen bei allen nachfolgenden Präzisierungen nicht verändert werden. Im Zweifelsfall sind sie das eigentliche Maß für die Beurteilung, ob ein Erzeugnis auf den Markt darf oder nicht. Europäische Normen füllen die grundlegenden Anforderungen aus und geben mögliche technische Lösungen an. Ihre Anwendung liefert die Vermutung der Konformität mit der Richtlinie und erleichtert die einschlägigen Nachweisverfahren. Die Normen bleiben dabei Empfehlungen; die Hersteller behalten die Freiheit, abweichend von der Norm zu produzieren und die Erfüllung der Richtlinie anders nachzuweisen. Auch hier ist die Normenerfüllung eine beispielhafte, nicht die einzige Art der Gesetzeserfüllung. Durch Konformitätsbewertungsverfahren wird die Übereinstimmung mit den Anforderungen der Richtlinie festgestellt und bestätigt. Hierzu sind verschiedene Module festgelegt, aus denen für die einzelnen Sektoren geeignete ausgewählt und in der jeweiligen Einzelrichtlinie festgelegt werden können. Die Art und Strenge des Verfahrens richtet sich nach dem Risikopotential und den Sicherheitsanforderungen. Als allgemein anwendbares Zeichen zur Bestätigung der Konformität mit den Sicherheitsanforderungen der Richtlinie wird die CE-Kennzeichnung benutzt.

VIII. Internationale Normen dienen der weltweiten Zusammenarbeit

Die deutschen und europäischen Handelsinteressen machen an den Außengrenzen der Union nicht halt, sondern sind weltweiter Natur. Es liegt deshalb nahe, der internationalen Arbeit Priorität zu geben und Internationale Normen der ISO und der IEC als Europäische Normen zu übernehmen. Dies geschieht systematisch. Die Wiener Vereinbarung zwischen ISO und CEN und die Dresdner Vereinbarung zwischen IEC und CENELEC setzen die Rahmenbedingungen. Auch international gibt es Verbindungen zwischen der Normung und dem Recht. Seit den späten 70er Jahren wird im Rahmen des multilateralen Handelssystems

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GATT versucht, Handelshemmnisse zu begrenzen. In der Tokio-Runde des GATT

wurde 1979 ein Kodex über technische Handelshemmnisse ausgearbeitet, mit dem grundlegende Disziplinen wie Transparenz, Partizipation und Nichtdiskriminierung bei der Erarbeitung und Anwendung von Produktnormen und Vorschriften eingeführt wurden. Die Annahme des Kodex war freiwillig. Eine Neufassung aus der Uruguay-Runde 1994 ist nun für alle Mitglieder der neuen Welthandelsorganisation (WTO) verbindlich. Zwischen freiwilligen Normen und verbindlichen technischen Vorschriften wird nun klar unterschieden. Die Mitglieder werden verpflichtet, den Handel so wenig wie möglich durch Vorschriften zu behindern.

Ferner wurde ein Verhaltenskodex für nichtstaatliche Normenorganisationen aufgestellt, deren Tatigkeit in dem Übereinkommen große Bedeutung beigemessen wird. Die europäischen Normungsorganisationen CEN, CENELEC und ETSI haben - ebenso wie das DIN - diesen Verhaltenskodex anerkannt, der die Verwendung Internationaler Normen fordert, wo immer dies möglich ist. Die bereits genannten Vereinbarungen zwischen ISO und CEN sowie IEC und CENELEC sind hervorragende Beispiele zur praktischen Umsetzung dieser Forderung. Die privaten Normungsorganisationen der Vereinigten Staaten ignorieren den Kodex bisher.

IX. Die Idee der privatrechtlich organisierten technischen Normung findet weltweite Zustimmung

Die technische Normung beinhaltet auf allen Ebenen einen großen Anteil Eigenverantwortung und Selbst-Beherrschung. Kaum ein einzelner Bürger ist heute noch in der Lage, die technischen Zusammenhänge zu erfassen oder gar ihre Entwicklung zu verfolgen. Er vertraut, daß sachkundige Gremien, an deren Arbeit er sich, wenn er betroffen ist, notfalls auch unmittelbar beteiligen kann, technische Regeln erarbeiten, die seine Sicherheit gewährleisten und zur Verbesserung seines Daseins beitragen. Ganz besonders gilt dies auf Gebieten mit schneller technischer Entwicklung, wo Normung nicht nur Bewährtes festschreibt, sondern in das aktuelle Geschehen entwicklungs begleitend eingreift. Die Normung bietet die geeigneten Werkzeuge zur Selbstbestimmung und bodenständigen Eigenverantwortung. Ich kann nur alle Betroffenen auffordern, davon Gebrauch zu machen. In unserem Nachbarland Österreich sagte kürzlich dessen Bundespräsident Dr. Klestil anläßlich des Jubiläums des dortigen Normungsinstituts: "So ist das Normungsinstitut zwar ein privater Verein, aber einer, der wichtigste öffentliche Aufgaben übernommen hat. Ich sehe darin ein besonders erfolgreiches Beispiel auf dem notwendigen Weg zu einem schlankeren Staat, in dem sich Menschen das, was sie brauchen, selbst organisieren ... Daß Ordnung in unserer modernen Gesellschaft wichtig ist, dürfte außer Streit stehen. Dennoch geht es um die Frage nach dem vernünftigen Maß. Normen dürfen nämlich kei-

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nen Zwang entstehen lassen, im Gegenteil, sie sollen den Einzelnen von der Routine entlasten und Platz machen für noch mehr Kreativität und Effizienz. Unser Ziel muß es also sein, unsere Mitbürger zu überzeugen, daß es vernünftig, ja intelligent ist, Nonnen zu akzeptieren, um geordnete Abläufe zu schaffen. Die Königsidee der Nonnungsinstitute war und ist es, daß die notwendigen Standards nicht von oben herab dekretiert und erzwungen werden, sondern daß sie aus dem lebendigen Dialog all derer entstehen, die an Normierungen ein vitales Interesse haben."

Private technische Regelwerke Rechtliche und politische Fragen* Von Matthias Schmidt-Preuß

I. Die Omnipräsenz privater technischer Normen

Die modeme arbeitsteilige Industriegesellschaft ist ohne Normung nicht denkbar. Sollen Waren und Dienstleistungen vermarktet werden, müssen sie mit dem Anwendungsprofil der Kunden kompatibel sein - gerade in einer offenen Volkswirtschaft. Diese fast banale Aussage erklärt die buchstäbliche Omnipräsenz der Normung. Ohne weiteres handgreiflich für den Normalbürger sind dabei Normungsgegenstände wie die Kugelschreibermine, die nach DIN 16554 u. a. für einen 200 m langen Strich Gewähr bieten muß. Und schon jedem Schulkind ans Herz gewachsen ist das - trotz aller Informationstechnologie - offenbar unverwüstliche Blatt "DIN A 4", das der Lyrik des Poeten, der Kühle des Mahnungsschreibens wie der Explosivität eines Demonstrationsaufrufs gleichermaßen die Plattform verleiht. Weithin verschlossen ist dagegen dem Außenstehenden die immense Fülle von fachtechnischen Produkt-, Verfahrens-, Prüf- oder Definitionsnormen. Hier geht es um unzählige Komponenten, Werkstoffe, Meß- und Kontrollweisen oder Begriffsbestimmungen. Allein das DIN verabschiedet monatlich ca. 300 Normen oder Normentwürfe, die eine "Gesamtproduktion" bis Ende 1996 von über 25.000 Normen ergeben. I 11. Der selbstregulative Stellenwert privater Normgebung 1. Private Normung versus staatliche Gesetzgebung

Allgemein läßt sich Normung - also die Erstellung von privaten technischen Regelwerken im weitesten Sinn - mit den Verfahrensgrundsätzen nach DIN 820

* Vortrag auf dem 1. Berliner Kolloquium der Gottlieb Daimler- und Karl Benz-Stiftung über "Selbst-Beherrschung im Technischen und Ökologischen Bereich", das am 29. und 30. 5. 1997 unter der Leitung von Herrn Prof. Dr. Michael Kloepfer an der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand. I Vgl. Jahrespressekonferenz des DIN am 15.4. 1997, Anhang "DIN in Zahlen"; DIN Geschäftsbericht 1995/96, S. 43.

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Teil bezeichnen als "die planmäßige, durch die interessierten Kreise gemeinschaftlich durchgeführte Vereinheitlichung von materiellen und immateriellen Gegenständen zum Nutzen der Allgemeinheit".2 So verbreitet diese Umschreibung ist und so einleuchtend sie erscheint, so vielschichtig, ja brisant ist sie, wenn es um die Standortbeschreibung der privaten Normgebung im Rahmen der politischen Gesamtordnung und seiner rechtlichen Verfassung geht. Hier ist unübersehbar, daß der Gesetzgeber auf immer mehr Feldern insbesondere des Technik-, Umwelt-, Arbeitsschutz- und Lebensmittelrechts Abstinenz übt und damit ein Vakuum entstehen läßt, das - außer durch behördliche Verwaltungsvorschriften - durch private Regelsetzung ausgefüllt wird. Fast könnte der Eindruck entstehen, als wäre es dem Staat gar nicht unlieb, sich auf diese kooperative Weise privaten Sachverstands bedienen und eigene knappe Ressourcen schonen zu können. Dennoch ist die Arbeit der Normungsorganisationen keine staatliche Veranstaltung. Private Normen stehen in einem fundamentalen Gegensatz zu Gesetzen. Während staatliches Recht genuin verbindlich ist, können private Regelwerke diesen Anspruch gerade nicht erheben; sie sind - entstanden aus privater Konvention - selbstverständlich keine Rechtssätze3 und damit auf freiwillige Beachtung angewiesen. Allerdings werden sie von den Wirtschafts subjekten - im Sinne einer Stabilisierungs- und Orientierungsfunktion - weitgehend befolgt. Gerade diese sog. de-facto-Verbindlichkeit bildet den Ausgangspunkt der aktuellen Kritik an der privaten Normgebung. Sie erhebt den zentralen Vorwurf eines Demokratie- und Legitimationsdefizits und sieht in technischen Regelwerken die Abdankung des Staates zugunsten korporatistischer Strukturen, die Umgehung demokratischer Entscheidungsprozeduren und die Installierung eines "private government" zulasten des Gemeinwohls. 4 2. Mobilisierung privater Eigenverantwortung und gesteuerte Selbstregulierung

Ohne mich hier im einzelnen mit dieser generellen These staatlicher Ohnmacht und Selbstaufgabe auseinandersetzen zu können, sei so viel gesagt: Gesetzgeberische Enthaltsamkeit belegt keinesfalls zwingend mangelnde Steuerungskapazität des Staates. Vielmehr kann sie Ausdruck einer politischen Strategie sein, die gezielt private Initiative und Risikobereitschaft aktiviert sowie das Know-how von Wirtschaft und Verbänden nutzt. Zugleich wird auf diese Weise die nötige flexibilität gegenüber der rasanten Entwicklung von Wissenschaft und Technik sichergestellt. 2 Ziff. 2 Abs. I S. I DIN 820 Teil I "Normungsarbeit - Grundsätze" (April 1994), abgedruckt in: Grundlagen der Normungsarbeit des DIN (DIN-Normenheft 10), 6. Aufl., 1995, S.81. 3 Vgl. nachdrücklich BVerwG, NVwZ-RR 1997, 214 (im Hinblick auf die Regelgebung durch das DIN): ,,keine Rechtsetzungsbefugnisse". 4 Vgl. hier nur die Darstellung bei Voelzkow, Private Regierungen in der Techniksteuerung, 1996, S. 35 ff., 55 ff., 219 ff., 309 ff.

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Unter diesem Vorzeichen erscheint private Normgebung geradezu als Prototyp eines neuanigen Gestaltungsmodus, der mit gesteuerter Selbstregulierung beschrieben werden kann. Dabei setzt der Staat nicht auf das klassisch-imperative Instrument verbindlicher Anordnung, sondern auf die Eigenverantwortung der Privaten. Unter gesellschaftlicher Selbstregulierung verstehe ich die "individuelle oder" - hier relevant - "kollektive Verfolgung von Privatinteressen in Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheiten zum legitimen Eigennutz".5 Genau darum geht es bei der privaten Normgebung. Den zumeist in der Rechtsform des eingetragenen Vereins organisierten Normungsverbänden 6 - wie dem Deutschen Institut für Normung, der Deutschen Elektrotechnischen Kommission, dem Verein Deutscher Ingenieure, dem Deutschen Verein des Gas- und Wasserfaches oder etwa der Abwassertechnischen Vereinigung - steht eine grundrechtlich verbürgte Normungsautonomie zu. Sie erwächst namentlich aus der Vereinigungsfreiheit und der Berufsfreiheit. 7

IH. Die Induzierung von Gemeinwohlbeiträgen am Beispiel privater Normgebung

Charakteristikum gesteuerter Selbstregulierung ist, daß der Staat private Initiative und Eigenverantwortung induziert8 , um auf diese Weise im Ergebnis gemeinwohlfördernde Beiträge zu realisieren. Dies mutet nur dann als Paradox an, wenn man die Verwirklichung öffentlicher Interessen allein beim Staat lokalisiert. 9 Dabei wird jedoch allzu leicht übersehen, daß sich die Verfolgung von Privatinteressen und die Hervorbringung von Gemeinwohlbeiträgen keineswegs ausschließen. Von daher führt die bereits genannte DIN-Definition als Zielgröße der Normung zu Recht den "Nutzen der Allgemeinheit" an. Ohne Frage: Der Gemeinwohleffekt privater Normgebung kann - unbeschadet ihres privaten Charakters - kaum überschätzt werden:

Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (162 f.). S. näher den umfassenden Überblick bei Marburger/Gebhard, in: Endres/Marburger (Hrsg.), Umweltschutz durch gesellschaftliche Selbststeuerung, 1993, S. 1 (6 ff.). 7 Vgl. Schmidt-Preuß, ZLR 1997,249 (251 f.), während Battis/Gusy, Technische Normen im Baurecht, 1988, Rdnr. 435 ff., für Art. 12 und 14 GG plädieren; allg. für die Erstreckung des Art. 9 Abs. 1 GG auch auf die Tätigkeit der Vereinigung Jarass, in: Ders. / Pieroth, GG, 4. Aufl., 1998, Art. 9 Rdnr. 9; H. Bauer; in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, 1996, Art. 9 Rdnr. 40; enger Löwer; in: von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Bd. 1,4. Aufl., 1992, Rdnr. 33. 8 Zu diesem Begriff Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (165). 9 Daß staatliches Handeln nicht der ausschließliche Modus der Gemeinwohlverwirklichung ist, hat bereits Hans Peters, in: FS f. Nipperdey, Bd. H, 1965, S. 877 (878), eindrucksvoll aufgezeigt. 5

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Matthias Schmidt-Preuß 1. Freier Handel und Wohlstandsmehrung

Erstens: Private Regelwerke dienen der Ausweitung des Handels und damit der Mehrung des Wohlstands. Der freie Warenverkehr liegt im vitalen Interesse Deutschlands als zweitgrößtem Exporteur der Welt. Dies bedingt die Beseitigung von Handelshemmnissen in Form unterschiedlicher Produktstandards. Zugleich ist dies eine Bedingung für die Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes, auf dem 60% der deutschen Exporte abgesetzt werden. Aber nicht nur die Europäisierung kennzeichnet den modemen Trend privater Normgebung, sondern darüber hinaus eine immer stärkere Internationalisierung. So ist es symptomatisch, daß etwa die elektrotechnische Normung in Deutschland zu 98% auf Normen und Normentwürfen von IEC, CENELEC und ETSI beruht und nur noch 2% rein nationaler Natur ist. 10 Ca. 40% der CEN-Normen sind identisch mit ISO-Normen, 90% der CENELEC-Normen geben IEC-Normen wieder. Selbst die Normung auf Gemeinschaftsebene läuft bisweilen schon Gefahr, ins provinzielle Abseits zu geraten. Welche Bruchstellen hier auftreten können, zeigt augenfällig das Beispiel des Öko-Audit. So hat das CEN in Erfüllung eines Kommissionsmandats zur Ausarbeitung einer europäischen Umweltmanagementnorm den zunächst naheliegenden Weg einer Übernahme der Internationalen Norm DIN EN ISO 14001 11 beschritten. So erwünscht diese Internationalisierung ist, so negativ schlägt die unübersehbare Lücke zu Buche, die sich zum Kriterienkatalog der EG-Öko-Audit-Verordnung auftut. 12 Wenn ein international agierendes Unternehmen auch mit dem Marketinginstrument des Öko-Audit-Emblem operieren will, bedarf es über die ISO-Zertifizierung hinaus zusätzlich des Testats durch den Umweltgutachter. 13 Diese mißliche Doppelspurigkeit - die auch nach der Kommissionsentscheidung vom Frühjahr 1997 14 bestehen bleibt - kann sicherlich ein Stück weit durch harmonisierende Auslegung verringert, aber nicht gänzlich beseitigt werden.

10 Zum Zahlenmaterial s. DIN Geschäftsbericht (FN 1), S. 25; im einzelnen zur Europäisierung und Internationalisierung der Normung Kalb, DIN-Mitt. 75,1996, Nr. 6, 432 ff. 11 Umweltmanagement-Systeme - Spezifikationen mit Anleitung zur Anwendung (ISO 14001:1996), Ausgabedatum Oktober 1996; zusammenfassende Darstellung bei Waskaw, Betriebliches Umweltmanagement - Anforderungen nach der Audit-Verordnung der EG und dem Umweltauditgesetz, 2. Aufl., 1997, S. 87 ff. 12 Vgl. Lütkes, "Mischen: possible. EU-Öko-Audit und ISO 14001 kombinierbar", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.5. 1997 (Sonderbeilage "Umwelt und Technik"), S. B2. 13 Gern. Art. 4 Abs. 3 - 6 der Verordnung (EWG) Nr. 1836/93 des Rates vom 29. 6. 1993 über die freiwillige Beteiligung gewerblicher Unternehmen an einem Gemeinschaftssystem für das Umweltmanagement und die Umweltbetriebsprüfung, ABI. L Nr. 168 (vom 10.7. 1993), S. 1; s. dazu Schmidt-Preuß, in: FS f. Krie1e, 1997, S. 1157 (1162 ff.). 14 Entscheidung der Kommission vom 16. 4. 1997 zur Anerkennung der Internationalen Norm ISO 14001:1996 und der Europäischen Norm EN ISO 14001:1996 für Umweltmanagementsysteme gemäß Art. 12 der Verordnung (EWG) Nr. 1836/93 des Rates, ABI. L Nr. 104 (vom 22. 4. 1997), S. 37.

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2. Technische Sicherheit

Zweitens gewährleisten private Regelwerke technische Sicherheit und tragen damit gleichzeitig zur Produktqualität bei. Nach den DIN-Grundsätzen haben Normen "den jeweiligen Stand der Wissenschaft und Technik zu berücksichtigen".15 Daß daneben auch die "wirtschaftlichen Gegebenheiten" im Auge zu behalten sind - so ebenfalls die DIN-Grundsätze - , ist keineswegs ein lästiger Schönheitsfehler, sondern lediglich die Feststellung einer Tatsache: Private Normung kann nicht wertfrei sein. Vielmehr unterliegt sie neben allen fachtechnischen Erkenntnissen auch Einschätzungen, Kompromissen und Wertungen - nicht zuletzt ökonomischer Art. 16 3. Staatsentlastung

Drittens: Private Normgebung leistet einen ungeheuren Beitrag zur Staatsentlastung 17 - einer politischen Zielsetzung, die angesichts leerer Haushaltskassen höchste Priorität genießt und sich mit der wirtschaftspolitischen Kernforderung der Sicherung des Standorts Deutschland verbindet. Für die außerordentlich zeitraubende Arbeit in den Gremien der privaten Normungsorganisationen werden die ehrenamtlichen Experten von den Unternehmen freigestellt. Müßte der Staat hier eigenhändig tätig werden - etwa Verwaltungsvorschriften erlassen - , ergäbe sich allein bei der jährlichen Normenerstellung durch das DIN mit seinen ca. 34.000 ehrenamtlichen Mitarbeitern l8 pro rata hochgerechnet und zuzüglich der gut 1000 hauptamtlichen Mitarbeiter ein Personalbedarf mit sechsstelliger Millionenbelastung im Bundeshaushalt.

4. Außerökonomische Zielsetzungen

Viertens dient private Normgebung wichtigen außerökonomischen, sozio-politischen Zielen, die bereits im ISO-lEe-Leitfaden von 1991 plastisch umschrieben wurden. 19 Ich nenne hier zunächst den Umweltschutz. 2o Er ist in der DIN-Satzung

ausdrücklich verankert und hat seine institutionelle Ausprägung in der Errichtung des Normenausschusses "Grundlagen des Umweltschutzes,,21 - kurz NAGUS - im 15 Ziff. 5.7. S. 1 DIN 820 Teil 1 (FN 2); hier auch das folgende Zitat. 16 Vgl. insoweit auch BVerwGE 77,285 (291). Vgl. Feldhaus, in: Renge1ing (Hrsg.), Umweltnormung, 1998, S. 137 (143). "DIN in Zahlen" (FN I). 19 S. Ziff. 2 der EN 45020 "General terms and their definitions conceming standardization and related activities" (ISO /lEe Guide 2: 1991). 20 Dazu Jauck, "Normung als Instrument der Umweltpolitik", umwelt 1996,98 ff. 21 S. überblicksweise den Jahresbericht 1995/96 der Geschäftsstelle des Normenausschusses Grundlagen des Umweltschutzes (NAGUS) im DIN (31. 7. 1996), S. 1 ff.; ferner von Holleben, in: FS f. W. Ritter, 1997, S. 859 ff. 17

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Jahre 1993 gefunden. Nicht minder bedeutsame Anliegen privater Normung sind des weiteren der Verbraucherschutz, der Gesundheitsschutz und der Arbeitsschutz.

IV. Gewährleistungsfunktion und ZugritTsoption des Staates 1. Das staatliche Steuerungsmandat

Freilich ist nicht zu übersehen und ohne weiteres einzuräumen, daß selbstregulative Prozesse nicht automatisch auch tatsächlich das bonum commune befördern. Kritischen Einwänden in diese Richtung sei jedoch entgegnet, daß der Gestaltungsmodus gesteuerter Selbstregulierung die mobilisierten Privatinteressen nicht sich selbst überläßt. So ergibt sich namentlich aus der grundrechtlichen Schutzpflicht eine Gewährleistungsverantwortung des Staates. Er darf sich nicht an private Partikularinteressen ausliefern. Vielmehr muß er sich - im Sinne seines Steuerungsmandats - eine Zugrif!soption 22 für den Fall privater "Schlechterfüllung,,23 vorbehalten. So kann er anstelle defizitärer privater Normgebung selbst eine Konfliktregelung treffen. Freilich käme eine Pflicht hierzu nur im krassen Ausnahmefall in Betracht. Im Normalfall stellt sich die Zugriffsoption in drei Steuerungsperspektiven dar: 2. Institutionelle und finanzielle Steuerung

Die erste ist institutioneller Art: So kann der Staat - seiner rahmenmäßigen Gewährleistungsverantwortung entsprechend - durch seine Repräsentanten in Lenkungsausschüssen privater Normungsorganisationen vertreten sein.24 Über die Informations gewinnung hinaus kann er auf diese Weise versuchen, öffentliche Belange in den Normungsprozeß einzubringen. Auf dieser Linie liegt es, daß sich das DIN - als nationale Normungsorganisation - im Vertrag mit der Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahre 1975 verpflichtet hat, "Anträge der Bundesregierung auf Durchführung von Normungsarbeiten, für die [von ihr] ... ein öffentliches Interesse geltend gemacht wird, bevorzugt zu bearbeiten".25 Die zweite Steuerungsperspektive ist finanzieller Art. Zwar bestreitet etwa das DIN seinen Etat von ca. 162 Mio. DM in 1996 zu 85% selbst - namentlich durch Mitglieds- und Förderbeiträge der Wirtschaft sowie durch Erlöse aus dem Verkauf von Normdokumenten.26 Immerhin stellt aber der Staat Finanzmittel im Umfang Zum Begriff Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997),160 (174), im übrigen S. 172 ff. Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Schuppert (Hrsg.), Refonn des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 11 (44). 24 Vgl. Kloepjer/Elsner, DVBI. 1996,964 (970 f.). 25 § 4 des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem DIN Deutsches Institut für Nonnung e.v. vom 5. 6. 1975. 26 Vgl. "DIN in Zahlen" (FN I); DIN Deutsches Institutfür Normung e. V. (Hrsg.), Die Finanzierung des DIN, 3. Aufl., 1996, S. 10 ff. 22 23

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von ca. 22 Mio. DM zur Verfügung, auf die man beim DIN sicherlich nur ungern verzichten würde. Dies gilt um so mehr, als einzelne Normungsprojekte - wie etwa im Bereich der Lebensmiuelhygiene - zur Gänze vom Bund finanziert werden.

V. Steuernde Rezeption und Generalklauselmethode 1. Die selbstregulative Auslegungsofferte

Die dritte Steuerungsperspektive - der besondere Bedeutung zukommt - umschreibe ich mit dem Begriff steuernder Rezeption.27 Ihr Wirkungsfeld ist dort, wo private Normgebung und staatliche Rechtsanwendung aufeinandertreffen. An dieser Schnittstelle zwischen Selbstregulierung und Steuerung sind Behörden wie Gerichte mit privaten Regelwerken konfrontiert, wenn es um die Auslegung von Technikklauseln und sonstigen unbestimmten Rechtsbegriffen geht. Beispielhaft nenne ich zum einen den "Stand der Technik" und zum anderen den Begriff der "Erheblichkeit". Was liegt für Behörden und Gerichte näher, als sich - jedenfalls auch - an privaten Normen zu orientieren, wenn der Gesetzgeber selbst keine nähere Regelung getroffen hat? Dieser bedient sich der Generalklauselmethode, 28 die sich geradezu als Königsweg der Normkonkretisierung im Rahmen gesteuerter Selbstregulierung darstellt: Einerseits kommen Sachverstand, Flexibilität und Eigenverantwortung der Privaten mit entsprechender Staatsentlastung zur Geltung. Andererseits bleiben staatliche Zugriffsoption und Letztentscheidungskompetenz für den Fall der Schlechterfüllung unangetastet. Behörden und Gerichte können private Normen - im übertragenen Sinn - "verwerfen" und damit ihre Korrektur induzieren. In der Regel werden private Normen auch für Behörden und Gerichte eine Stabilisierungs- und Orientierungsfunktion entfalten. Dabei ist freilich unmißverständlich zu betonen, daß den Regelwerken privater Normungsorganisationen keinerlei rechtliche Verbindlichkeit zukommt. Sie sind vielmehr selbstregulative Auslegungsofferten. 29 Behörden wie Gerichte können sie sich in freier Einschätzung bzw. Kognition zu eigen machen, sie respektieren. Sie müssen dies nicht, werden es aber um so eher tun, je sachrichtiger und überzeugender die Regeln sind. Freilich wäre es vom Beamten oder Richter zu viel verlangt, sich jeweils durch eigene Prüfung von der Sachrichtigkeit der privaten Norm in jedem Einzelfall zu überzeugen. Eine solche nachträgliche Vollkontrolle würde den gewünschten selbstregulativen Entlastungseffekt erkennbar zunichte machen. Hierzu Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (203 ff.). S. hierzu nur Marburger, in: Müller-Graff (Hrsg.), Technische Regeln im Binnenmarkt, 1991, S. 27 (34 ff.); Bundesministerium für Wirtschaft (Hrsg.), Bericht der Arbeitsgruppe "Rechtsetzung und technische Normen" (o.J.), S. 4 ff. 29 Vgl. näher Schmidt-Preuß, ZLR 1997,249 (254 ff.); in diesem Sinne auch Schulte, in: Rengeling (Hrsg.), Umweltnormung, 1998, S. 165 (180); zurückhaltend insoweit Feldhaus (FN 17), S. 153. 27

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Matthias Schmidt-Preuß 2. Transparenz, Publizität, Repräsentanz und Revisibilität vier Mindestanforderungen

Daher liegt es nahe, als Hilfskriterium die Art und Weise des Zustandekommens privater Nonnen heranzuziehen. 3D Steuernde Rezeption hat damit eine prozedurale Komponente. Je mehr private Regelwerke den Geboten der Transparenz, Publizität, Repräsentanz und Revisibilität genügen, desto eher können Behörden und Gerichte davon ausgehen, daß eine private Nonn auch inhaltlich akzeptabel ist und normkonkretisierend rezipiert werden kann. Insofern läßt sich von einer prozeduralen Richtigkeitsgewähr sprechen. Wohlgemerkt: Die Nonnungsorganisationen unterliegen als private Vereinigungen keineswegs dem Demokratie- oder dem Rechtsstaatsprinzip. Beide Strukturanforderungen sind allein staatsgerichtet. Das ist gegenüber allen jenen nachdrücklich zu betonen, die etwa das DIN unvennittelt an diesen Verfassungsprinzipien des Art. 20 GG messen wollen?! Ganz anders die steuernde Rezeption: Sie beläßt den privaten Nonnungsorganisationen uneingeschränkt ihre grundrechtliche Freiheit, behält sich aber zugleich die Option vor, von den Regelwerken in concreto abzuweichen, wenn das Gesetz dies erfordert. Es ist also Sache der privaten Nonnungsorganisationen zu entscheiden, ob sie im Sinne selbstregulativer Obliegenheit reflexhaft demokratisch-rechtsstaatliche Mindeststandards erfüllen oder auf das Privileg behördlicher bzw. gerichtlicher Rezeption verzichten wollen. Dabei umfassen die prozeduralen Mindestanforderungen der Transparenz, Publizität, Repräsentanz und Revisibilität - erstens - die frühzeitige Bekanntgabe von Nonnungs-Vorhaben und die Veröffentlichung bzw. Verfügbarkeit von Nonnentwürfen, - zweitens - die ausgewogene Beteiligung der interessierten Kreise bei der Nonnerstellung und - drittens - die jedennann offenstehende Möglichkeit, Einspruch zu erheben und - ggf. - ein Schlichtungs- sowie Schiedsverfahren in Gang zu setzen. Die Verfahrensordnung des DIN 32 - die von anderen Nonnungsorganisationen vielfach übernommen wurde - genügt diesen Anforderungen.

3. Im einzelnen: Repräsentanzgebot und Verfahrensordnung des DIN

Gleichwohl sieht sich das DIN zunehmender Kritik ausgesetzt. Ein Hauptvorwurf33 lautet, daß in den Arbeitsausschüssen die Großindustrie dominiere und die 30 Vgl. zum nachfolgenden näher Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (205); ders., ZLR 1997,249 (256 f.). 3! Vgl. etwa Denninger; Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Normsetzung im Umwelt- und Technikrecht, 1990, Tz. 117, 127; Rönck, Technische Normen als Gestaltungsmittel des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1995, S. 214; nicht dagegen bei Führ; Wie souverän ist der Souverän?, 1995, S. 15. 32 Vgl. z. B. Ziff. 3.4 und 5 DIN 820 Teil 1 sowie Ziff. 2.3, 2.4 sowie 6 DIN 820 Teil 4, jeweils in: DIN-Normenheft JO (FN 2), S. 81 bzw. 331.

