Seelsorge in Krisen: Zur Eigentümlichkeit pastoralpsychologischer Praxis [1 ed.] 9783666624520, 9783525624524

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Seelsorge in Krisen: Zur Eigentümlichkeit pastoralpsychologischer Praxis [1 ed.]
 9783666624520, 9783525624524

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Thomas Wild

Seelsorge in Krisen Zur Eigentümlichkeit pastoralpsychologischer Praxis

Thomas Wild

Seelsorge in Krisen Zur Eigentümlichkeit pastoralpsychologischer Praxis

Mit Illustrationen von Jonas Raeber

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Pixabay/Igor Ovsyannykov Innenabbildungen: © Jonas Raeber; S. 173: © Thomas Wild Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-62452-0

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1 Alternative Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.1 Kontextuelle Sorge um die Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.2 Seelsorge und säkulare Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2 Hoffnungspluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2.1 Wider die Obsession der Unsterblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 50 2.2 Sterben zwischen Verbrämung und Verdrängung . . . . . . . . 66 3 Grenzgänge und Fehltritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3.1 Missbrauch von Macht und Empathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3.2 Verletzlichkeit und Selbstsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 4 Zwischen den Welten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4.1 Selbst- und Fremdbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 4.2 Transkulturelle Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 5 Der Mensch im Zwiespalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 5.1 Die Kompetenz der Ambivalenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 5.2 Interventionen in Entscheidungskonflikten . . . . . . . . . . . . . 170 6 Leben erinnern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 6.1 Das Potenzial narrativer Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 6.2 Erleben zur Sprache bringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 7 Trosterfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 7.1 Zur kulturellen Aufgabe des Tröstens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 7.2 Annäherungen an eine trostvolle Theologie . . . . . . . . . . . . . 253

Vorwort

Jahrelange Tätigkeiten in Gemeindepfarramt, Paarberatung und Klinikseelsorge lassen tief blicken. Die Arbeit in Seelsorge und Beratung wird mit Schicksalsschlägen, mit verstörenden Dramen aber auch mit wundersamen und berührenden Geschichten konfrontiert. Die Reflexion dieser Erfahrungen ist an sich wertvoll und hilfreich. Die schreibende Vertiefung bietet an, einen Einblick in einzelne Felder der Seelsorgearbeit zu gewähren. Lesende sollen einen Einblick in ausgewählte Themen und deren Bezug zur Seelsorge – hier vor allem anhand der Krankenhausseelsorge – erhalten. Praxisbezug und Wissenschaftlichkeit passen nicht nur zum Verlagsprogramm von Vandenhoeck & Ruprecht. Sie sind auch dazu geeignet, die Eigentümlichkeit seelsorglicher Tätigkeit zu umschreiben. Die Frage anderer Dienstleisterinnen der Berner Universitätsklinik Inselspital nach Aufgaben und Arbeitsmethoden der Seelsorge ist an der Tagesordnung. Dies weist auf das Interesse an der Seelsorge hin, zeigt aber auch, dass die Kenntnisse der Seelsorgetätigkeit oft gering sind. In meiner Funktion als wissenschaftlicher und organisatorischer Geschäftsführer der Aus- und Weiterbildung Seelsorge (AWS) am Institut für Praktische Theologie der Universität Bern steht die Begleitung der Studienleitungen im Zentrum. Die kontextuell oder methodisch ausgerichteten CAS-Studiengänge zeichnen sich alle durch eine Verbindung von Theorie und Praxis aus. Nebst der Vermittlung von wissenschaftlichen Erkenntnissen aus Theologie, Psychologie, Soziologie und anderen angrenzenden Fachbereichen werden methodische Schritte an konkreten Fallsituationen eingeübt. Der Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis, zwischen dem Kasuellen und dem Prinzipiellen, charakterisiert auch die vorliegende Arbeit.

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Vorwort

Im Unterschied zu einem Lehrbuch wird hier Seelsorge nicht umfassend dargestellt. Die Auswahl der Themen korrespondiert mit den vertieften Auseinandersetzungen im Rahmen meiner Tätigkeiten. Die literarische Gattung der Texte gleicht jener des Essays. Die subjektive Komponente ist in den gewählten Referenzen und in der eigenen Sichtweise stets enthalten, auch wenn das »Ich« nicht oder nur selten explizit in den Vordergrund tritt. Mein Dank geht an Frau Jana Harle vom Verlag Vandenhoeck & Rup­ recht, die mit Sorgfalt und Kompetenz das Buchprojekt vorangetrieben und die Zusammenarbeit zu einer immer wieder beglückenden Erfahrung hat werden lassen. Für den vermittelnden und das Projekt empfehlenden Kontakt zum Verlag danke ich Frau Prof. Dr. Isabelle Noth, Professorin für Seelsorge, Religionspsychologie und Religionspädagogik an der Universität Bern. Für wertvolle inhaltliche und stilistische Anregungen danke ich Ȥ Hubert Kössler, dipl. theol., Co-Leitung Medizinethik und Co-Leitung Seelsorge-/Care Team am Universitätsspital Bern, Ȥ Prof. Dr. Kurt Lüscher, emeritierter Ordinarius für Soziologie an der Universität Konstanz, Ȥ Pfrn. Dr. theol. Christine Nöthiger-Strahm, Leiterin Evangelischer Theologiekurs der Reformierten Kirche Aargau, Ȥ Pfr. Rudolf Ramser, langjähriger Gemeindepfarrer und Leiter von Biblischen Lektüre- und Gesprächsgruppen in Bern, Ȥ Andreas Studer, Dozent und Fachteamverantwortlicher Ethik, Religionen, Gemeinschaft (ERG) an der Pädagogischen Hochschule Bern, Ȥ Sina von Aesch, Assistentin und Doktorandin am Institut für Historische Theologie der Universität Bern. Auch an Jonas Raeber geht mein Dank für die nicht ganz einfache Bewältigung der Aufgabe, hochsensible Themen in subtil-humorvolle Cartoons einzuzeichnen. Beat Jordi danke ich herzlich für die Bereitschaft, mir seinen Rückblick auf verrückte Zeiten zur Verfügung zu stellen. Bern, im Oktober 2020

Thomas Wild

Einleitung

Die Mehrdeutigkeit des Buchtitels ist, wie so vieles im Leben, zufällig entstanden. Während eines heiteren und anregenden Austausches mit einem sprachsensiblen Freund im Rosengarten über den Dächern von Bern wurden Titel und Textfragmente kritisch diskutiert und von unnötigem Wortballast befreit. Abgemeißelt blieb ein schlichtes »Seelsorge in Krisen«. Die Kontextualisierung der Seelsorge ist eine – hier vorwiegend auf die Krise der Krankheit – gewählte Einschränkung, um ausgewählte Themen der Spezialseelsorge mit eigenem Erfahrungshintergrund zu beleuchten. Eine andere Konnotation von Krise betrifft die Verortung der Seelsorge in säkularisierten Kontexten. Seelsorge – zumindest als institutionalisierte Spezialseelsorge – genießt zwar, ähnlich wie die Sozialdiakonie, allgemeingesellschaftliches Ansehen. Gleichzeitig gibt es deutliche Anzeichen, dass sich die Seelsorge im interprofessionellen Kontext stärker positionieren und entschiedener ausweisen muss. Folgende Phänomene weisen auf aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen hin: (1) Konfessions- und religionssoziologische Phänomene Ȥ Die konfessionelle Versorgungsstruktur weicht zunehmend einem ökumenischen und interreligiös offenen Selbstverständnis von Seelsorge. Ȥ Zugehörigkeiten zu Kirchen und Konfessionen schwinden aus dem Fokus seelsorglicher Aufmerksamkeit. Ȥ Religion, Religiosität und Glaubenstraditionen verlieren zugunsten einer meist individuell verstandenen Spiritualität an Bedeutung. Ȥ Die sich etablierende Spiritual Care zwingt die Seelsorge, ihre spezifischen Kompetenzen zu klären und sich zu positionieren.

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Einleitung

(2) Ökonomische und gesundheitspolitische Phänomene Ȥ Der steigende wirtschaftliche Druck führt zu Überprüfungen seelsorglicher Prozesse auf ihre Effizienz und Notwendigkeit. Ȥ Der Ruf nach anerkannten und evidenzbasierten Standards, transparenten Qualitätsindikatoren und Wirksamkeitsnachweisen wird lauter. Ȥ Quantitative und qualitative Erhebungen seelsorglicher P ­ raxis erfordern Wirkungsmodelle und professionalisierte Doku­menta­ tionsinstrumente. Ȥ Institutionelle und interdisziplinäre Kontexte benötigen Kriterien, welche die Indikation und den Einbezug der Seelsorge transparent machen. (3) Ausbildungspolitische und anstellungsbedingte Phänomene Ȥ Ausbildungsstandards werden enger als bisher an akademische Kriterien gekoppelt und die Zulassungsvoraussetzungen reglementiert. Ȥ Seelsorgeausbildungen richten sich auf die institutionellen Kontexte hin aus und vermitteln methodische und kontextuelle Spezifika. Ȥ Institutionen verlangen nebst der theologischen Grundausbildung qualifizierte und zertifizierte Zusatzausbildungen. Ȥ Die Anstellung von nichtchristlichen seelsorglichen Fachperso­ nen erfordert zusätzliche Kriterien und kulturspezifische Assessmentverfahren. Veränderungen können im Rahmen gesellschaftlicher Entwicklungen als Errungenschaften verstanden werden. Als solche müssen sie sich allerdings in den konkreten Anwendungsfeldern bewähren und angesichts konkurrierender Angebote deutlicher profilieren. Die institutionelle und interprofessionelle Akzeptanz der (Spezial-) Seelsorge ist gewiss nicht nur an ihre Systemoffenheit und wissenschaftliche Ausweisbarkeit gebunden. Wenn sich die Seelsorge in säkularen Institutionen (insbesondere im Gesundheitswesen) jedoch behaupten und ihre Felder nicht Anbietern überlassen will, denen theologische Deutungskompetenzen und Einbindungen in religiöse oder kulturelle Traditionen fremd sind, wird sie ihre Sys-

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temrelevanz plausibilisieren und – professioneller als bisher – ausweisen müssen. Modelle interprofessioneller Spiritual Care werden in Kliniken und Altenpflegeheimen zunehmend Teil des institutionalisierten Behandlungsauftrags. Das gilt vor allem für jene Institutionen, die palliative Medizin anbieten. Universitäre Krankenhäuser mit Bildungs- und Forschungsaufträgen verfügen in der Regel über ein gut aufgestelltes Seelsorgeteam, das sich durch eine universitäre theologische Ausbildung, zertifizierte praxisorientierte Weiterbildungen und interdisziplinäre Offenheit – wie es im Konzept von Spiritual Care vorgesehen ist – auszeichnet. Ich sehe darin zwei Grundhaltungen: Zum einen verlangen Universitätskliniken Qualitätsstandards, wie sie nur durch gründliche Ausbildungen an Universitäten oder Fachhochschulen gewährleistet sind. Zum anderen ist die Affinität von Theologinnen1 zu den existenziellen, spirituellen und religiösen Fragen, Sorgen und Bedürfnissen naheliegend. Die Verhältnisbestimmung zwischen Seelsorge und Spiritual Care hängt u. a. von der Frage ab, wie Seelsorge mit anderen institutionellen Dienstleistern und Gesundheitsfachpersonen kooperiert und mit welchen Interessen sie diese Kooperationen mitgestaltet. Die Antwort darauf wird entscheidend davon beeinflusst, ob sich die Seelsorge als Teil von Spiritual Care versteht – als spezialisierte Spiritual Care – oder als eine parallel strukturierte, eigenständige Disziplin im Sinne einer Pastoral bzw. Religious Care. Seelsorge kontrastiert und konvergiert: Sie zeichnet sich durch eine Non-konformität aus und bleibt beispielsweise gegenüber den Interessen neoliberaler Gesundheits- und Sozialsysteme sperrig. Sie redet in systemfremden Sprachen. Gleichzeitig ist sie als Dienstleistungsanbieterin der ökonomischen Logik und den organisationalen Rahmenbedingungen ausgesetzt. Sie sucht im interdisziplinären Diskurs nach einer gemeinsamen Grammatik. Seelsorge erhält oder nimmt sich die Freiheit, nicht in ein outcome-basiertes System eingebunden zu sein und sucht gleichzeitig Nischen, um sich bei interdisziplinären Querschnittsaufgaben einbinden zu lassen. Die Viel1 Ich verwende im Text in zufälliger Folge die weibliche und männliche Form. Im Sinne einer gendersensiblen Sprache sind immer alle mitgemeint.

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Einleitung

gestaltigkeit zeigt sich auch innerhalb der einzelnen seelsorglichen Praxisfelder. Seelsorge gestaltet sich äußerst unterschiedlich. Das Selbstverständnis der einzelnen Felder erfordert, dass die Rolle der Seelsorge kontextuell bestimmt werden muss. Seelsorge erhält im Strafmaßnahmenvollzug andere Konturen als in einem Altenpflegeheim oder in einem seelsorglichen Notfall-Care-Team der Blaulichtorganisationen. Seelsorge redet in verschiedenen Sprachen. Sie wird sich zukünftig durch die Pluralisierung der Lebens- und die Digitalisierung der Kommunikationswelten weiter ausdifferenzieren. Am Beispiel der Krankenhausseelsorge werden die konkreten Herausforderungen dieser Dynamik besonders offenkundig. Seelsorge ist in erster Linie eine praktische Begleitfunktion und den Leidenden, Suchenden und Sorgenden verpflichtet. Die Kompetenzen professioneller und qualitativ guter Seelsorge zeigen sich vor allem in der Fähigkeit zur Beziehungsgestaltung. Seelsorge ist eine sich unter spezifischen Umständen ereignende zwischenmenschliche Begegnung innerhalb eines Raums erhöhter Aufmerksamkeit. Die Haltung des Seelsorgers, so unbestritten diese den konkreten Verhaltensweisen zugrunde liegt, ist eine Vereinfachung des komplexen Zusammenspiels persönlicher und situativer Faktoren. Die Bedingungen der Möglichkeit, dass sich in seelsorglichen Begegnungen heilsame Prozesse ereignen, ist nicht nur an Charismen und an erlernte Kompetenzen  – wie beispielsweise Differenziertheit, Empathie- und Distanzierungsfähigkeit – geknüpft. Wie auch in anderen Berufsgattungen sind Qualifikationen, Zulassungen und Akkreditierungen unverzichtbare Merkmale von Professionalität. Seelsorgliche Kompetenz entwickelt sich jedoch zudem immer in Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte und mit der intrinsischen Motivation, sich auf Menschen und fremde Kulturen einzulassen. Seelsorgliche Praxis kann als Verbindung von Lebenskunst und Kunsthandwerk verstanden und insofern mit der Kunsttherapie verglichen werden. Sie bedient sich sowohl des therapeutischen Handwerks wie auch jenem der Literatur. Mit dem therapeutischen Paradigma verbindet sie das Heilende oder zumindest Heilsame ihrer Intentionen. Der Code dieser Intention ist das Verändern, wenn auch nicht in der operationalisierten Macht und Kraft einer medizinisch ausgerichteten Therapie. Mit dem literarischen Paradigma verknüpft ist das Erinnern an und

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Erzählen von Geschichten. Die Intention einer seelsorglichen Unterstützung, Erlebtes zur Sprache zu bringen, ist mit dem Handwerk des Poeten oder Literaten vergleichbar, wenn auch nicht in schriftlichelaborierter Fassung. Diese Bündelung zweier nicht völlig fremder Welten zeichnet Seelsorge in doppelter Hinsicht aus: Sie ist auf dem Markt der Berufsprofile etwas Vermischtes und Gekreuztes – sie ist ein Mischling, ein Hybrid. Ihr haftet damit unversehens etwas Magisches, Vages und Verspieltes an. Ein Überblick soll der Orientierung dienen und den Einstieg in die Vielfalt der Themen vereinfachen. Wie ein Stück Gedankenmusik versuchen die sieben Kapitel, signifikante Aspekte zueinander und zur seelsorglichen Praxis in Beziehung zu setzen. Das Wiederholen gleicher oder ähnlicher Themenaspekte soll die Interdependenz aller seelsorglichen Aufgaben wie auch die schrittweise Annäherung an seelsorgliche Lösungen anzeigen. Iterationen spiegeln die seelsorgliche Praxis wider: Auch da kann das Ziel selten mit einem Schritt formuliert und noch viel weniger erreicht werden. Die beiden Unterkapitel bedienen sich jeweils gegenseitig: Während in (1) grundsätzliche Überlegungen dominieren, werden in (2) die Erläuterungen auf konkrete Situationen oder praxisorientierte Fragestellungen hin ausgeweitet. Diese Trennung wird allerdings von beiden Seiten her durchbrochen, um die Theorie-Praxis-Relation im Leseerlebnis aufrechtzuerhalten. Die Ausführungen sind als Einladungen zu verstehen, sich mit den eigenen Denkweisen oder der eigenen Praxis auseinanderzusetzen. 1.1 Kontextuelle Sorge um die Seele In Kapitel 1.1 gehe ich der Frage nach, wie sich Seelsorge im interdisziplinären Kontext eines Krankenhauses, eines Pflegeheims oder einer vergleichbaren Institution verorten und begründen lässt. Ich plädiere an dieser Stelle für die Aufrechterhaltung nicht elaborierter, metaphorischer Begrifflichkeiten. Die Überlegungen sind zugleich eine implizite Auseinandersetzung mit neueren systemtheoretischen Ansätzen. 1.2 Seelsorge und säkulare Spiritualität In Kapitel 1.2 greife ich den Faden aus dem vorangehenden Kapitel auf und verknüpfe ihn mit den praktischen Implikationen. Dabei

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wird der Fokus auf die konkreten seelsorglichen Begegnungen ausgeweitet, welche sich vermehrt mit diversifizierten Kulturen in säkularen Kontexten konfrontiert sehen. Damit wird auch der Diskurs zum Verhältnis von Seelsorge und Spiritual Care in seiner anwendungsorientierten Relevanz aufgenommen. 2.1 Wider die Obsession der Unsterblichkeit In Kapitel 2.1 setze ich mich mit den theologischen Implikationen von Sterben und Tod auseinander. Die Überlegungen greifen auf jene hebräisch-jüdischen Traditionen zurück, die Vergänglichkeit nicht einer verfehlten, defizitären Schöpfung anlasten, sondern diese als Bedingungen anthropologischer Entwicklung verstehen. 2.2 Sterben zwischen Verbrämung und Verdrängung In Kapitel 2.2 hinterfrage ich die alten und neuen Imperative eines guten Sterbens, die im Schlepptau einer Tugendethik den Umgang mit Krankheit und Vergänglichkeit prägen. Demgegenüber werden Ansätze gezeigt, die sich durch eine radikale Orientierung an der individuellen und kulturellen Verfasstheit der Betroffenen auszeichnen und die Diversität der Krankheits- und Sterbeverläufe berücksichtigen. 3.1 Missbrauch von Macht und Empathie In Kapitel 3.1 weise ich auf die folgenschweren Verfehlungen durch Grenzverletzungen hin. Grenzverletzungen gründen oft im Missbrauch von Machtverhältnissen bei gleichzeitiger Tabuisierung der Verantwortlichkeiten. Im Wissen darum, dass die große Mehrheit der Fachleute die berufsethischen Verpflichtungen respektiert, werden strukturelle Lücken in Institutionen und in seelsorglichen Anstellungsverhältnissen dargestellt. 3.2 Verletzlichkeit und Selbstsorge In Kapitel 3.2 versuche ich aufzuzeigen, dass komplementär zum Machtmissbrauch persönliche Defizite und situative Überforderungen Grenzverletzungen begünstigen. Ausbildungslehrgänge wie auch Lehr- und Handbücher lassen die Auseinandersetzung mit den an sich bekannten Phänomenen oft schmerzlich vermissen. Dabei kann

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gerade die Verletzlichkeit sensibler Fachpersonen zum Einfallstor kompensatorischer Strategien werden. 4.1 Selbst- und Fremdbestimmung In Kapitel 4.1 stelle ich die transkulturelle Herausforderung in einen größeren Kontext und lade ein, menschliche Begegnung generell als Erfahrung mit dem Fremden und seelsorgliche Begegnung als gegenseitige Gastfreundschaft zu verstehen. Was durch die Per­spektive interkultureller und interreligiöser Seelsorge erkannt wird, gilt auch für die Begleitung und Betreuung von Menschen aus dem eigenen kulturellen Kontext. 4.2 Transkulturelle Kommunikation In Kapitel 4.2 vertrete ich ein kultursensibles, »integratives« Interesse, in das gesellschaftliche Entwicklungen wie auch religiöse Erwartungen einfließen. Die sich öffnenden Felder fordern die Seelsorge heraus, eigene Konzepte kritisch zu überprüfen, anzupassen und zu erweitern. Menschen mit islamischem Hintergrund beispielsweise sollen in ihrer eigenen kulturellen und religiösen Sprache unterstützt und gleichzeitig an den psychosozialen und spirituellen Standards westeuropäischer Kulturen teilhaftig werden. 5.1 Die Kompetenz der Ambivalenz In Kapitel 5.1 versuche ich anhand einer Fallvignette den Blick für Ambivalenzen zu schärfen und schlage vor, Ambivalenzsensibilität als seelsorgliche Grundhaltung zu verstehen. Erfahrungen, die wir als ambivalent bezeichnen, gehören zum menschlichen Leben. In Zeiten von Krisen, die häufig Entscheidungen und Veränderungen erfordern, erfahren sich Menschen als besonders ambivalent. Im Aushalten von und im Umgang mit Ambivalenzen erweist sich die Freiheit seelsorglicher Interventionen. 5.2 Interventionen in Entscheidungskonflikten In Kapitel 5.2 konkretisiere ich anhand von weiteren Fallbeispielen Haltung und Methodik im Umgang mit Ambivalenzkonflikten. Im Konfliktpotenzial lauern beachtenswerte Hinweise, die es durch Differenzierungs- und vielschichtige Wahrnehmungsfähigkeit zu ver-

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stehen und als Ressourcen zu nutzen gilt. Kommunikative Techniken wie die Pendeldiplomatie zwischen Personen, Positionen oder Konstrukten werden in ihrer seelsorglich-lösungsorientierten Relevanz aufgezeigt. 6.1 Das Potenzial narrativer Identität In Kapitel 6.1 spanne ich einen Bogen von der autobiografischen und autofiktionalen Literatur hin zu den psychologischen Erkenntnissen des Potenzials narrativer Identität. Das Erzählen von Geschichten, der eigenen Lebensgeschichte oder biografischen Episoden findet in der seelsorglichen Begleitung durch das Berufsgeheimnis nicht nur einen geschützten Ort, sondern auch einen offenen Raum: Hier treffen Paraphrasierungsmöglichkeiten und Deutungskompetenzen aufeinander. 6.2 Erleben zur Sprache bringen In Kapitel 6.2 gehe ich von der Frage aus, welche Auswirkungen eine infauste Diagnose oder eine plötzliche Erkrankung auf Identität, Kohärenzgefühl und Sinnhaftigkeit menschlichen Lebens haben und wie die Fragilität allen irdischen Lebens erinnert werden kann. Anhand der philosophischen Studie »Close Talking« von Donata Schoeller werden die schriftlich verfasste Retrospektive eines Patienten und die seelsorgliche Begleitung einer Patientin analysiert und auf das Potenzial der Versprachlichung hin abgehorcht. 7.1 Zur kulturellen Aufgabe des Tröstens In Kapitel 7.1 zeige ich, dass der Trostbegriff in der seelsorglichen Begleitung zwar eine zentrale Rolle spielt, gleichzeitig aber diffus und missverständlich bleibt. Anhand ausgewählter Beispiele wird die Kultur des Tröstens in ihrer inhaltlichen Auffächerung diskutiert. Der Mangel an Trost fordert die Seelsorge, Trostlosigkeit nicht nur auszuhalten, sondern als Hinweis auf das Potenzial (noch) nicht erfüllbarer Bedürftigkeit zu begreifen. 7.2 Annäherungen an eine trostvolle Theologie In Kapitel 7.2 skizziere ich Zugänge zu den jüdisch-christlichen Glaubensüberlieferungen – geleitet von der Überzeugung, dass sich

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in der Trosterfahrung Aspekte der Wirklichkeit Gottes zeigen. Die Art und Weise, wie wir Texte, Geschichten und Metaphern verstehen, geht einher mit der seelsorglichen Deutung von Lebensentwürfen, Leidensgeschichten und Gottesbildern.

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Alternative Werte

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Alternative Werte

1.1 Kontextuelle Sorge um die Seele Professionelle Seelsorge in Kliniken, Alten- bzw. Pflegeheimen und Justizvollzugsanstalten zeichnet sich heute durch ausgewiesene fachliche Qualifikationen aus. Institutionen erwarten zunehmend, dass Seelsorgerinnen spezifische Ausbildungslehrgänge absolviert haben. Obwohl diese Ausbildungen methodisch fundiert sind und erprobte Inhalte durch kompetente Praktiker vermittelt werden, sind sowohl Inhalte wie auch Kompetenzen nur schwer vermittelbar. Seelsorgliche Spezifika sind vielfach nicht theologischer Natur, sondern Anleihen aus soziologischen Theoriemodellen, psychologischen Konzepten und therapeutischen Kommunikationstechniken. Das genuin Seelsorgliche zu benennen bereitet Mühe, ohne in »kanonische Phraseologie« (Fuchs 2011, S. 40) abzudriften.1 Man kann diesen Umstand bedauern. Oder man verzichtet schlicht darauf, Seelsorge definieren oder konzeptualisieren zu wollen. Die Seelsorgepraxis arrangiert sich weitgehend mithilfe einer Methodenpluralität, die weder begründet wird noch den Anspruch hat, methodisch-wissenschaftlichen Prinzipien zu genügen. In den interdisziplinären Rapporten (IDR) einer Universitätsklinik kann das konzeptuelle Defizit allerdings schmerzlich offenbar werden. Obwohl sich der Seelsorger gewissenhaft in die Krankengeschichte eingelesen und sich mit den Pflegenden ausgetauscht hat, gelingt es eher selten, anschlussfähige Ergänzungen oder kritische Gegenbeobachtungen einzubringen. Seine Optik auf die »Dinge«, die verhandelt werden, ist zu systemfremd, sodass er sich zurücknimmt und die gegenseitige Durchdringung der unterschiedlichen Beobachtungsinstanzen von vornherein unterbindet.

1 Der allgemeinen Abstraktionsarmut seelsorglicher Theorien entgegen halten gegenwärtig Bieler (2017) und Emlein (2017). Emleins Modell der Seelsorge als »hybrides« Sinnsystem orientiert sich in am Theoriemodell des Soziologen Peter Fuchs und übernimmt auch dessen (seinerseits von Luhmann herrührende) Begrifflichkeit. Selbstverständlich sind die systemtheoretischen Begriffe ebenso diskursabhängig wie jene der klinischen. Zur Seelsorgetheoriebildung im 20. Jahrhundert vgl. Hauschildt (2002), S. 54–74.

Kontextuelle Sorge um die Seele21

Das Potenzial der Seelsorge

Im Manko seelsorglicher Operationalisierung liegt nun aber auch eine ihrer Stärken: Während sich wissenschaftlich basierte Medizin um die Heilung und Gesunderhaltung des Körpers bemüht, sorgt sich Seelsorge um jene Aspekte des Menschen, die nicht operationalisierbar sind. Als Verwalterin der vagen Dinge hat sie es mit Themen zu tun, die unverfügbar sind und häufig nicht eindeutig in Sprache umgesetzt werden können. Die Unwägbarkeiten, mit denen sich insbesondere die Spital- oder Klinikseelsorge konfrontiert sieht, betrifft indes nicht nur das, was sich nicht messen lässt. Auch die seelsorglichen Indikationen und Interventionen unterliegen in der Praxis oft dem nicht präzis Benenn- und Bestimmbaren.2 In den seelsorglichen Gesprächen rückt das Kommunikationssystem, das sich durch und rund um die Krankheit bildet, in den Fokus. Patienten und Patientinnen sollen darin unterstützt werden, ihre Vulnerabilität artikulieren zu können. Was sich dem medizinischen Zugriff entzieht, soll und darf innerhalb des Bereichs menschlichen Erleidens und Widerstehens Aufmerksamkeit erhalten. Unter dieser Optik rücken Lebens- und Krankheitsgeschichten, biographische und kulturelle Prägungen, spirituelle und religiöse Haltungen ins Blickfeld. Die Vielfalt der Themen, der Eklektizismus der Gesprächsmethoden und die Diversität von Theorien, die dabei Einfluss nehmen – sind Methode (vgl. Fuchs 2011, S. 54). Sie erfordert eine Haltung, die sich durch behutsames Fragen und Beobachten von Resonanzen auszeichnet. Seelsorgerinnen wägen situativ zwischen Reden und Schweigen ab. Sie achten darauf, was Patientinnen thematisieren und was sie womöglich verschweigen. Die Differenzierungsfähigkeit ist eine wesentliche seelsorgliche Kompetenz. Sie zeigt sich konkret in der Fähigkeit, die Botschaften, die in einer Begegnung über die unterschiedlichen Kommunikationskanäle gesendet und

2 Um dieser Schwierigkeit entgegenzuwirken, schlagen Graf et al. (im Erscheinen) vor, das Taxonomie-Modell von Massey et  al. (2015) in den deutschsprachigen Kontext zu übertragen. Vgl. auch das Indikationen-Set, das als Instrument für die Pflege-Praxis entwickelt wurde (Roser 2019).

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Alternative Werte

empfangen werden, zu erfassen – und zu erfragen oder intuitiv zu wählen, was angesprochen werden soll.

Die Vermittelbarkeit von Seelsorge

Bei der Frage, was denn Seelsorge kennzeichnet, geht es nicht allein um die Klärung ihres Selbstverständnisses. Es geht auch darum, in einem säkularen Umfeld die Relevanz der Seelsorge aufzuzeigen. Was man nicht verständlich erklären und begründen kann, verliert in der ökonomisierten Welt des 21. Jahrhunderts rasch an Bedeutung und bald darauf die Daseinsberechtigung. Die Frage nach Bedeutung und Relevanz der Seelsorge ist an sich vieldeutig: Sie kann das Problem fehlender struktureller Einbindung meinen. Sie kann auch die unbekannte Palette an Angeboten betreffen. Oder sie kann den kritischen Vorbehalt gegenüber Seelsorge an sich beinhalten. Manchmal geht es auch um die Begrifflichkeit, die Vielen veraltet und überholt vorkommt. Oder Kritik an der Parallelstruktur zu psychologischen, psychotherapeutischen und psychiatrischen Angeboten wird angesprochen. Dass diese Auffächerung der Frage nicht nur hypothetischen Charakter hat, zeigt die Erfahrung, dass Ärzte oft nur rudimentäre Kenntnisse von Auftragsprofil und Zielen seelsorglicher Tätigkeiten haben. Die Seelsorge wird zum einen auf eine rein religiöse Dienstleistung reduziert, allenfalls noch mit Glaubensangelegenheiten oder der Sterbe- und Trauerbegleitung in Verbindung gebracht. Zum anderen wird die Seelsorge banalisiert: Sie sei für das Nichtfachliche zuständig, für die informellen Gespräche, die die Patientin zur Überbrückung von Leere, Langeweile oder Einsamkeit benötigt – für Bedürfnisse, welche anderweitig beanspruchte Fachpersonen nicht bedienen können oder wollen. Banalisierungen von Seelsorge sind zwar nicht ohne Wertung, in der Sache aber auch nicht völlig verfehlt: Unspezifische und alltagsaffine Gespräche sind als Bestandteil einer Beziehungskultur und des Vertrauensaufbaus bedeutsam und notwendig. Die Verunsicherung bezüglich der Frage, was Seelsorge ist und tut, spiegelt sich in den Anliegen von Studierenden und Praktikantinnen wider, die die Klinikseelsorge kontaktieren.

Kontextuelle Sorge um die Seele23

Eine 23-jährige Studentin der Pädagogischen Hochschule möchte im Rahmen ihrer Diplomarbeit einen Krankenhausseelsorger inter­ viewen.3 Im Kontext ihrer Ausbildung zur Mittelschullehrerin ist sie interessiert, diese Tätigkeit samt deren institutionellem Kontext ver­ mitteln zu können. Ihre Fragen sind sowohl auftragsorientiert als auch von ihrem persönlichen Klärungsbedürfnis interessengeleitet. Dies erklärt ihr engagiertes Fragen nach Voraussetzungen, Hintergründen und Herausforderungen der seelsorglichen Tätigkeit in einem säku­ laren Kontext. Die Ausgangsdisposition des Gesprächs kann insofern als repräsentativ betrachtet werden, als die Studentin nur minimale Vorkenntnisse zur Berufsidentität des Seelsorgers mitbringt und ihre vorhandenen Vorstellungen von einem eher traditionell-kirchlichen Bild ausgehen. Gleichzeitig ist sie durch ihre Auseinandersetzung mit Presseberichten zur Palliative Care sensibilisiert für aktuelle, kont­ rovers diskutierte Fragestellungen rund um den seelsorglichen Ver­ sorgungsauftrag. Ihre Eingangsfrage bündelt Verunsicherung, Skepsis, Neugier und Wissensdurst, wie sie oft anzutreffen sind: »Ist es über­ haupt noch zeitgemäß, von ›Seelsorge‹ zu sprechen? Wäre es nicht viel attraktiver, von ›Spiritual Care‹ zu sprechen?« Die Aufgabe, Seelsorge verstehbar zu kommunizieren, sieht sich mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert. Eine erste betrifft die oben bereits erwähnte Klärung der Fragestellung. Ein gut geführtes Gespräch zwischen Patient und Ärztin beginnt mit der Frage, was der Patient bereits weiß, zu wissen meint oder zu verstehen glaubt. Erst das Eruieren vorhandener Informationen, allenfalls auch vorhandener Missverständnisse, erlaubt, auf Folgefragen einzugehen. Wenn es um Seelsorge geht, verhält es sich ähnlich: Die Klärungsbedürfnisse sind nicht von vornherein eindeutig. Sie müssen ihrerseits geklärt werden. Eine zweite Problematik besteht im behutsamen Umgang mit der Sprache: Traditionen vermitteln sich nie allein über Wissen und Reflexion. Sie vermitteln sich primär über die narrative Alltagssprache und die konkrete Auseinandersetzung mit der Erfahrungswirklichkeit seelsorglicher Begegnung und Begleitung. Der alltagstaugliche 3 Das rund zweistündige Interview wurde aufgezeichnet, die Aufnahme stand mir anschließend zur freien Verfügung wie auch die erfolgreich abgeschlossene Diplomarbeit.

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Alternative Werte

Sprachgebrauch ist also nicht Ausdruck fehlender Fachlichkeit. Im interdisziplinären und interprofessionellen Kontakt – aber nicht nur hier – verdeutlicht der Begriff »Seelsorge« den Gastcharakter und die Fremdlogik dieser Disziplin. Seelsorgerinnen tun zwar gut daran, etwas von der medizinischen Fachsprache zu verstehen, sie haben indes keine zwingenden Gründe, sich selbst dieser zu bedienen. Die Grenzen sprachlicher Zeichen führen uns zu einer dritten Eigentümlichkeit: Das Erzählen und Referieren über Seelsorge kann die Erfahrung von bzw. mit Seelsorge nicht ersetzen. Das bedeutet, dass die Vermittlung von seelsorglicher Praxis und seelsorglichen Wirklichkeiten auch über andere Kommunikationsmethoden erfolgen muss: Videosequenzen, Hospitationen und Formen von jobshadowing sind erprobte Möglichkeiten, Seelsorgetätigkeit zu vermitteln. Die diesem Buch zugrundeliegende videodokumentierte Fallvignette (vgl. Kap 1.2 und 7.1) bietet eine überprüfbare seelsorgliche Gesprächssequenz an. Kompetenzen des Aushaltens, des aktiven Zuhörens, des Beobachtens und des Deutens sind ohne Anschauungsmöglichkeiten nur schwer vermittelbar. In diesem Beispiel wird auch deutlich, dass Seelsorge – im Unterschied zu einer formalisierten Spiritual Care – von einem Spiritualitätsverständnis ausgeht, dessen Konturen nicht einfach vorliegen und abgefragt werden können. Kein Distress-Thermometer und keine ScreeningMethoden können den behutsamen Prozess ersetzen, innerhalb dessen Spiritualität sich zeigen kann (vgl. Noth 2014, S. 133f).

»Seelsorge« – ein überholter Begriff?

Seele und Seelsorge sind grundsätzlich klärungsbedürftige Bezeichnungen. Seele war noch nie ein präziser Begriff oder gar ein wissenschaftlich elaboriertes Konzept: »Wer es wagt, sich auf die Seele zu berufen, läuft Gefahr, altmodisch, ein Spiritualist, ja Handlanger der Religionen genannt zu werden.« (Cheng 2018, S. 72).4 Von der An4 Chengs Ausführungen zur Leidensfähigkeit, aber auch zur Ästhetik, Poesie und Musikalität der Seele, vermitteln für Spiritualität und Seelsorge wichtige Aspekte, bleiben semantisch aber weitgehend den traditionellen Defini-

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tike bis ins späte Mittelalter wurde der Begriff Seele in dualistischer Abgrenzung zu jenem des »Körpers« verwendet. Im Rahmen religiöser Terminologie garantierte die Seele Unsterblichkeit, während der Körper mit dem irdischen Tod verweste. Heute ist die Vorstellung einer Seele durch neurowissenschaftliche Diskurse fragwürdig geworden: An die Stelle mächtiger Sinnbilder des Lebens sind wissenschaftliche Analysen getreten. Neurologisch kann keine zentrale Stelle ausfindig gemacht werden, die für das Selbst zuständig wäre. Vielmehr ist das Selbst eine Kooperation von Körper, Psyche und Kommunikation (vgl. Vogd 2014). Unter den Versuchen, den antiquierten Begriff der Seele zu rehabilitieren, überzeugt vor allem jener, der Seele als Metapher oder treffender als Allegorie versteht: Nicht eine immaterielle Substanz oder ein personaler Kern stehen zur Diskussion. Der Mensch hat nicht eine Seele, sondern ist Seele – er ist ein beseeltes Wesen. Der Begriff Seele wird allegorisch verstanden, jedoch nicht als apolitischverbürgerlichte Innerlichkeit, sondern als eine kommunikative Lebendigkeit in dynamischer Bezogenheit. Der Mensch wird zum seelischen Menschen in Resonanzräumen, in denen sich individuelle und kollektive Erfahrungen verbinden (vgl. Hell 2013, S. 9). Unter Bezugnahme auf tiefenpsychologische Individuationskonzepte ist Seele der beziehungsschaffende Resonanzraum, der zum Menschsein gehört, aber nicht als dessen individueller Besitz aufgefasst werden darf. Dieses Verständnis öffnet den Horizont für Erfahrungen, die in der Begleitung von Demenzkranken und Sterbenden häufig präsent sind: Obwohl sich ihre intellektuelle und körperliche Fähigkeiten reduzieren, bleiben sie für seelische Prozesse aufgeschlossen. Das Bewusstsein mag noch so eingeschränkt sein – es bleibt empfänglich für das Transzendente, das Nichtverfügbare und Nichtmessbare. Der Mensch als Seele ist bis zum Tod ein empfindsames, empfängliches und wandlungsfähiges Wesen (vgl. Huber 2009, S. 265 ff). Wenn wir also Seelsorge alltagsprachlich ableiten, können wir sagen: Wir sorgen uns um den Menschen als Seele (vgl. Nauer 2010). Wir sorgen uns um den Menschen und sein Erleben, das gleichtionen verhaftet. Vgl. auch Steinmeier (2014), die die »Figuralität« der Seele mit musikalischen Metaphern umschreibt.

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zeitig in einem leiblich-sozialen Umfeld zuhause ist und mit diesem in Beziehung steht. Wir erhalten die Aufmerksamkeit für das Nichtverfügbare und Nichtmessbare menschlichen Erlebens aufrecht (vgl. Murrmann-Kahl 2005, S. 133 f.). Seelsorge schärft die Sinne für die Bedürftigkeit und Empfänglichkeit der Seele. Auch die Seele eines deliranten, komatösen oder sterbenden Menschen kann innerhalb eines Resonanzraumes berührt, bewegt und getröstet werden (vgl. Cheng 2018, S. 44 f.). In Palliativkliniken ist das Phänomen längst bekannt und enttabuisiert. Sowohl Pflegefachleute wie auch Angehörige können seelische Bedürfnisse in großer Selbstverständlichkeit thematisieren. Ein Fenster nach dem Tod zu öffnen, um die Seele zu entlassen, kann beispielsweise ohne Erklärung oder Rechtfertigung eingefordert werden – als wäre der Wunsch so plausibel wie das Bedürfnis nach Frischluft. Man kann nun zurecht einwenden, dass die Sorge um den Menschen als Seele uns allen – sei es als Selbstsorge, als Sorge für den Nächsten oder als Sorgfaltspflicht gegenüber dem Leben an sich – ein- und aufgetragen ist.5 Niemand muss sich diesbezüglich als Fachperson ausweisen. Über Erfahrungswissen in existentiellen Dingen verfügen wir alle. Expertinnen sind wir vorab dafür, was unsere eigene Seele betrifft. Allein schon dadurch, dass wir Teil unserer Geschichten sind und unsere Identitäten aus ihnen beziehen, werden wir glaubwürdig. Zwar sind wir befangen und in unsere eigenen Modalitäten eingeschliffen, wenn es um das Konvolut unserer eigenen Geschichten und den darin enthaltenen Deutungsmustern geht.6 Das gilt nicht nur für die zu betreuenden und bedürftigen Menschen, sondern selbstverständlich auch für jene, die sich als Experten verstehen.

5 Platon gilt als der erste (westliche) Philosoph, der die Sorge (gr. επιμέλεια) erörtert hat – pointiert in der Verteidigungsrede des Sokrates, da dieser sich rühmt, nicht die Sorge um Güter, Geld und Ruhm, sondern die Sorge um die eigene Seele gelehrt zu haben (vgl. Foucault 1986, S. 61). 6 »Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben« (Frisch 1973, S. 63).

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Herausforderungen und Errungenschaften

Der Einwand, Seelsorge sei keine fachspezifische Disziplin, ist nicht nur, aber auch aus formalen Gründen berechtigt: Die Berufsbezeichnungen Seelsorgerin oder Seelsorger sind nicht geschützt. Prinzipiell kann jede und jeder mit diesem Siegel arbeiten. Im Zusammenhang mit der Etablierung von Spiritual Care muss sich vor allem die Krankenhausseelsorge deutlicher positionieren. Berufsspezifische Kompetenzen und qualitative Merkmale kommen bisher zu wenig zur Geltung. Die Projektgruppe »Seelsorge im Gesundheitswesen« (SeeliG) der Pastoralkommission der Schweizer Bischofskonferenz7 schlägt in ihrem Zwischenbericht von 2018 vor, Spitalseelsorge als »spezialisierte Form von Spiritual Care« zu verstehen. Entsprechend wird zwischen gesundheitsberuflicher und seelsorglicher Spiritual Care unterschieden: »Spitalseelsorge muss sich als Beruf profilieren und weiter professionalisieren, wenn sie die im Gesundheitssystem üblichen Qualitäts-Standards definieren und erfüllen und damit auch interprofessionell anschlussfähig bleiben will.« Simon Peng-Kellers (2017a, S. 191) pragmatischer Vorschlag, Spiritual Care nicht als eigenen spezifischen Ansatz, sondern als Konzeption eines neuen interdisziplinären Forschungsgebiets und interprofessionellen Praxisfelds zu verstehen, bringt zwar eine mehrheitsfähige Position auf den Punkt, klärt aber die theologische Verortung der (Spital-)Seelsorge nicht. Der Ansatz beschränkt sich darauf, der Seelsorge koordinierende, beratende und qualitätssichernde Aufgaben zuzuordnen.8 So sehr Spiritual Care – zumindest im europäischen Kontext – kontrovers diskutiert wird (vgl. Karle 2010 und Nauer 2015) und die Verhältnisbestimmung gegenüber der institutionalisierten professionellen Seelsorge noch nicht geklärt ist: Das Konzept von Spi­ 7 https://pk.spi-sg.ch/zwischenbericht-herausforderungen-fuer-die-seelsorgeim-gesundheitswesen/#close (Zugriff am: 26.5.2020). 8 Weiter geht Peng-Keller in der schriftlichen Fassung seines Referats beim ers­ ten Ökumenischen Kongress der Seelsorgenden im Krankenhaus und Gesund­ heitswesen in München: »Zu den Kernaufgaben klinischer Seelsorge gehört nicht zuletzt, in interprofessionellen Konstellationen zwischen unterschiedlichen religiös-spirituellen Diskursformen und Vorstellungswelten zu vermitteln« (Peng-Keller 2017b, S. 54 f.).

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ritual Care schärft das Bewusstsein für die Notwendigkeit, seelsorgliche Spezifika klarer und umfassender auszuweisen. Es reicht insbesondere nicht, diese Spezifika auf organisatorische und diskursive Aufgaben zu beschränken. Die Errungenschaften des syste­ mic turn, der aus der Kranken- eine Krankenhausseelsorge werden ließ, dürfen m. E. nicht leichtfertig gegen das Linsengericht einer spirituellen und religiösen Versorgungsstruktur eingetauscht werden. Die seelsorglichen Querschnittsfunktionen haben sich bewährt und basieren auf einer gesunden Unabhängigkeit, die sich in Nähe und Distanz zu allen anderen Dienstleistungen und Versorgungsstrukturen zeigt. Damit ist das Interesse der krankenhauseigenen Spiritual Care keineswegs in Abrede gestellt. Die Fürsorge aller Gesundheitsfachleute ist im Kontext von Spiritual Care deutlicher in den Fokus der interprofessionellen Betreuung gelangt. Auch Ärztinnen, Pflegende, Sozialberaterinnen, Physiotherapeuten und Psychologinnen kommen in Kontakt mit persönlichen Bedürfnissen der Betroffenen und ihrer Angehörigen: Sie leisten im berufseigenen Setting wichtige Care-Arbeit und gelangen an empfindliche Facetten der Krankheits-, Genesungs- oder Heilungsprozesse (vgl. Aebi/Mösli 2020). Auch Angehörige, Freunde und Freundinnen (peer groups) übernehmen seelsorgliche Aufgaben und ermöglichen eine erweiterte Perspektive auf die Bedürfnisse von Patienten und Angehörigen. »Wenn von Spiritual Care […] etwas zu lernen ist, dann das, dass nicht alle Berufsgruppen das Gleiche machen sollen« (Roser 2017, S. 458). Im Austausch der verschiedenen Behandlungspartner und weiterer Bezugspersonen erhalten die vielfältigen Wahrnehmungen einen eigenen Raum. Damit wird die Patienten- oder Klientenorientierung gestärkt. Der Patient wird in seiner Eigenheit und Einmaligkeit besser wahrgenommen und weniger unvermittelt in vorgefasste Kategorien eingeordnet. Das gilt auch für seine spirituelle und religiöse Identität. Während Alter und Zivilstand – anders als beispielsweise in den USA – noch ausgewiesen werden, tendiert die Patientenerfassung heute zunehmend dazu, Religionszugehörigkeiten zu anonymisieren. Das heißt nicht, dass eine Patientin sich nicht als religiös bezeichnet oder keiner Konfession angehört. Es bedeutet nur, dass die religiöse

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Identität in einem säkularen Kontext zur persönlichen Angelegenheit wird. Und es bedeutet auch: über den Bedarf, ob ich religiösen oder spirituellen Support benötige, entscheide ich als Patient nicht beim Krankenhauseintritt, sondern in der aktuellen bzw. akuten Situation. Damit fallen frühere Selbstverständlichkeiten weg. Nicht die ratge­ bende, sondern die ratsuchende Person bestimmt, wann was an spiritueller oder religiöser Identität preisgegeben wird.

Seelsorgliche Kompetenz

Die Frage, was Seelsorge in einem interprofessionellen oder interdisziplinären Kontext auszeichnet, stellt sich neu und dringlicher denn je. Der Blick auf die Lernziele des Theologiestudiums weist auf eine im aktuellen Diskurs selten genannte Qualität hin: Die Befähigung, »sich mit den vielfältigen Interpretationen in der Philosophie- und Religionsgeschichte auseinanderzusetzen, um Lebenszusammenhänge theologisch deuten zu können« (Hagen 2017, S. 16). Religionssoziologische, religionspädagogische und religionspsychologische Hintergründe bieten eine solide Basis für den professionellen Umgang mit spirituellen Patchwork-Identitäten, aber auch mit den Verletzungen, Vorurteilen und Missverständnissen, die sich im Zusammenhang mit Kirchen oder Religionen ergeben. »Neben dieser wissenschaftlichen Fähigkeit, zu der auch die ethischen Grundkenntnisse gehören, ist eine pastorale Grundqualifikation notwendig, die besonders den rituellen und kommunikativen Bereich umfasst« (Hagen 2017, S. 16). Die schon im Studium erworbenen Kompetenzen der Seelsorge sind  – im Unterschied zu vielen anderen akademischen Ausbildungen – auch praktischer Natur. Performative Sprechakte, Ritualkompetenz und routinierte Handhabe mit Glaubenssätzen, die Menschen verinnerlich haben oder eingetrichtert wurden, sind in der Klinik-, Altenheim oder Gefängnisseelsorge täglich Brot. Der Umgang damit verlangt nach einer eigenen religionssensiblen Identität. So sehr Seelsorge primär ein Beziehungshandeln ist, erschöpft sich die seelsorgliche Kompetenz nicht in Empathiebemühungen mit Fachausweis. Die Vertrauensakte der Zuwendung benötigen nebst

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Energie, Willen und Talent fachliche und soziale Kompetenzen, um mit den Erfahrungen menschlicher Abgründe angemessen umgehen zu können. Die Schwierigkeiten im Umgang mit Grenzsituationen erfordern eine Wägbarkeit, ein situativ immer wieder behutsames Abwägen zwischen Zulassen, Aushalten und gezieltem Nachfragen. Das sensible Seelsorgegespräch schafft häufig erst den Raum, in dem sich eine spirituelle Dimension entwickeln kann (vgl. Aebi/ Mösli 2020, S. 19). Perspektivisches Erfragen von Ressourcen und explorierendes Ertasten von bisherigen Bewältigungsstrategien sind nötig, wenn Menschen innerste Beweggründe erforschen und beschreiben wollen. Die Gesprächsführung als solche ist eine seelsorgliche Pertinenz, die es den Betroffenen ermöglicht, im Dialog sich selbst zu vergewissern. »Dieser Dialog steht in einem hermeneutischen Deutungsrahmen, der zumeist als spezifische Tradition identifizierbar ist: ein Patient wird sich im Dialog mit der Seelsorge-Profession im Verhältnis zu seiner Religion definieren, auch dann noch, wenn er dies in Abgrenzung zu einer bestimmten Tradition tut« (Haker 2014, S. 43). Der Mensch, der sich alters- oder krankheitsbedingt mit seiner Endlichkeit konfrontiert sieht, reduziert sich und die Welt oft auf das Existenzielle, das wiederum Facetten seiner persönlichen Spiritualität widerspiegelt. Die Dialogfähigkeit ist stark an die gesprächsführende Person und an deren Vertrauenswürdigkeit gebunden. Respekt und Verlässlichkeit sind Teil eines vertrauensstiftenden Beziehungsaufbaus. Augenhöhe und Wortwahl, die Bereitschaft zuzuhören und Pausen auszuhalten, begünstigen diesen Aufbau, der oft in kürzester Zeit erfolgen muss. Zu viele oder zu große Worte können zynisch wirken. Die Sprache ist zwar ein heilendes Instrument, aber sie kann auch verletzen. Die »Sprache« der Seelsorge ist so kraftvoll oder so schwach wie ihre Sprecherinnen (vgl. Frevert 2013, S. 217). Wenn wir davon ausgehen, dass die Kommunikationskanäle zu einem großen Anteil non- und paraverbaler Natur sind – und wir also mit unserem Dasein und Sosein ständig mitreden und Signale senden –, heißt das: Auch unsere Identität ist Teil der kommunikativen Wechselseitigkeit.