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Artikulierung von Minderheitsinteressen - namentlich des Verbraucher- und Umweltschutzes - nicht oder nicht ausreichend institutionell abgesichert sei. Richtig ist, daß die Legitimation privater Normgebung mit einer ausgewogenen - das Beurteilungsspektrum hinreichend wiedergebenden - personellen Zusammensetzung der Entscheidungsgremien steht und fällt. Auch das Konsensprinzip macht erst dann Sinn, wenn am "Runden Tisch" tatsächlich die, "die es angeht", vertreten sind. Die Verfahrensordnung des DIN enthält zu Recht den "Grundsatz, daß die interessierten Kreise" in den über 4000 Arbeitsausschüssen - also den entscheidenden Beschlußgremien - "in einem angemessenen Verhältnis vertreten,,34 sein müssen. Hier sind die - auf den Nutzen der Allgemeinheit gerichteten - Zielsetzungen des DIN zu berücksichtigen. Damit kann insbesondere Umwelt- und Verbraucherbelangen - je nach Normungsgegenstand - ein hinreichendes Gewicht verliehen werden. Namentlich erlaubt die "Richtlinie für Normenausschüsse" im Einzelfall auch die Einbeziehung von Vertretern von Umweltschutzverbänden, wie die Etablierung des bereits genannten Normenausschusses "Grundlagen des Umweltschutzes" durch das DIN dokumentiert. Hinzuweisen ist auch auf die "Koordinierungsstelle Umweltschutz" und den Verbraucherrat. Wichtig erscheint mir im übrigen die wettbewerbspolitische Balance innerhalb der Arbeitsausschüsse: Es darf keinen dominierenden Einfluß einzelner Unternehmen geben, der zu Marktverdrängungseffekten, zur Begründung marktbeherrschender Stellungen oder zu einer strukturellen Benachteiligung kleiner und mittlerer Unternehmen führt. Beim Streit um die personelle Zusammensetzung sieht die Verfahrensordnung des DIN die Möglichkeit vor, das Lenkungsgremium, die Geschäftsleitung und in letzter Instanz das Präsidium anzurufen. 35 Insgesamt ist hiermit dem Repräsentanz-Gebot genügt. Demgegenüber würde ein gesetzlicher Zwang zur Institutionalisierung von public interest groups - etwa im Sinne der sog. gesellschaftlich relevanten Gruppen - dem selbstregulativen Charakter privater Normgebung widersprechen und den sachspezifischen Anforderungen des jeweiligen Normungsprojekts nicht gerecht werden. Schließlich wird gerügt, daß die Jedermann-Mitwirkung nur auf dem Papier stehe, da insbesondere Umwelt- und Verbraucherschutzverbände den finanziellen Aufwand nicht treiben könnten, den die kritische Auseinandersetzung mit Normentwürfen und die Ausarbeitung von Alternativen verursachen. 36 So berechtigt das Anliegen einer auch tatsächlich effektiven Mitwirkung aller interessierten Kreise ist, so wenig läßt sich rechtlich ein Anspruch auf Aufwandsentschädigung für die Mitarbeit in Arbeitsausschüssen begründen. Abhilfe kann aber hier durch eine Bündelung der Eigeninitiative im Wege 33 Vgl. zur Kritik hier nur Voelzkow, DIN-Mitt. 1996, S. 193 (195 ff.); ders. (FN 4), S. 219 ff.; Führ (Fn. 31), S. 17 ff., 28 ff., 35 ff.; demgegenüber Korinek, DIN-Mitt. 75, 1996, Nr. 6, S. 436 ff. 34 Ziff. 3.4 Abs. 3 S. 1 DIN 820 Teil 1 (FN 2). 35 Ziff. 3.4 Abs. 3 S. 3 DIN 820 Teil 1 (FN 2). 36 VgI.Führ(FN31),S.30.

7 Kloepfer

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übergreifender, verbandlieh oder sonst organisierter Interessenvertretung geschaffen werden. 4. Die Finanzierung privater Normung: das Postulat dezentraler Mittelautbringung

Damit komme ich zur Finanzierung konkreter Normungsprojekte,37 die ein durchaus sensibles Problem privater Regelgebung darstellt. Es ist aber lösbar. Da auf die Selbstfinanzierung der Privaten - ihrerseits ein Stück selbstregulativer Eigenverantwortung - nicht verzichtet werden kann, muß ein Finanzierungskonzept gewählt werden, das auch nur den Anschein mißbräuchlicher Einflußnahme vermeidet. Hier möchte ich geradezu von einem Postulat dezentraler Mittelaufbringung sprechen, das strikt zu beachten ist. Die Verteilung der Finanzierung auf mehrere Schultern vermeidet Einflußmonopolisierung schon im Ansatz. Zugleich entspricht dies dem auf Allgemeinheit angelegten Prinzip der Normung. Die Bereitschaft der interessierten Unternehmen, Finanzierungsbeiträge zu übernehmen, indiziert überdies, daß tatsächlich ein Bedürfnis für das konkrete Normungsprojekt besteht, und ist damit ein wichtiges Korrektiv gegenüber ausufernder Normenflut - diesmal privater Provenienz.

VI. Die europäische Perspektive privater Normgebung Auf europäischer Ebene wird die Kritik noch lauter. 38 Ausgangspunkt ist hier die Funktion Europäischer Normen, die grundlegenden Anforderungen in EGRichtlinien im Rahmen der 1985 durch die Kommission eingeführten ,,Neuen Politik,,39 zu konkretisieren. Dem kommt um so größere Bedeutung zu, als diese Richtlinien normkonkretisierende gleitende Verweisungen mit Vermutungswirkung enthalten. 40 Der Unternehmer kann also im Prinzip davon ausgehen, daß er sich recht37 Zur Finanzierung der Facharbeit in den Normenausschüssen s. DIN Deutsches Institut für Normung e.V. (FN 26), S. 14. 38 Vgl. zur nachfolgend angesprochenen Kritik - mit unterschiedlichen Akzenten im einzelnen - Führ, Reform der europäischen Normungsverfahren, 1995, S. 53 ff.; Voelzkow (FN 4), S. 285 ff.; Rönck (FN 31), S. 170 ff., 194 ff., 215 ff.; Marburger/Enders. UTR 27 (1994),333 (364 ff.); ferner im Überblick die im Bericht des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung (19. Ausschuß) betr. Technikfolgenabschätzung, hier: ,.Möglichkeiten und Probleme bei der Verfolgung und Sicherung nationaler und EG-weiter Umweltschutzziele im Rahmen der europäischen Normung", BTDrcks. 13/6450, S. 51 ff., mitgeteilten Reformvorschläge. 39 Vgl. die Entschließung des Rates zur Einführung der ,,Neuen Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und der Normgebung" vom 7. 5. 1985, ABI. C Nr. 136 (vom 4.6. 1985), S. 1. 40 Vgl. etwa Di Fabio, Produktharmonisierung durch Normung und Selbstüberwachung, 1996, S. 22 ff.; U. Becker, in: FS f. Wlotzke, 1996, S. 445 (447 ff.); Schmidt-Preuß. VVDStRL 56 (1997),160 (207 ff.).

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mäßig verhält, wenn er - freiwillig - die DIN EN-Normen befolgt. Vor diesem Hintergrund werden dem CEN / CENELEC-Reglement zunächst unter Hinweis auf fehlende Partizipations möglichkeiten Demokratie- und Rechtsstaats-Defizite in besonderer Weise vorgehalten. Dem ist zu entgegnen, daß eine Legitimation von unten nach oben - also durch die nationalen Normungsorganisationen - ausreichend iSt. 41 Eine Mitwirkung von Umweltschutz- und Verbraucherschutzorganisationen unmittelbar auf der europäischen Ebene - etwa in den Technischen Büros - erscheint angesichts der Tatsache, daß die europäische Normung weitgehend von den nationalen Normungsorganisationen getragen wird, nicht geboten. Dies gilt um so mehr, als die verbandliche Interessenvertretung auf europäischer Ebene trotz bestehender Unterschiede von Branche zu Branche - einen entsprechenden Organisationsgrad noch nicht aufweist. Sinnvoll erscheint allerdings die Einrichtung einer "Koordinierungsstelle Umweltschutz" nach dem Vorbild des DIN - die soeben im CEN eingerichtete Arbeitsgruppe geht in diese Richtung. Im übrigen ist eine verstärkte systematische Einbeziehung von Umweltschutz- und Verbraucherbelangen in der europäischen Normung generell anzustreben. Nicht ratsam dagegen ist die Abordnung von Kommissionsvertretern in die Normungsgremien von CEN und CENELEC, weil damit der Rahmen selbstregulativer Normung gesprengt würde und im übrigen ohnehin nicht genügend personelle Ressourcen vorhanden wären. 42 Des weiteren ist am Prinzip nationaler Repräsentanz festzuhalten, da sie die derzeitige mitgliedstaatlich geprägte Struktur gemeinschaftsrechtlicher Willensbildung reflektiert. Bemerkenswert ist, daß gerade die kleinen und mittleren Unternehmen die derzeitige Praxis der "nationalen Bank" durchaus befürworten, weil sie ihre Interessen mangels organisatorischer Präsenz auf europäischer Ebene ansonsten nicht artikulieren könnten. Schließlich ist eine nachträgliche Konformitätskontrolle durch die Kommission unter Aspekten der gewünschten selbstregulativen Entlastung kontraproduktiv: Als Korrektiv reichen das Schutzklauselverfahren der Harmonisierungsrichtlinien und die Möglichkeit einer erneuten Mandatierung.

VII. Gesetzliche Regelung privater Normgebung - pro et contra 1. "Normung der Normung"

Die Frage bleibt: Empfiehlt es sich, Anforderungen an private Normgebung durch ein Gesetz zu regeln - gleichsam im Sinne einer Normung der Normung? Sicherlich ließe sich auf diese Weise ein Stück weit Klarheit schaffen, soweit derzeit die bestehende Normungspraxis in der Kontroverse steht und ihre Legitimation bestritten wird. Im übrigen ist auch bedenkens wert, daß Österreich mit dem "Bundesgesetz über Normenwesen" von 1971 43 diesen Weg beschritten hat - ein 41 42

7*

S. Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (209 f.). Vgl. hierzu auch - ebenfalls ablehnend - Di Fabio (FN 40), S. 108 f.

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sicher lehrreiches Beispiel. Ob es letztlich befolgt werden sollte, muß dennoch wohl überlegt sein. Insbesondere ist zu beachten, daß es nicht - bei aller guten Absicht - zu neuerlichen und unnötigen Reglementierungen kommt. In der Sache werden sich wohl ohnehin nur die rechtlichen Grundsätze fixieren lassen, die sich unter den Aspekten der Publizität, Transparenz, Repräsentanz und Revisibilität als Anforderungen an private Normgebung herauskristallisiert haben. Auf der anderen Seite bleibt abzuwarten, ob es gelingt, auch ohne gesetzliche Regelung die höchst aktuelle innovative Spielart der sog. "Entwicklungsbegleitenden Normung,,44 in den Griff zu kriegen und auch insoweit den reflexhaften demokratisch-rechtsstaatlichen Mindeststandards Geltung zu verschaffen. 2. Bisherige Ansätze

Der 1990 vorgelegte sog. Professoren-Entwurf für den Allgemeinen Teil eines Umweltgesetzbuchs hat in einem § 161 Regeln für die private Normung vorgeschlagen und ihr unter bestimmten Bedingungen eine Vermutungswirkung zuerkannt. 45 Die Voraussetzungen hierfür entsprechen zu einem guten Teil den oben genannten Eckwerten. Es fehlen allerdings - dies ist bemerkenswert - die rechtsstaatlichen Mindeststandards der Revisibilität, also der Eröffnung von Einwendungsmöglichkeiten und der Bereitstellung eines Schiedsverfahrens. Einen anderen konzeptionellen Weg beschreitet der Entwurf eines Umweltgesetzbuchs, den die Unabhängige Sachverständigenkommission beim Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit im Herbst 1997 vorgelegt hat. Danach soll Voraussetzung einer Vermutungswirkung technischer Regelwerke ihre amtliche Einführung sein (§§ 32, 33).46 Insoweit verlangt der Vorschlag in der Sache im wesentlichen die geschilderten Eckwerte - allerdings auch hier mit Ausnahme der Revisibilität. Es fällt auf, daß nach diesem Modell die Entfaltung positiver Funktionen technischer Regelwerke - anders als die selbstregulative Praxis im Rahmen steuernder Rezeption - von einer bislang nicht erforderlichen staatlichen Mitwirkung abhängen würde. Im politischen Raum hat die SPD am 13.11.1996 im Wirtschaftsausschuß des Deutschen Bundestages einen Entschließungsantrag eingebracht, der u. a. die "Schaffung eines europäischen Normungsgesetzes zur Definition der Spielregeln der Normungsarbeit" fordert, "um Demokratie- und Rechts43 Bundesgesetz vom 16. 6. 1971 über das Normenwesen (Normengesetz 1971), Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich (ausgegeben am 7. 7. 1971), S. 37. 44 S. hierzu das ..DIN-Memorandum zur Entwicklungsbegleitenden Normung (EBN)" vom 18. 1. 1996, abgedruckt in DIN-Mitt. 75, 1996, Nr. 9, S. 605 ff.; s. auch Schulte (FN 29), S. 181 f. 45 Kloepjer I Rehbinder ISchmidt-Aßmannl Kunig, Umweltgesetzbuch - Allgemeiner Teil-, 1990, mit Begründung zu § 161 des Entwurfs auf S. 482 f. 46 Vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Hrsg.), Umweltgesetzbuch (UGB-KomE), 1998, mit Begründung zu §§ 32, 33 auf S. 498 ff.; s. hierzu auch Sendler, UPR 1997, 381 (383), sowie KloepjerlDumer, DVBI. 1997,1081 (1086).

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staatsprinzipien im Bereich der Normung abzusichern".47 Im Wirtschaftsausschuß fand dieser Antrag allerdings keine Mehrheit. Vielmehr war eine Beschlußempfehlung der Koalitionsfraktionen erfolgreich, die am 12. 12. 1996 vom Plenum des Deutschen Bundestages angenommen wurde. Darin wird die Bundesregierung gebeten, sich bei der Kommission dafür einzusetzen, "daß in den europäischen Normungsgremien institutionelle Vorkehrungen - etwa in Form einer Koordinierungsstelle Umweltschutz - getroffen werden, um Umweltaspekte systematisch in europäischen Normen zu berücksichtigen".48 An dem Prinzip nationaler Repräsentanz und der Zielsetzung der "Selbstverwaltung und Freiwilligkeit" soll - wie ich meine: zu Recht - festgehalten werden.

VIII. Resümee

Private Normgebung ist - dies ist abschließend zu bilanzieren - allgegenwärtig und unverzichtbar. Sie dient unternehmerischen Interessen wie auch dem Gemeinwohl. Sie ist ein selbstregulativer Gestaltungsmodus, unterliegt aber ebenso der steuernden Zugriffsoption des letztverantwortlichen Staates. Sie hat fast quasi-normativen Charakter, sprengt aber doch nicht die Grenzen des Rechts.

47 Ziff. 1 des Entschließungsantrags, wiedergegeben in "Beschlußempfehlung und Bericht" des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) betr. "Mitteilung der Unterrichtung an den Rat und das Europäische Parlament über die stärkere Nutzung der Normung in der Gemeinschaftspolitik" KOM (95) 412 endg.; Ratsdok. 11300/95, BT-Drcks. 13/6365, S. 5. 48 Beschlußempfehlung und Bericht (FN 46), BT-Drcks. 13/6365, S. 2; hier auch das folgende Zitat.

2. Selbstverpflichtungen

Erscheinungsformen und ökonomische Aspekte von Selbstverpflichtungen Von Dieter Cansier

I. Merkmale von Selbstverpflichtung

Lange Zeit kreiste die umweltpolitische Diskussion in Deutschland um die Frage Ordnungsrecht oder ökonomische Instrumente, ohne daß sich Umweltabgaben und Umweltzertifikate durchsetzen konnten. Seit kurzem richtet sich nun das Interesse auf die freiwilligen Selbstverpflichtungen der Wirtschaft. Diese gibt es zwar als kleine Lösung in zahlreicher Form schon seit den 70er Jahren, sie sind aber mittlerweile zu Hauptinstrumenten der Abfall- und Klimaschutzpolitik geworden. Wenn sich Unternehmen selbst zu Umweltschutzmaßnahmen verpflichten, steht dahinter eine freiwillige Entscheidung. Umweltschutz soll privat organisiert werden. Die Beteiligten verfolgen damit bestimmte Interessen. Diese können darauf gerichtet sein, einen unternehmerischen Werbeeffekt zu erzielen. Dann ist Selbstverpflichtung ein Instrument des Marketing. Von einer umweltfreundlicheren Gestaltung der Produkte erhofft man sich Marktvorteile. In diese Kategorie von Selbstverpflichtung gehört beispielsweise das Öko-Audit. Meist werden aber mit Selbstverpflichtungen umweltpolitische Interessen verfolgt. Die Unternehmen - in der Regel vertreten durch ihre Verbände - wollen durch das Versprechen freiwilliger Umweltschutzmaßnahmen hoheitliche Maßnahmen abwehren, die sie stärker treffen würden. Privater Umweltschutz soll staatliche Umweltpolitik ersetzen. Diese Selbstverpflichtungen stehen im Kreuzfeuer der Kritik. 1 Weil die Verbände ihre zentrale Funktion darin sehen, ihren Mitgliedern im politischen Prozeß Sondervorteile zu verschaffen, droht eine Verwässerung der umweltpolitischen Ziele, so lautet der zentrale Einwand. Jedoch ist dieser Schluß einseitig, denn auch der Staat kann sich von diesem Instrument Vorteile gegenüber gesetzlichen Maßnahmen versprechen. Selbstverpflichtungen können als Kompromiß für alle Beteiligten die beste Lösung darstellen. Die Ökonomie betrachtet Selbstverpflichtungen dieses Typs als Ergebnis eines Tauschgeschäftes zwischen Wirtschaft und Regierung. Vorteile für den Staat können sein ein kostengünstigerer Umweltschutz, die Vermeidung der mit Abgaben 1 Vgl. K. Rennings/K. L. Brockmann/H. Bergmann, Selbstverpflichtungen im Umweltschutz: kein marktwirtschaftliches Instrument, GAlA 1996, 152 ff.

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verbundenen wirtschafts- und finanzpolitischen Komplikationen (gesamtwirtschaftliches Stabilitätsrisiko durch Doppelbelastung der Wirtschaft, Änderungen des Steuersystems und der Finanzverfassung), Einsparungen an Zeit und Kosten und mehr Sicherheit durch Ausschaltung langwieriger Genehmigungsverfahren sowie Zeitgewinne durch schnellere Erreichung von Umweltverbesserungen. Die Wirtschaft profitiert ebenfalls vom Wegfall des staatlichen Vollzuges, und sie besitzt größere Handlungsfreiheit als bei Auflagen, die sie für kostensenkende Maßnahmen nutzen kann. Sie erhofft sich außerdem Erleichterungen beim Umweltschutz, und zwar insbesondere durch Verlagerung von Lasten auf andere - nicht / schwächer organisierte - Wirtschaftsgruppen (insbesondere Kleinverbraucher und Haushalte). Das Verhandlungsergebnis hängt wesentlich von der Macht ab, die jede Seite auszuüben vermag. Diese Macht äußert sich in Drohpotentialen. Die Wirtschaft kann mit Entlassungen und Standortverlagerungen ins Ausland drohen. Der Staat kann schärfere hoheitliche Maßnahmen oder den Entzug von Subventionen als Sanktionen ankündigen. Wenn er standfest bleibt, vermag er seine Zielvorstellungen durchzusetzen und das Streben der Wirtschaftsverbände nach Sondervorteilen abzublocken. Ein Konsensbereich für volkswirtschaftlich effizienten Umweltschutz besteht prinzipell, denn für beide Seiten können freiwillige Lösungen kostengünstiger als gesetzliche Maßnahmen sein. Nach dem Grad der staatlichen Sanktionsmöglichkeiten lassen sich drei Typen von Selbstverpfllichtungen unterscheiden: • Absprachen, d. h. rechtlich nicht bindende Erklärungen der Wirtschaft, über die mit der Regierung ein gewisses Einvernehmen hergestellt wird: Die Unternehmen sagen bestimmte Umweltschutzmaßnahmen zu, die sie innerhalb einer gewissen Frist realisieren wollen. Die Regierung verspricht im Gegenzug, auf hoheitliche Maßnahmen zu verzichten. Für den Fall der Nichteinhaltung kündigt sie gesetzliche Maßnahmen an. Es besteht Einvernehmen über die ökologischen Zielwerte. Die Ziele sollten quantitativ formuliert sein. Außerdem sollte ein Berichtssystem vereinbart werden, das zusammen mit den vorgegebenen quantitativen Zielwerten die Überprüfung der Zieleinhaltung gewährleistet. Die Berichterstattung sollte ein Treuhänder übernehmen.

Der Staat besitzt bei Absprachen nur relativ schwache Druckmittel. Sanktionen werden für den Fall des Scheiterns nur vage angekündigt. Ob die Regierung später tatsächlich initiativ wird, oder ob es ihr gelingt, sich politisch durchzusetzen, ist durchaus fraglich. Diesem Typ entsprechen die Selbstverpflichtungen im Klimaschutz. • Vertragliche Selbstverpflichtungen (Vereinbarungen): Es werden Verträge über Umweltschutzmaßnahmen zwischen Regierung und Verbänden oder einzelnen Unternehmen abgeschlossen (holländisches und japanisches Beispiel). Die Verträge sind rechtsverbindlich. Bei Nichterfüllung greifen vertragliche und zivilrechtliche Sanktionen. Ob diese immer genügend abschreckend wirken, hängt

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davon ab, was für die Unternehmen auf dem Spiel steht. Haftungsansprüche oder Konventionalstrafen müßten so bemessen sein, daß sie die durch Vertragsverletzung vermiedenen Umweltschutzkosten deutlich übersteigen. • Umweltrechtlich jlankierte Selbstverpjlichtungen: Der Gesetzgeber schreibt Auflagen oder andere hoheitliche Maßnahmen vor, läßt der Wirtschaft aber die Option zur Selbstorganisation des Umweltschutzes. Die Unternehmen können sich von den hoheitlichen Maßnahmen freistellen lassen, wenn sie eine ökologisch gleichwertige Verbundlösung einführen. Bei Verletzung der Selbstverpflichtung wird die Freistellung aufgehoben. Die Sanktionen sind konkret geregelt und erfolgen "automatisch". Es steht von vornherein fest, daß die Freistellung bei Nichterfüllung entfällt. Die Wirtschaft muß mit hoher Wahrscheinlichkeit mit den für sie unerwünschten schärferen hoheitlichen Maßnahmen rechnen. Die Einhaltung der Versprechungen erscheint gesichert. Ein Beispiel für diesen Typ liefert die Verpackungsverordnung.

11. Volkswirtschaftliche Beurteilungskriterien

Die Selbstverpflichtungen des Verhandlungstyps sind Ersatz für öffentliche Auflagen oder Abgaben (oder Zertifikate und Umwelthaftung). Deshalb müssen sie an diesen Instrumenten gemessen werden. Ob sie geeignet sind, vergleichbare Wirkungen zu erzielen, hängt nicht nur von der Einstellung des Verbandes und den Druckmitteln des Staates, sondern entscheidend auch davon ab, ob es den Verbänden gelingt, das Freifahrerverhalten von Unternehmen zu unterbinden. Wer sich nicht an die Verbandslinie hält und Umweltschutzmaßnahmen unterläßt, mag die Vorstellung haben, von den Vorteilen der Selbstverpflichtung - der Verhinderung härterer hoheitlicher Maßnahmen - zu profitieren, ohne selbst dafür Kosten aufwenden zu müssen. Die Lasten für die anderen Emittenten erhöhen sich dadurch und mindern deren Vorteile, so daß zugleich ihre Kooperationsbereitschaft abnimmt. Auch sie können veranlaßt werden, ihre Zusagen weniger ernst zu nehmen. Bei allgemeiner Verbreitung der Trittbrettmentalität scheitert die private Selbstorganisation vollends. Dann bleiben als Mittel nur vertragliche Vereinbarungen zwischen Regierung und Unternehmen oder - wenn dieser Ansatz nicht praktikabel ist - hoheitliche Maßnahmen. Die Freifahrermentalität bildet sich in kleinen Gruppen seltener heraus als in großen. Sie bedingt nämlich, daß der einzelne nicht glaubt, durch sein Verhalten ein Scheitern der Selbstorganisation auszulösen, er sich also als zu unbedeutend einschätzt, um das Gesamtergebnis beeinflussen zu können. Das Freifahrerproblem stellt sich deshalb in erster Linie bei Umweltphänomenen mit vielen Emittenten. Mögliche Sanktionen können ein Verbandsausschluß oder das Entziehen von Vorteilen aus der Verbandsmitgliedschaft (z. B. Datenbankdienste) sein. Gegen verbandsfremde Unternehmen hat eine Organisation nur selten wirksame Mittel in der Hand.

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Bei dem für die Beurteilung der Selbstverpflichtungen notwendigen Vergleich mit den hoheitlichen Instrumenten taucht eine Grundschwierigkeit auf. Welche Ausgestaltungsform gesetzlicher Maßnahmen soll als Referenz dienen? Selbstverpflichtungen sind Lösungen der politischen Praxis. Es wäre nicht adäquat, sie mit den reinen Instrumenten der Theorie zu vergleichen, denn diese lassen sich erfahrungsgemäß nicht in dieser Form umsetzen. Das zeigen die Beispiele der deutschen Abwasserabgabe, der CO r / Energieabgaben in den skandinavischen Ländern und des SOrZertifikatesystems in den USA. Man müßte wissen, wie politisch durchsetzbare hoheitliche Maßnahmen in konkreten Anwendungsfallen im Vergleich zu Selbstverpflichtungen aussehen würden. Bei der Regelung im Abfallrecht kennt man die Alternative (individuelle Rücknahmepflichten), bei den Erklärungen der Industrie zum Klimaschutz dagegen ist offen, wie eine Klimaschutzabgabe ausgestaltet gewesen oder ob sie überhaupt eingeführt worden wäre. Auch bei vertraglichen Selbstverpflichtungen ist unbekannt, welche Maßnahme sonst durchgesetzt worden wäre. Bei der Beurteilung der Selbstverpflichtungen hat man deshalb häufig keinen festen Boden unter den Füßen. Hier soll daher nur auf gewisse allgemeine Merkmale eingegangen und eine Beurteilung anhand der gängigen umweltökonomischen Kriterien vorgenommen werden. • KosteneJfizienz: Selbstverpflichtungen von Wirtschaftsgruppen lassen Verbundlösungen zwischen den Emittenten zu. Die Wirtschaft kann sich frei entscheiden, wo und wie sie die Emissionsreduktionen vornehmen will. Sie kann diejenige Aufteilung wählen, bei der die Kosten am geringsten sind. Inwieweit dieser Vorteil tatsächlich zum Tragen kommt, hängt davon ab, welche Umweltschutzregeln im Innenverhältnis angewendet werden. Wenn einheitliche Emissionsminderungen vorgesehen sind, wird nur ein "Auflagensystem mit anderen Mitteln" praktiziert, das relativ ineffizient ist. Günstig wäre die Anwendung von Abgaben- oder Zertifikatslösungen. Diese erfordern allerdings einen höheren Grad an Konsensbildung und Selbstorganisation. • Allgemeinheit: Selbstverpflichtungen erfassen nur einen Ausschnitt der Emittenten, nämlich die einem Verband angehörenden Unternehmen oder einzelne Großemittenten. Der Zugriff ist eher sektoral. Das fördert Ineffizienzen und Ungerechtigkeiten. Entweder bleiben andere Verursachergruppen vom Umweltschutz verschont, oder es werden für diese Bereiche hoheitliche Maßnahmen mit anderen Belastungswirkungen eingesetzt. Dadurch werden Ungleichmäßigkeiten in der Behandlung hervorgerufen. Abgaben und Auflagen erfassen die Emittenten allgemeiner, weil sie als gesetzliche Regelung auf Allgemeinheit angelegt sind.

Dieser Effizienznachteil von Selbstverpflichtungen fällt um so weniger ins Gewicht, je mehr Verbände sich einer Selbstverpflichtung anschließen bzw. je umfassender der relevante Emittentenkreis durch einige wenige Verbände erfaßt wird und je höher hier der Organisationsgrad ist. Die Regierung will - wenn sie Selbstverpflichtungen zustimmt - eine bestimmte Umweltschutzaufgabe auf

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diese Weise erfüllt sehen. Sie wird deshalb Selbstverpflichtungen nur tolerieren, wenn sie geeignet sind, dieses Ziel zu erreichen. Dazu wird im allgemeinen ein breiter Zugriff auf die Emittenten erforderlich sein. Deshalb hat es die Regierung mit ihrem Plazet zu einer Selbstverpflichtung in der Hand, den Effizienznachteil aus der mangelnden Allgemeinheit in Grenzen zu halten. • Sicherheit der ökologischen Zielerreichung: Ein besonderes ökologisches Unsicherheitsmoment besteht im wesentlichen nur bei Absprachen. Allerdings müssen die Unterschiede gegenüber hoheitlichen Instrumenten nicht gravierend sein, wenn der Staat über starke Druckmittel verfügt und die Wirtschaft in Selbstverpflichtungen große Vorteile für sich sieht, die sie bei Nichterfüllung aufs Spiel setzt. Zu bedenken ist außerdem, daß auch hoheitliche Instrumente Mängel aufweisen. Bei Auflagen beobachtet man häufig erhebliche Vollzugsdefizite. Bis zum endgültigen Vollzug können bei Ausschöpfung des ganzen Rechtsweges durch ein Unternehmen Jahre vergehen. Bei Abgaben ist unsicher, wie schnell und stark sich die Wirtschaft anpaßt. • Angemessenheit des ökologischen Zielniveaus: Das Tauschgeschäft mit der Wirtschaft geht möglicherweise zu Lasten des Umweltschutzes. Selbstverpflichtungen seien häufig nur Selbstbestätigungen der Wirtschaft, so lautet der zentrale Einwand. Die Unternehmen würden nicht mehr Umweltschutz zusagen, als sie ohnehin einplanen (business as usual-Pfad). Diese Kritik richtet sich im Kern gegen das Kooperationsprinzip in der deutschen Umweltpolitik und nicht gegen Selbstverpflichtungen. Umweltprogramme kommen nicht durch einsame Entscheidungen einer weisen Regierung zustande, sondern durchlaufen einen politischen Prozeß mit starker Einflußnahme der Verbände. Am Ende dieses Prozesses macht die Regierung möglicherweise Abstriche von ihren ursprünglichen Zielen. Das ändert aber nichts daran, daß der Staat es grundsätzlich in der Hand hat, seine Zielvorstellungen durchzusetzen.

Diese politischen Komplikationen stellen kein Spezifikum der Selbstverpflichtungen dar. Auch eventuelle Verschärfungen des Ordnungsrechtes oder die Einführung neuer ökonomischer Instrumente schaffen Konflikte, die möglicherweise zu einer Aufweichung originärer Zielvorstellungen führen. Um Selbstverpflichtungen in dieser Hinsicht richtig beurteilen zu können, müßte man wissen, welche Zielwerte mit dem alternativen Instrument hätten realisiert werden können. Das weiß man selten. Einiges spricht auch dafür, daß mit Selbstverpflichtungen eher höhere ökologische Ziele oder gleiche Ziele schneller erreichbar sind, weil die Wirtschaft dieses Instrument favorisiert und sich deshalb Umweltschutz auf diese Weise leichter politisch durchsetzen läßt. • Ordnungspolitische Bedenken: Aus ordnungspolitischer Sicht soll der Staat die Rahmenbedingungen für einen funktionierenden Wettbewerb festlegen und nicht direkt Preise und Mengen festsetzen. Die Wirtschaftsabläufe sind im einzelnen in ihren konkreten Ergebnissen nicht überschaubar und deshalb auch nicht sinnvoll steuerbar (Wettbewerb als Entdeckungsverfahren). Aber der Rah-

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men darf auch nicht so eng gezogen sein, daß faktisch kaum noch individuelle Handlungsfreiheit besteht. Wichtige Wettbewerbsaspekte von Selbstverpflichtungen sind: 1) Der Staat greift nicht direkt in das Wirtschaftsgeschehen ein. Deshalb ist sein Verhalten hier durchaus marktkonform. 2) Ein funktionierender Wettbewerb setzt freien Marktzutritt voraus. Bei Selbstverpflichtungen kann prinzipiell jeder Anbieter neu auf den Markt treten, ob er sich einer verbandsmäßigen Selbstverpflichtung anschließt oder nicht. Wenn dies nicht der Fall ist und er auch ansonsten keinen freiwilligen Umweltschutz betreibt, verhält er sich als Freifahrer. Er ist damit in der gleichen Position wie nichtorganisierte etablierte Firmen, die aus dem Regelungsbereich herausfallen. Möglicherweise wird er genauso wie diese vom Verband boykottiert (um zur Teilnahme am System veranlaßt zu werden) und hat dann Schwierigkeiten, auf dem Markt Fuß zu fassen. Tatsächlich muß man dies jedoch nicht als wettbewerbspolitisch bedenklich ansehen, denn die Newcomer haben genauso wie etablierte Freifahrer die Möglichkeit, sich der Selbstverpflichtung anzuschließen. 3) Die Einigung auf gemeinsame Umweltanstrengungen im Verband fördert zwischen den Mitgliedern ein abgestimmtes preispolitisches Verhalten. Um die zusätzlichen Kosten zu überwälzen, möchte man die Preise gleichmäßig anheben. Die Folge sind überhöhte Preise und die Verminderung der Anreize zu Kostensenkungen und Innovationen. Zwischen Kooperation und Wettbewerb besteht ein Grundkonflikt.

III. Empirische Beispiele 1. Vertragliche Regelungen

Die niederländischen Vereinbarungen lassen sich durch folgende Grundzüge charakterisieren: 2 Die Initiative geht von der Regierung aus. Im Rahmen des sog. target group approach werden mit Zielgruppen (Branchen, Großemittenten) Verhandlungen aufgenommen. Basis für die Selbstverpflichtungen sind klare zeitliche und quantitative Zielvorgaben durch den Staat zur Reduzierung verschiedener Umweltbelastungen, die sich aus dem langfristigen Umweltplan und den Klimaschutzzielen der niederländischen Regierung ergeben. Bis jetzt sind Umweltziele für 16 Industriezweige in Absichtserklärungen niedergelegt. Daran sind rd. 12.000 Unternehmen beteiligt, auf die über 90% der Verschrnutzung durch Industriebetriebe in den Niederlanden entfallen. Im Klimaschutz gibt es seit 1992 Vereinbarungen über die Steigerung der Energieeffizienz im industriellen Sektor. Mehr als 90% des industriellen Primärenergieverbrauchs werden nach dem Stand von 1996 durch diese Long Term Agreements on Energy Efficiency erfaßt. 3 2 Vgl. J. M. van Dunne (Hrsg.), Environmental Contracts and Covenants: New Instruments for a Realistic Environmental Policy?, 1993. 3 Vgl. OECD, Annex I Expert Group on the UN FCCC, Working Paper 8, Demand Side Efficiency: Voluntary Agreements with Industry, Dezember 1996, insbes. S. 61 ff.