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Das Gegenüber merkt, ob ich nur Rhetorik betreibe und Theorien vertrete – oder ob ich mich dem Gegenüber verpflichtet weiß und mich, theologisch formuliert, coram Deo befinde. Obgleich Wirkung und Ergebnis nicht messbar sind, kann eine gelungene und nachhaltige Begegnung an sich zu einer spirituellen Erfahrung werden. Die Situation kann sich auch so entwickeln, dass der Wunsch oder der Bedarf entsteht, ebendiese Situation mit einem Ritual zu symbolisieren. Seelsorge ist, wenn es um religiöse Praktiken geht, immer auch Kommunikationsberatung: Was in einem Gebet oder bei einer Segenshandlung thematisiert und formuliert wird, hat Modellcharakter. Die Verbindung von kommunikativer und spiritueller oder religiöser Kompetenz zeigt sich darin, wie ein bestimmtes Thema, ein Anliegen, ein Wunsch oder eine Hoffnung in Worte gefasst oder in Symbolhandlungen umgesetzt wird. Die Gefahren spiritueller Übergriffigkeit oder Vereinnahmung, aber auch die Gefahren von Unterlassungen oder oberflächlicher Rhetorik, sind an dieser Schnittstelle besonders groß. Selbst der Entscheid, ein Gebet anzubieten, ist eine Intervention, die nur dann angemessen ist, wenn es die Situation und die Betroffenen nahelegen und wenn sie in einer befreienden Atmosphäre erfolgen. Michel Foucault (2010) hat den griechischen Begriff der parrhesia mit der Pflege der Seele verknüpft – und damit anzudeuten versucht, dass ich nicht nur die eigene, sondern stets auch den Freimut des anderen benötige. Die Gesinnungsoffenheit, die Sensibilität für die Seele der anderen und der Mut zu Interventionen zeichnen eine seelsorgliche Identität aus.

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1.2 Seelsorge und säkulare Spiritualität Die seelsorgliche Perspektive kann verschiedene Aspekte einer Krise fokussieren: Eine gesundheitliche Krise korreliert oft mit einer umfassenden Lebenskrise. Was den Menschen intrinsisch motiviert, ist durch die Erkrankung infrage gestellt. Ein Stück der bisherigen Identität zerbricht, manchmal sogar jene des Glaubens oder der persönlichen Werte.9 Betroffene stellen irgendwann Fragen wie: »Warum trifft es gerade mich?« »Warum gerade jetzt?« Unabhängig davon, ob jemand religiös sozialisiert ist oder nicht, steckt hinter den Äußerungen die unausgesprochene Frage: Warum lässt Gott oder das Schicksal dies zu? Es geht selten darum, tiefgründige Exkurse und Erklärungen zu finden. »Warum-Fragen« sind oft Ausdruck der Auflehnung gegen das Unbegreifliche. Hinter den Fragezeichen lauern verborgene Ausrufezeichen. Fragen warten nicht auf argumentative Antworten, sondern wollen – wie Fluchworte – in ihrer Expressivität gehört und wahrgenommen werden: »Ich frage mich, was das soll!« Oder: »Das Leben ist ungerecht!« Die tiefe Verzweiflung oder die panikartigen Ängste sind menschlich und adäquat. Der Mensch in der seelischen Krise benötigt keine Diagnosen, welche die Krise in deren Schweregrad klassifizieren. Aus seelsorglicher Sicht brauchen Betroffene vor allem einen verlässlichen Resonanzraum, in dem sie ihrer seelischen Verfasstheit Ausdruck verleihen können.

Fallbeispiel: Frau Solina – der Krankheit abgerungene Spiritualität

Anhand des folgenden Fallbeispiels soll deutlich werden, wie im seelsorglichen Kontakt mit Patientinnen verschiedene Facetten individueller Spiritualität zum Thema werden. Schilderungen von Erlebnissen, dialogische Sequenzen und intendierte Gesprächs9 Hinter dem Schlagwort des Ich-Verlusts verbergen sich oft verschiedene Krisensymptome, die wiederum Facetten einer umfassenden Orientierungskrise sind (vgl. Danz/Murrmann-Kahl 2019).

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inhalte bilden den Rahmen, innerhalb dessen Spiritualität zur Sprache kommt. Frau Solina10 wurde 1985 als zweites Kind einer gut situierten Familie am Bodensee geboren. Sie lebt alleinstehend, ist aber aus gesundheitlichen Gründen in eine betreute Wohngruppe eingebunden. Die Patientin hat Medizin studiert und promoviert, konnte jedoch aufgrund einer fortschreitenden Erkrankung nie praktizieren. Sie leidet an einer chronisch obstruktiven Lungenkrankheit, aber eine Lungentransplantation kommt für sie aus medizinischen Gründen nicht infrage. Ihre persönlichen Ressourcen bestehen aus guten Büchern, insbesondere der Lyrik von Rainer Maria Rilke und Hilde Domin, Gesprächen über Sinnfragen mit Menschen, »die mich ernstnehmen und auf Augenhöhe sind«, Sparziergängen in den Gärten und Parkanlagen sowie Besuchen von Freundinnen, die sie als »Geberinnen von Durchhaltestrategien« bezeichnet. Zu ihren Stressoren zählen Atemnot – sie erzeugt Angst und Enge – und eine allgemeine Perspektivlosigkeit (»Niemand kann mir helfen.«). Auch patriarchale Verhaltensweisen und Machtdemonstrationen von Führungspersonen machen ihr zu schaffen. Im klinischen Kontext erlebt sie gelegentlich Pathologisierungen und Diskriminierungen (»Ich bin primär ein Mensch, nicht eine Patientin.«) als zusätzliche Belastungen. Die folgende Gesprächssequenz bildet das zweitletzte von insgesamt zwölf Gesprächen im Zeitraum von drei Jahren ab und fand sieben Wochen vor dem Tod der Patientin statt11: TW: Frau Solina, wir haben uns vor zwei Wochen gesehen, und ich habe von Ihrem Arzt vernommen, dass es eine Krise gab in der Zwischenzeit. PAT: Ja, heute geht es aber schon etwas besser. TW: Und was macht es aus, dass es wieder besser geht? PAT: Es hat sich beruhigt, mein Atem, ich kann wieder atmen und bin irgendwie erleichtert. Es hat mich auch psychisch sehr angestrengt, aber 10 Der Name wurde geändert. 11 Das Transkript der Gesprächssequenz ist einem 2017 aufgenommenen Lernvideo entnommen. Die Patientin wurde von der Schauspielerin Tatjana Werik (www.tatjanawerik.com) gespielt. https://www.tomwild.ch/patientengespraech/ (Zugriff am 27.10.2020).

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jetzt entspannt es sich. Ich hoffe, dass ich wieder in den Garten gehen kann. Ich bin natürlich jetzt schon tagelang im Bett. Genau, das wäre ein Ziel: Wieder in den Garten gehen zu können. TW: Ich höre, Sie hatten große Atemnot. Und wahrscheinlich auch Angst? PAT: Ja. TW: Hatten Sie Angst zu ersticken? Oder war eine andere Angst noch da? PAT: Schon die Angst, dass ich nicht mehr atmen kann, weil ich allein zu Hause war, das hat mich sehr erschrocken, das hat mir Mühe gemacht. Aber ich konnte noch anrufen und die Hilfe kam schnell. (Pat. hustet lange) TW: Brauchen Sie etwas Wasser? PAT: Nein danke, es geht, es drückt einfach so, aber es ist nicht so schlimm, die Medikamente wirken jetzt. TW: Also, Sie haben bange Stunden erlebt, haben aber auch gut reagiert und können jetzt mit etwas Abstand zurückblicken: Ist es in Ordnung für Sie, wenn wir darüber sprechen, über Ihre Ängste, über das, was Ihnen Sorgen macht? Mögen sie innerlich an diesen Ort gehen? PAT: Ja, ich dachte, ich möchte gerne darüber sprechen, darum habe ich Sie gerufen. Aber ich merke, es ist doch auch schwierig für mich, da hineinzuschauen, in die Ängste, und darüber zu reden mit jemandem. Wenn ich allein bin mit mir, stelle ich mir vor, dass ich erzählen kann, aber dann merke ich, dass es nicht einfach ist, es macht mich unruhig. TW: Empfinden Sie Schamgefühle, eine Art Hemmung einem anderen Menschen gegenüber? PAT: Ja, Schwäche zu zeigen, einzugestehen, dass ich doch schwach bin, das ist anspruchsvoll. TW: Ich weiß nicht, ob ich das richtig spüre: Sie verspüren auch einen Schmerz, einen seelischen Schmerz, den sie mit dieser Situation ver­ binden? Eine Trauer? PAT: Ja, dass ich es nicht geschafft habe … TW: … Nicht geschafft haben …? PAT: Einfach normal zu sein, normal zu leben  … (Pat. hustet)  … nicht geschafft habe, meinen Beruf auszuüben, einfach so zu leben wie alle. Auch wenn ich die Krankheit schon lange habe, konnte ich mich trotzdem nicht daran gewöhnen; ich habe eigentlich sehr lange

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gekämpft und gehofft, aber ich merke, dass es keine Hoffnung auf eine Verbesserung gibt, das macht es irgendwie noch schwieriger. (Pause, weint leise) TW: Sie haben mir bei einer früheren Begegnung gesagt, dass Sie über­ zeugt sind, dass der Wert des Lebens und die Erfüllung unserer Lebens­ aufgabe nicht abhängig seien von der Anzahl an Tagen, die man hier ist. Das hat mich sehr beeindruckt und auch nachdenklich gemacht! Das war damals eine Aussage, die ich so verstanden habe: Ich kann es akzeptieren, wenn ich nicht meine ursprünglichen Ziele erreiche, wenn ich nicht ein Durchschnittsalter erreiche. Ist etwas von dieser mutigen und frechen Überzeugung noch da? Oder haben Sie das im Moment etwas verloren? (Pat. hustet) PAT: Ja, ich war eine Zeit lang sehr optimistisch und hatte ziemlich viel Energie. Ich habe sogar angefangen, etwas Eigenes zu schreiben und dann hat mir diese Verschlimmerung ziemlich den Boden weg­ genommen … Ja, und ich denke nach wie vor, dass wir da sind, nicht um etwas Bestimmtes zu tun; ich denke, wir wissen gar nicht, was es heißt, diese Lebensaufgabe zu erfüllen. Sie liegt vielleicht gar nicht so in einer Tätigkeit, vielleicht vielmehr aus dem Dasein heraus, und aus unserem Denken … Wir wissen ja gar nicht, wie wir das Ganze durch unser Dasein beeinflussen. Ich habe mir immer wieder Auf­ gaben gestellt und musste immer wieder einsehen, dass ich sie nicht erreichen kann. Ich weiß nicht, vielleicht ist das schon die Aufgabe: anzunehmen, dass man nicht alles erreichen kann, was man sich vor­ gestellt und vorgenommen hat. TW: Verstehe ich Sie richtig: Sie haben auch in dieser letzten Krise erkannt, dass die großen Ziele und diese Vorstellung, ein Leben müsse etwas erfüllen, ein Stück weit losgelassen haben und sich sagen: Es ist auch schon gut, wenn ich in den Garten gehen kann, wenn ich eine gute Freundin treffe? Das Leben ist ohnehin ein Stückwerk, ein Frag­ ment, etwas Unvollendetes? PAT (lange Pause): Es ist … Ich bin ambivalent, würde ich sagen. Einerseits sage ich mir das alles und andererseits spüre ich auch eine Wut in mir und dem Leben gegenüber, weil die Zeit, in der ich normal sein konnte, ohne Krankheit, sehr kurz war. Ich hatte gerade das Stu­ dium abgeschlossen und dann war es klar, dass ich meinen Beruf nicht ausüben kann … Ich konnte gar nicht arbeiten. Und schon damals

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musste ich alle Träume aufgeben, mich neu orientieren und mich an die Krankheit anpassen. Ich habe jetzt lange gekämpft und … Genau … Mit dem Kopf verstehe ich, dass das Leben nichts Festes ist. TW: Die Gefühle aber sind manchmal auf der anderen Seite? Der Schmerz, die Trauer, dass Sie die Medizin nicht ausüben konnten? PAT (zögert): Ja, aber … (Pat. hustet). Ja, aber hier habe ich so ein schönes »Plätzli« bekommen. (Pat. lacht und weist auf den Blick in den Garten) TW: Wenn Ihnen jemand, zu dem Sie Vertrauen und einen Zugang haben, wenn Ihnen jemand sagen würde: Frau Solina, Sie haben viel­ leicht das Allerwichtigste, das wir in diesem Leben überhaupt erreichen können, schon erreicht, könnten Sie das annehmen? PAT: Ich würde vermutlich gar nicht wissen, was es ist … Was wür­ den Sie denn sagen? TW: Sie würden also die Person fragen: Was könnte das überhaupt sein? PAT: Ja. TW: Ich will nicht behaupten, dass ich Ihnen das sagen könnte. Aber es gibt verschiedene Traditionen mit Weisheiten. Eine, die mich persön­ lich überzeugt, ist, dass der Mensch da ist, Liebe zu leben, zu nehmen und zu geben, sich und dem Mitmenschen gegenüber zu leben. Des­ halb würde ich mir erlauben, Ihnen das zuzusprechen und zu sagen: Sie haben in ihrem Leben, in diesen gut 30 Jahren, auch viel geben können, trotz oder vielleicht gerade mit ihrer Erkrankung. PAT: Ja, das hoffe ich. TW: Vielleicht müssen wir es so auch stehen lassen und sagen: Wir können nicht wissen, ob es so ist. Aber wir hoffen es. (Pat. lächelt und nickt verhalten) In der Gesprächssequenz lassen sich verschiedene Facetten impliziter, nicht-konfessioneller Spiritualität erkennen: Die Patientin formuliert mehrfach als Ziel, wieder »in den Garten gehen zu können«. Damit meint sie Ausflüge in die Parkanlagen der Krankenhäuser. Die Kurzaufenthalte im Grünen erfreuen ihr Herz – sie sind für sie Erholung, Ablenkung und Inspiration zugleich. Das seelsorglich geschulte Ohr hört mit und vermutet in dieser Sehnsucht eine metaphorische Dimension: Die transzendierten Vorstellungen vom

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Paradies als »Garten Eden« mitsamt dem prallen und zugleich filigranen Leben darin. »Garten« steht für den vielfältigen, vitalen und überschaubaren (d. h. nicht bedrohlichen) Mikrokosmos. In der jüdisch-christlichen Tradition ist der »Gan Eden« ein zentrales Motiv, ebenso im Islam, bei den Kelten (»Avalon«), den Germanen (»Hag«) und den Griechen (»Garten der Hesperiden«). Die Geometrie der Klostergärten und der barocken Schlossgärten in Frankreich erinnerte über Jahrhunderte an die gute, paradiesische Ordnung vor dem Einwirken der Chaosmächte. Heute würde das »Paradies« vermutlich eher mit einem ökologisch unversehrten, wilden Biotop assoziiert werden. Ein zweiter Aspekt impliziter, nicht-konfessioneller Spiritualität lässt sich in dem Bedürfnis erkennen, über Sinnfragen reden zu können: Frau Solina klagt zwar nicht explizit über eine Sinnkrise, es fällt ihr innerhalb der zitieren Sequenz jedoch schwer zu benennen, was ihre Lebensaufgaben sind, und inwiefern sich solche als erfüllt erweisen könnten. In anderen Sequenzen kann sie in beinah luzider Klarheit davon reden, dass die Erfüllung dieser Lebensaufgabe nicht abhängig sei von der Anzahl Tage, die man lebe. Hinter dieser durchaus weisen Einsicht könnte sich die vage Erkenntnis verbergen, dass alles, was uns widerfährt, als Einladung verstanden werden kann: zu kämpfen, zu akzeptieren, zu wagen und zu hoffen, solange wir da sind. Letztlich bleibt es uns aber verborgen zu wissen, ob eventuelle Lebensaufgaben erfüllt sind. Die Stärke solcher Positionierungen zeigt sich darin, dass auch Schwächen offenbar werden dürfen, und dass der spirituelle Schmerz im Kontakt mit Vertrauenspersonen zum Vorschein kommen darf. Auch die unerfüllte Sehnsucht nach spiritueller Geborgenheit oder der Verlust spiritueller Beheimatung kann Gegenstand der Begleitung werden. Spiritueller Schmerz entsteht da, wo Menschen sich von der Verbindung zu ihrem Innersten abgeschnitten fühlen. Die Fähigkeit und Bereitschaft, solche Empfindungen auszudrücken, ist nicht selbstverständlich. Zum einen fehlen die sprachlichen Mittel, zum anderen sind spirituelle und religiöse Krisen oft schambehaftet und werden selten in Bezug zu somatischen Problemen gesetzt (vgl. Schmohl 2015, 364). Behutsames Ansprechen von Enttäuschungen und Verletzungen kann deshalb eine Form von Würdigung menschlichen Lebens sein.

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Emergenz und Intentionalität

Spiritualitätskrisen sind jedoch keine offenen Einfallspforten, um Menschen zu belehren. Patientinnen bestimmen nicht nur, worü­ ber sie reden möchten und welche Formen von spirituellem Support ihnen entsprechen, sondern auch darüber, wie lange diese spirituellen Räume offen bleiben sollen. Michael Staudigl (2014) hat das Erlangen von Sinn in drei Kategorien unterteilt. Diese Differenzierung lässt sich auch auf die Spiritualität übertragen: Als erste Kategorie nennt Staudigl die aktive bzw. subjektive Sinn- oder Spiritualitätsfindung: Das, was ich an intrinsischer Lebensmotivation mitbringe, erkannt und mir angeeignet habe. Davon unterscheidet sich die anonyme bzw. emergente Sinn- oder Spiritualitätsbildung: Spiritualität entsteht in einem bestimmten Raum und meint den »flow«, der mich inspiriert, trifft und berührt. Die dritte Kategorie beschreibt die intersubjektive bzw. dialogische Sinn- oder Spiritualitätsstiftung: Menschen entwickeln im Dialog eine neue Perspektive oder erfahren eine neue Dimension, die bis zu diesem Zeitpunkt außerhalb ihrer Vorstellung lag.12 Wenn Frau Solina »in den Garten geht«, macht sie einerseits eine subjektive Erfahrung, die sich – immer wieder neu – als spirituelle Dimension erweist. Sie selbst entscheidet sich dabei, Unterstützung ihrer Bezugspersonen in Anspruch zu nehmen, die Komfortzone ihres Spitalzimmers zu verlassen, die Mühen der Einbettung in den Rollstuhl auf sich zu nehmen und nach draußen zu gehen. Das Wissen um diese Erfahrung und die intrinsische Motivation bedingen und ermöglichen ihr zugleich, aktiv zu werden. Mit ihren Schritten verbindet sich eine inspirierende und beglückende sphärische Dimension von Spiritualität, die sie die Fülle der Natur spüren und auf sich wirken lassen lässt. Menschen in gesundheitlichen Krisensituationen haben zwar oft den Eindruck, sich selbst abhanden12 Die drei Dimensionen korrespondieren mit dem 3-Rollen-Modell von Seelsorge, wie sie das Seelsorgezentrum Großhadern in München entwickelt hat: die Dimension der Zeugenschaft, die priesterliche und die prophetische Dimension (vgl. Kammerer 2006, S. 281 ff.). Eine anschauliche Umschreibung der drei Dimensionen findet sich in Mösli/Eychmüller 2014, S. 140 f.

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gekommen zu sein, gleichzeitig werden sie sich aber eben durch die Begrenzung ihrer selbst gewahr und gelangen infolgedessen zu neuen Sinngebungen. Auch die intersubjektive, dialogische Sinnstiftung ist nicht ohne Eigenmotivation denkbar. Dabei sind jedoch Resonanzfähigkeit und der respektvolle, einfühlsame Umgang von Bezugspersonen notwendig: Freundinnen, Freiwillige, Pflegende, Ärztinnen oder Seelsorger müssen gewillt und fähig sein, sich auf die Gratwanderung der Interaktion und die dazugehörigen Klippen einzulassen. Erst mit den Schritten, die wir wagen, können sich Brücken über Abgründe bilden. Das Interesse an Lebensgeschichten – so skurril diese auch sein mögen – kann zu einer veränderten Selbstwahrnehmung führen. Damit sich spirituelle Räume öffnen, braucht es Geduld, Zurückhaltung und behutsames Fragen. Spirituelle Dimensionen entfalten sich zudem häufig erst, wenn die leibliche, die somatische und psychosoziale Dimension gebührend Raum erhalten. Das kann beispielsweise durch die Würdigung des beruflichen Kontextes oder der Rückblick auf die gesellschaftlichen Verpflichtungen geschehen. Zuweilen muss die Vergangenheit thematisiert werden, um die stürmische Gegenwart zu bändigen, und manchmal sind umständliche, langwierige Exkurse zu Nebenschauplätzen nötig, um Selbstbezüglichkeit zu ermöglichen. Die erzählerische Inszenierung des Erfahrungsschatzes, in dem unsere Wahrnehmung und unser Handeln gründen, dient in Krankheits- und Sterbeprozessen bis zuletzt der Identitätsbildung.

Grenzen der Intentionalität

Menschliches Leben ist immer auch soziales Leben und Beziehungsgestaltung: nicht allein die Fragen nach Sinn und Unsinn, nach Werten und Wertlosigkeit, sondern auch die Frage nach dem Dasein als Mitmensch, nach den Weiten und Grenzen der Vernetzung im sozialen Umfeld, haben sinnstiftenden Charakter. Nicht allein die spirituelle Selbsterfahrung, die auch zu einem Heilsegoismus mutieren kann, sondern die spirituelle Solidaritätserfahrung retten

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uns vor den Abgründen krankheitsbedingter Verlusterfahrungen. Solidarisch sind wir einerseits, wenn wir uns auf Augenhöhe mit dem Gegenüber bewegen. Augenhöhe beginnt bei der physischen Annäherung, indem ich mich zum Beispiel hinsetze und dabei ein Gefälle vermeide. Auch das konfessorische Ich kann helfen, den garstigen Graben zwischen Kranken und Gesunden für eine kurze Zeitspanne zu überwinden. Menschen, die einander ernstnehmen, ermöglichen einen besonderen Wahrnehmungs- und Zuwendungsmodus. Sie schaffen »Nahsinn« (Wild 2010, S. 29), einen geschützten Raum, in dem Fragen gestellt und Sorgen geäußert werden dürfen. Eine weitere Ebene von intersubjektiver Sinnstiftung betritt der Seelsorger im Fallbeispiel: Er fragt die Patientin, ob sie von einer Vertrauensperson den Zuspruch akzeptieren könnte, sie hätte »vielleicht das Allerwichtigste, das wir in diesem Leben überhaupt erreichen können, schon erreicht?« Die implizite Einführung des Liebesgebots der jüdisch-christlichen Tradition (vgl. Lev 19,18; 1Kor 13,13) kann zwar als übergriffig empfunden werden, doch mithilfe hypothetischer und zirkulärer Fragetechniken ist es möglich, die Resonanzbereitschaft der Patientin einzuschätzen. Indem der Seelsorger der Patientin attestiert, dass sie das, was zählt, erfüllt haben könnte, werden Türen zu neuen Räumen geöffnet. Der »Mut zum Pathos« (Mathwig 2014, S. 40) kann manchmal auch zum Türöffner werden. Seelsorgliche Begegnungen zeichnen sich durch Authentizität und Solidarität aus. Sie vermögen es, den Schmerz eines leidenden Menschen gemeinsam auszuhalten und wahrzunehmen. Patientinnen spüren, ob wir authentisch sind oder nur eine Rolle spielen, eine Funktion bedienen und Theorien vertreten. Wenn wir spirituelle Räume betreten, ist neben dem professionellen das konfessorische Ich mitgefragt: meine eigene religiöse Identität und mein eigener Umgang mit Leiden, Krisen und Vertrauen sind von Bedeutung, wenn auch nicht das direkte Gesprächsthema. Glaube und Spiritualität sind eine bestimmte Art des Seins, eine Art, auf das Leben und den Menschen zu blicken (vgl. Brems 2019, S. 72). Die Grenzen der Intentionalität können respektiert werden, indem Spiritualität thematisiert wird, ohne den Begriff zu gebrauchen: Eine spirituelle Begegnung entsteht wahrscheinlicher in einem offe-

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nen Raum, der aber nicht als solcher gekennzeichnet ist. Der Begriff Spiritualität ist zu diffus und sein Gebrauch zu inflationär, als dass er ein Türöffner sein könnte. Wenn wir eine patientenorientierte Strategie anwenden, gilt es, ihre Sprachregelung zu berücksichtigen. In Krisen kann die Aufforderung, über die eigene Spiritualität zu reden, eine solche zu finden oder diese wieder in Gang zu bringen, zusätzlichen Stress auslösen. Die Gefahr, dass die Thematisierung instrumentalisiert und das Vorgehen dem spirituellen Bedürfnis der Betroffenen nicht gerecht wird, belegen zwei neuere Studien: In einer kanadischen Befragung (You et al. 2014) von sterbenskranken Patienten (n = 200) und ihren Angehörigen (n = 200) antwortet die große Mehrheit, dass sie mit dem Gesundheitspersonal nebst Krankheitsverlauf, Prognose, Maßnahmen und Behandlungszielen zwar auch über die eigenen Wertvorstellungen sowie über ihre Ängste und Sorgen reden möchten, jedoch wünschen sie sich dabei nicht noch eine zusätzliche spirituelle Diagnose. Eine Studie aus Frankreich (Pujol et al. 2016) zeichnet ein ähnliches Bild: Das Screening von Spiritualität verfehlt den Bedarf der Betroffenen. Diese wollen neben den medizinisch notwendigen Untersuchungen nicht auch noch spirituell gecheckt werden.13 Religiosität und Spiritualität können weder mit Modellen noch mit geschlossenen Fragen erschlossen werden. Sie wollen vielmehr in geteilter Präsenz ertastet und hervorgelockt werden. Aber auch dieser Intention sind Grenzen gesetzt: Spiritualität gleicht oft einem Diamanten, dessen Facetten sich situativ zeigen oder auch verborgen bleiben. Die kommunikative Vermittlung von persönlichen Themen ist generell anspruchsvoll. Die religiöse Pluralität und der Rückzug des Religiösen ins Private verlangen häufig danach, erst eine gemeinsame Sprache zu finden, um über Spiritualität oder Religiosität reden zu können. 13 Vgl. Noth (2014, S. 113f), die bei spirituellen Anamnesemodellen die Selbstbe-stimmung, über Spiritualität gerade nicht reden zu wollen, in Gefahr sieht: »Hoffentlich getraut sich die Person angesichts der Asymmetrie von Arzt und PatientIn, die Auskunft auch zu verweigern […]. Das sind Dinge, die man nicht abfragt, sondern erfährt, und zwar, wenn man das Vertrauen einer Person gewonnen hat.«

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Das innere Geheimnis und die Grenzen meines Gegenübers stets respektierend versucht die Seelsorge – im Sinne eines pacing and leading –, mit der Seele des Gegenübers in Schwingung zu kommen oder zu bleiben.

Alternative Werte

»Spiritualität ist die lebendige Beziehung eines Menschen zu dem, was sein Leben trägt. Sie umfasst die Frage der Sinnfindung, der Identitätssuche, die Reflexion der existenziellen Lebensfragen, die Verbindung zu den Mitmenschen und zur Natur, Wertefühligkeit und Offenheit für Transzendenz. Sie ist zwar mit ganz persönlichen Erfahrungen und Fragen verbunden, geht aber nicht darin auf.« (Schmohl 2015, S. 366 f) Diese umsichtige Definition beschreibt viele bereits genannte Aspekte. Aber erreicht sie auch jene letzten Lebensphasen und außerordentlichen Bewusstseinszustände, in denen oft nur noch elementare Bedürfnisse kommuniziert und gestillt werden können? Wenn Spiritualität keine Leistung ist und auch im gebrochenen Leben aufleuchten kann, sind oft andere Kommunikationsebenen gefragt. So erhalten beispielsweise im Status krankheitsbedingter Entfremdung eigene Gewohnheiten und Bräuche besondere Bedeutung: Sie beheimaten und sie vergewissern, spenden Sicherheit wie ein Geländer in unwegsamem Gelände. Vertraute Rituale haben einen Wiedererkennungswert. Die Wiederholung von Worten, die seit Kindheit (par coeur/by heart) memoriert wurden, sind einverleibt und erreichen tiefere Schichten als es rein kognitive Sprechakte zu leisten vermögen. Die Kraft der Wiederholung eines einfachen Gebets, der Rhythmus der poetischen Sprache, der Zauber guter Düfte oder ästhetischer Bilder, der Klang der Musik oder das gemeinsame Lachen können das Vertrauen in die Ressourcen spiritueller Begleitung wecken. Gegenstände, Relikte vergangener Zeiten, etwa Familienaufnahmen, Stofftiere oder Symbole können Hinweise auf innere Werte und Referenzen gelebten Lebens liefern. Es gilt daher, das stillschweigende, konkludente Verhalten wahrzunehmen und so

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Spielräume zu entdecken. Wie eine achtsame Raumpflegerin können einzelne Platzhalter in das beeinträchtigte Bewusstsein gehievt, entstaubt oder mitsamt der Patina gewürdigt werden. Spiritualität kann in Krisen und im Kontext standardisierter Therapiemaßnahmen zu einer Alternative werden – zu einer Möglichkeit, die eigenen Werte in symbolische Haltungen umzusetzen. Constantin Klein und Cornelia Albani (2007) haben ein theoretisches Modell zu Wirkungsweisen von Spiritualität und Religiosität entworfen, das neben den gängigen Ressourcen (Grundvertrauen als emotionale Basis, kognitive Orientierung an Leid- und Bewältigungsgeschichten, sozialer Support durch ein gutes Umfeld und verbindliche Beziehungen) alternative Werte als vierte Säule betrachtet. Klein und Albani denken dabei in erster Linie an gesellschaftskritische Werte wie Verzicht und Einfachheit, die entlastend wirken sowie bescheidener und demütiger werden lassen. Alternativ kann Vieles sein oder werden: Wenn ich mich beispielsweise flankierend zur wissenschaftsbasierten Medizin für alternativmedizinische Therapien entscheide, nehme ich in einem – wenn auch kleinen – Segment Einfluss auf mein Ergehen. Ich mache die Erfahrung, dass ich etwas tun kann und nicht vollständig den Entscheidungen anderer ausgeliefert bin. Wenn ich auch nicht mehr in der Lage bin, fürsorglich zu sein, kann ich mich doch meiner Fürsorge erinnern und vielleicht auf diese Weise mein gelebtes Leben würdigen.

Umsichtige Seelsorge

Als Menschen sind wir in bestimmte soziale Felder eingebunden. Unsere Herkunft mit ihren kulturellen, geografischen und familiären Facetten, die aktuelle Lebenswelt, der Lebensstil sowie der Berufsund Beziehungskontext prägen uns und die Art und Weise, wie wir auf Krisen reagieren. Im Krankenhaus befinden sich Menschen nicht nur in einer besonderen Lebenslage, sondern auch in einem außergewöhnlichen, nämlich klinischen Kontext. Menschen mit einem großen Autonomiebedarf empfinden einen Krankenhausaufenthalt oft als Enteignung. Andere fühlen sich weit über ihren Befund hinaus pathologisiert und auf einen – bestenfalls

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interessanten – Fall reduziert. Wieder andere können trotz der Unannehmlichkeiten die Aufmerksamkeit und Zuwendung, die ihnen vom Pflegepersonal entgegenkommt, wertschätzen. Marginalisierte Menschen mit wenig Sozialkontakten nutzen ebendiese erhöhte Aufmerksamkeit kompensatorisch, sodass sie geradezu behäbig, gleichgültig und unbeteiligt wirken und zum Verdruss des Behandlungsteams kaum Eigenverantwortung übernehmen. Seelsorge richtet den Fokus auf diese Dynamiken. Sie weiß, dass Krankheiten und Unfallfolgen nicht allein kurz- oder langfristige Perspektiven in Mitleidenschaft ziehen können, sondern auch das soziale Leben. Kranke Menschen zwingen ihr persönliches Umfeld, sich gegenüber der akuten Situation zu verhalten: Gerade über lange Zeit eingespielte Rollen und Beziehungen, die sich angesichts der Krise radikal verändern, können das Familiengefüge massiv stören (vgl. Bausewein 2009, S. 67). Das familiäre Umfeld von Patienten mit oder ohne Aussicht auf Heilung ist mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Mächtige werden ohnmächtig, Verantwortungsvolle resignieren, Schattenfiguren wittern ihre Chance, aus ihrem Schattendasein herauszutreten. Alternative, bisher kaum ersichtliche Verhaltensweisen wie liebevolle Berührungen, Mitgefühl oder klare Abgrenzung sind plötzlich von großer Bedeutung. Zur Aufgabe der Angehörigen gehört oft auch, Therapien mutig zu hinterfragen, verschiedene Optionen abzuwägen oder das Einwilligen in medizinische Entscheidungen zu unterstützen. Auch das Pflege- und Behandlungsteam, das täglich den Stimmungen der Patientinnen ausgesetzt ist – und oft wenig Beachtung erfährt – ist im Blickfeld einer Bedürftigkeit wahrzunehmen. Die Seelsorge versucht, das Verborgene und Unausgesprochene, möglichweise latent Vermiedene, zu erkennen und gegebenenfalls zur Sprache zu bringen. Die Reflexion der eigenen Spiritualität, der eigenen Fragen, Zweifel und Schwächen ermöglicht uns, die Scheu vor mutigen Interventionen abzulegen und überraschende kommunikative Pässe zu spielen. Ich muss in meiner eigenen Spiritualität gefestigt sein – und gleichzeitig einen Schritt aus meinem Haus herauswagen können. Ich darf ein Sinnsuchender sein und muss ebenso Distanz zu einer zwanghaften Sinnfindungs- oder Sinngebungshysterie wahren. Auch Sinnlosigkeit, Unsinn und Widersinniges sind Teil des

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Schicksalhaften – und müssen nicht verklärt werden. Wir alle sind mit unbeantwortbaren, letzten Fragen konfrontiert, mit Phänomenen und Verhängnissen, die nicht nachvollziehbar sind und jeglichem Gerechtigkeitssinn spotten. Zwar ist die eigene Verletzlichkeit stets auch mit Risiken verbunden – dennoch ist der existenzielle Bezug zu Krisen ein Gütezeichen seelsorglicher Qualität. Krisenerfahrungen vermitteln ein Bewusstsein eigener Grenzen und eigener Schwachstellen. Der Mensch, der weiß, wo seine Grenzen der Belastbarkeit sind, beweist Selbstkompetenz.

Literatur Bausewein, C. (2009): Sterbende begleiten. Ignatianische Impulse. Würzburg. Brems, M. (2019): »Wo ist nun dein Gott?« Krankenhausseelsorge als Ort religiöser Erfahrungen. In: T. Roser (Hg.): Handbuch der Krankenhausseelsorge (S. 65–77). Göttingen. Danz, Ch./Murrmann-Kahl, M. (Hg.) (2019): Verlust des Ichs in der Moderne? Erkundungen aus literaturwissenschaftlicher und theologischer Perspektive. Tübingen. Kammerer, Th. (2006): Lebensatem an der Grenze. Zur Spiritualität und Seelsorge im Raum der Intensivtherapie. In: Th. Kammerer (Hg.): Traumland Intensivstation. Veränderte Bewusstseinszustände und Koma. Interdisziplinäre Expeditionen (S. 281–294). München. Klein, C./Albani, C. (2011). Religiosität und psychische Gesundheit – Empirische Befunde und Erklärungsansätze. In: C. Klein/H. Berth/F. Balck, (Hg.): Gesundheit – Religion – Spiritualität. Konzepte, Befunde und Erklärungsansätze (S. 215–245). Weinheim. Kössler, H./Wild, T. (2018): Spirituelle und religiöse Aspekte in der End-of-Life Care. In: M. Trachsel (Hg.): End-of-Life Care. Psychologische, ethische, spirituelle und rechtliche Aspekte der letzten Lebensphase (S. 55–84). Bern. Mathwig, F. (2014): Worum sorgt sich Spiritual Care? Bemerkungen und Anfragen aus theologisch-ethischer Sicht. In: I. Noth/C. Kohli Reichenbach (Hg.): Palliative und Spiritual Care. Aktuelle Perspektiven in Medizin und Theologie (S. 23–41). Zürich. Mösli, P./Eychmüller, S. (2014): Chancen der interdisziplinären Zusammenarbeit aus medizinischer und seelsorglicher Sicht. In: I. Noth/C. Kohli Reichenbach (Hg.): Palliative und Spiritual Care. Aktuelle Perspektiven in Medizin und Theologie (S. 129–154). Zürich. Noth, I. (2014): Seelsorge und Spiritual Care. In: I. Noth/C. Kohli Reichenbach (Hg.): Palliative und Spiritual Care. Aktuelle Perspektiven in Medizin und Theologie (S. 103–115). Zürich.

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Pujol, N./Jobin, G./Beloucif, S. (2016): ›Spiritual care is not the hospital’s business‹: A qualitative study on the perspectives of patients about the integration of spirituality in healthcare settings. Journal of Medical Ethics, 42 (11), 733–738. Schmohl, C. (2015): Sinnorientierung und Seelsorge. Perspektiven für die Begleitung onkologischer Palliativpatienten. Wege zum Menschen, 67 (4), S. 358–370. Staudigl, M. (2014): Phänomenologie der Gewalt. Dordrecht. Wild, P. (2010): Von der Wachheit des Wartens. Robert Lax spirtiuell gelesen. Ostfildern. You, J. J./Dodek, P./Lamontagne, F./Downar, J./Sinuff, T./Jiang, X./Day, A. G./ Heyland, D. K. (2014): What really matters in end-of-life discussions? Perspectives of patients in hospital with serious illness and their families. Canadian Medical Association Journal, 186 (18), S. 679–687.

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2.1 Wider die Obsession der Unsterblichkeit Das Streben nach Unsterblichkeit zieht sich von der Antike bis zu den life sciences der Gegenwart hin. Das Motiv der Unverwundbarkeit ist kulturgeschichtlich in zahlreichen griechischen und germanischen Mythologien tief verwurzelt, etwa in der Achilleus- und in der Nibelungensage. Der Wunsch, den Tod überlisten und das Leben unendlich verlängern zu können, scheint allen wackeligen Identitäten zum Trotz ein urmenschliches Bedürfnis zu sein. Die Akutmedizin der letzten hundert Jahre hat nicht nur die menschliche Lebenserwartung verdoppelt, sondern auch das Sterben massiv verändert: »Bei Krankheit, Sterben und Tod spielt die Medizin heute ohnehin so gut wie immer mit. Man stirbt heute an ›etwas‹. Der Tod wird daher nicht als Folge der Sterblichkeit des Menschen erlebt; er scheint immer die Folge von konkreten Ursachen zu sein, die man im Prinzip beherrschen oder beseitigen könnte.« (Weiher 2009, S. 331). Der enorme Anstieg der Lebenserwartung hat die Palette der Krankheits- und Todesursachen umgekrempelt. Noch vor hundert Jahren trat der Tod hauptsächlich aufgrund von Infektionskrankheiten ein. Heute sterben die meisten Menschen nach langen, chronisch-progredienten oder degenerativ-neurologischen Erkrankungen. Neue Behandlungsmethoden und Transplantationstechniken erlauben es inzwischen, beinahe alle Organfunktionen des menschlichen Körpers zu ersetzen (vgl. Jox 2013, S. 15 f.). Die Bemühungen von Genetik und Stammzellenforschung, den Alterungsprozess zu verzögern, sind eine unaufhaltsame Konsequenz medizinischer Errungenschaften. Die Philosophie hingegen sah im Trachten nach Unsterblichkeit immer wieder einen Hinweis auf die menschliche Hybris.1 Entgegen der Obsession der »letzten 1 Der Versuch, die Sterblichkeit »technisch« zu überwinden, ist Teil des Plots in Jonas Lüschers Roman »Kraft«: Der Protagonist, Richard Kraft, entwirft für den neoliberalen Internet-Mogul Tobias Erkner ein Theodizee-­Modell,

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Dinge« plädiert Marquard für das »Recht der nächsten Dinge« (Marquard 1984, S. 14): Der Mensch ist danach gefragt, sein Leben so zu gestalten, dass er die Vergänglichkeit weder fürchten noch kompensieren muss. Die Kürze des Lebens kann hiernach geradezu als eine Einladung verstanden werden, das Fragmentarische und die eigenen Unzulänglichkeiten anzunehmen – und die Vorstellung des Absoluten und Vollendeten aufzugeben.

Bewusstsein der Sterblichkeit

Eine bald 90-jährige Frau, gemäß Selbsteinschätzung zeitlebens arbeits­ tüchtig und gottesfürchtig, ist an einem Magenkarzinom erkrankt: »Ich weiß nicht, wie mir geschieht: Ich habe niemandem etwas Böses getan und nun diese Diagnose!« Von der Bettenabteilung der Klinik für Viszeralmedizin einen Katzensprung entfernt liegt ein 9-jähriger Junge in der Kinderonko­ logie mit einer nicht mehr therapierbaren Leukämie: »Niemand muss traurig sein, ich habe alles, was ich brauche.« In der orthopädischen Klinik meint ein 45-jähriger Akademiker und Gleitschirmpilot, es sei das erste Mal in seinem Leben, dass er über den Tod nachdenke – der Unfall werde nachhaltige Auswirkungen auf sein künftiges Leben haben, nicht nur, was seine Mobilität betreffe. Diese drei Beispiele unterschiedlicher, mitunter widersprüchlicher Reaktionsweisen auf die Konfrontation mit dem Tod könnten beliebig ergänzt werden. Die hier getroffene kleine Auswahl weist uns auf ein Phänomen hin, das sich in Kultur- und Religionsgeschichte ebenso wie in zeitgenössischen literarischen Narrativen wiederfindet: Das Verhältnis zur eigenen Sterblichkeit ist äußerst divergent – und geht mit bisher nicht geklärten Lernkompetenzen einher2. Unter anhand dessen die Überwindung der Sterblichkeit zur finalen Selbstermächtigung des Menschen erklärt wird (vgl. Lüscher 2017, v. a. S. 160; 178; 183 f.). 2 Entwicklungspsychologisch reift das Verständnis von Sterblichkeit und Endlichkeit im Verlauf des Schulalters heran: Universalität (alle lebenden Wesen sind sterblich), Irreversibilität (ein toter Körper kann nicht wieder leben-

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Bezugnahme psychoanalytischer Theorien kann man bei den eingangs genannten Äußerungen an Ausdruckformen von Abwehrmechanismen denken: Ein Triebimpuls aus dem Unbewussten wird abgewehrt, indem eine entgegengesetzte Verhaltensweise entwickelt wird. Der bevorstehende Tod oder der drohende Verlust an körperlicher Integrität lösen nicht, wie zu erwarten wäre, Angst, Trauer oder Panik aus. Stattdessen zeigen die Betroffenen behütende und fürsorgliche Reaktionen. Selbst im ersten Beispiel könnte der Unlust zu sterben eine Lust zu kämpfen zugrunde liegen: Die hochbetagte Frau denkt nicht daran, ihr langes, gesegnetes und gesättigtes Leben in Dankbarkeit ziehen zu lassen, sondern wehrt sich kämpferisch gegen die nun wahrscheinlich gewordene Tatsache ihres nahen Ablebens. Die Auslöser von Lust und Unlust wie auch von Einwilligung und Widerstand mögen zwar kulturell beeinflusst werden, die Reaktionsbildungen bleiben jedoch individuell. Ein 45-jähriger gebildeter Mensch kann aufgrund seines Reflexionsvermögens, seiner allenfalls während der Kindheit bestatteten Haustiere, der mit hoher Wahrscheinlichkeit verstorbenen Großmutter und erster deutlicher Anzeichen körperlichen Abbaus durchaus Erfahrungen mit Sterb­ lichkeit vorweisen – und sich trotz alledem, als hätte er »im Fluss der Unsterblichkeit« (Petrowskaja 2014, S. 216) gebadet, der Begrenztheit seiner Lebenszeit in beinah kindlicher Naivität mental entziehen. »Der freie Mensch denkt an nichts weniger als an den Tod«, meinte Baruch Spinoza (1986, S. 581) in seiner Ethik, rund 350 Jahre vor der vielfach eingeklagten Todesignoranz moderner Zivilisationen. Man könnte daraus schließen, dass das Verdrängen und Vergessen der Sterblichkeit eine Universalie ist, die erst seit der Erforschung des Unbewussten problematisiert wird. Die Inflation von Sterbeliteratur heutiger Tage und die Appelle der Palliative Care machen zuweilen den Anschein, als wäre das Sterbebewusstsein eine Frage absolvierter Curricula in Selbst- und Sozialkompetenzen. Dabei wird dig werden), Non-Funktionalität (alle lebenswichtigen Organe verlieren ihre Funktion) und Kausalität (der Tod hat biologische Ursachen) gelten als Kriterien eines umfassenden Verständnisses des biologischen Ablebens (vgl. Wass 2003, S. 89).

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leicht vergessen, dass das Unvermögen, den Tod zu erfassen oder zu ergründen, in besonderer Weise für die Vorstellung von unserem eigenen Lebensende gilt. Man erstarrt auf Anhieb, als würde der corpus callosum für einen Moment durchtrennt, wenn man versucht, sich seiner Endlichkeit und seiner Sterblichkeit bewusst zu werden. Der allgemeine Tod soll auf einmal mein eigener sein! So banal das Faktum des Todes und so inhärent er jedem Leben ist: Es fehlen uns offenbar hilfreiche Muster, die uns auf den eigenen Tod vorbereiten könnten. Wir wissen, dass wir sterben müssen, aber wir wollen es nicht wissen (vgl. Gadamer 2010, S. 87). Gegen die Behauptung, der Tod werde in unserer Gesellschaft verdrängt, lässt sich mit Thomas Macho einwenden, dass der Tod so oder so unvorstellbar und ungreifbar bleibt und damit letztlich nie aus der Verdrängung hervorgehoben werden kann (vgl. Macho 1987, S. 34 ff.).

Die Nüchternheit biblischer Schlüsseltexte

Die Art und Weise, wie uns Geschichten erzählt werden und auch wie wir uns unsere eigene biografische Geschichte erzählen, trägt oft von früher Kindheit an dazu bei, ob und wie wir uns später unserer eigenen Sterblichkeit vergewissern können. Aufgrund der Annahme, dass bei aller Säkularisierung der letzten Jahrzehnte nach wie vor eine Mehrheit der Bevölkerung hierzulande durch die jüdisch-christliche Tradition geprägt worden ist, lohnt sich eine kleine Expedition in die Geschichten und Motive dieser Tradition.3 Der Schlüsseltext innerhalb der Hebräischen Bibel findet sich in der mythologischen Ur- und Vätergeschichte der Genesis. Der Mensch ist nach Gen 2,7 einerseits ein irdisches, vom Erdboden aus Staub geschaffenes Wesen, anderseits beseelt vom göttlich verliehenen Lebensatem. Der 3 Die Herleitung kultureller Prägung aus biblischer Tradition (besser: biblischen Traditionen) ist – wie Alfred Bodenheimer aufzeigt – edukatives Programm. Der Traditionsbegriff ist insbesondere in der jüdischen Überlieferungsgemeinschaft als »software« zu verstehen, gekennzeichnet durch Narrative, die sowohl transmissioniert (hebr. massor) als auch empfangen und adaptiert (hebr. qabbel) werden (vgl. Bodenheimer 2012, S. 7–13).

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Dual von Körper und (Lebens-) Geist führt in der jahwistischen Traditionslinie nicht zwingend zu einer dichotomischen Anthropologie. Vielmehr wird ein Bild gezeichnet, das in spätantiken Religionen verbreitet ist und den Menschen an zwei Welten Anteil haben lässt: an der irdisch-sinnlichen und an jener der Götter und Engelwesen. Wie ein Amphibium – als Grenzgänger – bewegt sich der Mensch jedoch als Sterblicher, als einer der aus Irdischem erschaffen wurde und dessen Lebenszeit begrenzt ist (vgl. Gen 3,19 ff.). Das Ableben im hohen Alter wird grundsätzlich nicht als Restriktion betrachtet. So konnotiert die Priesterschrift den Tod des Urvaters positiv: »Abraham starb in gutem Greisenalter, alt und satt an Tagen und wurde zu seinen Stammesgenossen versammelt« (Gen 25,8). Der hebräische Terminus ‫ׂשבע‬, wird mit »satt« übersetzt und meint weniger einen Überdruss als vielmehr Erfüllung oder Befriedigung, eben auch jene des erreichten Alters. Auch die biblischen Ikonen Isaak, David und Hiob sterben »lebenssatt« (Gen 35,29; 1 Chr 29,28; Hi 42,17) und erleiden einen Tod, der sein darf. Der frühe oder vorzeitige Tod hingegen zeigt sich als Feind des Lebens: »In der Mitte meiner Lebenstage geh ich durch des Totenreiches Tore, bin beraubt des Restes meiner Jahre«, klagt der scheidende König Hiskia (Jes 38,10). Das Drama vorzeitigen Sterbens wird weder beschönigt noch verklärt (vgl. Wolff 2010, S. 171). Die sphärische Vorstellungswelt der hebräisch-jüdischen Traditionen versteht den individuellen Tod als Abdriften in einen Bereich, in dem JHWH weder Einfluss nehmen noch gefunden oder angerufen werden kann. Diese Beziehungslosigkeit wird als Unglück empfunden, das sich nicht erst oder allein im biologischen Ableben erweist, sondern das menschliche Leben als solches bedrohen kann. Der Zusammenhang zwischen Vergehen und Vergänglichkeit wird in der Paradiesgeschichte zwar prominent vertreten, die in Gen 2,17 angedrohte Strafe für den Genuss der verbotenen Frucht wird allerdings in die Verfügung eines mühevollen Lebens abgewandelt (vgl. Gen 3,16 ff.). Die Kontextualisierung von Genesis 2 und 3 relativiert den Schuldspruch und weist subtil auf den kreatürlichen Tod hin: »Denn Staub bist du, und zum Staube kehrst du zurück« (Gen 3,19b). Dass gerade nicht auf die Drohung in Gen 2,17, sondern auf den Wortlaut der Menschenschöpfung (Gen 2,7) zurückgegriffen wird,

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ist innerbiblisch-redaktionelle Kleinkunst. Diese nachträgliche Einschärfung, dass ein ewig dauerndes Leben nicht Sache des Menschen sei, liest sich wie ein Fazit des narrativen Schöpfungsmythos (vgl. Schroer 2017, S. 299 f.). Rabbinische Gelehrte des Mittelalters sahen im tow me’od, im »sehr gut« des sechsten Schöpfungstages, gar einen Hinweis, dass der Schöpfer im Ruhen auch den Tod miteinschloss, ohne den das Leben demnach nicht vollständige wäre (vgl. Kermani 2019, S. 279). Die Hebräische Religion war im Unterschied zu der Glaubenslehre der alten Ägyptern erstaunlich diesseitig: In Israel wurden die Grenzen des Todes nie in derselben Weise mythologisch durchkreuzt, wie es in den altägyptischen Religionen der Fall war. Im irdischen Leben können zwar Erfahrungen der Transzendenz gemacht werden, es gibt jedoch keine anthropologische Instanz, die das Individuum über dessen Tod hinaus trägt. Vielmehr verlässt das Leben den Leib und kehrt zu Gott zurück. Die Entmythisierung des Todes innerhalb der Hebräischen Bibel darf als frühe kulturhistorische Errungenschaft bezeichnet werden (vgl. Wolff 2010, S. 156). Zwar werden zentrale Begriffe und Bilder aus der mesopotamischen Umwelt entlehnt (z. B. die »Scheol«, das Toten- oder Schattenreich aus dem Gilgamesch-Epos, gedacht als großer unterirdischer Versammlungsraum), doch diese Mythen haben keine eigene antagonistische Macht mehr. Sie gleichen viel mehr einem Machtvakuum. Das Sterben hat in der Hebräischen Bibel etwas von seiner fratzenhaften Gestalt verloren. Nüchtern betrachtet ist der Tod eine biologische Tatsache, die den Moment des biologisch bedingten Lebensendes umschreibt. Das Leben wird nicht dadurch begrenzt, dass der Tod kommt, sondern das Leben kommt mit dem Tod zu seinem Ende. Menschen sind biologische Systeme, die werden, wachsen und vergehen wie alles Lebendige. Unter dem Einfluss der Hellenisierung etablierten sich dualistisch orientierte Menschenbilder, die auf das klassische Griechenland, insbesondere auf die Orphik und auf Platon, zurückgehen (vgl. Vollenweider 2017, S. 33). Die Unterscheidung von Körper und Seele sowie die Entdeckung des Individuums in der späthellenistischen

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Zeit schlagen sich auch in den Texten des Neuen Testaments nieder. Allerdings mit Einschränkungen: Nebst den dualistischen Menschenbildern lassen die neutestamentlichen Texte zumindest ansatzweise ein ganzheitliches Verständnis des Menschen erkennen, insbesondere in den protologischen und in den eschatologischen Textpassagen (z. B. Mt 10,28; Lk 12,4 f.). Das Cluster von Bildern gleicht einem dynamischen Feld, in dem die einzelnen Aspekte je nach Kontext und Fokus austauschbar sind– z. B. der Mensch als ψυχή (Seele) oder als σῶμα (Leib) –, ohne sich jedoch gegenseitig auszuschließen. Auch die paulinischen Briefe bedienen sich dualer Begrifflichkeiten, unterscheiden etwa den äußeren vom inneren (2 Kor 4,14–16) und den alten vom neuen Menschen (Röm 8,1–17) oder auch den irdischen Leib vom geistlichen Leib (σῶμα πνευματικόν, vgl. 1 Kor 15,44). Paulus ordnet diese Attribute je eigenen Machtsphären zu – im Bewusstsein, dass der Mensch zeitlebens beiden ausgesetzt bleibt. Der vergängliche und von den irdischen Modalitäten geprägte Mensch wird durch die Einwohnung Gottes gerade nicht der drohenden Todesmacht entzogen. Allerdings ist er ihr auch nicht mehr schutzlos ausgeliefert. Weder Selbstdisziplinierung noch Selbstedukation können nach paulinischer Theologie den archaischen Mächten Einhalt gebieten. Dies gelingt allein durch die Transformation jenes Geistes, der sich ansatzweise und bruchstückhaft inkarniert, jedoch erst in der eschatologischen Vollendung den neuen Menschen schafft. Die hebräisch-jüdische Tradition hat es verstanden, hypothetische, über die erfahrbare Wirklichkeit hinausgehende Motive mit metaphorischen Rückgriffen auf die leiblich erfahrbare Wirklichkeit zu verbinden. Das gilt von den protologischen Schöpfungsberichten bis hin zu den eschatologischen Endszenarien. Paulus ist deshalb nicht verlegen, Sterben und Tod von der christlichen Auferstehungshoffnung ausgehend zu denken: Die Verkörperung des Geistes wie auch die geistbestimmende Körperlichkeit (besser: Leiblichkeit) finden im Konzept von Paulus eine erstaunliche Entsprechung, die als Auferstehung bzw. Auferweckung zu einem σώμα πνευματικόν gedeutet wird (1 Kor 15). Voraussetzung für die Transformation in den »pneumatischen Leib« ist allerdings der (physische) Tod – der »heilsame Unterbruch« – weil nur so das Kontinuum der tödlichen

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Verstrickungen unterbrochen wird (vgl. Etzelmüller 2017, S. 351 ff.). Dass die Überwindung des Todes einzig in der Auferstehung liege, die nicht unbegreiflicher sei als der Tod selbst, folgert auch Gadamer (2010, S. 94).

Vom Dualismus zum Embodyment

Unter dem Paradigma der Verkörperung (embodyment/embodied mind) haben neuere anthropologische Konzepte den eingespielten Dualismus von Geist und Körper aufzulösen versucht.4 Im Ansatz bedeutet das: Der Geist ist schon immer verkörpert vorzufinden. Es gibt also kein Bewusstsein ohne Körper. Der Körper wiederum ist immer schon geprägt durch Subjektivität, durch Intentionen, Erfahrungen und Erinnerungen. Unser Geist lernt durch leibliche Erfahrungen. Der Plastizität der Leiblichkeit entspricht jene des menschlichen Gehirns. Erst durch wiederholte Erlebnisse werden wir zu jenen Menschen, die wir sind. Die Metapher des Leibes hat gegenüber jener der Seele den Vorteil, dass sie auf den Begriff des Körpers zurückgreifen und damit die Korrelation von Sein und Haben, von Kultur und Natur zum Ausdruck bringen kann. Durch prägende Erfahrungen werden wir zu leiblich-kulturellen Menschen. Auch eine psychische oder somatische Erkrankung formt uns: Sie lässt uns nicht nur innehalten und das repetitive Alltagsgeschäft unterbrechen, sondern verschafft uns Erkenntnisse über ansonsten verborgene Dimensionen der Leiblichkeit (vgl. Gadamer 2010, S. 133 ff.). Im Unterschied zum sekundären Krankheitsgewinn ist damit keine Begründung oder gar Rechtfertigung der Krankheitsgenese gemeint. Die kulturelle Wertschöpfung, die sich in der Erfahrung einer Krise zeigen kann, betrifft das Menschsein in seiner leiblichen Sozialität: Das Umfeld, in dem der erkrankte Mensch beheimatet ist, entwickelt neue Verhaltens4 Auch Gadamer vertritt aus hermeneutischer Sicht die »absolute Untrennbarkeit von Leib und Leben« (Gadamer 2010, S. 96), ohne allerdings die ebenso enge Verbindung von Seele und Leben aus der hebräisch-jüdischen Tradition zu beachten.

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weisen. In der Erkrankung erfährt der Mensch seine Verletzlichkeit, seine Bedürftigkeit und Begehrlichkeit: Die Erfahrung der Krankheit zeigt ihm, wie sehr er auf andere angewiesen und auf andere bezogen ist (vgl. Etzelmüller 2013, S. 295). Inwiefern die »Weisheit« des Leibes zur »Weisheit« des Sterbens werden kann, ist schwer zu beurteilen, ohne Sterbeprozesse zu idealisieren. »Oh! Ich möchte sterben, wenn meine Stunde gekommen ist«, sagt Marianne zu Fosca in Simone de Beauvoirs Roman »Alle Menschen sind sterblich« (De Beauvoir 2012, S. 363). Dieser vordergründig pleonastisch anmutende Appell birgt vor dem Hintergrund moderner Selbstbestimmungsmythen jedoch einen tieferen Sinn: Die Gleichzeitigkeit von Schicksal und Entscheidung, von homo ludens und homo faber, die sich in diesem Wunsch verbünden, signalisiert die Bereitschaft zur Einwilligung in das Gesetzte und Unverfügbare. Diese Bereitschaft wiederum bedarf der Kraft und des Willens, dieses Manifest selbst zu gestalten, um bis zuletzt an der Geschichte mitzuschreiben, die uns auferlegt ist (vgl. Wild 2016, S. 223 f.). Wenn wir die Erfahrungen von Krankheit als Vorläufer von Sterbeprozessen verstehen, können wir nicht ausschließen, dass sich auch im Sterben letzte Transformationen ereignen. Selbst- und Fremdwahrnehmung können sich womöglich nochmals verändern und die Erfahrungen von Subjektivität und Identität verdichten.5 Aus ambivalenztheoretischer Perspektive kann von der Erzeugung einer »dynamischen Gegenwärtigkeit« (Lüscher 2011, S. 380) gesprochen werden, die Gesundheit und Krankheit wie auch Leben und Sterben nicht als Gegensätze, sondern als komplementäre Größen versteht.

5 Anders Mathwig, begünstigt durch einen intellektualisierten Erfahrungsbegriff: »Wir machen irgendwann irgendwelche Erfahrungen und können zu einem späteren Zeitpunkt erinnernd darauf zurückgreifen. Oder wir berufen uns auf ein Wissen, das uns in den Erzählungen der Erfahrungen anderer zugänglich ist. Dagegen sammeln wir in der letzten Lebensphase keine Erfahrungen mehr.« (Mathwig 2010, S. 72).

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Die Gegenwärtigkeit des Todes als Spannungsmoment im Leben

Schon Vladimir Jankélévitch umschrieb das Spannungsvolle, das durch die Sterblichkeit in unser Leben kommt: »Unser Geist pendelt unablässig zwischen der ehernen Notwendigkeit und dem unabweislichen Anspruch, zwischen dem unbeugsamen Gesetz und der unweigerlichen Auflehnung dagegen hin und her  … Doch gerade dadurch hält das Notwendig-Unmögliche die Hoffnung in uns wach.« (Jankélévitch 2005, S. 531). Sterben und Sterblichkeit sind nicht als Defizite zu werten. Die Defizite müssen vielmehr in der segmentierten Gesellschaftsstruktur gesucht werden, die kaum mehr Erfahrungen von Abhängigkeitsverhältnissen vermittelt und immer weniger Beziehungen zur ältesten Generation zulässt. Im Mangel also an dem selbstverständlichen Einbezug in sterbenahe Situationen und damit an Sterbeprozesserfahrungen in Zeiten der vermeintlich todesfernen Lebensblüte. Der tschechische Marxist und Philosoph Vítězslav Gardavský behauptete in seinem Werk »Gott ist nicht ganz tot« (Gardavský 1971) kühn, sein eigener Tod sei für ihn das Ende der Hoffnungen, aber nicht das Ende der Hoffnung für die Gesellschaft. Die Gesellschaft sei geradezu jene Stehauf-Figur, die die dauernde Überwindung von Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit zu verkraften und zu leisten habe. Sein eigener Tod sei die unerlässliche Vorbedingung für das Werden und Vergehen kommender Generationen, sozusagen der persönliche Preis zu Gunsten der Zukunft der Gesellschaft. Gardavskýs Statement ist Ausdruck eines subjektiv angeeigneten Bewusstseins von menschlicher Sterblichkeit, zu dem der eingangs erwähnte 9-jährige Junge vermutlich noch nicht in der Lage gewesen wäre. Beide Beispiele zeigen jedoch, dass Sterblichkeit an sich und der biologisch-individuelle Tod im Besonderen im Horizont eines Beziehungsgefüges betrachtet werden können. Bevor der Tod eintritt, ist das Leben noch formbar und offen für Zukunft und Revision, allerdings auch für Verfehlung und Ver-

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derben. Im Tod wird das Leben endgültig. Es ist darum verständlich und folgerichtig, dass das Bewusstsein einer endgültigen Unveränderlichkeit gelebten und nicht gelebten Lebens hinter mancher Furcht vor dem Sterben steht. »Man sollte davon Abstand nehmen, das Lebensende als Ziel zu betrachten. Es ist mehr Ende als Ziel« (Marquard 2013, S. 71). Auch aus jüdisch-christlicher Perspektive ist die Teleologie der Existenz nicht im Tod begründet. Der Tod beendet das irdische Leben, dessen Ziel jedoch hat keine verfügbare Referenz. Eine Anthropologie, die die theologischen und kulturellen Errungenschaften biblischer Traditionen berücksichtigt, ist für die Seelsorge aus dem Grund relevant, weil sie von der Hybris befreit, das gelebte Leben zu verklären – und gleichzeitig für eine Bescheidenheit plädiert, das eigene Leben als etwas Unfertiges, Fragmentarisches anzunehmen. Seelsorgliche Begleitung respektiert beides, die Angst ebenso wie die Hoffnung: Die Angst, das Leben verfehlt, verwirkt oder verpasst zu haben, und die Hoffnung, dass das Leben bis zum Schluss Optionen bietet, um schließlich durch eine gütige und gnädige Gottheit angenommen zu werden.

Sterblichkeit – Antrieb zum Leben

Die Fragilität der Schöpfung und das Fragmentarische menschlichen Lebens sind Einladung und Antrieb, die Fähigkeit zur Gestaltung des Lebens zu nutzen. Diese Fähigkeit »holt ihre Energie aus der Unvollkommenheit, der Inkohärenz, den Dissonanzen und den schmerzlichen Widersprüchlichkeiten« (Honigmann 2006, S. 75). Eine theologisch verantwortete und kultursensible Seelsorge sucht zwischen Fortschrittsgläubigkeit und Kulturpessimismus nach Wegen, die Leben als vielseitig offenes, entwicklungsfähiges und gerade darum vielseitig bedrohtes und verletzliches Gut verstehen lassen. Auch menschliches Leben ist – wie biologisches Leben generell – auf Entwicklung angelegt, ist nicht nur offen gegenüber Evolutions- und Transformationsprozessen, sondern geradezu auf solche angewiesen. Der mit der Sterblichkeit verknüpfte Fortpflanzungsauftrag (Gen 3) wie auch die Urgeschichte als gesamter Erzählkomplex weisen darauf hin, der individuellen Endlichkeit mit der Ermöglichung und Ver-

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wirklichung der Generationenfolge entgegenzuwirken – und gerade nicht dem Regress einer vermeintlichen Unsterblichkeit Raum zu geben (vgl. Bodenheimer 2012, S. 19 f.). Auch degenerative Prozesse sind möglich, solange wir biologischen Gesetzen unterworfen sind. Zellen können entarten und absterben. Das biologische Erbe, das wir durch unsere Millionen von Jahren andauernde Hominidenvergangenheit in uns tragen, ist nicht zukunftsfähig. Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit sind wie die zeitliche Begrenzung Kennzeichen menschlichen Lebens (vgl. Bieler 2017, S. 32 ff.; 53 ff.). Der Tod kann als heilsame Begrenzung des mühevollen Lebens und als Natur- oder widernatürliche Kata­strophe erfahren werden. Nicht allein der biologische Exitus bedroht das Leben: Der Mensch ist mitten im Leben vielfältigen Gefahren ausgesetzt: Vereinsamung, Verlust und Verbrechen gelten im antiken Religionsverständnis als Zeugnisse dafür, dass die Fangarme des Schattenreichs mitten ins biologische Leben hinein greifen.6 Die durch den Tod markierte Endlichkeit ist Verhängnis und Notwendigkeit zugleich, sie ist Teil der Natur und gehört zum Leben.

Fazit

Weder die platonischen Unsterblichkeitsfantasien noch die moralisierenden Appelle an ein gutes Sterben vermögen zu überzeugen. Sie sind vielmehr Ausdruck einer starken Emotionalisierung (vgl. Jox 2013, S. 11) und ignorieren sowohl Bedeutungsvielfalt menschlichen Sterbens wie auch die Formalität des Todes. Norbert Elias plädierte für einen entmystifizierten und tabufreieren Umgang mit dem Tod: »Der Tod ist nichts Schreckliches. Man fällt ins Träumen, und die Welt verschwindet – wenn es gut geht. Schrecklich können die Schmerzen der Sterbenden sein und der Verlust der Lebenden, 6 Wenn einzelne Stimmen, v. a. innerhalb der Poesie der Psalmen, sich für die »Errettung aus dem Totenreich« bedanken, sind in der Regel Krankheits- und Verfolgungsschicksale gemeint. Zeugen also, die subjektiv dem Tod nahe waren (vgl. Krüger 2017, S. 375 f.).

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wenn ein geliebter oder befreundeter Mensch stirbt. Schrecklich sind oft die kollektiven und individuellen Phantasien, die den Tod umgeben. Sie zu entgiften, ihnen die einfache Realität des endlichen Lebens gegenüberzustellen, ist eine Aufgabe, die noch vor uns liegt. […] Vielleicht sollte man doch offener und klarer über den Tod sprechen, sei es auch dadurch, dass man aufhört, ihn als Geheimnis hinzustellen. Der Tod verbirgt kein Geheimnis. Er öffnet keine Tür. Er ist das Ende eines Menschen«. (Elias 2002, S. 68). In diesem an die nüchterne Faktizität des Todes erinnernden Apell klingt bereits die Intention, die weitgehend individualisierte Betrachtungsweise von Sterben und Tod zu überwinden, an. Emmanuel Lévinas war es, der die verengende, subjektivistische Sichtweise des Todes einklagte.7 Durch die Atomisierung des Einzelnen wird die Relationalität menschlichen Lebens ausgeblendet. »Wir sind zutiefst endliche Wesen, die nahezu zur Gänze auf andere angewiesen sind. Wir fangen als abhängige Wesen an und enden als abhängige Wesen. Es gehört zu den elementaren Bedingungen einer existentiellen Höflichkeit, Rücksicht auf diese Abhängigkeit zu nehmen.« (Wils 2007. S. 280). In der Abhängigkeit und in der Bedürftigkeit zeigt sich von Geburt an eine conditio humana, die sich als Vulnerabilität im Leben fortsetzt und sich an den »Rändern« des Lebens, insbesondere im Sterbeprozess, offenbart (vgl. Bieler 2017, S. 54). Die Anerkennung ebendieser Vulnerabilität kann als existenzielle Herausforderung erlebt werden – sie ist indes dem Menschsein und der menschlichen Entwicklung eingeschrieben. Die Anerkennung der Sterblichkeit kann als ein lebenslanger Lernprozess verstanden werden. Sie ist aber weder ein elitäres noch ein besonders spiri-

7 Lévinas denkt den Tod des Individuums dialektisch: Durch die Verant­ wortung, die ich für den anderen habe, werde ich individualisiert. Genauso wird die (empirische) Beziehung zum Tod nur über den Tod selbst zum anderen Teil meiner Existenz (vgl. Lévinas 2013, S. 22 ff.; 116 f.).

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tuelles Unterfangen8 – bleibt das Sterben doch, trotz allen bewusst gewählten Sterbehilfen, eine meist weitgehend passive Angelegenheit. Eine Tugendethik appelliert an die Fähigkeit, das eigene Leben steuern oder zumindest regulieren zu können. Demgegenüber sind Krankheits- und Sterbeprozesse oft an Fähigkeiten und Fertigkeiten gekoppelt, Verpflichtungen des gelebten Lebens loslassen und die Selbstregulation aufgeben zu können. Ausgesprochen willensstarke und disziplinierte Menschen tun sich damit verständlicherweise eher schwer. Der Verlust von Autonomie und die Akzeptanz von Abhängigkeit ist wenig eingeübt worden. Menschen mit einer ausgeprägt christlichen Identität und religiös motivierter Moral können aufgrund ihrer Überzeugung zwar grundsätzlich in großer Gewissheit und im Glauben an die Vollendung ihres Lebens in den Sterbeprozess einwilligen, werden jedoch oftmals von unerwarteten Wenden, Ängsten und Nöten überrascht. Als würde ihre lebenslange Gewissheit angesichts des nahenden Todes nun einer existentiellen Prüfung unterstellt werden, auf die selbst sie nicht vorbereitet worden sind. Die ultimative Konfrontation mit der Vergänglichkeit des Lebens kann auch den Gott vertrauenden Menschen nochmals gehörig aufwühlen: »Die Aufgabe, die letzte Lebensphase im Sinne der eigenen Überzeugungen und Wertehaltung gestalten zu können, kann für jeden Menschen, auch den religiös gut verankerten, zur Überforderung werden.« (Wild 2016, S. 204)9. Die Wechselseitigkeit von Tun und Ergehen, von geistig-seelischer Verfasstheit und leiblichkörperlichen Erfahrungen lässt nicht nur antike Traditionen und Begrifflichkeiten wie Geist, Seele und Leib in neuem Licht erscheinen, sondern ermöglicht auch neue Verständnismöglichkeiten begrenzter Lebenszeit. 8 In den USA wird seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts im Rahmen der »Death Education« versucht, Erwachsene im Gesundheitswesen für die Sterblichkeit und den Umgang mit Sterbeprozessen zu sensibilisieren. Die Wirksamkeit der »Death Education« wird kontrovers beurteilt (vgl. Wittkowski 2003, S. 211 ff.). 9 Das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit führt den Menschen nicht nur in eine von Ambivalenz gekennzeichnete Haltung, sondern kann, wie Etzelmüller aufzeigt, auch zu asozialen Verhaltensweisen führen (vgl. Etzelmüller 2017, S. 347 f.).

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2.2 Sterben zwischen Verbrämung und Verdrängung Aus theologischer Perspektive ist der Seelsorge aufgetragen, das Zeichenhafte aller Heilungen und das Krankheitsanfällige allen irdischen Lebens in Erinnerung zu rufen: »Gelungene Heilung ist Zeichen der Neuschöpfung, sie ist nicht selber Neuschöpfung« (Ritschl 2004, S. 229). Gott lässt aus Altem Neues, aus Welkendem Lebendiges hervorgehen. Doch auch das Neue wird veralten und das Lebendige wird versterben. Christliche Theologinnen gehen heute mehrheitlich davon aus, dass der physische Tod nicht als Folge einer Gebotsübertretung (vgl. Gen 2,17 und Röm 6,23), sondern als heilsame Begrenzung des mühevollen Lebens (vgl. Gen 3,19) zu verstehen ist. Allerdings wird auch die Redeweise vom natürlichen Tod infrage gestellt und das lebenssatte Sterben angesichts der Verlust- und Leiderfahrungen als Ideal entlarvt. Während die fernöstlichen Religionen den Tod als zumindest partielle Erlösung aus dem Kreislauf des irdischen Lebens verstehen, wird im traditionellen Judentum und im Islam die durch den Tod markierte Endlichkeit des Lebens kontrovers gedeutet: Der Tod entspricht dem Willen Gottes, kann aber auch als äußerste Verlassenheit von Gott erfahren werden. (vgl. Baumann 2011; Pöhlmann et al. 1985). Die Hirntoddiagnostik hat im Zusammenhang mit der Entwicklung der Intensiv- und Transplantationsmedizin einen Status definiert, der den Tod eindeutig bestimmen lässt.10 Anders sieht das beim Sterben aus: Die unscharfe Begrifflichkeit als solche erschwert eine klare Eingrenzung des Prozesses, der zwar definitiv durch den Tod abgeschlossen wird, dessen Anfang jedoch je nach Betrachtungsweise unterschiedlich verortet werden kann. »Eine explizite Definition, die allgemein konsensfähig ist, scheint es jedenfalls nicht zu geben« (Wittkowski 2011, S. 37). Dabei wird heute – zumindest in westlichen Kulturen – nicht nur länger gelebt, sondern auch länger gestorben. Die meisten Menschen fürchten sich konsequenterweise 10 Vgl. die SAMW-Richtlinien. Download auf https://www.samw.ch/de/Publikationen/Richtlinien.html.

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mehr vor der Zeit des Sterbens als davor, tot zu sein. Aber auch die Vorstellung, irgendwann nicht mehr zu sein, kann existenzielle Ängste und Sorgen hervorrufen.

Eine neue »Ars moriendi«?

Unsere Vorfahren beteten dafür, von einem allzu raschen oder überraschenden Tod bewahrt zu werden. Das Leben und dessen Vermächtnis geordnet hinterlassen zu können, war früher von großer Bedeutung. Heute wünscht sich die Mehrzahl der Menschen einen raschen Tod, möglichst ohne Ankündigung. Das Phänomen kann unterschiedlich verstanden werden: Es kann Ausdruck des Verlusts eines verlässlichen sozialen Umfelds sein. Auch eine alters- oder krankheitsbedingte Selbstentwertung kann hintergründig eine Rolle spielen. Einzelne Stimmen deuten auf Angst- und Schamgefühle hin, als Sterbende in einer effizienzorientierten Gesellschaft unnütz oder gar nur noch ein lästiger Störfaktor zu sein. Wenn Sterben und Tod nicht mehr als menschliche Schicksale, die durch Fremdbestimmung gekennzeichnet sind, verstanden werden, bleibt dem Menschen nur noch die Möglichkeit, »sein Dasein mit allen Mitteln zu verteidigen oder, wenn das nicht mehr geht, es autonom zu beenden« – von einer ars moriendi weit entfernt, fragen Menschen zunehmend, »wie sie ihr Leben ›ohne zu sterben‹ beenden können« (Weiher 2009, S. 331). Der niederländische Theologe und Ethiker Carlo Leget (2017) schlägt vor, von der mittelalterlichen Ars moriendi eine zeitgenössische Sterbekunst abzuleiten.11 Leget sieht im mittelalterlichen Konzept fünf Spannungsfelder, innerhalb derer sich der Mensch bewegte und entwickelte: zwischen (1) Hochmut und Demut, (2) Annahme und Ungeduld, (3) Habgier und Loslassen, (4) Hoffnung und Ver11 Die Frage nach einer neuen Ars moriendi wurde schon mehrfach aufgeworfen (vgl. z. B. Imhof 1991 und Wils 2007). In der historischen Gestalt der Ars mo­ riendi stand meist die kirchlich sanktionierte Technik der Sterbevorbereitung im Vordergrund, die vor allem – eingebettet in die religiöse Spiritualität des Mittelalters – als ultimative Selbstprüfung angesichts des bevorstehenden Todes gelehrt wurde und die sich weit weniger als individuelle, ästhetische und alternative Kunst des Sterbens verstand (vgl. Wils 2007, S. 23 f.).

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zweiflung, (5) Glaube und Wissen. Den unter (1) verorteten Stolz sieht Leget heute in der Selbstbestimmung: Angesichts optionaler medizinischer Therapien gelte es, eine relationale Autonomie anzustreben, innerhalb derer Sterbende medizinische Maßnahmen wählen bzw. ablehnen können – bei gleichzeitiger Berücksichtigung des familiären Umfelds. Auch Spannungsfeld (2) beschreibt eine Entscheidungskompetenz: Wie viel »Leiden« will ich auf mich nehmen? Und wann bzw. wo ist meine Schmerzgrenze erreicht, die ich nicht übertreten muss bzw. darf, wenn ich meine Würde bewahren will? Unter (3) erkennt Leget die menschliche Gebundenheit an irdische Dinge, die nach einer Kunst des Loslassens ruft und die gerade dadurch glückt, dass Beziehungen gewürdigt, verdankt oder aufgezeichnet werden. Spannungsfeld (4) verlegt Leget aus dem eschatologischen in einen existenziellen Kontext, in dem es darum geht, belastende Dinge zu vergessen oder zu vergeben. Unter (5) nennt Leget die Spannung zwischen wissenschaftlicher Medizin und individueller Spiritualität. Nebst dem Verdienst, die kulturellen Ingredienzen mittelalterlicher Sterbekunst in die Auseinandersetzung des 21. Jahrhunderts einfließen zu lassen, sind zwei Aspekte in Legets Darstellung bemerkenswert: Zum einen bewegt und entwickelt sich auch der Mensch unserer Tage in Spannungsfeldern. Die Räume, in denen sich der Mensch erfährt, mögen zeit- und kulturgebunden, von persönlichen oder Fremdinteressen geleitet sein – es sind Räume, die eine dynamische Entscheidungen einschließende Selbstkompetenz erfordern. Räume können betreten oder ignoriert, sie können offengehalten oder verengt werden. Auch Erfahrungen von Vergänglichkeit und Sterblichkeit finden innerhalb von Räumen statt, die geöffnet und begangen werden wollen. Zum anderen: Die Überwindung der Sprachlosigkeit ist eine Form der Enttabuisierung. Wer lernt, den Tod zu denken und über den Tod zu reden, überwindet auch die irrationale Angst, mit dem Reden über den Tod ebendiesen heraufzubeschwören. Angst dagegen hindert das Denken oder verengt zumindest die Denkhorizonte. Sterben ist eine Kunst. Jedenfalls dann, wenn uns gewährt wird, etwas tun, lassen oder lernen zu können. Doch steht das Können stets in der Gefahr des Müssens – in der Gefahr etwa, etwaige Kompe-

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tenzen nun auch entwickeln und nutzen zu müssen. Das Ziel, auch noch einen guten Tod zu sterben, ist in einer ökonomisch regulierten Gesellschaft verdächtig (vgl. Wils 2007, S. 15 ff.). Eine Ethik des Sterbens muss sich die Frage stellen, ob hinter der Technik eines guten Sterbens – für wen eigentlich gut? – nicht ein verborgener Imperativ steckt, der auch dem Letzten und Äußersten noch etwas abgewinnen will. Selbst in medizinischen Einrichtungen sind allzu romantische Vorstellungen vom guten Sterben im Umlauf, die den vielfältigen Sterbeverläufen kaum gerecht werden (vgl. Jox 2013, S. 211 f.).12 Allein die religiöse Vielfalt von Sterbekulturen und Sterberitualen lässt Zweifel an einer modellhaften Ars moriendi aufkommen (vgl. Haker 2014, S. 21 ff.): Stirbt eine Muslimin, soll sie idealerweise mit dem Namen Allahs im Ohr sterben; eine Auseinandersetzung mit Fragen der eigenen Autonomie wäre absurd. Buddhisten wollen in der letzten Lebensphase nicht diskutieren und überlegen, sondern meditieren und sich endgültig von der Illusion ihres Ichs lösen. Im Judentum wiederum ist das Erinnern undenkbar ohne das Vergessen – und umgekehrt (vgl. Bodenheimer 1985, S. 37 ff.). Auch innerhalb der Religionsgemeinschaften finden sich unterschiedliche Vorstellungen vom würdevollen Sterben. Mystikerinnen aller Religionen haben Praktiken und alternative Ansichten entwickelt, um den Tod annehmen zu können (vgl. Kermani 2019, S. 149 f.; 279).

Sterbephasen und Sterbeprozesse

Seelsorgliche Begleitungen von Sterbenskranken färben nicht schön, verhaften aber auch nicht in Schwarz-Weiß-Schemata. Sie haben keine fertigen Antworten auf die Fragen, aber sie wissen um den 12 Die »Vorstellung eines friedlichen, versöhnten, integrierten Sterbens sollte nicht zum Maßstab eines guten oder richtigen Sterbens erhoben werden. Es muss Platz sein für menschliche Not und abgrundtiefe Verzweiflung, für alles, was vielleicht nicht geheilt werden kann, für die Widersprüche des Lebens, die nicht lösbar sind, für die laute Klage, die Wut und die Tränen und für all das, was unvollendet bleibt.« (Mösli/Eychmüller 2014, S. 134). Eine ausführliche Kritik des Mythos vom »natürlichen Sterben« liefert Mathwig 2010, S. 187–190.

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Mehrwert sie zu teilen. Meaning-of-Life-Themen dürfen nicht überstrapaziert werden. Sie können auch entnerven und Grenzen verletzen. Das stoische Prinzip, für alles einen Sinn oder eine Erklärung finden zu müssen, gilt es zu vermeiden. Der sterbenskranke Mensch reduziert sich und die Welt oft schon selbst auf das Existenzielle. Eine 58-jährige Frau liegt im Sterben. Sie lässt über ihre Angehörigen die Seelsorge rufen. Ihr Sohn, dessen Freundin und deren Mutter wün­ schen eine Krankensalbung. Die Patientin selbst hat nicht mehr die Kraft, ganze Sätze zu formulieren. Ihr Atem ist schwer. Aber es reicht, um ihrem Sohn mitzuteilen, dass sie für den Akt der Krankensalbung gerne ein bestimmtes T-Shirt über ihre entblößten Schultern gelegt haben möchte. Als das etwas zerknitterte, dunkelrote Shirt auf ihrem Oberkörper liegt, leuchten in weißer Schrift einzelne englische Wör­ ter hervor. »Never« können wir als erstes entziffern, dann »alone« und schließlich »walk«. Mit der Zeit wird der Wortsinn des ganzen Satzes deutlich: »You’ll never walk alone« – die berühmten Worte aus dem Broadway-Musical, erstmals gesungen von Frank Sinatra, heute bekannt als Hymne großer Fußballvereine. »Du wirst niemals allein gehen« – dieser Schriftzug erhält angesichts der bald scheiden­ den Mutter eine fast dramaturgische Bedeutung für die Angehörigen. Im hellen und zugleich wehmütigen Schein dieser Worte wird die Krankensalbung auch zu einer Salbung für die Gesunden, für die Angehörigen – gespendet durch die schwerkranke und kaum mehr kommunikationsfähige Frau. Es gibt Momente im Leben, da braucht unser Herz eine Zufuhr von andernorts: Eine Handreichung, ein Lächeln, eine Umarmung oder eine andere Geste, die gleich einer Kerze die Dunkelheit vertreibt – oder eben ein Wort. Ein Wort, das einen Unterschied macht gegenüber dem, was uns unser Herz einflüstert. Ein Wort aus einem anderen Bezugsraum, das unseren Rahmen sprengt und das Bild, das wir uns von uns selber machen, in einem anderen Licht erscheinen lässt. Ob dieses Wort von außen dann durch einen lieben Mitmenschen, durch eine Fachperson, durch einen populären Songtext oder durch ein kanonisiertes Bibelwort kommt, ist angesichts des Sterbens nicht von Belang.

Sterben zwischen Verbrämung und Verdrängung71

Die Stieftochter einer sterbenden Frau war vor drei Jahren selbst an einem Tumor erkrankt. Das Leiden ihrer Stiefmutter geht ihr nahe. Das Verhältnis der beiden Frauen war in frühen Jahren nicht einfach. Gerade darum möchte die Stieftochter sich würdig verabschieden kön­ nen. Eine längere USA-Reise steht bevor und die Vorstellung abzureisen zerreißt ihr fast das Herz. Tränenüberströmt sagt sie: »Meine Mutter hat mir zwar den Segen zur Reise längst gegeben, aber so kann ich doch nicht gehen. Ich würde mir das nie verzeihen können.« Die Seelsorgerin versucht, die Zerrissenheit mitauszuhalten und zu warten, bis die Tränen versiegt sind. Dann nimmt sie die Stieftochter zur Seite und fragt sie, was ihr außer dem Segen ihrer Mutter denn noch helfen könnte loszulassen. Ob sie vielleicht ein Zeichen der Ver­ bundenheit während ihrer Abwesenheit hinterlassen könnte, welches ihrer Mutter und allen anderen Angehörigen zeige, dass sie sich nicht einfach aus dem Staub gemacht hat? Da scheint sich einen Teil des schweren Schleiers zu lüften. Sie beschließt, einen Abschiedsbrief zu schreiben. 24 Stunden später stirbt die Patientin – in den Armen ihrer Stieftochter. Ein tiefer Frieden ist im Klinikzimmer spürbar. Die Span­ nung hat sich gelöst. Beide Frauen werden in den letzten Momenten von ihrer je eigenen Last erlöst. Auch das ist erfahrbar: Letzte Momente, die alles in ein anderes Licht stellen und dem Leben sowie den Beziehungen neue Vorzeichen verleihen. Die Wirklichkeit der Versöhnung überragt alle Bemühungen und Pläne, durchkreuzt alle Sorgen und Ängste. Dem Sterben wird damit nicht die Schwere, dem Tod nicht der Stachel und dem Verlust nicht die Trauer entzogen. Aber die durch die Endgültigkeit des Lebens und dessen Handlungsoptionen besiegelte Unwiderrufbarkeit erhält durch letzte, unerwartete Momente eine unvergessliche Prägung. Da wir nicht nur selektiv wahrnehmen, sondern auch äußerst selektiv erinnern und diese Erinnerungen im Lauf der Zeit zu verblassen drohen, sind letzte Eindrücke oftmals starke Treiber für erinnerte Lebensgeschichten. Ein Patient zitiert an seinem zweitletzten Lebenstag die komplette medizinische Belegschaft an sein Bett, inklusive der Klinikdirektoren der Inneren Medizin und der Onkologie. Die Angehörigen, die zu Besuch sind und auf ein letztes Aufbegehren gegen das Unausweich­

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liche warten, werden zu Zeugen eines ganz anderen letzten Verlangens: Der Patient bilanziert seine Krankheitsgeschichte in stupender Sach­ lichkeit und bedankt sich anschließend für die chirurgischen und chemotherapeutischen Bemühungen. Dem Dank folgt eine Würdi­ gung der medizinischen Kunst. Er wünscht dem medizinischen Per­ sonal viel Erfolg für Tagesgeschäft, Wissenschaft und Forschung – und schließt mit den Worten: »Hiermit entlasse ich Sie von Ihren medizi­ nischen Verpflichtungen mir gegenüber.« In der Art und Weise, wie Sterbende letzte Worte aussprechen oder gar letzte Reden halten, spiegelt sich gewiss ein Teil ihrer Wesensart und ihres Lebensstils wider. Gleichwohl darf in den dankbaren und würdigenden Worten die Würde des Sterbenden nicht übersehen werden. Rund um den Tod können sich nicht nur letzte Dramen abspielen, sondern auch Momente höchster Luzidität und tiefster Authentizität. Ein mit der letzten Schilderung vergleichbares literarisches Beispiel eines berührenden Abschieds überliefert der ungarische Schriftsteller Sándor Márai (2009), der in »Bekenntnisse eines Bürgers« aus der Sicht des Sohnes das Sterben seines Vaters schildert: »Vater litt lange. Menschen, mit denen wir unlösbar verbunden sind, verstehen wir erst im Tod ganz und gar. Er starb in einer fremden Stadt, unter fremden Menschen, nur wir waren um ihn, die Familie, dieses komplizierte Geflecht, dem er – auch das machte der Tod deutlich – Sinn und Inhalt gab. Der Tod des Vaters gleicht immer einer Explosion; dann zerbirst die Familie, jeder geht seinen Weg. Er war bis zum letzten Augenblick bei Bewusstsein; eine halbe Stunde bevor er starb ließ er den Krankenhausarzt ins Zimmer rufen und sagte mit einer höflichen Handbewegung: ›Ich habe veranlasst, meine Herren, dass Sie Ihr Honorar bekommen.‹ Er starb wie ein großer Herr, der nicht mit Schulden aus dem Leben scheiden mag, er traf vorsorglich und souverän seine Verfügungen, gab jedem das Seine, jeder erhielt ein Lächeln, einen Blick oder Händedruck. ›Das ist mein letzter Tag‹, sagte er am Morgen und sah mit kurzsichtigen und müden Augen lange auf das Laub der Bäume vor dem Fenster. In der kurzen Zeit vor der Agonie, als er mit Sicherheit wusste,

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dass er in einigen Stunden oder Minuten sterben würde, war er erschütternd weise und ruhig. Ich hatte immer seine erstaunliche Fähigkeit bewundert, das Leben aus dieser zurückhaltenden Perspektive zu betrachten. Diese Fähigkeit blieb ihm bis zur letzten Minute seines Lebens eigen.« (Márai 2009, S. 414) Márai lässt uns an letzten Momenten einer Person und einer Beziehung teilhaben, die offenbar von etwas unausgesprochen Geheimnisvollen und Intimen gekennzeichnet wurde. Die erwähnte »Zurückhaltung« und die »Höflichkeit« des Vaters werden voller Respekt umschrieben, ohne die Kehrseiten dieser gewürdigten Attribute zu verklären. Kurz bevor der Vater »zu sterben begann« – setzt Márai die Erzählung seiner Abschiedserfahrung fort – blickte der Vater dem Sohn nur noch starr und wortlos in die Augen: »Er nahm Abschied von mir, dem Ältesten, als wollte er mir etwas übergeben, ein Wort, ein Geheimwort der Familie, einen Fingerzeig für das Leben, füreinander – aber er schwieg, als wüsste er, dass niemandem zu helfen war, dass der einzelne und die Familie ihrem Schicksal überlassen sein würden. Mit weit geöffneten Augen sah er mich an, forschend, als wollte er endlich wissen, wer ich bin, als bäte er um die Antwort auf eine sehr alte Frage.« (Márai 2009, S. 416 f.) Nachdem der Tod eingetreten war, beginnt Márai zu verstehen, dass ein persönlicher Aspekt zwischen seinem Vater und ihm nicht erledigt werden und nie besprochen werden konnte – und dass durch dieses Versäumnis ihre Gespräche nun für immer Stückwerk bleiben würden. Auch die würdevollsten und intimsten Abschiedsmomente tragen Elemente des Unerledigten und Unvollendeten in sich, das es letztlich zu akzeptieren gilt.13 13 Vgl. auch Adolf Muschgs Erzählung »Herr Hartmann«, in der Muschg das Sterben seiner Mutter literarisch verarbeitet. In den letzten Begegnungen wird er mit den Verstrickungen der Symbiose bis zu den perinatalen Anfängen, aber auch mit einem Geheimnis, das das Mutterbild zu sprengen vermag, konfrontiert (vgl. Muschg 1987, S. 83–119).

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Wer sich mit Sterbenden trifft, kann auch zum Zeugen ultimativer Abgeklärtheit und Heiterkeit werden – auch wenn zuweilen die Kommunikation durch die hochdosierten Morphinpräparate eingeschränkt wird und der »Schwanengesang« burleske Formen annimmt.14 In Joachim Meyerhoffs biografischem Roman »Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke« (Meyerhoff 2015) schlägt der Großvater, ein streng katholischer und trotz erheblichen Alkoholkonsums überaus strukturierter Philosophieprofessor, allen ein Schnippchen. Er wird, wie er selbst noch mitzuteilen vermag, »immer weniger«, jeden Tag ein bisschen weniger, denkt jedoch nicht daran, die Gemeinde der Wartenden zu erlösen. Dem Enkel kommt es vor, als würde der zeitlebens impulskontrollierte Denker geradezu eine Freude daran empfinden, die Angehörigen zu narren, mit ihnen ein Fangspiel zu spielen, um ihnen stets von Neuem zu entwischen. Das Szenario wird durch die Mimik des Sterbenden noch skurriler: Seine lächelnden Augen konterkarieren das ungeduldige Warten seiner Ehefrau ebenso wie seine an ein Baby erinnernden Grimassen und Handbewegungen. Fünf Wochen dauert der Sterbeprozess, der einem Balanceakt gleicht und – so möchte man Meyerhoff verstehen – alle medizinischen und thanatologischen Prinzipien Lügen straft. Als das definitive Ende naht und sowohl Angehörige wie auch die Hausärztin auf den letzten Atemzug warten, setzt der Sterbende zu einer überraschenden und erstaunlichen Odyssee an: »Während er noch leise Psalmen und lateinische Litaneien murmelte, waren seine Füße schon so kalt wie die eines Toten. Er war in einen Schwebezustand zwischen Leben und Tod geraten, der selbst die uralte Ärztin verwunderte. ›Lebt er noch?‹, fragte meine Großmutter immer wieder. ›Ich weiß es nicht genau.‹ Nur ein bisschen Rotwein, mit dem Löffel eingeflößt, mochte er noch. Wurde er so gefüttert, verklärte sich sein Gesicht wie bei einem frisch gestillten Säugling. Als er aufgehört hatte zu atmen, schlug, weit in sein Inneres hinabgerutscht, sein Puls so leise weiter, als 14 Das Motiv des Schwanengesangs stammt aus der griechischen Mythologie und bezieht sich auf das Phänomen, dass Schwäne vor ihrem Tod ein trau­ riges und zugleich herzerwärmend schönes Lied anstimmen.

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hätte man dieses ohnehin unberechenbare Herz, dieses zu wilden Rodeosprüngen jenseits der Zweihunderter-Frequenz neigende Herz, wie einen lästig tickenden Wecker unter die Matratze gestopft. Die Ärztin horchte mit dem Stethoskop, bat um Ruhe im Zimmer, horchte und horchte, nickte und beschloss: ›Jetzt ist unser Hermann friedlich eingeschlafen.‹ Sie nahm einen Spiegel, hielt ihn vor seinen Mund – und schon überzog ein feiner Hauch das Spiegelglas und von meinem Platz aus sah ich den Unwillen in den Augen der Ärztin. ›Nein, doch noch nicht, ein wenig Atem ist noch da. Es wird nicht mehr lange dauern.‹ […] Auf mich machte mein Großvater in diesen Tagen einen vollkommen zufriedenen, ja heiteren Eindruck. Er strahlte eine unglaubliche Gelassenheit aus. Eine Bereitschaft, die das Sterben auf angenehmste Art und Weise zu verherrlichen schien. Zum Ende seines Lebens wurde dieser strenge, disziplinierte, fleißige Mann mit einer ihm bis dahin wesensfremden Eigenschaft beschenkt. Einer Eigenschaft, die diametral zu allem stand, was er sein gesamtes Leben lang gelebt hatte. Auf der Schwelle des Todes schien er zu faulenzen.« (Meyerhoff 2015, S. 329 f.). Die Art und Weise des Sterbens hängt von verschiedenen Facetten ab und ist längst nicht immer ein Abbild des gelebten Lebens: »Das Sterben hat viele Gesichter, friedliche und schreckliche, kämpferische und ergebene.« (Hell 2013, S. 35). Trotz aller palliativen Maßnahmen auch jenen eines Akutspitals und guter medikamentöser Unterstützung »offenbart gerade das Sterben, wie schwer es ist, bis zum letzten Atemzug zu leben« (Hell 2013, S. 35). Manchmal scheint allerdings der Sterbende weniger unter den gegebenen Umständen zu leiden als das unmittelbare Umfeld. Der Soziologe und Sterbeforscher Allan Kellehear (2007) zeigt in seiner Sozialgeschichte des Sterbens auf, dass sich die Vorstellungen über das gute Sterben gegenüber einem schmachvollen Ende immer schon kontextuell unterschieden haben. Für unsere Zeit und Kultur kennzeichnend sei hierfür der richtige Zeitpunkt geworden (vgl. Kellehear 2007, S. 234): Mit dem Timing des eigenen Todes ist eine Entscheidungskompetenz ins Blickfeld geraten, wie sie unsere Vorfahren so nicht gekannt haben. Sterben ist nicht mehr nur als Schicksal und

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Verhängnis zu verstehen, sondern kann (auch außerhalb von Suizidhandlungen) die Form eines entschiedenen Akts oder einer bewusst gewählten Reise annehmen.15 Die Herausforderung für den Einzelnen wie auch für dessen Angehörige und für das Behandlungsteam liegt heute oft in der Unterscheidung zwischen einem zu verhindernden und einem zu erleichternden Tod, zwischen dem Kampf um Lebenserhaltung und der Einwilligung in den Sterbeprozess. Vom Austarieren verschiedener Interessen bis zum Erkunden des mutmaßlichen Willens des sterbenden Menschen ist die Seelsorge gefragt, alle Betroffenen in den Entscheidungsprozess miteinzubeziehen, zu verstehen und zu unterstützen. Die Dilemmata, in die wir uns hineinmanövriert sehen, zeigen sich besonders bei Demenzkranken und Komapatientinnen: »Sie können die Entscheidung nicht mehr selbst treffen, sind jedoch existenziell von der Entscheidung betroffen.« (Jox 2013, S. 27). Aufgrund der Entscheidungsmacht postmoderner Sterbekulturen kann mit Jox auf die eingangs erwähnte Frage nach einer Ars moriendi geantwortet werden: »Der Ars moriendi müsste eine Ars morte decernendi, eine Kunst, über das Sterben zu entscheiden, zur Seite gestellt werden.« (Jox 2013, S. 29). Eine seelsorgliche Begleitung schafft Räume oder erhält diese aufrecht, in denen Menschen sich am Lebensende öffnen oder verbergen können.16 Die den Sterbeprozessen eigenen Phasen von Ergebenheit und Aufruhr und Einwilligung und Verweigerung erfordern einen geschützten Rahmen, innerhalb dessen nicht nur der schambesetzte physische Zerfall, sondern auch der schmerzhafte Verlust an seelischer Kraft geschehen darf. Die Sterbenden geben die Richtung vor, bestimmen Rhythmen und Inhalte des zu Verhandelnden. Es 15 Kellehear (2009) erfasst die Grundmuster des Sterbens in sieben Metaphern: Sterben als Akt, als Reise, als oszillierender Prozess, als Rückzug, als Kollaps und Desintegration, als Marginalisierung und als Transformation. 16 Schon Cicely Saunders vertrat die Auffassung, dass es in der Palliativmedizin darum gehe, Hindernisse zu beseitigen, um Raum für »die Entfaltung des menschlichen Potentials, das jedem Individuum in jedem Augenblick seines Lebens innewohnt – unabhängig davon, wie kurz seine Lebenserwartung noch sein mag« (Borasio 2014, S. 122 f.) zu schaffen.

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liegt nicht in der Hand der Begleitenden, wann ein Sterbender welche Prozesse durchlebt (vgl. Bausewein 2009). Wenn das Bewusstsein bereits eingetrübt ist, kann gleichwohl im genauen Hinhören und Hinschauen oder im sensitiven Wahrnehmen etwas vom Willen erspürt werden. Eine Planung des Sterbeprozesses ist aber nur begrenzt möglich. Gestaltung und Planung einer finalen Lebensphase blenden oft aus, dass sich existenzielle Orientierungsmuster und Wertvorstellungen am Lebensende nochmals verdichten oder auch verflüchtigen können. Äußerungen können Fragmentarisches und Gebrochenes enthalten, Mitteilungen können fraglich und rätselhaft bleiben. Nicht nur das Leben, auch das Sterben bleibt häufig Stückwerk.

Würde und Gelassenheit?

Gelassenheit mitten im Sterben darf nicht als Anspruch erhoben werden. Das eigene Sterben mag zwar – in den drei Zeitformen gedacht – mit dem gelebten Leben, mit dem aktuellen Sterbeprozess und mit der gehegten Erwartung des Kommenden korrespondieren. Der Zusammenhang zwischen Lebensführung und Sterbeprozess darf jedoch nicht überbewertet werden. Kirchlich eingebundene Menschen finden plötzlich in ihrem Glauben keine Unterstützung mehr. Anderen, die der Religion zeitlebens distanziert gegenüberstanden, erschließt sich im gefundenen Glauben eine neue Kraftquelle (vgl. Bausewein 2009). Menschen, die sich Fragen und Emotionen rund um Krankheit, Vergänglichkeit und Spiritualität gegenüber als eher verschlossen gezeigt haben, öffnen sich plötzlich. Sie werden gar überaus kreativ und narrativ im Umgang mit vormals tabuisierten Themen. Humor – auch Galgenhumor – kann das Herz in der allerletzten Lebensphase nochmals erwärmen. Die Definitionshoheit darüber, was lustig ist, bleibt bei der sterbenden Person. Übermütige oder saloppe Bemerkungen können verletzen und die Leichtigkeit des Moments zerstören. Geschichten jedoch, die behutsam und warmherzig die Endlichkeit »aufs Korn« nehmen, tun den Betroffenen in der Regel gut und schaffen eine gesunde Distanz zum Bedrückenden.