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Die Selbstverpflichtungen werden auf zivilrechtlicher Basis zwischen dem Wirtschaftsministerium und den verschiedenen Branchen geregelt. Die Vereinbarungen (covenants) legen Pflichten für beide Seiten fest, staatlicherseits insbesondere den Verzicht auf weitere Regulierungen und die Zusage finanzieller Unterstützungen für Umweltinvestitionen zur Erfüllung der Verpflichtung, seitens der Branchen die Entwicklung von Umweltplänen und ihre Erfüllung sowie die regelmäßige Bereitstellung von Informationen, die eine Kontrolle der Umweltschutzsanstrengungen erlauben. Drohpotential des Regulierers sind der Entzug des Vertrauens, Konventionalstrafen und zivilrechtliche Haftungsansprüche. Die Umweltprotokolle werden seitens der Branchen von dem jeweiligen Industrieverband und den einzelnen Unternehmen unterschrieben. Dadurch wird einem Freifahrerverhalten wirksam begegnet. Im Falle des Rheincontracts hat die Stadt Rotterdam bspw. 13 Einleiter als Hauptschädiger identifiziert und mit 5 Parteien verhandelt. Eine davon war der deutsche Verband der Chemischen Industrie. Dieser vertritt insgesamt 400 Unternehmen, die Schadstoffe in den Rhein einleiten. Da die Stadt Rotterdam gegen jeden einzelnen Einleiter Haftungsansprüche geltend machen könnte, lastet letztlich ein unmittelbarer Druck auf jedem Emittenten, seinen Beitrag zur Erfüllung der Umweltziele des Verbandes zu leisten. Bei den Vereinbarungen über die Steigerung der Klimaeffizienz erklären sich die einzelnen Unternehmen bereit, nach den "praktischen und ökonomischen Möglichkeiten" zur Erreichung des Umweltzieles des Verbandes beizutragen. Sie müssen Energiesparpläne aufstellen und jährlich Bericht erstatten. Wird dieses unterlassen, kann die Vereinbarung mit dem betreffenden Unternehmen aufgelöst werden, so daß dann die gesetzlichen Regulierungen greifen. Die Umweltprotokolle enthalten Regelungen zur vorzeitigen Kündigung der Vereinbarung durch beide Parteien, wodurch eine gewisse Flexibilität gewahrt wird. Flexibilität ist ein wichtiger Aspekt bei Umweltverträgen, da sie langfristig geschlossen werden (Laufzeiten von 20 Jahren). In Japan bilden Umweltschutzvereinbarungen zwischen einzelnen Unternehmen und Kommunen oder Präfekturen das charakteristische dezentrale Element der Umweltpolitik. 4 Zusammen mit kommunalen Verordnungen bilden sie ein wichtiges Gegengewicht gegen die grundsätzlich zentralstaatliche Organisation des japanischen Umweltschutzes. Sie sind Ausdruck einer Umweltpolitik von unten, die Mängel und Lücken der zentralstaatlichen Umweltschutzgesetzgebung nach den Bedürfnissen vor Ort auszugleichen oder zu ,ergänzen versucht. Die vereinbarten Emissionsgrenzwerte sind regelmäßig schärfer als die der zentralstaatlichen Regelungen. Die Vereinbarungen beziehen sich hauptsächlich auf den Gewässerschutz. Für die Gemeinden und Präfekturen gibt es mehrere Gründe, diesen Weg zu wählen. Da strittig ist, inwieweit sie überhaupt ein Recht zum Erlaß von Verordnungen haben, stellen Vereinbarungen für sie einen konfliktfreien Ausweg dar, ört4

Vgl. H. Weidner, Basiselemente einer erfolgreichen Umweltpolitik, 1996, S. 245 ff.

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liehe Umweltpolitik zu betreiben. Außerdem werden langwierige Entscheidungsverfahren bei der Aufstellung und Abänderung von Verordnungen umgangen. Schließlich lassen sich auf diese Weise Lösungen erreichen, die auf den jeweiligen Einzelfall, insbesondere die örtliche Umweltsituation, die Interessenlage der unmittelbaren Nachbarn und die wirtschaftlichen und technischen Möglichkeiten des Verschmutzers, bezogen sind. Dadurch kann auch der Situation kleiner und mittelgroßer Unternehmen besser Rechnung getragen werden. Aus der Sicht der Unternehmen scheint zunächst wenig für den Abschluß von Vereinbarungen zu sprechen, da sie Verpflichtungen übernehmen müssen, die oft weitaus strenger sind als die gesetzlichen Anforderungen. Handfeste Vorteile sind aber die staatliche Zurverfügungstellung von - in Japan sehr knappen - Grundstükken und Erleichterungen beim Vollzug von Auflagen. Die Gemeinden und Präfekturen sind für die Genehmigung von Anlagen zuständig. Sie haben die Möglichkeit, das betreffende Unternehmen bei Neugenehmigungsanträgen unter Druck zu setzen, indem sie günstige Entscheidungen an den vorherigen Abschluß einer Vereinbarung koppeln. Starke Sanktionsmittel wie die vorübergehende Schließung des Betriebes bei Vertragsverletzungen, Rücktrittsrecht vom Kauf- oder Pachtvertrag und Veröffentlichung der Einzelheiten der Vertragsverletzung - eine wegen der Anprangerungswirkung in Japan besonders effektive Sanktion - sorgen dafür, daß die Verträge im allgemeinen eingehalten werden. 2. Selbstverpflichtung "Grüner Punkt"S

Die Bundesregierung hatte zunächst beim Versuch der Realisierung ihrer Ziel vorgaben für die Vermeidung, Verringerung und Verwertung von Abfällen auf bloße Absprachen mit der Wirtschaft gesetzt. Die Erfahrungen waren jedoch negativ. Erst durch die konkrete Androhung individueller Rücknahme- und Verwertungspflichten konnten Hersteller und Vertreiber von Verpackungen wirksam zu eigenverantwortlichem Handeln bewegt werden. In diesem Sinne wurde im Abfallrecht mit den § 14 Abs. 2 Satz 1 AbfG bzw. § 25 Abs. 2 KrW-/ AbfG ein Kooperationsrahmen zur Durchführung von Selbstverpflichtungen rechtlich verankert. Die Selbstverpflichtungen in der Abfallpolitik sind eingebunden in Rechtsverordnungen. Regelinstrument der Verpackungsverordnung ist die individuelle Rücknahmeund Verwertungspflicht. Für Verkaufsverpackungen wird eine Freistellung von der Rücknahmepflicht eingeräumt, sofern Hersteller und Vertreiber eine freiwillige Verbundlösung für die Sammlung und Verwertung aufbauen, die den Zielen der Verpackungsordnung gerecht wird. Das System muß flächendeckend und endverS Vgl. T. Emslander; Das duale Entsorgungssystem für Verpackungsabfall, 1995; Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, Abfallwirtschaft Sondergutachten, 1990.

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brauchernah mit regelmäßiger Abfuhr der gebrauchten Verkaufsverpackungen sein und die im einzelnen genannten Erfassungs-, Sortier- und Verwertungsquoten erfüllen. Sind die Voraussetzungen gegeben, erfolgt die sogenannte Freistellungserklärung, mit der Hersteller und Vertreiber in dem jeweiligen Bundesland von den Rücknahme- und Verwertungspflichten befreit sind. Die Freistellung ist widerrufbar, wenn die Sammel- und Verwertungsquoten nicht eingehalten werden. Die Wirtschaft hat sich mit dem DSD für das freiwillige System entschieden. 6 Hersteller und Vertreiber der Verpackungen sehen in dem kollektiven Verwertungssystem offensichtlich wesentliche Kostenvorteile gegenüber der individuellen Lösung. Eine ähnliche Konstruktion enthält die Altauto-Verordnung (und der Entwurf zur Elektronikschrott-Verordnung). Die Letztbenutzer sind zur Rückgabe verpflichtet. Die Automobilindustrie hat versprochen, ein Rücknahmesystem aufzubauen und Verwertungsanstrengungen zu unternehmen, die den Vorstellungen der Bundesregierung entsprechen. Bei Nichterfüllung dieser Selbstverpflichtung wird die individuelle Rücknahmepflicht eingeführt. Diese Regelung rekurriert zwar nicht auf die Rücknahmepflicht, dürfte aber kaum weniger wirksam sein, denn die Rückgabepflicht setzt die tatsächliche Rücknahmemöglichkeit voraus, und wenn diese nicht in der wünschenswerten Weise existiert, muß der Staat eingreifen. Mit der gesetzlichen Einbindung der Selbstverpflichtung und der Benennung konkreter quantitativer Ziele erscheint die Funktionsfähigkeit des Systems gesichert. Der Grüne Punkt erfüllt die abfallpolitischen Ziele. Gleiches ist für die anderen Verordnungen zu erwarten. Die Regelungen enthalten wirksame Sanktionsmechanismen. Die Wirtschaft weiß genau, was auf sie bei Nichteinhaltung der Selbstverpflichtung zukommt und welche Vorteile sie einbüßt. Deshalb ist auch der Disziplinierungsdruck auf Schwarzfahrer groß. Das größte Interesse am Funktionieren des Dualen Systems hat der Handel, da er am stärksten von einer Aufhebung der Befreiung von der Rücknahmeverpflichtung betroffen wäre. Die großen Handelsunternehmen nutzten ihre starke Marktstellung gegenüber der verpackenden Industrie, um diese zur Beteiligung am DSD zu bewegen. Dies geschah dadurch, daß 6 Die Gesellschaft für Abfallvenneidung und Sekundärrohstoffgewinnung mbH (DSD GmbH) wurde im September 1990, also vor Inkrafttreten der Verpackungsverordnung, gegründet. Sie hat für jede Gebietskörperschaft einen kommunalen oder privaten Entsorgungsbetrieb beauftragt, der die Verpackungsabfälle haushaltsnah in Hol- und Bringsystemen erfaßt, nach Wertstofffraktionen sortiert und zur Verwertung bereitstellt. Die Entsorgungsverträge haben Laufzeiten von 10 Jahren. Die DSD finanziert die Sammlung und Sortierung der Abfalle ausschließlich mit den Lizenzgebühren aus den Zeichennutzungsverträgen für den "Grünen Punkt". Die Gebühren bemessen sich nach dem Volumen und der Art der jeweiligen Verpackung. Lizenznehmer sind im wesentlichen Konsumgüterhersteller, deren Verpackungen (stofflich) verwertet werden können. Die Abnahme und Verwertung wird von branchenumfassenden Verwertungsgesellschaften übernommen, wie sie sich aus den Herstellern der jeweiligen Verpackungsmaterialien (Glas, Papier, Weißblech, Aluminium, Kartonverbund und Kunststoff) rekrutieren. Die Verwertungskosten werden grundSätzlich nicht durch die Lizenzentgelte gedeckt. Im Bereich der Kunststoffverpackungsabfälle erstattet die DSD aber rund ein Drittel der Verwertungskosten.

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sich der Handel verpflichtete. sein Sortiment auf Grüne Punkt-Ware umzustellen und nichtlizenzierte Produkte aus seinem Sortiment zu streichen. Durch die Androhung der "Auslistung" sind die Zwänge für in- und ausländische Anbieter groß. dem DSD beizutreten. Dennoch scheint der Ausschluß nicht befriedigend zu funktionieren. Einzelne Handelsunternehmen drohen damit. aus dem DSD auszutreten und ihr eigenes Rücknahme-und Verwertungssystem aufzubauen. wenn es nicht gelingt. Freifahrer auszuschalten. Eine Verwässerung der abfallpolitischen Ziele ist durch den Grünen Punkt nicht eingetreten. vielmehr beobachtet man eine Verschärfung. Die originären Zielvorgaben der Bundesregierung für die Verwertung lagen bei 1.55 Mio t für Glas und 0.3 Mio t für Weißblech. was bezogen auf den Verpackungsanfall Quoten von 49% bzw. 28.6% entspricht. Für Kunststoffverpackungen wurden gar keine Quoten vorgegeben. sondern Kennzeichnungen angestrebt. Die Verpackungsverordnung sieht in zwei Stufen zunächst 42% für Glas- und 26% für Weißblechverwertung sowie einheitlich 72% in der zweiten Stufe vor. Außerdem wurden Kunststoffverpackungen und andere Abfallfraktionen (Aluminium. Papier. Verbundstoffe) in die Bequotung einbezogen. Das Duale System mit der DSD GmbH stellt eine monopolartige Verbundlösung für Sammlung von Verpackungen dar. Dadurch wird Wettbewerb ausgeschaltet und gehen Anreize zu Kostensenkungen und Innovationen verloren. Bei individueller Rücknahmepflicht hätte jeder Hersteller und Vertreiber selbständig Entsorgungsund Verwertungsbetriebe beauftragen müssen. Die Einsammlung der Abfallstoffe hätte von kleineren Firmen vorgenommen werden können. Man hätte zwar Wettbewerb. aber die Kosten wären höher. weil mit Hilfe größerer Betriebseinheiten Kostenvorteile erzielbar sind. Die Bundesregierung hat den Skalenvorteil höher bewertet. Der Wettbewerbsnachteil des DSD relativiert sich dadurch. daß andere Mechanismen des Systems einen Druck zu Kostensenkungen ausüben. Die verpackende Industrie als Lizenznehmer hat selbst ein Interesse an niedrigen Gebühren und damit auch an niedrigen Sammel- und Sortierkosten. denn die Gebühren verteuern die Konsumgüter und wirken sich absatzmindernd aus. Im Unterschied zu einem staatlich genehmigten Monopol unterliegt die Gebührenordnung der DSD GmbH keiner staatlichen Preisaufsicht. Es obliegt dem Kräfteverhältnis im Aufsichtsrat. zwischen Packmittelherstellern. Abfüllern und Vertreibern ihr Interesse an geringen Gebühren gegen die Vertreter der Entsorgungswirtschaft durchzusetzen. Bei der Auslistung nichtlizenzierter Produkte agiert der Handel zwar wie ein Kartell. die Maßnahme dient aber der Durchsetzung des Umweltschutzes und nicht der monopolistischen Marktausbeutung durch abgestimmte Erhöhung der Preise. was ein Verstoß gegen § 25 GWB wäre. Auch ist darin keine Diskriminierung von Importen zu sehen. Für Importe ohne Grünen Punkt wäre zwar der Marktzutritt stark beeinträchtigt. jedoch trifft diese Auslistung alle Freifahrer. auch die inländischen. Außerdem steht es den ausländischen Anbietern frei. dem Grünen Punkt beizutreten. Schließlich wären die Importe auch bei Rücknahmepflichten betroffen. weil die Importeure die Verpackungen zurücknehmen müßten.

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Wettbewerbsprobleme sind dagegen auf der Verwertungsebene im Bereich der Kunststoffverpackung aufgetreten. Die Verwertungsgesellschaft (DKR) hat Verwertungsverträge mit Entsorgungsunternehmen abgeschlossen, die in ihrem eigenen Aufsichtsrat mit 5 von 8 Mitgliedern vertreten waren (Selbstkontrahierung). Dadurch drohte eine Monopolisierung des Angebots auf dem Sekundärrohstoffmarkt, der es den Gesellschaftern der DKR erlaubt hätte, durch überhöhte Preise Monopolrenten abzuschöpfen. Das Bundeskartellamt hat die Gesellschaft abgemahnt. Daraufhin haben sich die Entsorger aus der DKR zurückgezogen und ihre Anteile von 50% verkauft. Das Bundeskartellamt hat diesen Rückzug als Kompromiß akzeptiert. 3. Selbstverpflichtungen im Klimaschutz

Die Industrie hat erstmals im März 1995 und zuletzt - mit Präzisierungen und Erweiterungen - im März 1996 freiwillig Verminderungen ihrer COrEmissionen zugesagt. 7 Die Regierung hat im Gegenzug erklärt, daß sie bei Erfüllung der Selbstverpflichtungen auf die Erhebung einer CO r / Energiesteuer verzichten wird. Eine vertragliche Regelung wie in den Niederlanden ist nicht ins Auge gefaßt worden. Insgesamt 19 Verbände, die fast 4/5 des industriellen Endenergieverbrauchs und über 99% der öffentlichen Stromversorgung abdecken, versprechen, ihre spezifIschen COrEmissionen bzw. den spezifIschen Energieverbrauch bis zum Jahr 2005 um 20% gegenüber dem Jahr 1990 zu senken. 12 Verbände sagen außerdem eine absolute Minderung der CO 2-Emissionen zu. Eine neutrale Instanz soll laufend über die Einhaltung des Zeitpfades der Minderungen berichten. Diese Selbstverpflichtungen stehen am Ende einer langen Diskussion um die Einführung einer Klimaschutzsteuer in der Bundesrepublik. Auch innerhalb der EU konnte man sich auf keine CO r / Energiesteuer verständigen. Ebenso ist es weder in den USA und Japan noch in anderen weltwirtschaftlich wichtigen Ländern zur Einführung einer solchen Steuer gekommen, obwohl sich die Mitgliedsländer der Vereinten Nationen auf der Konferenz über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro (1992) zum Klimaschutz verpflichtet hatten. Die Bundesregierung hat das gesamtwirtschaftliche Risiko eines nationalen Alleinganges in der Abgabenpolitik hoch bewertet. Sie entschied sich deshalb gegen dieses Instrument und für die Selbstverpflichtung. Die Industrie verspricht sich gegenüber Abgaben Kostenvorteile: Bei einer Abgabe wären auf sie nicht nur Kosten für Energiesparmaßnahmen zugekommen, sondern es hätte sich auch der Verbrauch des verbleibenden Energieverbrauchs verteuert. Es wäre also zu einer Doppelbelastung gekommen. Dies wird bei Selbstverpflichtung vermieden. Es fallen nur die tatsächlich für den Klimaschutz aufgewendeten Kosten an. Die Doppelbelastung hätte zwar durch Rückführung der 7 Vgl. Bundesverband der Deutschen Industrie e. V., Aktualisierte Erklärung der deutschen Wirtschaft zur Klimavorsorge, Köln 27.3. 1996.

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Steuern an die Wirtschaft abgemildert werden können - Senkung der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung -, dies hätte jedoch die Wirtschaftszweige sehr unterschiedlich entlastet. Die energieintensive und zugleich kapitalintensive Industrie wäre per saldo weiterhin stark belastet gewesen, während arbeitsintensive Wirtschaftszweige, insbesondere der Diensleistungsbereich, überkompensiert worden wären. Die Erklärung der Industrie enthält keine Angaben darüber, wie die Reduktionsziele innerhalb der Verbände umgesetzt werden sollen. Offensichtlich ist nicht an interne Abgaben- und Zertifikatslösungen gedacht, sondern an eher einheitliche betriebliche Reduktionen. Damit bleiben Kostensenkungsmöglichkeiten durch differenzierte Anpassungen der Unternehmen unausgeschöpft. Eine einheitliche öffentliche Abgabe für den gleichen Emittentenkreis wäre effizienter. Als volkswirtschaftlicher Vorteil der Selbstverpflichtung ist deshalb nicht eine besondere Kosteneffizienz, sondern die Vermeidung gesamtwirtschaftlicher Stabilisierungsrisiken anzusehen. Dabei ist allerdings vorausgesetzt, daß die Selbstverpflichtungen tatsächlich einen wesentlichen Beitrag zur aktiven Klimaschutzpolitik leisten und nicht nur Maßnahmen enthalten, die ohnehin durchgeführt worden wären. Die Selbstverpflichtungen im Klimaschutz sind dem besonderen Vorwurf ausgesetzt, daß sie kaum mehr als Selbstbestätigung seien. Da die Bundesregierung über die Zeit an ihrem Klimaschutzziel festgehalten hat, 8 müßte es nach dieser These der Industrie gelungen sein, die Hauptlasten auf Haushalte und Kleinverbrauch abzuwälzen. Inwieweit dies tatsächlich geschehen ist, weiß man nicht. Immerhin hatte die Industrie bei der Begründung ihrer Selbstverpflichtung erklärt, daß die größeren Energieeinsparpotentiale im Bereich des Kleinverbrauchs und der Haushalte liegen und die Emissionsreduktionen hier überproportional sein sollten. Die Bundesregierung hat offensichtlich die gleiche Auffassung vertreten, als sie die Selbstverpflichtung akzeptierte. Ob dies nun Ausdruck einer Anpassung oder ureigener Wille war, sei dahingestellt. Selbst wenn es der Industrie gelungen sein sollte, ihren aktiven Beitrag zum Klimaschutz gering zu halten, ist nicht ausgeschlossen, daß dies nicht auch bei einer Abgabenlösung der Fall gewesen wäre. Ja vermutlich wäre überhaupt keine Klimaschutzsteuer eingeführt worden, wenn man die massiven Widerstände in der Öffentlichkeit gegen diese Steuer bedenkt. Dann hätte sich die Bundesregierung mit partiellen Auflagen und Subventionen begnügen müssen. Möglicherweise hätte sich die Bundesregierung aber auch mit einer Klimaschutzsteuer durchgesetzt. Dann ist die Frage, wie diese Steuer ausgesehen hätte. Weil Rücksicht auf die makroökonomischen Risiken genommen worden wäre, hätte auch diese Abgabe Präferenzen für die Industrie vorgesehen. Solche Modelle mit differenzierten Steuer8 Ursprünglich war eine 25- bis 30-prozentige Reduktion der COz-Emission im Jahr 2005 gegenüber 1987 vorgesehen. Das Ziel wurde später auf das Jahr 1990 bezogen und die Reduktionsquote mit 25 % angesetzt. Das entspricht einer Reduktion um 29 % gegenüber 1987.

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sätzen, Rückführung des Steueraufkommens an die Industrie und zusätzlichen Entlastungen für sehr energieintensive Branchen sind in Dänemark und Schweden realisiert worden und hätten auch in der Bundesrepublik zum Zuge kommen können. 9 Wie es mit der Einhaltung der Selbstverpflichtungen bestellt sein wird, hängt auch von dem vorher Gesagten ab. Falls nicht mehr als ohnehin geplant geschehen wird, ist die Einhaltung kein Thema. Sollte aber deutlich mehr anvisiert worden sein, scheinen die Erfahrungen in der Abfallpolitik eher für ein Scheitern zu sprechen. Es mag überraschen, daß die Bundesregierung hier von ihrer abfallpolitischen Linie der Einbindung der Selbstverpflichtungen in Rechtsverordnungen abgewichen ist. Wegen der relativ großen Zahl von Emittenten wird das Freifahrerverhalten gefördert, und die Verbände besitzen kein vergleichbar wirkungsvolles Disziplinierungsinstrument. Außerdem ist das Drohpotential der Bundesregierung gering, denn ob die in Aussicht gestellte CO r / Energiesteuer wirklich kommen würde, ist angesichts der großen Widerstände gegen Ökosteuern und wegen der internationalen Uneinigkeit über Notwendigkeit und Instrumentierung der Klimaschutzpolitik sehr fraglich. Man müßte überlegen, ob man die Selbstverpflichtungen im Klimaschutz nicht ananolog dem Abfallrecht gesetzlich einbinden könnte. Rücknahmepflichten kann es bei CO 2 und Energieverbrauch nicht geben. Weniger praktikabel dürfte ein System von COr / Energieabgaben mit der Option auf Verbundlösungen sein, denn der richtige Steuersatz könnte erst ex post feststehen. Eher könnte man daran denken - allerdings nur für Großunternehmen -, gesetzliche Emissionsgrenzen vorzuschreiben, die individuell einzuhalten wären, es sei denn, ein Unternehmen schließt sich einer staatlich anerkannten Verbundlösung an. Bei Verletzung der Selbstverpflichtungen müßte jeder einzelne Großverbraucher seinen Emissionswert einhalten. Dieses Modell kennen wir von der Kompensationsregel des BImSchG her. Es könnte auch in ein Zertifikatemodell übergehen, wenn der Verbund intern dieses Instrument wählen würde. IV. Schluß Se1bstverpflichtungen sind per se weder gut noch schlecht. Man muß ihre Anwendungsbedingungen und Ausgestaltungsmöglichkeiten beachten und sie mit empirisch relevanten hoheitlichen Instrumenten vergleichen. Ideale reine Lösungen im Sinne der Theorie können nicht als Referenz für die Beurteilung herangezogen werden. Das politische Realisierbarkeitskriterium spielt eine wichtige Rolle. Das Beispiel der Abfallpolitik zeigt, daß Selbstverpflichtungen erfolgreich sein können. Im Klimaschutz ist dieses Instrument dagegen mit vielen Fragezeichen zu verse9 Vgl. D. Cansier/R. Krumm, Air Pollutant Taxation: An Empirical Survey, Ecological Economics 1997,59 ff.; D. Cansier, Wie lassen sich COz-/Energiesteuem gesamtwirtschaftlieh verträglich ausgestalten?, Betriebs-Berater, 1998, 77 ff.

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hen. Nationale Alleingänge in der Klimapolitik bergen große gesamtwirtschaftliche Risiken in sich, und Maßnahmen jedweder Art stoßen auf massive öffentliche Kritik und sind deshalb schwer durchsetzbar. In solchen Fällen besteht immer die Gefahr, daß umweltpolitische Ziele verwässert und Lasten in ineffizienter Weise auf international immobile Wirtschaftsgruppen, wie insbesondere Haushalte und Kleinverbraucher, verschoben werden. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß dieses Risiko bei Selbstverpflichtungen besonders groß ist, denn die Drohmittel des Staates sind sehr begrenzt und die Verbände haben Schwierigkeiten, Freifahrerverhalten zu verhindern. Selbstverpflichtungen bleiben ein sekundäres Instrument der Umweltpolitik. Sie können gelegentlich gesetzlichen Maßnahmen überlegen sein. Sofern dies der Fall ist, sollte sich der Staat nicht mit bloßen Absprachen begnügen, sondern nach Möglichkeit eine rechtliche Absicherung anstreben, und zwar entweder durch Abschluß von Verträgen nach dem Beispiel der Niederlande oder durch Kombination von gesetzlichen Maßnahmen und Selbstorganisation im Sinne der Regelung in der Abfallpolitik. Wählt man den mit der Verpackungsverordnung eingeschlagenen Weg, so besteht die Lösung prinzipiell darin, die Emittenten rechtlich vor die Wahl zwischen individuell einzuhaltenden Emissionsgrenzen und einem Verbundsystem mit gleichem ökologischen Effekt zu stellen. Allerdings muß innerhalb des Verbundes das Freifahrerproblem gelöst sein.

Selbstverpflichtungen der Wirtschaft Grenzgänger zwischen Freiheit und Zwang Von Udo Di Fabio Einleitung

Selbstbeherrschung ist eine alte Bürgertugend. Je mehr die westliche Kultur das Traditionsfundament der Modeme aufzehrt, desto faszinierender gerät die Idee der Selbstzügelung. Eine in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Kultur zergliederte Gesellschaft sucht nach einigenden Bändern, um Gemeinwohl zu sichern - auch dort, wo zum Interessenausgleich nicht der dafür spezialisierte Staat mit seinem Machtspruch bereitsteht. 1 Der gemeinwohlverpflichtete Staat droht seine Kräfte zu überspannen, deshalb sucht er Verbündete - oder rekrutiert sie, wenn sie seiner Fahne nicht freiwillig folgen. 2 Insbesondere von der Wirtschaft wird verlangt, sie solle sich selbst beschränken, selbst regulieren, selbst überwachen. Der meist mit leiser Drohung vermischte Appell an die Eigenverantwortung der Wirtschaft oder der Bürger zielt auf Re-Implementierung von Verantwortung 3 : für Gesundheit, Prosperität oder die natürlichen Lebensgrundlagen - Verantwortung, die in der klassischen Weltsicht noch ganz selbstverständlich mehr beim Bürger als beim Staat ressortierte. Der Appell findet Anklang. Verantwortungsscheu will sich niemand nachsagen lassen, Kooperationsangebote niemand ausschlagen. Ostentative Selbstzügelung wird mitunter auch zum Schutzschild gegen weiterreichende oder schlicht dysfunktionale Gemeinwohlforderungen. des Staates und der Öffentlichkeit. Wer im Wettbewerb wirtschaftet, muß - will er sich fremder Regulierung erwehren glaubhaft demonstrieren, daß er selbst entschlossen ist, einer entfesselten Logik der steten Gewinnmaximierung um höherer Ziele willen wieder Fesseln anzulegen. 1 Für den Bereich des Umweltschutzes: Hoffmann-Riem, Umweltschutz als Gesellschaftsziel - illustriert an Beispielen aus der Energiepolitik, Gew Arch 1996, 1 ff.; kritisch zu den Auswirkungen dieser vom Staat verfolgten Strategie der Gemeinwohlimplementierung auf die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Rechts: Di Fabio, Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, VVDStRL 56 (1997), S. 235 ff. Allgemein zum Zusammenhang von Rechtsstaatlichkeit und Gemeinwohlausrichtung: Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 333 ff. 2 Zum Aspekt der damit erstrebten Entscheidungs- und Verantwortungsentlastung bereits Hoffmann-Riem, Selbstbindungen der Verwaltung, VVDStRL 40 (1982),187 (202). 3 So bereits die Bundesregierung im Umweltbericht 1976, BT-Drs. 7/5684.

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I. Umweltpolitische Selbstverpflichtungen

Mancher Politikbereich wird heute durch unterschiedliche Fonnen der Selbstverpflichtung geprägt oder doch mitgeprägt. Obwohl ihr kein Erstgeburtsrecht attestiert werden kann4 , geht die Umweltpolitik voran. Je ehrgeiziger ihre Ziele, desto angewiesener wird sie auf das Engagement derjenigen, die sie zu führen gedenkt. Wer auf internationalen Konferenzen vollmundige Verpflichtungen übernimmt und von anderen einfordert, steht - zu Hause angekommen - vor dem Problem der Umsetzung. Die zum Zwecke des globalen Klimaschutzes erstrebte COz-Reduktion ist ein wichtiges Beispiel5 , aber die Liste der Selbstverpflichtungen umweltpolitischer Provenienz geht weit darüber hinaus: Sie reicht von der Vereinbarung über den Verzicht auf Asbest in Hochbauprodukten über die Reduzierung von Fluorkohlenwasserstoffen, Zusagen der Elektroindustrie zur Verringerung des Stromverbrauchs bei elektrischen Hausgeräten bis hin zur Rücknahme von Altautos. Schon 1971, gleichsam in der ersten Stunde der Umweltpolitik6 , gab es eine freiwillige Vereinbarung über die Kennzeichnung enzymhaltiger Waschmittel; allein in dieser Produktgruppe zählen wir bis heute ein knappes Dutzend Selbstverpflichtungen der Industrie.? Inzwischen ist die Selbstverpflichtungsidee, wie etwa in vereinzelten Vorschriften des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes 8 , vom Gesetzgeber aufgegriffen oder sogar wie im Fall des betrieblichen Öko-Audits zum Gegenstand eigenständiger Kodifizierungen gemacht worden. 9 Das staatliche Einwirkungsinstrument der induzierten Selbstverpflichtung ist ein Teil des übergreifenden Konzepts der Selbstregulierung. 10 Von instrumenteller Selbstregulierung sprechen wir dort, wo eine öffentliche Aufgabe von gesellschaft4 Zu den Kohle-Erdölkartellen des Jahres 1958 und dem Heizölselbstbeschränkungsabkommen 1965 sowie den Selbstbeschränkungen der Zigareuenindustrie: von Zezschewitz, Wirtschaftsrechtliche Lenkungstechniken: Selbstbeschränkungsabkommen, Gentlemen 's Agreement, Moral Suasion, Zwangskartell, JA 1978, 497 ff. 5 Dazu näher Kuhnt, Energie und Umweltschutz in europäischer Perspektive, DVB\. 1996, 1082 (1089 ff.). 6 Siehe zum politischen und legislatorischen Umfeld: Kloepfer, Zur Geschichte des deutschen Umweltrechts, 1994, S. 95 ff. 7 Siehe die tabellarische Übersicht bei Kohlhaas / Praetorius, Selbstverpflichtungen der Industrie zur COrReduktion, 1992, S. 77; Rengeling, Das Kooperationsprinzip im Umweltrecht, 1988, S. 18 f. 8 Zu abfallwirtschaftlichen Absprachen, die zum Teil schon im Rahmen des § 14 AbfG (1986) in Selbstverpflichtungen mündeten: Struß, Abfallwirtschaftsrecht, 1991, S. 130 ff. 9 Verordnung (EWG) Nr. 1836/93 des Rates vom 29. 6. 1993 über die freiwillige Beteiligung gewerblicher Unternehmen an einem Gemeinschaftssystem für das Umweltmanagement und die Umweltbetriebsprüfung, ABlEG Nr. L 168 /l; sowie das deutsche Ausführungsgesetz (Umweltauditgesetz - UAG) vom 7. 12. 1995, BGB\. I S. 1591. Siehe auch Lübbe-Wolff, Das Umweltauditgesetz, NuR 1996,217 ff.; Jens-Peter Schneider, Öko-Audit als Scharnier in einer ganzheitlichen Regulierungsstrategie, Die Verwaltung 1995,361 ff. 10 Das Thema "Selbstregulierung" war Gegenstand der Dresdener Staatsrechtlehrertagung 1996, VVDStRL 56 (1997), S. 160 ff.

Selbstverpflichtungen der Wirtschaft

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lichen Kräften außerstaatlich, insbesondere innerhalb des Marktes in organisierter Form übernommen wird II , wobei der Staat ein konkretes Interesse an der Erfüllung hat, die Organisationen stützt 12 und auf diese substantiell einwirkt. 13 Der engere Begriff der Selbstverpflichtung ist, wie so vieles aus der Begriffswelt der "Postmoderne", ebenso euphemistisch wie paradox. Verpflichtung steht für rechtliche Verbindlichkeit, gemeint ist aber in aller Regel Unverbindlichkeit. Das Präfixoid "Selbst" steht für Freiwilligkeit und Autonomie, in Wirklichkeit ist die Selbstverpflichtung regelmäßig erzwungen und nicht selten auch inhaltlich mehr oder minder durch den Staat bestimmt. 14 Selbstverpflichtungen changieren zwischen Freiheit und Zwang, zwischen rechtlich folgenloser Informalität und rechtsbeachtlicher Pflichtenübernahme. Diese Schwebelage verlangt Politik und Verbänden taktische Finesse ab, die nach außen nicht immer klar vermittelbar ist. Für die Politik ist fraglich, ob sich initiierte oder schlicht akzeptierte Selbstverpflichtungen der Wirtschaft für ihre Reputation auszahlen. Mag die Selbstverpflichtung eines Wirtschaftszweiges auch bestens umgesetzt werden, mag sie auch dem Staat Regelungen und Ressourcen ersparen, es bleibt entweder der Verdacht, der Staat kungele hinter verschlossenen Türen mit wirtschaftlich Mächtigen, oder aber der Erfolg wird nicht ihm, sondern anderen zugerechnet. Nicht selten indes vermag sich auch die Wirtschaft nicht mit den Federn ihres Erfolges zu schmücken. Denn viele sind sicher: Die Wirtschaft verpflichte sich nur dann, wenn es nichts kostet oder wenn es das kleinere Übel im Vergleich zu einer ohnehin überfälligen staatlichen Regelung ist. 15

11 Mayntz/ Scharpf, Steuerung und Selbstorganisation in staatsnahen Sektoren, in: dies. (Hrsg.), Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung, 1995, S. 9 (20). 12 Die Rede ist insoweit auch von der "staatlich gestützten Selbstregulierung". Brohm, Alternative Steuerungsmöglichkeiten als "bessere" Gesetzgebung?, in: Hili (Hrsg.), Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, 1989, S. 217 (219). 13 Di Fabio, VVDStRL 56 (1997), S. 235 (241). 14 Zum Problem, Verpflichtungserklärungen in rechtliche oder doch faktische Verbindlichkeit überzuleiten: Schmidt-Preuß, Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, VVDStRL 56 (1997), S. 160 (219 f.). 15 Die Ansicht, jede herbeigeführte Selbstverpflichtung bliebe schon aus Gründen des Konsensprinzips hinter dem einseitig regulativerzielbaren Ergebnis zurück [so Bohne, Absprachen zwischen Industrie und Regierung in der Umweltpolitik, in: Gessner/Winter (Hrsg.), Rechtsformen der Verflechtung von Staat und Wirtschaft, 1982, S. 266 (275)], verkennt, daß es regelmäßig ein Kontinuum von Lösungen gibt und der Staat womöglich schlechter als die Wirtschaft abschätzen kann, welche Lösungen am effektivsten sein wird. Zudem gilt nicht ohne weiteres, daß die für die Wirtschaft teuerste Lösung auch die umweltpolitisch beste sein muß.

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11. Die Grundrechtsdimension von Selbstverpflichtungen

Dem Recht hat das Phänomen der Selbstverpflichtung mehr Verwirrung als Freude beschert. Die ersten diesbezüglichen Voten fielen überwiegend positiv aus. 16 Als ein Kennzeichen der modemen Umweltpolitik wurde von vornherein das Kooperationsprinzip hervorgehoben; es findet seinen Platz im Olymp des Allgemeinen Umweltrechts. Kooperation sei das "prozedurale Leitbild,,17, so wie das Vorsorge 18- und das Verursachungsprinzip 19 materielles Leitbild der Umweltpolitik seien. Selbstbeschränkungen können als Ausübung grundrechtlicher Freiheiten begrüßt werden?O Die vom Staat gegen den Willen oder doch ohne die gestaltende Mitwirkung der gesetzesunterworfenen Bürger durchgesetzten sogenannten ordnungsrechtlichen Regelungen beschränken Freiheit fühlbarer als kooperative Arrangements. Der selbstbewußte Grundrechtsträger kann, dem kantischen Vernunftideal folgend, eben auch freiwillig auf ein Stück Freiheit gegenüber dem Staat verzichten, wenn gute, einleuchtende Gründe dafür sprechen. Und strenggenommen wäre dies nicht Rechtsverzicht, sondern im Gegenteil wahrhaft vernunftgemäße Freiheitsausübung, ganz entsprechend dem Menschen- und Freiheitsbild der Aufklärung. Schon aus diesem Grunde sollte man mit der Vokabel vom Rechtsverzicht vorsichtig sein. 21 Aber wer auf Grundrechte abhebt, muß sich vergegenwärtigen, daß Freiwilligkeit und selbstgewonnene Einsicht bei umweltpolitischen Selbstverpflichtungen Privater Sachen für sich sind. 22 Manch "freiwillige" Selbstverpflich16 Kaiser; Industrielle Absprachen im öffentlichen Interesse, NJW 1971,585 ff.; Hoppe, Staatsaufgabe Umweltschutz, VVDStRL 38 (1980), 211 (309); Kloepfer; Umweltschutz als Kartellprivileg?, JZ 1980, 781 (783), zugleich aber auch warnend: ders., Aussprache, VVDStRL 38 (1980), 373. 17 Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Leitlinien der Bundesregierung zur Umweltvorsorge durch Vermeidung und stufenweise Verminderung von Schadstoffen, 1986, S. 25 ff. lS Zum Vorsorgeprinzip siehe Ossenbühl, Vorsorge als Rechtsprinzip im Gesundheits-, Arbeits-und Umweltschutz, NVwZ 1986, 161 ff.; Kloepfer; Umweltrecht, 1989, S. 74 ff.; Di Fabio, Voraussetzungen und Grenzen des umweItrechtlichen Vorsorgeprinzips, in: Festschrift für Ritter, 1997, S. 807 ff.; Wahl! Appel, Prävention und Vorsorge. Von der Staatsaufgabe zur rechtlichen Ausgestaltung, in: Wahl (Hrsg.), Prävention und Vorsorge, 1995, S. 1 ff. 19 Bullinger; Rechtsfragen des Verursacherprinzips beim Umweltschutz, in: ders./Rinke/ Oberhauser / Schmidt (Hrsg.), Das Verursacherprinzip und seine Instrumente, 1974, S. 69 ff. 20 Kirchhof, Verwalten durch mittelbares Einwirken, 1977, S. 208; Schulte, Schlichtes Verwaltungshandeln, 1995, S. 102 f. 21 So schon zu Recht Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Rechtsgutes, 1981, S. 15, der unterscheidet zwischen dem rechtlich bindenden Verzicht und der frei widerruflichen Einwilligung. Allerdings paßt die im Strafrecht konturreiche Figur der Einwilligung auf die überwiegende Anzahl der Selbstverpflichtungen - die aktive Pflichtenübernahme versprechen - nicht, weil sich der Betroffene die Handlungsbeschränkungen selber auferlegt, bevor der Staat (mit oder ohne Einwilligung) eingreift. 22 Von einer "Fiktion" spricht bereits Kaiser; NJW 1971,585 (586).

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tung verdient diesen Namen nicht, weil dahinter massive staatliche Regelungsandrohungen stehen?3 Hinter dem von der jeweiligen Fallempirie des Aushandelns aufgezogenen Vorhang liegt ein - nicht gering zu veranschlagendes - Rechtsproblem. Wenn nämlich der sich selbst Verpflichtende durch sein Handlungs- oder Unterlassungsversprechen von der Geltendmachung grundrechtlicher Positionen etwa aus Art. 12, 14 oder 2 Abs. 1 GG absieht, fehlt es prima vista logisch und dogmatisch an einem Grundrechtseingriff. Wenn der Staat eine Rechtsverordnung erließe, die jedem Autohersteller zur Pflicht machte, wirtschaftlich wertlose Altautos aus seiner zurückliegenden Produktion zurückzunehmen sowie umweltverträglich zu verWerten und zu entsorgen, wäre eine solche Rechtsverordnung zweifellos als Grundrechtseingriff zu werten. Wenn aber unter dem Eindruck des angekündigten Erlasses einer solchen Rechtsverordnung die Automobilindustrie gleichsam zähneknirschend sich verpflichtet, Altautos zurückzunehmen, um die Rechtsverordnung zu vermeiden, kann dann freiwilliger Grundrechtsverzicht angenommen und demgemäß ein gerichtlich überprüfbarer Eingriff verneint werden? Wollte man hier indes einen Eingriff bejahen, so wüßte man nicht recht, wer Kläger und was Streitgegenstand wäre. Dieses Problem dürfte indes nicht wirklich drängend werden, solange die nicht in Vertragsform eingebettete Selbstverpflichtung als rechtlich unverbindlich angesehen wird, so daß sich die Wirtschaft etwa bei Verschlechterung der Wirtschaftslage jederzeit aus der Pflicht lösen kann, ebenso wie der Staat, der womöglich andere politische Prioritäten setzen und dann doch einseitig regeln will. 24 Zumindest für den induzierenden Staat kann die rechtliche Unverbindlichkeit aber nicht soweit reichen, daß der rechtsstaatlich gebotene Vertrauensschutz a limine entfiele. Wer auf die konkrete Zusage eines Verordnungsverzichts hin heute finanzielle Aufwendungen macht, um eine ihm abgerungene Selbstverpflichtung zu erfüllen, etwa indem ein Produkt anders gestaltet wird als bislang, genießt Vertrauensschutz 25 , wenn schon morgen der Staat eine wiederum andere Produktqualität hoheitlich vorschreibt, ohne daß rechtfertigende sachliche Gründe für den Meinungsumschwung gegeben sind. 26 Insofern darf sich die normative Feststellung eines schützens werten Vertrauens weder durch die Etikettierung "Informalität" noch durch praktische Imperative, wonach dem Staat der jederzeitige Rückgriff auf hoheitliche Programmierung offenbleiben müsse27 , irre machen lassen. Erst recht darf eine Selbstbindung der öffentlichen Gewalt angenommen werden, wenn sie So schon Kloepfer, JZ 1980,781 (783). Bohne, Absprachen zwischen Industrie und Regierung in der Umweltpolitik, in: Gessner /Winter (Hrsg.), Rechtsformen der Verflechtung von Staat und Wirtschaft, 1982, S. 266 (272). 25 Zum Vertrauensschutz, abgeleitet aus dem Rechtsstaatsprinzip: BVerfGE 30, 392 (401); 39, 128 (143); 59, 128 (164 ff.); 72, 200 (253); 87,48 (61). 26 Ein solches Verhalten verstieße gegen das Willkürverbot: BVerfGE 72,200 (254). 27 So etwa Scheuing, Selbstbindungen der Verwaltung, VVDStRL 40 (1982), 153 (163). 23

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eine Stillhalteerklärung abgegeben hat, um eine Selbstverpflichtung herbeizuführen und sodann sich nach nur politischer Opportunität darüber hinwegsetzen Will. 28 Mag hier im bloßen Vorhof öffentlich-r~chtlicher Verträge oder einseitiger Regelungen auch kein einklagbarer primärrechtlicher Anspruch entstehen, so heißt das nicht, daß nicht sekundärrechtliche Entschädigungsansprüche für hoheitlich fehlgeleiteten privaten Aufwand entstehen können. Entscheidend ist, ob die Voraussetzungen eines Vertrauenstatbestandes erfüllt sind. Was für die Rücknahme von Verwaltungsakten gilt29 , ist Konkretisierung eines allgemeineren Rechtsgrundsatzes, der auch für andere finale Maßnahmen der öffentlichen Gewalt Anwendung findet. 3o Ob es solche mittelbaren Rechtswirkungen auch zur anderen Seite hin gibt, ist noch ungeklärt. Wird zum Beispiel, wie bei der Reduzierung der Verpackungsabfälle in den achtziger Jahren, ein von der Wirtschaft gegebenes Versprechen zunächst nicht eingehalten 31 , könnte dem Staat ein größerer Rechtfertigungsspielraum für ordnungsrechtlich einschneidende Maßnahmen zuwachsen. Denn einmal ist der Handlungsbedarf in einem bestimmten Sachgebiet gleichsam schon durch die Bindungsbereitschaft potentieller Gesetzesadressaten unter Beweis gestellt und auch die Verantwortlichkeit bestimmter Wirtschafts gruppen durch die vorangegangene Selbstverpflichtung präfonniert und zum anderen gilt es, verlorene Zeit aufzuholen. 32 Vielleicht wäre ohne die vorausgegangene Selbstverpflichtung zur Abfallreduzierung und ohne das während der Verordnungsentstehung abgegebene weitere Versprechen zur Installierung eines privatwirtschaftlichen Sammlungsund Verwertungssystems die rechtliche Beurteilung der Verpackungsverordnung anders ausgefallen, als es sich bis dato abzeichnet. Grundrechtssystematisch nicht unbedenklich ist auch eine Mediatisierung im Rahmen organisatorisch gestufter Grundrechtsausübung. 33 Selbstverpflichtungen der Wirtschaft sind in der Regel Verbandsideen, die dem einzelnen Unternehmen meist erst nahegebracht werden müssen. Der Verband wiederum steht in einem regen Kontakt zu staatlicher Politik, beobachtet Entwicklungen, schätzt ihre Wirkungen für Mitglieder und Wirtschaftsbranche ab. Er ist auf Verhandlung, Beeinflussung, Mitgestaltung und Kooperation ausgerichtet; hier liegen Funktion und Wert von Verbänden. 34 Im Lichte von Art. 9 Abs. 1 GG ist der Wirtschafts verband, der Anders Scheuing, a. a. O. Zum Regelungsgedanken der §§ 48, 49 VwVfG: Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), Kommentar zum VwVfG, 4. Auflage 1993, § 48 Rdnm. 15 ff. 30 Wobei der Vertrauensgrundsatz nicht nur eine Rückwirkungsgarantie, sondern allgemeiner ein Rechtssicherheitsversprechen ist und deshalb auch betätigte Erwartungen stabilisiert, die die Hoheitsgewalt beim Bürger hervorgerufen hat, vgl. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 416. 31 Struß, Abfallwirtschaftsrecht, 1991, S. 132. 32 Müggenborg, Fonnen des Kooperationsprinzips im Umweltrecht der Bundesrepublik Deutschland, NVwZ 1990, 909 (917). 33 Di Fabio, VVDStRL 56 (1997), S. 235 (253 f.) 28

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als Verpflichtungssubjekt in Erscheinung tritt, Grundrechtsträger. Insofern hat der Staat im Rahmen von Kooperationsverhältnissen auch Rücksicht auf die Erhaltung der Funktionsfähigkeit von Verbänden zu nehmen, er darf sie nicht in evidente Zerreißproben drängen. 35 Aber die Nähe zu Staat und Politik läßt eine Wirtschaftsvereinigung häufig, und mehr als den Mitgliedern lieb ist, in Sachzwänge oder gar Argumentationsfallen geraten. Damit der Verband gegenüber Ministern und Regierungen nicht als bloße Public-Relations-Agentur dasteht, muß er auf seine Mitglieder mit Überredung und sanftem Druck einwirken; ein Stück weit macht er sich so nolens volens zum Instrument öffentlicher Aufgabenerfüllung. Die Affinität zum Gegenspieler taucht den Verband mitunter in ein diffuses Licht, in dem er für einzelne Mitglieder selbst wie ein Gegenspieler wirkt, auf dessen Unterstützung man aber dennoch ungern verzichtet. Verstetigte Kooperation läßt ein Geflecht von Beziehungen und Abhängigkeiten wachsen, in dem subjektive Abwehrrechte gegen die öffentliche Gewalt manchmal wie Anachronismen scheinen. Für einen effektiven Rechtsschutz können Selbstverpflichtungen hinQerlich sein. 36 Welches Unternehmen und welcher Verband wollte im Falle einer gescheiterten Selbstverpflichtungs-Übereinkunft den dann doch erfolgenden ordnungsrechtlichen Eingriff als ungerechtfertigte Freiheitseinschränkung gerichtlich überzeugend bekämpfen, wenn er die Notwendigkeit des Handeins zuvor durch sein Selbstverpflichtungsangebot zumindest dem Grunde nach anerkannt hat? Hier könnte eine praktische Parallele zur dogmatischen Figur hoheitlicher Selbstbindung entstehen.

IU. Rechts- und Kohärenzprobleme für den Staat Wer auf die Risiken von Selbstverpflichtungen für individuelle Freiheiten hinweist, darf zu den Risiken für den Staat nicht schweigen. Der Verbundstaat europäischen und förderalen Zuschnitts ist in ein vertikales Kompetenzkorsett eingebunden und horizontal mit organisierten gesellschaftlichen Kräften vielfältig verflochten. Der handlungswillige Staat ist vom Phänotypus des Autokraten wieder weit entfernt, seine Akteure spüren nicht selten Ohnmacht und geraten in der Zusammenarbeit unter die Fuchtel der Konsensabhängigkeit. Von einem Asbestverbot in Deutschland ist beispielsweise auch deshalb abgesehen worden, weil man den Konflikt mit EG-Recht, vielleicht aber auch unerwünschte soziale Folgewirkungen 34 Zur diesbezüglichen Funktionsausrichtung schon in der Gründungszeit von Wirtschaftsverbänden: Steinberg, in: ders. (Hrsg.), Staat und Verbände, 1985, S. 1 ff. 35 Di Fabio, VVDStRL 56 (1997), S. 235 (260 f.). 36 Entsprechende Warnungen wurden schon zeitig erhoben. Blümel, Planung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, DVBI. 1975, 695 (703); Wahl, Der Regelungsgehalt von Teilentscheidungen in mehrstufigen Planungsverfahren, DÖV 1975, 373 (377). Siehe auch Kloepfer, Rechtsstaatliche Probleme ökonomischer Instrumente im Umweltschutz, in: Wagner (Hrsg.), Unternehmung und ökologische Umwelt, 1990, S. 250 ff.

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in der Bauwirtschaft fürchtete. 37 Mit der Selbstverpflichtung der Zementindustrie, die einen abgestuften Substitutionsprozeß versprach und dieses Versprechen einhielt, wurde insoweit dem Staat auch ein regulatives Dilemma erspart. Aber elegant wirkende Kooperationslösungen haben ihren Preis. Das rechtsstaatliche Gebot der Klarheit bei der Ausübung öffentlicher Gewalt trifft nicht selten auf die Nebelwand wechselseitiger Abhängigkeiten und nicht immer dokumentierter Absprachen. 38 Als ein Gegenmittel empfiehlt sich Transparenz. § 25 des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes kann mit seiner - schon im Abfallgesetz von 1986 bekannten 39 - Veröffentlichungsregelung von Zielfestlegungen im Bundesanzeiger und seiner Anzeigepflicht für freiwillig ins Leben gerufene Rücknahmesysteme als Einstieg in einen transparenteren Umgang mit Selbstverpflichtungen betrachtet werden. Ob ein rechtsstaatlicher Transparenzgewinn auch dadurch erzielt wird, daß bei den Verhandlungen zwischen Staat und Wirtschaft alle möglichen interessierten Verbände einbezogen werden 4o, scheint mir allerdings zweifelhaft. Die modeme Tendenz zur Pluralisierung von Entscheidungsträgem erschwert klare Regelungen und Verantwortungszurechnungen. 41 Neben einem allgemeinen Unwohlsein gibt es im Geltungsbereich des Rechtsstaatsprinzips auch handfestere Probleme. Zum einen ist fraglich, ob der Gesetzesvorbehalt für die hoheitlich induzierte Selbstverpflichtung gilt. Wo kein Eingriff sichtbar ist, fehlt es auch für den klassischen Gesetzesvorbehalt mit seiner Forderung nach einem ermächtigenden Parlamentsgesetz an der Voraussetzung seines Geltungsanspruchs. Aber entsteht nicht bei denjenigen Verhandlungen, die im drückenden Klima massiver Regelungsandrohung geführt werden, eine grundrechtliche Gefährdungslage, die unter Umständen dem Eingriff gleich zu erachten ist? Oder handelt es sich womöglich nach den Zuweisungen der Wesentlichkeitstheorie um Strukturentscheidungen, die für die Grundrechtsausübung wesentlich sind?42 37 Bundesverband der Deutschen Industrie (Hrsg.), Freiwillige Kooperationslösungen im Umweltschutz, 1992, S. 53. 38 Wenn diese Entwicklung als rechtlich nicht steuerbar und insofern unabänderlich verstanden wird, ist der Ruf nach einer Anpassung der "Auffassungen" von Rechtsstaat und Demokratie konsequent, so etwa Ritter, Der kooperative Staat, AöR 1979,389 (409 f.). 39 Kloepfer hat die Regelung des § 14 Abs. 1 Satz 1 und 2 AbfG 1986 als Vorschalt- oder Alternativverfahren zur Verordnungsgebung bezeichnet: Kloepfer, Zu den neuen umweltrechtlichen Handlungsformen des Staates, JZ 1991,737 (740). 40 So eine Forderung des Präsidenten des Umweltbundesamtes Troge in seinem Vortrag "Erfolgs- und Problemfälle umweltbezogener Selbstverpflichtungen aus der Sicht des Umweltbundesamtes" gehalten auf der Fachtagung "Umweltbezogene Selbstverpflichtungen der Wirtschaft - Chancen und Grenzen für Umwelt, mittelständische Unternehmen und Umweltpolitik am 10. 1. 1997 in Berlin, Manuskript, S. 31 f. 41 Di Fabio. Produktharmonisierung durch Normung und Selbstüberwachung, 1996, S. 116 ff. 42 Zutreffende Antworten auf diese Fragen gibt Brohm. Rechtsgrundsätze für normersetzende Absprachen, DÖV 1992, \025 (1032 f.).

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Zum anderen geht es um die Einhaltung der Kompetenz- und Zuständigkeitsordnung. Absprachen rufen Zentralisierungstendenzen hervor. Wer sich selbst verpflichtet, will, daß auf seiner Seite alle Wettbewerber mitziehen und wünscht auf der Gegenseite einen Gesprächspartner mit Macht und Autorität. Ein weiteres Moment tritt hinzu: Eine Behörde wie das Umweltbundesamt, die über der Verwaltungszuständigkeit der Länder schwebt, ohne selbst kräftige Vollzugsarme bewegen zu können, neigt sich mit Interesse dem neuen Handlungsinstrument der induzierten Selbstverpflichtung zu. Damit wird die Frage virulent, ob die Zuständigkeitsordnung nur für den Erlaß von Verwaltungsakten oder auch - und gegebenfalls mit welchen Abstrichen - für induzierte Absprachen gilt. Eine Antwort ist nicht mit einem Federstrich hinzuwerfen. Wieder einmal - wie schon bei Akten der Staatsleitung43 oder bei parlamentarischen Untersuchungsausschüssen44 - steht das öffentliche Recht vor dem Problem, Maßnahmen oder Handlungsformen aus exekutiven Grenzregionen in das Gewaltenteilungsschema einzuordnen mit entsprechenden Konsequenzen für die Art der Rechtsbindung. Von der Handlungsfonn her ist das Agieren staatlicher Stellen zur Herbeiführung, Förderung oder Abstützung von Selbstverpflichtungen infonnales Verwaltungshandeln. Infonnales Verwaltungshandeln, wie etwa am Beispiel präzeptoraler Infonnationstätigkeit des Staates zu demonstrieren wäre, ist exekutives Handeln. Wenn exekutives Handeln gleichzusetzen ist mit Verwaltung, so läge regelmäßig die Kompetenz bei den Ländern, während doch ebenso regelmäßig der lediglich zur Gesetzgebung berufene Bund der Verhandlungs akteur ist. Wohl nicht nur um das Ergebnis der Verfassungswidrigkeit zu venneiden, sondern auch weil das Droh-, Tausch- und Hilfsmittel des Staates die ordnungsrechtliche Gesetzgebung ist, wird angenommen, es handele sich bei der Induzierung von Selbstverpflichtungen durch die hohe Hand um eine Annexkompetenz zur Gesetzgebung45, aber wohl ausgeübt durch die Exekutive der zur Gesetzgebung zuständigen Körperschaft. 46 Rechtlich ist eine solche Ansicht vertretbar, aber nicht zwingend. Politisch könnte man an eine zumindest kompensatorische Beteiligung der in ihrer Vollzugskompetenz nachteilig betroffenen Länder denken47 , die über den Bundesrat auch über entsprechende Einflußkanäle verfügten. Aber mit jeder Zunahme der beteiligten Akteure werden die Absprachesysteme unübersichtlicher und schwerfalliger. 43 Erlch Kaufmann, Die Grenzen der Verfassungsgerlchtsbarkeit, VVDStRL 9 (1952), S. 1 (7 ff.); siehe auch bereits Otto Mayer; Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, 3. Auflage 1924, S.2. 44 Di Fabio, Rechtsschutz im parlamentarischen Untersuchungsverfahren, 1988, S. 71 ff. 45 Oebbecke, Die staatliche Mitwirkung an gesetzesabwendenden Vereinbarungen, DVBI. 1986, 793 (795); Brohm, DÖV 1992, 1025 (1029); Schulte, Schlichtes Verwaltungshandeln, S. 148 f.; wohl auch Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997),160 (218). 46 Die Rede ist insofern von einem "Einbruch" der Exekutive in den "Funktionsbereich der Legislative", Müggenborg, NVwZ 1990, 909 (917). 47 In diese Richtung Oebbecke, DVBI. 1986, 793 (795).

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Derlei Überlegungen machen sichtbar, vor welche Probleme eine rechtlich distinktive Kompetenzabgrenzung durch informales Handeln der vorliegenden Art gestellt wird. Dies gilt auf horizontaler Ebene auch intraorganschaftlich für die Fälle, in denen etwa die Bundesregierung mit dem Erlaß eines förmlichen Bundesgesetzes droht, also im Grunde die Legislativkompetenz des Parlaments zum Handeisobjekt macht. Hier wird im üblichen regierungsfreundlichen Duktus es kompetentiell für ausreichend gehalten, daß die Bundesregierung ein Initiativrecht besitzt, weil sie im Grunde ja auch nur dieses bei Verhandlungen ins Spiel brächte. 48 Droht zudem die Bundesregierung etwa auf der Ermächtigungsgrundlage der §§ 23 und 24 KrW- / AbfG mit dem Erlaß von Rechtverordnungen, setzt sie zwar ihr eigenes Verordnungsrecht als Drohpotential ein, aber was wird eigentlich aus der Zustimmungspflicht des Bundesrates für den Verordnungserlaß, wenn der Bundesumweltminister alles, was nach seiner Ansicht in einer Verordnung stehen sollte, bereits über induzierte Selbstverpflichtungen ins Werk gesetzt hat?49

IV. Wettbewerbsgefährdung durch verbandsgesteuerte Selbstverpflichtungen

Die Praxis von Selbstverpflichtungsabkommen folgt einer eigenen Logik des Informalen und des Aushandeins. Es sind jene faktischen Bedingungen von Selbstverpflichtungsabkommen, die auch den Wettbewerbshütern Sorgen bereiten. Aufteilung von Märkten durch Quoten, Preisregelung, Werbebeschränkungen oder die Verhinderung wettbewerbsverändernder Investitionen werden als typische Folgen von Selbstverpflichtungsabkommen genannt. 50 Selbstverpflichtungsabkommen in der Abfallwirtschaft etwa können zu einer Vergemeinschaftung der Nachfrage nach Entsorgungsdienstleistungen und zu einer entsprechenden Marktrnacht führen. 51 Im Hinblick auf das Duale System der Verpackungswirtschaft wurde insofern von einer "normativ forcierten Konzentrationsbewegung, garniert mit einem kommunal dirigiertem Trend zur public-private-partnership,,52 oder sogar von einem ,,staatsmonopol,,53 gesprochen. Kartellrechtlich relevant wird eine solche Organisierung der Nachfragemacht durch branchenweit vereinheitlichte Verwertungsanforderungen allerdings nur, wenn die Marktverhältnisse spürbar beeinflußt werden können. Dies hat das Bundeskartellamt beispielsweise im Fall eines freiwilliSchmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997),160 (218). Zu diesem Problem Brohm, DÖV 1992, 1025 (1035); Di Fabio, Vertrag statt Gesetz?, DVBI. 1990,338 (345). 50 von Zezschewitz, JA 1978,497 (505). 51 Siehe Klaus-Peter Schultz, Wettbewerb in der Entsorgungswirtschaft, in: UTR Bd. 38, 1997, S. 107 ff. 52 Tettinger, Rechtliche Bausteine eines modemen AbfaUwirtschaftsrechts, in: UTR Bd. 30, 1995, S. 23 (40). 48

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Scholzl Aulehner, Grundfragen zum Dualen System, BB 1993, 2250 (2256).