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Der Wunsch nach dem Gestalten und Ordnen der vielfachen Dissonanzen des eigenen Lebens mag erloschen, das Eingreifen in die Lebenswirklichkeit ermüdet sein: Oft ist das Bedürfnis, sich aussprechen und sich einem oder einer anderen zuwenden zu können, lebendig bis in letzte Tage – als würde diesen letzten Tagen eine eigene Entschlusskraft innewohnen: Wenn die Tage gezählt sind, zählt jeder Tag! Das Wissen um die Nähe des Todes kann von einer Selbstvergewisserung oder gar Selbstbehauptung begleitet sein. Sterbenskranke, die vom Tod »gestreift« werden, können ein äußerst intensives Gefühl für die eigene Endlichkeit entwickeln. Sie können das Bewusstsein für die Schönheit der unscheinbaren Dinge nochmals, einer ästhetischen Agonie gleich, sensibilisieren. Doch auch in den berührenden Bekenntnissen kann sich Widerstand verbergen.17 Das Aufbäumen gegen den Tod, die Abwehr- und Vermeidungsstrategien gegenüber dem krankheits- oder altersbedingten Rückzug von den Hauptschauplätzen des Lebens, sind oft Ausdrucksformen einer tiefen inneren Unruhe, fernab von Würde und Gelassenheit.

Perimortale Wünsche und Hoffnungen

Der US-Gerontologe Kenneth J. Doka (1993) sieht in der Bestätigung, dass das eigene Leben Bedeutung gehabt hat, eines der drei großen spirituellen Bedürfnisse am Lebensende. Er erzählt von einem Mann, der in Korea Kriegsdienst geleistet hatte: Das Aufsuchen des nahegelegenen »Korean War Memorial« war ihm genug, um versöhnt sterben zu können. Damit verbunden ist der Wunsch, Abschied nehmen zu können. Doka erwähnt hierzu beispielsweise eine Frau, die nochmals einen Strand besuchen möchte, um die Wellen krachen zu hören und die Meeresluft riechen zu können. Als drittes Bedürfnis nennt Doka die Hoffnung auf eine Dimension jenseits des Todes, das vor dem Tod gestillt sein will. In westeuropäischen Kulturen ist diese Hoffnung zwar nicht verschwunden, 17 Vgl. Honigmann (2006, S. 40; 85; 102) deren teleologische Charakterisierung der Schreibenden in vieler Hinsicht auf die Erzählmotive Sterbender zutrifft.

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aber sie ist übersetzungsbedürftig geworden. Hoffnung kann hierbei als die Erwartungshaltung, dass etwas Wünschenswertes eintreten wird, ohne dass wirkliche Gewissheit darüber besteht, verstanden werden. Hoffende haben noch Erwartungen. Sie möchten kämpfen und in diesem Kampf unterstützt werden. Manche Sterbenskranke wehren sich bis zuletzt gegen ihr Schicksal und hoffen auf eine Wende. Viele hoffen auf neue Therapien oder neue Medikamente. Wieder andere hoffen, dass sich die Ärzte oder das Labor getäuscht haben und die Diagnose sich als Irrtum erweist. Religiöse Menschen hoffen aufgrund ihres Glaubens, dass Gott den Tod (noch) nicht zulässt, das Wunder einer Remission ermöglicht oder nach dem Tod neues Leben schenkt.18 Die Grenzerfahrungen der Sterbenden wie auch der Begleitenden pendeln zwischen Trauer und Erleichterung, dass das Ende naht. Sie schwanken zwischen Hoffen und Hadern, Glauben und Zweifeln gegenüber einer den Tod transzendierenden Wirklichkeit. Aus theologischer Perspektive können diese Erfahrungen als ein »Schaukeln« zwischen dem Entschlafen aus allem Irdischen und der Auferweckung als »Aufwachen des Menschen für Gott« (Gestrich 2014) verstanden werden. Allerdings gilt es, weder das Gegenüber noch die Situation an sich zu vereinnahmen: Jeder endgültige Abschied ist einmalig, provoziert für alle Beteiligten neue Fragen und lässt oft keine letzten Antworten zu. Odo Marquard warnt vor zwei Formen von Zukunftsillusionen: Neben der Endlosigkeitsillusion stellt auch der Vollendungsanspruch eine Utopie dar (vgl. Marquard 2013, S. 71). Marquards eigene Hoffnung besteht darin, dass Gott ihn nach seinem Tod schlafen lassen und gerade nicht zu neuem Leben auferwecken möge (vgl. Marquard 2013, S. 73 f.). Hoffnungsnarrative können daraufhin abgehorcht wer18 Die christlichen Kirchen haben, was das Bewusstsein der Endlichkeit betrifft, über Jahrhunderte hinweg gute Arbeit geleistet – sie haben indes unangemessene Boni verteilt, was das ewige Leben betrifft: Wenige Auserwählte haben viel und die meisten nichts. Die Dichotomie dieser Eschatologie hat nicht nur absurde Jenseitsvorstellungen hervorgebracht, sie hat auch die spirituelle Dimension von Hoffnung – immerhin nebst dem Vertrauen und der Liebe die Größte im Leben – pervertiert.

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den, was ihnen an Ressourcen und Neigungen, aber auch an Ängsten und Sorgen innewohnt. Hinter mancher allzu leicht als Hoffnungsszenario gedeuteten Äußerung verbirgt sich eine Sorge, die nicht ausgesprochen werden kann oder will.19 Oft braucht es geduldige und einfühlsame Präsenz, ein being there: Der Support, den Sterbende suchen und ertragen, findet sich häufig im schlichten Dasein. 20 Eine seelsorgliche Begleitung ist oft mit den kommunikativen Einschränkungen und mit der emotionalen Instabilität der Sterbenden konfrontiert. Die Sprache Sterbender hat meist ihre eigenen Kommunikationscodes und besteht zuweilen aus eigenartigen Bildern und Symbolen. Das Teilen von Stille, Trauer und kuriosen Momenten kann das Vertrauen in die Umgebung stärken. »Um zu vertrauen bedarf es nicht immer einer gemeinsamen Vorgeschichte. Wie in jeder Beziehung zu Ärzten genügt es mitunter, sich darauf verlassen zu können, dass jemand seinen Auftrag nach bestem Wissen und Gewissen zu erfüllen sucht. […] Einem Fremden zu vertrauen, dem man mit großer Wahrscheinlichkeit nie wieder begegnen wird, erscheint manchmal als weniger riskant. […] In gewissen Situationen wirkt Anonymität vertrauensförderlich« (Peng-Keller 2012, S. 105).

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Film Being there – Da sein. Dokumentarfilm. Regie und Drehbuch: Thomas Lüchinger. Schweiz: roses for you film, 2017.

3 Grenzgänge und Fehltritte

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Grenzgänge und Fehltritte

3.1 Missbrauch von Macht und Empathie Hilfsangebote in Krankheits- und Sterbeprozessen sind vielerlei Gefahren ausgesetzt  – von den kleinen Grenzüberschreitungen übermotivierter Angehöriger bis hin zu den Übergriffen, die nicht allein Hilfe im Sterben, sondern Hilfe zum Sterben anzubieten versprechen. Der von den Nationalsozialisten hingerichtete Theologe Dietrich Bonhoeffer brachte die latente Verführungsgefahr von seelischen Hilfsangeboten prägnant auf den Punkt: Wie kann verhindert werden, dass ich mein Gegenüber indoktriniere, dass ich »ein paar Unglückliche in ihrer schwachen Stunde überfalle und sozusagen religiös vergewaltige?« (Bonhoeffer 1970, S. 305) Die christlichen Kirchen haben mit der Instrumentalisierung menschlicher Ängste und menschlicher Hoffnungen viel Schaden angerichtet. Primitive und infantile Glaubenssätze tragen mit dazu bei, dass reflektierte Menschen sich von den Kirchen abwenden – oder ihr Vertrauen in oft nicht minder fragwürdige Trostkonzeptionen investieren. Billiger oder überhasteter Trost ist eine latente Gefahr in Begleitungen. Allein schon der Versuch, jemandem die Angst wegzureden, kann respektlos und grenzüberschreitend sein.1

Grenzen wahrnehmen

Grenzen sind in zwischenmenschlichen Beziehungen, erst recht in menschlichen Lebens- und Weggemeinschaften notwendig und grundsätzlich verhandelbar. Grenzen werden individuell und kulturell verschieden empfunden und unterschiedlich gesetzt. Grenzen wahrnehmen und Grenzen setzen sind prinzipiell wertfreie Eigenschaften und Handlungsweisen. Das stimmige Maß von Nähe und Distanz hängt von der persönlichen Prägung, vom Beziehungskontext und von gesellschaftlichen Konventionen ab. »Good fences 1 »Gegen Angst kann man gar nichts machen, genauso wenig wie gegen andere Gefühle. […] Wer versucht, gegen Angst etwas zu machen, der verdrängt bzw. steigert nur die Angst« (Dörner/Plog 1994, S. 41).

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make good neighbors« (Frost 1916) – wem an nachbarschaftlicher Koexistenz in Ruhe und Frieden liegt, tut beispielsweise gut daran, die eigene Parzelle zu markieren und den Kontakt in Grenzen zu halten. Ein Liebespaar wird den Raum der Intimität anders definieren als zwei Anwälte, die miteinander eine Kanzlei führen. In beiden Partnerschaften jedoch müssen Grenzen des Partners respektiert und eigene Grenzen kommuniziert werden. Es gilt zu formulieren, was man will und nicht will, wozu man bereit oder nicht bereit ist, was der oder die andere tun oder unterlassen soll. In der Begleitung von Kindern muss die Frage, welche Grenzen gesetzt und kommuniziert werden sollen, ständig neu diskutiert werden. Die Kunst der Abgrenzung ist im Zeitalter von Burn-outs und Erschöpfungsdepressionen zur Tugend des bewusst und achtsam mit sich selbst umgehenden Menschen geworden. Grenzenloses Engagement, unbegrenzte Verfügbarkeit, etwa im Namen karitativer Uneigennützigkeit, haben demgegenüber an Status und Ansehen eingebüßt und sind unter dem wachsamen Auge psychologischer Gesellschaftskritik suspekt geworden. Der Weg von der eigenen Grenzenlosigkeit zur Missachtung und schließlich zur Verletzung von Grenzen anderer kann in der Tat kurz sein. Grenzen werden überall, wo Menschen miteinander zu tun haben, missachtet, überschritten oder verletzt. Im täglichen Leben übertreten wir immer wieder kleinere oder größere Grenzmarkierungen – indem wir einander ins Wort fallen, einander auf die Füße treten, niederträchtig reden, zu früh oder zu spät eintreffen, Arbeiten nicht termingerecht erledigen, Vereinbarungen nicht einhalten oder den Rechtsvortritt missachten. Unser Zusammenleben ist nur aufgrund prinzipieller Toleranz gegenüber Grenzüberschreitungen möglich. Anders werden die Prinzipien im Rahmen fachlicher Auftragsverhältnisse verstanden, wo Grenzen nicht durch die Bündnispartner, sondern durch standardisierte Regeln festgelegt werden. Grenzen werden auch hier, ähnlich wie im täglichen Leben, regelmäßig missachtet; beispielsweise, wenn eine Fachperson der ratsuchenden Person ins Wort fällt, den Zeitrahmen nicht einhält oder die Sorgfaltspflicht verletzt, indem sie vertrauliche Informationen auf dem Arbeitstisch liegen lässt. Über diese Nachlässigkeiten und Unregelmäßigkeiten hi-

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naus ereignen sich im Rahmen fachlicher Auftragsverhältnisse jedoch verschiedene Formen von latenten und manifesten Grenzverletzungen, die nicht nur als Missachtung vereinbarter Regeln, sondern als Machtmissbrauch2 gelten. Als Machtmissbrauch kann dabei jede Beeinträchtigung von Selbstbestimmung und Unversehrtheit verstanden werden, ebenso jedes abschätzige, grobe oder fahrlässige Verhalten. Der Missbrauch ungleicher Machtverhältnisse kann auf verschiedene Arten auftreten: als finanzielle Ausbeutung, als Verletzung der Geheimhaltungspflicht, als Gewaltandrohung oder -ausübung und als emotionale oder sexuelle Grenzüberschreitung3. Grenzverletzungen in beruflichen Kontexten durch ausgewiesene Fachpersonen können aus vier Perspektiven verstanden werden (vgl. Fortune 1994, S. 181): Als Ȥ Missbrauch von Autorität und Macht, Ȥ Ausnutzung von Verwundbarkeit und Schwächen Anderer, Ȥ Suggestion von Gegenseitigkeit und Gleichberechtigung, Ȥ Missachtung der Berufsethik. Intensive Gefühle können in allen zwischenmenschlichen Beziehungen auftreten. Es ist nachvollziehbar, dass eine therapeutische oder seelsorgliche Begegnung eine vertrauensvolle Atmosphäre schafft, die durch die intensive Auseinandersetzung über Gefühle und persönliche Erlebnisse zusätzlich verstärkt wird. Gefühle, die möglicherweise signifikanten anderen Bezugspersonen gegenüber gelten, können auf die Fachperson projiziert werden (»Übertragungsgefühle«) – wie auch umgekehrt Fachpersonen aufgrund eigener Lebenserfahrungen emotional gegenüber Ratsuchenden reagieren kön2 Zur Sprachregelung: Missbrauch bezeichnet hier den unstatthaften, unethischen und selbstbezogenen Gebrauch von Macht, Vertrauen, Kompetenzen, Akkreditierungen etc. – und nicht den unrechtmäßigen »Gebrauch« von ratsuchenden Personen, der zumindest der Sprachlogik nach einen statthaften und ethisch vertretbaren Gebrauch dieser Menschen zu suggerieren scheint. Steht der vom Missbrauch betroffene Mensch im Fokus, verwende ich Begriffe wie »Grenzüberschreitung«, »Grenzverletzung« oder »Übergriff«. Zur begrifflichen Vielfalt und zu den Definitionen vgl. Haslbeck 2007, S. 13 ff. 3 Zu den Risikofaktoren sexueller Grenzüberschreitungen (Professional Sexual Misconduct = PSM) vgl. Tschan 2004, S. 65 ff. (besonders S. 96) und Tschan 2005.

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nen (»Gegenübertragungsgefühle«). Vertraulichkeit und Intensität begünstigen wiederum das Benennen von starken Gefühlen. Innerhalb eines fachlichen Auftragsverhältnisses wird vorausgesetzt, dass die Fachperson mit emotionalen Bedürfnissen professionell umgehen kann. Der Raum, innerhalb dessen sich die emotionale Stimmung möglicherweise verdichtet, ist jedoch oft isoliert. Ohne Vereinbarung oder Erlaubnis betreten keine weiteren Personen diesen Raum und die Gespräche werden höchstens ausnahmsweise supervidiert oder mit audio- oder videotechnischen Hilfsmitteln aufgenommen. Umso mehr sind Fachpersonen zur Reflexion des eigenen Handelns aufgefordert. Diese Kompetenz ist allerdings infrage gestellt, solange Fachpersonen für das Thema der Grenzverletzungen nicht sensibilisiert werden und die Tabuisierung des Grenzverletzungsrisikos nicht durchbrochen wird.

Macht und Verantwortung

Macht kann verführen und korrumpieren, Macht kann missbraucht und arrogant werden lassen (»Arroganz der Macht«). Wer über Macht verfügt, kann indes auch Kräfte entfalten (vgl. Spr 24,5) und machbare Ideen entwickeln, um Sicherheitsstandards einzubauen und Risiken einzugrenzen. So sehr der Umgang mit Fachleuten, die beispielsweise pädophil motiviert Grenzen verletzen, eigener forensischer und therapeutischer Maßnahmen bedarf, so deutlich liegt auch und gerade in diesen Fällen ein Missbrauch von Macht und Abhängigkeit vor. Und so sehr Männer oder Frauen mit einer persistierenden sexuellen Ansprechbarkeit auf kindliche Körperschemata die Entstehung dieser Neigung nicht beeinflussen konnten, so sehr können sie in der Regel lenken, wie sie damit umgehen. Eine Profession, die kein Bewusstsein von strukturellen Machtverhältnissen hat, ist realitätsfremd.4 4 Folgt man der Machttheorie von Max Weber, gibt es keine machtfreien Räume. Wo Menschen interagieren, ist immer Macht im Spiel. Wird sie tabuisiert, »entwickelt sich ein schattiger Nährboden, auf dem der Machtmissbrauch umso wilder wuchern kann« (Gmür 2020, S. 101).

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Selbst- und Berufsverständnis, persönliche Haltung und Wertung spielen eine wichtige Rolle bezüglich der Art, wie eine Fachperson mit Grenzen und Verantwortlichkeiten umgeht. Eine seelsorgliche Beziehung ist durch ein strukturelles Machtgefälle geprägt und nach Luepker/Schoener (1989, S. 66) durch zwei Eckpunkte charakterisiert: Die gesellschaftlich definierte Rolle und Aufgabe der Seelsorgerin ist die hochqualifizierte und Hilfe bietende Fachperson. Es wird vorausgesetzt, dass diese Fachperson emotional stabil und demzufolge in der Lage ist, eigene Bedürfnisse kontrollieren zu können. Die gesellschaftlich definierte Rolle der ratsuchenden Person ist oft die einer Person mit Schwierigkeiten, die sie nicht alleine bewältigen zu können meint, und die demzufolge Hilfe sucht, um ihre Situation zu verändern. Diese Person ist bereit, große Nähe zuzulassen. Da die Fachperson bezüglich ihrer Rolle als integer und verlässlich gilt, wird ihr Vertrauen geschenkt, intimes Wissen und damit Macht anvertraut. Einen Aspekt, der in der Fachliteratur kaum Erwähnung findet, beschreibt Irvin D. Yalom in seinem Roman »Die rote Couch« (1998): Der wegen sexuellem Missbrauch angeklagte und vor die Ethikkommission zitierte etablierte Psychiater Seymour Trotter schildert ausführlich, wie er das Schmelzen des Widerstandes seiner Patientin und damit die »therapeutische Allianz« vorantrieb, um überhaupt handlungsfähig zu werden. Zum Aufbau einer tragfähigen und vertrauensvollen Beziehung im seelsorglichen oder therapeutischen Setting gehört der Abbau des anfänglichen Widerstandes, der emotionalen Blockaden und Hemmungen. Nachdem der Widerstand von Trotter’s Patientin gebrochen bzw. geschmolzen war – so Yalom in Trotters Schilderung – sprudelte das »wichtige Material« nur so aus ihr heraus. »Sie begann für die nächste Sitzung zu leben. Die Therapie wurde zum Mittelpunkt ihres Lebens. Wieder und wieder sagte sie mir, wie wichtig ich für sie sei« (Yalom 1998, S. 19). Ratsuchende entwickeln und empfinden häufig eine außerordentliche Nähe zur Fachperson.5 Sie öffnen sich und machen sich aufgrund des gewagten Vertrauens noch verletzlicher. Sie möchten wertgeschätzt werden 5 Zu den offenen oder verborgenen Beziehungsangeboten durch Ratsuchende vgl. Sachse 2004, S. 134 ff.

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und in den Augen der Fachleute gute und liebenswerte Menschen sein. Und sie möchten sich vorbehaltlos und in jeder Beziehung auf die Fachperson verlassen können.6 Auch wenn Persönlichkeitsdefizite auf Seiten der Fachperson deren Verhalten miterklären mögen,7 sind diese Verhaltensweisen stets im Zusammenhang mit den jeweiligen Begleitumständen und den Interaktionen der beteiligten Personen zu verstehen. Dies darf jedoch nicht als Schuldentlastung der grenzüberschreitenden Fachperson oder gar als Schuldzuweisung an Ratsuchende verstanden werden, sondern soll einzig auf die Interaktionsdynamik hinweisen. Die Verantwortung für Grenzüberschreitungen im Rahmen fachlicher Beziehungen – wie für die Wahrung der fachlichen Grenzen generell – liegt in jedem Fall und ausschließlich bei der Fachperson. Weder persönliche Sympathien noch Antipathien, weder an die Fachperson gerichtete Komplimente noch Beleidigungen dürfen letztlich Anlass sein, unprofessionell zu reagieren und distanzlos zu werden. Fachpersonen müssen darum wissen – und sollten darauf vorbereitet sein –, dass sie von der ratsuchenden Person sowohl durch kokettierendes, verführerisches als auch durch provozierendes, herausforderndes Verhalten in eine Koalition gelockt werden können.

Bindung und Vertrauen

Ein vertieftes Verständnis von Grenzverletzungen innerhalb professioneller Kontexte kann nicht ohne Einsicht in die Grundlagen der Bindungstheorie gewonnen werden, wie sie v. a. Bowlby und Ainsworth entwickelt haben. Eine zentrale Aussage von Bowlbys Bindungstheorie ist, dass alle Menschen Sicherheit und Halt bei vertrauenswürdigen Menschen suchen (vgl. Bowlby 2010, S. 112 ff.). 6 Vgl. Wagner (2019), die v. a. den Missbrauch der psychischen Widerstandsfähigkeit und der emotionalen Bedürftigkeit herausarbeitet und diesem die Notwendigkeit spiritueller Selbstbestimmung gegenüberstellt. 7 Priester, die Grenzüberschreitungen gegenüber Minderjährigen begangen haben, zeigen oft eine passive, abhängige, zwanghafte und angepasste (narzisstische) Persönlichkeitsstruktur (vgl. Rossetti 1996, S. 75 f.).

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Dieses Bindungsbedürfnis wird in Notsituationen besonders aktiviert. Therapeutische, beratende und seelsorgliche Kontakte entstehen, wenn sich ein Mensch einer Fachperson anvertraut und in einer Notsituation eine vorübergehende, behelfsmäßige Bindung sucht. Er begibt sich damit in eine außerordentliche Situation, um Rat, Hilfe, Trost oder Unterstützung zu erhalten – in der Annahme, innerhalb des professionellen Kontextes »sicher« zu sein. Er vertraut beispielsweise darauf, keine unausgesprochenen eigennützigen Motive des Gegenübers befürchten zu müssen, welche den Rat, die Hilfeleistung oder den Trost beeinflussen könnten. Im geschützten Rahmen des Beratungssettings kann dieses Vertrauen zu einer starken Bindung an die Fachperson und zu einer subjektiv empfundenen Einschränkung der selbständigen Entscheidungsfähigkeit führen – weniger im Sinne eines persönlichen Defizits, sondern situativ bedingt (vgl. Simon 2008, S. 174). In »Die Narben der Gewalt« zeigt Judith Herman (2003) auf, dass Menschen, die Übergriffe erlitten haben, den Verlust des Vertrauens in die eigene Wirksamkeit und die Schwächung dieser Selbstwirksamkeit – also oft das, was sie in einen seelsorglichen oder therapeutischen Kontakt führte – als besonders tragisch erleben. Sind die grenzverletzenden Fachpersonen kirchliche Vertreter gewesen, wird häufig ein Verlust des Glaubens und die Entfremdung von der religiösen Gemeinschaft benannt (vgl. Disch/Avery 2001, S. 204). Frank Urbaniok beschreibt die Opferdynamik präzise: »Opfer weisen eine spezielle, prägende Erfahrung mit eigenen Grenzen auf. Sie erlebten die Missachtung, die Verletzung ihrer eigenen Grenzen. Viele konnten daher keine stabile Vorstellung über eigene, intakte Grenzen entwickeln. Eine ›kleine Grenzverletzung‹, die ein traumatisch nicht vorbelasteter Mensch problemlos abprallen lässt, kann bei Opfern erschütternde Wirkungen hinterlassen.« (Urbaniok 2000, S. 292) Die Vulnerabilität ist bei Menschen, die Grenzverletzungen in professionellen Kontexten erlitten haben, ungleich größer. Grenzver-

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letzende Fachpersonen tun zudem oft viel dafür, um die Konsequenzen ihres Handelns nicht tragen zu müssen. Sie verfügen häufig über erhebliche Macht, zu manipulieren und sich einer Überprüfung zu widersetzen8. Die Dynamik von Grenzverletzungen gleicht einer abwärts gerichteten Spirale, bei der sich Traumatisierung und Tabuisierung gegenseitig verstärken. Für einen der prominentesten Fälle, der diese Dynamik widerspiegelt, stehen die Namen von Sabina Spielrein und Carl Gustav Jung. Die Beziehung des Psychoanalytikers zu seiner ersten Patientin in der Psychiatrischen Klinik Burghölzli in Zürich ist seit den 1977 in Genf aufgetauchten Briefen und Tagebuchaufzeichnungen von Spielrein ins Blickfeld des wissenschaftlichen und feuilletonistischen Interesses gerückt9. Die bereits mehrfach traumatisierte junge Russin wurde von Jung fallengelassen, als seine Ehe auf dem Spiel stand. Die Verleugnung der Liebesbeziehung und die Tabuisierung der Grenzverletzung im Umfeld von Jung trieben die Medizinstudentin an den Rand des Wahnsinns. Spielreins Versuch, Jung als Liebhaber (und als Erzeuger des erträumten gemeinsamen Kindes) zurückzugewinnen, trieben diesen wiederum zum totalen Rückzug. Literarische Bearbeitungen von Grenzverletzungen stellen eine Möglichkeit dar, das Thema zu enttabuisieren und zu entmythologisieren10. Lesende erhalten beispielsweise in Yaloms bereits   8 Faszinierend und beklemmend zugleich sind Rechtfertigungsreigen und Harmoniesucht der Familie Friedman in Jarecki Andrew’s Film »Capturing the Friedmans« (2003), der eine Missbrauchsgeschichte dokumentiert. Adolf Muschg hat in »Der Zusenn oder das Heimat«, einer seiner frühen »Liebesgeschichten«, die Selbstrechtfertigungsversuche und Manipulationsstrategien des seine beiden Töchter missbrauchenden Schattenhaldenbauers scharfsichtig beschrieben: Muschg 1972, S. 23–46.   9 Eine auf aktuellen wissenschaftlichen Ergebnissen basierende Einführung bieten Karger/Weismüller 2006. Eine gut recherchierte Biografie liegt von Sabine Richebächer (2005) vor. Auch der Roman von Karsten Alnaes (2007) vermittelt Spielreins Schicksal. 10 Vgl. auch Eveline Haslers Roman »Stein bedeutet Liebe« (2007), der die leidenschaftliche Begegnung der Schriftstellerin Regina Ullmann mit dem die »sexuelle Immoralität« vertretenden Psychiater Otto Gross zur Zeit der erotischen Revolution in München Anfang des 20. Jahrhunderts thematisiert.

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erwähnten Roman »Die rote Couch« Einblicke in die Motive und Dynamiken grenzüberschreitender Psychotherapeuten. Ernest Lash, ein junger, ambitionierter Psychoanalytiker in San Francisco, beginnt  – angestachelt durch die Auseinandersetzung mit dem 70-jährigen Berufskollegen Seymour Trotter, der seinerseits eine sexuelle Beziehung mit einer Patientin angefangen hatte und daraufhin die Approbation verlor – entgegen jeglicher Standesethik, mit Distanzlosigkeit zu experimentieren. Lashs Selbstüberschätzung als Therapeut und mangelndes Selbstbewusstsein als Mann tragen dazu bei, dass er ungewollt Trotters Spuren folgt und in einen undurchsichtigen Komplott hineingerät. Die Literatur zur Beziehung zwischen Jung und Spielrein wie auch der Roman des Psychiaters Yalom verweisen je auf die Komplexität von Grenzverletzungen – und darauf, dass deren Ursachen und deren Auswirkungen nicht isoliert betrachtet werden können. Die erfahrene Unterstützung ist Voraussetzung für die Wiedererlangung von Autonomie, so paradox das erscheinen mag. Wenn sich Menschen in einer Krise, in einer Phase oder in einem Zustand der Verunsicherung befinden, dann testen und hinterfragen sie auf der Suche nach dem basic trust laufend die Verlässlichkeit und Beständigkeit der Fachperson. Fachpersonen können eine sichere Basis anbieten und sich – analog zu einer sensiblen Mutter- oder Vaterfigur – zuverlässig, aufmerksam und unterstützend verhalten. Die Zwei-Personen-Situation eines seelsorglichen Kontaktes kann in Analogie zur Mutter-Kind-Dyade als ein System gesehen werden, in dem beide beteiligten Personen in einer bestimmten Wechselwirkung aufeinander reagieren und sich gegenseitig beeinflussen. Jede Bindungssituation kann damit als ein gemeinsam gestalteter Prozess betrachtet werden. Die erste und wichtigste Voraussetzung für eine hilfreiche Beziehung besteht laut Bowlby darin, dass die Fachperson als »verlässliche Basis« (secure base) dient (vgl. Bowlby 2010, S. 9 f.; 99; 113 f.). Dieses Konzept orientiert sich an Ainsworth’s Beschreibung des Bindungsverhaltens von Kleinkindern gegenüber ihren Müttern. Kleine Kinder explorieren ihre Umgebung zunehmend mutiger und unabhängiger unter der Bedingung, dass sie sich der beständigen

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Anwesenheit und Aufmerksamkeit ihrer Mutter sicher sein können. Ähnlich versteht Bowlby die fachliche Basis, auf deren Grund die Unterstützung suchende Person sich zunehmend auf ungesichertes Terrain hinauswagt.

Ethische Implikationen

Sexuelle Grenzverletzungen legen die Vermutung nahe, dass hinter dem bewussten Handeln mehr oder weniger unbewusste und unterschiedliche hedonistische Konzepte liegen. Die hedonistische Theorie zeichnet sich durch einen akzentuiert individualethischen Ansatz aus und stützt sich auf die Grundthese, dass innerhalb eines erfüllten Lebens Unlust und Schmerz weitgehend zu vermeiden sind. Allerdings finden sich unter den hedonistischen Schulen signifikante Unterschiede in der Beurteilung dessen, was Unlust vermeidet und was Lust fördert (vgl. Höffe 2007, S. 104 ff.). Drei Positionen können unterschieden werden: der radikale Hedonismus, der Epikureismus (ethischer Hedonismus der Antike) und der Utilitarismus (ethischer Hedonismus der Neuzeit). Der radikale Hedonismus erhebt den Genuss zum Lebensprinzip.11 Die Fixierung auf die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse führt zur Missachtung der Bedürfnisse und der Integrität des Mitmenschen. Das Vermeiden und Kompensieren der eigenen Unlust als Mangelzustand ist innerhalb eines wirkungsmechanischen, kausalen Modells verortet: Die Ursache der Lust als positive Form von Selbstwahrnehmung ist ein bestimmter Reiz. Dieser Reiz hat in seiner spezifischen Eigenart und Qualität wenig Bedeutung, sondern ist hauptsächlich von funktionalem Belang – eben zur Lusterzeugung bzw. zur Unlustbehebung. Lust ist demnach eine »kausal induzierte sinnliche Empfindung« (Fenner 2007, S. 36). Innerhalb der Theorie des radikalen Hedonismus werden zwar primäre und sekundäre, 11 Fenner (2007, S. 32 ff.) spricht vom »psychologischen« Hedonismus und referiert darunter hauptsächlich die Triebtheorie Freuds. Damit wird sie m. E. weder dem psychoanalytischen Ansatz von Freud noch dem wesentlich älteren Phänomen des radikalen Hedonismus gerecht.

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höhere und niedrige Bedürfnisse und Lüste unterschieden, die radikal-hedonistische Lust instrumentalisiert jedoch die Objekte, indem sie deren Reize zur Steigerung des eigenen Wohlbefindens nutzt. Die Bewertung des kurzfristigen Lustgewinns kann dabei leicht in Widerspruch zum langfristigen Wohlbefinden treten. Auch der Epikureismus, der ethische Hedonismus der Antike, zielt auf möglichst großen Lustgewinn ab. Epikur hatte jedoch weniger die akzidentielle Lust und die rasche Bedürfnisbefriedigung vor Augen, sondern vielmehr ein Leben ohne anhaltende Schmerzen, ohne Ängste und ohne innere Unruhe: »Wenn wir also sagen, die Lust sei das Lebensziel, so meinen wir nicht die Lüste der Verschwender und solche Lüste, die auf Genießen beruhen, (…), sondern wir verstehen unter Lust, weder Schmerzen im Körper noch Unruhe in der Seele zu empfinden.« (Epikur an Menoikeus, zit. nach Fenner 2007, S. 40). Die Fixierung des Epikureers kann so verstanden werden, dass zur Aufhebung des unlustvollen Lebens die Sehnsüchte gestillt werden wollen – und dazu wiederum die Grundbedürfnisse befriedigt werden müssen. Im Vergleich zum radikalen Hedonismus sind hier die intentional strukturierten Gefühle und die induzierte Lust aufeinander bezogen und stehen in einem wechselseitigen Verhältnis. Doch auch der Epikureismus bleibt in Innerlichkeit und Selbstbezogenheit gefangen. Der Solipsismus des gegenwärtigen Augenblicks ist bei Epikur zwar überwunden, aber die Kriterien ethisch-menschlichen Handelns bleiben auch hier einseitig und ausschließlich an die Gefühle des eigenen oder persönlichen Wohlbefindens gebunden. Der Utilitarismus gilt als der ethische Hedonismus der Neuzeit. Dessen Ökonomisierung des Glücks basiert auf der Maxime, dass dasjenige Handeln gut ist, das mir und der Gemeinschaft nützt, und schlecht ist, was mir und der Gemeinschaft schadet. Der Nutzen oder Schaden wird infolgedessen als Lust oder als Unlust definiert. Der Utilitarismus denkt ebenfalls vom eigenen Wohlbefinden bzw. Nutzen aus, schlägt aber eine Brücke zum Gesamtnutzen eines Systems: Der Wert des Handelns oder Verhaltens des Einzelnen misst sich an der Lustbilanz aller Beteiligten. Damit kommt ein sozialethisches Moment zum Tragen, das allerdings dem Fehlschluss unterliegt, dass die Summe des Glücks Einzelner das maximale Gesamtwohl

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erwirken könnte12. Die hedonistischen Modelle bieten Erklärungsmöglichkeiten für das Überschreiten von Grenzen in beruflichen Kontexten durch ausgewiesene Fachpersonen an: Geblendet durch Selbstbezogenheit verstellen eigene Bedürfnisse und eigenes Wohlbefinden den Blick für die Not und die Bedürfnisse des Gegenübers. Die Überzeugung, wichtige berufsethische Richtlinien und Grenzen einhalten zu wollen, gerät aus dem Fokus. Dietrich Bonhoeffer hat in seiner in Fragmenten überlieferten Ethik die Freiheit der »Leiblichkeit« des Menschen zum Prüfstein christlicher Ethik erhoben: »Zur Erhaltung des leiblichen Lebens gehört der Schutz vor willkürlicher Antastung der Freiheit des Leibes. Niemals wird der menschliche Leib einfach zu einem Ding, das in die uneingeschränkte Gewalt eines anderen Menschen geraten und von ihm ausschließlich als Mittel zum Zweck gebraucht werden darf. Der menschliche Leib ist immer der Mensch selbst« (Bonhoeffer 1981, S. 195). Auch wenn sich Bonhoeffers Leibverständnis weitgehend auf das Natürliche reduziert und im Rahmen von gesetzten Ordnun­ gen (Schöpfungsordnung, Erhaltungsordnung, Eheordnung) verhandelt wird, ist in diesen ethischen Fragmenten doch vieles vorweggenommen, was heute als Grundaxiom gilt: Menschliche Wahrnehmung ist sinnliche Wahrnehmung und wird leiblich vermittelt; menschliche Kommunikation ist somatische Kommunikation. Der Mensch hat einen Körper und ist zugleich Körper. Es gibt sowohl die Erfahrung der Distanz zum Körper als auch die Erfahrung, dass wir nur die sind, die wir im Körper sind. Die Ethik Bonhoeffers eignet sich als Kontrast zu den hedonistischen Gesinnungen, weil sie sowohl das Recht auf Freude und Lust wie auch die Pflicht zu respekt- und verantwortungsvoller Leiblich­ 12 Fenner illustriert den Fehlschluss am Beispiel eines Mannes, den man gegen seinen Willen als Organspender missbraucht, um mit dessen Organen fünf Patienten am Leben zu erhalten (vgl. Fenner 2007, S. 45).

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keit enthält und theologisch begründet. Während der Hedonismus Leiblichkeit als Mittel zum Zweck und als Mittel zur Luststeigerung, die Lust aber als Selbstzweck begreift, setzt eine theologisch und anthropologisch verantwortete Ethik die Prämissen gerade entgegengesetzt: Die Lust ist Mittel zum Zweck, nämlich Mittel zu einem freudvollen Menschsein und zu verantwortungsbewusster Freude. Der Leib hingegen hat und ist Selbstzweck. Der Leib ist das Medium, durch das wir Mitmenschen und Mitwelt begegnen. Der Leib lässt sich in diesem Sinne begrifflich als »Realsymbol« (Rahner 2003, S. 22) des Menschen deuten. Das Realsymbol ist kein Zeichen, das auf eine getrennt von ihm bestehende und auch unabhängig von ihm zugängliche Wirklichkeit hinweist, sondern darauf, dass nur in diesem Zeichen erfahrbare Wirklichkeit präsent und zugänglich ist.

Rechtslage

Im Vergleich zum Mittelalter, als Recht nur als Niederschlag der geltenden gesellschaftlichen Normen verstanden wurde, wissen wir heute, dass Recht Bewusstsein schafft, Verhaltensänderungen bewirkt und somit instrumentelle Kraft besitzt.13 Die Aufklärung hat zwar den kirchlich-staatlichen Moralkodex und dessen Ordnungs- und Rechtsverständnis modifiziert, war jedoch ebenfalls der damaligen Zeit verhaftet und hat diverse Rechte, die uns heute selbstverständlich erscheinen, nicht erkannt bzw. erkennen können (z. B. Eherecht, Kindsrecht, Opferrecht). Grenzverletzungen wurden zwar schon immer begangen, sie werden allerdings erst im gesellschaftlichen Diskurs als Probleme, als Unrecht oder als Missbrauch erkannt und als solche benannt. Solange kein Diskurs stattfindet, bestimmen die Machthabenden, was Recht und Unrecht ist  – die Verletzten sind nicht nur ohnmächtig, sondern eben auch rechtlos. Die Tatsache, dass Gewaltakte in der Ehe heute Offizialdelikte und als solche strafrechtlich 13 »Recht vermag im öffentlichen Diskurs wie ein Kommunikationsmedium zu wirken, das ein soziales Problem definiert und ein Bewusstsein hierüber schafft.« (Bussmann 2004, S. 15)

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relevant geworden sind, kann als Zeichen eines Fortschritts verstanden werden, welches gleichzeitig auf die ungenügend entwickelte (schweizerische) Gesetzgebung bezüglich Grenzverletzungen in beruflichen Kontexten hinweist. Die Schweiz kennt weder eine explizite Patientenschutz-Gesetzgebung noch gibt es strafgesetzliche Bestimmungen, die beispielsweise sexuelle Kontakte im Rahmen ambulanter ärztlicher Behandlungen verbieten. Strafbar ist in der Schweiz nur, wer die Abhängigkeit nach StGB Art. 192 f. ausnutzt.14 Sensibilisierung ist ein Prozess, der aus heutiger Sicht von Gesetzgebung und der Schaffung von Rechtsgrundlagen begleitet sein muss. Denn das Recht formt nicht nur eine Rechts-, sondern zugleich eine soziale Kultur. Hinsichtlich der Einhaltung von Grenzen könnte man hierbei von einer Verantwortlichkeitskultur reden: Die Fachperson übernimmt Verantwortung, z. B. für den seelsorglichen Prozess und für die fachliche Beziehung. Da es sich bei Grenzverletzungen in professionellen Beziehungen nicht um Offizial-, sondern um Antragsdelikte handelt, fordert das Strafrecht eine hohe Beweisintensität, die häufig nicht erbracht werden kann und den ausgenutzten Personen eine zum Teil unerfüllbare Beweislast auferlegt. Gegenstand von gerichtlichen Verfahren ist darum häufig die umstrittene Frage, ob zwischen Fachperson und ratsuchenden Personen ein Abhängigkeitsverhältnis bestand. Die Verneinung dessen führt immer wieder zu teilweise überraschenden Freisprüchen. Umso mehr Bedeutung kommt den Standesordnungen von Berufsverbänden, Instituten und Kirchen zu. Standesordnungen haben zwar keine direkte Rechtsverbindlichkeit, im Einzelfall kann jedoch auf sie zurückgegriffen werden. Jede Berufsdisziplin hat bestimmte Regeln, berufsethische Grundsätze und Konventionen, die sich auf die bestehenden Straf- und Zivilrechtsbestimmungen stützen, häufig aber über diese hinausgehen und dem jeweiligen beruflichen Kontext angepasst sind. Berufsethische Standards, Richtlinien und Leitfäden sind notwendig und stellen einen ers14 StGB Art. 193, Abs. 1: »Wer eine Person veranlasst, eine sexuelle Handlung vorzunehmen oder zu dulden, indem er eine Notlage oder eine durch ein Arbeitsverhältnis oder eine in anderer Weise begründete Abhängigkeit ausnützt, wird mit Gefängnis bestraft.«

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ten wichtigen Schritt zu einer effizienteren Präventionsstrategie dar. Sie haben abschreckende und aufweckende Wirkung, können jedoch Fachpersonen nicht davon entbinden, eigene Erfahrungsfelder zu erschließen und eigene Erkenntnisse zu integrieren. Ethische Prinzipien können in seelsorglichen Aus- und Weiterbildungen nicht abstrakt und nicht ohne Praxisreferenz abgehandelt werden. Es reicht nicht und ist wenig hilfreich, Fachleute bloß darüber zu informieren, dass sie die berufsethischen Richtlinien einhalten sollen. Ein Ethik-Kodex kann weder die Moral noch die notwendigen Präventionsstrategien ersetzen. Aus- und Weiterbildungen müssen deshalb über die Auflistung von Regeln und ethischen Standards hinausgehen.

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Missbrauch von Macht und Empathie99

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Grenzgänge und Fehltritte

3.2 Verletzlichkeit und Selbstsorge Die Intimsphäre einer Beziehung ist derjenige Ort, wo Identität und Individualität wie kaum anderswo entwickelt und gepflegt werden können. Gleichzeitig ist diese Sphäre der Gefahr von kleineren und größeren Respektlosigkeiten ausgesetzt. Identität entwickelt sich in einem Prozess der Auseinandersetzung zwischen dem eigenen Selbstkonzept und der gesellschaftlichen Rollenzuschreibung. Im Prozess der Identitätsbildung spielen Körperlichkeit und Sexualität eine wesentliche Rolle, da der Mensch eine leibliche Identität besitzt und diese sexuell geprägt ist15. Identität und Selbstwert bilden sich u. a. durch die Erfahrung, vom Mitmenschen auch sexuell respektiert, geschätzt und geliebt zu werden sowie durch die Erfahrung, respektieren, schätzen und lieben zu können. Umgekehrt können fehlende und ausbeuterische Erfahrungen die Identitätsbildung verletzen und erschweren.

Fallbeispiel (1)

Herr P., ein intelligenter, kultivierter und einfühlsamer Seelsorger, war an seinen Wirkungsstätten stets beliebt: Er verstand es, die Leute in sei­ ner feinsinnigen Art abzuholen und bei ihren Fragen und Nöten kom­ petent zu begleiten. Trotz dieser erfüllenden beruflichen Aufgabe fühlte sich Herr P. zuinnerst häufig unterversorgt und leer. Seine Ehefrau – Kinder hatte das Paar keine – habe immer zu ihm gehalten, auch wenn er seine saisonalen Motivationskrisen – er sprach von »depressiven Ver­ stimmungen« – auskuriert habe. In einer dieser Krisen habe er sich in eine Frau aus seiner damaligen Kirchgemeinde verliebt. Aus dem seel­ 15 Müller spricht im Zusammenhang mit dem Zölibat von »psychosexuellen Entwicklungsstörungen« und plädiert dafür, dass der Mensch sich nicht nur körperlich, psychisch und emotional, intellektuell und spirituell, sondern eben auch sexuell entwickelt bzw. entwickeln muss, wenn es nicht zu Störungen kommen soll. Entwicklung von Intimität und Sexualität bedingt jedoch Explorations- und Integrationsbemühungen: »Wer seine Sexualität nicht zulässt, lässt sich nicht zu.« (Müller 2010, S. 58).

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sorglichen Kontakt sei eine Affäre entstanden. Die etwas jüngere Frau habe ihn zusehends spüren und wissen lassen, dass sie sich bei ihm sehr wohl, geborgen und verstanden fühle, dass sie auch zwischen den seel­ sorglichen Terminen oft an ihn denke und sich auf diese Termine immer extrem freue. Er wiederum habe ihr das »du« angeboten, der Ton sei vertraulicher geworden. Die Gespräche drehten sich nun auch öfters um persönliche Angelegenheiten von Herrn P. und um gemeinsame Bedürfnisse. Aus dem Handschlag zur Verabschiedung wurde eine Umarmung, zunächst noch flüchtig, später gaben sich beide innigs­ ten Zärtlichkeiten hin. Im Verlauf des weiteren Kontakts wurden die Treffen zu Hausbesuchen und auf Abendtermine gelegt, zum Teil ver­ bunden mit gemeinsamen Nachtessen. Schließlich kam es zu sexuellen Kontakten. Er habe es unheimlich genossen, so begehrt und bewundert zu werden. Gleichzeitig hätten ihn die Skrupel seiner Frau und der Gemeinde gegenüber in einen so großen Zwiespalt gebracht, dass er krank geworden sei. Seiner Geliebten sei dies nicht verborgen geblieben. Sie habe sich bald darauf mit der Begründung zurückgezogen, sie wolle nicht zur Mätresse werden und den Rest ihres Lebens auf ihn warten. Er sei ihr damals für diese Entscheidung dankbar gewesen, die sie ihm abgenommen habe, obwohl er gleichzeitig schrecklich gelitten habe. Herrn P. gelang es nach Überwindung der (schambesetzten) Vermeidungs- und Verleugnungsstrategien, seine Motive und seine Beweggründe zu reflektieren. Er konnte eingestehen, dass er seit seiner Kindheit mit einem eher geringen Selbstwertgefühl ausgestattet war. Schon früh habe er entdeckt, dass er nur über außerordentliche Leistungen die gewünschte Aufmerksamkeit und gesellschaftliche Anerkennung (recognition performance) erziele. Noch heute tue er sich schwer damit, sich selbst Halt zu geben, er flüchte häufig in die Arbeit oder eben – wie damals – in die Arme einer Frau. Herr P. versuchte so, das Gefühl der inneren Leere zu vermeiden und seine depressiven Verstimmungen zu umgehen. Gegenüber seiner Ehefrau fühlte er sich oft überfordert, Bedürfnisse angemessen zu thematisieren. Und wenn doch, verhaspelte er sich in Widersprüchen und Halbwahrheiten. Aus ethischer Perspektive ist die Differenzierung zwischen Grenzüberschreitungen ohne sexuelle Übergriffe, Grenzüberschreitungen

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mit sexuellen Übergriffen sowie sexueller Ausbeutung und Gewalt relevant. Die Fachperson, die mit einer ratsuchenden Person eine Liebesbeziehung eingeht, sich gleichzeitig aber von jeglichen sexuellen Aktivitäten fernhält, missbraucht ihre Macht, ihre Rolle, die fachliche Beziehung und die nicht-sexuellen Bedürfnisse der ratsuchenden Person. Die Fachperson, die sich auf eine sexuelle Liebesbeziehung einlässt, missbraucht überdies die sexuellen Bedürfnisse der ihr fachlich anvertrauten Person.16

Fallbeispiel (2)

Frau und Herr S. teilen sich in einer ländlichen Gemeinde ein Pfarramt und die Familienarbeit. Beruflich sind sie nach einigen Startschwierig­ keiten gut organisiert. Im Privatleben hingegen beklagen beide seit längerem große Schwierigkeiten. Darunter leidet offensichtlich vor allem Frau S.: Unter Tränen teilt sie ihrem »Gefährten« mit, dass sie sich in einen anderen Mann verliebt habe, den sie seit einem halben Jahr seelsorglich begleite, und der ihr die Wertschätzung als Mensch gebe, die sie bei ihm vergeblich suche. Es sei zwar zu keinerlei sexuel­ len Kontakten gekommen, aber sie habe ihn (ihren Ehemann) inso­ fern »betrogen« und »hintergangen«, als sie ihm diesen Kontakt und ihre Gefühle verheimlicht habe. Sie sei nicht, wie kommuniziert, mit einer Freundin, sondern eben mit diesem anderen ausgegangen. Je ein Kino- und ein Theaterbesuch, zwei oder drei auswärtige Mahlzeiten hätten stattgefunden, mehr nicht. Frau S. versucht, die Angelegen­ heit zu relativieren, ist sich jedoch kaum bewusst, dass sie Grenzen ihrer seelsorglichen Professionalität überschritten hat. Trotzdem sind starke Schuldgefühle vorhanden. Sie beschließt, den Kontakt zu die­ sem Mann abzubrechen.

16 Die Fachperson, die im Rahmen von Beratung oder Therapie sexuelle Aktivitäten als therapeutische Methode ausgibt und anwendet (im oder gegen das Einverständnis der ratsuchenden Person), missbraucht – nebst Macht, Rolle und fachlicher Beziehung – auch die sexuelle Integrität der ihm anvertrauten Person.

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Das zweite Fallbeispiel mag insofern exemplarisch sein, als es auf den Umstand hinweist, dass Grenzen überschreitende weibliche Fachpersonen oft zurückhaltender sind, was sexuelle Handlungen betrifft. Hinter den Grenzüberschreitungen stehen jedoch dieselben Strategien, kognitiven Verzerrungen, Legitimationen und Bagatellisierungen. Emotionale Bedürftigkeit und der Wunsch nach persönlicher Anerkennung können Triebfedern sein, die Fachpersonen ihren eigenen Prinzipien und ihren Klienten gegenüber schwach bzw. übergriffig werden lassen. Frau S. hat ihr Bedürfnis nach Anerkennung und Zärtlichkeit innerhalb ihrer Partnerschaft als unerfüllt erlebt. Die stille, unreflektierte Überzeugung, durch ihren seelsorglichen Kontakt dieses Bedürfnis kompensieren zu können, machten sie vorübergehend blind für die Grenze zwischen privatem und professionellem Handeln. Diesen utilitaristischen Fehlschluss hat Lukas Hartmann in seinem Roman »Finsteres Glück« (2010; 2016 verfilmt) auf eindrückliche und zugleich beklemmende Weise beschrieben: Die Psychologin und Psychotherapeutin Eliane Hess verliert ihre professionelle Distanz zum achtjährigen Yves, der als einziges Familienmitglied einen Autounfall überlebt hat. Je mehr die Therapeutin mit dem Jungen und seiner Geschichte vertraut wird, desto schwerer fällt es ihr, die professionelle Distanz dem Patienten und die »Contenance« ihren eigenen Bezugspersonen gegenüber zu wahren. Entgegen besserem (Fach-)Wissen versucht sie, den Jungen vor der Trauer zu beschützen, die ihn aufzufressen droht, möchte ihn aus der Erstarrung lösen und vor den bevorstehenden Zerreißproben bewahren. Als zwischen den Verwandten ein erbittertes Tauziehen um den Jungen entbrennt, sieht sie nur noch einen Ausweg: Sie gibt dem Jungen ein neues Zuhause, nämlich ihre eigenes, in dem er nicht vor die Wahl gestellt wird, sich für den einen oder anderen Ort entscheiden zu müssen. Diese unorthodoxe Entscheidung hat unerwartete Konsequenzen im Privatleben der Therapeutin. Alte Wunden und alte Muster brechen auf. Als Yves definitiv der Schwester seiner verstorbenen Mutter zugesprochen wird, verliert Eliane Hess den Boden unter den Füßen. Sie kämpft weiterhin um Yves und weiß insgeheim doch, dass dies nicht korrekt ist. Hartmann konstruiert die Figur der Fachperson und deren Beziehung zum traumatisierten Jungen vielschichtig. Die Frage der

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therapeutischen Verantwortlichkeit wird nicht eindeutig beantwortet und ist wohl auch nicht eindeutig zu beantworten. Der Roman legt jedoch die Vermutung nahe, »dass Yves […] für Eliane auch ein erotisches Objekt und ein asexueller Ersatz für einen fehlenden männlichen Partner ist« (Tobler 2010). Die Fürsorglichkeit Elianes gegenüber dem durch einen außerordentlichen Schicksalsschlag zum Waisenkind gewordenen Yves lassen die unkonventionelle Vorgehensweise zwar verstehen. Die ungestillten Bedürfnisse der Therapeutin nach einem Partner, ihre Überforderung angesichts zweier pubertierender Töchter sowie ihr verletzter Stolz infolge widerfahrener Ablehnung durch eine Berufskollegin begünstigen jedoch das Risiko, fachliche Grenzen und Kompetenzen zu überschreiten.