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gen Gebindeverwertungskonzepts der Mineralölwirtschaft verneint. 54 Anderes galt wohl für eine inzwischen fallengelassene Selbstverpflichtung, die Batterie-Hersteller, Importeure und Einzelhandel im August 1995 gegenüber dem Bundesumweltminister abgegeben hatten. Diese zweite Verpflichtungserklärung der Branche zielte offenbar darauf, nach dem Muster des Dualen Systems der Verpackungswirtschaft zum Zweck der Batterieentsorgung eine GmbH zu gründen, die von allen Pool-Mitgliedern anteilig finanziert werden sollte. Die an der Selbstverpflichtung beteiligten Handelsunternehmen erklärten sich bereit, nur solche Batterien in ihrem Sortiment zu führen, für die Batteriehersteller und -importeure Beiträge zur Entsorgungsfinanzierung geleistet haben. Die dagegen erhobenen kartellrechtlichen Bedenken wogen um so schwerer, als die umweltpolitische Rechtfertigung dieser Absprache brüchig war, weil bereits - dies ein Erfolg zurückliegender Verpflichtungen - fast 90% der gehandelten Batterien schadstofffrei sind. 55 Daß die Kartellaufsicht ein waches Auge auf umweltpolitisch motivierte oder deklarierte Selbstverpflichtungen werfen muß, wird auch durch den gescheiterten Versuch deutlich, im Rahmen der Selbstverpflichtung der Autoindustrie zur Altauto-Entsorgung nur diejenigen Autos zurückzunehmen, die mit Originalersatzteilen des Herstellers versehen und die regelmäßig durch eine Fachwerkstatt gewartet worden sind. Aus der Sicht umweltpolitischer Akteure scheinen derlei Bedenken weit weniger wichtig als eine effektive Erfolgskontrolle der Selbstverpflichtungen, die insbesondere mit dem Mittel des Monitorings von den Verpflichtungssubjekten selbst erbracht werden soll. 56 Aber zu einer Geringschätzung der Marktauswirkungen besteht keine Veranlassung. Zwar haben die Interpreten des Grundgesetzes sich unter dem Dogma von der wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes außerordentlich schwer mit der Erkenntnis getan, daß eine freie Marktwirtschaft unverziehtbares Fundament grundrechtlicher Freiheitsbetätigung und Voraussetzung jeglicher Attributierung im Sinne sozialer oder ökologischer Marktwirtschaft ist. Doch mehren sich die Zeichen, daß Markt- und Wettbewerbsfreiheit inzwischen als verfassungsrechtliche Verbürgungen mit institutionellen und individuellen Gewährleistungsgehalten erkannt werden. 57 Das Europarecht ist diesbezüglich schon von seiner Grundlegung her und zumindest im Blick auf die Mitgliedstaaten unbefangener. Auch wenn seine Agrarordnungen die Binnenmarktsymphonie durch kräftige Dissonanzen trüben, gilt doch Art. 3 a des Europäischen Gemeinschaftsvertrages (EGV), wonach die Mitgliedstaaten der Union sich auf den Grundsatz Tätigkeitsbericht 1993 / 94 (FN 21), S. 127. Siehe insoweit die Darstellung des Präsidenten des Umweltbundesamtes Troge (FN 40), S. 21 f. 56 Bundesverband der Deutschen Industrie, COrMonitoring. Konzept für die Erstellung von regelmäßigen Fortschrittsberichten zur transparenten und nachvollziehbaren Verifikation der Erklärung der deutschen Wirtschaft zur Klimavorsorge vom 10. März 1995, 1996. 57 Siehe etwa Ronellenfitsch, Wirtschaftliche Betätigung des Staates, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band III, 2. Aufl. 1996, § 84, Rn. 32. 54 55

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einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet haben. Der freie Wettbewerb in der Wirtschaft ist demnach Verfassungsgebot - mit Quellen im Gemeinschaftsvertrag und im Grundgesetz. Eine vertiefte Einsicht dahingehend, daß bei der Tätigkeit des Bundeskartellamtes und der Brüsseler Kommission 58 nicht nur einfachgesetzlich geschützte Rechtsgüter auf dem Spiel stehen, sondern eine verfassungsrechtlich gewährleistete Struktur verteidigt wird, führt nicht etwa zu einer Ablehnung des Instruments der Selbstverpflichtung. Im Gegenteil: Grundsätzlich eignet sich das Instrument der Selbstverpflichtung dazu, der Wirtschaft Freiheitsräume zu erhalten und staatlich formulierte Gemeinwohlanforderungen mit dem wirtschaftlichen Rationalitätskalkül zu versöhnen. Aber es handelt sich um eine mediatisierte Freiheit, auf die die öffentliche Gewalt Einfluß nimmt, eine Freiheit zudem, die korporatistisehe Wirtschaftsstrukturen fördert und die Gefahr von unzulässigen Marktabsprachen und Positionsverfestigungen am Markt heraufbeschwören kann. Deshalb besteht für den Selbstverpflichtungen induzierenden Staat die Garantenpflicht, auf wettbewerbsneutrale Lösungen hinzu wirken - und zwar bevor Kartellbehörden einschreiten und ungeachtet der nur im Kartellrechtsverhältnis geltenden einfachgesetzlichen Bindungen und unabhängig von den Ermessensfreiheiten der Kartellaufsicht. Die Wahrung des leistungsfahigen Wettbewerbs ist Verfassungsauftrag, nicht anders als das Staatsziel des Umweltschutzes. Die Selbstverpflichtungen herbeiführende Politik darf es demnach nicht darauf ankommen lassen, ob eine ausgehandelte Selbstverpflichtung der Prüfung am Maßstab des GWB oder am Maßstab des Art. 85 EGV standhalten wird. Aus eigener Verfassungsbindung heraus haben etwa der Bundesumweltminister oder das Umweltbundesamt die Pflicht, den freien Wettbewerb als Strukturvorgabe bei der Verwirklichung umweltpolitischer Ziele zu beachten. Die Konkretisierung der insoweit bestehenden Anforderungen dürften eng verwandt mit denen des Kartellrechts sein: Transparenz der Absprachen, keine Schließung des Marktes für Newcomer, Erhaltung des Preiswettbewerbs. Es gibt für den informal handelnden Staat kein Passepartout, um die Barrieren zu überwinden, die als Voraussetzungen für Eingriffe in die Wettbewerbsfreiheit errichtet sind. Deshalb wird im Ergebnis zu Recht dem politischen Ziel des Umweltschutzes eine undifferenzierte Bereichsausnahme im Kartellrecht versagt. Es gibt keinen generellen Vorbehalt des öffentlichen Interesses, keine ,,role of reason" für umweltpolitische Absprachen - weder im deutschen Recht noch im Europarecht. 59 Das heißt aber nicht, daß einfachgesetzlich oder gar verfassungsrechtlich nunmehr einem Vorrang des Wettbewerbs vor Gesundheits- oder Umweltbelangen das Wort geredet würde, es kommt vielmehr darauf an, beide Vorgaben bei der konkreten 58 Zu den Wechsel wirkungen von europäischer Kartellkontrolle und Grundrechten: Schoh. Grundrechtsprobleme im europäischen Kartellrecht. Wirtschaft und Wettbewerb, 1990. 59 Pemice. Rechtlicher Rahmen der europäischen Untemehmenskooperation im Umweltbereich unter besonderer Berücksichtigung von Art. 85 EWGV, EuZW 1992, 139 (141).

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Fallbeurteilung miteinder in Einklang zu bringen, mithin Zielkonvergenz herzustellen. 6o In diesem Wechselspiel von Europa-, Verfassungs- und Kartellrecht bleibt aber eine wesentliche Frage in der Schwebe. Ist das GWB für diejenigen gesetzesabwendenden Selbstverpflichtungen, die aufgrund massiver Intervention staatlicher Stellen zustande kommen, überhaupt anwendbar? Die innerhalb eines Verbandes zur Vorbereitung oder Ausführung der Selbstverpflichtung getroffenen Abreden sind prima vista privatrechtliche Absprachen61 , aber der den Inhalt maßgeblich formende Rahmen ist häufig öffentlich-rechtlicher Natur. 62 Es kommt insofern auf eine normative Zurechnung an. Wenn die staatlich induzierte Selbstverpflichtung im Grunde nur eine neue Art öffentlicher Gewaltausübung ist, könnte sich die Anwendung des auf das Zivilrecht gerichteten GWB verbieten 63 , wenn man nicht den anderwärts entwickelten Gedanken der Zweistufentheorie für diese Fälle fruchtbar machen will. Hier zeigt sich jedenfalls ein weiteres Mal, daß der Gesamtkomplex der Selbstregulierung erheblich dazu beiträgt, die Grenzziehung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht diffus werden zu lassen. 64

V. Ausblick Es scheint nach den vorangegangenen Betrachtungen sinnvoll, das Instrument der Selbstverpflichtung von anderen Formen instrumenteller Selbstregulierung in der politischen und rechtlichen Beurteilung zu trennen. Anders als bei der einseitigen Überwälzung von Selbstüberwachungspflichten, wie dies heute in Genehmigungs- und umweltrechtlichen Überwachungsverfahren der Fall ist, bietet die im richtigen Rahmen erfolgende Selbstverpflichtung den größeren Raum für eine Akkordierung wirtschaftlicher Freiheit und der Verwirklichung öffentlicher Zwecke. Aber die politischen und rechtlichen Risiken sind auch hier wie im Gesamtkontext der Selbstregulierung sinnfällig. Die inzwischen beharrlich gepflegte Überschreitung der Grenze von Staat und Gesellschaft kann sich auch ein selbstreflexiv geKloepfer; JZ 1980, 781 (789). Winfried Brohm nennt sie "staatlich inspirierte horizontale Absprachen", Brohm, DÖV 1992, 1025 (1028). 62 Deswegen wird für eine der Selbstverpflichtung zugrundeliegende Absprache auch angenommen, es handele sich um einen öffentlich-rechtlichen Vertrag. Bohne, Informales Verwaltungs- und Regierungshandeln als Instrument des Umweltschutzes, VerwArch. 1984 (75. Band), 343 (362). 63 So etwa Kaiser; NJW 1971,585 (588); Hübner; Außerkarteilrechtliche Einschränkungen des Kartellverbotes, 1971, S. 61 ff.; Baudenbacher; Kartellrechtliche und verfassungsrechtliche Aspekte gesetzesersetzender Vereinbarungen zwischen Staat und Wirtschaft, JZ 1988, 689 (694); von Zezschewitz, JA 1978,497 (505). 64 Die Folgen wären vor allem für ein konsistentes Rechtssystem und die von ihm erbrachten Rationalitätsleistungen schwerwiegend. Näher Di Fabio, VVDStRL 56 (1997), 235 ff. 60 61

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wordenes Gemeinwesen, das die konstruktive Kontingenz seiner Leitunterscheidungen erkennt, nicht im Übermaß leisten. Es drohen die Zunahme hybrider Absprachegeflechte und die immer engere Einbindung in Branchenkartelle. Auf der anderen Seite schaffen Selbstverpflichtungen auch Luft, zeitlich und sachlich, sie können insofern ein Rationalitätspuffer gegen aktionistische Politik mit ihren legislatorischen Schnellschüssen wie der monströsen "Sommersmog"-Regelung der §§ 40 abis 40 e BImSchG sein. Vor einer Euphorie, die häufig bei neu- oder wiederentdeckten Handlungsinstrumenten zu beobachten ist, bleibt dennoch zu warnen. Es ist für die Gegenwartsgesellschaft bezeichnend, daß sie die Bürgertugend der Selbstdisziplin von Organisationen und Verbänden, aber kaum je vom Bürger einfordert. Eine auf das Individuum zugeschnittene Tugend wird gleichsam kollektiviert. Böse Zungen behaupten, das Staatsvolk, das wir alle bilden, verzichte lieber auf seine Souveränität als auf seine Bequemlichkeit. Und so kann es kommen, daß Staat und Wirtschaftsverbände sich wie im Fall der Altautoabsprachen einigen und nur noch der außenstehende Bürger mittels Rechtsverordnung subordinationsrechtlich zum Mitspiel gezwungen werden muß. Manchmal scheint es zudem, als jage mit den Selbstverpflichtungen der Wirtschaft ein Hase den Igel. Werden Autos und Flugzeuge leiser und sparsamer, so wird doch die Entlastung verfehlt, wenn die Einspargewinne von einer erlebnishungrigen Freizeitgesellschaft mehr als aufgezehrt werden. Hier schweigt der Präzeptor, wo doch Fragen sich aufdrängen. Zu reden wäre von Vorschlägen eine individuelle Selbstverpflichtung betreffend, etwa für Urlaubs- und Freizeitbedürfnisse nicht mehr als sagen wir 1000 Liter fossile Brennstoffe pro Person und Jahr zu verbrennen. Welchen Sinn hat das Drei-Liter-Auto, wenn am Markt Geländewagen oder Kleinbusse mit 17 Liter Benzin-Verbrauch absetzbar sind? Wir sollten nicht vergessen, daß die größten Selbstverpflichtungserfolge wie bei der FCKW- oder Asbest-Substitution dort erzielt wurden, wo der einzelne Verbraucher klar votierte. Um künftige Fehlentwicklungen zu vermeiden, sollte präsent bleiben: Die von Verbänden der Wirtschaft abgegebenen oder ihnen abgerungenen Selbstverpflichtungen entbinden weder den Staat noch den Bürger von ihrer Verantwortung für die Pflege der natürlichen Lebensgrundlagen.

3. Selbstregulierung im Umweltschutz als politische Gestaltungsaufgabe

Selbstregulierung im Konzept des Umweltgesetzbuches 1 Von Horst Sendler

I. Einleitendes zum Thema, zum nötigen Optimismus und zur Begriffsbildung 1. Thema und Optimismus

Leider habe ich zu spät gemerkt, daß ich das mir gestellte Thema gar nicht behandeln kann. Denn ein Umweltgesetzbuch, dessen Konzept zur Selbstregulierung ich vorstellen könnte, gibt es gar nicht. Was demnächst hoffentlich vorliegen wird und im Moment auch noch nicht existiert, ist erst der Entwurf eines Umweltgesetzbuches aus der Feder einer unabhängigen Sachverständigenkommission; der Entwurf soll im September der Frau Bundesministerin Dr. Merkel übergeben werden. Aber Sie können aus der Formulierung des Themas den faszinierend mitreißenden Optimismus des Leiters der heutigen Veranstaltung, unseres geschätzten Kollegen Kloepfer, entnehmen, der der Zukunft so erfolgssicher vorausgreift und zum Gesetz deklariert, was noch nicht mal oder gerade eben ein Entwurf ist. Lassen Sie mich noch einen kleinen Moment bei ihm und seinem Optimismus verweilen und damit dem Thema schon etwas näher kommen. Ein nicht unwesentlicher Teil des Entwurfs, der Fragen der Selbstregulierung betrifft, nämlich der Abschnitt über Recht- und Regelsetzung, also über die Regelung der Regelung, wie es Herr Johann vorhin ausgedrückt hat, ist nach der internen Geschäftsverteilung der Sachverständigenkommission von Herrn Kloepfer konzipiert und vorbereitet worden. Es hätte also nahegelegen, wenn er als der beste Sachkenner und überdies von der Richtigkeit des Konzepts besonders überzeugt, das mir gestellte Thema selbst übernommen hätte. 2 Das hätte jedoch wohl bedeutet, daß er gerechterweise eine Menge Selbstlob hätte einfließen lassen müssen. Aber bescheiden, wie er halt auch sein kann, wollte er dies wohl doch nicht tun und hat diese dankenswerte Aufgabe, seine Ideen zu loben, mir überlassen in der - wiederum optimistischen Erwartung, daß ich es tun werde; und in diesem Optimismus soll er recht behalten. 1 Der Beitrag enthält einige Passagen, die wegen Zeitmangels und auch deswegen nicht vorgetragen wurden, weil die Langeweile nicht überhandnehmen sollte - bei der Lektüre lassen sie sich leichter überfliegen. 2 Kloepjer/ Elsner, Selbstregulierung im Umwelt- und Technikrecht. Perspektiven einer kooperativen Normsetzung, DVBI. 1996,964 ff.

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Um das Stichwort aufzugreifen, das uns alle themagemäß vereint, bin ich also ein privater selbstregulierter Vollzugsgehilfe eines die Selbstregulierung steuernden öffentlich-rechtlichen Hoheitsträgers, nämlich eines insoweit - natürlich nur insoweit - im Hintergrund bleibenden Hochschullehrers, eben meines ebenso geschätzten wie lieben Kollegen Kloepfer. Das mag zugleich - und damit bin ich unversehens inmitten des Themas - als Beispiel dienen, wie Selbstregulierung zustande kommen kann, wie sie funktioniert und wie fremdnützig sie auch zu sein vermag. 2. Zur Begriffsbildung

Glücklicherweise enthält der Entwurf nicht nur im Abschnitt Recht- und Regelsetzung Elemente einer Selbstregulierung, sondern darüber hinaus weit mehr und mehr, als ich hier vortragen kann. Bei Durchsicht des Entwurfs unter diesem Aspekt war ich selbst überrascht, wieviel Ansatzpunkte er dafür bietet. Um dies belegen zu können, müßte ich freilich erst einmal näher ausbreiten, was ich unter Selbstregulierung verstehen möchte, und mich deswegen, wie es einem sich wissenschaftlich gebenden Vortrag zukäme, in aller Ausführlichkeit der Begriffsbildung zuwenden. Aber das will ich mir und Ihnen ersparen. Lassen Sie es mich kurz machen: Ich will den Begriff weit verstehen, wie es wohl auch die deutschen Staatsrechtslehrer taten, als sie im vergangenen Jahr das Thema von gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung - gewissermaßen das Pendant zur Selbstregulierung - in Verwaltung und Verwaltungsrecht behandelten. 3 Herr Schmidt-Preuß hat die gesellschaftliche Selbstregulierung als die individuelle Verfolgung von Privatinteressen in Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheiten zum legitimen Eigennutz bezeichnet. 4 Aber diese Selbstregulierung braucht nicht nur dem legitimen Eigennutz zu dienen, sondern kann auch der arbeitsteiligen Erfüllung öffentlicher Aufgaben dienstbar gemacht werden, und dies keineswegs nur bei der Aufstellung von Recht- und Regelwerken im Wege kooperativer Normsetzung. So nutzt der Entwurf in großem Umfang die Möglichkeit, das legitime Eigeninteresse des Bürgers fruchtbar zu machen, auch für die Interessen des Umweltschutzes. Das ist kein Widerspruch in sich; denn wenn es gelingt, den Bürger davon zu überzeugen, daß der Umweltschutz zu seinen ureigensten Angelegenheiten gehört, dann ist das Eintreten eines Bürgers für den Umweltschutz zumindest auch eine individuelle Verfolgung von Privatinteressen, zugleich aber Erfüllung einer Gemeinwohlaufgabe.

3 Schmidt-Preuß und Di Fabio. Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, in: VVDStRL 56 (1997), S. 160 ff. und 235 ff. 4 Schmidt-Preuß (FN 3), S. 162, 163.

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So bietet der Entwurf die ganze weite Palette an Instrumenten der Selbstregulierung, die Di Fabio auf der vorjährigen Staatsrechts lehrer-Tagung aufgezählt hat: "Die Begründung von Verwaltungspflichten - gesprochen wird heute von Eigenverantwortung -, Regelungsandrohungen oder Deregulierungsversprechen, finanzielle Anreize negativer und positiver Art, Informationsbeeinflussung, Schaffung organisatorischer Mischverhältnisse. ,,5 Angesichts dieser wissenschaftlich beglaubigten Umstände dessen, was alles - und noch mehr - zur Selbstregulierung gehört, kann ich ungesäumt den Reigen dieser Dinge im Entwurf vorführen. Den Kennern des geltenden Umweltrechts - und das sind Sie ja wohl alle - wird dabei manches bekannt vorkommen. Das liegt daran, daß eine Kodifikation - und das Umweltgesetzbuch soll eine Kodifikation werden - Bewährtes und damit Bekanntes zusammenfaßt, wenn auch fortentwickelt und mit hoffentlich zukunftstauglichen Innovationen verbindet.

11. Selbstregulierende Elemente im Entwurf 1. Umweltverantwortung des Bürgers und Kooperationsprinzip

Das beginnt bereits in der Einleitungsvorschrift des Abschnitts über die Grundlagen des Umweltschutzes (§ 3 des Entwurfs)6. Unter der Überschrift "Umweltverantwortung und Umweltbewußtsein" spricht sie aus, daß jeder eine eigene Verantwortung für den Schutz der Umwelt trägt und nur im Rahmen dieser Verantwortung die Umweltgüter nutzen kann; die Umweltverantwortung schließt eben auch ein Stück Selbstregulierung - gleichsam mit Hilfe von und durch Selbstdisziplinierung - ein. Zugleich wird aber auch der Staat verpflichtet, das Umweltbewußtsein der Bürger zu fördern und ein wenig Umweltbewußtsein von oben zu vermitteln, wenn das eigene Umweltbewußtsein der Bürger der Nachhilfe bedarf. Diese Vorschrift - in ihrer Art neu - steht bewußt am Anfang, und zwar in bewußt plakativer Form, um das eigentlich Selbstverständliche besonders deutlich in Erinnerung zu rufen; denn das Selbstverständliche versteht sich leider nicht immer mehr von selbst. Mit der Anrufung der eigenen Verantwortung des Bürgers ist auch beabsichtigt, sein Engagement zu wecken und seine Selbstregulierungskräfte zu stimulieren. Man mag zweifeln, ob diese Vorschrift eine sonderlich große juristische Aussagekraft hat; aber wir Juristen sollten uns darüber im klaren sein, daß es auf die juristische Prägung allein nicht immer so sehr ankommen dürfte, wie auf die Prägung im übrigen. Wenn ich mir vorstelle, was kluge Leute schon alles aus der durch juristische Prägnanz nicht besonders ausgezeichneten Staatszielbestimmung Umweltschutz des Art. 20a GG hergeleitet haben, dann ist mir auch um das juristische Weiterwirken der erwähnten Vorschrift über die Umweltverantwortung nicht bange. 5

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Schmidt-Preuß (FN 3), S. 240, 241. Vorschriften ohne nähere Bezeichnung sind solche des Entwurfs.

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Das gilt zumal deswegen, weil sie in engem Zusammenhang steht mit einer weiteren Vorschrift des Eingangsabschnitts über die Grundlagen des Umweltschutzes. Diese Vorschrift (§ 7) umschreibt als Kooperationsprinzip das Zusammenwirken von Bürgern und Staat zum Schutz der Umwelt, und zwar gleichgewichtig, während ein früherer Entwurf, der sog. Professoren-Entwurf7, nach Meinung mancher Kritiker Schlagseite aufwies, indem er Behörden grundsätzlich nur tätig lassen sein wollte, "soweit ein hinreichender Schutz der Umwelt nicht durch die Bürger erfolgen kann oder erfolgt." Man befürchtete wohl nicht zu Unrecht, daß man damit die Selbstregulierungskräfte überfordern und ihnen zuviel zumuten könnte, der öffentlichen Hand hingegen die Steuerungsmöglichkeiten zu sehr beschnitten und die Hände gebunden würden mit der unerwünschten Folge, daß sie - die Hände nämlich - bereitwillig in den Schoß gelegt würden. Wie gesagt: Der jetzige Entwurf strebt mehr Ausgewogenheit an und sagt deswegen ausdrücklich, daß Behörden und Betroffene bei der Erfüllung der ihnen nach den umweltrechtlichen Vorschriften obliegenden Aufgaben und Pflichten nach Maßgabe der jeweiligen Bestimmungen zusammenwirken; nicht von ungefähr weist der Entwurf in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der Vorschriften über die Beteiligung der Öffentlichkeit und über den Zugang zu Umweltinformationen hin; mit Recht meint er zu diesen Vorschriften, die den gesamten Entwurf wie Adern durchziehen und uns noch beschäftigen werden, sie dienten dem Zusammenwirken von Behörden und Betroffenen. Im Interesse dieses Zusammenwirkens wird den Behörden aufgegeben, bei Maßnahmen aufgrund der umweltrechtlichen Vorschriften zu prüfen, ob die Zwecke des Umweltgesetzbuches in gleicher Weise durch Vereinbarungen mit den Betroffenen erreicht werden können, diese also die Möglichkeit haben, ihre eigenen Vorstellungen gewissermaßen selbstregulierend einzubringen; insoweit besteht also nur ein Prüfauftrag und nicht etwa ein Prinzip der Subsidiarität staatlichen Handeins gegenüber privater Initiative.

2. Recht- und Regelsetzung

Diese die Bürgerbeteiligung beschwörenden Vorschriften durchziehen sozusagen in geballter Ladung leitmotivisch das erste Kapitel des Entwurfs gleichsam als allgemeinster Teil des Allgemeinen Teils des Gesetzbuchs. Das ist insbesondere der Fall bei dem schon erwähnten Abschnitt über Recht- und Regelsetzung, der dem Abschnitt über die Grundlagen des Umweltschutzes auf dem Fuße folgt. Das beginnt mit einem Novum in der Geschichte der Rechtsetzung, also einem höchst innovativen Schritt. So sind nämlich bereits die Entwürfe von Rechtsverordnungen, in denen z. B. Grenzwerte für die Umweltqualität festgesetzt werden sollen, zu veröffentlichen (§ 16); vor dem Erlaß von DIN-Normen ist das, wie Herr Reih7 Kloepjer/Rehbinder/Schmidt-Aßmann/Kunig, Umweltgesetzbuch - Allgemeiner Teil, Berichte 7/90 des Umweltbundesamtes, 2. Auflage 1991, dort § 6.

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len aufzeigte, bereits längst so. Überdies sind die Entwürfe zu begründen unter Angabe der wissenschaftlichen Annahmen und Methoden sowie der technischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten. Das macht die Verordnungsgebung im Umwe1tbereich transparent und ermöglicht es sachkundigen Bürgern, sich in den herausgehobenen, aber nicht seltenen Fällen, in denen eine Öffentlichkeits beteiligung vor dem Erlaß einer Rechtsverordnung vorgesehen ist, fundiert zu äußern. Aber nicht nur das. Eine ausgewogen zusammengesetzte Umweltkommission aus qualifizierten, unabhängigen und weisungsungebundenen Mitgliedern (§ 17) mit beratender Funktion gegenüber Bundesregierung und zuständigem Ministerium ist vor dem Erlaß einer Rechtsverordnung anzuhören. Sie hat ihrerseits Vorschlagsrechte (§ 19); deren Ablehnung durch Bundesregierung oder Ministerium muß der Kommission gegenüber begründet werden.

Ich will nicht verschweigen, daß nicht alle Mitglieder der Sachverständigenkommission besonders glücklich über diese Einrichtung sind. Sie fürchten, daß die Umweltkommission angesichts der Fülle ihrer Aufgaben einen Flaschenhals bilden und zu Verzögerungen führen könnte .. Dieses durchaus ernstzunehmende Problem läßt sich aber dadurch lösen, daß die Möglichkeit besteht, nach Bedarf sog. gesellschaftliche Kommissionen und Fachkommissionen als Unterkommissionen zu bilden (§ 17 Abs. 6). Lassen Sie mich in Zusammenhang mit der Umweltkommission noch kurz einen Abschnitt des Entwurfs erwähnen, der sich beratenden Kommissionen widmet (§§ 59 ff.). Solche Kommissionen tauchen im Entwurf immer wieder auf, so z. B. die Kommission für Anlagensicherheit (§ 431), der Technische Ausschuß für Anlagensicherheit (§ 432), die Reaktorsicherheitskommission, die Strahlenschutzkommission und der Kerntechnische Ausschuß (§ 489) mit damit verbundenen Anhörungspflichten (§ 489 Abs. 5), die Gentechnikkommission (§ 558) und zahlreiche beratende Kommissionen und Sachverständigenkommissionen im Bereich des Rechts der gefahrlichen Stoffe (§§ 620, 664, 683, 700). Hier überall werden mit dem Sachverstand, gewiß auch mit der Interessengebundenheit der Mitglieder solcher Kommissionen auch deren Selbstregulierungskräfte in Anspruch genommen. Deswegen sieht der Entwurf vor, daß bei der Auswahl der Mitglieder im Falle gesellschaftlicher Kommissionen auf eine ausgewogene Vertretung der Interessen und im Falle fachlicher Kommissionen auf eine ausgewogene Vertretung der einschlägigen Fachgebiete und unterschiedlichen Auffassungen zu achten und die Verbände der beteiligten Interessen- und einschlägigen Fachgebiete vorher anzuhören sind. Um die Verknüpfung der beratenden Kommissionen mit der gewissermaßen überwölbenden Umweltkommission herzustellen, haben die beratenden Kommissionen nicht nur dem zuständigen Bundesministerium, sondern auch der Umweltkommission jährlich über ihre Tätigkeit zu berichten. Die beratenden Kommissionen haben eine durchaus vergleichbare Stellung wie die Umweltkommission: Weicht die zuständige Behörde in einem Verwaltungsverfahren von der gesetzlich vorgesehenen Stellungnahme einer Kommission ab, so hat sie die Gründe hierfür schriftlich darzulegen.

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Die privaten technischen Regelwerke haben uns schon ausgiebig beschäftigt. Daher nur kurz folgendes: Es kann kein Zweifel bestehen, daß diese selbstregulierenden Werke die untergesetzliche staatliche Rechtsetzung nicht nur erheblich entlasten, sondern ohne sie vieles überhaupt nicht liefe. Diese gar nicht hoch genug einzuschätzende praktische Bedeutung der technischen Regelwerke unterstreicht der Entwurf mehrfach. Er maßt sich zwar nicht an, die private Normung zu normieren. Aber er erkennt ausdrücklich an, daß in Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften auf technische Regelwerke verwiesen werden kann (§ 31), daß technische Regelwerke durch öffentliche Bekanntmachung amtlich eingeführt werden können (§ 32) und für solche amtlich eingeführten technischen Regelwerke vermutet wird, daß sie den Stand der Technik zutreffend wiedergeben (§ 33). Aber auch insoweit verfährt der Entwurf flexibel und läßt selbstregulierenden Kräften zusätzlich Raum: Von dem Regelwerk darf nämlich abgewichen werden, wenn ein mindestens gleichwertiger Schutz vor Gefahren und eine mindestens gleichwertige Risikovorsorge auf andere Weise gewährleistet wird. Weitere Vorschriften im Abschnitt über die Recht- und Regelsetzung vertrauen auf die gesellschaftlichen Kräfte zur Selbstregulierung. Sie bieten mehrere Instrumente an, für die es bisher keine gesetzlichen Vorbilder gibt, obwohl sie teilweise schon praktiziert werden. Der Entwurf will ihnen einen rechtlichen Rahmen geben und dadurch Anstöße vermitteln, sich ihrer vermehrt freiwillig, also ohne normativen Zwang, zu bedienen. Das hat durchaus einen Charme für sich. Es ist eine alte Erfahrung schon aus Schulzeiten her, daß man ohne Zwang - oder, wenn schon mit Zwang, dann doch mit hinreichend verhülltem - positiver motiviert ist, als wenn sozusagen die Knute hinter einem steht. Man hat überdies die Möglichkeit, sich der Freiwilligkeit seiner Bemühungen um die Umwelt zu rühmen und diesen Ruhm werbewirksam auszumünzen. Auch insoweit hat Gott den fröhlichen, den freiwilligen Geber lieb. Die Instrumente für solch löbliches Tun stellt der Entwurf in mehrfacher Form zur Verfügung. So kann die Bundesregierung für die freiwillige Erfüllung von Anforderungen zur Risikovorsorge, die Gegenstand einer Rechtsverordnung sein könnten, Zielfestlegungen treffen, die innerhalb einer bestimmten Frist erreicht werden sollen (§ 34). Werden die festgelegten Ziele nicht innerhalb der Frist erreicht, dann prüft die Bundesregierung als sozusagen mildeste Sanktion, die keine ist, welche Maßnahmen durch Rechtsverordnung zu treffen sind; eine solche Prüfung könnte und müßte sie ohnehin vornehmen. Einen Hauch von mehr Verbindlichkeit, die aber ebenfalls noch keine Verbindlichkeit ist, ist mit den häufig praktizierten Selbstverpflichtungen verbunden. Erst kürzlich wurde die Selbstverpflichtungserklärung zahlreicher Wirtschaftsverbände zur Luftreinhaltung als wichtiger Baustein des Klimaschutzprogramms gerühmt; im Zusammenhang damit hat sich die Bundesregierung bereiterklärt, zusätzliche ordnungsrechtliche Maßnahmen zur Klimavorsorge auszusetzen und der Privatinitiative der deutschen Wirtschaft Vorrang zu gewähren und sich dafür einzusetzen,

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daß die an der Selbstverpflichtungsaktion teilnehmende Wirtschaft von einer europaweit geplanten Energiebesteuerung ausgenommen wird. Der Entwurf sieht vor, daß Verbände oder einzelne Unternehmen gegenüber der Bundesregierung erklären oder mit ihr ohne Rechtsverbindlichkeit vereinbaren können, daß bestimmte Anforderungen zur Risikovorsorge, die Gegenstand einer Rechtsverordnung sein könnten, innerhalb einer angemessenen Frist freiwillig erfüllt werden (§ 35). Ein lockerer formaler Rahmen wird dafür gesetzt; so wird z. B. vorgesehen, daß die Selbstverpflichtung öffentlich bekanntgemacht wird, bestimmte Angaben, z. B. über den Kreis der Verpflichteten, enthalten soll und schließlich die Erfüllung der Anforderungen in geeigneter Form nachzuweisen ist. Dabei handelt es sich nur um ein Muster, das der Entwurf zur Verfügung stellt, aber nicht verbindlich macht, so daß auch andere Formen der freiwilligen Selbstverpflichtung benutzt werden könnten, beispielsweise ohne öffentliche Bekanntmachung, die zwar werbewirksam sein mag, aber gerade deswegen einen mittelbaren Druck ausübt. Die Handlungsfreiheit des Verordnunggebers bleibt wie bei der Zielfestlegung unberührt, wobei er freilich entstandenes Vertrauen bei dem, der sich die Selbstverpflichtung auferlegt hat, berücksichtigen muß. Der Schritt in die Verbindlichkeit - Verbindlichkeit auch für die öffentliche Hand - wird hingegen mit dem ebenfalls vorgeschlagenen normersetzenden Vertrag getan (§ 36). Danach kann die Bundesregierung, statt eine Rechtsverordnung zu erlassen, bestimmte Anforderungen auch durch öffentlich-rechtlichen Vertrag mit solchen, die auch eine Selbstverpflichtung eingehen könnten, vereinbaren, wenn dabei bestimmte Voraussetzungen erfüllt, z. B. schutzwürdige Interessen Dritter oder der Allgemeinheit nicht verletzt werden, und zwar höchstens für die Dauer von fünf Jahren. Das bietet Vor-, freilich auch Nachteile für beide Seiten. Jedenfalls haben die Vertragspartner im Rahmen des gesetzlich Zulässigen Möglichkeiten des Aushandeins. Überdies soll ausdrücklich ausgesprochen werden, daß dann, wenn der Vertrag Anforderungen zur Risikovorsorge abschließend festlegt, weitergehende Anforderungen in Genehmigungsbescheiden oder nachträglichen Anordnungen nicht gestellt werden dürfen; solange der Vertrag läuft, kann überdies die Bundesregierung keine Rechtsverordnung erlassen. Das Muster des Tarifvertrages, das hinter diesem Vorschlag steht, wird weiter erkennbar in einer Vorschrift, die eine Verbindlicherklärung eines normersetzenden Vertrages als Möglichkeit auch für Außenseiter vorsieht (§ 37). Was der normersetzende Vertrag als generelle Lösung statt einer Rechtsverordnung anstrebt, soll der weiter vorgeschlagene öffentlich-rechtliche Umweltschutzvertrag zur Ausräumung kleinräumiger Streitpunkte ermöglichen (§ 38). Danach können Anforderungen durch einen öffentlich-rechtlichen Vertrag zwischen der zuständigen Behörde, dem Anlagenbetreiber und einem Eigentümer eines Nachbargrundstückes - also kleinräumig - festgelegt werden, u. a., wenn schutzwürdige Interessen Dritter oder der Allgemeinheit nicht verletzt werden. Dieser Vertrag tritt also an die Stelle eines sonst möglichen Verwaltungsaktes, bietet den Vorteil, daß er zwischen den Beteiligten in gewissen Grenzen ausgehandelt werden kann und

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vor allem die Vertragschließenden und ihre Rechtsnachfolger bindet, so daß auch die Behörde in ihren Möglichkeiten, nachträgliche Anordnungen usw. zu erlassen, von bestimmten Anpassungs- und Kündigungsmöglichkeiten nach § 60 VwVfG abgesehen, stark beschränkt ist. Der Entwurf bedient sich auch sonst gelegentlich des flexibleren und eine Selbstregulierung ermöglichenden öffentlich-rechtlichen Vertrages, so z. B. im Rahmen der Sanierungs- und Rekultivierungspflicht im Zusammenhang mit der Sanierung von Bodenbelastungen. Statt die Erfüllung der Pflichten der Sanierungspflichtigen durch Anordnungen sicherzustellen, kann die zuständige Behörde auch einen öffentlich-rechtlichen Vertrag schließen (§ l32 Abs. 1 Satz 3). Schließlich sieht der Entwurf die Möglichkeit vor, zum Schutz der Umwelt und des Menschen in bestimmten Gebieten - also regional und damit nicht großräumig - Umweltgebietsverbände als Körperschaften des öffentlichen Rechts zu errichten mit der Befugnis, Satzungen zu erlassen (§ 40). Offensichtlich haben hier die Wasser- und Bodenverbände als Muster gedient. Diese Verbände böten den Vorteil, regionale Sachkunde und Interessen zu bündeln, um regionale Standards durch Satzung festzulegen. Sie würden damit vorzüglich die Vorschriften der §§ 47 und 47a BImSchG ergänzen können, um die dort vorgesehenen, bisher aber nur beschränkt wirksamen Luftreinhaltepläne sowie die Lärmminderungspläne, deren Praktikabilität sich erst noch erweisen muß, mit konkretem Leben zu erfüllen. Auch insoweit wäre also Raum für eine weitgehende Selbstregulierung im örtlichen oder regionalen Bereich, weil dort Standardfindung sehr viel zielgenauer und sinnvoller mit Hilfe von Gebietsverbänden und deren genauerer Kenntnis der örtlichen Verhältnisse erreicht werden kann als durch die sonst zuständige Landesregierung. Aus all dem können Sie erkennen, daß der Entwurf, um so manchen Wildwuchs etwas zu beschneiden und Wildwasser zu kanalisieren, letztlich aber im Interesse der Deregulierung einige Regulatorien aufgestellt hat, dies, um Irrwege zu vermeiden und unnötige Komplikationen zu verhindern.

3. Verbandsbeteiligung

In anderer Weise als bei der Recht- und Regelsetzung wird bei der Beteiligung von Verbänden auf gesellschaftliche Kräfte zur Selbstregulierung gesetzt. In solchen Verbänden soll der Sachverstand von Bürgern, die für den Umweltschutz engagiert sind, gebündelt, Behörden wie Gerichten nahegebracht und überdies verhindert werden, daß Behörden gegen umweltrechtliche Vorschriften verstoßen, ohne daß jemand vorhanden ist, der gegen rechtswidrige Maßnahmen vor Gericht vorgehen kann. Den Verbänden kommt insoweit ein Wächteramt zu. Deswegen will der Entwurf die Mitwirkung von behördlich anerkannten Umweltschutzverbänden an Verfahren und behördlichen Maßnahmen ebenso wie die Möglichkeit zur Erhebung von Verbandsklagen über das geltende Recht hinaus erweitern

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(§§ 42, 45); bei Klagen sind die Verbände darauf beschränkt, eine Verletzung bestimmter umweltrechtlicher Vorschriften geltend zu machen, so u. a. solcher Vorschriften, die auch den Belangen des Naturschutzes und der Landschaftspflege zu dienen bestimmt sind.

4. Drittschutz, Konkurrentenklage

Der Mobilisierung von selbstregulierenden Eigeninteressen dienen in Ergänzung der Möglichkeit von Verbandsklagen Vorschriften, die den sog. Drittschutz erweitern, nämlich in den Bereich der Risikovorsorge hinein. Derzeit können Bürger als Kläger vor Gericht nur geltend machen, es werde gegen Vorschriften verstoßen, die der Abwehr von Gefahren für die Betroffenen dienen und insoweit den Bürgern Rechte einräumen; diese Möglichkeit will der Entwurf erweitern mit der Folge, daß auch der Verstoß gegen Vorschriften, die lediglich der Risikovorsorge dienen, durch betroffene Bürger vor Gericht gerügt werden kann (§ 44, weitere Vorschriften zum Drittschutz: § 83 Abs. I Satz 2, § 469 Abs. 3, § 555 Abs. 2 Satz 2). Der Entwurf bedient sich dabei zur Durchsetzung solcher Vorsorgevorschriften des gleichen Mittels wie der EuGH, der die Betroffenen, die nach deutschem Recht nicht klagebefugt wären, gleichsam zu Vollzugsgehilfen bei der Umsetzung europäischen Umweltrechts in nationales Recht macht, indem er den Betroffenen die Möglichkeit zubilligt, gegen die Verletzung z. B. von europäischen Richtlinien vor Gericht vorzugehen. Selbst die grundsätzlich wenig schätzenswerte Eigenschaft des Neides macht sich der Entwurf zunutze. Er sieht nämlich vor, daß Gewerbetreibende über die privatrechtliche Konkurrentenklage nach dem UWG hinaus auch mit verwaltungsgerichtlichen Klagen gegen behördliche Maßnahmen oder Unterlassungen vorgehen können (§ 46), die einen Konkurrenten begünstigen und diesem die Chance geben, seine Produkte unter Verstoß gegen umweltrechtliche Vorschriften umweltunfreundlicher, deswegen aber billiger herzustellen und damit den Wettbewerb zu verzerren. So kann dessen Konkurrent mittelbar für die Einhaltung der umweltrechtlichen Vorschriften sorgen, wobei schon die Vorschrift als solche, als fleet in being, Wirkungen entfalten dürfte, um Kollusionen zwischen Behörden und Produzenten möglichst gar nicht aufkommen zu lassen.

s. Öffentlichkeitsbeteiligung und Umweltinformation Von sehr viel größerer Bedeutung sind freilich die Selbstregulierungskräfte der Öffentlichkeit insgesamt. Deswegen sieht der Entwurf bei - vereinfacht gesprochen - allen bedeutenden Projekten eine Öffentlichkeitsbeteiligung vor (z. B. §§ 87 f.). Jeder hat die Möglichkeit, Einwendungen zu erheben, die nicht selten Probleme und Schwachpunkte eines Projekts dem Betreiber und auch der Behörde

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erst bewußt machen und diesen die Möglichkeit geben, umweltschonendere Lösungen zu erreichen. Was die Verbände im Rahmen ihrer speziellen Aufgaben leisten, tut die Öffentlichkeit im Rahmen ihrer Beteiligung im allgemeinen: ein Wächteramt wahrzunehmen und die von ihr ausgehenden selbstregulierenden Kräfte zu mobilisieren. Freilich ist damit die Gefahr verbunden, daß Interessengegensätze deutlich und virulent werden, die - wenn alles hinter verschlossenen Türen abliefe und vollendete Tatsachen geschaffen würden - zunächst verborgen blieben, wohlgemerkt: nur zunächst. Dieser Gefahr sieht der Entwurf mutig ins Auge und verlangt mit einer Sollvorschrift, auf einen Ausgleich zwischen den beteiligten Interessen hinzuwirken und eine einvernehmliche Lösung anzustreben (§ 89 Abs. 1). Für diese Tatigkeit, die wiederum selbstregulierende Elemente in Anspruch nimmt, kann die Genehmigungsbehörde die Durchführung einzelner Abschnitte des Verfahrens, insbesondere des Erörterungstermins, einem Verfahrensmittler, übertragen (Abs. 2), weil nun einmal die Genehmigungsbehörde nicht selten in dem Ruf steht, nicht mehr ganz neutral zu sein; der Verfahrensmittler hat zum Ergebnis der übertragenen Verfahrensabschnitte eine Stellungnahme abzugeben und mit den Antragsunterlagen, den behördlichen Stellungnahmen und Sachverständigengutachten sowie den gegebenenfalls nicht erledigten Einwendungen an die Genehmigungsbehörde weiterzuleiten (Abs. 6). Das Letztentscheidungsrecht der Behörde wird dadurch zwar nicht in Frage gestellt; aber im Erörterungstermin, an dem freilich die Genehmigungsbehörde teilnehmen muß und also Einflußmöglichkeiten hat, können schon manche Weichen gestellt werden. Deswegen sind gegen solche Regelungen schon gewisse Bedenken geltend gemacht worden. 8 Der Entwurf mag insoweit in der Tat an die Grenzen des rechtlich Zulässigen gehen; überschritten sind sie m. E. nicht. Überschritten sind sie auch beim sog. Scoping (§ 85 Abs. 1) nicht, obwohl gewiß aufgepaßt werden muß, daß nicht die Unbefangenheit und die Sachkunde der Behörde in Frage gestellt wird, wenn sie sich vom Antragsteller das ganze Material liefern läßt und in die Gefahr gerät, vom selbstregulierenden Antragsteller fremdgesteuert zu werden. Im Zusammenhang mit dieser - übrigens auch grenzüberschreitenden - Öffentlichkeitsbeteiligung steht die Information der Öffentlichkeit über alle wesentlichen Belange des Umweltschutzes; sie ist deswegen in der eingangs erwähnten Kooperationsvorschrift ausdrücklich angesprochen. Wegen ihrer Bedeutung für die Wahrnehmung der Mitwirkungsrechte des Bürgers widmet der Entwurf der Umweltinformation ein eigenes Kapitel. Er räumt einen grundsätzlichen Anspruch des Einzelnen auf Zugang zu Umweltinformationen ein, die bei den zuständigen Behörden vorhanden sind (§ 217). Dieser Anspruch wird im wesentlichen nur gebremst durch die behördliche Pflicht zur Geheimhaltung personenbezogener Daten und zum Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen (§§ 224 f.). Ein solcher verfassungsrechtlich gebotener Schutz dient mittelbar übrigens auch der Selbstregulie8

Vgl. Schmidt-Preuß (FN 3), S. 183.

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rung, weil er den Betreibern die Scheu nimmt, Infonnationspflichten gegenüber den Behörden zu erfüllen.

6. Betrieblicher Umweltschutz und Umwelt-Audit

Dies wiederum hängt zusammen mit den Vorschriften über den betrieblichen Umweltschutz. Dem Infonnationsanspruch eines jeden Bürgers entsprechen nämlich unternehmerische Infonnationspflichten unterschiedlichen Ausmaßes gegenüber den zuständigen Behörden, wo sie dem erwähnten Infonnationsanspruch des Bürgers offen stehen und diesem seine Einflußmöglichkeiten eröffnen. Die Mitteilungspflichten betreffen die Betriebsorganisation und dabei die Frage, auf welche Weise organisatorisch und personell sichergestellt ist, daß die umweltrechtlichen Vorschriften beachtet werden (§ 153 Satz 1); wohlgemerkt: Es braucht nur mitgeteilt zu werden, auf welche Weise sichergestellt ist; die Weise selbst, nach der der Vogel singt, bestimmt der Betreiber in Eigenverantwortung, also selbstregulatorisch selbst. Größere Unternehmen sind darüber hinaus verpflichtet, jährlich über die wesentlichen Auswirkungen der Tatigkeit des Unternehmens auf die Umwelt, insbesondere über die Schadstoffemissionen, das Abfallaufkommen, den Rohstoff-, Energie- und Wasserverbrauch, den verursachten Länn öffentlich zu berichten, soweit nicht die sofort zu erörternde Umwelt-Audit-Verordnung weitergehende Erklärungspflichten mit sich bringt. Aber die Vorschriften über den betrieblichen Umweltschutz wirken auch in anderer Richtung unmittelbar auf die Unternehmen ein. Sie bezwecken nämlich, eine stetige Verbesserung des betrieblichen Umweltschutzes in Eigenverantwortung da haben wir dieses Wort erneut! - der Unternehmen sicherzustellen (§ 151). Einen besonderen Anreiz dafür bildet das sog. Umwelt-Audit, das nach Vorschriften des Europarechts die Möglichkeit bietet, sich freiwillig an einem Gemeinschaftssystem für das Umweltmanagement und die Umweltbetriebsprüfung zu beteiligen. Diese freiwillige Beteiligung schließt die Selbstverpflichtung ein, eine betriebliche Umweltpolitik festzulegen, die nicht nur die Einhaltung aller einschlägigen Umweltvorschriften vorsieht, sondern auch die Verpflichtung zur angemessenen kontinuierlichen Verbesserung des betrieblichen Umweltschutzes umfaßt (Art. 3 Buchst. a Umwelt-Audit-VO), und dies durch Umweltgutachter bei einer Umweltbetriebsprüfung kontrollieren zu lassen. Eine solche Teilnahme stimuliert also geradezu Selbstregulierungskräfte, die nicht nur der Umwelt, sondern auch dem Unternehmen selbst in mehrfacher Hinsicht zugute kommen, so z. B. durch Venninderung des Energieverbrauchs und des Abfallaufkommens sowie dadurch, daß das umweltbewußte Unternehmen die Möglichkeit hat, sein Engagement auch öffentlich dezent werbewirksam kundzutun, also Imagegewinn und eine Stärkung der Marktposition zu verbuchen, mit deren Verlust aber gerechnet werden müßte, wenn man die Bedingungen nicht mehr erfüllt. Der Unternehmer, der die Umwelterklärung nach dem Umwelt-Audit-System abgibt, wird überdies von manchen Mitteilungs10 Kloepfer

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pflichten entbunden (§ 153 Satz 2, § 155 Abs. 5 Satz 2, § 170 Abs. 3). Von noch größerem Gewicht ist es, daß Behörden des Bundes usw. bei der Vergabe von Aufträgen berücksichtigen sollen, ob das beauftragte Unternehmen am Umwelt-Audit teilnimmt (§ 51 Abs. 1 Satz 2). Als Anreiz, sich zu beteiligen, könnte auch die Hoffnung wirken, daß sich die von der Wirtschaft, aber auch aus Kreisen der Politik erhobenen Forderungen verwirklichen lassen, beim Vollzug des Umweltrechts und bei der Genehmigung und Überwachung von Industrieanlagen Erleichterungen für Unternehmen zu schaffen, die erfolgreich am Umwelt-Audit-System teilnehmen. Gewissermaßen Hilfe zur Selbsthilfe und Bestätigung der Eigenverantwortung ist es schließlich, daß der Betreiber vor Entscheidungen über die Einführung von Verfahren und Produkten sowie vor Investitionsentscheidungen eine Stellungnahme des Umweltbeauftragten seines Betriebs einzuholen hat, wenn die Entscheidungen für den Umweltschutz bedeutsam sein können (§ 160 Abs. 1). Damit ist die weitere Verpflichtung verbunden, gegenüber dem Umweltbeauftragten zu begründen, wenn die Entscheidung von der Stellungnahme abweicht, und dies auf Verlangen des Umweltbeauftragten auch schriftlich zu tun. Ähnliches gilt für das Vortragsrecht des Umweltbeauftragten (§ 161).

7. Lohn umweltschonenden Vorgehens

Von solchen stimulierenden Elementen, wie sie die Vorschriften über den betrieblichen Umweltschutz und das Umwelt-Audit bieten, ist der Entwurf auch sonst durchzogen. So will das Kapitel über Produkte die natürlichen Ressourcen schonen und vor Gefahren und Risiken schützen, die durch die Herstellung, das Inverkehrbringen, die Verwendung und die Entsorgung von Produkten entstehen können (§ 115 Abs. 1). Manche belastende Verpflichtung ist damit verbunden. Aber der Entwurf hält auch Lohn dafür bereit und reizt auch dadurch an. Das betrifft nicht nur die durch die Befolgung der Vorschriften z. B. bewirkten Energieeinsparungen, die auch dem Hersteller des Produkts zugute kommen. Lohn winkt weiter in Gestalt eines Umweltsiegels, das werbewirksam eingesetzt werden kann, wenn Produkte eine besonders umweltschonende Eigenschaft aufweisen oder auf besonders umweItschonende Weise hergestellt wurden (§ 124 Abs. 1). Die Hersteller umweltschonender Produkte, die den Anforderungen des Produktkapitels entsprechen, werden auch dadurch bevorzugt, daß Behörden vorrangig solche Produkte zu verwenden haben (§ 51 Abs. 1). Vergleichbare Vorteile bieten noch andere Vorschriften des Entwurfs. So kann abweichend von allgemeinen Verboten und Beschränkungen zur Risikovorsorge die Verwendung von Produkten gestattet werden, wenn das Produkt Eigenschaften aufweist, die für die Umwelt insgesamt eine erhebliche Verbesserung zur Folge haben (z. B. lärmgeminderte Rasenmäher) (§ 204 Abs. 1). Entsprechendes gilt für Ausnahmen von dem Verkehrsverbot bei Smogwetter für

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Kraftfahrzeuge mit geringem Schadstoffausstoß (§ 447 Abs. 2 Satz 1). Ähnliche Erwägungen stehen hinter den Vorzugsregelungen für eine umweltschonende Stromerzeugung (§§ 453 ff.). Ein weiteres Beispiel sozusagen für den Lohn der Angst bietet das Sanierungskonzept, das der Verantwortliche der zuständigen Behörde vorlegen und mit der Hoffnung verbinden kann, daß ihm damit die im Entwurf sog. eingreifenden Maßnahmen, also nachträgliche Anordnungen, Rücknahme oder Widerruf von Genehmigungen erspart bleiben (§ 132 Abs. 1). Ein solches Sanierungskonzept ist gleichsam selbstregulierende Vermeidung von möglicherweise Schlimmerem sowie Ausdruck einer Subsidiarität staatlichen HandeIns, freilich und selbstverständlich in Verbindung mit Kontrolle der Einhaltung des Sanierungskonzepts.

8. Überwachung und Eigenüberwachung

Denn die Einhaltung von umweltrechtlichen Pflichten muß natürlich nach wie vor überwacht werden. Auf die Blauäugigkeit von Unternehmern allein kann man sich nicht verlassen; Selbstregulierung könnte sonst zu viel in die eigene Tasche wirtschaften und für den Umweltschutz ein Schuß nach hinten sein. Aber Rücksichtnahme ist geboten. Deswegen sollen nach dem Entwurf die Überwachungsbehörden ein einvernehmliches Zusammenwirken mit den durch Überwachungsmaßnahmen Betroffenen anstreben (§ 133 Abs. 1 Satz 3), diesen also die Möglichkeit geben, auf die Durchführung der Überwachung selbstregulierend Einfluß zu nehmen. Dem entspricht es, daß diejenigen, für die umweltrechtliche Pflichten gelten, deren Einhaltung unbeschadet der behördlichen Überwachung eigenverantwortlich sicherzustellen haben (§ 133 Abs. 2 Satz 1). Dem dient auch die Möglichkeit der Eigenüberwachung; deren Regelung im Entwurf ist an die Vorschriften des Bundes-Immissionsschutzgesetzes angelehnt, aber ausgeweitet und verallgemeinert worden. Eine spezielle Regelung der Eigenüberwachung hält das Produktkapitel bereit. Danach sind Hersteller, Vertreiber und gewerbliche Verwender eines Produkts verpflichtet, die wesentlichen Verwendungen des Produkts laufend zu vermitteln, soweit Anhaltspunkte dafür bestehen, daß durch die Verwendung des Produkts Gefahren oder Risiken entstehen können; wie sie die Eigenüberwachung vornehmen, ist ihnen überlassen und gibt damit Möglichkeiten der Selbstregulierung.

9. Ökonomische Hebel

Finanzielle Anreize positiver und negativer Art als weitere Instrumente der Selbstregulierung bemüht der Entwurf selbstverständlich ebenfalls. Als ökonomische Hebel sieht er die Umwelthaftung, Umweltabgaben und Umweltsubventionen vor, darüber hinaus Kompensationsmöglichkeiten und die schon erwähnten Benutzungsvorteile für die sozusagen Vorbildlichen. Der Abschnitt über die zivilrechtli10*

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Horst Send1er

che Umwe1thaftung übernimmt, teilweise modifiziert, Tatbestände für eine Gefährdungshaftung aus dem Umwelthaftungsgesetz, aus dem Gentechnikgesetz und dem Wasserhaushaltsgesetz. Darüber hinaus schafft er eine Haftung für den Fall, daß Schäden u. a. durch den bestimmungsgemäßen Betrieb einer Anlage verursacht werden, läßt aber eine Ersatzpflicht nicht eintreten, soweit der Verantwortliche die nach den umweltrechtlichen Anforderungen erforderliche Sorgfalt beachtet hat (§ 172 Abs. 1 Satz 2); er bürdet diesem also insoweit die Beweislast auf, kehrt diese mithin gegenüber dem "normalen" Schadensersatzrecht des § 823 BGB um. Das soll den Betreiber veranlassen, in erster Linie natürlich solche Unfälle zu vermeiden, aber auch, um sich den Gegenbeweis zu erleichtern, den betrieblichen Umweltschutz zu dokumentieren. Vermutungsklauseln helfen teils dem Geschädigten, teils aber auch dem Betreiber. So mag das Umwelthaftungsrecht wie bisher einen finanziellen Anreiz bieten, Schäden möglichst zu vermeiden. Neu ist auch die Vorschrift über die - öffentlich-rechtliche - Wiedergutmachung von sog. Ökoschäden grundsätzlich durch Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes oder Erstattung der Aufwendungen für die insoweit erforderlichen Maßnahmen (§ 131). Umweltabgaben sieht der Entwurf in Gestalt von Wassernutzungsabgaben (Abwasserabgabe und Abgabe für Grundwasserentnahme nach §§ 403, 413), einer Abfallabgabe (§ 768), einer Straßenverkehrs- und einer Luftverkehrsabgabe (§§ 438 f.) sowie einer Stickstoffabgabe (§ 336) vor. Sie sollen als ökonomische Bremse insbesondere helfen, Emissionen zu vermeiden oder zu vermindern und natürliche Ressourcen zu schonen (§ 190 Abs. 1 Satz 1). An diesem Bestreben richtet sich die Höhe der Abgabe aus, also nach dem Grad der nachteiligen Auswirkungen der Handlung auf die Umwelt, nach dem Wert der Ressourcennutzung oder der Höhe der Vermeidungskosten (§ 192). U. a. damit hängt auch die vorgesehene Zweckbindung zusammen; denn die Zwecke, für die das Abgabenaufkommen verwendet werden soll, sind dazu angetan, die Selbstregulierung anzuregen; das gilt z. B. für die Stickstoffabgabe, deren Aufkommen für Maßnahmen zu verwenden ist, die einer umwe1tschonenden Bodenertragsnutzung dienen, insbesondere für die Förderung des Verzichts auf Dünge- und Pflanzenschutzmittel sowie für die Förderung des ökologischen Landbaus (§ 336 Abs. 5). Auch sonst werden Umweltabgaben als Anreizinstrument eingesetzt, so, wenn die Abwasserabgabe mit Aufwendungen für Abwasserbehandlungsanlagen oder für Anlagen zur Abwasservermeidung verrechnet werden kann (§ 410). Wenn man will, ist das schon eine Art verdeckte Subvention. Aber auch im übrigen werden Umweltsubventionen vorgesehen und für sie sogar eine rechts staatlich einwandfreie Grundlage bereitgestellt. Die Voraussetzungen sind freilich streng, so daß Umweltsubventionen nur gewährt werden dürfen, wenn das öffentliche Interesse daran überwiegt und die im Rahmen des Gesetzeszwecks angestrebten Ziele andernfalls nicht erreicht werden können. Zumindest subventionsähnlichen Charakter hat der angemessene Ausgleich, den die Länder

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für Fälle vorsehen können, in denen durch Maßnahmen des Naturschutzes und der Landschaftspflege oder durch Anordnungen in Wasserschutzgebieten dem Eigentümer oder sonstigen Nutzungsberechtigten wirtschaftliche Nachteile zugefügt werden, die eine besondere Härte bedeuten (§§ 320 und 394 Abs. 4). Die Förderung des ökologischen Landbaus (§ 335) und des Stroms aus erneuerbaren Energien (§ 453) zielen auch in diese Richtung. Ausdrücklich werden Subventionen des Bundes im Bereich der Energieversorgung angesprochen; sie sind vorrangig für die Erforschung, Entwicklung und Anwendung der Energieeinsparung sowie der erneuerbaren Energien zur Verfügung zu stellen (§ 450 Abs. 4). Selbstregulierenden Charakter haben schließlich die ökonomischen Instrumente, die die Möglichkeit von Kompensationen eröffnen, denen denn auch ein uneingeschränkt marktwirtschaftlicher Duktus nachgesagt wird. 9 So soll z. B. von Anordnungen zur Risikovorsorge abgesehen werden, soweit gewährleistet ist, daß spätestens innerhalb von fünf Jahren aufgrund von freiwilligen Maßnahmen, die dem Vorhabenträger zuzurechnen sind, an anderen Anlagen oder bei anderen Vorhaben insgesamt eine gleichwertige oder weitergehende Entlastung der Umwelt eintritt (§ 202 Abs. 1). In Belastungsgebieten sind ebenfalls Kompensationen vorgesehen. So soll die Behörde aufgrund einer Rechtsverordnung bei der Genehmigung von Vorhaben Ausnahmen von bestimmten Anforderungen zum Schutz vor schädlichen Immissionen gestatten, wenn die Anforderungen trotz Einhaltung des Standes der Technik nicht erfüllt werden können, die Belastung der Umwelt sich nicht erheblich erhöht und gewährleistet ist, daß Kompensationsmaßnahmen durchgeführt werden (§ 203). In die Reihe dieser Vorschriften gehört auch die sog. Öffnungsklausel im Kapitel über die Vorhaben. Danach kann auf Antrag des Vorhabenträgers in der Vorhabengenehmigung von der Einhaltung einzelner Grenzwerte zur Risikovorsorge abgesehen werden, wenn daraus unter Berücksichtigung des Einsatzes von Ressourcen und Energie Vorteile für die Umwelt in ihrer Gesamtheit erwachsen, die die Nachteile nach Einschätzung der Behörde eindeutig und erheblich überwiegen (§ 84 Abs. 3). Solche Regelungen sollen dem Vorhabenträger Flexibilität gestatten, ohne den Umweltschutz zu vernachlässigen. Erwähnung mag noch eine Vorschrift verdienen, die - in Anlehnung an Bestrebungen im Energierecht die Verpflichtung von Betreibern bestimmter Anlagen vorsieht, anderen Unternehmern die Mitbenutzung gegen angemessenes Entgelt zu gestatten; sie sucht zu verhindern, daß weitere Anlagen unter Inanspruchnahme von Grund und Boden und anderen Ressourcen errichtet werden, obwohl die Kapazität der vorhandenen ausreicht; sie setzt auch auf Flexibilität und selbstregulierende Kräfte zwischen den Beteiligten.

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Schmidt-Preuß (FN 3), S. 223.

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Horst Sendler

III. Haare in der Suppe?

Wie bereits eingangs gesagt: All dies zeigt, daß auch in dem Entwurf die ganze Palette der selbstregulierenden Instrumente, die die Wissenschaft zu bieten hat, freilich gelegentlich auch anprangert, abgehakt werden kann. Ihnen wird nicht entgangen sein, daß ich mich im wesentlichen darauf beschränkt habe, hinreichend dröge - mehr gibt das Thema halt nicht her - vieles von dem - keineswegs alles aufzublättern, was der Entwurf an Selbstregulierungselementen enthält. Dem Thema gemäß habe ich eine kritische Würdigung damit nicht verbunden, dies auch deswegen, weil ich sonst meine fremdgesteuerte, aber selbstregulierte Zeit überzogen hätte. Kritisch würdigen mögen andere; Skeptiker und Widersprechende, die das tun werden, gibt es sicher genug. Deswegen bin ich besonders gespannt, ob die Wissenschaft in Gestalt von Herrn Leisner verfassungsrechtliche Haare in der vom Entwurf kredenzten Suppe findet; die deutschen Staatsrechtslehrer haben im vergangenen Jahr schon einige Probleme aufgezeigt, die auch für den Entwurf gelten könnten; Herr Schmidt-Preuß und Herr Di Fabio haben es vorhin daran auch nicht fehlen lassen. Der Countdown des Entwurfs läuft allerdings bereits und ist nicht mehr aufzuhalten, so daß etwa vorhandene Haare nicht mehr herausgefischt werden könnten.

Verfassungsgrenzen privater Selbstregulierung Von Walter Leisner

I. Das Problem und seine Dimension 1. Beherrschung ist in der Demokratie ein "schlechtes Wort", Selbstbeherrschung ein "gutes Wort". Seit uns, vor einigen Jahrzehnten, die Bedeutung der "Begriffsbesetzung" eindrucksvoll demonstriert wurde, verfallt auch das öffentliche Recht in Deutschland zunehmend in derartige begriffliche Schwarz-Weiß-Malereien. Doch gerade hier kann Selbst-Beherrschung zum bösen, zum gefahrlichen Wort werden, härter kann sie sein als jede Fremdbeherrschung. Es droht die Gefahr, daß gegen sie rechtlicher Widerstand nicht möglich ist, weil sie als Ausdruck eigener Freiheit erscheint, daß vielmehr sämtliche Antiherrschaftsmechanismen des öffentlichen Rechts versagen. Ausgangspunkt unserer folgenden Betrachtungen ist die besorgte Frage, ob sich hier nicht neue Herrschaft aufbaut, welche Schranken ihr aus der Verfassung gezogen werden können. Die Dimension reicht ins Grundsätzliche: Herrschaft wird in der Demokratie odios - also Herrschaftsverlagerung, mitten hinein zwischen die Bürger. Herrschaftsausübung ist immer mehr teuerer Kostenfaktor für den Staat also Kostenverlagerung in die Bürgerschaft, ein Phänomen das wir überall beobachten. Modeme Machttechnik entfaltet sich hier im Namen dieser Selbst-Beherrschung. Auf zwei Wegen vor allem vollziehen sich diese Entwicklungen, die sich immer wieder berühren: Der Staat zieht sich zurück, überläßt die Herrschaft den Privaten - doch wenn sie etwas unternehmen, kontrolliert er sie, führt sie an der "langen Leine" ihrer Selbstregulierung. Oder der Staat geht soweit, daß er Private zu dieser Selbst-Ordnung zwingt oder ihnen doch mit hoheitlichen Drohgebärden nahelegt, sich selbst und ihresgleichen zu beherrschen. 2. Diese Selbstregulierung ist juristisch-dogmatisch ein Proteus, das haben vor allem die vorhergehenden Beiträge gezeigt, sie tritt in unzähligen Formen, mit zahllosen Gesichtern auf. Zwei Grundformen aber heben sich immerhin heraus: - Die "inter-private Selbstregulierung" - eine private Instanz ordnet den Rechtsbereich einer anderen aufgrund privatvertraglicher oder insbesondere statutarisch-gesellschaftsrechtlicher Bindungen. Dies wiederum kann geschehen aufgrund staatlich verliehener Macht: Der Private wird zum "beliehenen Unterneh-

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Walter Leisner

mer", diese Herrschaftsformen enden bei den "Privaten als Staat"; oder die Selbstregulierung verläuft ohne hoheitlichen Zwangseinsatz zwischen den Bürgern - am Ende steht der private Agentenstaat. Die andere Erscheinungsform unseres Problems ist die "staatsgewendete Selbstregulierung durch den Bürger", insbesondere in den Formen der Selbstverpflichtung, allgemein im Wege des Self-Restraint. Dort steht dann vermeintlich der Staat ohne Zwangsgewalt, der Staat als Einlöser von Selbstverpflichtungen, bei denen die dem Juristen wohlbekannte "Unterwerfung unter jederzeitige Zwangsvollstreckung" nicht stattzufinden scheint. Der Staat gibt sich als "Privater", Public-Private-Partnership. 3. Heute gibt es nichts Aktuelleres als solche Bestrebungen, überall wird das hier Angedeutete praktiziert, immer mehr mit geradezu atemloser Emsigkeit. Getragen ist es durch wiederum zwei nun wirklich "sehr gute" Begriffe: Entbürokratisierung zum einen - und manche möchten dies nicht nur bis zum "schlanken Staat" fortsetzen, sondern bis zur Staats schwindsucht. Und eng verbunden damit der zweite Strang: Privatisierung überall, weil höhere Effizienz stets winke, je weiter man sich vom öffentlichen Recht und seinen Zwängen und "Verkrustungen" entferne. Seit Jahrzehnten webt hier der Zeitgeist bereits seine Schlagwort-Geflechte. Hinter ihrer Verschleierung läuft - das Folgende wird es noch belegen - nichts anderes ab als eine ganz große neue Flucht des Staates ins Privatrecht. Was aber sagt dazu die Verfassung, läßt sie all dies schrankenlos zu, mit ihren Grundrechten, ihrer Rechtsstaatlichkeit, ihrer Kompetenzordnung - oder läßt sich aus ihr das gewinnen, was nun der Gegenstand des Folgenden ist: "Verfassungsschranken der Selbstregulierung" .