Risikofaktoren

Auch wenn kein allgemeingültiges Profil von grenzverletzenden Fachpersonen erstellt werden kann, sind bei Grenzüberschreitungen immer wieder ähnliche Dispositionen auszumachen: Unbewältigte Trauer- oder Verlusterlebnisse, erhöhte Vulnerabilität aufgrund selbst erlittener Übergriffe, emotionale Bedürftigkeit nach Trennungen und Scheidungen sowie Unter- oder Überforderung im beruflichen Bereich sind häufig Hintergründe, die bei grenzüberschreitenden Fachpersonen festgestellt werden. Gegenüber einer fantasierten ist bei der begangenen Grenzverletzung oft eine Verknüpfung von persönlichen und situativen Faktoren im Spiel. Engagierte und hoch motivierte seelsorglich Tätige sind selbst verletzlich und nicht selten durch eigene Verletzungen sensibilisiert worden. Private Krisen oder berufliche Belastungen werden unter Druck zum Risiko (vgl. Morgenthaler 2009, S. 367 f.). Andere laufen Gefahr, die eigenen Bedürfnisse zu übergehen und so die Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Wieder andere geraten durch das Fehlen strukturierender Konzepte oder durch ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen in eine Empathiefalle. Sie können sich von der emotionalen Flut, die ihnen beispielsweise in Trauersituationen entgegenkommt, nicht angemessen abgrenzen. Fachpersonen sind den

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Risiken von übermäßiger Identifikation, mangelhafter Abgrenzung und klassischen Burn-outs besonders ausgesetzt. Sowohl Überdruss wie auch Übermut können Gründe sein, die die Fachperson in ihrer Abgrenzungsfähigkeit und Disziplin schwächen. Die Entscheidung, private Interessen neben oder über die professionellen zu stellen, fällt in der Regel vor dem Hintergrund einer beruflichen Über- oder Demotivation. Private Schwierigkeiten können die Professionalität genauso schwächen wie beruflicher Erfolg den Blick für die privaten Bedürfnisse trüben kann. Ein literarisches Paradebeispiel hierfür stellt jene Szene in Yalom’s »Die rote Couch« dar, in welcher Seymour Trotter sich den Pakt mit seiner Patientin zurechtzulegen sucht: »Ich hatte meine ganze berufliche Laufbahn damit verbracht, zu geben, und das war das erste Mal, dass ich etwas zurückbekam, wirklich etwas zurückbekam« (Yalom 1998, S. 49 f.). Trotter ist erfahren und intelligent genug, um auch die Argumente zu kennen, die ihn vor der Tat hätten bewahren können17. Erfahrung und Intelligenz reichen hier jedoch nicht aus, um sich entsprechend zurückzuhalten oder alternative Wege zu suchen. Andere Motive haben längst die Regie übernommen oder zumindest begonnen, den »Möglichkeitssinn« (Musil 2013, S. 19 ff.) auszureizen und den Suchprozess in Richtung der zu überwindenden Ambivalenzen zu steuern. Die nur scheinbar konsensuale Begegnung wird häufig erst später als Ausbeutung erfahren – etwa, wenn eine betroffene Frau entdeckt, dass der Seelsorger anderen gegenüber ähnliche Komplimente macht und ihnen in derselben Form das Gefühl vermittelt, sie seien einmalig, begehrenswert etc. Die Entdeckung des eigennützigen Verhaltens einer Fachperson löst häufig die Krise aus und initiiert das Bewusstsein, »missbraucht« worden zu sein. Im Fernsehfilm »Haus ohne Fenster« (2016) wird dieser Zusammenhang mit großer Prä17 »Langsam, viel zu langsam, dämmerte mir, dass ich in ernsten Schwierigkeiten steckte. Jeder, der uns zwei zusammen sah, würde zu dem Schluss kommen, dass ich ihre Übertragungsgefühle ausbeutete und diese Patientin zu meinem eigenen Vergnügen missbrauchte. Oder dass ich ein hochdotierter, seniler Gigolo war!« (Yalom 1998, S. 51)

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zision aufgedeckt: Die erfolgreiche Unternehmerin Renate Schaller kommt nicht über den Suizid ihrer Schwester Franziska hinweg. Als auch noch ihre Beziehung in die Brüche geht, wendet sie sich an Franziskas ehemaligen Therapeuten Sebastian Frey und meint dort den Trost zu finden, den sie sucht. Die emotionale Abhängigkeit wandelt sich zur vermeintlichen Liebe. Renates Liebe steigert sich zur Obsession. Als sie entdeckt, dass Frey auch mit anderen Patientinnen intimen Umgang pflegt – möglicherweise auch mit ihrer verstorbenen Schwester –, stürzt sie in eine tiefe Krise. Seelsorgerinnen, die ihre Gefühle unterdrücken oder nicht reflektieren, sind umso mehr der Gefahr ausgesetzt, das berufliche Setting für persönliche Bestätigung zu missbrauchen. Die psychoanalytische Perspektive führt Grenzüberschreitungen in professionellen Beziehungen auf den subtilen »Mechanismus« der Überidentifikation zurück. Das archetypische Bild des Helfenden, Begleitenden oder Heilenden bringt die Fachperson mit Fähigkeiten in Berührung, die nicht nur Fantasien wecken, sondern auch einladen, sich mit diesen Bildern zu identifizieren18. Die Identifikation mit dem Archetypus ist als solches Teil der therapeutischen Kraft, birgt jedoch die Gefahr, für die eigenen legitimen Bedürfnisse blind zu werden. Die Blindheit gegenüber den eigenen Defiziten, gepaart mit dem gleichzeitigen Vorwand des Helfens und Heilens, sind aus analytischer Sicht die tiefer liegende Ursache für Grenzüberschreitungen und Machtmissbrauch. Hinter der Arroganz der Macht verbirgt sich oft eine Ignoranz der Bedürftigkeit. Die Ignoranz wiederum kann als wenig entwickeltes Bewusstsein, angemessen für sich selbst Sorge tragen zu müssen, verstanden werden. Der Psychoanalytiker Otto F. Kernberg (1996) hat wiederholt darauf hingewiesen, dass zwischen dem Verschweigen von Gegenübertragungsreaktionen und dem späteren Auftreten von Grenzüberschreitungen ein direkter Zusammenhang besteht.

18 Jung gebraucht für die Identifikation mit einem archetypischen Bild den Begriff der (psychischen) »Inflation« (vgl. Jung 1989, S. 194; 370).

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Das Missachten der eigenen Bedürftigkeit kann sich – bevor es zu problematischen Kompensationen führt – subtil auswirken. Häufig sind Frustrationen und latente Unzufriedenheit Zeichen einer eigenen, seelischen Unterversorgung. Henri J. M. Nouwen (1987) hat in seiner bemerkenswerten Studie zu menschlicher Seelsorge auf grundsätzliche Mängel moderner Gesellschaftsformen hingewiesen. Darunter versteht er u. a. den Mangel an Kontinuitätsgefühl. Wer sich als Seelsorger von der einen Krisensituation zur anderen bewegt und dabei seine ganze Kraft an Aufmerksamkeit und Empathie investiert, kennt die Erfahrung der inneren Verzettelung. Wer regelmäßig mit Notleidenden konfrontiert ist, mit Menschen, die besonders viel Zuwendung und Aufmerksamkeit benötigen, läuft Gefahr, sich durch allzu großes berufliches Engagement zu überfordern. Die beruflichen Herausforderungen verlangen einen bewussten und sorgfältigen Umgang mit den eigenen Gefühlen, Bedürfnissen und Wünschen. Ein Mangel, der gemäß Nouwen ebenfalls unsere Zeit charakterisiert, ist jener der fehlenden Resonanz. Wer sich persönlich investiert und engagiert, erwartet explizit oder implizit eine Rückmeldung auf das Gesagte oder Geleistete. Unabhängig davon, ob diese Rückmeldung bestätigender oder kritischer Natur ist, bedeutet sie eine Wertschätzung des Engagements. Wem diese über längere Zeit verwehrt bleibt, beginnt zu leiden, meist im Verborgenen, da das Einklagen von mangelnder Resonanz – ohne dabei eine klagende oder anklagende Haltung einzunehmen – wenig eingeübt ist. Verdrängte und verschwiegene Unzufriedenheit kann jedoch den Unmut verstärken. Die Tendenz, apathisch zu werden, sich in eine Introvertiertheit zurückzuziehen und heimlich zu resignieren, ist oft Vorbote depressiver Verstimmungen oder erster Burn-outSymptome (vgl. Louw 2016)19.

19 Louw nennt die »Mitgefühlsmüdigkeit« als Zeichen der Erschöpfung und als Folge der übermäßigen Konfrontation mit Leiden, Sorgen und Ängsten bei gleichzeitiger Unerklärbarkeit (Louw 2016, S. 8 ff.).

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Grenzgänge und Fehltritte

Präventive self-care

Hinweise und Verpflichtungen durch Gesetze, Reglemente und Standesordnungen reichen nicht aus, um Fachpersonen davor zu bewahren, in der Ausübung ihrer Berufstätigkeit Grenzen zu verletzen. Nötig und hilfreich sind präventive Maßnahmen in Aus- und Weiterbildungen, durch Selbstreflexion und Supervision. Das vermittelte Wissen und die auf die eigene Person und Berufssituation adaptierten Fertigkeiten ermöglichen erst, Schwierigkeiten rechtzeitig zu erkennen und zu bewältigen. Je mehr es gelingt, potenzielle Probleme zu benennen und zu reflektieren, umso früher können präventive Lösungsstrategien eingeübt werden. If faut arracher les mauvaises herbes lorsqu’ elles sont petites: Insofern ist es sinnvoll, Fragen im Zusammenhang mit der eigenen Berufsauffassung und Berufsausübung früh und regelmäßig zu reflektieren: Ȥ Welche Motive und Bedürfnisse bewegen mich dazu, diesen Beruf auszuüben oder mich in diesem Bereich zu spezialisieren? Ȥ In welchen biografischen Entwicklungen sehe ich einen Einfluss oder einen Zusammenhang mit meiner Berufstätigkeit? Ȥ Welche verborgenen Motive spielen auch noch eine Rolle? Wem will ich etwas beweisen? Wen beeindrucken und wen überflügeln? Ȥ In welchen Situationen und bei welchen Anforderungen sehe ich mich tendenziell eher unterfordert, worin eher überfordert? Ȥ Wann und wobei bin ich manchmal gefährdet, Grenzen zu dehnen oder zu überschreiten? Ȥ Wie habe ich bisher in heiklen Momenten bzw. Situationen reagiert? Was hat mir geholfen? Das Bewusstsein, dass die Wahl der seelsorglichen Tätigkeit mit Persönlichkeitsstruktur, Entwicklung und Dynamik der Herkunftsfamilie zusammenhängt, kann für Stärken und Schwächen im beruflichen Kontext sensibilisieren. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Verletzlichkeit und Endlichkeit ermöglicht nicht nur eine Selbstvergewisserung – sie fördert auch die Selbstwirksamkeit und die persönliche Sinnhaftigkeit der eigenen Arbeit. Wer für sich geklärt hat, was ihm an Ressourcen und handhabbaren Techniken zur Verfügung steht, wird eher und ohne große Überwindung zu diesen greifen. In

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kritischen Momenten oder nach belastenden Tagen, wenn die Arbeit zu viel an Reizen ausgelöst oder zu wenig herausgefordert hat, kann – einem Brückengeländer gleich – auf meditative, gestalterische, kulturelle, soziale oder sportliche Ressourcen zurückgegriffen werden.20 Der Rückgriff auf persönliche Ressourcen fördert die Widerstandskraft und die Regenerationsfähigkeit. Resilienzstärkend ist letztlich alles, was uns Passivität und Opferrollen verlassen und (Selbst-)Verantwortung übernehmen lässt. Eine Lebens- und Arbeitsform kann dann als resilient bezeichnet werden, wenn sie angesichts äußerer oder innerer Beeinträchtigungen Lebendigkeit und Achtsamkeit aufrechterhalten kann (von Heyl 2011, S. 114 f.). Das im Salutogenese-Modell von Aaron Antonovsky beschriebene Kohärenzgefühl gilt inzwischen als hochwertiger Resilienzfaktor: Darunter wird die gefühlsmäßige Gewissheit verstanden, in einem verstehbaren, zu bewältigenden und sinnvollen Lebens- und Arbeitskontext eingebettet zu sein (vgl. Antonovsky 1997).

Krisen und Kompetenzen

In der Auseinandersetzung mit der eigenen Verletzlichkeit liegt vermutlich das größte Potenzial an Prävention. Nach Nouwen sind es die Verletzungen, welche wir erlitten haben, die uns zu »heilenden« Seelsorgerinnen werden lassen. Die Wunde, welche aus Nouwens Perspektive die seelsorgliche Identität besonders auszeichnet, ist die der Einsamkeit: »Die Einsamkeit, die wir bei uns feststellen, könnte eine Gabe sein, die wir schützen und bewahren müssen, da unsere Einsamkeit uns eine innere Leere anzeigt, die, wenn man sie falsch versteht, schlimm, die jedoch verheißungsvoll sein kann, wenn man ihren süßen Schmerz erträgt.« (Nouwen 1987, S. 123) 20 In dem Kapitel »Für die eigene Seele sorgen« beschreibt Andreas von Heyl spirituelle und meditative Techniken, ernsthafte und spielerische Tätigkeiten sowie einfache Übungen für weniger spirituell oder meditativ Interessierte (vgl. von Heyl 2011, S. 129–159).

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Grenzgänge und Fehltritte

Damit ist allerdings kein romantisiertes Selbstmitleid gemeint. Das Heilsame und Heilende in der Erfahrung der Einsamkeit ist die Erkenntnis, dass sie uns zwingt, gut bei uns selbst zu Hause zu sein. Wer »gelernt hat, mit seiner Einsamkeit zu leben, und im eigenen Heim zu Hause ist, ist ein Gastgeber, der seinen Gästen Gastfreundschaft erweist« (Nouwen 1987, S. 134). Nouwen sieht in der akzeptierten und vertieften Selbsterfahrung eine Einladung, den Mitmenschen nicht von dessen eigenem Schmerz befreien zu wollen, sondern diesem Raum zu geben. Die Qualität, die sich aus der Bejahung der eigenen Einsamkeit ergibt, schlägt eine Brücke zur Erfahrung des anderen. Sie lädt ein, das Leiden am Leben, an der Welt und an sich selbst so zu vertiefen, dass es geteilt werden kann. Voraussetzung dazu ist eine angeeignete Spiritualität, die den anderen nicht für seine eigene Zwecke missbraucht, sondern aus der gewonnenen Freiheit heraus den Halt, den er oder sie in sich gefunden hat, zu teilen bereit ist. Eigene Verletzungen sind nicht nur Einfallstore für Empfindlichkeiten oder Bollwerke der Abwehr, sondern auch Hinweise auf schlummernde Entwicklungspotenziale und verborgene Talente. Krisen können zum »Stoff« werden, aus dem neue Lebensentwürfe entstehen. Aus überwundenen Krisen und geheilten Wunden können genau jene Persönlichkeitsmerkmale erwachsen, die in der seelsorglichen, spirituellen oder psychosozialen Begleitung zu Kompetenzen werden. In dem Maße, wie seelsorglich Tätige gelernt haben, eigene Grenzen wahrzunehmen und einzuhalten, können sie freundlich, bestimmt und konsequent anderen gegenüber Grenzen setzen. Und in der Art und Weise, wie sie mit Regeln und Grenzsetzungen umgehen, können Trost- und Ratsuchende nicht nur Halt finden, sondern Maß nehmen und einen eigenen Umgang mit drohenden Grenzverletzungen erlernen. Je klarer sich die Fachperson abgrenzt, desto mehr wird sie sich im Rahmen eines seelsorglichen Kontaktes engagieren können: »Die Fähigkeit zur Grenzziehung und damit einhergehend zur Distanz machen eine echte intime Begegnung erst möglich.« (Müller 1998, S. 50)21 In seelsorg21 Nach Müller (1998) ist es eine Frage der »psychischen Reife«, ob Fachpersonen mit Nähe und Distanz angemessen umgehen können.

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lichen Gesprächen kann eine Intimität entstehen, die starke Gefühle hervorruft oder hinterlässt. Auch solche starken Gefühle können als Botschaften verstanden werden, die der Fachperson wichtige Informationen zum seelsorglichen Prozess vermitteln. Die Toleranz gegenüber diesen Gefühlen (nicht gegenüber Handlungen) ermöglicht erst den Blick auf dahinterliegende Beweggründe. Nur was wohlwollend beobachtet wird, kann sich öffnen und zeigen. Auch heftige Reaktionen in uns sind oft Anzeichen dafür, dass wir durch andere, nicht-professionelle Motivationen bewegt werden. Wenn eine Fachperson danach strebt, in den Augen einer ratsuchenden Person besonders bedeutungsvoll zu sein, oder wenn sie während eines Gesprächs in euphorische Stimmung gerät, bei Widerstand überaus empfindlich reagiert oder erotisierende Begegnungen fantasiert, sind das in der Regel erste und ernstzunehmende Zeichen mangelnder Distanz.

Supervision – Prävention und Intervention

Wenn Seelsorgerinnen sich Unterstützung holen, ist das kein Zeichen von Schwäche, sondern von Klugheit. Das interkollegiale Entlastungsgespräch ist für die eigene Psychohygiene und für die Wiedererlangung der mentalen Freiheit unverzichtbar. Ereignisse, die über den Arbeitsalltag hinaus beschäftigen und unsere Aufmerksamkeit absorbieren, verlangen meist nach weiteren Maßnahmen. Die Notfallpsychologie hat mit einem differenzierten Critical Incident Stress Management (CISM) Modelle von Bewältigungsstrategien entwickelt, die für die Seelsorgetätigkeit adaptiert werden können (vgl. Hausmann 2003, S. 195–249). Interdisziplinäre Fallbesprechungen in sogenannten Intervisionen können helfen, einen Blick von außen auf sich und die eigene Arbeitsweise zu erhalten. In Supervisionen können die persönlichen Aspekte belastender Erfahrungen benannt, gewürdigt und vertieft werden. Eine gute Supervision betrachtet und reflektiert allerdings nicht allein das, was der Seelsorger an Fallsituationen und Fragen einbringt. Wenn es zu Entwicklungen oder Verstrickungen kommt, die der supervidierenden Person gegenüber verschwiegen werden, sind das in der Regel genau jene Prozesse,

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die besonderer Aufmerksamkeit bedürfen: Supervisoren sind deshalb gefragt, proaktiv die berufliche und persönliche Situation der Fachperson zu erfragen, kleinere oder größere Auffälligkeiten zu benennen und auf die Interaktionen zu fokussieren. Mit Fragen nach Grenzüberschreitungen wird ein Signal gesetzt, welches bedeutet: Du bist eingeladen, über deine Gefühle und Fantasien, über deine kleineren oder auch nur fantasierten Grenzverletzungen zu sprechen. Es gibt hier einen Ort, wo diese Erfahrungen einen Platz haben, und wo kompetent damit umgegangen wird. Das setzt voraus, dass Ausbildende und Supervidierende gute Kenntnisse über die Dynamik seelsorglicher, beratender oder therapeutischer Tätigkeiten haben. Sie müssen das Recht und die Freiheit besitzen, nach Anzeichen von kritischen Verhaltensweisen, nach red flag indicators, zu fragen. Sie dürfen sich nach Erfahrungen mit Abgrenzungsproblemen erkundigen und können damit einen Beitrag zur Enttabuisierung des Themas leisten. Seelsorger sollen die Bedeutung von Übertragung und Gegenübertragung verstehen können, auch wenn sie nicht in einem psychotherapeutischen Setting arbeiten. Denn Übertragungs- und Gegenübertragungsgefühle sind  – bewusst oder unbewusst  – in jeder persönlichen Begleitung vorhanden. Ein schrittweises Erlernen von Kompetenzen im Umgang mit verwirrenden Gefühlen ist zur Erlangung von Sicherheit nötig. Dabei geht es um Gelassenheit, z. B. im Umgang mit sexuellen Anspielungen, um symbolische Deutungsfähigkeiten, um Transfers von moralisch eindimensionalen zu intrapsychischen und interpersonalen Deutungsmustern, um Differenzierung zwischen Gedanken, Gefühlen und Handlungen. Das Wahrnehmen und Reflektieren eigener Reaktionen ist unabdingbar für den Lernprozess. Sachse versteht (offene oder häufiger indirekte) Beziehungsangebote durch Ratsuchende als »schwierige Interaktionssituationen«, die sich dadurch auszeichnen, dass sie besondere Anforderungen an die Fachperson stellen und ein besonderes methodisches Reaktionsrepertoire verlangen. Die mit Komplimenten, Freundschafts- oder Liebeserklärungen konfrontierte Fachperson kann nicht nicht reagieren. Die Reaktion muss in der Regel schnell, also unter Handlungsdruck erfolgen.

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Folgerungen

Die Tragweite von Grenzverletzungen und deren Folgen erreichen – allen Aufschreien und #MeToo-Debatten zum Trotz – das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit selten. Sie werden in der öffentlichen Meinung immer wieder als Kavaliersdelikte abgebucht, als Kunstfehler, die einige wenige betreffen. Der breite und öffentliche Diskurs hingegen erschwert die Rechtfertigungstendenzen grenzüberschreitender Fachpersonen und schärft das allgemeine Problembewusstsein. Gesetzliche Bestimmungen und forensische Bemühungen können dies allein nicht leisten. Notwendig ist vielmehr ein Ansatz, der von Ausbildung über Supervision bis zu Hilfestellungen bei erfolgten Grenzverletzungen reicht. Solange eine curriculare Integration von Erfahrungswissen fehlt, werden Risiken verharmlost. Das oberste Ziel eines seelsorglichen Kontaktes ist nicht die Einhaltung von Grenzen, sondern die Unterstützung und Stärkung des Ratsuchenden. Der flexible und dynamische (nicht rigide) Umgang mit Grenzen kann im seelsorglichen Prozess für Ratsuchende durchaus hilfreich sein. Feuermelder können keine Brände löschen oder verhindern. Einen kleinen Brandherd zu bewältigen ist trotzdem wesentlich einfacher als ein ganzes Haus zu löschen, das in Flammen steht. Kirchen sowie psychosoziale und medizinische Institutionen sind deshalb gefordert, präventive Maßnahmen zu ergreifen. Wenn innerhalb einer Organisation die Bereitschaft fehlt, offensichtlich vorhandene Probleme anzugehen, sendet dies falsche Signale. Institutionen entwickeln sich langsam und haben häufig ein traditionsreiches Eigenleben, das von vielen unausgesprochenen Regeln bestimmt ist. Entscheidungen laufen über gegenseitige Gefälligkeiten, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen. Fehltritte oder Fehlhaltungen werden zugunsten des Ansehens (Image) tendenziell totgeschwiegen oder zumindest verharmlost. Machtträger haben häufig wenig Interesse an der Auseinandersetzung und Aufarbeitung systemimmanenter Probleme, die die Ordnung stören und Rollenmodelle hinterfragen könnten. Dazu braucht es den Mut, heikle Themen zu enttabuisieren und die Angst vor Imageschäden zu überwinden.

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In größeren Kliniken stellt das ökonomisch orientierte Risk Ma­ nagement längst ein strategisches Führungsinstrument dar und bildet (zumindest für Aktiengesellschaften in der Schweiz) eine gesetzlich vorgeschriebene Pflicht. Die gewonnenen Erkenntnisse und Einschätzungen bezüglich Chancen und Risiken finden in Entscheidungsprozessen aller Stufen Berücksichtigung. Ein etabliertes Risk Management leistet einen wichtigen Beitrag zur Analyse von internen Strukturen. Arbeitszeitreglementierung (Präsenzausweisung), Dokumentations- und Informationsverpflichtungen (Transparenz), Feedback-Kulturen innerhalb von medizinischem Betreuungssystemen (Multi-Rater-Feedback) oder eine reglementierte Nachsorge nach dem Austritt von Patienten sind prominente Beispiele. Seltener finden sich jedoch Konzepte, die das Risiko von (z. B. seelsorglichen) Beziehungsprozessen generell und Grenzverletzungen im Besonderen fokussieren (vgl. Wild 2015). Dazu könnte gerade die professionalisierte Seelsorge, der die sensibilisierte Wahrnehmung von Beziehungen aufgetragen ist, einen emanzipatorischen Beitrag leisten. Sie tut das zum Beispiel, indem sie mit der Umsetzung punktueller Maßnahmen (good practice) vorangeht. Diese reichen von Schulungen zur Schärfung des Verantwortungsbewusstseins (risk awareness) über Kommunikationsmanuals und Leitlinien zur Gestaltung von Kontakten bis hin zu konkreten Regelungen in Bezug auf Eröffnung, Rahmung und Abschluss von Patientenkontakten. Weiter als restriktive Schutzvorkehrungen gehen selbstreflexive Fragen, wie sie beispielsweise in interdisziplinären Intervisionsgruppen gestellt werden können: Wie finde ich einen adäquaten Umgang mit Nähe und Distanz, um an wichtige Themen heranzukommen? Wie bewege ich mich in intimen Sphären und Räumen, beispielsweise bei Ritualen und Segenshandlungen? Wo liegen die Grenzen zwischen performativen und manipulativen Handlungen? Sind Selbstverständlichkeiten vergangener Jahrhunderte, die insbesondere kirchlichen Institutionen den »Weg zum Menschen« geebnet haben, heute zu Stolpersteinen geworden? Wird die Niederschwellig­

Verletzlichkeit und Selbstsorge115

keit alltagsseelsorglicher Situationen zum Einfallstor unprofessioneller Einmischungen in private Sphären? Zu denken wäre etwa an Hausbesuche, die privates und berufliches Setting vermischen bzw. eine klare Trennung unmöglich machen. Seelsorgearbeit, die Auftragsklärungen unterlässt, die ohne zeitliche, zielorientierte und inhaltliche Regelungen und Rechenschaftsberichte erfolgt, birgt als solche ein strukturelles Defizit, das durch unklare Grenzen deren Überschreitung begünstigt. In Kirchengemeinden wird die gegenseitige Durchdringung von privaten und beruflichen Kontexten zwar nicht völlig zu umgehen sein, Vorstände und Behörden können allerdings einen offenen Umgang mit der Realität von Grenzüberschreitungen pflegen. Qualitätssicherung und Qualitätsstandards sind nötig, weil sie ermutigen, das Unkraut bei der Wurzel zu packen, anstatt Gras darüber wachsen zu lassen.

Literatur Antonovsky, A. (1997): Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen. Hartmann, L. (2010): Finsteres Glück. Zürich. Hausmann, C. (2003): Notfallpsychologie und Traumabewältigung. Ein Handbuch. Wien. Heyl, A. von (2011): Das Anti-Burnout-Buch für Pfarrerinnen und Pfarrer. Freiburg i. B. Jung, C. G. (1989): Gesammelte Werke. Bd. 9/1 (7. Aufl.). Olten/Freiburg i. B. Kernberg, O. F. (1996): Boundaries and boundary violations in psychoanalysis. New York. Louw, D. J. (2016): Mitgefühlsmüdigkeit als seelische Erschöpfung an der Grenze zwischen Leben und Tod. Zur Heilung von verwundeten Heilenden bzw. Helfenden in der Seelsorge. Wege zum Menschen., 68(1), S. 8–32. Morgenthaler, C. (2009): Seelsorge. Lehrbuch Praktische Theologie. Bd. 3. Gütersloh. Müller, W. (2010): Verschwiegene Wunden. Sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche erkennen und verhindern. München. Musil, R. (2013): Der Mann ohne Eigenschaften. Köln. Nouwen, H. J. M. (1987): Geheilt durch seine Wunden. Wege zu einer menschlichen Seelsorge. Freiburg i. B./Basel/Wien. Tobler, A. (2010): Ein Unfallopfer wird zum Erlöser. In: Der kleine Bund, 25. August 2010 (Rezension von L. Hartmann 2010). Bern.

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Grenzgänge und Fehltritte

Wild, T. (2015): Risikofaktoren und Risikomanagement seelsorglicher Be­ziehungen. In: I. Noth/U. Affolter (Hg.): Schaut hin! Missbrauchsprävention in Seelsorge, Beratung und Kirchen (S. 29–46). Zürich.

Filme Finsteres Glück: Spielfilm. Regie: St. Haupt. Drehbuch: R. Santschi/St. Haupt. Deutschland: W-film Distribution, 2016. Haus ohne Fenster: Fernsehfilm SF DRS/WDR. Regie: P. Reichenbach. Drehbuch: C. Capaul Christa. Schweiz: C-Films, 2003.

4 Zwischen den Welten

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4.1 Selbst- und Fremdbestimmung Aufgabe der Krankenhausseelsorge ist »die seelisch-geistige und religiös-spirituelle Unterstützung bei Erkrankung, Unfall und Sterben, insbesondere in Krisensituationen und bei Sinn- und Identitätsfragen. Dabei trägt sie – so gut wie möglich – den konfessionellen, religiösen, kulturellen, sprachlichen und geschlechtsspezifischen Bedürfnissen Rechnung« (so das Leitbild der Seelsorge an der Berner Universitätsklinik, vgl. Wild 2019, S. 11). Damit ist eine der Eigentümlichkeiten zeitgenössischer Krankenhausseelsorge angezeigt: Einerseits positioniert sie sich überkonfessionell und erklärt, für alle Patientinnen, Angehörige und Mitarbeitende, unabhängig derer Religionszugehörigkeit oder -losigkeit, zuständig zu sein. Anderseits organisiert sich die Spitalseelsorge in­ terkonfessionell und rekrutiert Fachpersonen aus den christlichen Kirchen oder allenfalls auch aus anderen Religionsgemeinschaften. Im Berner Universitätsspital gibt rund eine Drittel der zu begleitenden Patienten an, keiner Konfession oder Religion anzugehören und ein weiterer Drittel ist auch tatsächlich in keine traditionelle Religionsgemeinschaft eingebunden (vgl. Wild 2019, S. 12). Wer bei der Eintrittsanamnese unter Religionszugehörigkeit die Rubrik Keine Angabe wählt, sagt damit nicht, dass er oder sie nicht spirituell interessiert, empfänglich oder gar aktiv sei; es bedeutet nicht einmal, dass er oder sie nicht religiös ist oder keiner Konfession angehört. Es bedeutet schlicht: Die religiöse Identität ist Privatsache. Sie ist für viele Menschen genauso schützenswert und persönlich wie beispielsweise die sexuelle Orientierung. Frühere Eindeutigkeiten und Selbstverständlichkeiten fallen damit weg. Über den Bedarf, ob jemand die supportive Dienstleistung der Seelsorge in Anspruch nimmt, entscheidet er oder sie nicht mehr beim Eintritt in das Krankenhaus, sondern in der Akutsituation. Diese Prämisse öffnet neue Horizonte, unter denen ein seelsorgliches Gespräch stattfinden und gelingen kann. Je disparater die kul-

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turellen und religiösen Identitäten sind, desto ausgeprägter müssen die persönlichen, sozialen und fachlichen Kompetenzen der Begleitpersonen sein. Die theologische Ausbildung, die Seelsorgerinnen mitbringen, beinhaltet historisches, pädagogisches und psychologisches sowie philosophisches Hintergrundwissen. Dieses Wissen bietet die Basis für einen professionellen Umgang mit den religiösen und spirituellen Patchwork-Identitäten, ebenso mit den Ressourcen und Stressoren von Religiosität, die Patienten erworben haben oder die ihnen eingetrichtert worden sind. Gleichzeitig – und diesbezüglich haben die studierten Theologinnen den anderen Begleitpersonen, auch den Ehrenamtlichen, in der Regel nichts voraus – geht jeder und jede im Krankenhaus noch einmal in die Grundschule des Glaubens: »Man lernt ›Gott‹ zu buchstabieren – und stockt manchmal schon beim ›G‹. Man addiert die Wunder einer Woche und landet bei null. Man trägt Hoffnung, Halt und Trost wie eine Kerze durch den Wind.« (Brems 2019, S. 68)

Kulturelle Kontexte

Hinter dieser metaphorischen Textur steht die Einsicht, die Eberhard Hauschildt schon vor Jahren auf den Punkt gebracht hat: »Interkulturelle Seelsorge ist nicht der exotische Ausnahmefall von der Regel. Sondern hier kommt etwas besonders deutlich zum Ausdruck, was für die gesamte Seelsorge in Theorie und Praxis von Relevanz ist« (Hauschildt 2002, S. 81). Beinahe alles, was wir durch die Perspektive interkultureller und interreligiöser Seelsorge erkennen können, gilt auch für die Begleitung und Betreuung von Menschen aus dem eigenen kulturellen Kontext. Der andere Mensch bleibt mir letztlich immer ein Fremder, selbst wenn er in einem ähnlichen kulturellen Kontext sozialisiert ist oder einen vergleichbaren Lebensstil mit mir teilt (vgl. Merle 2013, S. 27).

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Eine Aussage der in der Fallvignette (Kap. 1.2) porträtierten Patientin kann als Klassiker kommunikativer Herausforderungen für christliche Seelsorge verstanden werden. Frau Solina antwortet im ersten Gespräch, unmittelbar nachdem der Seelsorger sich und seine Funktion vorgestellt hat, mit dem Satz: »Mit der Kirche habe ich nichts am Hut …« Der Seelsorger könnte sich – leicht provoziert durch die steile Positionierung – zu einer allgemeinen, alles relativierenden und die Differenziertheiten einebnenden Pauschalantwort hinreißen lassen (»Ach, wir sind auch für die kirchenfremden Patienten da«). Er könnte auch, um eine potenzielle Diskrepanz zwischen ihm und der Patientin gar nicht erst aufkommen zu lassen, sofort zu loyalisierenden Bekenntnissätzen greifen (»Kein Wunder, wenn man die Kirchengeschichte und die aktuellen Skandale kennt«). Auch wenn in Erstkontakten theologische Argumente meist fehl am Platz sind und vom genuinen Bedürfnis des Gegenübers wegführen, ist ein sprach- und kontextsensibler Umgang mit solchen Positionierungen angezeigt – und zwar unabhängig davon, ob die Positionierungen dem kulturellen Kontext der Seelsorge nahe oder eben fern stehen. Dies aus mehreren Gründen: Zum einen sind solche Sätze erste Testläufe für die Patienten, wie Seelsorger mit Dissonanzen umgehen können und wie viel »Fremdheit« sie auszuhalten bereit sind. Zum anderen sind solche Sätze alles andere als eindeutig. Die Kontextualität des Satzes »Mit der Kirche habe ich nichts am Hut …« ist keineswegs klar und kann durch ganz unterschiedliche außersprachliche Referenzen motiviert sein. Der Satz kann ein Bekenntnis zur PeerGroup der jüngeren, kirchenkritischen Generation beinhalten, möglicherweise auch etwas stereotyp und keineswegs individuell reflektiert oder persönliche Erfahrungen bilanzierend. Er kann – so häufiger bei älteren Personen – eine Distanzierung vom sonntäglichen Kirchgang sein, mit dem Kirche und Traditionszugehörigkeit oft identifiziert werden. Der Satz kann ebenso die Ablehnung eines auf dem kirchlichen Credo basierenden Glaubenskonstrukts sein bei gleichzeitiger Priorisierung einer persönlich-individuellen Spiritualität. Auch die implizite Abgrenzung gegenüber eines atheistischen Weltbilds ist denkbar. Die hier nur rudimentär angedeuteten Möglichkeiten lassen sich fast beliebig erweitern. Wichtig scheint für die seelsorglich behutsame Kommunikation nicht allein die Mehr-

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deutigkeit einer an sich trivialen Aussage zu sein, sondern ebenso das potenzielle Missverständnis, von verwendeten sprachlichen Ausdrücken auf eine außersprachliche Erfahrungswirklichkeit schließen zu können.

Sprachliche und außersprachliche Referenzen

Zwischen dem Verstehen des sprachlichen Ausdrucks und dem Verstehen des referenziellen Bezugs muss unterschieden werden. Der referentielle Bezug kann nur von der sprechenden Person, die diese oder jene Aussage formuliert, hergestellt werden. Bezogen auf das konkrete Beispiel bedeutet das, dass die Äußerung von Frau Solina zwar sehr unterschiedlich, jedoch nicht beliebig verstanden werden kann. Die sprachlichen Zeichen, aber selbstverständlich auch die non- und paraverbalen Aspekte, allein schließen Beliebigkeit schon aus. Damit es aber zu einem Verstehen zwischen sprechender und hörender Person kommen kann, benötigt der Dialog sozial verbindliche, die Wirklichkeit gewissermaßen strukturierende Elemente. Genau dies ist jedoch in den frühen Sequenzen eines ersten Seelsorgegesprächs kaum möglich – und spricht dafür, die möglicherweise aus einer gewissen Unsicherheit oder Verlegenheit rührende Provokation nicht zu kommentieren, sondern in einer späteren Gesprächssequenz aufzugreifen. Allerdings kann der Seelsorger nicht nicht reagieren – und muss sich zumindest zum Gesprächsangebot, das in diesem Satz implizit enthalten ist, verhalten. Er kann zum Beispiel die Aussage wiederholen und würdigen (»Sie kommen da gleich zu spannenden Themen!«), darauf das Thema wechseln und einen anderen Gesprächseinstieg vorschlagen. Im Wissen darum, dass Distanzierungen (z. B. von einer religiösen Tradition) oft kohäsiver sind als Anbindungen, gilt es, die Positionierung zumindest als Problemanzeige zu vermerken und zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzugreifen. Jede seelsorgliche Begegnung, unabhängig von der kulturellen, religiösen oder sozialen Prägung, erfolgt in der Annahme, dass ich dem (mir) Fremden nur näherkomme, indem ich die Ferne aus-

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halte (vgl. Waldenfels 2019). Dahinter steht die Prämisse, dass ich das Fremde nicht aus dem Eigenen heraus herleiten kann. Von meinem Erfahrungshorizont aus auf das Verhalten und auf die Haltung des anderen zu schließen, wäre eine Form des Übergriffs (vgl. Merle 2013, S. 28). Ich habe vielmehr das Anderssein des anderen anzuerkennen, zu akzeptieren und in seinem Fremdsein zu belassen: Ich kann zwar versuchen punktuell »in die Schuhe« des Anderen zu schlüpfen und mich an dessen Kommunikationsstil (Syntax, Wortwahl, Sprechrhythmus) anzunähern, aber es geht immer darum, den Raum für das Nicht-Verstehen offenzuhalten und den Beziehungsaufbau nicht zu strapazieren. Ich lasse mich als Seelsorger durch das Bewusstsein, dass hospitalisierte Patienten in einem mehrfachen Sinne in »fremdem Lande« (Walther 2013, S. 116), entwurzelt und marginalisiert sind, von den Fragen leiten: Wer oder was konstituiert für diese Menschen Wirklichkeit? Was ist für diese Menschen existenziell und vermittelt ihnen Geborgenheit? Was würden diese Menschen tun, wenn sie nicht hospitalisiert, sondern zu Hause bzw. in ihrer Heimat wären? Was entspricht ihren Traditionen und gibt ihnen Halt? Bei interkulturellen oder interreligiösen Kontakten geht es oft darum, Leidende zu ihren kultureigenen Bezugspersonen, welche die eigene Sprache sprechen, die kulturellen Codes kennen und gemeinsame Werte teilen, vernetzen zu lassen. Im Wissen darum, dass in der Muttersprache die Gefühle tiefer sitzen, kann auf diese Weise der Transfer von kulturellen oder religiösen Ressourcen in den Klinikkontext ermöglicht und gefördert werden. Es gilt, Menschen darin zu unterstützen, was diese benötigen (vgl. Mösli/Kössler 2014, S. 329). Der islamische Patient braucht vielleicht einen Ort und einen Teppich, um seine Gebete verrichten zu können. Die buddhistische Patientin wünscht sich vielleicht mehr Informationen über die Funktion von schmerzstillenden Medikamenten. Der jüdische Patient will wissen, woher die koschere Ernährung kommt. Gesundheit und Genesung gehen mit individuellen Tugenden und persönlichen Vorlieben einher, aber für fast jeden Menschen gehören Gesundheit und Genesung zu den wichtigsten Werten. Seelsorge definiert sich indes nicht allein über das, was sie selbst ermöglichen, fördern oder vermitteln kann. Sie geht immer auch davon aus, dass nicht sie, sondern

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der bedürftige Mensch Quelle der Inspiration und Ort der Gegenwart Gottes ist. Nach jüdischem Verständnis weilt die »Schechinah« über der Kopfseite des Kranken (vgl. Probst 2017, S. 44) – das kann auch bedeuten: Der andere, der kranke Mensch ist möglicherweise ein gotteserfahrenerer Mensch als der Seelsorger.

Religiöse Identitäten

Diese Haltung des Respekts und der Ehrfurcht gegenüber der Gegenwart Gottes über der Kopfseite des Kranken impliziert, dass Glaubensüberlieferungen nicht per se eindeutig und verständlich sind, jedoch auf (verdichteten) Aussagen über disparate und zum Teil paradoxe Erfahrungen beruhen. Das zeigt sich allein darin, dass Religionen in sich vielfältig sind: Den Islam oder den Buddhismus gibt es ebenso wenig wie das Christentum. Religionen verändern sich historisch und kontextuell; keine Religion ist ohne einen oder mehrere Migrationshintergründe plausibel. Die heute in Deutschland, Österreich und der Schweiz vertretenen Religionen haben sich ursprünglich durch Migrationsbewegungen etabliert und waren somit zu Anfang fremde Kulturen – auch das Christentum. Eine Form, Fremden anders »als im Sklavenhaus Ägypten«, d. h. nicht in unterdrückerischer, abwertender oder missionarischer Haltung zu begegnen, ist die Gastfreundschaft (vgl. Ex 23,9).1 »Die Seelsorgerin kann als achtsame Gastgeberin im fremden Land Geborgenheit vermitteln, in dem sie leiblich, emotional und mental präsent ist. Sie kann durch die Begegnung so etwas wie ein Gefühl von Heimat konstruieren helfen – eine Art Heimat auf Zeit. Dies kann zum Beispiel durch die angstfreie Präsenz der Seelsorgerin angesichts des Todes geschehen, […], durch gemeinsame Biografievergewisserung angesichts zerbrechender Identität« (Walther 2013, S. 130). 1 Die Schlüsselgeschichte dazu findet sich in der Bewirtung der drei Männer durch Abraham, die ihn bei den Eichen von Mamre besuchen (Gen 18, 1–16). Vgl. dazu Teuscher et al. (2020), S. 338 f. und Kießling (2019), S. 70 f.

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Religiöse Traditionen können zwar identitätsbildend oder -stärkend sein, Menschen und ihre individuelle Sichtweise auf die sie bewegenden und bestimmenden Probleme können jedoch nicht mit einer Religion identifiziert werden. Religion ist keine feste Einheitsgröße: Kultur, Nation, Familie, Milieu und Geschlecht sind genauso identitätsstiftend wie Werteinstellungen, Verpflichtungen und Überzeugungen. Identität ist nicht Sache einer einzigen Zuordnung. Nasr Hamid Abu Zaid schreibt aus der Erfahrung, den Islam immer wieder gegen Unterstellungen und Ressentiments unfreiwillig verteidigen zu müssen: »Ich zum Beispiel bin zwar Muslim – aber eben nicht nur Muslim. Ich bin auch Ägypter, Araber, Professor in den Niederlanden, Ehemann meiner Frau Ibtehal, ein Liebhaber klassischer Musik – ich besitze so viele Eigenschaften und Zugehörigkeiten, die gemeinsam meine Identität ausmachen. Denn es gibt keine singuläre Identität.« (Abu Zaid 2011, S. 216 f.) Identitätszuschreibungen haben ein hohes Kränkungspotenzial (vgl. Renz 2019, S. 18 ff.; S. 91). Sie sind eine sensible Zone unseres Selbstverständnisses, weil wir in der Regel die Beziehung, die wir zu uns selbst haben, als Identität definieren. Wir unterscheiden dabei wesentliche und unwesentliche Eigenschaften. Wir haben eine Idee oder ein Bewusstsein für das, was wir sind und nicht sind. Wir können und wollen uns mit der eigenen Identität auseinandersetzen. Wenn Drittpersonen oder autoritäre Systeme uns auf einen Aspekt reduzieren oder auf eine vergangene Entwicklungsphase festlegen, fühlen wir uns zurecht in unserem Emanzipationsprozess nicht ernstgenommen (vgl. Renz 2019, S. 93 ff.). Identitäten entwickeln sich im »Spannungsfeld zwischen Autonomie und Anpassung« (Lippmann 2014, S. 22). Die Deutungshoheit darüber, was an Geschichten und Episoden angepasst wird oder neu interpretiert werden soll – damit beispielsweise die Idee einer Kontinuität gewahrt bleibt – liegt beim Einzelnen (vgl. Lippmann 2014, S. 142). Wo dieses Recht verletzt wird, ist Gewaltpotenzial im Spiel (vgl. Adorno 1994) und ein Grundrecht bedroht. Das gilt in besonderem Maße für die Rolle der Kirchen und Religionen: »Denn

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jede Religion schafft Unmündigkeit, wenn sie Denkverbote ausspricht und allen berechtigten Nachfragen zum Trotz auf ihren Dogmen beharrt« – nicht nur im Islam, auch im Christentum »geht es darum, die historische und religiöse Identität vom patriarchalischen Ballast zu befreien« (Ourghi 2017, S. 227). Die Relativierung religiöser Identitäten lässt sich sowohl interreligiös wie auch intrareligiös exemplarisch aufzeigen und konkretisieren. Das islamische Prinzip des Tauhid (d. h. »Alles kommt von Gott«) kann zwar fatalistische Auswirkungen haben, kann aber auch unabhängig von der islamischen Religion ein spirituelles Element der Ergebenheit und der Akzeptanz sein: Krankheit kann von jedem Menschen als eine Schule der Geduld gedeutet werden, den Sinn für Gesundheit als Gabe wecken, Beziehungen erneuern oder das Gefühl unbestreitbaren Vertrauens entstehen lassen. Ebenso sind Rachegefühle und Rachefantasien nicht vorschnell einer kulturellen Identität zuzuordnen, sondern Teil menschlicher Reaktionsmuster auf erlittenes Unrecht. Die Hinweise der jüdisch-christlichen Tradition, dass das Talionsprinzip als heilsame Begrenzung bzw. Mäßigung des ungezügelten Rachegeistes benötigt wird – bis hin zum Verzicht auf die Talio (vgl. Mt 5, 38 f.) im Sinne des passivum divinum (Gott ist es, der die Gerechtigkeitsforderung erfüllen wird) – bestätigen zumindest die anthropologischen und phänomenologischen Reaktionsmuster. Ebenso ist Scham Teil des Glaubens und des Unglaubens. Schambesetzte Themen werden oft verschwiegen und nur indirekt kommuniziert. Bruno Latour schämt sich dessen, »was sonntags, wenn er zur Messe geht, von der Höhe der Kanzeln herab ertönt; aber er schämt sich auch des ungläubigen Hasses oder der belustigten Gleichgültigkeit derer, die über die Kirchgänger spotten« (Latour 2016, S. 7 f.). Religiöse und nichtreligiöse Identitäten werden aus verschiedenen und zum Teil aus sehr ähnlichen Gründen tabuisiert – denn beide basieren auf Glaubensannahmen. Kermani zeigt auf, dass das kulturelle und religiöse Gedächtnis nicht nur Rituale, Mahnmale und feierliche Jahrestage braucht, um sich zu entwickeln, sondern ebenso Referenzpunkte in der eigenen Biografie: Wenn die biografischen Referenzpunkte fehlen, dann werden auch die »Formeln, Gesten und Symbole als leer empfunden« (Kermani 2019, S. 239).

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Auch innerhalb einer religiösen Tradition sind einzelne, konkrete Glaubensaussagen vielgestaltig und potenziell mehrdeutig. Wir greifen nochmals auf die Fallvignette und die oben zitierte Äußerung von Frau Solina zurück: In ihrem ersten Satz erfahren wir einzig, dass sie der Kirche gegenüber auf Distanz gegangen ist oder ihr gegenüber schon immer distanziert bzw. ablehnend war. Damit ist aus theologischer Sicht noch in keiner Weise geklärt, welche Kirche in Misskredit geraten ist. Der theologisch ausgebildete Seelsorger verfällt nicht der (rein theoretisch möglichen) Annahme, dass die eine unsichtbare communio sanctorum im Visier der Patientin steht. Er kann vielmehr davon ausgehen, dass ihrer Ablehnung Erfahrungen mit (zumindest) einer konfessionell konstituierten Kirche schweizerischer Gestalt zugrunde liegen. Den Widerspruch der emanzipierten Ärztin könnte die Amts- und Priesterlastigkeit der römisch-katholischen Kirche samt ihrer sakramentalen Ansprüche hervorgerufen haben. Auch die bibelzentrierten und auf Gnade fokussierten reformierten Credos könnten das Theodizeeverständnis der akademisch gebildeten Patientin strapaziert haben. Oder aber das auf persönliche Gotteserfahrung und -beziehung insistierende und oft apologetisch vertretene Heilungsverständnis freikirchlicher Prägung ist der unheilbar Erkrankten zum Ärgernis geworden. Der Seelsorger hat also gute Gründe, das bekenntnishafte Eingangsvotum zu einem geeigneten Zeitpunkt aufzugreifen und – falls die Patientin darauf einzugehen gewillt ist – allfällige Verletzungen, Kränkungen oder Missverständnisse in Erfahrung zu bringen. Ebenso wie der erste muss auch der zweite Satz Frau Solinas in dessen Uneindeutigkeit kritisch verstanden werden: »An eine höhere Macht glaube ich hingegen schon.« Naheliegender als sich auf ontologische Spekulationen über eine höhere Macht ein- oder gar darüber auszulassen, ist die Thematisierung des Glaubensverständnisses der Patientin. Mit dieser Entscheidung ist der Seelsorger nicht nur näher an den existenziellen Fragen und Nöten der Patientin, sondern er greift auch ein von religiösen Konstrukten unabhängiges anthropologisches Grundbedürfnis auf. Die Frage nach dem Glauben ist komplex und löst eine ganze Kaskade von Rückfragen aus: Ist damit die Palette der moralisch-ethischen Überzeugungen gemeint? Oder vielmehr eine persönliche Spiritualität, sozusagen die Kraft der Liebe,

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die uns trägt und nährt? Das Vertrauen, das sich erst in Krisenzeiten als Ressource oder als Schimäre entpuppt? Oder die widerständige Hoffnung im Schlepptau der Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht? Oder steht hinter der Redewendung (nur) der Kodex eines Sprachspiels, den wir uns angeeignet haben und bei Bedarf zum Besten geben, um wenigstens nicht als »ungläubig« abgestempelt zu werden? Der inflationäre alltagssprachliche Gebrauch des Begriffs zeigt an, wie komplex und diffus, durch welch unterschiedliche und widersprüchliche Vorstellungen »glauben« operationalisiert wird. Wenn wir glauben, halten wir etwas für möglich oder immerhin wahrscheinlich. Wir nehmen an, dass es so ist, wie wir meinen. Wir halten »es« für wahr, können es aber letztlich nicht wissen. Wir vertrauen darauf und investieren in dieses Vertrauen, selbst wenn es risikobehaftet bleibt.2 Mit Glaubensaussagen positioniert sich der Mensch, er bekennt sich zu etwas oder zu jemandem, er identifiziert sich mit kollektiven oder individuellen Identitäten, ohne sich gegenüber Ungewissheiten, Missverständnissen und Irrtümern zu verschließen. Glauben ist insofern ein permanenter Prozess der (Selbst-)Befragung und erneuten (Selbst-)Vergewisserung (vgl. Schori 2020, S. 126).

Gästekompetenz

Seelsorge ist ein interaktives Geschehen. Im seelsorglichen Setting verkörpert sich eine spezifische Form menschlicher und kultureller Begegnung. Für den bedürftigen Menschen ist die Fähigkeit, sich positionieren, bekennen und damit zumindest punktuell exponieren zu können, wesentlicher Teil einer gelingenden Begegnung. Wir kön2 Vgl. Schori (2020). S. 34: »Unser Glaube ist also ein Resultat der Auseinandersetzung zwischen dem, was wir erleben und dem, was wir uns erhoffen und wünschen, zwischen den Erfahrungen und den Visionen. Als dieser Glaube wirkt er in uns – ganz unabhängig davon, ob wir ihn mit Glaubensaussagen zum Ausdruck bringen oder nicht.«

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nen diesen Aspekt als »Gästekompetenz« bezeichnen, wobei die Metaphorik Gast und Gastgeber nicht eindeutig zuzuordnen ist. In mancher Hinsicht sind wir als Seelsorgerinnen die Gäste – und die Patienten jene, die ihr Haus der Klage öffnen und uns als Gäste einlassen. Die Einzigartigkeit dieses Hauses und die damit verbundene, mehr oder minder vorteilhafte Inneneinrichtung (Bewältigungsstrategien) mögen uns auf den ersten Blick faszinieren oder auch befremden: Wir sind Auswärtige und Lernende, was die Individualität und Originalität der sich uns öffnenden Kultur anbelangt. Diese Grundhaltung unterstützt wiederum die Öffnung und das Vertrauen der Leidenden. Bei der Begegnung mit der Kultur eines Menschen gilt es daher zwei grundsätzliche und gegensätzliche Gefahren zu vermeiden: Auf der einen Seite kann die Fachperson eine Kultur so sehr außer Acht lassen, dass die Verstehensangebote ohne Belang bleiben und vom Gegenüber nicht in die eigene Alltagskultur integriert werden können. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr darin, die Denk- und Sprachkultur so unkritisch zu übernehmen, dass das Gegenüber die eigenen Denkfiguren einfach nur wiederholt. Seelsorgliche Verstehensmodelle werden sich deshalb – je nach Herkunft, Prägung und Überzeugung des Gegenübers – assimilieren müssen; dabei werden sie immer auch ein Stück weit aufs Spiel gesetzt. Bedürftige Patientinnen sind nicht immer, aber häufig in der Lage, sich selbst positionieren zu können. Dabei geht es nicht primär um die religiöse und kulturelle Positionierung, sondern darum, dass ich individuell in Anspruch nehmen kann, was ich benötige, was ich mir wünsche, wonach ich mich sehne und woran ich glaube. Die Fähigkeit, von diesem Recht der Selbstpositionierung Gebrauch zu machen, hängt mit verschiedenen Teilkompetenzen zusammen: Bedürftige müssen ihre eigenen Erfahrungen wahrnehmen und diese als ihre Erfahrungen von Wirklichkeit kommunikativ einbringen können. Das wiederum erfordert, zwischen dem eigenen Erleben und dem Erleben anderer unterscheiden zu können. Es setzt auch voraus, sich weder durch das Erleben anderer vereinnahmen oder einschüchtern zu lassen noch andere Perspektiven kategorisch abzulehnen, sondern vielmehr das Erfahrene mit anderen Erfahrungen in Beziehung setzen oder gar in die eigenen Kon-

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zepte der gedeuteten Wirklichkeitserfahrung einbauen zu können. Das Wirkliche begegnet uns in Form von Herausforderungen und nötigt uns immer wieder zu Reaktionen und Entscheidungen.3 In einem Seelsorgekontakt können die selektiven, oft defizitorientierten Problem- und Wirklichkeitsdefinitionen zunächst nicht nur zugelassen, sondern als »Rohstoff« betrachtet werden, anhand dessen etwas »Neues« rekonstruiert werden kann. Dieses Neue darf das Alte weder abwerten noch diskreditieren. Das Neue kann als Variation, als alternativer Aspekt, als kulturelle Erweiterung eingeführt werden. Soll der Prozess der Inkulturation über die erste Begegnung hinaus weiter gelingen, müssen die formulierten Nöte und die eingeklagten Probleme im Fokus der Aufmerksamkeit bleiben. Zugleich werden sie als Brücken zu handlungs- und entlastungsorientierten Problemdefinitionen. Seelsorgerinnen können davon ausgehen, dass jedes beobachtbare Interaktionsmuster und jede gewachsene Beziehungskultur eine Funktion beinhaltet, die sich nicht grundlos etablierte und auch nicht bedenkenlos unterbunden werden darf. Die stille seelsorgliche Arbeit besteht oft darin, dass das, was erzählt wird, als Teil einer Kultur erkannt wird. Der Seelsorger bemüht sich um Öffnung und um Erweiterung des Blickfeldes, der Verstehens- sowie der Verhaltensmöglichkeiten. Sein Verständnis kultureller Verfasstheiten und Geschichten zeichnet sich durch fundamentale Offenheit aus. Und offene Prozesse zeichnen wiederum dadurch aus, dass die Erzählstränge nicht kausal begründet werden, sondern lediglich zwischen den Gesprächspartnern plausibilisiert werden müssen. Denn das, was an Erlebtem erzählt werden kann, führt in eine Kommunikation über existenzielle Fragen, Glaubensund Identitätskonstrukte.

3 Vgl. Schori 2020, S. 128 und S. 153: »Die Qualifizierung des Lebens als etwas Gutes und Wertvolles lässt sich nicht ausschließlich aus der Erfahrung ableiten, weil sie gleichzeitig eine Entscheidung ist.«

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Identität – Kontinuität und Konsistenz?

Spätestens seit dem Bestseller »Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Eine philosophische Reise« des Philosophen und Publizisten Richard David Precht (2007) wissen wir, dass unsere Persönlichkeit aus mehreren Teilidentitäten besteht und die Rede von einer Identität somit fragwürdig ist. Schon Heraklit wusste: Alles ist im Fluss. Wir können nicht einmal zweimal in denselben Fluss steigen.4 Trotzdem wäre es nicht nur juristisch bedenklich, wenn wir den Identitätsbegriff aufgeben würden. Was uns zu dem macht, was wir sind, ist mehr als Passnummer, Fingerabdruck und DNA. Die Suche nach Identität lässt uns nach dem fragen, was über verschiedene Lebensphasen hinweg beständig ist. Spontan würden wir vermutlich auf gewisse kulturelle Prägungen und einige Eigenschaften verweisen und die eine oder andere Dazugehörigkeit erwähnen. Aber schon da spüren wir: Eindeutig ist das nicht. Wir gehören manchmal dazu und manchmal auch nicht. Immer und überall gibt es Menschen und Gruppierungen, denen wir uns zugehörig fühlen und mit denen wir uns trotzdem nicht solidarisieren können. Der Schweizer Liedermacher Mani Matter (2016) hat in seinem Chanson »Mir hei e Verein« (1970) diese eigentümliche Ambivalenz kollektiver Identitäten treffend besungen: »Wir haben einen Verein, ich gehöre dazu // und die Leute sagen: Schau, der gehört auch dazu // und manchmal gehöre ich wirklich dazu // und steh’ dazu // Und dann seh’ ich solche, die gehören dazu // und haben doch mit mir im Grunde nichts zu tun // und andere, zu denen ich passen würde // gehören nicht dazu // Und was die machen, die dazugehören // da steh’ ich nicht stets dazu // und manchmal fragen mich die Leute: du schau // gehörst du da dazu? // Und ich werde verlegen, steh’ nicht mehr 4 Vgl. Capelle 2008, S. 132: »Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht.« Dieser auf Heraklit zurückgeführte Aphorismus ist jedoch nur eine vage Anlehnung an das Original (ποταμοῖσι τοῖσιν αὐτοῖσιν ἐμβαίνουσιν ἕτερα καὶ ἕτερα ὕδατα ἐπιρρεῖ); der zweite Satzteil (»wir sind es und wir sind es nicht«) ist nicht authentisch (vgl. Held 1980, S. 326).

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recht dazu // und denke: Oh, blast mir doch in die Schuh’ // und gebe nur ganz ungern zu / Ja, ich gehöre dazu // Und dann denke ich zuweilen doch wieder: Schau // es gehört der und dieser ja auch noch dazu // und dann gehöre ich doch wieder gern dazu // und steh’ dazu // So gehöre ich dazu, gehöre zugleich nicht dazu // und stehe dazu, stehe zugleich nicht dazu // bin manchmal stolz und habe manchmal genug // und das gehört dazu.« 5 In diesem Wechselspiel von Zugehörigkeit und Abgrenzung konstituiert sich unsere Identität. Die »Patchworkidentität« (Keupp 1999) der Postmoderne kann als ein fragmentiertes Nebeneinander von verschiedenen, teils gegensätzlichen Persönlichkeitsaspekten verstanden werden. Seelsorgerinnen unterstützen Patienten dabei, ihre aktuelle und oft existenzielle Situation mit jenen Teilidentitäten, die in dieser Lebenslage nicht oder nur schwer zugänglich sind, in Verbindung zu bringen (vgl. Wanderer 2017, S. 186): »Die Krankenhausseelsorge hat nicht so sehr Anteil an der Kon­ struktion der Teilidentität eines Menschen als Patient, sondern sie vermittelt vielmehr diese Teilidentität mit der biographischen, sozialen und religiösen Identität einer Person« (Haker 2014, S. 43). Identitätsbildung ist nach George Herbert Mead ein Konstrukt zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung, zwischen dem Ich als erkennendem Subjekt und dem Ich als erkanntem Objekt (vgl. Mead 1968). Auch das subjektive Ich ist keine Einheit, sondern ein Zusammenspiel des impulsiven mit dem reflektierten und dem erleidenden Ich. Unsere Identitätsbildung ist also vielgestaltig: Wir steuern, lassen uns aber auch treiben, wir »driften« und »dümpeln« durch die Lebenskontexte, oft ohne zu wissen, was diese mit unserer Identität machen. Nebst der Identifikation kennen wir auch den emanzipatorischen Ausbruch aus bisherigen Identitätsstrukturen und -mustern sowie den ungewollten Identitätsverlust, etwa durch den Wegfall 5 Verschriftlichung aus dem Berndeutschen: TW; vgl. auch https://www.youtube.com/watch?v=FqyJwf-WBtc (Zugriff am 03.11.2020)).

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von Partnern, Familie, Heimat oder Beruf. Die Bildung der individuellen Identität ist stets an unsere sozialen Interaktionen gekoppelt. Das subjektive Empfinden der eigenen Situation und die Art und Weise, wie wir uns auf jemanden oder etwas beziehen und einlassen, hat permanente Auswirkungen auf unsere Persönlichkeit. Das Konzept einer Ich-Identität ist also nur bedingt brauchbar. Unser ganzes Leben ist durchsetzt von zufälligen Begegnungen, die wieder von anderen zufälligen Dingen durchkreuzt werden können. Kulturelle, geografische und zeitgeschichtliche Faktoren prägen uns, ohne dass damit eindeutige Zugehörigkeiten entstehen. Aus einer systemischen Perspektive sind es weniger die Interventionen, sondern die sich selbstorganisierenden Prozesse, die sich für die Stabilisierung als nachhaltig und effektiv erweisen. Häufig sind es unspezifische Wirkfaktoren, die heilsame Prozesse ermöglichen und unterstützen. Nicht allein die Behandlungstechniken, sondern ebenso die Begegnungskontexte entscheiden über das Gelingen einer hilfreichen Begleitung.

Krankheitsbedingte Dimensionen der Identitätsbildung

Was im Krankheits- oder Genesungsprozess sinn- und identitätsstiftende Wirkung hat, bleibt offen und ist u. a. von Sinndimensionen und der Ausprägung verschiedener Persönlichkeitsdimensionen abhängig. Mit der Sinnforscherin Tanja Schnell (2016) kann eine vertikale Selbsttranszendenz (explizite Religiosität oder Spiritualität) von einer horizontalen Selbsttranszendenz (soziales Engagement, Naturverbundenheit, Generativität) unterschieden werden. In allem, was uns an Heilung und Linderung widerfährt, sind Anteile eigener Bewältigungsmuster und -strategien enthalten. Von der Verwirklichung eines kleinen, aber lange gehegten Wunsches über die Befreiung von selbst- oder fremdauferlegten Aufträgen, von der kreativen Umsetzung eines Entwicklungsschrittes über die entschiedenere Vertretung einer eigenen Überzeugung oder Werteorientierung: Menschen in Krisen suchen nach Selbstwirksamkeit und nach einem trittsicheren Weg, wie der Bergsteiger nach dem Felshaken in der Felswand.

Selbst- und Fremdbestimmung133

Menschen in Krisen erleben sich als entfremdet. Die Welt befremdet sie und lässt sie – so die subjektive Erfahrung – außen vor. Wenn es Seelsorgerinnen gelingt, dieses Fremdsein nicht in Abrede zu stellen, sondern in den Rahmen des Gastseins zu stellen und damit die Fremdheit positiv zu konnotieren, können damit Prozesse der Selbsttranszendenz ausgelöst werden. Die Erfahrung von Krisen zeigt nun aber auch, dass die Identifikation mit Traditionen in Zeiten verloren geglaubter Identität stabilisierender wirkt als die fragilen Konzepte individualistischer Spiritualität.6 Die von Jean Piaget (1995) geprägten Begriffe der Akkomodation und der Assimilation bieten aus der Perspektive der kognitiven Entwicklungspsychologie eine Erklärung für das genannte Phänomen an: in Phasen, da unsere innere Balance durch Krankheiten oder andere Störungen bedroht ist, sind auch die Handlungsmöglichkeiten, uns Anforderungen und Impulse der Umwelt einzuverleiben (sog. Assimilation), eingeschränkt. Einfacher ist es in der Regel, Anpassungsleistungen zu vollbringen, die als Erweiterung der bereits bekannten kognitiven Organisationsstruktur (sog. Schemata) auf eine Angleichung an die Umweltanforderungen hervorgerufen werden (sog. Akkomodation). In Begleitprozessen kann es allein aufgrund der seelsorglichen Präsenz zu akkomodierenden Phänomenen kommen: Menschen, die sich ansonsten kaum über Glaube und Religion unterhalten, fühlen sich – zustimmend, ablehnend oder indifferent – herausgefordert, sich religiös zu positionieren. Ein geeignetes Maß an Zurückhaltung und an explorierenden Fragen durch die Seelsorgerin schafft den Raum, in dem es Menschen wagen, sich mit Traditionen, Geschichten und Symbolen auseinanderzusetzen. Das Wagnis wird dadurch belohnt, dass in der Auseinandersetzung mit – eigenen oder frem6 Das gilt insbesondere auch für die individualistisch zugespitzten Konzepte von Spiritual Care, die sich dem Verdacht der »Dekontextualisierung« und »Enträumlichung« des Menschen aussetzen (vgl. Mathwig 2014, S. 32). Anders Roser, der in der Spiritualität eine Dimension sieht, die Individualität verbürgt und den Einzelnen vor »Übergriffen sowohl des Gesundheitswesens als auch von Religionsgemeinschaften bewahrt« (Roser 2011, S. 49).

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den – Traditionen der Gehalt verschütteter oder vergessener Elemente wiederentdeckt werden kann.

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Selbst- und Fremdbestimmung135

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4.2 Transkulturelle Kommunikation Die Relativierung religiöser Identitäten und der Verzicht, Gläubige und Ungläubige, Religionsverfechter und Religionsverächter kategorisch zu unterscheiden, legt eine transkulturelle und transreligiöse Betrachtungsweise nahe. Darunter wird die Fähigkeit verstanden, eine andere Person in ihrer eigenen Lebenswelt zu sehen und zu verstehen. Die kulturellen Unterschiede werden zwar beachtet und mit Interesse, Neugier und Respekt in Erfahrung gebracht, aber nicht mehr Merkmalen einer Zugehörigkeit zugeordnet. Vielmehr wird von einem dynamischen Kulturverständnis ausgegangen: Kultur ist keine homogene Größe, sondern als Prozess zu verstehen, in dem ständig neue Bedeutungsräume entstehen (vgl. Weyel 2013, S. 301). Dieses Bedeutungsgewebe entsteht vorrangig im Feld des »Nichtmehrweiterwissens« und an den Grenzen des eigenen kulturellen Wissens. Kulturen mischen und verändern sich. Transkulturell offene Räume entstehen im Rahmen seelsorglicher Begleitung, wenn wir unsere eigenen Deutungen zurücknehmen und die Individualität des Gegenübers zum Maß der Dinge erheben (vgl. Weyel 2013, S. 308 f.). Dabei gilt es zu bedenken, dass wir in Krisen gerne auf Vertrautes zurückgreifen. Erinnerungen an gute, frühere Erfahrungen vermitteln uns in bedrohlichen Zeiten Halt und Geborgenheit. Die katathym-imaginative Psychotherapie hat den Rückgriff auf innere Ressourcen längst methodisiert. Auch ohne Methodik und psychotherapeutische Zielformulierungen sind haltgebende und sicherheitsstiftende Angebote ein bewährtes Instrument seelsorglicher Bemühungen. In der seelsorglichen Begleitung geht es oft darum, andere darin zu unterstützen, im Krankenhaus das tun zu können, was ihrer Tradition entspricht: »Die Seelsorge fragt sorgfältig nach den Phänomenen in den jeweiligen religiösen Kontexten der Patientinnen, sowohl bezüglich ihrer Herkunft als auch ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung. Sie ist sich dabei der eigenen Wahrnehmungsperspektive bewusst, die im Dialog mit anderen Wahrnehmungsperspektiven relativiert, vertieft und korrigiert wird.« (Morgenthaler 2009, S. 155)

Transkulturelle Kommunikation137

Denken wir beispielsweise an Kinder, für welche die Welt und die erfahrbare Wirklichkeit noch fremd sind und die ihre eiserne Ration an Vertrautem doch stets bei sich tragen: »Kinder kompensieren ihr Vertrautheitsdefizit durch Dauerpräsenz des Vertrauten« (Marquard 2013, S. 48). Was bei Kindern Teddybären oder andere Übertragungsobjekte leisten, können bei Erwachsenen kulturelle Vertrauenskontexte oder tradierte Geschichten, Lieder und Rituale sein. Marquard ortet im Rahmen seiner Endlichkeitsphilosophie den kritischen Lebensphasen eine Aufwertung von Vergangenheit und Langsamkeit zu: »Vor allem aber sind da die Traditionen, die – ungeachtet ihrer Neutralisierung zugunsten der modernen, der schnellen Rationalisierungen  – in der modernen Welt begrüßenswert bunt und vielgestaltig  – sozusagen multikulturell  – und dadurch individualitätsfreundlich vorhanden sind: in der Regel intakter, als wir es wahrhaben wollen. Unter ihnen haben alte Üblichkeiten einen besonderen Vorteil: Gerade in einer Welt mit hoher Innovationsgeschwindigkeit sind alte Lebensformen am wenigsten veraltungsanfällig, weil sie schon alt sind.« (Marquard 2013, S. 49) Das Bewahren entschleunigt. Das Erinnern hat kompensatorische Kraft im Kontext einer unkontrollierbar fortschreitenden Krankheit oder einer unvertrauten Umgebung. Das Teilen von traditionellen Elementen mit kulturell verwandten Menschen gleicht dem Freund in der fremden Stadt, der alles in einem anderen, weniger bedrohlichen oder befremdenden Licht erscheinen lässt.

Transkonfessionelle Öffnung

Krankenhausseelsorge verfügt idealerweise über einen Pool von Vertretungen religiöser Gemeinschaften, die bei Bedarf kontaktiert werden dürfen und ehrenamtliche (oder besser: vergütete) Einsätze leisten. Der fachliche Qualitätsanspruch und die gesetzlichen Bestimmungen (Seelsorgegeheimnis, Datenschutz) können

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auf der Basis eines Freiwilligenstatus zwar nur bedingt erfüllt werden, aber das Bedürfnis von Patientinnen zu verstehen und verstanden zu werden, ist so groß, dass diese Einbußen an professionalisierten Standards toleriert werden können. Allein der Sprache wegen haben Vertretungen aus dem eigenen Kulturraum einen anderen, persönlicheren Zugang. Was wir verständnisvoll anzuschauen und zu verstehen versuchen, beginnt sich zu wandeln. Ein großer Teil der Patienten aus anderen Kulturen hat zudem Migrationserfahrungen und damit oft traumatische Geschichten und Bilder zu verkraften. In Migrationskontexten existieren oft Tabus und Berührungsängste, die nur im Rahmen einer kultursensiblen bzw. kulturnahen Seelsorge thematisiert werden können. »Von einer Öffnung kann insofern gesprochen werden, als die christlichen Seelsorgenden in der Institution, in der sie arbeiten, oftmals einen Bereitschaftsdienst sicherstellen und alle Bedürftigen, unabhängig von ihrer konfessionellen Zugehörigkeit, seelsorgerisch betreuen. Diese Betreuung will nicht missionarisch sein, sondern die Überzeugungen jedes Einzelnen respektieren. Sie stellt ihr Angebot auch Menschen zur Verfügung, die keiner christlichen Konfession angehören.« (Schmid et al. 2018, S. 12 f.) Die Öffnung gegenüber anderen Religionen und Kulturen sowie gegenüber Vertreterinnen der jeweiligen Glaubensrichtung fordert vom bestehenden Seelsorgeteam eine neue Kultur: die zwar traditionellerweise christlich-theologisch ausgebildeten und konfessionell geprägten Seelsorger haben in den letzten Jahrzehnten ein überkonfessionelles Selbstverständnis errungen, innerhalb dessen grundsätzlich alle zu allen Bedürftigen gehen, unabhängig derer religiösen und kulturellen Zugehörigkeit, insbesondere auch zu jenen, die keine Konfession oder Religion angehören oder sich dezidiert als Atheistinnen oder Agnostiker verstehen. Mit der Einbindung einer religionseigenen Person in das Seelsorgeteam werden neue und gleichzeitig alte Strukturen bedient. Das bedeutet, dass die Seelsorge in sich bi-kulturell aufgestellt ist: Einerseits spielt die eigene Konfessionszugehörigkeit oftmals keine oder eine untergeordnete Rolle, anderseits wird diese geradezu zum Markenzeichen. Dieses

Transkulturelle Kommunikation139

Spannungsverhältnis kann als Zwischenetappe hin zu einer transkulturellen Seelsorge verstanden werden, in welcher Seelsorgevertretungen aus diversen religiösen Kulturen grundsätzlich für alle Patientinnen, Angehörige und Mitarbeitende zur Verfügung stehen. Der Paradigmenwechsel hin zu einer transkulturellen Seelsorge wird bereits dort ersichtlich, wo verschiedene Konfessionen christlicher Provenienz einander vertreten, und wo Vertretungen verschiedener Religionen sich öffnen und dem religiösen – oder areligiösen – Profil der Person, der sie begegnen, Bedeutung beimessen. »Diese Art von Austausch setzt die Bereitschaft voraus, sich selbst und seine theologischen Positionen in Frage stellen zu lassen und die dadurch entstandene Unsicherheit auszuhalten. Weil ein solcher Dialog das Resultat nicht von vornherein kennt, haben alle, die sich an diesem Dialog beteiligen, das gleiche Recht, gehört zu werden« (Schmid et al. 2018, S. 23). Diese vom Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft verantwortete Zuschreibung trifft nicht nur, aber aus aktuellen Gründen ganz besonders, auf die Einbindung muslimischer Seelsorge zu.

Aktualität und Relevanz muslimischer Seelsorge

Muslime stellen in Deutschland, Österreich und der Schweiz eine signifikante Gruppe unter den Patienten. Die demografische Entwicklung der letzten Jahrzehnte zeigt in den genannten Ländern eine stete Zunahme von Angehörigen islamischer7 Glaubensgemeinschaften. Diese Entwicklung wird voraussichtlich weiter voranschreiten. Die Tatsache, dass in der Schweiz inzwischen über 350.000 (5 %) Muslime ansässig sind8, macht es immer wahrscheinlicher, dass mehrere Generationen von Muslimen hier leben, die mit 7 Zur Sprachregelung: »Muslimisch« und »islamisch« werden innerhalb dieses Buches synonym verwendet. 8 Laut Şahinöz (2018, S. 1) lebten 2016 in Deutschland geschätzt 4,4 bis 4,7 Millionen Muslime.

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Krisensituationen und seelsorglichem Bedarf konfrontiert sind (vgl. Şahinöz 2018, S. 1). Patienten und Angehörige sind häufig dankbar für den vermittelnden Support zwischen unterschiedlichen Wertvorstellungen und Sprachen oder für die Vermittlung eigener traditionellen Elemente (vgl. Aslan et al. 2015, S. 242). Häufig ist eine spezielle Qualität von Wissen gefordert und sprachliche, kulturelle und religiöse Kompetenzen sind gefragt. Durch ausgebildete muslimische Seelsorger werden Patientinnen und Angehörige in ihrer Sprache, Kultur und Religiosität besser wahrgenommen. Sie können sich in ihrer emotionalen, existenziellen und spirituellen Not differenzierter mitteilen und vertrauliche, möglicherweise außerhalb ihrer Kulturzugehörigkeit tabubesetzte Themen adressieren. Im Dialog mit muslimischen Fachpersonen wird zudem deutlich, wie unterschiedlich Religiosität und Spiritualität auch im Islam verstanden und praktiziert werden – und wie wenig man unvermittelt auf den islamischen Hintergrund schließen kann. Darum ist es von Bedeutung, dass sich auch muslimische Fachpersonen in den Gesundheitseinrichtungen einbringen können, und dass sich zwischen den säkularen Institutionen, den Kirchen und weiteren Religionsvertretungen eine transkonfessionelle Begleitkultur etabliert. Denn in den deutschsprachigen Ländern »wächst eine muslimische Gesellschaft heran, die sich als integraler Bestandteil der Gesellschaft betrachten will, die […] aufgeschlossen für die europäische Kultur und die Herausforderungen der Moderne ist« (Ourghi 2017, S. 223). Angelehnt an das bestehende christlich-ökumenische Angebot bildet sich in Deutschland, Österreich und der Schweiz seit einigen Jahren ein Tätigkeitsfeld der muslimischen Seelsorge in öffentlichen Institutionen aus. Imame, die in der Schweiz seither regelmäßig auch als muslimische Seelsorger in öffentlichen Institutionen im Einsatz sind, haben sich die dafür benötigten Fertigkeiten bisher meist autodidaktisch angeeignet. Dazu gehören nebst genauen Kenntnissen über die jeweilige Institution und die spezifischen Bedürfnisse von Seelsorgeempfangenden auch Kompetenzen in professioneller Gesprächsführung und personenzentrierter Begleitung.

Transkulturelle Kommunikation141

»Gerade Imame stehen hier, entgegen ihrer klassischen Rolle, vor der Herausforderung, auf die individuellen Bedürfnisse einzugehen – und Sinndeutungshorizonte für Krankheit und Leid nicht in erster Linie mit theologischen Erläuterungen nachzukommen, sondern den Gefühlen und Ängsten, die sich hinter diesen Fragen verbergen, Raum anzubieten. Auch bei ethischen Entscheidungsprozessen äußern manche Patientinnen und Patienten oder Angehörige den Wunsch, sich nach der entsprechenden religiösen Lehrmeinung zu erkundigen, um sich an dieser orientieren zu können.« (vgl. Lang 2019, S. 11 f.) Der Aufbau fundierter muslimischer Seelsorge bedarf einerseits der Identifizierung relevanter Wissensgebiete und der sorgfältigen Erschließung semantischer Bezugsfelder, anderseits des Transfers islamischer Konzepte in den gesellschaftlichen Kontext seelsorglicher Tätigkeit (vgl. Dziri 2020, S. 12). Dazu gehören die Klärung theologischer und ethischer Motive seelsorglichen Handelns, die Vermittlung von Gottes- und Menschenbildern, die Adaption von tradierten Wertvorstellungen und grundlegender Ideale wie Achtsamkeit, Dankbarkeit, Demut, Geduld, Hoffnung, Liebe, Reue und Scham. Die theoretischen Diskurse islamischer Theologie können im Rahmen einer transkonfessionellen Öffnung seelsorglichen Handelns sowohl für muslimische wie auch für andersreligiöse Seelsorgekonzepte fruchtbar gemacht und gleichzeitig auf deren Anschlussfähigkeit für die Praxis überprüft werden: »Inhaltliche Bezugspunkte bilden hierbei Fragen wie etwa die Erklärung von Leid in einer von einem allmächtigen Gott geschaffenen Welt, das Verhältnis von Selbstbestimmung des Menschen und göttlicher Vorherbestimmung oder Erörterungen über islamische Seele- und Leibkonzeptionen.« (Dziri 2020, S. 14).9 9 Dziri unterscheidet zwischen tugendethisch orientierten, systematisch-theo­ logischen und ritualbasierten Ansätzen. Letzterer basiert auf der Annahme, dass ein »rational-theologisches Erklären von Leiderfahrungen grundsätzlich nicht möglich sei und situative Entlastungen bei Leidbetroffenen ledig-

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Neben inhaltlichen Fragen sind auch Rollen und Methoden klärungsbedürftig. Als Seelsorger muss sich ein Imam bewusst sein, dass er – anders als in der Moschee – weniger normative Aufgaben hat. Er ist primär der konkreten Leiderfahrung und der kontextuellen Situation verpflichtet und versucht, die Sorgen, Ängste und Anliegen seines Gegenübers in Erfahrung zu bringen. In einer säkularen Gesundheitsinstitution muss sich der Imam – wie jede seelsorglich tätige Fachperson – sowohl der Situation der Begegnung mit dem erkrankten Menschen wie auch des Kontextes, in dem diese Begegnung stattfindet, bewusst sein: »Ein muslimischer Seelsorger […] bezieht sich auf die Ängste und Bedürfnisse der Person. Diese verbalisieren zu können, kann schon zu einer enormen Entlastung beim Betroffenen führen. Es geht um diese Entlastung, nicht um eine Problemlösung. Dabei müssen immer die Situation als Ganzes sowie die familiären Verhältnisse im Blick behalten werden. Es geht darum, die Gesamtsituation der betroffenen Person zu erfassen und sie darin zu begleiten. Die Entscheidung treffen die Betroffenen für sich selber, so dass sie ein Leben lang damit leben können. Als Seelsorger kann ich ihnen nur helfen, sich bewusst zu entscheiden.« (Begovic 2020, S. 18)

Fallbeispiele Muslimische Seelsorge

Die Breite seelsorglicher Identitäten bildet sich auch innerhalb muslimischer Krankenhausseelsorge ab, wie die folgenden Fallbeispiele zeigen. Je nach Situation und Bedarf ist die Rolle des Imams der Schlüssel zur situativen Problemlösung. In anderen Situationen

lich durch Formen performativer Kommunikation zu erbringen sind, die im Falle muslimischer Seelsorge folgerichtig einem islamischen Ritualreservoir entstammen. Die Koranrezitation und Gebete in ihren unterschiedlichen Formen zählen hier zu den am häufigsten thematisierten Praktiken entsprechend ausgerichteter Seelsorge« (Dziri 2020, S. 14).

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kann das Auftreten des Imams – traditionsgemäß zuständig für die Leichenwaschung – falsche oder hemmende Signale senden. In der Kinderintensivstation bangen Eltern um ihr schwerkrankes, dreijähriges Kind. Der Vater fordert unter allen Umständen, dass der Sohn künstlich beatmet wird. Er sei verpflichtet, ihn aus religiö­ sen Gründen intubieren zu lassen. Er beruft sich dabei auf den Islam, der ihm als Vater gebiete, sich dafür einzusetzen, dass alles gemacht werde, um das Kind so lange wie möglich am Leben zu erhalten. Nur ein Imam könne in Ausnahmefällen darüber entscheiden, ob die­ ser Grundsatz hinfällig sei. Die Mutter betet inständig und fast ohne Unterlass. Sie weint viel und verweigert aufgrund des Fastenmonats Ramadan das Trinken von Wasser, obwohl es sehr heiß ist. Die Pfle­ gende befürchtet, dass Körper und Psyche der Mutter dieser Belastung nicht standhalten könnten. Das Gespräch mit dem Behandlungsteam zeigt, dass sich die Eltern trotz der palliativen Situation bisher nicht mit dem möglichen Tod ihres Kindes auseinandergesetzt haben. Deutlich wird dabei auch, dass beide Elternteile mit Schuldgefühlen kämpfen. Nach den Strapazen der Auswanderung fühlen sie sich mitverantwortlich dafür, dass ihr Kind in eine palliativmedizinische Situation geraten ist. Ein gewisses Vertrauensverhältnis zwischen Eltern, Pflegenden und Arztpersonal ist zwar durch die lange Behandlung gewachsen, aber die religiöse Begründung der Haltung des Vaters, was die Therapieziele betrifft, führt alle involvierten Personen in eine Pattsituation. Unkenntnis und Hemmungen lassen das Gespräch über die anstehende Entscheidung nicht wirklich zu. Dabei ist die Frage, ob das Überleben höher zu werten ist als die Lebensqualität, in der Intensivmedizin keine Seltenheit und für alle Beteiligten eine Grundsatzfrage. Während sich jedoch heute ein Großteil der Eltern und der familiären Verantwortungsträger gegenüber Argumenten für eine Therapiezieländerung aufgeschlossen zeigt, wird in diesem Fall eine religiöse Überzeugung zum alleinentscheidenden Argument. Nur der Einbezug des religions- und kultursensiblen Imams, der sich mit den modernen klinischen Beweggründen vertraut gemacht hat, kann hier vermitteln. Diese Vermittlung basiert auf Kenntnissen und Fähigkeiten, Ȥ die Überzeugungen, Ängste und (Schuld-)Gefühle der Eltern wie auch die ernsthaften Bedenken und medizinethischen Konflikte

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der Intensivmedizin in Erfahrung zu bringen und zu respektieren (kommunikative Kompetenz), Ȥ die islamische Theologie und die Pluralität der islamischen Traditionen zu kennen, sie in einen aktuellen Kontext zu übertragen und damit religiöse Gebote zu relativieren10 (theologische Kompetenz), Ȥ die nicht unüberbrückbaren Differenzen zwischen dem Euthanasieverbot im Islam11 und der Palliativmedizin durch die Unterschei­ dung von aktiver und passiver Sterbehilfe verständlich zu machen (interprofessionell-fachliche Differenzierungskompetenz), Ȥ die Entscheidungsbefugnis nicht zu übernehmen, sondern den Prozess zu verlangsamen, die Entscheidungsträgerschaft zu erweitern (Einbezug weiterer Angehöriger als Zeugen) und damit die elterliche Verantwortlichkeit zu entlasten (strategische Kompetenz). Die Vermittlung zwischen den Kommunikationssystemen »Islam«, »Elternschaft« und »Intensivmedizin« ist zumindest in diesem Fall auf die Kompetenzen eines Imams angewiesen. Als Imam vertrauen ihm die traditionell-religiösen Eltern. Als institutionell eingebundener muslimischer Seelsorger genießt er das Vertrauen sowohl des medizinischen Behandlungs- als auch des krankenhauseigenen Seelsorgeteams. Ein weiteres Beispiel zeigt, dass auch unabhängig von religiösen Fragestellungen und Religiositätsgraden muslimischer Familien ein Imam wichtige Rollen besetzen kann. Der Vater dreier Söhne liegt präoperativ in einem sehr geschwächten Zustand in der Intensivklinik für Erwachsene. Während des Kranken­ hausaufenthalts verstirbt seine Frau, die schon länger an einer chroni­ schen Krankheit gelitten hatte. Die Bestattung findet innerhalb weni­ ger Tage in Nordmazedonien statt. Für die Söhne ist die Teilnahme an der Bestattung eine kulturell bedingte Notwendigkeit. Der kranke Vater – und auch dessen Söhne – befürchten, dass er die Operation 10 Notwendigkeiten erlauben Verbotenes: In Notsituationen und bei Krankheiten kann eine Hilfestellung durch Erleichterungen – z. B. der Fastengebote im Ramadan – erteilt werden (mündliche Mitteilung an TW von Zeadin Mustafi, Muslimischer Seelsorger am Universitätsspital Bern). 11 Da Gott der eigentliche Eigentümer ist, kann der Mensch über Leben und Tod nicht selbst entscheiden (vgl. Takim 2019, S. 426).

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nicht überleben könnte. Sie wenden sich an den muslimischen Spital­ seelsorger, der als Imam den persönlichen und kulturellen Konflikt nachvollziehen kann und diesem wie auch den Betroffenen mit Empa­ thie, Sachverstand und Hilfsbereitschaft begegnet. Der Konflikt löst sich, als der Imam anbietet, während der Abwesenheit der Söhne den Vater eng zu begleiten, für ihn zu beten und vor der Operation den Koran zu rezitieren. Die Söhne können das annehmen und reisen erleichtert zur Beerdigung ihrer Mutter. Die Vermittlung in einem solchen emotionalen Zwiespalt, der zugleich einen handfesten Interessenskonflikt darstellt, hätte grundsätzlich auch eine andere Person seelsorglicher Professionalität oder familiärer Einbindung übernehmen können. Der Imam bietet mit seiner eigenen Qualifikation hingegen ungleich mehr an, indem er die religiöse Pflicht der Krankenbegleitung mit der rituellen Pflicht von Gebet und Koranrezitation verbindet und bei den vier Männern Autorität genießt. Daraus resultieren Fragen nach den spezifischen Kennzeichen muslimischer Seelsorge sowie den muslimischen Perspektiven auf Krankheit und Krise.

Kennzeichen muslimischer Seelsorge

Muslimische Seelsorge existiert nicht als traditioneller Begriff und ist an kein institutionelles Amt gebunden. Weder die Begrifflichkeit noch das Verständnis dessen, was muslimische Seelsorge beinhaltet, sind somit geklärt. Das semantische Problem des Seelsorgebegriffs christlicher Prägung kann zwar durch das Äquivalent der Begleitung entschärft werden, darunter leidet aber wiederum das Selbstverständnis professioneller Klinikseelsorge. Innerhalb des Islams sind verschiedene Begriffe zu seelsorglichen Tätigkeiten affin  – etwa Ermutigung, Linderung, Trost, Barmherzigkeit oder Zuwendung. Dabei ist die Frage durchaus relevant, welcher Begriff verwendet wird: »Spricht man von ›Fürsorge‹, so lässt sich damit eine ganzheitliche und grundlegende zwischenmenschliche Interaktion beschreiben. Dieser Begriff ist in gewisser Weise ›neutraler‹ als ›Seelsorge‹

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und verhindert eventuelle normative Aufladungen, die im Hinblick auf eine Annäherung an ein islamisches Sorgeverständnis Hindernisse aufwerfen können. Gleichzeitig ist zu beachten, dass der Begriff ›Fürsorge‹ ebenfalls eine lange Bedeutungsgeschichte in sich trägt« (Schmid et al. 2018, S. 16). Hilfeleistungen gegenüber Kranken sind aus islamischer Sicht eine religiöse und kollektive Verpflichtung.12 Sie werden jedoch im Rahmen westeuropäischer Gesellschaften und im Kontext eines Krankenhauses zunehmend von dafür qualifizierten Vertrauenspersonen erwartet und geleistet. Institutionalisierte und integrierte muslimische Seelsorge steht für eine regelmäßige und anerkannte muslimisch-spirituelle Begleitung jener, die darum bitten. Die Kompetenzen muslimischer Seelsorge müssen in der Institution bekannt und anerkannt sein. Eine muslimische Seelsorge ist auch sensibel gegenüber krankenhausinternen Regelungen. Sie wird z. B. die Zustimmung zu Seelsorgekontakten mit den Betroffenen einholen und die Bedürfnisse klären. Das Personal wird durch die muslimische Seelsorge kulturspezifisch beraten. Mit der Zunahme von muslimischen Menschen zweiter oder dritter Generation wird die Vermittlung kultureigener Werte bedeutsamer, zumal einige Familienangehörige möglicherweise nicht im gleichen Land leben oder nicht die Landessprache sprechen. Die Überforderung von Angehörigen in Pflegeund Notsituationen macht es wahrscheinlicher, »dass Menschen, die gerne Hilfeleistungen in Anspruch nehmen würden, alleingelassen bleiben, oder dass fehlende Kompetenzen im Umgang mit Notsituationen insgesamt zu einer Ver12 »Fünf Pflichten hat der Muslim gegenüber seinem Glaubensbruder: Er ist verpflichtet, den Gruß zu erwidern, den Kranken zu besuchen, am Begräbniszeremoniell teilzunehmen, der Einladung nachzukommen und dem Niesenden Gottes Erbarmen zu wünschen.« (vgl. Takim 2019, S. 425). Vgl. auch Ourghi: »Selbstverständlich sind die fünf Säulen des Islam zentral für die kollektive Identität der Muslime und ihr religiöser Wert darf keinesfalls unterschätzt werden. Und dennoch ist der Islam […] mehr als Ritualhandeln, nämlich ein Angebot spiritueller Werte, die ein tolerantes und friedliches Miteinander der Menschen fördern.« (Ourghi 2017, S. 153)

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schlimmerung für die Betroffenen führen. Umgekehrt bedeuten hohe Grade an Institutionalisierung nicht automatisch eine Garantie fürsorglicher Zuwendung. Gerade Institutionalisierungen, die unter wirtschaftlichem Druck stehen, können von Hilfsbedürftigen negativ erlebt werden.« (Schmid et al. 2018, 19)

Muslimische Perspektiven zu Krankheit und Krisen

Das Gottesverständnis im Islam zeichnet sich durch eine fortwährende Schöpfertätigkeit Allahs aus (vgl. Sure 55); die Anthropologie ist gekennzeichnet durch die Kreatürlichkeit des Geschöpfs und seine radikale Scheidung vom Schöpfer (vgl. Sure 15). Das Einhauchen der Seele verleiht dem Menschen Würde und Verantwortung (vgl. Sure 17). Diese Gabe ist im Besonderen mit der Verantwortung und Fürsorge für den Mitmenschen verbunden: »Islamische Seelsorge bedeutet vor diesem Hintergrund, Menschen in ihrer Verantwortung vor Gott zu begleiten und zu stärken.« (Schmid et al. 2018, S. 17). Der Mensch gilt als Gottes Treuhänder auf Erden, dem aufgetragen ist, durch seinen Lebenswandel für Gerechtigkeit zu sorgen (vgl. Sure 33). Seele, Leib und Leben, alles, was zur Existenz gehört, sind dem Menschen als Leihgabe anvertraut. Respekt gegenüber der Leihgabe und Dankbarkeit für diese sind zentrale Motive muslimischer Spiritualität. »Glaube im Islam ist im Kern: Dankbarkeit. Schokr.« (Kermani 2019, S. 269) Undankbarkeit ist demzufolge ein Zeichen des Unglaubens. Die Gesundheit wird als Gut unter anderen Gütern betrachtet. Das Leben wird nicht nach Gesundheits- oder Krankheitsgrad bewertet.13 »Die Frage von Leid wird im Islam weitgehend losgelöst vom Zustand körperlicher Versehrtheit thematisiert […]. Die islamischen Quellentexte binden Leid und Glück nicht notwendig an Rechtgläubigkeit: Gläubige Menschen können demnach höchst 13 Mündliche Mitteilung an TW von Hannan Salamat, Fachleiterin für Islam beim Zürcher Institut für Interreligiösen Dialog ZIID.

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unglücklich sein […]. Der Aufruf, sich in Geduld zu üben, erfährt daher in der muslimischen Praxis der Trauer- und Leidbegleitung eine große Resonanz. Eine befriedigende Antwort auf Situationen des Leids zu geben, kann auch eine islamische Perspektive nicht leisten. Umso intensiver bedarf es nach muslimischer Auffassung daher der Bereitschaft, einander Trost zu spenden, Sorge füreinander zu tragen und Solidarität zu zeigen.« (Schmid et al. 2018, S. 18) Krankheiten und Krisen sollen dazu dienen, sich an Gott zu erinnern und das Verhältnis zu Gott zu vertiefen: »Wenn der Mensch krank ist, erinnert er sich daran, dass die Krankheit von Gott kommt und er von Gott abhängig ist. Im Krankheitszustand kann die Gegenwart Gottes also noch intensiver erfahren werden. Deswegen heißt es im Islam auch: Wer den Kranken besucht, besucht auch (indirekt) Gott.« (Takim 2019, S. 424). Wenn keine Aussicht auf Heilung besteht, darf auch der Tod aus der Hand Gottes entgegengenommen werden (vgl. Sure 5,32). Die Organspende ist im Islam Ansporn und Möglichkeit, Leben zu erhalten. Muslimische Seelsorge kennt keine Berührungsängste mit den Möglichkeiten moderner Medizin. Sie kann – soweit wie möglich und ethisch vertretbar – genutzt werden, um menschliches Leben zu erhalten. Die Kunst der Heilung, die zwar theologisch in der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes begründet ist, liegt in der Kompetenz und in dem Auftragsverhältnis der ärztlichen Fachperson, die hohes Ansehen genießt (vgl. Takim 2019, S. 428 f.). Für die noch junge interreligiöse und transkulturelle Zusammenarbeit in einem Krankenhaus stellen sich Fragen, die wiederum den Dialog innerhalb von multireligiös aufgestellten Seelsorgeteams befruchten und für den Umgang mit muslimischen Patientinnen sensibilisieren können. Dazu gehören grundsätzliche wie auch krankenhausspezifische Fragen.

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Fragen und Perspektiven

Ȥ Was ist unter islamischer Seelsorge zu verstehen und zu erwarten? Wodurch ist sie qualifiziert und was kann sie anbieten? Ȥ Wie kann islamische Seelsorge strukturell gestaltet und in die bestehenden Strukturen integriert, ohne vereinnahmt oder bevormundet zu werden? Ȥ Wie kann der Vorsehungsglaube mit Theodizeefragen in Bezie­ hung gebracht werden? Wie können Hingabe und Hinnahme mit der Verpflichtung, Leben zu erhalten, vereinbart werden? Ȥ Wie geht der islamische Glauben mit menschlichen Grundgefühlen wie Angst, Wut oder Zorn um? Dürfen Krankheit und Leiden auch Grund zur Klage sein? Ȥ Gelten religiöse Verpflichtungen im Islam nur für geistig reife und urteilsfähige Menschen? Und falls ja: Wer bestimmt über diese Reife und Urteilsfähigkeit? Ȥ Wie geht der Islam mit der Tatsache um, dass in der Intensivmedizin oft auf Komfort- oder palliative Therapien umgestellt wird – und also lebensverlängernde Maßnahmen gestoppt werden? Ȥ Wie ordnet der Islam den Hirntod ein? Wie stellt sich der Islam zum DCD-Verfahren (Donation after Cardiac Death)? Gibt es innerislamische länderspezifische Empfehlungen?14 Ȥ Was empfiehlt der Islam in Situationen, in welchen keine gleichgeschlechtliche Pflegeperson zur Verfügung steht? Und: Dürfen alkoholhaltige Medikamente verabreicht werden? Ȥ Ist der islamische Gruß15 (»as-salāmu ʿalaikum« oder »selamun aleykum«), der sofort Nähe und Vertrautheit signalisiert, für ein professionelles Begrüßungsprozedere angemessen?

14 Neben dem Hirntodkriterium kommt in einigen Ländern, unter anderem in Großbritannien, der Schweiz, den Niederlanden, Spanien, Belgien und den USA, das sogenannte DCD-Verfahren zum Einsatz. 15 Ich verdanke die exakte Formulierung und Schreibweise dieses Grußes Zeadin Mustafi, Islamischer Seelsorger am Universitätsspital Bern.

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Der Anspruch der christlichen Theologie, als Leitwissenschaft über andere Religionen zu fungieren, ist mit den professionellen Standards einer zeitgemäßen und transkulturellen Pastoralpsychologie unvereinbar. Das christlich geprägte Seelsorgekonzept, das sich in den säkularen Institutionen mit der nötigen Zurückhaltung und Unabhängigkeit positioniert, hat zwar Modellcharakter (vgl. Takim 2019, S. 442 f.), es sind aber für jede Religion spezifische kontextuelle Anpassungsleistungen nötig. Interne Regelungen haben, soweit es die jeweiligen Leitbilder der Institutionen zulassen, die kulturellen und religiösen Wertvorstellungen zu berücksichtigen und Spielräume für Adaptionen offenzuhalten. Auch neuere wissenschaftlich geprüfte Erkenntnisse – beispielsweise islamisch-theologischer Institute – helfen, die Integrations- und Etablierungsprozesse der Seelsorge anderer Religionen voranzutreiben. Die Entwicklung eines Profils muslimischer Seelsorge muss sich den örtlichen Begebenheiten anpassen und ist auf universitäre Vernetzungen angewiesen. In Österreich, wo der Islam seit 1912 eine staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft ist (seit 2015 mit einem neuen Islamgesetz), herrschen für muslimische Imame, Seelsorger und Religionspädagoginnen andere (Anstellungs-)Bedingungen als beispielsweise in Deutschland oder der Schweiz. Das MannheimerProjekt »Ausbildung in islamischer Seelsorge«, das seit 2008 durch das Mannheimer Institut für Integration und interreligiösen Dialog e. V. in Kooperation mit der Evangelischen Akademie der Pfalz durchgeführt wird, hat eine beispielhafte Entwicklung durchlaufen und Pionierarbeit geleitest. Dasselbe gilt für das Projekt »Weiterbildung für Imame« der Universität Osnabrück, das 2018 nach 8 Jahren zwar beendet wurde, seit 2019 aber mit neuen Kooperationspartnern eine Fortsetzung findet. Auch in der (deutschsprachigen) Schweiz sind zurzeit unterschiedliche Modelle in Entwicklungsphasen. Das Kantonsspital St. Gallen hat mit dem Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) zwischen 2017 und 2018 ein Projekt »Muslimische Seelsorge und Beratung am Kantonsspital St. Gallen (KSSG)« durchgeführt, woraus eine erste Verankerung muslimischer Seelsorge in Notfallsituationen entstanden ist. Ebenfalls mit dem SZIG kooperiert das Universitätsspital Zürich. Dazu widmet sich der Verein Qualitätssicherung der Muslimischen Seelsorge in öffentlichen Institutionen

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(QuaMS) seit 2017 dem Aufbau der muslimischen Seelsorge in öffentlichen Institutionen und bietet zusammen mit dem Kanton Zürich und der Begleitkommission, bestehend aus der Evangelisch-reformierten Landeskirche und der Römisch-katholischen Körperschaft des Kantons Zürich, praxisnahe Einführungen für muslimische Seelsorger an. Einen anderen Weg wählte das Universitätsspital Bern (Inselspital), das 2019 einen eigenen muslimischen Seelsorger anstellte, der Teil des Seelsorgeteams ist. Das Berner Modell zeichnet sich durch (a) die spitaleigene Festanstellung eines durch ein offizielles Bewerbungsverfahren gewählten muslimischen Seelsorgers, (b) die Erfüllung vorgegebener (transparenter) Qualitätsstandards, sowie (c) die Partizipation bzw. Integration in die etablierten Abläufe des Seelsorgeteams aus. Im Unterschied zu anderen Modellen sind damit Mischfinanzierungen und Kompetenzregelungen ausgeschlossen. Das Modell korrespondiert mit einem Seelsorgeverständnis, das unabhängig von Konfessions-, Vereins- oder Dachverbandszugehörigkeit allen Bedürftigen zugutekommt und sich der Neutralität bzw. Allparteilichkeit verpflichtet weiß. Die Bereitschaft, Erfahrungen im eigenen Seelsorgeteam und in übergeordneten Fachgruppen auszutauschen und Neues dazu zu lernen, gilt selbstverständlich auch für die etablierte christliche Seelsorge: Auch sie ist gefragt, ihr Wissen, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten zu ergänzen oder allenfalls auch zu korrigieren. Die Öffnung zu einer »transkonfessionellen« Seelsorge kann nur durch gegenseitiges Interesse und Neugier gelingen. Qualitätsstandards erhalten im Rahmen der Diversität von Ausbildungswegen zunehmende Bedeutung. Sie betreffen im Wesentlichen Grundausbildung, spezifische Zusatzausbildungen und Kompetenzen im Umgang mit Krisen, Kulturen und komplexen Situationen.16 Die Erfahrungen zeigen bereits deutlich, wie sehr eine 16 Für die Anstellungen am Universitätsspital Bern (Inselspital) gelten folgende Kriterien: (1) abgeschlossenes universitäres Studium; (2) Zusatzausbildung Spitalseelsorge auf CAS-Niveau und notfallpsychologische Einführung; (3) Erfahrungen in der (Spital-)Seelsorge inkl. Berufserfahrung im Umgang mit Lebenskrisen und Grenzsituationen; (4) Vertrautheit mit interkulturellem Dialog; (5) Bereitschaft, sich im Kontext einer Universitätsklinik

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transkulturelle Seelsorge auf Selbstkompetenz sowie kommunikativen Kompetenzen aufbaut. Die Ausdrucksfähigkeit in der jeweiligen Landessprache ist für die Entfaltungsmöglichkeiten muslimischer Seelsorge im klinischen Kontext grundlegend. Gute Kenntnisse in den Balkansprachen verschaffen Zugang zu vielen Patientinnen und Zugehörigen. Arabisch sprechende muslimische Seelsorger können nicht nur den Koran rezitieren, sondern erweitern das Seelsorgeangebot um einen zusätzlichen Kulturraum. Die Ritualkompetenz – die Vertrautheit mit den eigenen Ritualen – und der selbstverständliche Einbezug traditioneller Gepflogenheiten wecken Vertrauen und stärken dieses auch in die Institution, die das jeweilige Angebot ermöglicht. Die Aufmerksamkeit gegenüber der muslimischen Vielfalt von Kulturen und Ethnien, das empathische Eingehen auf die Fragen und Sorgen des Gegenübers und das respektvolle Auftreten gegenüber allen Beteiligten verleihen nicht nur der muslimischen, sondern der transkulturellen Seelsorge im Allgemeinen eine professionelle Kompetenz.