11. "Selbstregulierung" und liberale Privatautonomie Begriffspräzisierung

1. Was Verfassungsschranken sein könnten, wurde angedeutet; vor allem bedarf jedoch der Begriff der Selbstregulierung aus der Sicht der Verfassung einer Präzisierung. Der große deutsche Liberalismus des 19. Jahrhunderts, aus dem unser Öffentliches Recht herausgewachsen ist, beruht auf der Unterscheidung zwischen privater Freiheit und staatlichem Zwang. Selbstregulierung in einem weiten Sinn ist geradezu das erste Grundprinzip des Liberalismus, sie bedeutet Privatautonomie. Im Raume der Bürgerfreiheit hat der Staat nichts, aber auch gar nichts zu suchen, dort tritt er nur als Nachtwächter auf, der die Einhaltung äußerster Rahmen überwacht. In ihnen läuft die freie Selbstregulierung der Gesellschaft ab, welche für den klassischen Liberalismus überhaupt kein Gegenstand öffentlich-rechtlicher Betrach-

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tung sein konnte, es sei denn als die Freiheit, auf seine Rechte anderen gegenüber zu verzichten. In diesem Sinne hat es immer Selbstregulierung gegeben, und aus dieser liberalen Begrifflichkeit ist auch, das wird sich noch zeigen, das herausgewachsen, was wir hier betrachten - doch es ist etwas ganz anderes geworden. Selbstregulierung im Sinne der heutigen Diskussion, als ein weiter Oberbegriff über Standardsetzungen und Selbstverpflichtungen - all dies geht von einem Begriff der "öffentlichen Aufgabe" im Sinne der herrschenden Lehre aus, hier geht es um Verantwortungsbereiche, die nach der Verfassung auch vom Staat erfüllt werden dürfen, wenn auch nicht werden müssen, weil sie eben auch im Raume der "Gesellschaft" wahrgenommen werden können, so wie etwa Hans Peters vor Jahrzehnten bereits die "öffentlichen Aufgaben" zu bestimmen versucht hat. Der Staat überläßt diese virtuell staatlichen Aufgaben in ihrer Wahrnehmung Privaten, er überwacht sie jedoch dabei und behält sich vor, werden sie schlecht wahrgenommen, die Erfüllung sicherzustellen, sei es durch Selbsteintritt oder durch Entfaltung von hoheitlichem Zwang gegenüber säumigen privaten Selbstregulierern. 2. Halten wir fest: Die Aufgaben, um deren Erfüllung es hier geht, sind an sich, jedenfalls virtuell, Staatsaufgaben, nicht Bürgeraufgaben oder Gesellschaftsaufgaben. Nähme der Staat sie selbst wahr, so unterläge er allen bereits erwähnten Verfassungsschranken, von den Grundrechten bis zur verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung. Das deutsche öffentliche Recht ist stets davon ausgegangen, daß dem Staat nicht nur die Aufgabenwahlfreiheit zusteht, sondern auch die Aufgabenerledigungsfreiheit, er kann weitestgehend wählen, wie er einmal übernommene Aufgaben erledigen läßt. Und hier müssen wir feststellen: Im gesamten Bereich der Selbstregulierung hat der Staat die Aufgabe an sich gezogen - zugleich aber ihre Erledigung Privaten überlassen, sei es in deren vertraglichem, insbesondere verbandsmäßigem Zusammenwirken, oder einfach auf Wegen des Self-Restraint. Das führt zu einem wichtigen Zwischenergebnis: Alle Verfassungsschranken, denen der Staat unterläge, wenn er diese Aufgaben selbst übernähme, müssen auch dann gewahrt werden, wenn die Erledigung außerhoheitlich, durch Private vor sich geht, jedenfalls dann, wenn der Staat an die Nichterfüllung der Aufgabe rechtlich belastende Folgerungen knüpft. Sanktioniert der Staat die Nichterfüllung der Aufgabe überhaupt nicht rechtlich, so bleibt Selbstregulierung in dem oben angesprochenen weiten Raum der Privatautonomie, im Sinne der alten, weiten liberalen Selbstregulierung, aus dem hier behandelten Problemkreis fällt dies heraus. Die wichtigen Selbstregulierungs-Probleme, um die sich die Diskussion aber hier und überall dreht, sind gerade Staatsaufgaben, insbesondere der Umweltschutz, wie dies ja nun auch die Neufassung des Grundgesetzes mit ihrer Staatszielbestimmung deutlich zum Ausdruck bringt; hier ist der Bereich der Privatautonomie verlassen, der Staat steht in Reserve als Hoheitsgewalt.

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Walter Leisner

IH. Verfassungsschranken der Selbstregulierung im einzelnen Auszugehen ist davon, daß die hier behandelte Selbstregulierung die Schranken nirgends überschreiten darf, in die sich der Staat verwiesen sähe, erfüllte er die Aufgabe selbst unter Einsatz seiner Hoheitsgewalt. Im einzelnen führt dies zu folgenden Konsequenzen: 1. Die gesamte Selbstregulierungsproblematik tritt rechtlich nicht auf, Selbstregulierung ist in dem hier behandelten engeren Sinn verfassungsrechtlich unzulässig in Bereichen, wo der Staat an sich schon nichts zu suchen hat - bei der Gewissensund Religionsfreiheit, bei der Wissenschafts- und Kunstfreiheit, im Raum der Medienfreiheit. Privaten kann hier zur Selbstregulierung in unserem engeren Sinne nur die Aufgabe der Ziehung immanenter Grundrechtsschranken überlassen werden, welche der Staat auch, jedenfalls vornehmen müßte. Er hält sich dann zurück, greift erst ein, wenn die Selbstregulierungsmechanismen der Schrankensicherung versagen, wie etwa im Falle der altbekannten freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft oder des Presserats. Was etwa die Kirchen und Religionsgemeinschaften in ihrem Bereich durchführen, hat mit Selbstregulierung in unserem Sinne im übrigen nichts zu tun; nur am Rande, im Bereich, in den die immanenten Grundrechtsschranken hineinwirken, kann eine Kooperation mit dem Staat das Wort Selbstregulierung verdienen. 2. Die gesamte Selbstregulierung im engeren Sinn ändert nichts an der Geltung der Kompetenznormen der Verfassung. Geregelt, überwacht, erzwungen werden darf diese Selbstregulierung nur durch die nach dem Grundgesetz zuständigen Organe der Gesetzgebung und der Verwaltung von Bund, Ländern und mittelbarer Staatsverwaltung. Es gibt keinen Begriff der Selbstregulierung, welche die Staatsgewalt von diesen Kompetenzschranken entbände. Hier tritt die Problematik einer Kompetenzverschiebung von der Ersten zur Zweiten Gewalt auf, welche sich im Falle von Selbstbindungs-Vereinbarungen zwischen Privaten und Staat ergeben könnten. Staatlicherseits handelt hier in der Tat, in aller Regel, die Exekutive, von hier gehen auch die "Drohgebärden" aus, welche nur zu oft den Bürger oder seine Verbände dazu veranlassen sollen, Selbstbindungen einzugehen oder private Standards aufzustellen. Die Drohung besteht ja in der Regel darin, daß anderenfalls der Erlaß entsprechender Gesetze oder Verordnungen zu erwarten ist. Diese normativen Akte kann jedoch im Fall der Gesetzgebung die Exekutive nie allein erlassen, im Falle der Verordnunggebung jedenfalls dann nicht, wenn die Zustimmung einer gesetzgebenden Körperschaft, etwa des Bundesrates, dazu erforderlich ist. Anstöße können also hier von der Exekutive zwar ausgehen; Drohkompetenz und Realisierungskompetenz der Drohung fallen jedoch insoweit auseinander. Die Exekutive könnte also versucht sein, das, was sie allein nicht durchsetzen könnte, auf dem Wege über Vereinbarungen mit dem Bürger ohne parlamentarische Unterstützung durchzusetzen. Die Problematik wiegt um so schwerer, als im Allgemeinen Verwaltungsrecht anerkannt ist, daß bei informellem Verwaltungshandeln, etwa bei Warnungen, nur

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diejenige Staatsinstanz rechtsstaatlich legitimiert ist, welche auch eingreifen dürfte oder gar müßte, wenn die Warnung nicht befolgt würde. Davon kann hier aber nicht die Rede sein. Diese hier drohende Kompetenzverschiebung kann nicht, ganz allgemein, unter Berufung auf eine Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt werden, nach welcher eben stets einvernehmliches Handeln Vorrang vor obrigkeitlichem Eingriff haben müßte. Ein solches Prinzip kann nicht die verfassungsrechtliche Kompetenzverteilung überspielen. Allenfalls könnte man versucht sein, einen Ausweg darin zu sehen, daß eben bei Vereinbarungen die Exekutive immer nur die jeweilige Körperschaft vertrete, diese aber auch zur Realisierung der Drohung, wenn auch über andere Instanzen, befugt sei, und man könnte sich insoweit darauf berufen, daß ja auch bei Enteignungen die vorgängigen Anstrengungen eines freihändigen Erwerbs von anderen Organen unternommen werden müssen als von denjenigen, welche bei ihrem Scheitern sodann die Enteignung beschließen können. Doch der Ausweg bleibt bedenklich, denn grundsätzlich ist daran festzuhalten, daß das jeweils drohende staatliche Organ auch befugt sein muß, die Drohung notfalls zu realisieren. Hier droht also der Kompetenzordnung Gefahr, und die Problematik muß noch weiter vertieft werden. 3. Überträgt der Staat Privaten auf normativer Grundlage Hoheitsgewalt zur Selbstregulierung "für sich und andere", etwa zur Setzung privater Standards, an welche er Rechtsfolgen knüpft, so werden die Selbstregulierer dort als beliehene Unternehmer im herkömmlichen Sinne tätig. Alle Grundrechtsschranken wirken unmittelbar ihnen gegenüber, nicht etwa im Sinne einer Drittwirkung gegenüber anderen Privaten, sondern einer unmittelbaren Grundrechtswirkung gegenüber Beliehenen Unternehmern. Dasselbe gilt für die Rechtsstaatlichkeit mit ihrem ausgebauten Gerichtsschutz. 4. Problematischer sind Fälle, in denen der Staat von hoheitlichem Eingreifen absieht, solange sich Private selbstregulierend so verhalten, wie er es im Ergebnis wünscht und auch erzwingen könnte - hier liegt der bereits erwähnte weite Bereich der Selbstbindungen im informellen Verwaltungshandeln, Gentlemen 's Agreements. So wird auch im Bereich der Abfallentsorgung verfahren; wenn der Staat niemanden zwingt, seine Verpflichtungen in privaten Bindungen an andere zu erfüllen, dem Bürger dies vielmehr freiläßt, aber klarstellt, daß der Verpflichtete von der Staatsgewalt auf Erfüllung in Anspruch genommen werden kann, wird er nicht selbst tätig. In all diesen Fällen läßt sich die Figur der Beleihung nicht zur Gewinnung von Verfassungsschranken fruchtbar machen, denn nach der dort herrschenden Rechtsstellungstheorie wird ja vom Staat kein Zwang eingesetzt, es besteht keine hoheitlich erzwungene Rechtsbeziehung zwischen dem Abfallbeseitigungsverpflichteten und dem "Grünen Punkt". Verlangt der andere Private, auf welchen der Staat den an sich ihm gegenüber Verpflichteten zur Erfüllung seiner Verpflichtungen verweist, allzuviel, so kann sich etwa der Entsorgungsverpflichtete nicht auf grund-

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rechtliche Schranken gegenüber diesem anderen Privaten berufen, wiederum tritt ein Drittwirkungsproblem der Grundrechte nicht auf; denn der Verpflichtete sieht sich ja in der Lage, selbst zu entsorgen; wenn der Staat dabei aber von ihm zuviel verlangt, etwa seine Berufs- und Gewerbefreiheit unzulässig einschränkt, so beruft sich der Bürger dem Staat gegenüber auf die "normale" Grundrechtswirkung gegenüber der Hoheitsgewalt. Dies muß also immer klar sein: Wenn der Staat eine Ableitung der Aufgabenerfüllung auf dritte Private nahelegt, indirekt erzwingen will, so wirken die Verfassungsschranken nicht diesen Dritten gegenüber, sondern immer ihm gegenüber, der eben in Reserve steht, hoheitlich eingreift, wenn der angebliche oder wirkliche "Selbstregulierungsweg zum Dritten von den Verpflichteten nicht beschritten wird". Der Staat, welcher Selbstregulierung als eine Alternative anbietet, um sich dem Einsatz von Hoheitsgewalt zu entziehen, kann sich selbst aber damit nicht den Verfassungsschranken entziehen, denen er als Reserve-Sanktionsgewalt unterliegt, wenn ein Bürger die Selbstregulierung ablehnt. Geht er in der Organisation dieses Alternativweges so weit, daß er belastende Bedingungen selbst festlegt, welche der Bürger Dritten gegenüber erfüllen muß, weil er sich anders dem staatlichen Zwang nicht entziehen kann, so ist es doch immer wieder diese staatliche Gewalt, gegen die sich letztlich der Betroffene im Namen der Verfassung zu wenden hat, wenn dann der Staat selbst eingreift. So könnte man denn im Ergebnis sagen, die ganze Problematik der Selbstregulierung laufe letztlich an der Verfassung vorbei: Entweder es komme zur Selbstregulierung dadurch, daß private beliehene Unternehmer eingesetzt würden - dann wirken ihnen gegenüber die Verfassungsschranken wie wenn der Staat handelte oder es wird niemand gezwungen, dann kann abgewartet werden, bis der Staat dem gegenüber eingreift, der sich nicht selbst regulieren will. 5. Doch hier erreicht unsere Betrachtung einen kritischen Punkt: Soviel würde ja nicht über Selbstregulierung diskutiert, wenn dahinter nicht, wenn auch meist nur politisch, die Vorstellung stünde, dieses Outsourcing der Hoheitsgewalt zu Privaten sei überaus freiheitsträchtig, damit werde Herrschaft abgebaut, weil ja nun die Privaten selbst, im Bereich der Gesellschaft, übereinander herrschten. Doch dies ist nichts als eine große Freiheitsillusion. Der Staat zwingt nicht aber nur: noch nicht. Wird das staatliche Zuckerbrot nicht angenommen, so kommt die hoheitliche Peitsche; und der Sklave, der gehorcht, bevor er sich peitschen läßt, ist darin nicht frei; es können hier sogar besonders unerfreuliche Formen eines auch moralisch gefährlichen vorauseilenden Gehorsams gezüchtet werden. Nicht oft genug kann es wiederholt werden: Staatliche Angebote, sich selbst, zusammen mit anderen, zu fesseln, sich mit ihnen zusammenzubinden, dürfen die Verfassungsschranken der Staatsgewaltausübung, insbesondere der Grundrechte und der Rechtsstaatlichkeit, nicht verrücken. In erster Linie kommt es immer auf das Ergebnis der Aufgabenerfüllung an, welches der Staat auf diese Weise erreichen und, wenn auch indirekt, erzwingen will. Erscheint es als übermäßige Bela-

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stung, verletzt es vor allem etwa Art. 12 oder 14 des GG, so kann eine verfassungsrechtliche Legitimation nicht daraus gewonnen werden, daß all dies ja in Selbstregulierung erfolge; Selbstverstümmelung der Freiheit ist nicht besser als die Folterbank. So überspitzt muß hier formuliert und plakatiert werden, weil die Freiheitsillusion der Selbstregulierung bereits ein bedenkliches Ausmaß erreicht hat. Unser Grundrechtsbewußtsein bedarf dringend an diesem Punkte der Schärfung. Wenn der Staat den Bürger auf Selbstregulierung zusammen mit anderen verweist, wenn dies dann zu erheblichen Belastungen führt, wie sie etwa in der Kritik am "Grünen Punkt" vorgetragen worden sind, so geht es dogmatisch auch nicht an, die Bürgerfreiheit im Namen einer Drittwirkung der Grundrechte zu relativieren. Dem auf solche Weise gebundenen Privaten darf also nicht etwa entgegengehalten werden, er habe ja in einem privatrechtlichen Verhältnis auf seine eigene Freiheit im Wege der Autonomie verzichtet; er hat es nur getan unter dem Druck der staatlichen Hoheitsgewalt, er darf sich daher dieser gegenüber im Ergebnis auf volle Grundrechtswirkung berufen, muß sich keinen privatrechtlichen Grundrechtsverzicht entgegenhalten lassen. Problematisch bleibt freilich, daß es bisher im öffentlichen Recht nicht gelungen ist, klar und überzeugend eine Schwelle zu bestimmen, bei deren Überschreitung ein derartiger Druck faktischer Art zum Eingriff wird. Das Unentrinnbarkeits-Kriterium bleibt meist nur ein Wort, dessen nähere Konkretisierung noch immer auf sich warten läßt, jedoch dringend notwendig wäre. Doch es bleibt dabei: Der Staat kann eben den Bürger nicht auf solchen Wegen zur Betätigung seiner Privatautonomie und zum Grundrechtsverzicht in deren Rahmen zwingen: Der Staat darf vom Bürger nicht verlangen, daß dieser anderen Bürgern gegenüber weitergehend auf seine Freiheit verzichte, als derselbe Hoheitsstaat dies unmittelbar vom Bürger fordern dürfte. Erzwungene privatautonome Gestaltung ist hoheitlicher Staatszwang in vollem Umfang. Die Verfasssungslegitimation des Staatszwanges kann grundsätzlich durch keine wie immer geartete Freiwilligkeit bei der Auswahl, welcher Zwangs-Form man sich unterwerfen will, im Ergebnis gestützt oder erweitert werden. 6. Hier allerdings müssen nun die bisher so hart gescholtenen Vertreter der Selbstregulierung auch einmal in Schutz genommen werden: Sie predigen nicht nur Freiheitsillusionen, sie bringen auch neue Freiheit in einem entscheidenden Punkt, welcher auch aus der Sicht der Verfassungsschranken bedeutsam ist: Selbstregulierung, in welchen Formen sie auch erfolgt, wie stark ihre Bindungswirkungen sein mögen, hat immer Mitwirkungsrechte des Bürgers und seiner Verbände bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben, ja von Staatsaufgaben im Gefolge. Der Hoheitsgewalt bleibt der Private im Ergebnis unterworfen, solange der Staat noch in Reserve steht, letztlich bei fehlender Selbstregulierung doch eingreift. Aber der Bürger hat hier in aller Regel Selbstgestaltungsfreiheiten, Adaptierungsfreiheit der Verpflichtungserfüllung auf seinen besonderen Fall. Hier liegen die großen Chancen eines "Umweltschutzes durch Eigentümer", eines Vertragsnatur-

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schutzes, der mit ganz anderer Feinheit gestalten und mit weit höherer Akzeptanz seitens der Betroffenen gerade deshalb rechnen kann. Selbstregulierung ist, das zeigt sich hier deutlich, eine Art von Verfahrensfreiheit für den Bürger; die öffentlich-rechtliche Dogmatik hat seit langem erkannt, welche großen Freiheitsreserven im Verfahren ganz allgemein liegen können. Dies mag sich dann sogar dahin steigern, daß dem betroffenen Bürger geradezu neue materielle Entscheidungsräume der Freiheit erschlossen werden; man denke nur an den Begriff der Dispositionsfreiheit des Unternehmers, den das Bundesverfassungsgericht immer wieder, wenn auch oft übersteigert, eingesetzt hat, um staatliche Eingriffe in grundrechtliche Schutzbereiche zu legitimieren: Der Betroffene leide doch nicht allzu sehr darunter, nachdem ihm immer noch eine erhebliche betriebliche oder eigentumsrechtliche Dispositionsfreiheit verbleibe, auch wenn ihm einige Nutzungswege verschlossen würden. So eben wirkt auch die Selbstregulierung in sehr vielen Fällen: Private Phantasie wird aktiviert, im Ergebnis ist zwar zu entsorgen, das "Wie" aber kann "privat-konform" von Privaten ausgestaltet werden. Selbstregulierung zeigt sich hier als Form der Entnormativierung oder jedenfalls als eine Flexibilisierung der allzu lastenden normativen staatlichen Regelungen. Dies alles kann aus der Sicht der Freiheit nur nachdrücklich begrüßt werden. Warnend muß jedoch hinzugefügt werden: Die Judikatur, vor allem der Verfassungsgerichte, hat stets genau zu prüfen, ob damit der Hoheitszwang des Staates wirklich gelockert wird, ob die Verfahrenseinbindung der betroffenen Bürger diese auch materiell-inhaltlich entlastet - oder ob nicht gerade dadurch eine noch stärkere Belastung ihnen droht, zeit- und kostenmäßig, denn wir kennen ja heute bereits die Gefahren dieses "Verfahrenszwangs". Hier liegt das eigentliche Verfassungsproblem unseres Betrachtungsgegenstandes: Sachgerecht abzuschätzen, was hier an Adaptierungs-, an Verfahrensfreiheit durch Selbstregulierung gewonnen werden kann, und was auch der Gemeinschaft im Wege der Effizienzsteigerung damit an Vorteil zuwächst. Entscheidend bleibt aber, daß ein waches Freiheitsgewissen immer auf das in erster Linie blicken läßt, was im Ergebnis der Staat vom Bürger will, wodurch er ihn, so oder so, eben doch zwingt. Mit einigen staatsgrundsätzlichen Gedanken soll diese Betrachtung nun abschließen. Bestätigt hat sich, daß sich hier neue Herrschaft aufbauen könnte, und zwar gerade in Formen, welche vor kurzem unter dem Thema "Unsichtbarer Staat" behandelt wurden. Sondermüllentsorgungs-GmbHs wird auf den ersten Blick niemand als Polizei sehen, noch weniger den "Grünen Punkt". Immer mehr versteckt sich die Staatsgewalt hinter den harmlos erscheinenden gesellschaftsrechtlichen Abkürzungen des Privatrechts. Und hier, bei der Selbstregulierung, flieht der Staat nicht nur ins Privatrecht, er flieht geradezu "zu den Privaten". Die öffentlich-rechtliche

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Dogmatik in Deutschland hat - das sei einmal zu ihrer Ehre doch ausgesprochen - einen so hohen geistigen Stand erreicht, daß es hier, wie unsere Betrachtungen gezeigt haben, ohne weiteres möglich ist, dem Staat auch diesen Fluchtweg aus den Grundrechten und aus der Rechtsstaatlichkeit abzuschneiden; diese selbe öffentlich-rechtliche Verfassungsdogmatik ist auch in der Lage, mit ihrem Begriff der "Freiheit durch Verfahren" die Erleichterungen sachgerecht zu beurteilen, jenen Freiheitsgewinn, der unter Umständen sinnvolle Se1bstregulierung dem Bürger bietet. Die rechtlichen Instrumente stehen uns also auch zur Bewältigung dieser proteushaften Entwicklung zur Verfügung. Nur müssen wir uns darüber im klaren sein, daß sich dieser Proteus eben auch immer wieder Fesseln entziehen, in die Unsichtbarkeit fliehen will. Das Gesicht des Staates, auch wenn er sich hier verunsichtbaren will, muß stets von neuem wie ein Menetekel an den Wanden des öffentlichen Rechts erscheinen, damit ihm die Verfassung entgegengehalten werde. Freiheit kann so leicht zur Fata Morgana werden, zur Illusion. Pickelhauben bedrohen heute die Freiheit am wenigsten; die Illusion der Bürgerautonomie ist zur größten Freiheitsgefahr geworden. Schöne, schönende Worte, wie die "Selbstregulierung" dürfen nicht vergessen machen, daß gerade das Umweltrecht, um das es hier zentral geht, nichts anderes darstellt, als eine großangelegte Renaissance des alten, guten oder schlechten, Polizeirechts. Und dagegen ist die alte gute Verfassung gefordert. Und ganz am Ende noch eine Sorge: Viele bemühen sich heute, oft ehrlich, manchmal nicht ganz so ehrlich, um Vergangenheitsbewältigung, einige verzehren sich geradezu darin. Ihnen sei ins Stammbuch geschrieben: Die wirklich zu bewältigende Vergangenheit liegt in uns allen, auch in ihnen, nicht mehr in denen, auf welche wir selbstgerecht zeigen können. Und zu diesen Gefahren gehört, vor allem in Deutschland, eine große Illusion: daß es etwas geben könne, wie "Freiwilligen Zwang". Die Älteren erinnern sich noch, wie dieses Wort, mit verständlicher Ironie beladen, einst ein ganzes Regime stützen sollte; sie haben es damals in ganz Deutschland, die Jüngeren später in dessen östlichen Ländern erleben müssen, daß ein ganzes Staatswesen aufgebaut wurde auf einer "Pseudo-Verfreiwilligung" der Staatsgewalt, welcher die Partei an die Seite gestellt wurde; und in sie konnte man ja eintreten oder nicht - wenn auch bei Meidung gewisser Nachteile ... - in Formen politischer Selbstregulierung. Wer darauf erwidert, man dürfe doch Unrechtsregime nicht mit dem Rechtsstaat vergleichen, produziert nur Selbstgerechtigkeit oder macht sich problemblind. Mit unseren Vorstellungen der Verlagerung staatlicher Mächtigkeit und staatlichen Zwangs in selbstregulierende Privatbereiche beschreiten wir eine, wenn auch von Früherem noch weit entfernte, aber immerhin parallele Straße: Wir enthoheitlichen den Staat, und er, den wir aus den großen Toren der Staatlichkeit ausgetrieben haben wollen, kehrt durch die Hintertür und mit den tausend Augen der sich untereinander selbstregulierenden Bürger - und Konkurrenten - wieder zurück.

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Der Faschismus und letztlich auch der Kommunismus waren Regime, welche noch einmal gesellschaftliche Zwischengewalten in großem Umfang aufbauen, ein politisch-berufliches Zünftewesen verfassungsrechtlich installieren wollten. Die Französische Revolution hatte diese Zwischengewalten radikal zerstört, die Liberalen des 19. Jahrhunderts durften sie nicht kennen. Sind wir vielleicht doch dabei, sie neu zu entwickeln, in selbstregulierenden Gesellschaftseinheiten? Zu einer Kammer selbstregulierender Korporationen werden wird, mit Sicherheit nicht kommen. Doch daß hier Gefahren für die parlamentarische Wahldemokratie liegen, daß ihr nämlich wichtige Entscheidungsbereiche entzogen, damit entdemokratisiert werden, das sollte kein Besonnener von vorneherein beiseite schieben. Bewahren kann vor all diesen Gefahren nur das bereits angesprochene, angemahnte wache Freiheitsgewissen: Selbstregulierung läuft solange ab in den Schranken der Verfassung, wie sie nicht nur weniger bringt an staatlichem Zwang, sondern - und dies ist nicht identisch - mehr an Freiheit. Der Aufruf an den Bürger und seine Verbände zur Selbst-Beherrschung könnte jedoch auch, darauf ist immer wieder hingewiesen worden, ein Zeichen institutioneller Schwäche des heutigen Staates und seiner demokratischen Institutionen sein. Überläßt er hier nicht der Selbstregulierung nur das, was er eben selbst nicht mehr zu leisten, nicht mehr zu bezahlen vermag? Stehen wir darüber hinaus vor dem Phänomen eines Niedergangs des voluntativ-politischen, des dezisionistischen Staatsbegriffs, in einem entscheidenden Verlust von Entscheidungskraft, welche die Flucht zu politisch Unverantwortlichen begünstigt? Denn zu ihnen gehören ja auch die Bürger, "die Wirtschaft", welche hier in Pflicht genommen werden soll. Schwer abschätzbar ist heute noch - und es ist letztlich eine politische Frage wie stark die Energieverluste der späteren Volksherrschaft bereits geworden sind, insbesondere der Parteiendemokratie, welche immer mehr die Hilfe unverantwortlicher, "unabhängiger" Instanzen in Anspruch nimmt, von der Bundesbank über alle möglichen und unmöglichen Experten bis hin zum Bundesverfassungsgericht. Der Aufruf an die Bürger zu einem Paktieren mit der Staatsgewalt könnte ein weiteres Zeichen solcher Schwäche sein, weil diese Bürger eben nicht mehr voll beherrschbar sind, sich also selbst beherrschen sollen. Die Gefahr einer sich entwikkeInden Krypto-Herrschaft könnte also das Ergebnis einer sich ausbreitenden Schwäche sein, sie wäre dann nur noch um so größer. Hier muß die Betrachtung abbrechen, sie könnte vielleicht zur Vision eines Gemeinwesens führen, das zwei Pole kennt: eine ausgebaute Vertraglichkeit mit dem Bürgern und unter diesen - und eine Ordnungsrnacht, welche das Gewaltmonopol nur mehr im Sinne eines äußeren, bald vielleicht äußersten Rahmens aufrechterhält. Und wäre nicht dafür Rom ein Beispiel: Das große, wirtschaftsrnächtige Forum - auf den Hügeln die Legionen, welche die Pax Romana bewahren, nach innen und nach außen.

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Mehr Umweltschutz durch mehr Eigenverantwortung Von Walter Hirche Selbst-Beherrschung und Selbstregulierung sind der Gegenstand dieser Tagung. Bei dem mir gestellten Thema "Mehr Umweltschutz durch mehr Eigenverantwortung" stellt sich die Frage, welche Rolle der Staat in der Umweltpolitik überhaupt (noch) haben soll. Ist es ausreichend, allein auf "Selbstregulierung" zu setzen, soll der "Umweltstaat", der von den Veranstaltern noch vor kurzem intensiv diskutiert wurde, durch den Rückzug des Staates aus der Umweltpolitik abgelöst werden? Eine erste allgemeine Antwort findet sich in der Überschrift, unter der der abschließende Teil des heutigen Tages steht: "Selbstregulierung im Umweltschutz als politische Gestaltungsaufgabe". Selbstregulierung bedeutet nicht Verzicht auf politische Gestaltung, sondern gefordert ist das ungleich schwierigere Ziel, durch richtig dosierte politische Gestaltung die Kräfte der Selbstregulierung in den Dienst des Umweltschutzes zu stellen. Die Potentiale, die sich aus der Eigenverantwortung und dem Engagement der Wirtschaft für mehr Umweltschutz ergeben können, auszuschöpfen und zugleich zu vermeiden, daß Freiräume ausgenutzt werden, um notwendige Umweltschutzanstrengungen zu unterlassen oder daß sie zu einem Ausschalten des Wettbewerbs und damit auch von Effizienz und Innovation führen, ist eine der Herausforderungen, wenn nicht die Herausforderung für die Umweltpolitik der nächsten Jahre. Dabei ist es durchaus ein Aspekt, mehr Umweltschutz für weniger Geld zu erreichen und unnötige Belastungen der Wirtschaft zu vermeiden. Darüber hinaus darf aber nicht verkannt werden, daß die aktuellen Umweltprobleme sich mit traditionellen anlagenbezogenen Grenzwertregelungen ohnehin nicht mehr lösen lassen. COrEmissionen zum Beispiel lassen sich kaum durch nachgeschaltete Techniken vermeiden; ihre Reduzierung verlangt integrierte Lösungen, die letztlich bereits bei der Konzeption des gesamten Produktionsprozesses ansetzen müssen und aus diesem Grunde dem traditionellen Ordnungsrecht nur schwer zugänglich sind. Ein erhebliches Reduzierungspotential besteht zudem im Bereich der Produktgestaltung - ein Bereich, in dem flächendeckende ordnungsrechtliche Regelungen, die über einzelne besonders emissionsrelevante Produkte hinausgehen, nicht machbar sind. Integrierter Umweltschutz läßt sich nur schwer verordnen. Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren in weitem Umfang Elemente der Selbstregulierung in die Umweltpolitik eingebaut. Selbstverpflichtungen spielen 11*

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eine bedeutendere Rolle als in früheren Jahren, in das Abgaben- und Steuersystem werden ökologische Elemente eingeführt, an der Einführung handelbarer Umweltlizenzen wird gearbeitet und ganz neue Instrumente wie die Aktivierung der Produktverantwortung und die Förderung der umwe1torientierten Unternehmensführung bestimmen immer mehr die Umweltpolitik. Lassen Sie mich im folgenden auf diese verschiedenen Ansätze zur Aktivierung der ökologischen Eigenverantwortung der Wirtschaft im einzelnen eingehen: Von den Instrumenten, die auf eine Aktivierung der ökologischen Eigenverantwortung der Wirtschaft setzen, wird zur Zeit das Instrument der Selbstverpflichtung breit diskutiert, so auch auf der heutigen Veranstaltung. In Deutschland wurden von unterschiedlichen Industriebranchen seit den 70er Jahren mehr als 50 Selbstverpflichtungen abgegeben. Rechnet man die 19 Branchense1bstverpflichtungen zum Klimaschutz einzeln, steigt die Zahl sogar auf mehr als 70. In Deutschland werden Selbstverpflichtungen meist in der Form einseitig abgegebener - rechtlich nicht bindender - Erklärungen von Wirtschaftsverbänden oder -unternehmen abgegeben. Diese Selbstverpflichtungen werden vom Staat informell entgegengenommen, ohne daß der Staat eine rechtliche Verpflichtung eingeht. In der Regel liegt jedoch der Abgabe einer Selbstverpflichtung durch die Wirtschaft die - teilweise ausdrücklich erklärte - politische Erwartung zugrunde, daß der Staat im Gegenzug auf den Erlaß von Rechtsvorschriften verzichtet. In der Diskussion über Selbstverpflichtungen stehen sich sehr oft zwei Positionen gegenüber, die über das Instrument der Selbstverpflichtungen hinaus von grundsätzlicher Bedeutung für alle Politikansätze sind, die auf mehr Eigenverantwortung setzen: Für die einen sind Selbstverpflichtungen das unbürokratische, flexible marktwirtschaftliehe Instrument, um in kurzer Zeit zu geringstmöglichen Kosten entscheidende Umweltentlastungen zu erreichen. Für die anderen bedeutet der Einsatz von Selbstverpflichtungen die Kapitulation der Umweltpolitik vor den Interessen der Industrie und die Aushebelung demokratischer Entscheidungsverfahren. Zu den Kritikern gesellt sich in der letzten Zeit eine wettbewerbs- und ordnungspolitisch begründete Kritik aus der Befürchtung, mit Selbstverpflichtungen werde der Schritt vom marktwirtschaftlichen System zum korporatistischen Staat beschritten, in dem Staat und Wirtschaftsakteure gemeinsam die "Spielregeln" für die Wirtschaftsakteure vereinbaren und dabei Wettbewerbsprozesse ausschalten. Für mich sind beide Extrempositionen - sowohl die einseitig positive als auch die einseitig negative Sicht von Selbstverpflichtungen - nicht akzeptabel, da sie beide von Zerrbildern des Instruments der Selbstverpflichtung ausgehen, die mit dem Instrument, wie es in der Praxis eingesetzt wird, nur bedingt etwas zu tun haben. Selbstverpflichtungen sind dann, wenn die richtigen Voraussetzungen für ihren Einsatz vorliegen und sie bestimmten Kriterien genügen, dazu geeignet, das umweltpolitische Instrumentarium sinnvoll zu ergänzen und zu einer rationalen Umweltpolitik beizutragen. Liegen die richtigen Voraussetzungen nicht vor und werden bestimmte Kriterien bei der Ausgestaltung von Selbstverpflichtungen nicht

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eingehalten, kann es jedoch zu negativen Auswirkungen kommen, die nicht zuletzt die Erreichung des angestrebten umweltpolitischen Ziels in Frage stellen können. Dieser Ansatz liegt im übrigen auch der kürzlich veröffentlichten Mitteilung der EG-Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über Umweltvereinbarungen mit ihren Anforderungen und Leitlinien für die Anwendung und Ausgestaltung von Selbstverpflichtungen und Umweltvereinbarungen zugrunde. Für mich ist in diesem Zusammenhang entscheidend, daß die Verantwortung für das umweltpolitische Ziel auch beim Einsatz des Instruments Selbstverpflichtung primär beim Staat liegt. Er entscheidet, ob das Ziel aus gesamtgesellschaftlicher Sicht hinreichend ist oder ob zusätzliche gesetzliche Maßnahmen gegenüber denjenigen, die die Selbstverpflichtung abgeben oder gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen erforderlich sind. Fügt sich eine angebotene Selbstverpflichtung nicht in die umweltpolitischen Grundlinien ein, darf und wird sie nicht akzeptiert werden. Auch dann, wenn der Staat zu Beginn der Gespräche über eine Selbstverpflichtung nicht explizit ein Ziel vorgibt, wird diese Entscheidung vom Staat bei der Entgegennahme einer Selbstverpflichtungserklärung getroffen. Damit ist die Kritik, der Staat zöge sich beim Einsatz des Instruments Selbstverpflichtungen aus seiner umweltpolitischen Verantwortung zurück, nicht fundiert. Zugleich wird auch die Kritik, die Definition von Umweltzielen und deren Umsetzung sei eine ureigene staatliche Aufgabe, aus der sich der Staat mit dem Instrument Selbstverpflichtung zurückziehe, entkräftet. Dadurch, daß der Staat entscheidet, ob er eine Selbstverpflichtungen in einer bestimmten Ausgestaltung akzeptiert oder nicht, wird eben nicht die Festlegung der Spielregeln für die Marktwirtschaft in die Hände der Betroffenen gegeben. Vor diesem Hintergrund muß eine zentrale Anforderung an wirksame Selbstverpflichtungen jedoch immer Transparenz bei der Umsetzung durch eine effektive Überprüfung der Einhaltung der von der Wirtschaft eingegangenen Verpflichtungen sein. Eine regelmäßige Berichterstattung an die betroffenen Behörden über die Fortschritte bei der Zielerreichung und über die getroffenen Maßnahmen ist unerläßlich. Ein effektives Monitoring ist zum einen notwendig, damit der Staat entscheiden kann, ob das Absehen von gesetzlichen Regelungen auch weiterhin gerechtfertigt ist. Zum anderen ist ein nachvollziehbares und damit glaubwürdiges Monitoring auch für die Akzeptanz der betreffenden Selbstverpflichtung bzw. des Instruments insgesamt von erheblicher Bedeutung. Eine in Deutschland vielfach genutzte Möglichkeit, das Monitoring effektiv und glaubwürdig zu gestalten, ist die Beauftragung externer Prüfer. Diese Möglichkeit sollte bei allen Selbstverpflichtungen von einigem Gewicht genutzt werden. Ein Modell für ein gutes Monitoring ist für mich das in der aktualisierten Erklärung der deutschen Wirtschaft zur Klimavorsorge vom März 1996 vorgesehene Verfahren. Es ist nicht nur in Gestalt des RWI ein anerkannter externer Prüfer eingesetzt worden, sondern es wurde im Detail festgelegt, wie das Monitoring durchgeführt

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wird und welche Infonnationen von den beteiligten Verbänden zur Verfügung zu stellen sind. Vor kurzem hat auch die EU-Kommission in einem Papier darauf hingewiesen, daß sich mit einer verstärkten Transparenz vielen Kritikpunkten begegnen, die dem Instrument der Selbstverpflichtungen entgegenhalten werden. Im einzelnen wird die Veröffentlichung der Umwe1tvereinbarung bzw. Selbstverpflichtung im Amtsblatt oder einem anderen der Öffentlichkeit zugänglichen Dokument gefordert. Es wird ferner vorgeschlagen, die EU-Richtlinie über den freien Zugang zu Infonnationen über die Umwelt auch auf Umweltvereinbarungen bzw. Selbstverpflichtungen anzuwenden. Zu recht weist die Kommission darauf hin, daß eine Infonnation der Öffentlichkeit nicht nur als Belastung für die beteiligten Unternehmen gesehen werden darf, sondern auch ein wichtiges Instrument einer positiven Außendarstellung sein kann. Insofern ist die Praxis in Deutschland bisher vielleicht zu oft von einer nicht angebrachten Zurückhaltung geprägt gewesen. Hier könnte und sollte die Mitteilung der EU-Kommission, auch wenn sie keine rechtlich bindenden Vorgaben geben kann, zu einem Umdenken führen. Umweltabgaben und -steuern als Instrument zur Aktivierung der ökologischen Eigenverantwortung werden in Deutschland bereits seit den 70er Jahren mit dem Ziel einer über die bloße Einhaltung fester Grenzwerte hinausgehenden Umweltvorsorge eingesetzt. In der jüngsten Zeit ist die Diskussion jedoch über den vereinzelten Einsatz des Instruments hinausgegangen, es wird die umweltorientierte Refonn des Steuersystems gefordert. In diesem Zusammenhang sind aus meiner Sicht drei Aspekte von signifikanter Bedeutung: Erstens ist zu prüfen, wie eine Modifikation des Steuersystems auch für eine stärkere Betonung von Umweltaspekten genutzt werden kann. Dabei geht es nicht zuletzt um den Abbau steuerlicher Begünstigungstatbestände, die umweltbelastendes Verhalten eher fördern. Hier besteht in einigen Bereichen, vor allem im Verkehr, ein beträchtliches Potential für einen aus umweltpolitischer Sicht sinnvollen Subventionsabbau zugunsten der Umwelt. Allerdings wurde hierbei immer wieder deutlich, daß die Widerstände gegen den Abbau bestehender ökologisch kontraproduktiver Steuervergünstigungen nicht viel geringer sind als die gegen die Einführung neuer Öko-Steuern. Um so bedeutsamer ist es, daß im Rahmen des von der Bundesregierung beschlossenen Entwurfs eines Steuerrefonngesetz 1999 vorgesehen ist, die bisher geltenden Regelungen über eine Kilometerpauschale für die steuerliche Berücksichtigung des Weges von der Wohnung zur Arbeitsstätte durch eine verkehrs mittelunabhängige Entfernungspauschale zu ersetzen. Damit wird eine steuerliche Begünstigung des Individualverkehrs gegenüber dem öffentlichen Personenverkehr abgeschafft. Zugleich wird mit der Reduzierung des Betrages, der für den Entfernungskilometer angesetzt werden kann, und vor allem dadurch, daß die ersten 15 Kilometer überhaupt nicht mehr berücksichtigt werden können, eine aus umweltpolitischer Sicht falsche Subventionierung des Verkehrs ganz erheblich einge-

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schränkt. Dabei verkenne ich nicht die Härten, die sich daraus im Einzelfall für Berufspendler ergeben können. Zweitens steht die Nutzung bestehender Steuern für umweltpolitische Ziele auf der Tagesordnung. Ich denke z. B. an die emissionsorientierte Kfz-Steuer oder an die Spreizung der Mineralölsteuer, je nach Schädlichkeit des Kraftstoffes. Auch insoweit hat es in den letzten Monaten Fortschritte gegeben: Nach einem sehr langen und mühsamen Gesetzgebungsverfahren kann jetzt endlich die Umstellung der Kraftfahrzeugsteuer auf eine abgasbezogene Regelung in Kraft treten. Dies wird auf flexible Weise dazu beitragen, daß Fahrzeuge mit unzureichender Abgasreinigung in den nächsten Jahren aus dem Straßenbild verschwinden werden. Noch mehr wird es mich als Liberaler allerdings freuen, wenn es uns gelingt, in etwa fünf Jahren die Kfz-Steuer durch Umlegung auf die Mineralölsteuer ganz abzuschaffen. Ein dritter Schritt wäre, wie bereits erwähnt, die Einführung von neuen Umweltsteuern oder -abgaben, wie bspw. die COr / Energiebesteuerung. Ich halte eine solche Steuer derzeit jedoch nur bei einer EU-weiten Einführung für vertretbar. Die Diskussionen in der EU sind schwierig und langwierig. Kürzlich hat die Kommission jedoch einen neuen Vorschlag zur Energiebesteuerung vorgelegt, der durchaus konsensfähig sein kann, auch wenn er nur kleine Schritte vorsieht. Damit wäre ein aus meiner Sicht richtiger Weg zur stärkeren Nutzung des Instruments der Umweltabgabe oder auch "Ökosteuer" beschritten. Hierüber werden in wenigen Tagen die Umweltminister aus acht EU-Staaten in Wien beraten. Ich freue mich darauf, dabei Deutschland zu vertreten. Das Instrument der Handelbaren Umweltzertifikate ist trotz jahrelanger theoretischer Diskussionen bisher noch nicht in Deutschland zur Anwendung gekommen. Praktische Erfahrungen gibt es bisher fast ausschließlich in den USA. Der Zertifikatehandel gibt den Kraftwerksbetreibern Flexibilität bei ihren Investitionsentscheidungen und fördert damit die ökonomische Effizienz und ökologische Eigenverantwortung. Ein aus ökologischer Sicht bedeutsamer Vorteil von Zertifikatlösungen gegenüber Steuern besteht darin, daß - eine entsprechende Kontrolle vorausgesetzt - die ökologische Zielsetzung in jedem Fall erreicht wird. Denn es sind immer nur so viele Zertifikate im Handel, wie es das politisch festgelegte Emissions-Reduktionsziel erlaubt. Der staatliche Eingriff beschränkt sich auf die klare Vorgabe eines Reduktionsziels. Der Umwelterfolg liegt in der Festschreibung einer anspruchsvollen Mengenreduzierung von Schadstoffen. In den USA hat sich gezeigt, daß die Kosten der Schadstoffreduktion pro Tonne mit dem Instrument "emissions trading" sehr viel geringer waren als wenn mit ordnungsrechtlichen Vorgaben gearbeitet worden wäre. Die Situation in Deutschland unterscheidet sich von der in der USA insbesondere dadurch, daß die Fortschritte, die in den USA mit dem Zertifikatsystem erreicht werden sollen, in Deutschland bereits in den 80er Jahren - etwa auf der Grundlage der Großfeuerungsanlagenverordnung - erreicht wurden. Eine Investition, die auf

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der Basis des Ordnungsrechts bereits vorgenommen wurde, kann naturgemäß nicht durch ein Zertifikatsystem ein weiteres Mal getätigt werden. Vor diesem Hintergrund wird in Deutschland zur Zeit gemeinsam mit interessierten Verbänden ein Pilotprojekt zur Einführung eines Systems hande1barer Umweltzertifikate in einem bisher noch ungeregelten Bereich, nämlich in der Reduzierung der VOC-Emissionen beim Lösemitteleinsatz in der Autoreparaturlackierung vorbereitet. Dabei zeichnet sich ab, daß den bestechenden theoretischen Vorteilen des Modells in diesem Bereich eine Vielzahl ganz erheblicher praktischer Probleme entgegenstehen, an deren Überwindung intensiv gearbeitet wird. Vom Bundesumweltministerium wurde ferner der Einsatz handelbarer Umweltzertifikate im Bereich der Abfallwirtschaft - und zwar zur Stabilisierung der Mehrwegquoten im Getränkeverpackungssektor - in die Diskussion gebracht. Dabei hat sich allerdings gezeigt, daß von seiten der Wirtschaft massive Bedenken gegen die Einführung dieses Instruments bestehen. Die mit dem Instrument verbundene eindeutige Emissionsbegrenzung - die zu der ökologischen Zielgenauigkeit des Instruments führt - wird von einigen Wirtschaftsverbänden in den Kontext sozialistischer Planwirtschaft und Zwangsbewirtschaftung gestellt. Dies ist insofern überraschend, als bisher von den Industrieverbänden Zertifikate und Lizenzen als die marktwirtschaftliche Alternative zu ordnungsrechtlichen, aber auch zu fiskalischen Maßnahmen propagiert wurden. Schließlich wollen wir uns auch international im Bereich des Zertifikatehandels im Rahmen eines UNCTAD-Pilotprojekts engagieren. Dabei wird auch versucht, dieses Instrument mit dem Instrument Joint Implementation zur COrReduzierung zu verbinden. Neben die zum traditionellen Instrumentenkanon zählenden Instrumente Ordnungsrecht, Abgaben, Lizenzen und Selbstverpflichtungen sind in den letzten Jahren verstärkt neuere Ansätze getreten, die inzwischen die praktische Umweltpolitik zu einem nicht unerheblichen Teil bestimmen und die alle der Eigenverantwortung eine herausgehobene Rolle beimessen. Unter der Leitgedanken der "Produktverantwortung" hat die Bundesregierung das Abfallrecht der 60er und 70er Jahre in ein modemes Abfallwirtschafts- und Kreislaufwirtschaftsrecht überführt, das der Eigenverantwortung der Wirtschaft großes Gewicht einräumt. Der Wirtschaft wurde dort, wo sich bisher der Staat als Monopolist die Entsorgung von Abfällen vorbehielt, ein weites Betätigungsfeld eröffnet; neben die Distribution von Produkten tritt die Entsorgung von Produkten und insbesondere ihre Verwertung als zukunftsträchtiger Wirtschaftssektor. Da jedoch in vielen Fällen gebrauchte Produkte keinen bzw. einen "negativen" Preis haben, ist hier die politische Gestaltung des Rahmens für die Wahrnehmung der Eigenverantwortung von besonderer Bedeutung. Dementsprechend ist die Eingriffsintensität des Staates zwangsläufig erheblich. Der Staat muß verhindern, daß gebrauchte Produkte auf die - individuell gesehen - kostengünstigste Weise, näm-

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lieh wild "entsorgt" werden. Er muß die Rahmenbedingungen für funktionierende Märkte und Wettbewerb schaffen. Das wichtigste Instrument in diesem Zusammenhang ist die Rücknahmepflicht für Hersteller und Vertreiber. Eigenverantwortliches und kreatives Handeln der Unternehmen erfordert eine systematische, langfristige Planung. Eine vorausschauende, umweltorientierte Unternehmensführung trägt dazu bei, intelligente Lösungen zu identifizieren und umzusetzen. Dadurch können die ökologische Qualität der Produkte verbessert und neue Absatz- und Beschaffungsmärkte erschlossen werden. Eine umweltorientierte Unternehmensführung trägt weiter dazu bei, betriebliche Kosten zu senken. Es gibt in Deutschland bereits eine Vielzahl von Erfolgsbeispielen für Kostensenkungen durch Reduzierung des Energie-, Wasser- oder Rohstoffverbrauchs, durch Abfalltrennung und -verwertung oder Wiederverwendung von Verpackungen. Modeme Produktionsanlagen bringen heute regelmäßig auch umwelttechnische Fortschritte. Voraussetzung dafür ist die aktive Mitarbeit aller Mitarbeiter und deren Qualifikation dafür. Da sich das Thema Umweltschutz in hervorragender Weise zur Mitarbeitermotivation eignet, kann von der Umsetzung einer umweltorientierten Unternehmensführung auch ein allgemeiner Produktivitätsschub erwartet werden. Die Realisierung einer umweltorientierten Unternehmensführung, die Umweltschutz systematisch in alle Bereiche des Unternehmens integriert - und das heißt gerade auch in das Management und in das Rechnungswesen -, ist somit von zentraler Bedeutung für einen modemen, integrierten Umweltschutz. Nur so kann Umweltschutz kostengünstig und an die individuellen Anforderungen vor Ort effizient angepaßt durchgeführt werden. Schritte in diese Richtung haben in Deutschland bereits viele Unternehmen getan. Sie haben Umweltschutz zu einer Angelegenheit der Unternehmensführung erklärt und überlassen es nicht mehr außerbetrieblichen Einflüssen, wann eine teure Filteranlage beschafft oder für die Entsorgung von Sondermüll gezahlt werden muß. Sie versuchen vielmehr bei der Umsetzung von Umweltschutz systematisch vorzugehen, um dabei möglichst effizient zu sein. Der wichtigste Grund zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit durch Umwe1tmanagement liegt zweifellos in den Kostensenkungswirkungen, insbesondere in den Bereichen Energie, Verpackung, Beschaffung sowie Abfall und Abwasser. Wahrend die Kosten für die Implementierung eines Umweltmanagementsystems natürlich recht schnell und zunächst isoliert auftreten, zeigen sich die Kostensenkungswirkungen der Maßnahmen, die durch oder aufgrund eines Umweltmanagementsystems durchgeführt werden, in der Regel erst sehr viel später. Viele Unternehmen und Betriebe haben allerdings Probleme bei der Identifizierung umweltinduzierter Kostensenkungspotentiale. Ein entscheidender Grund hierfür ist, daß sich die Umweltschutzkosten im Betrieb in der Regel bei den Gemeinkosten niederschlagen. Um hier Abhilfe zu schaffen, bedarf es neuer Instrumente. Mit einem entsprechend modifizierten Kostenrechnungssystem könnten die Ko-

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stenwirkungen auch von integrierten Umweltschutzmaßnahmen besser, d. h., verursachungsgerechter, zugeordnet werden. Als Ergebnis eines Forschungsvorhabens haben Bundesumweltministerium und Umweltbundesamt gemeinsam das "Handbuch Umweltkostenrechnung" herausgegeben. Das Handbuch Umweltkostenrechnung will Unternehmen bei der Umsetzung einer umweltorientierten Kostenrechnung in der Praxis behilflich sein und beschreibt Erfolgsbeispiele für eindrucksvolle Kostensenkungen durch betriebliche Umweltschutzmaßnahmen. Hiermit erhalten die Betriebe eine ideales Instrument zur Steuerung und Kontrolle umweltbezogener Kosten. Die Stärkung ökologischer Eigenverantwortung durch umweltorientierte Unternehmensführung wird von der Bundesregierung durch das Instrument des UmweltAudits im Rahmen der entsprechenden EU-Verordnung unterstützt. Ziel des Umwelt-Audit-Systems ist es, die kontinuierliche Verbesserung der betrieblichen Umweltschutzleistungen, und zwar über die gesetzlichen Umweltvorschriften hinaus, zu fördern. Dies wird vom Unternehmen selbst in einer übergreifenden betrieblichen Umweltpolitik festgeschrieben. In Deutschland haben bereits fast 600 Betriebe des produzierenden Gewerbes erfolgreich an dem EU-Öko-Audit-System teilgenommen. Dieses Engagement ist sehr erfreulich. Wir arbeiten nun daran, den Anwendungsbereich der Verordnung auf Wirtschaftssektoren außerhalb des produzierenden Gewerbes, wie z. B. den Dienstleistungsbereich, auszuweiten. Für die verstärkte Einführung von Umweltmanagementsystemen weltweit ist die Normung, über die heute bereits ausführlich gesprochen wurde, von entscheidender Bedeutung. Die einschlägige Norm ISO 14001 ist seit September 1996 in Kraft. Es ist zu erwarten, daß hierdurch international Maßnahmen des betrieblichen Umweltschutzes forciert werden. Vom Bundesumweltministerium wurde die internationale Normung auf dem Gebiet des Umweltmanagements von Anfang an intensiv unterstützt und engagiert vorangetrieben. Der entsprechende Normenausschuß des DIN, der Normenausschuß Grundlagen des Umweltschutzes (NAGUS), wurde auf Initiative des Bundesumweltministeriums 1993 gegründet. In der Arbeit des NAGUS auf so vielfältigen Gebieten wie der Normung von Umwe1tmanagementsystemen, Umweltzeichen, produktbezogenen Ökobilanzen und betrieblichen Umweltkennzahlen hat sich gezeigt, daß die Normung ein Feld ist, auf dem staatliches Umweltengagement und ökologische Eigenverantwortung der Wirtschaft sich gemeinsam für mehr Umweltschutz einsetzen können. Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang die Arbeit der ebenfalls mit Unterstützung des Bundesumweltministeriums eingerichteten Koordinierungsstelle Umweltschutz im DIN, die sich zum Ziel gesetzt hat, Umwe1tbelange über die spezifisch umwe1tbezogene Normung hinaus in Produktnormen einzubringen. Dies ist oft mühsam, aber von mindestens ebenso großer Bedeutung wie die Grundlagenarbeit des NAGUS.

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Lassen Sie mich nach diesem Überblick über die vielfältigen Ansätze zur Aktualisierung der ökologischen Eigenverantwortung der Wirtschaft in der Umweltpolitik der Bundesregierung abschließend einige allgemeine Bemerkungen machen, die auch Probleme und Grenzen bei diesem Politikansatz aufzeigen. Wenn sich der Staat auf die Vorgabe von Zielen und die Gestaltung von Se1bstregulierung beschränkt, können Potentiale erschlossen werden, die erheblich größer sind, als es mit traditionellen ordnungsrechtlichen Mitteln möglich wäre. Dennoch kann es nicht darum gehen, das Ordnungsrecht durch andere Instrumente vollständig abzulösen, sondern es sinnvoll zu ergänzen. Insbesondere im Bereich der Gefahrenabwehr wird das Ordnungsrecht ohne Zweifel auf Dauer unverzichtbare Grundlage des umweltpolitischen Rahmens bleiben. Zunehmend ist aber die Frage des Aufwands zu beachten. Vereinfachung des Umweltrechts und Abbau bürokratischer Hemmnisse in den Entscheidungsverfahren müssen die Fortentwicklung des Umweltrechts wesentlich bestimmen. Harmonisierung des weit verzweigten, historisch in unterschiedlicher Weise gewachsenen Ordnungsrechts ist dabei ein wichtiger Handlungsansatz. Eigenverantwortung ist kein einseitiges Entgegenkommen des Staates gegenüber der Wirtschaft, sondern sie stellt die Wirtschaft vor die Aufgabe, dieser Verantwortung auch gerecht zu werden. Hier lassen sich zwei Tendenzen betrachten, die, wenn sie allgemeine Einstellung wären, jede Eröffnung von Gestaltungsspielräumen ad absurdum führen würden. Zum einen bedeuten die in Selbstverpflichtungen der Wirtschaft eröffneten Entscheidungsspielräume auch eine Entscheidungslast. Die Organisation wirtschaftsinterner Entscheidungsprozesse kostet Zeit und Geld und bringt unvermeidlich Konflikte mit sich. Oft wird erst in der Umsetzung von Selbstverpflichtungen deutlich, welche Leistung der Staat mit der Organisation der Austragung dieser Konflikte erbringt und es wird der Ruf nach dem Ordnungsrecht laut, bei dem jeder wenigstens "wußte, woran er war". Problematischer noch ist die Tendenz, Instrumente, die der Wirtschaft mehr Eigenverantwortung einräumen, nur so lange zu fordern, wie sie nicht eingesetzt werden. Wenn jetzt das Instrument der handelbaren Umweltlizenz, das nach übereinstimmender Ansicht nahezu aller Ökonomen das marktwirtschaftliche Instrument schlechthin ist, von Wirtschaftsverbänden in dem Augenblick, in dem es zum ersten Mal in Deutschland eingesetzt werden soll, in die Nähe sozialistischer Wirtschaftsplanung gerückt wird, halte ich dies für sehr bedenklich. Dies gilt um so mehr, als eine ähnliche Argumentation bereits beim Instrument der Umweltabgaben verwandt wurde. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, daß Kritiker gegen das Instrument der Selbstverpflichtungen einwenden, daß Selbstverpflichtungen nie über das hinausgingen, was sich ökonomisch ohnehin rechne. Zu mehr als zu einem "business as usual" werde sich kein Verband verpflichten. Denn die Verbandsmitglieder seien nur bereit, an der Selbstverpflichtung mitzuarbeiten, wenn diese nur

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Walter Hirche

das abdecke, was jeder einzelne sowieso tun wolle. Anderenfalls wäre es sinnvoller, sich als Trittbrettfahrer zu betätigen. Diese Kritik übersieht, daß in der lang währenden Beziehung zwischen Einzelunternehmen, Verband und Staat die Drohung einer Sanktion durch den Staat, also z. B. der Erlaß einer Verordnung oder die Einführung einer Abgabe oder Steuer, durchaus glaubwürdig ist und letztlich auch das jeweilige Verbandsmitglied dazu bewegen kann, über das "business as usual" hinausgehende Anstrengungen zu unternehmen. Zwar existiert das theoretische Trittbrettfahrerproblem, daß individuell jedes Mitglied es am liebsten sehen würde, wenn alle anderen Anstrengungen unternehmen würden, so daß sein eigener Beitrag nicht nötig wäre. Die Erfahrung ebenso wie die wirtschaftswissenschaftliche Forschung bestätigen jedoch, daß das Trittbrettfahrerproblem überwunden werden kann. Allerdings sollte jedem klar sein, daß das Instrument Selbstverpflichtungen nur dann eine Zukunft hat, wenn durch anspruchsvolle Ziele und eine überzeugende Umsetzung - die im übrigen auch durch ein System handelbarer Umweltlizenzen erfolgen kann - die Glaubwürdigkeit des Instruments bestätigt wird. Von den Instrumenten zur Aktivierung ökologischer Eigenverantwortung erfordern insbesondere Selbstverpflichtungen immer eine gewisse Kooperation zwischen den Wettbewerbern einer Branche, was grundsätzlich die Gefahr von Wettbewerbsbeschränkungen in sich birgt. Dies führt volkswirtschaftlich zu überhöhten Kosten. Entscheidend ist aber - ebenso wie beim Ordnungsrecht - die inhaltliche Ausgestaltung der Selbstverpflichtung. Selbstverpflichtungen als solche führen bei entsprechender Ausgestaltung nicht zu besonderen Wettbewerbsproblemen. Die wettbewerbspolitischen Probleme des Instruments Selbstverpflichtung, wie es in der deutschen Umweltpolitik genutzt wird, liegen in erster Linie in möglichen negativen Auswirkungen auf den Mittelstand. Diese sollten in Zusammenarbeit mit den Beteiligten und dem Bundeskartellamt frühzeitig identifiziert und gelöst werden. Ist eine Lösung nicht erzielbar, sollte auf den Weg der Selbstverpflichtung verzichtet werden. Wettbewerbswidrige Praktiken können aber auch beim Instrument der handelbaren Umweltlizenz eine Rolle spielen. Auch insoweit stellt sich für den Staat die politische Gestaltungsaufgabe, durch entsprechende Rahmenbedingungen und Marktaufsicht zu verhindern, daß es zur einer Beherrschung des Lizenzmarkts durch wenige starke Marktteilnehmer kommt. Ein Sonderproblem stellen schließlich die Wettbewerbsprobleme dar, die sich aus dem Erfordernis einer koordinierten Sammlung von Abfallen beim Endverbraucher ergeben. Es handelt sich hierbei keineswegs um inhärente Probleme des Instruments Selbstverpflichtung, sondern sie hängen mit dem Einsatz des gesetzlichen Instruments der Rücknahmepflichten zusammen. Der Endverbraucher selbst hat kein wirtschaftliches Interesse an einer effizienten Entsorgung, einer sinnvollen Verwertung oder Beseitigung des Produkts. Eine Kostenanlastung kann nur durch besondere umweltpolitische Maßnahmen erreicht werden, die zugleich das Aus-

Mehr Umweltschutz durch mehr Eigenverantwortung

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weichen auf wildes Deponieren verschließt. Früher wurde dies durch eine Pflichtgebühr im Rahmen der öffentlichen Abfallentsorgung versucht. Damit bestand jedoch das Problem, daß kein Anreiz geschaffen wurde, Abfall zu vermeiden oder bei Kaufentscheidungen im Hinblick auf die Verwertbarkeit oder Entsorgungsmöglichkeiten zu differenzieren. Heute wird versucht, durch Geltendmachung der Produktverantwortung des Herstellers für das Produkt auch nach der Gebrauchsphase die Entsorgungskosten in den Kaufpreis einzuführen. Das Problem des wilden Deponierens durch den Endverbraucher entsteht dann nicht, wenn der Hersteller verpflichtet wird, gebrauchte Produkte haushaltsnah beim Verbraucher abzuholen. Solche haushaltsnahen Sammelsysteme können jedoch nicht von jedem Hersteller separat aufgebaut werden; dies wäre weder sinnvoll noch finanzierbar. Eine Lösungsmöglichkeit besteht nun in der Kooperation mit anderen Unternehmen, um gemeinsam den zur Entsorgung anstehenden Abfall zu sammeln bzw. sammeln zu lassen. Die dabei auftauchenden Tendenzen zur Monopolisierung können zwar von Fall zu Fall durch Vorkehrungen wie Ausschreibungserfordernisse gemildert werden; sie lassen sich jedoch nicht gänzlich ausräumen, soll nicht die auch gesamtwirtschaftlich bedeutsame Zielsetzung einer verursachergerechten Kostenanlastung aufgegeben werden. Ich denke durch meine Ausführungen ist deutlich geworden, welche Möglichkeiten sich der Umweltpolitik durch das Setzen auf ökologische Eigenverantwortung für mehr Umweltschutz bieten und welche schwierige Balance zwischen zuviel und zuwenig Freiraum die Selbstregulierung im Umweltschutz als politische Gestaltungsaufgabe erfordert. Die Bundesregierung wird in Kenntnis dieser schwierigen Balance weiterhin auf eine Öffnung von Freiräumen für eigenverantwortliches Handeln der Wirtschaft setzen. Sie tut dies nicht nur aus ökonomischen, sondern ebenso sehr auch aus ökologischen Motiven. Denn die umweltpolitischen Herausforderungen von heute und morgen lassen sich nur dann lösen, wenn auf der Grundlage des ordnungsrechtlichen Rahmens die beträchtlichen weitergehenden Umweltentlastungspotentiale ausgeschöpft werden, die in der Aktivierung der ökologischen Eigenverantwortung der Wirtschaft liegen.