Literatur Abu Zaid, N. H./Sezgin, H. (2011): Der Koran und die Zukunft des Islam. Die Basis einer Weltreligion. Freiburg i. B. Aslan, E./Modler-El Abdaoui, M./Charkasi, D. (2015): Islamische Seelsorge. Eine empirische Studie am Beispiel von Österreich. Wiesbaden. Begovic, M. (2020): »Hier bin ich mehr Seelsorger als Imam«. In: Muslimische Seelsorge im Kanton Zürich (Schweizerisches Zentrum für Islam und Gesellschaft). SZIG-Papers 8 (S. 16–19). Freiburg/Schweiz. Dziri, A. (2020): Muslimische Seelsorge im Aufbruch – Konzepte theologischer Fundierungen. In: Muslimische Seelsorge im Kanton Zürich (Schweizerisches Zentrum für Islam und Gesellschaft). SZIG-Papers 8 (S. 12–15). Freiburg/Schweiz. Kermani, N. (2019). Morgen ist da. Reden. München. Lang, A. (2019): Vom Imam zum muslimischen Seelsorger. In: Bildungswege von Imamen aus der Schweiz (Schweizerisches Zentrum für Islam und Gesellschaft). SZIG-Papers 7 (S. 11–12). Freiburg/Schweiz. konstruktiv und reflexiv zu bewegen (internes Reglement, das sich mit den Standards der Interkonfessionellen Konferenz des Kantons Bern (IKK) deckt; vgl. http://www.spitalseelsorgebern.ch).

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Marquard, O. (2013): Endlichkeitsphilosophisches. Über das Altern. Stuttgart. Morgenthaler, C. (2009): Seelsorge. Lehrbuch Praktische Theologie, Bd. 3. Gütersloh. Mösli, P./Kössler, H. (2014): »Ferne aushalten« – Seelsorge im interreligiösen Feld am Universitätsspital Inselspital in Bern. In: G. Wanderer/H. Haker/K. Bentele (Hg.): Religiöser Pluralismus in der Klinikseelsorge. Theoretische Grundlagen, interreligiöse Perspektiven, Berichte aus der Praxis (S. 321–344). Berlin. Ourghi, A.-H. (2017): Reform des Islam. 40 Thesen. München. Şahinöz, C. (2018): Seelsorge im Islam. Theorie und Praxis in Deutschland. Wiesbaden. Schmid, H./M. Schneuwly Purdie/M., Lang/A. Dziri (2018): Muslimische Seelsorge in öffentlichen Institutionen (Schweizerisches Zentrum für Islam und Gesellschaft). SZIG-Papers 1. Freiburg/Schweiz). Takim, A. (2019): Das islamische Menschenbild und die möglichen Grundlagen islamischer Seelsorge. In: T. Roser (Hg.): Handbuch der Krankenhausseelsorge (S. 413–443). Göttingen. Weyel, B. (2013): Ambiguitätstoleranz. Seelsorge als interkulturelle Seelsorge. In: K. Merle (Hg.): Kulturwelten. Zum Problem des Fremdverstehens in der Seelsorge (S. 299–312). Berlin.

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5.1 Die Kompetenz der Ambivalenz1 Ambivalente Wahrnehmungen und Gefühle sind Teil menschlicher Existenz. Das menschliche Dasein ist durchzogen von der Unvereinbarkeit von Motivationen, die »in der nämlichen Brust wohnen, nicht aber zusammen mit der Gleichgültigkeit«, formulierte schon der Zürcher Psychiater Eugen Bleuler (1857–1939) in seinem Essay »Die Ambivalenz« (Bleuler 1914, S. 95–106). Bleuler hat den Begriff der Ambivalenz vor rund hundert Jahren im Spannungsfeld von Psychiatrie und Psychoanalyse eingeführt. Am 26. November 1910 hielt er anlässlich der »Ordentlichen Winterversammlung des Vereins schweizerischer Irrenärzte« (so die Sprache jener Zeit) an der Universität Bern einen Vortrag über Ambivalenz. Dies ist, soweit bekannt, die erste öffentliche Diskussion des Begriffs der Ambivalenz (vgl. Lüscher 2021).2 Mit Ambivalenz bezeichnete Bleuler die pathologische (schizophrene) Verknüpfung von liebevollen und aggressiven Impulsen, die auf ein und dasselbe Objekt bezogen zu sein scheinen. Inzwischen ist der Begriff der Ambivalenz Teil unserer Umgangssprache geworden und dient dazu, »Zerrissenheit«, »Zwiespältigkeit« oder »Unentschiedenheit« zu umschreiben. Doch der Begriff hat auch im wissenschaftlich-soziologischen Diskurs Aufwind erhalten, besonders in der Alterns- und Generationenforschung sowie in Studien zur Identitätsbildung (vgl. Lüscher 2011). Krisen sind Ambivalenzen in besonderem Maß ausgesetzt: Existenzielle Fragen in verschiedenen Kontexten treten auf und unvermittelt an uns heran. Beispielsweise die Frage, wie wir uns der Vorstellung von Endlichkeit zwischen Banalität und Ungewissheit annähern können. Spirituelle Bedürfnisse und Ressentiments gegenüber spirituellen Angeboten begleiten die Suchbewegung nach Trost 1 Dieses Kapitel ist eine überarbeitete Fassung des Beitrags »Ambivalenzsensibilität als Grundhaltung seelsorglicher Begleitung in krankheitsbedingten Krisen«: Wild (2019). 2 In dem von Franz Riklin erstellten Protokoll unterscheidet Bleuler eine af­ fektive, eine voluntäre (»Ambitendenz«) und eine intellektuelle Ambivalenz. Die drei Formen lassen sich nach Bleuler nicht trennen, sondern gehen ineinander über und ergänzen sich« (vgl. Riklin 1910/1911).

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und Transzendenz. Krankheitsbedingt veränderte Empfindungen von Nähe und Distanz wie auch von Autonomie und Bezogenheit fordern Anpassungsleistungen. Gleichzeitig möchte die Erfahrung des Vertrauten in der Not am Bewährten festalten (change aver­ sion). Langzeitpatienten erfahren sich im Klinikalltag oft zwischen erhöhtem Bedarf an seelsorglicher Begleitung und gleichzeitiger Erschöpfung und Müdigkeit hin- und hergerissen. Und nicht selten empfinden schwer erkrankte Menschen nebst der »Lust« am Leben auch eine »Lust« zum Sterben.3 Der Soziologe und Sterbeforscher Allan Kellehear zeigt in seiner Sozialgeschichte des Sterbens auf, dass im Zusammenhang mit den Vorstellungen vom »guten« Sterben und dem richtigen Zeitpunkt hierfür vermehrt Ambivalenzen entstehen (Kellehear 2007, S. 89 ff.). Ambivalenzen manifestieren sich auch in medizinethischer Hinsicht, etwa in der Evidenz und Notwendigkeit eines invasiven Eingriffs gegenüber den Risiken, die jedwede Operation begleiten, und gegenüber den ungewissen Folgen innerhalb des Genesungsprozesses. Die Herausforderung für das Behandlungsteam besteht immer öfters darin, zwischen einem zu verhindernden und einem zu erleichternden Tod abwägen zu müssen. Als Seelsorgerinnen sind wir gefordert, das Ambivalente mit den Betroffenen zusammen auszuhalten. Eingespannt zwischen den institutionellen und rollenspezifischen Erwartungen werden wir nicht nur zu Zeugen ambivalenter Prozesse, sondern zuweilen auch zu Anwältinnen von Ambivalenz in alternativarmen oder ambivalenzscheuen Systemen (vgl. Morgenthaler 2013, S. 293). Menschen, die Ambivalenzen in besonderem Maße ausgesetzt sind, befinden sich häufig in einem »Schwellenzustand«, während dem das, was war, nicht mehr und das, was werden soll, noch nicht ist. Diese Phasen zwingen sie auszuharren, ohne Entscheidungen fällen 3 Vgl. das Goethe-Zitat, das die Ambivalenz zwischen Lebensdrang und Sterbenslust poetisch verdichtet: »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, // Die eine will sich von der andern trennen; // Die eine hält, in derber Liebeslust, // Sich an die Welt mit klammernden Organen; // Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust // Zu den Gefilden hoher Ahnen.« (­Goethe 2018, Vers 1112–1117). Zur Kontextualisierung des Goethe-Zitats vgl. Schmidt 2001, S. 113–115.

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zu können. Krankheitsbedingte Veränderungen erfordern indes oft schwerwiegende Entscheidungen. Aus seelsorglicher Perspektive ist deshalb eine ambivalenzsensibilisierte Grundhaltung gefordert: eine Haltung, die auf die vielfältigen Aspekte von Ambivalenzen horcht – und versucht, zusammen mit den Betroffenen nach der Gunst und der Botschaft, die in Ambivalenzen liegen, zu fragen.4

Ambivalente Atmosphäre – ambivalente Phänomene

Zur Veranschaulichung und Konkretisierung greifen wir nochmals auf das bereits in Kap. 1.2 vorgestellte Fallbeispiel zurück,5 nun mit Fokus auf die Ambivalenzen. Diese können sowohl in der Gesamtschau als ambivalente Atmosphäre wie auch in einzelnen Phänomenen erkannt werden. Die ambivalente Atmosphäre ist im Gesprächsprotokoll schwieriger fassbar und weniger plausibel. Man kann sie am ehesten in der non- und paraverbalen Kommunikation, in Mimik, Gestik und Proxemik6 erkennen: Die Patientin pendelt zwischen erwartungs- und kummervoller, zwischen erleichterter und sorgenbelasteter Verfasstheit. Sie kann innerhalb der kurzen Sequenz lachen und weinen, differenziert abwägen und sich ratlos abwenden, leicht beschämt erröten und abweisend gestikulieren. 4 Nach Bauman (1996) charakterisiert sich Moderne und damit auch das medizinische Paradigma durch eine geringe Ambivalenztoleranz. Es gehe darum, mit Ambivalenzen leben zu lernen und diese als Chancen zu ergreifen: »Das moralische Leben ist ein Leben fortwährender Ungewissheit« – so Bauman in einem seiner letzten Interviews (Haffner 2015, S. 25). Vgl. dazu Otscheret 1988. 5 Das Verbatim der Gesprächssequenz befindet sich unter Kapitel 1.2; die Videoaufnahme kann unter https://www.tomwild.ch/patientengespraech/ (Zugriff am 04.11.2020) eingesehen werden. 6 Die Proxemik (von lat. proximus, »der Nächste«) untersucht und beschreibt die Signale von Individuen, die sie durch das Einnehmen einer bestimmten Distanz zueinander austauschen. Sie beschäftigt sich mit dem Raumverhalten als Teil der nonverbalen Kommunikation. Der Begriff wurde ursprünglich vom Anthropologen Edward T. Hall in den 1960er Jahren geprägt. Anfang des 21. Jahrhunderts erweiterte der Betriebswirt und Pädagoge Armin Poggendorf (2008) das Konzept um den Aspekt der Augenhöhe.

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Zwischen offensichtlicher Zuwendung über trauerdominierte Verlorenheit bis hin zu reizinduzierten Hustenanfällen, möglicherweise ausgelöst durch das Reden und die Dichte der Gesprächssequenz, sind vielfältige Facetten zu erkennen, die einer ambivalenten Grundverfassung zugeordnet werden können. Auch im Verhalten des Seelsorgers kann eine ambivalente Atmosphäre erahnt werden: Die Erfahrung der Begleitung über mehrere Jahre hinweg (teils mit langen Unterbrechungen) hat gezeigt, dass die Gesprächsbereitschaft der Patientin keineswegs selbstverständlich ist, dass ihre Vulnerabilität und die sensiblen Gesprächsinhalte auch Widerstand auslösen können. Einzelne Gespräche mussten abrupt abgebrochen werden. Selten war absehbar, unter welchen Prämissen das Gespräch stattfinden und beendet werden konnte. Im Folgenden werden zwei ausgewählte Phänomene herausgegriffen, die der Verbindung von Theorie und Praxis von Ambivalenzen dienen und die Aufmerksamkeit auf den vielschichtigen Zusammenhang zwischen dem Kasuistisch-Einmaligen und dem Theoretisch-Allgemeinen lenken sollen.

Das Janusgesicht von Nähe und Empathie

Das Bedürfnis nach Nähe zu signifikanten Mitmenschen kann als ambivalentes, nicht auflösbares Moment menschlicher Affizierbar­ keit verstanden werden. Frau Solina äußert den erhöhten Bedarf an sozialem Support: negativ in Form der Angst, alleine zu bleiben oder gar einsam und verlassen zu ersticken – und positiv, indem sie sich infolgedessen mit langen Klinikaufenthalten sozialen Support und damit existentielle Sicherheit ermöglicht. Ein gutes, d. h. verlässliches, soziales Netz mit verbindlichen Beziehungen leistet zweifelsohne wichtigen emotionalen und zuweilen auch materiellen Support: Zugehörigkeit, Nähe, Halt und die Gewissheit, nicht alleine gelassen zu werden, sind relevante Aspekte jeder Salutogenese. Das soziale Netzwerk als Ressource besteht in der Regel aus Angehörigen, Peergroups (Kollegen, Freundinnen) und Fachpersonen (Ärzte, Pflegefachpersonen, Psychologinnen, Therapeuten, Seelsorgerinnen). Gleichzeitig gilt es zu berücksichtigen, dass das fa-

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miliäre Umfeld von Patientinnen mit wenig oder keinen Heilungsaussichten seinerseits mit einer Handlungsunfähigkeit konfrontiert ist. Das Vertrauen in Machbarkeit und Selbstwirksamkeit ist verletzt oder zerstört. Bisher gelebte Modelle von Nähe und Distanz, Autonomie und Bezogenheit, Rollen und Pflichten erfahren eine Veränderung, unabhängig davon, ob sie verhandelt werden oder nicht. Eingespielte Beziehungsmuster verändern sich. Das spüren auch die Patienten; nicht selten empfinden sie gerade diesen Aspekt als belastend und äußern schuldinduzierte Gedanken. Die Selbstbeschuldigung umfasst einerseits die Tatsache der Hilflosigkeit (anderen gegenüber) und des Mehraufwands (dieser anderen infolge der eigenen Erkrankung) – und anderseits bezichtigen sich Patientinnen oft der Undankbarkeit für den erfahrenen sozialen Support. Seelsorglich Arbeitenden gegenüber werden die schuld- und schambesetzten Erfahrungen beispielsweise so artikuliert: »Sie (die Angehörigen, Kolle­ gen, Freundinnen) meinen es ja gut. Ich freue mich, dass sie kommen. Aber dann, wenn sie da sind, wird es mir rasch zu viel. Sie kommen in den dümmsten Momenten, reden zu viel, sie bleiben zu lange und sie überschätzen meine Kräfte.« Auch Frau Solina kannte solche Momente. In der thematisierten Gesprächssequenz manifestiert sich diese Ambivalenz dem Seelsorger gegenüber: Einerseits wünscht sie seinen Besuch ausdrücklich (sie äußerte dies dem Chefarzt der Pneumologie gegenüber, der den Bedarf dem Seelsorger zeitnah übermittelte), anderseits spürt sie in dem Moment, als sich der Seelsorger die Erlaubnis einholt, über ihre Ängste und innere Not zu sprechen, dass genau dies schwierig für sie wird: »Ja, ich dachte, ich möchte gerne darüber sprechen, darum habe ich Sie gerufen. Aber ich merke, es ist doch auch schwierig für mich, da hinein zu schauen, in die Ängste, und darüber zu reden mit jemandem. Wenn ich allein bin mit mir, stelle ich mir vor, dass ich erzählen kann, aber dann merke ich, dass es nicht einfach ist, es macht mich unruhig.« Der Seelsorger verbleibt kurz bei diesem gefühlten Zwiespalt, um der inneren Unruhe Raum zu geben. Und tatsächlich kann die Patientin Aspekte benennen, die sie in ihrer Intention hemmen oder blockieren: »Schwäche zu zeigen, einzugestehen, dass ich doch schwach bin, das ist anspruchsvoll.« Es mag auf den ersten Blick

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erstaunen, dass die Patientin, die schon derart viele Krisen erlitten und überstanden hat, nun Schamgefühle empfindet, Schwäche einzugestehen. Erfahrung und Reife dürfen indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Patientin ihren eigenen Gefühlen gegenüber ambivalent ist; dass sie mit ihrem Schicksal hadert und immer wieder neu um Akzeptanz kämpfen muss. Zudem kann die Präsenz des Seelsorgers eine Provokation beinhalten: Er repräsentiert gewissermaßen die heile Welt, die es außerhalb des Kokons von Krankenhäusern und -betten gibt. Im konkreten Fall vertritt er zudem jene Gruppe, die sich nach dem Studium fachlich weiterbilden und einen Beruf ausüben konnte. Also genau das, was Frau Solina als so schmerzhaften Mangel beklagt. Nun gilt diese Relativierung professioneller Unterstützung natürlich nicht allein für die Seelsorge. Jede supportive Dienstleistung und jede hilfreiche Handreichung muss sich des Umstands bewusst sein, Patienten die Botschaft zu vermitteln, dass sie hilfsbedürftig und abhängig sind. Auch seelsorgliche Unterstützung hat, selbst im Falle guter Qualität und hoher Professionalität, einen ambivalenten Charakter. Der in Beratung und Therapie hochgeschätzten Empa­ thie wohnt ein Janusgesicht inne. Mitgefühl ist grundsätzlich positiv konnotiert und gilt als Triebfeder für moralisches Handeln. Es kann jedoch auch Widerstand provozieren, weil es das leidende Gegenüber noch tiefer in eine Position der Schwäche treibt. In Seelsorge und Beratung ist Empathie vonnöten, um Patienten oder Klienten in ihrer Welt aufsuchen zu können. Das Bemühen darum kann dabei aber auch zur Einfallspforte von Anbiederung, Überidentifikation und unbewusster Abwehr oder Kompensation eigener Verunsicherung verkommen. In der seelsorglichen Praxis geht es darum, Menschen inmitten von Ambivalenzerfahrungen zu sehen und primär in ihren eigenen Bewältigungsstrategien zu unterstützen. Die Erfahrung zeigt, dass erst eine auf Ambivalenzen hin sensibilisierte und ambivalenzfreundliche Grundhaltung den Patientinnen ermöglicht, Stressoren (und zum Teil auch Ressourcen!) ohne Angst vor Gesichtsverlust äußern zu können. In einer auf Genesung, Heilung und Restitution fokussierten Welt, wie sie durch Kliniken repräsentiert wird, geht die

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Seelsorge mit den Betroffenen »auf die andere Seite«, enttabuisiert diese und lotet mit ihnen gemeinsam aus, was sich dort an bis dato unerkannten Möglichkeiten und Widrigkeiten verborgen hält.

Zwischen Kohärenzbedarf und Sinnlosigkeit

Nebst dem Verlust von Gesundheit, Berufstätigkeit und sozialer Integrität tritt während oder nach eines Spitalaufenthalts oft das Gefühl von Sinnverlust als stiller Begleiter auf. Frau Solina klagt zwar nicht explizit über eine grundsätzliche Sinnkrise, aber es fiel ihr schwer zu benennen, was ihre Lebensaufgaben sein und inwiefern sich diese als erfüllt erweisen könnten. In diesem Zusammenhang hätte der Seelsorger auf den Erfahrungsschatz an biblischen Leid- und Bewältigungsgeschichten (z. B. Hiob, Elia, Jeremia) zurückgreifen können, insbesondere auf jenes Gleichnis im Lukasevangelium (Lk 13, 6–9), das von einem Weinbergbesitzer handelt, der einen Feigenbaum (der keine Frucht bringt) aufgrund der Intervention Jesu nicht ausreißen lässt, sondern ihm noch ein weiteres Jahr an Zeit gewährt. Wenn wir das Seelsorgegespräch als Instrument verstehen, dessen strukturbildende Themen Komplexitäts- und Ambivalenztoleranz ermöglichen oder erweitern sollen, dann empfehlen sich Geschichten und Interpretationsvorschläge, deren Ausgang offen ist. Oder aber Motive, die nicht eindeutig sind – beispielsweise eine Zufriedenheit, in der noch eine unerklärliche Unruhe schlummert. Der Seelsorger entscheidet sich im Fallbeispiel für die Variante des gemeinsamen Suchens nach einer Lebensbilanz: In der Hoffnung, dass die Patientin die Gesprächssequenz aufgrund ihrer eigenen Deutungshoheit und -kompetenz narrativ gestalten kann. Oft beobachten wir in seelsorglichen Begleitungen, dass Menschen in gesundheitlichen Krisen einerseits unter dem Eindruck stehen, sich selbst abhandengekommen zu sein, sich aber anderseits gerade in der Krise ihrer selbst bewusst werden und zu subjektiven Sinngebungen gelangen (vgl. Bieler 2017, S. 14). Frau Solina konnte beispielsweise bei einer früheren Begegnung ihre krankheitsbedingt begrenzte Lebenszeit und die fehlende Perspektive auf ein zu erreichendes Durchschnittsalter so konnotieren: »Die Erfüllung der Lebensaufgabe ist

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nicht abhängig von der Anzahl gelebter Lebensjahre.« Später formuliert sie das durchaus realistische wie auch metaphorische Ziel, »in den Garten gehen zu können«. In anderen Gesprächssequenzen äußerte sie, dass es für sie motivierend sei, »schöne Gedichte zu finden« und »über das Leben mit Menschen auf Augenhöhe zu diskutieren.« Intellektuelle Fähigkeiten und verbale Schlagfertigkeit wurden ihr im Verlauf der Krankheit zu Instrumenten, mithilfe derer sie sich selbst als kämpferisch und stark erfuhr. Menschen, die bereit waren, sich argumentativ auf ihre Fragen zu Leben und Tod einzulassen, vermittelten ihr die Erfahrung, ein Gegenüber auf Augenhöhe zu sein. In solchen Momenten fühlte sie sich als Mensch ernstgenommen, genauso wie als Frau und als gebildete Person. Die dokumentierte Gesprächssequenz zeigt nun aber auch, wie schmal der Grat subjektiver Sinngebung ist – und wie rasch Überzeugungen etwa von den Wellen des Schmerzes weggespült werden können. »Ich war«, so Frau Solina, »eine Zeit lang sehr optimistisch und hatte ziemlich viel Energie. […] und dann hat mir diese Ver­ schlimmerung ziemlich den Boden weggenommen.« Patienten, die sich kognitiv gut orientieren und positionieren können, sind nicht nur in Gefahr, ihre Gesprächspartner über ihre emotionalen und kognitiven Wechselbäder hinwegzutäuschen, sondern auch sich selbst zu enttäuschen. Überzeugungen verlieren in der Stille und Dunkelheit der Nacht ihre Plausibilitäten – als würde eine Welle, die eben noch getragen hat, nun verschlingend über sie hereinbrechen. Insbesondere das Lebensende ist durch das Aushalten von Ambivalenzen charakterisiert: Zwischen Trauer und Erleichterung, dass das Ende naht, zwischen Hoffen und Hadern, was die Ungewissheit betrifft, zwischen der Angst vor Schmerzen und der Freude über Schmerzlinderung, zwischen Glauben und Zweifel gegenüber einer den Tod transzendierenden Wirklichkeit manifestieren sich die Grenzerfahrungen der Sterbenden wie auch der Begleitenden. Die Begleitung von Menschen mit progredienten Erkrankungen zeigt immer wieder eindrücklich, wie es in einer finalen Lebensphase zu Transformationen kommen kann: Menschen, die sich Fragen rund um Krankheit, Vergänglichkeit und Spiritualität gegenüber als eher verschlossen gezeigt haben, öffnen sich plötzlich, werden gar überaus

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kreativ und narrativ im Umgang mit vormals tabuisierten Themen. Einige wollen nun reden, andere gerade nicht mehr. Wieder andere nur mit bestimmten Personen, aber gerade nicht mit Angehörigen. Aktiv herbeigeführte Deutungsangebote, von denen der Seelsorger gegen Ende der thematisierten Gesprächssequenz Gebrauch macht, sind zwar stets etwas gewagt und können das Gespräch verengen oder gar in Sackgassen führen. Sie können allerdings auch, wenn sie zum Beispiel in hypothetischer und/oder zirkulärer Frageform eingeführt werden, den Auftakt zu Sinnstiftungen bilden. Voraussetzung dazu ist die Bereitschaft, auf die Kommunikationssignale des Gegenübers einzugehen und diese möglichst passgenau zum Zwecke der Weiterentwicklung spiegeln zu können. Die beiden Schlussvoten zeugen von der Ambivalenz des Ringens um Kohärenz – der Kohärenz der Gesprächssequenz im Besonderem und jener der Suche nach Sinn und Bedeutung des Lebens der Patientin im Allgemeinen: »Ja, das hoffe ich«, kommentiert Frau Solina das Angebot des Seelsorgers – ein sanftes, behutsames Einverständnis zur Tauglichkeit der Hypothese, ohne sich dabei selbst festlegen zu müssen. Der Seelsorger, nun seinerseits bemüht, es beim Angebot bewenden zu lassen und nicht weiter zu diskutieren, greift die Hoffnungstugend auf und relativiert die steile Vorlage (der Seelsorger war selbst etwas überrascht von seiner eigenen Wortwahl) mit einem »vielleicht«, das alles in der Schwebe hält, sowie mit der Einführung der Kategorie des Wissens bzw. eben Nichtwissens. Er unterstützt damit im Verborgenen auch die Erweiterung des zuvor negativ besetzten Hoff­ nungsnarrativs der Patientin, die eingangs erwähnte, dass sie lange gekämpft und gehofft habe, aber nun merke, dass es keine Hoffnung auf Verbesserung gebe.

Ambivalenzsensibilität als Ressource

Seelsorge und Beratung dürfen Grausamkeit und Sinnlosigkeit mancher Krankheitsgeschichten nicht verklären. Das Leben kann sich von Seiten zeigen, die unseren Verstehenshorizont sprengen und unsere Bewältigungsstrategien überfordern. Das Schicksal kann unser Grundvertrauen in Gerechtigkeit und Kausalitäten dermaßen

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erschüttern, dass jeder Trost- und jeder Erklärungsversuch respektlos, absurd oder zynisch wirkt. In gewissen Situationen scheint die Realität nichts als »die Essenz einer erbarmungslosen Selektion« (Krausser 2001, S. 140) zu sein. Die Suche nach dem Sinn, nach dem »Warum« und »Wozu« ist meist ein Weg voller Qualen, gesäumt von Enttäuschungen über repetitive Frageschlaufen. Die letztendlich oft einzig verbleibende Sinnerklärung ist die Akzeptanz der Sinnlosigkeit: »[D]ann darf ich die Sinnlosigkeit des Todes nicht mit Sinn füllen wollen. Jede Sinnsuche würde mich von mir weg, aus mir herausführen. Ich muss die Sinnlosigkeit akzeptieren und hinter mir lassen. Einen anderen Weg, der mich bei mir selbst bleiben lässt, gibt es nicht. In mir drin gibt es keinen Sinn. Und einen anderen will ich nicht«, moniert Andreas Neeser in seiner Novelle »Zwischen den Wassern« (Neeser 2014). Achtsamkeit gegenüber der Ambivalenz von Sinnstiftungsversuchen schützt uns nicht nur vor Vereinnahmungstendenzen, sie hilft uns auch, Dichotomien und Dualismen, die der Vieldeutigkeit der Wirklichkeit nicht gerecht werden, zu entlarven und zu verflüssigen. Dualistische Konstrukte in gesundheitlichen Krisen treten häufig dort auf, wo Ordnung und Chaos, Erfüllung und Leere, Integrität und Fragilität, heilbar und unheilbar oder kurativ und palliativ gegeneinander ausgespielt werden (vgl. Haller 2011). Gerade weil wir dazu neigen, Spannungen zu vermeiden, Widersprüchliches zu verdrängen und Eindeutigkeiten anstreben, wird es zur Aufgabe der Seelsorge, Kehrseiten zu thematisieren. Wir muten den Betroffenen die Entdeckung von ambivalenten Gefühlen, Gedanken und Wünschen zu.7 Wenn Frau Solina beteuert, »ich habe es nicht geschafft, normal zu sein«, kann diese Aussage zwar in bestimmten 7 Anders Klessmann 2018, S. 26: »Wenn das eigene Leben, die eigene Identität durch innere oder äußere Umstände ernsthaft gefährdet erscheint, hat man kaum die Fähigkeit, die Zwiespältigkeit mancher Situationen, des ganzen Lebens und des eigenen Glaubens wahrzunehmen, auszuhalten und zu explorieren.«

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Kontexten (etwa des beruflichen oder innerhalb der Peergroup) verstanden und bestätigt werden. Die Attribution »nicht normal« beinhaltet aber gleichzeitig eine selbstabwertende und selbststigmatisierende Etikettierung, die aus ambivalenzfreundlicher Perspektive umgedeutet oder zumindest entschärft werden kann (vgl. Ritschl 2014, S. 221). Wir können die fließenden Grenzen zwischen Krankheit und Gesundheit dazu nutzen, Normen zu hinterfragen und den Kranken mit seinen widerständigen Fragen als gesunden Störenfried betrachten. Menschen in existenziellen Krisen sehnen sich nicht nur nach Gewissheiten, sie wehren sich gleichermaßen gegen Synthesen und gewichten offene Fragen oft höher als eindimensionale Antworten. Ambivalenz kann vor übereilten Entscheidungen bewahren, denn gute Entscheidungen basieren oft auf einer ausgewogenen Mischung von zielgerichtetem Denken und Intuition; sie sind das Resultat durchlittener Ambivalenz, von Phasen des Haderns und Zauderns. Offene, gegenüber starren Prinzipien unbekümmerte Fragen, können erste Konturen verschaffen und zu (neuen) Strukturen verhelfen. Etwa, indem bestimmte Therapien und medizinische Entscheidungen hinterfragt werden. Oder indem sie jene Facetten unterstützen, die bei aller Todessehnsucht leben wollen. Die Methodik, solche oder ähnliche Spannungsfelder erkennen, zulassen und gestalten zu können, erschöpft sich nicht allein in Ritualen und symbolischen Handlungen. Nebst dem Explorieren fremder Gedankengänge durch einen Perspektivenwechsel, etwa mittels hypothetischer Redewendungen (z. B. »Was wäre, wenn …?« oder »Lassen Sie uns einmal auf die andere Seite gehen!«) und sequenziellen Verbindungen zwischen Situationen und Positionen ist es der Seelsorge aufgetragen, in die Zwischenräume hineinzugehen – zwischen verbittertem Kampf und Resignation, zwischen Affektstarre und Affektlabilität –, hinein in jene »liminalen« Phasen – zwischen »Ja« und »Nein« –, wo die Ungewissheit plagt und die Uneindeutigkeit schmerzt. Sie tut dies in der Kraft des Glaubens an einen Gott, der uns Menschen in Krankheit und Krisen nicht verlässt, jedoch untereinander besondere Solidarität abverlangt.

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Ambivalenz von krankheitsbedingtem Leiden

Auch dem körperlichen Schmerz haftet eine Ambivalenz an: Frau Solina hatte mit Angioödemen und einer Psoriasis mit Gelenkschmerzen zu kämpfen. Die Angst vor unliebsamen, schmerzhaften Berührungen, etwa bei Umlagerungen durch das Pflegepersonal, war allgegenwärtig. Die Patientin hat – und das verbindet sie mit vielen Langzeitpatienten – über Jahre hinweg auf die Sonnenseite körperlicher Zuwendung verzichten müssen. In der sorgsamen Körperpflege des Pflegepersonals und durch die gelegentlichen Sonnenbäder erfuhr sie dennoch vereinzelt leibliche Zuwendung. Ohne ihre verletzliche und verletzte Haut hätte sie keinen physischen Kontakt zu anderen aufnehmen, noch hätte sie der wärmenden Kraft der Sonnenstrahlung gewahr werden können. Schmerz weist auf die Verletzlichkeit hin, die in besonderer Weise dem Organ der Haut anhaftet. Zugleich ist die Haut eines jener Sinnesorgane, die uns die Schönheit der Außenwelt sinnlich spüren lassen (vgl. Bieler 2017, S. 31). Schmerz ist eine komplexe subjektive Sinneswahrnehmung. Er ist im besten Fall erträglich und dient uns als Warn- oder Leitsignal. Je nach Intensität können uns physische Schmerzen aber auch an die Grenzen dessen führen, was wir ertragen, verstehen und beschreiben können. Die Verknüpfung von Schmerzerfahrung und Sinnhaftigkeit ist allerdings der Gefahr von Instrumentalisierungen und Vereinnahmungen besonders ausgesetzt. Wenn es so etwas wie einen Sinn der unerträglichen Schmerzerfahrung gibt, dann liegt er darin, dass er uns in die Gegenwart zurückholt. »Körperlicher Schmerz ist immer Gegenwart, ist unmittelbar, Schmerz ist ›Jetzt‹. […] Solange es weh tut, bin ich noch da« (Wagner 2014, S. 110) – so David Wagner in »Leben«, seiner eigenen und nur leicht fiktional verfremdeten Krankheitsgeschichte. Mit einer ähnlichen Intention beschreibt Péter Nádas eine persönliche Schmerzerfahrung, die ihn in die ultimative Einsamkeit eines Nahtoderlebnisses führt (vgl. Nádas 2006). Nádas gelingt das beinah Unmögliche, jene letzten Minuten und gleichsam gefühlten Stunden zu umschreiben. Der Schmerz seines Herzinfarktes und die damit verbundene Angst haben ihn derart im Griff, dass sein seelisches »Ich« einem Grenzgänger gleich zwischen Kont-

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rolle und Kontrollverlust hin- und herschwankt, sich schwindelhaft zwischen Diesseits und Jenseits bewegt. Als wäre es die Aufgabe des Schmerzes, holt ihn dieser immer wieder aus der Ekstase in die Weltlichkeit und Körperlichkeit zurück, um ihn dort die Not und den Mangel umso intensiver spüren zu lassen. Krankheits- und Genesungsprozesse zeichnen sich häufig durch spiral- oder wendelförmige Entwicklungen aus: Wir erleben das »Zurück« subjektiv als Rückschlag, als Einbuße und Verlust – und gleichzeitig ist das Rückwärts ein Vorbereiten des nächsten Schrittes. Eine ambivalenzsensibilisierte Gesinnung vermag Gesundheit und Krankheit, Leben und Sterben nicht einfach als Gegensätze, sondern als komplementäre Größen zu verstehen. Im Leben ist das Sterben – etwa als Verlusterfahrung oder als »Melancholie der Erfüllung« (Bloch 1985, S. 343) – immer latent vorhanden. Ebenso kann, wie im Unglück das Glück, auch im Sterben Leben entdeckt werden. Die Aufgliederung in verschiedene Persönlichkeitsanteile – selbst der schwer oder unheilbar erkrankte Mensch ist nie nur ein Patient – kann dazu genutzt werden, das Selbstbild und die aktuelle Selbsteinschätzung zu transzendieren.

Literatur Bauman, Z. (1996): Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg. Bieler, A. (2017): Verletzliches Leben. Horizonte einer Theologie der Seelsorge. Göttingen. Bleuler, E. (1914): Die Ambivalenz. In: Universität Zürich (Hrsg.): Festgabe zur Einweihung der Neubauten (S. 95–106). Zürich. Bloch, E. (1985): Das Prinzip Hoffnung. Kapitel 1–32. Berlin. Frank, A. W. (1995): The Wounded Story Teller: Body, Illness, and Ethics. Chicago. Goethe, J. W. (2018): Faust. Eine Tragödie. Konstituierter Text. Hg. von A. Bohnenkamp/S. Henke/F. Jannidis. Göttingen. Haffner, P. (2015): Zygmunt Bauman – Die Welt, in der wir leben. Das Magazin, 27/2015, S. 4–11 u. 22–29. Haller, M. (2011): Dekonstruktion der ›Ambivalenz‹. Poststrukturalistische Neueinschreibungen des Konzepts der Ambivalenz aus bildungstheoretischer Perspektive. Forum der Psychoanalyse 27, S. 359–371. Kellehear, A. (2007): A Social History of Dying. Cambridge.

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Klessmann, M. (2018): Ambivalenz und Glaube. Warum sich in der Gegenwart Glaubensgewissheit zu Glaubensambivalenz wandeln muss. Stuttgart. Krausser, H. (2001): Schmerznovelle. Reinbek. Lüscher, K. (2011): Ambivalenz weiterschreiben. Eine wissenssoziologischpragmatische Perspektive. Forum der Psychoanalyse 27, S. 373–393. Lüscher, K. (im Erscheinen): Ambivalenzen – Skizze einer transdisziplinären Heuristik. In: B. Groß/V. Krieger/M. Lüthy/A. Meyer-Fraatz (Hg.): Ambige Verhältnisse: Uneindeutigkeit in Kunst, Politik und Alltag. Bielefeld. Morgenthaler, C. (2013): Systemische Seelsorge. Impulse der Familien- und Systemtherapie für die kirchliche Praxis (5. Aufl.). Stuttgart. Nádas, P. (2006): Der eigene Tod. In: P. Nádas: Behutsame Ortsbestimmung (S. 34–79). Berlin. Neeser, A. (2014): Zwischen zwei Wassern. Innsbruck/Wien. Otscheret, E. (1998): Ambivalenz. Geschichte und Interpretation der menschlichen Zwiespältigkeit. Heidelberg. Poggendorf, A. (2008): Proxemik in der Teamdynamik – Raumsprache diktieren und interpretieren. In: F. Siems/M. Brandstätter/H. Gölzner (Hg.): Anspruchsgruppenorientierte Kommunikation (S. 234–250). Wiesbaden. Schmidt, J. (2001): Goethes Faust. Erster und Zweiter Teil. Grundlagen – Werk – Wirkung (2. Aufl.). München. Riklin, F. (1910/11): Mitteilungen. Vortrag von Prof. Bleuler über Ambivalenz. In: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift, 43, S. 405–407. Ritschl, D. (2014): Zur Theorie und Ethik der Medizin. Philosophische und theologische Anmerkungen. Neukirchen-Vluyn. Wagner, D. (2014): Leben. Reinbek. Wild, T. (2019): Ambivalenzsensibilität als Grundhaltung seelsorglicher Be­gleitung in krankheitsbedingten Krisen. In: Wege zum Menschen, 71 (5), S. 370–382.

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5.2 Interventionen in Entscheidungskonflikten Es braucht keinen spezifisch systemischen Blick auf eine Krise, um zu erkennen, in welch grundlegender Weise eine ganze Familie, eine Partnerschaft und weitere Angehörige von dieser Krise mitbetroffen sind. Nahe Angehörige werden aus ihren bisherigen Rollen herausgerissen, tragende Bindungen werden labiler und konfliktanfälliger (vgl. Morgenthaler 2013, S. 287). Im Rahmen der Krankenhausseelsorge kommt oft nicht nur die Kostbarkeit einer Partnerschaft zum Vorschein. Auch langjährige Schwierigkeiten werden genannt oder gar eingeklagt. Ambivalenzerfahrungen begleiten partnerschaftliche Beziehungen ohnehin. In einer (gesundheitlichen oder allgemeinen Lebens-) Krise können Ambivalenzerfahrungen zur Zerreißprobe werden und sich belastend auf die Gesundheit und auf die Beziehung ausweiten. Da Partnerschaften einen hohen Relevanzfaktor für Entwicklungs- und Genesungsprozesse darstellen (vgl. Leuchtmann/ Bodenmann 2017; Chopik/O’Brien 2017; Ditzen et al. 2019), sollen hier zwei Paarsituationen in ihrer je eigenen Konflikthaftigkeit vorgestellt – und nach seelsorglichen Umgangsformen damit gefragt werden. Ambivalenzerfahrungen manifestieren sich in Beziehungskrisen häufig als explizite oder implizite Frage: Bleiben wir zusammen oder trennen wir uns? Diese Frage hat existenzielle Bedeutung und ist in der Regel mindestens von einem Partner eine deutliche Infragestellung der Beziehung. Ambivalenzen manifestieren sich in Gesundheitskrisen häufig als explizite oder implizite Frage: Bleiben wir zusammen oder trennt uns die Krankheit bzw. der Tod? Existenzielle Fragen in verschiedenen Kontexten brechen auf. Ambivalenzen sind stets auch Ausdruck von Differenzierungs- und Wahrnehmungsfähigkeiten. Die Fallbeispiele dieses Kapitels können als Antwortversuche auf die Frage verstanden werden, welche Formen Seelsorge in hochdifferenzierten und -spezialisierten gesellschaftlichen Kontexten annehmen kann, die tief in die körperliche und seelische Welt von Menschen eingreifen und zu Entscheidungskonflikten führen.

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Fallbeispiel (1): Ambivalenzen einer Beziehungskrise

Herr und Frau M. sind seit 18 Jahren in einer Paarbeziehung, seit 14 Jahren verheiratet. Sie leben zusammen mit ihren drei Kindern (14-j., 12-j., 10-j.) in einem Haus in ländlicher Umgebung. Herr M. ist 48 Jahre alt, von Beruf Mittelschullehrer, hat diverse politische und kulturelle Mandate, spielt selbst in einer Bluesband Bassgitarre. Er kann sich differenziert artikulieren und seine eigenen »Baustellen«, wie er seine individuellen Probleme bezeichnet, benennen. So beklagt er sein (unübersehbares) Übergewicht, regelmäßigen Alkoholkonsum, Burn-out-Syndrome, Bluthochdruck (arterielle Hypertonie) und eine große Konfliktscheue, die er selbst als Abgrenzungsproblem deutet. Frau M. ist 45 Jahre alt, Pflegefachfrau in Teilzeitanstellung und Familienmensch. Auch sie kann sich selbst gut umschreiben. Sie bezeichnet sich als naturnah und eng verbunden mit den drei pubertierenden Kindern. Sie sei jedoch am Limit ihrer Geduld, chronisch unzufrieden und oft gereizt. Das erste Gespräch eröffnet sie mit den Worten: »Helfen Sie uns zu klären, ob wir noch eine Chance haben.« Ihre weiteren Ausführungen zeigen deutliche und klassische Merkmale von Ambivalenzen in Partnerschaftskonflikten: Sie kreisen häufig und fast zwanghaft um dasselbe Thema. Ihre Gefühle und gegensätzlichen Impulse führten sie in eine Zwickmühle. Bis anhin habe sie keine Entscheidung treffen können aus der Angst heraus, sich falsch zu entscheiden und dann Vorwürfe machen zu müssen. Ohne Entschluss hingegen mache sie sich den Vorwurf, sich nicht entscheiden zu können. Im Verlauf des Paargesprächs werden dann auch Vorwürfe gegenüber ihres Partners laut: Sie: »Hätte er nicht diese Schlampigkeit, die Verschwendungssucht und Gleichgültigkeit, dann müsste ich nicht so oft herumnörgeln und mich nicht so fürchterlich aufregen.« Er: »Wenn sie nicht ihren Ordnungsfimmel hätte und nicht so kon­ trollierend wäre, wenn sie mal fünf gerade sein lassen könnte, hätten wir es doch eigentlich ganz gut.« Die Paardynamik, die sich hier unschwer erkennen lässt, entspricht der Kollusion, wie sie Jürg Willi (1975) schon vor über 40 Jahren beschrieben hat. Die Dialektik partnerschaftlicher Vorwürfe zeigt sich darin, dass beide Partner jeweils einen Pol des Entwicklungs-

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konflikts besetzen und sich in der Polarisation gegenseitig bestätigen. Die Genugtuung, recht zu haben, hilft ihnen nicht weiter. Es fühlt sich eher wie ein Trostpreis an, der weder wirklich tröstend noch beziehungsförderlich ist. Sie sagt: »Du kannst nie ›Nein‹ sagen.« – Er antwortet: »Du willst mich immer umerziehen.«. Sie klagt ihn an: »Du vernachlässigst die Familie.« – Er klagt zurück: »Du willst mich vereinnahmen.« Das Paar war einige Jahre, vor allem in jenen ohne Kinder, glücklich miteinander. Beide haben sich gegenseitig geliebt, haben Gemeinsamkeiten gefunden und geteilt. Mittlerweile aber sind sie in einem Strudel von gegenseitigen Abwertungen angelangt und darin gefangen. Beide Partner haben einen intra-personalen Ambivalenzkonflikt, der mit zunehmender Beziehungsdauer interpersonal ausgetragen wird.8 Die Zwiespältigkeit, die sich ursprünglich in beiden Individuen (wir alle sind ambivalent!) manifestiert hat, ist im Laufe der Beziehung zu einem nur noch schwer überbrückbaren Gegensatz geworden. Die beiden Partner erleben sich nun polarisiert, was die Konfliktdynamik entscheidend verändert. Der Konfliktgewinn ist zunächst schwer zu erkennen, aber es gibt ihn: Beide brauchen sich nicht mit den dem Partner zugeschriebenen Tendenzen bei sich selbst auseinanderzusetzen. Sie müssen ihre Komfortzonen nicht verlassen und das eigene Verhalten nicht hinterfragen (vgl. Clement 2004, S. 156). Das Problem des einen ist die Lösung des anderen – und umgekehrt. Wie kommt ein Paar aus diesen Verstrickungen der Polarisation wieder heraus? Ein Zurück in den Urzustand funktioniert nur im Modell oder im Labor eines geführten Paargesprächs, da man durchaus die Erinnerungen an die Anfänge der Beziehung aufleben lassen und die damit verbundenen Konnotationen und Gefühle nutzen kann. Aber alle und erst recht die Betroffenen wissen natürlich nur zu gut, dass das Rad der Zeit nicht zurückgedreht werden kann. Wie können Paare also mit Polarisationen (Ambivalenzverlust) und Projektionen konstruktiv umgehen? 8 Das in der Skizze (S. 173) dargestellte Modell ist eine Weiterentwicklung des sexuellen Kollusionsmodells von Ulrich Clement, der die Ambivalenzen auf die initiativen und rezeptiven Tendenzen der Paardynamik bezieht (vgl. Clement 2004, S. 118).

 

Interventionen in Entscheidungskonflikten173

Skizze (1) in Kap. 5.2 (Manuskript S. 190)      Komplementarität  der intrapersonalen  Attribute  (Balance):   

 

 

      Polarisierung  der interpersonalen  Attribute  (Disbalance):          Stabilisierung  durch ein „Drittes“  (Triangulation)  und Wiedergewinn   der Komplementarität 

 

 

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Die Selbstregulation von Paarbeziehungen erfolgt in der Regel mittels Stabilisierung durch eine Triangulation (s. Skizze). Beziehungen triangulieren sich häufig schon in den ersten Jahren über ein gemeinsames Drittes. Die Familiengründung9 oder ein anderes größeres Projekt transformieren die in sich instabile Dyade in eine Dreiecksbeziehung. Ambivalenzen manifestieren sich zwar auch dort wieder – man denke an die Konflikte bei Kindererziehung, im Umgang mit Geld, Zeit und Sexualität –, aber Akzeptanz und Toleranz sind in der Triangulation ausgeprägter, die gegenseitige Abwertung und damit korrelierende Selbstverteidigung geringer. Interventionen schliessen mit Vorteil an den Lebenskontexten des Paares an. Im skizzierten Fallbeispiel ging es in einem ersten Schritt darum, das Ziel zu revidieren. Das Definieren eines gemeinsamen Ziels erforderte, eine Ebene zu finden, auf der beide Partner ihre je eigene und polarisierte Befangenheit verlassen und in einen übergeordneten Konsens einstimmen können. Konkret wurde dieses Dritte gewonnen, indem die 18-jährige Paarbeziehung personali­ siert wurde: »In welcher Lebensphase befindet sich Ihre Beziehung zurzeit? Was denken Sie, braucht eine 16- oder 18-jährige, um sich wohl zu füh­ len? Was muss man einer 16- oder 18-jährigen wohl oder übel zuge­ stehen?« Und weiter: »Wovon möchte sich Ihre Beziehung möglicherweise emanzipieren? Was will sie erreichen und an Neuem erfahren? Worin braucht Ihre Beziehung mehr Aufmerksamkeit und worin mehr Freiheit? Wer von Ihnen kann dieser Beziehung welches attraktive Angebot machen?« Das unausgesprochene Motiv hinter dieser Intervention  – Fragen sind Interventionen – lautete: Vorwärts zur gemeinsam verantworteten Beziehung voller integrierten Ambivalenzen! Die polarisierte Attribution ist im Grunde nicht falsch, sondern eben nur einseitig. Wenn die Partner die eine Seite der Attribute als Teilwirklichkeit des Ganzen wiedererkennen, entdecken sie häufig jene Seiten und Charaktermerkmale, die ihnen an sich behagen und die ihnen 9 Damit ist nicht gemeint, jedes gezeugte und geborene Kind sei ein Partnerschaftsstabilisierungsprojekt.

Interventionen in Entscheidungskonflikten175

zudem zur eigenen Weiterentwicklung dienen. Es ist allerdings notwendig, das eine und das andere als zwei Aspekte desselben zu sehen (vgl. die Vexierbilder oder die Kehrseite der Medaille). Das Nicht-Gewählte in das Gewählte einfließen zu lassen und die komplementäre Gegenseite neu zu beachten, bedeutete für sie: Der ihr oberflächlich, verschwenderisch und passiv erscheinende Mann ist auch ein unterhaltsamer, großzügiger, geduldiger und gemütlicher Partner; Seiten, die sie an ihm durchaus schätzt und bei sich selbst vermisst. Und er entdeckte, dass ihre pingelige eine aufmerksame, ihre unnachgiebige eine konsequente und ihre dominante eine verantwortungsvolle Komplementärseite beinhalten, von denen er durchaus profitiert. Und: Dass das eine nicht ohne das andere zu haben ist. Auch sie ist – wie er selbst – eine Janusgestalt! Das Paar stand vor der Herausforderung, die im Lauf der Zeit polarisierten Attribute als notwendige Aspekte der gemeinsam zu verantwortenden Beziehung zu verstehen und zu integrieren. »Ein Paar verhält sich umso gestörter miteinander, je mehr beide glauben, den anderen zu kennen – und folglich keine Überprüfung ihrer Vermutungen mehr nötig finden.« (Schmid-Fahrner 1997, S. 141). Die Wiedereinführung der Ambivalenzen ließ die verdrängten, in Vergessenheit oder in den Hintergrund geratenen komplementären Aspekte wieder sichtbar und nachvollziehbar werden (vgl. RiehlEmde 2003, S. 228).

Fallbeispiel (2): Ambivalenzen einer gesundheitlichen Krise10

Herr und Frau L. sind seit zehn Jahren in je zweiter Ehe verheiratet. Beide haben erwachsene Kinder aus ihren früheren Ehen. Sie ist sechzig Jahre alt, von Beruf Sekretärin und leidet an einer schweren Niereninsuffizienz (dialysepflichtig) mit Komplikationen in den letzten zwei Jahren. Sie wirkt wach und interessiert, ist aber geschwächt und verunsichert. Er ist siebzig Jahre alt, ehemaliger Finanzchef eines großen Unternehmens, ein rüstiger Rentner, ele10 Das Fallbeispiel (2) wurde für Morgenthaler 2013 (vgl. S. 294–296) von TW zur Verfügung gestellt.

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gant und eloquent, unternehmungslustig, viel unterwegs und viele Kontakte unterhaltend. Er besucht seine Frau, die im Krankenhaus liegt, fast täglich, wirkt aber hilflos und überfordert am Krankenhausbett. Die Situation ist gekennzeichnet durch folgende Felder von Ambivalenzen: (1) Akutsituation: Frau L. möchte in ein vitales Leben zurückkehren  – äußert aber auch resignative Gedanken (»tabuisierte Erschöpfungssuizidalität«). Sie zeigt einerseits Einsicht in die Notwendigkeit der Dialyse – anderseits ein innerer Widerstand gegenüber der Abhängigkeit von eben dieser. (2) Biografie: Frau L. äußert Schuldgefühle, dass sie ihren Mann alleine lasse, und durch ihre Krankheit das ursprüngliche Konzept der schönen Alters-Ehe zerstöre. Herr L. wiederum hat ein schlechtes Gewissen, wenn er seine Unabhängigkeit als Rentner genießen kann und seine Frau traurig zurücklässt. (3) Beziehung: Beide sehnen sich nach mehr Nähe – empfinden aber im Einander-Nahe-Sein eine Distanz. Sie möchten fürsorglich sein, erleben sich und einander aber gleichzeitig als überfordert und ratlos. Herr L. hat Hemmungen, von seinen Erlebnissen zu erzählen, anderseits sind ihm die wortkargen Besuche im Krankenhaus lästig und bringen ihn in eine gefühlte Ohnmachtsrolle, die ihm nicht behagt und auch nicht entspricht. (4) Spiritualität: Beide melden Bedarf an seelsorglicher Unterstützung an – signalisieren aber auch Widerstand und Verlegenheit, existenzielle und spirituelle Themen anzusprechen.

Intervention »Pendeldiplomatie«

Die Differenzierung der teils angedeuteten, teils vermiedenen Paardynamik angesichts einer Erkrankung ermöglicht einen Blick hinter die Kulissen und eröffnet neue Kommunikationsräume. Die Entlastung besteht darin, dass über Facetten gesprochen werden kann, die bis dato nicht bewusst wahrgenommen oder tabuisiert wurden. Gleichzeitig wird ein Unterschied zu den bisherigen Lösungsversuchen eingeführt. Die Prämisse wird verschoben: Es gilt, die Jetzt-Zeit gut zu gestalten, den Indikativ anstelle des Konjunktivs

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ins Zentrum zu rücken. Patientinnen und Angehörige bereuen im Nachhinein oft, dass sie viele Momente verpasst bzw. nicht bewusst erlebt haben, weil sie sich mit Sorgen und Selbstvorwürfen den Blick auf das, was das Hier und Jetzt ermöglichte, versperrten. Angesichts der widrigen Umstände ist die Gefahr groß, in spekulativen Sorgen zu ertrinken. Die angestrebte Intervention betrifft die Ambivalenzen innerhalb der Beziehung, weil sich hier konkreter Handlungs- bzw. Veränderungsbedarf anmeldet. Beide Partner wünschten nach einem Gespräch zu dritt je ein Einzelgespräch. Im Kontext einer seelsorglichen Begleitung innerhalb eines Klinikaufenthaltes kann man nicht von einem professionellen paartherapeutischen Auftrag ausgehen. Häufig gilt es indes, den »kairos« – die Gunst der Stunde – zu nutzen, um an einer Stelle, da offensichtlich der Schuh drückt, zu intervenieren. Im folgenden Gespräch, nun wieder zu dritt, versucht der Seelsorger die Pattsituation mithilfe der Pendeldiplomatie11 aufzulösen: Zu ihm: »Was würde Ihnen helfen, nach dem Besuch bei Ihrer Frau guten Mutes nach Hause zu gehen?« Herr L. schaut ratlos und traurig aus den Augen, findet keine Antwort. Zu ihr: »Angenommen, Sie hätten jetzt noch eine Viertelstunde zur Verfügung, um mit Ihrem Mann zu reden – und er würde Ihnen aufmerksam zuhören: Was würden Sie ihm mitteilen wollen?« Sie, sichtlich gerührt: »Meine Liebe, meine Dankbarkeit, und ihn um Verzeihung bitten.« – »Verzeihung wofür?« – Sie beginnt von einem Medikamentenmissbrauch vor vielen Jahren zu erzählen, der sie belastet und den sie als Ursache ihrer Niereninsuffizienz deutet. Er – emotional berührt durch ihren Kummer, entlastet sie: Er habe sich diese Aufgaben (der Begleitung, der täglichen Besuche, der häuslichen Alleinverantwortung) zwar nicht ausgesucht, aber sie seien für ihn nicht schlimm und gäben ihm eine Alltagsstruktur. Er ist offenbar gut versorgt. Unklar aber bleibt, ob er ihre Bedürftigkeit genügend wahrnimmt.

11 Der Begriff ist vor allem aus politischen Verhandlungen bekannt. Legendär sind die pendeldiplomatischen Bemühungen Henry Kissingers.

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Zu ihm: »Wenn Ihre Frau sich ohne Wenn und Aber mitteilen könnte, welche Art von Nähe sie jetzt gerade braucht, was würde sie vermutlich sagen?« Er zögernd: »Ich weiß nicht … Vielleicht, dass ich ihr die Hand halte … Ich müsste sie fragen.« Sie nickt und hat ein Lächeln auf dem Gesicht. Durch die zirkuläre Frageweise muss er nicht nur überlegen, was seine Partnerin allenfalls wünscht. Sie erlebt gleichzeitig, dass er sich mit ihren Wünschen beschäftigt, und erfährt, was er selbst aus seinem Repertoire zur Verfügung zu stellen bereit ist. Sie muss auf diese Weise kein Risiko eingehen, sich etwas selbst zu wünschen, was er ausschlagen könnte. Mithilfe der Pendeldiplomatie kommt eine oszillierende, sequenzielle Verbindung zwischen den beiden Partnern (Subjekten) einerseits und zwischen den Szenarien (Objekten) anderseits zustande. Ambivalenzen und Differenzen werden auf diese Weise respektiert – und nicht ignoriert. Durch explorierende Fragestellungen wiederum werden die Räume der Positionen und Handlungsoptionen ausgeleuchtet. Neue Aspekte können zum Vorschein kommen. Später, kurz vor dem Spitalaustritt, sagt Frau L.: »Dieses eine Mal, da Sie mei­ nen Mann gefragt haben, was ich brauchen würde – das war ein ganz wichtiger Moment für uns beide.« Das Paar hat durch diesen Moment ein Stück Intimität und Eindeutigkeit wiedererlangt. Möglicherweise stellte es sogar das »Ja« dar, das sich Paare nach existenziellen Veränderungen nochmals schenken müssen. Die Krise einer Krankheit besiegelt oft das Ende einer – zumindest aus gesundheitlicher Perspektive – unbeschwerten Phase der Partnerschaft. Insofern braucht es, wenn nicht eine explizite, so doch eine innere Entscheidung, diesen neuen Abschnitt gemeinsam zu gestalten. Die Gedanken und Gefühle, angesichts der Erkrankung eines Partners fortan weder Gemeinsames noch das Leben miteinander teilen zu können, werden in der Regel tabuisiert. Sie sind schambesetzt und setzen sich dem Verdacht von Rücksichtslosigkeit aus. Seelsorge kann hier in mäeutischer Manier durchaus Geburtshilfe leisten – eben indem sie solche Ambivalenzen anzusprechen wagt.

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Fallbeispiel (3): Ambivalenzen einer Sterbesituation12

Eine 23-jährige Frau hat einen Skiunfall erlitten. Ihr Gehirn ist schwer verletzt. Der behandelnde Arzt informiert die Angehörigen darüber, dass keine Überlebenschancen bestehen. Einige Stunden später, in einem weiteren Gespräch, bei dem der Lebenspartner, die Eltern, zwei Schwestern, ein Bruder sowie die Großmutter der Patientin anwesend sind und zu dem auch der Seelsorger herbeigerufen wird, werden die Angehörigen mit dem Thema einer möglichen Organentnahme konfrontiert – sehr behutsam, sehr korrekt – und doch mit einer gewissen Dringlichkeit. Da die Patientin keinen Organspendeausweis besitzt und sich früher auch nicht zu diesem Thema geäußert hat, werden die Angehörigen befragt. Es geht nicht darum, dass die Angehörigen etwas über den Kopf der Patientin hinweg entscheiden, sondern dass sie – soweit das möglich ist – den mutmaßlichen Willen der Patientin eruieren: Wie würde die Patientin entscheiden, wenn man sie jetzt fragen könnte? Der Seelsorger versucht in einem separaten Gespräch mit den Angehörigen, ihre Einschätzungen zu sammeln und zu verorten. Seine eigene Ambivalenzfreundlichkeit lässt ihn auf beide Seiten eingehen – für und wider eine Organentnahme – ohne sich dabei selbst positionieren zu müssen. Er versucht, die Sterbende gewissermaßen »gegenwärtig« werden zu lassen: Wie hat sie gelebt? Was war ihr wichtig? Wofür hat sie sich eingesetzt? Die imaginierte Person und die fragmentarischen Antworten, Erinnerungen und Einschätzungen der Angehörigen ergeben eine erste Skizze, die sich mit der Frage, die es jetzt zu beantworten gilt, zusammenführen lässt: Wie hätte sie sich wohl zur Organentnahme positioniert? Die Eltern und die Schwestern sprechen sich für eine Organentnahme aus: Die Patientin sei immer für andere dagewesen; es sei ihr wichtig gewesen, dass es den anderen gut gehe. Aus dieser sozialen Verantwortung heraus hätte sie wohl der Entnahme zugestimmt. Daraufhin fragt der Seelsorger den Bruder, der sich bisher nicht geäußert hat: Was geht Ihnen durch den Kopf? Angenommen, ihre Schwester würde 12 Fallbeispiel (3) wurde mir freundlicherweise von Hubert Kössler zur Verfügung gestellt (vgl. Kössler/Metselaar 2018).

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mit uns sprechen – was würde sie uns raten? Der Bruder spricht daraufhin eine neue Dimension an: Die Sterbende habe Ballett getanzt. Ihr Körper war für sie ein Instrument. Mit ihrem Körper hat sie sich und ihre Art zu sein ausdrücken können. Er könne sich nicht vorstellen, dass seine Schwester einwilligen würde, dass dieser Körper noch mehr geschunden werde als er es durch den Unfall jetzt schon sei. Stille kehrt ein – alle Anwesenden wirken nachdenklich. Als die Pflegefachfrau Kaffee und Wasser bringt, sagt der Vater – und die Mimik der anderen zeigt, dass er für alle spricht: »Wir haben übrigens auf die Frage nach der Organspende eine Antwort gefunden – können Sie dem Arzt bitte mitteilen, dass unsere Tochter dafür nicht infrage kommt?« Das Oszillieren für und wider die Organentnahme kontrastiert die Dringlichkeit einer Entscheidung, die die mentalen Kräfte in einer Verlustsituation übersteigt: Innerhalb einer sehr kurzen Zeit muss ein Entschluss gefasst werden, der auf keine Erfahrungen zurückgreifen kann. Mit der Entscheidung müssen die Hinterbliebenen indes leben können. Der Anspruch, diese Entscheidung richtig gefällt zu haben, ist nicht allein vom Ergebnis abhängig. Die Güte einer Entscheidung lebt ebenso von der Prozessqualität und der Überprüfung der vorhandenen potenziellen Handlungsalternativen. Wenn die Angehörigen Jahre später auf die Situation zurückblicken, werden sie wahrscheinlich sagen können: Damals haben wir gut entschieden. Vielleicht sehen wir die Dinge heute anders. Doch wenn wir berücksichtigen, welche Grundlagen uns damals zur Verfügung standen, war es gut so. Damit eine solche Entscheidung getroffen werden kann, müssen beide Möglichkeiten denkbar sein. Ein vielleicht auch gut gemeintes moralisches Urteil wird der Situation nicht gerecht. Erst als die Angehörigen beide Positionen äußern und hören konnten, zeichnet sich ab, welche der Positionen sich gut und stimmig für sie anfühlt.

Auf die andere Seite gehen – und wieder zurück

Ambivalente Wahrnehmungen und Gefühle begleiten existenzielle Entscheidungssituationen. Die Fähigkeit, Ambivalenzen wahrnehmen und positiv konnotieren zu können, ist eine Voraussetzung seelsorglicher Begleitung: Ratsuchende, Patienten und Angehörige

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erleben sich oft in irgendeiner Form ambivalent. Indem Seelsorgerinnen beide Seiten wahrnehmen und ansprechen und indem sie auch bisher nicht ausgesprochene, vielleicht schambesetzte Aspekte ins Feld führen, kommen sie mit der differenzierten und vielfältigen Realität von intra- und interpersonalen Konflikten in Kontakt. Wenn Menschen sich einseitig versteifen und beispielsweise sagen, man dürfe nie die Hoffnung verlieren, kann es befreiend sein, nicht nur zu bestätigen, sondern auch die andere Seite zu bedienen und zum Beispiel zu fragen: »Angenommen, der Befund ist negativ – was würden Sie Ihrer Mutter noch mitteilen wollen?« Ambivalenz zwischen einer aktiven und passiven Tendenz organisiert sich innerhalb einer Familie häufig so, dass sich die Präferenzen unter den Familienmitgliedern aufteilen. Die einen übernehmen die aktive (initiative) Tendenz, die anderen nehmen die passive (rezeptive) Tendenz wahr. In Trauersituationen ist häufig zu beobachten, wie die einen ihre Gefühle zeigen, während die anderen eher rational bleiben und organisatorische Verantwortung übernehmen. Interventionen können nicht immer das Ziel haben, Inseln der Eindeutigkeit zu finden. Das einfühlsame, respektvolle und differenzierte Erfragen von Zwiespältigkeit ist Bestandteil einer ambivalenzsensiblen Seelsorge. Was dem Analytiker das Deuten ist, ist der Seelsorgerin das Fragen. Fragetechniken haben ihren Ursprung in der sokratischen Methode des Diskurses. Für Sokrates bestand die Funktion der gesprächsleitenden Person darin, Geburtshilfe für neue Möglichkeiten (Mäeutik) zu leisten. Fragen erweitern den Horizont und lenken den Blick von der Befangenheit durch Not hin zu Möglichkeiten des bisher Ausgeblendeten oder Vermiedenen. Das Differenzieren und Erweitern der Kontexte kann für Menschen, die in ihren Kommunikationsmustern gefangen sind, befreiend sein. Häufig geht es darum, Ziele zu revidieren, den Fokus zu verändern oder die Perspektive zu wechseln.

Fallbeispiel (4): Ambivalenzen (in) der Corona-Krise

Ein Elternpaar ist in großer Sorge um die 19-jährige erkrankte Tochter, darf aber aufgrund der Covid-19-Maßnahmen die Räumlich-

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keiten der Intensivstation nicht betreten. Die Patientin befindet sich aufgrund einer Lungenentzündung (Influenza-B-Pneumonie) und einer fehlgesteuerten Immunreaktion (Sepsis) mehrmals in kritischen Zuständen. Gegenüber der Pflege hat sie Todesängste geäußert. Ein Verdacht auf eine Covid-19-Infektion wurde nicht erhärtet. Auf das inständige Bitten der Eltern, ihre Tochter in dieser schweren und bedrohlichen Situation sehen zu dürfen, verweist die Pflegeexpertin auf die Regelungen des Krankenhauses, das Besuche nur in Sterbesituationen erlaubt. Auch nach der Verlegung in die Klinik für Pneumologie sind in den Folgewochen keine Kontakte mit Angehörigen möglich. Die Eltern können die Vorsichtsmaßnahmen verstehen, aber sind gleichzeitig aufgebracht, dass auf der Station keine Ausnahmeregelung vorgesehen ist. Die Tochter leidet unter der Isolation (Einzelzimmer) und vermisst den engen familiären Zusammenhalt sehr. Sie ist oft sehr aufgewühlt und befürchtet, nochmals in die Intensivstation verlegt zu werden. Dieser Aufenthalt sei für sie traumatisch gewesen. Wenn wir Spiritualität als Verbindung eines Menschen zu dem, was ihn trägt und nährt, verstehen, dann unterbindet man in dieser Situation möglicherweise gerade das, was nährt und trägt, nämlich die Beziehung zwischen Eltern und Tochter, und unterdrückt damit auch einen gesundheitlich relevanten Bereich. Medizinethische Grundsätze stehen in diesem Beispiel elementaren menschlichen und damit ebenfalls ethischen Prinzipien gegenüber. Nach Beauchamp und Childress gehören Autonomie, Benefizienz (Fürsorge), Non-Malefizienz (Schadensvermeidung) und Gerechtigkeit zu den vier Prinzipien der Medizinethik: Wie gilt es damit umzugehen? Was können Angehörige, was können Institutionen, Leitungsverantwortliche, Pflegende und Seelsorgende in einer solchen Situation tun? Bei aller Tragik der Pandemie wirft diese auch Fragen auf und zweifelt eingeschriebene Prinzipien an. Individuelle Bedürfnisse und Rechtsansprüche sehen sich plötzlich der public health, einer länderübergreifenden Volksgesundheit, gegenübergestellt. Die Selbstbestimmung und damit einhergehende Spiritualitätskonzepte werden durch soziale Schutzmaßnahmen und gesamtgesellschaftliche Perspektiven relativiert. Das betrifft die Ethik genauso wie die Spiritualität. Spiritualität als »geformte Aufmerksamkeit« (Steffensky

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2010, S. 17) wird in der Covid-Krise in der Verbindung zwischen Gesundheitsfachleuten und Patientinnen bedeutsam. Die Notlage wirft aber auch ein neues Licht auf die Wichtigkeit der Präsenz von Angehörigen, weil diese nicht nur für ihre Liebsten tröstende, sondern auch für das Personal relevante Informationsvermittler sind. Die Covid-Situation, so sehr diese sich wellenartig zeigt und die Politik immer wieder zu revidierbaren Entscheidungen zwingt, eröffnet in Krankenhäusern, Pflegeheimen und im Straf- bzw. Maßregelvollzug ein gemeinsames Ringen unterschiedlicher Professionen um gute Entscheidungen. Das Aushandeln von Prozessen und Maßnahmen in interprofessionellen Task Forces fordert und fördert gleichermaßen den Geist des jeweiligen Hauses heraus. Während des Aufenthalts auf der Intensivstation durften die Eltern aufgrund der Vermittlung der Pflegeexpertin zum Klinik­ direktor ein einziges Mal kurz ans Bett ihrer Tochter. In der Klinik der Pneumologie, in der eine Covid-Station eingerichtet wurde, herrschte indes während drei Wochen ein absolutes Besuchsverbot. Eine Ausnahmeregelung galt nur für Sterbesituationen. Das wirft Fragen auf: Wann ist eine Situation eine Sterbesituation? Müssten aus ethischer Sicht nicht auch andere Kriterien ausschlaggebend sein, beispielsweise die innere Not und die Angst vor dem Sterben? Wem obliegt die Definitionsmacht und wer entscheidet aufgrund welcher Kriterien? Ist Vulnerabilität eine rein medizinische und pragmatisch handhabbare Angelegenheit? Das Corona-Virus bedroht zwar die ganze Bevölkerung, am stärksten durch schwere und tödliche Verläufe gefährdet sind aber offenbar ältere Menschen, die häufig multimorbid und gebrechlich sind. In diesem Beispiel geht es um eine junge Frau: Hätte man sich in diesem Fall nicht anders verhalten können und müssen? Die Seelsorge ist in dieser Situation doppelt gefordert: Einerseits ist sie als Teil des erweiterten Betreuungs- und Behandlungsteams ein Akteur, der sich zugunsten der Patienten- und Angehörigenbedürfnisse einsetzt. Anderseits pocht sie nicht einseitig auf Rechte, sondern bezieht auch die Dimensionen solidarischer und institutioneller Pflichten mit ein. Im konkreten Fall ging es darum, die Not gegenüber der Pflegeexpertin zu vertreten – und diese um ihr Engagement beim Klinikdirektor zu bitten. Gegenüber den betroffenen

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Eltern ging es darum, für die internen Regelungen der Klinik und für die allgemeine Sicherheit um Verständnis zu bitten. Teil dieser Regelung war, dass zwar keine Angehörigen, jedoch die Seelsorgerinnen Patienten aufsuchen durften. Die Vermittlung zwischen den Eltern und der Tochter besänftigte beide Seiten. Die Stellvertretung (der Eltern) durch die Präsenz des Seelsorgers wurde im Laufe der Wochen zu einer akzeptablen Lösung für beide Parteien. Die fast täglichen Besuche bei der Tochter und die Telefonate mit den Eltern können ebenfalls als eine Form der Pendeldiplomatie verstanden werden. Die Zusammenarbeit aller Gesundheitsfachleute ist während dieser Ausnahme- und Grenzsituation eine notwendige, unverzichtbare Maßnahme geworden.13

Covid-19: Verlust von Selbstverständlichkeiten?14

Der Verlust von Selbstverständlichkeiten könnte durch die Pandemie von Covid-19 zu einem Paradigmenwechsel führen, weit über die Regelungen in Krankenhäusern und Altenpflegeheimen hinaus. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie lassen fragen, inwiefern die Selbstverständlichkeiten alltäglicher Lebensführung problematisch werden, insbesondere jene, die Interaktionen und soziale Beziehungen kennzeichnen. Ein besonders offensichtlicher Sachverhalt zeigt sich in der Ausbreitung digitaler Kommunikation im Privat- und Berufsleben. Auch individuelle und kollektive Identitäten werden infrage gestellt, also die subjektiven Vorstellungen eines Men13 Eine Grenzsituation ist umgangssprachlich eine ungewöhnliche Situation, in der die üblichen Mittel und Maßnahmen nicht zur Verfügung stehen und zur Anwendung kommen. In Jaspers’ Existenzphilosophie bezeichnet der Begriff »Grenzsituationen« Situationen, in denen der Mensch durch das angstvolle Erleben von Leid, Schuld, Schicksal oder Unzuverlässigkeit an unausweichliche Grenzen stößt (vgl. Jaspers 1994). 14 Die folgenden Überlegungen sind aus dem Dialog mit dem Soziologen Kurt Lüscher entstanden, der diese seinerseits in einem Beitrag der Familiendynamik. Systemische Praxis und Forschung, Heft  1/2021, publiziert. Vgl. auch Familiendynamik 4/2020 mit dem Schwerpunkt In Zeiten von COVID-19.

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schen von sich selbst und die prägenden Selbstcharakterisierungen von Gruppen, Organisationen, Gemeinschaften und Gesellschaften. In der Akzentuierung von ambivalenten Erfahrungen wird der Verlust von Selbstverständlichkeit deutlich. Die Skepsis gegenüber den Schutzmaßnahmen einerseits und die Einsicht in die Notwendigkeit, etwas tun zu müssen, andererseits, weisen auf den omnipräsenten Zwiespalt hin. Im Suchen nach einem erträglichen Umgang mit der Situation werden vielleicht sogar Herausforderungen und Anstöße für neue Formen der Interaktion und der Beziehungsgestaltung entdeckt. – Dass das Selbstverständliche ein Thema der sozialen Auswirkungen von Covid-19 ist, belegen auch die Medienberichte, in denen erörtert wird, wann und in welchem Ausmaß Normalität wiederhergestellt werden kann. Die alltagssprachlichen Definitionen von »selbstverständlich« lassen sich am besten durch Synonyme beschreiben, wie sie sich in Wörterbüchern finden, nämlich: gebräuchlich, üblich, alltäglich, bedenkenlos, fraglos, gängig, gewöhnlich, natürlich oder normal.15 Was aber gilt im Alltag als selbstverständlich? Weitgehend alles, besonders unsere Interaktionen sind dominiert von Regelmäßigkeit, Wiederholung, von Routinen, mithin auch von Voraussehbarkeit. Interaktionen beruhen auf Regeln, die nicht thematisiert werden, beispielsweise, wie wir uns grüßen oder wie wir Nähe und Distanz im öffentlichen Leben regulieren. Gewiss gibt es unzählige Differenzierungen und individuelle Gepflogenheiten, doch auch diese verstehen sich sozusagen von selbst. Sie werden erlernt und Verstöße werden sanktioniert. Der Alltag beruht auf elementaren Gewissheiten, die wiederum unser Handeln rahmen und voraussehbar machen. Zwar kann Unerwartetes eintreten, doch die Wahrscheinlichkeit dafür ist im Alltag gering. Wir können uns in einem gewissen Maße dagegen wappnen. Meist geschieht dies im wörtlichen Sinne »stillschweigend«. Der Kitt alltäglicher Beziehungen ist das »Vertrauen« ins Handeln und Verhalten der Mitmenschen. Eben diese elementaren Gewissheiten werden in mehrfacher Weise 15 Erhellend ist auch ein Blick auf andere Sprachen, zum Beispiel Englisch: of course, to be sure, taken for granted, to go without saying. Oder Französisch: ça va de soi, bien sûr.

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durch das Corona-Virus gestört oder gar zerstört. Das geschieht z. B. infolge der Ungewissheit einer Ansteckung, aus Sorge um andere oder aus Angst, selber zum Superspreader zu werden. Ängste wiederum werden dramatisiert, indem man Gruppen als Risiko- und Hochrisikogruppen taxiert. Die Gewissheiten werden beeinträchtigt, indem sie thematisiert und an ihrer Stelle Vorschriften für neue Regeln formuliert und verbindlich erklärt werden. In diesem Sinne liegt es nahe zu sagen: Das Virus entfaltet seine Wirkungen nicht nur in den Körperzellen, sondern – bildlich gesprochen – in den Zellen oder Molekülen menschlicher Sozialität, in den mikrosozialen Elementen menschlicher Interaktionen. Darin liegt eine Radikalität – ein Griff nach den Wurzeln, der die Bedrohung durch eine Entwurzelung mit sich bringt. So gesehen ist es angebracht, die Möglichkeit eines radikalen Verlusts von Selbstverständlichkeit zu erwägen. Im Kontext der hochsensiblen Institution eines Krankenhauses oder Altenpflegeheims hat der mutmaßliche Verlust von Selbstverständlichkeiten besondere Tragweite: Patientinnen und ihre An- bzw. Zugehörigen, aber auch das Gesundheitspersonal leben und arbeiten ohnehin in Ausnahmesituationen, die ihrerseits nur durch Routine und standardisierte Abläufe bewältigt werden können. Menschen, die aufgrund einer schweren Erkrankung im Krankenhaus liegen, sind in einer existenziellen und häufig irreversiblen Weise dem Verlust von Selbstverständlichkeit ausgesetzt. Pflegende in ihrer verlässlichen Umsorgung, die auf empirische Belege gestützte Heilkunde und die Besuche von Angehörigen repräsentieren in der Regel ein Stück Normalität, das zumindest ein Restvertrauen in die verlorene Selbstverständlichkeit vermitteln kann. Fallen diese Ressourcen – wie bei einer Pandemie mit ungewissem Verlauf – weg, können supportive Dienste wie die Seelsorge zwar stressinduzierende Kommunikationsprobleme abfedern und punktuell in die Bresche springen, dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass auch diese Dienstleistungen unter besonderen Bedingungen (z. B. Einhaltung des Mindestabstands, Maskenpflicht, Einschränkung von Rapportund Intervisionsangeboten) ihre Arbeit verrichten.

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6.1 Das Potenzial narrativer Identität Zu den anthropologischen Bestimmungen, die den Menschen als vernunftbegabtes und sprechendes Wesen auszeichnen, hat sich im späten 20. Jahrhundert der Begriff des homo narrans gesellt (vgl. Koschorke 2012, S. 9 ff.). Der Ausdruck geht auf Publikationen des kalifornischen Kommunikationswissenschaftlers Walter R. Fisher in den achtziger Jahren zurück. Fisher zufolge beziehen sich Menschen auf ihre Umwelt und auf sich selbst weniger durch reine Beobachtung und rationale Erwägung als durch das Erzählen glaubhafter Geschichten. Sie weben sich ihr Bild der Welt aus Erzählungen zusammen: »human beings are inherently storytellers« (Fisher 1984, S. 24). Das gilt im Besonderen für Erzählungen kranker Menschen. In Geschichten wird etwas gezeigt oder ausgelassen, vergessen oder in besonderer Weise hervorgehoben. Die Erzählerin erinnert selektiv – sie fokussiert, verdrängt oder vermeidet, sie relativiert oder überhöht Erinnertes und sie reflektiert assoziativ. Geschichten können inspirieren, die eigene Haltung gegenüber existenziellen Dingen zu revidieren. Sie können Raum und Zeit überwinden, um in einer heilsameren Weise leben, leiden, altern und sterben zu können.1

Selbstdifferenzierung im Schreibakt

Das Veränderungspotenzial von Würdigung und Anerkennung ist in Pädagogik und Psychologie schon länger bekannt. Das »Nadelöhr der Versprachlichung« (Koschorke 2012, S. 29) ermöglicht eine Bündelung der Aufmerksamkeit. Die Identifizierung eigener Gedanken und Gefühle wird im Schreibprozess unterstützt: Die objektivierende und damit distanzierende Umgangsform des Schreibens ermöglicht 1 Ein Beispiel für Raum und Zeit überwindendes Erzählen liefert Schischkin (2012): Die Briefe des russischen Soldaten, geschrieben während des Kriegs gegen den chinesischen Boxeraufstand, treffen selbst dann noch ein, als er längst gefallen ist. Indem das Liebespaar sich das je eigene Leben erzählt, besitzen sie einander nicht nur über Räume (wie im klassischen Briefroman), sondern auch über Zeiten hinweg.

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eine Identifikation mit Themen, die uns angehen, und über die wir ansonsten nur mit Mühe reflektieren und kommunizieren. »Als Autor kann man die eigene Verzweiflung und emotiona­le Zustände vorbehaltlos aussprechen, man kann scheinbar unerlaubte Überlegungen und Phantasien, die man nicht einmal Freunden oder Verwandten und schon gar nicht Ärzten gegenüber äußert, hemmungslos darlegen; im Schreiben kann man sich einen geschützten Raum erschaffen und dabei allen möglichen Ängsten und Wünschen und auch Irrationalitäten […] freien Lauf lassen.« (Caduff 2010, S. 54). Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Corina Caduff spricht von der Verfügungsgewalt, die schreibend über eine Krankheit gewonnen wird. Schreibende weisen ihrer Krankheit einen Ort zu, sie verwandeln sie in Text. Im Schreiben kann die Welt organisiert, bei drohendem Chaos auch besänftigt werden (Vgl. Bichsel 1982).2 Durch die Selbstreflexion teilt sich das Selbst in seine unterschiedlichen Anteile auf, beschreibt etwa die erlittenen Schicksalsschläge und entkräftenden Krankheitsverläufe mit der Stärke des schreibenden Erzählers. »Es ist ein Akt der Abtrennung: Der Autor thematisiert sein krankes Ich, indem er es gleichsam von sich abwirft und in den Text bannt; in diesem Prozess manifestiert sich das Schreib-Ich als gesundes Ich, welches das Text-Ich als krankes gestaltet. […] Krankheit und Tod nehmen uns die Autonomie, sie machen uns klein, demütig, verzweifelt, ohnmächtig. In der künstlerischen Gestaltung aber kann man für Momente einen Teil der ›Freiheitsberaubung‹ rückgängig machen, beim Schreiben kann man, und sei es auch nur vorübergehend, ein Stück der verlorenen Autonomie wiedergewinnen.« (Caduff 2010, S. 55).

2 »Eine Geschichte trägt die Besänftigung der Welt ins sich. […] Was eine Form findet, verliert die chaotische Gefährdung« – so Bichsel (1982, S. 11) in den Frankfurter Poetik-Vorlesungen.

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Dem Tod kann der Stachel gezogen werden, indem das endende Leben in sprachliche Bilder gefasst und damit fassbarer wird. Die Ansätze der Narrative-based-Medicine (vgl. Bolten 2005, S. 71 ff.) und der Dignity Therapy (vgl. Chochinov 2005)3 weisen darauf hin, dass die Gelegenheit und die Fähigkeit, das eigene Leben zu würdigen und sich seiner Bedeutung zu vergewissern, das Einwilligen in die letzte Lebensphase erleichtern. Michel Foucault (2012) hat in seinem Essay »Über sich selbst schreiben« auf die antiken Zeugnisse und deren Überzeugung hingewiesen, dass biografische Aufzeichnungen in Schriftform eine läuternde und meditative Aufgabe hatten. Die »hypomnêmata« dienten der gebildeten Schicht als gedächtnisstützende Notizbücher von allerlei Erlebtem und Gehörtem – als Lebenshilfe und Verhaltensanleitung. Auch subjektive, tief eingeschriebene Notate fanden Eingang, um die eigene Seele zu bilden und die Identität zu formen. Durch die erzählerische Umsetzung erhält eine Lebensgeschichte gezwungenermaßen er-dichtete und damit fiktionale Realität. Es ist die Freiheit der literarischen Kunst, mit dem Stoff des Lebens und Erlebten etwas Eigenes zu kreieren und dem Geschriebenen kunstvoll Leben einzuhauchen. Erlebte und erfundene Charaktere, erfahrene und erschaffene Welten, biographisches und fiktionales Ich sind einander zugewandte und sich gegenseitig durchdringende Wirklichkeiten. »In der Erzählung vermittelt sich das erzählte mit dem erzählenden Ich« (Assmann 2015, S. 255). Es ist der erzählerischen Dichtung vorbehalten, sich sprachlich der Geheimnisqualität des Lebens anzunähern und gleichzeitig auf Distanz zu bleiben (vgl. Assmann 2015, S. 256 f. und Genette 2010, S. 103 f.). Die Gestaltung von erlebter, gedachter und gefühlter Wirklichkeit kann indes nicht ohne ordnendes Eingreifen in die vielfachen Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten des Lebens gelingen. Im 3 Die von Chochinov (2005) initiierte Dignity Therapy findet gegenwärtig in verschiedenen Kliniken Deutschlands (z. B. Stuttgart, Mainz) und der Schweiz (Zürich) großen Anklang: Mittels Fragenkatalog – moderiert und notiert von einer psychologischen Begleitperson – können Menschen ausgewählte Aspekte ihres Lebens erinnern und sich der Würde ihres gelebten Lebens vergewissern. Zur Kritik an dieser Methode vgl. Schnell 2016, S. 137 ff.

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Setzen von Buchstabe um Buchstabe, von Wort um Wort wird die komplexe Lebenswelt in lineares Erzählen verwandelt (vgl. Honigmann 2006, S. 40). Wenn wir erzählen, nehmen wir ständig eine Selektion vor. Die Erfahrung auch nur eines einzigen Tages ist unendlich viel komplexer als die Erzählung dieses Tages es zu schildern vermag.

Autobiografie zwischen Selbstoffenbarung und Selbstinszenierung

Nachdem der norwegische Autor Karl Ove Knausgård mit seinem ersten großen Werk »Alles hat seine Zeit« (2004 erschienen, dt. 2007) Bekanntheit erlangt hatte, beschloss er, sich mit einem autobiografischen Werk von der literarischen Fiktion zu verabschieden. Was ihn in »Alles hat seine Zeit« noch so überzeugend die Mythen von Kain und Abel und Noah nacherzählen ließ, wird in den autobiografischen Büchern schmerzlich vermisst, als wollte der Autor mittels endlosen Schilderungen repetitiver Vorgänge die Authentizität seines Projekts unterstreichen. Bis zum Überdruss mutet der Autor sich selbst, seinen Alltag und dessen Schwere seiner Leserschaft zu. Der Autor schreibt seine Bekenntnisse ohne jeglichen fiktionalen Schutzraum nieder, in der Meinung, selbstforschend auf der Suche nach dem wahren Ich fündig zu werden oder in der Schreibbewegung großmöglichste Authentizität zu erlangen. Das historisch wohl prominenteste Beispiel autobiografischer Literatur sind die »Bekenntnisse«, die Confessiones von Aurelius Augustinus (2004). Entstanden gegen Ende des vierten Jahrhunderts enthüllt die in dreizehn Büchern abgefasste religiöse Vita schonungslos die Entwicklung des Autors von der Kindheit über die Pubertät hin zu einem neuen Selbstverständnis. Die akribische Selbsterforschung, geschrieben mit der Penetranz eines unablässigen Gebets, mündet in immer wieder neuen Anläufen von Selbstbezichtigung, Reuebekenntnissen und v. a. Rühmen der Gnade Gottes, redundant und rhetorisch, unterwürfig und erhaben zugleich. Die Frage nach dem Anlass der Abfassung der Confessiones wird unterschiedlich und grundsätzlich in zwei Richtungen beantwortet:

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Als psychologisch orientierte Selbstbeobachtung, geleitet von einem ausgeprägten Sünden- und Schuldbewusstsein, und als theologisch motivierte Beobachtung des Tun Gottes in Augustinus Leben und Seele – geleitet von dem Interesse, dass die Leserschaft dieses Tun Gottes im eigenen Leben ebenfalls wahrnimmt und in das Lob Gottes einstimmt. Diese Interpretation würde den doxologischen Charakter der Sprache und die vielen Zitate aus den Psalmen erklären. Ritschl (2008, S. 282–297) weist auf einen dritten, übergeordneten Aspekt der Confessiones hin, der hier besonders interessiert: Die innere Logik einer Biografie, besonders einer Selbstbiografie, ist durch die leitende Funktion einer impliziten Metaebene charakterisiert. Im Erzählen oder Aufzeichnen der eigenen Geschichte schwingt stets das Bild mit, das der Schreibende von sich selbst – bei Augustinus zudem von Gott – porträtieren will.4 Rund 1400 Jahre nach Augustinus hat Jean-Jacques Rousseau unter gleichnamigem Titel das Maß an Subjektivität und Intimität zu übertreffen versucht: »Ich beginne ein Unternehmen, das ohne Beispiel ist und das niemand nachahmen wird. Ich will meinesgleichen einen Menschen in der ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Mensch werde ich sein«, schrieb Rousseau (2016) in der programmatischen Einleitung seiner Confessions. Was im frühen Mittelalter wie auch zur Zeit der Aufklärung als Monumente errungener, zweifellos unerbittlicher und offenherziger Selbstreflexivität gewürdigt werden muss, entpuppt sich im Zeitalter von profilgesteuerten Identitäten eher als Eitelkeit. »Der Weg in die Innerlichkeit ist niemals ein epistemisch sicherer Weg«, resümiert der Philosoph Dieter Sturma in seiner Monografie zu Rousseau: »In jeder Selbstbeschreibung steckt Selbstverkleidung, die von dem Wunsch motiviert ist, sich so zu zeigen, wie man gesehen werden will« (Sturma 2001, S. 172). Autobiografisches Schreiben ist immer auch Selbstinszenierung und Selbstfiktionalisierung, das auch zur Selbstmythologisierung verkommen kann (vgl. Honigmann 2006, S. 39 f.). 4 Ritschl (2008) bezeichnet diese nicht erzählbare und »unaussprechliche« Ebene in seinen Ausführungen als »Meta-Story«: Sie wird durch die vielen stories einer biografischen Schilderung bedient. Sie »erzählt« durch den Eindruck, den sie vermittelt, und der sich bei der Leserschaft implizit bildet.

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Beispiele erzählerischer Verfügungsgewalt5

Paul Auster hat 2017 mit »4321« sein Opus Magnum veröffentlicht, ein Buch, dessen philosophischer Tiefgang die Fährte vorangegangener Romane aufgreift und nach der Macht des Zufalls fragt. Der Flügelschlag eines Schmetterlings oder einer Möwe – so das berühmte Motto aus der Welt der nichtlinearen Dynamik – kann die Welt des Archibald Ferguson verändern, kann über Leben und Tod, über Leid und Liebe, über seelische Entwicklung, soziale Vernetzung und politische Gesinnung entscheiden. Auster greift ein nicht völlig neues, aber vielleicht bisher noch nie so konsequent durchgeführtes Experiment auf: Er erzählt die Biografie, genauer, die ersten beiden Lebensjahrzehnte seines Protagonisten Archie Ferguson in verschiedenen Varianten. Der Autor lässt den jungen Archie immer wieder denselben anders sein – und verleiht seinen vier parallelisierten Geschichten eine minutiös gestaltete Facettenvielfalt. Er tut dies verschlüsselt, sodass man geradezu grafische Hilfsmittel benötigt, um sich im kunstvoll aufgebauten Labyrinth zurecht- und den Ariadnefaden jeweils wieder aufzufinden. Das erzählerische Ich spaltet sich in verschiedene Figuren auf, die doch immer wieder derselbe Spross einer eingewanderten osteuropäischen, jüdischen Familie sind und in der näheren Umgebung von New York aufwachsen. Der Protagonist ist wie Paul Auster 1947 geboren und versucht sich in jungen Jahren mehr oder weniger erfolgreich als anfänglich schüchterner Übersetzer französischer Lyrik, später als kämpferisch-investigativer Journalist, als bescheidener Autor einer Schulzeitung, als witziger, aber hadernder Verfasser eines beachteten Erstlingsromans und schließlich als künstlerisch genialer, hochtalentierter Schriftsteller, der sich mit mehreren Publikationen bereits einen Namen gemacht hat. Es ist unschwer zu erkennen, dass Paul Auster mit seiner eigenen Biografie spielt, mit den Wirklichkeiten und Möglichkeiten seiner Entwicklung zum Romancier, ferner wohl auch mit einigen Facetten und Marotten seiner Persönlichkeit. Einer der vier Fergusons – 5 Die folgenden literarischen Beispiele sind gekürzte Fassungen aus Wild 2016 und Wild 2018.

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es ist der dritte, der kurz vor seiner Buchvernissage in London tödlich verunglückt – sinniert über seine Identität anlässlich plötzlich aufkommender Nervosität und des darauffolgenden Ratschlags des Geliebten, er solle einfach er selbst sein: »[W]as bedeutete es schon, man selbst zu sein, fragte er sich, er hatte mehrere, ja viele Identitäten, ein starkes und ein schwaches Ich, ein nachdenkliches und ein impulsives, ein großzügiges und ein egoistisches, so viele unterschiedliche Ichs, dass es am Ende so groß wie jedermann oder so klein wie niemand war« (Auster 2017, S. 1027). Das Motiv der multiplen Persönlichkeit ist nur eines, das »4321« diskret untermauert. Auch der Dialog mit dem Tod, hervorgerufen durch das Bewusstsein des immerfort lauernden Abgrundes und Lebens in steter Todesnähe, erhält durch das dreifach vorzeitige Ableben des Protagonisten seinen literarischen Ort. Auster hat den Tod eines 14-jährigen Mitschülers, der neben ihm stand und durch einen Blitzschlag getroffen wurde, mehrfach beschrieben. Das Ereignis habe ihn – gleich einer »ersten Lektion in der Alchemie des Zufalls« – gelehrt, »dass die Zukunft uns jederzeit gestohlen werden kann, dass der Himmel voller Blitze ist, die jederzeit niederfahren und Junge genauso wie Alte erschlagen können, und immer, immer schlägt der Blitz ein, wenn wir am wenigsten damit rechnen« (Auster 2013, S. 209). Auster will Biografie und Fiktion strikt trennen. Das kann man als Teil des Spiels mit Identitäten verstehen. Im Kontrast jedoch zu den fast gleichzeitig entstandenen Werken »Winterjournal« (2013) und »Bericht aus dem Innern« (2014) – beides autobiografische Bücher mit unterschiedlichen Erzählperspektiven – wird deutlich, wie sehr sich die verwandten Motive in Form und Handlung unterscheiden. Thomas Bernhard (2010) lässt in seiner ganz und gar autobiografisch motivierten Erzählung »Der Atem. Eine Entscheidung« den schwerkranken Großvater zum 18-jährigen Enkel sagen:

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»Der Kranke ist der Hellsichtige, keinem anderen ist das Weltbild klarer. […] Der Künstler, insbesondere der Schriftsteller, […] sei geradezu verpflichtet, von Zeit zu Zeit ein Krankenhaus aufzusuchen, gleich, ob dieses Krankenhaus nun ein Krankenhaus sei oder ein Gefängnis oder ein Kloster. Es sei das eine unbedingte Voraussetzung. Der Künstler, insbesondere der Schriftsteller, der nicht von Zeit zu Zeit ein Krankenhaus aufsuche, also einen solchen lebensentscheidenden existenznotwendigen Denkbezirk aufsuche, verliere sich mit der Zeit in die Wertlosigkeit, weil er sich in der Oberflächlichkeit verheddere« (Bernhard 2010, S. 43). Die Erzählung Bernhards lässt keinen Moment an der Wahrhaftigkeit des Geschilderten zweifeln. Sie schildert hemmungslos emotionale Innenwelten und berührt gerade dadurch, dass es ihr gelingt, die Leserschaft in die – wenn auch rigide und beklemmende – Außenwelt eines Salzburger Landeskrankenhauses Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zu entführen. Man darf den Erzähler nun aber nicht dahingehend missverstehen, dass die Qualität der Literatur von Hospiz- und Gefängnisaufenthalten, von persönlich und biografisch verbürgten Erfahrungen abhängig sei. Das durch den Großvater ins Feld geführte Krankenhaus »kann ein künstlich geschaffenes Krankenhaus sein, und die Krankheit oder die Krankheiten, die diesen Krankenhausaufenthalt ermöglichen, können durchaus künstliche Krankheiten sein, aber sie müssen da sein oder müssen […] unter allen Umständen in gewissen Abständen erzeugt werden« (Bernhard 2010, S. 43). Falls uns Bernhard in diesem kleinen persönlichen Werk ein bekenntnishaftes Vermächtnis hinterlassen hat, dann ist dieses nicht allein in der Schilderung der schweren Lungenerkrankung und der düsteren Krankenhaussäle zu finden, sondern ebenso in der Entwicklung, die den Autor durch Krankheit und Tod des Großvaters zum Schriftsteller hat werden lassen. Maylis de Kerangals (2015) Roman »Die Lebenden reparieren« schildert das Auseinanderstreben menschlicher Wege und die Zersplitte-

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rung der Welt durch den Unfalltod des 19-jährigen Sohnes. Dessen Hirntod und die daraus folgenden Geschehnisse werden in einem 24-stündigen Zeitraum minutiös durchleuchtet. Im Zentrum steht die Gefühls- und Gedankenwelt der getrenntlebenden Eltern angesichts der an sie gemeinsam gerichteten Forderung, sich zu entscheiden, das Herz ihres Sohnes für eine Transplantation freizugeben und damit unvermittelt in ein Verhältnis zum »verwertbaren« Tod zu treten. Der Anruf aus dem Krankenhaus versetzt die Mutter in einen Ausnahmezustand, den die Autorin ergreifend und in unheimlicher Intensität zu beschreiben vermag: »Ein Stück ihres Lebens, ein massives, noch warmes, kompaktes Stück, löste sich aus der Gegenwart, um in eine vergangene Zeit zu kippen, zu fallen und darin zu verschwinden. Sie nahm Geröllabgänge wahr, Erdrutsche, Verwerfungen, durch die sich der Boden unter ihren Füßen auftat. Etwas verschloß sich wieder, etwas war jetzt außer Reichweite – ein Felsstück trennte sich vom Plateau und stürzte ins Meer, eine Halbinsel riss sich langsam von Kontinent los und trieb einsam aufs offene Meer hinaus, der Eingang einer Wunderhöhle war plötzlich von einem Gesteinsblock versperrt –; die Vergangenheit breitete sich auf einmal mächtig aus, lebenfressendes Ungeheuer, und die Gegenwart bestand nur aus einer ultradünnen Schwelle, einer Linie, jenseits deren es nichts Bekanntes mehr gab. Das Telefonläuten hatte die Kontinuität der Zeit durchbrochen, Marianne, die Hände ans Waschbecken geklammert, versteinerte stockstarr vor ihrem Spiegelbild« (Kerangal 2015, S. 43). Die mit chirurgischer Präzision geschilderten Folgen des tragischen Schicksals beschränken sich allerdings nicht nur auf die Verzweiflung der Eltern, die mit dem Verlust ihres Sohnes weiterleben müssen. Die schier unerträgliche Stimmungslage wird durchwoben und unterbrochen von einer Vielfalt an Perspektivwechseln. So kommen die Handlungslogik der Intensivmedizin und auch jene der Koordinationsstelle für Organentnahme ins Blickfeld. Und mit den Protagonisten werden wiederum Welten zugänglich gemacht und

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aufgefächert, die die rhizomartige Verflechtung von Existenz und Entscheidung, von Zufall und Schicksal, von Tod und Leben minutiös aufzeigen. »Kein Detail lässt dieser Text liegen, es ist, als habe er sich zur Pflicht gemacht, nichts zu vergessen, als sei er es dem, der da stirbt, schuldig, sich noch ein allerletztes Mal mit Namen, Geschichten, Leben vollzusaugen«, schreibt Peter Praschl in seiner Rezension (Praschl 2015, S. 25). Wir erfahren, was an gesetzlich vorgeschriebenen Prozeduren, an organisatorischem Geschick und Riten, an chirurgischem Erfahrungswissen und Improvisationskunst nötig ist, ehe ein Herz vom »Toterklärten« zur lebensbedrohlich Erkrankten verpflanzt werden kann. Der Abschied eines jungen Menschen, dessen Körper noch warm und für das Auge unversehrt ist, der sich in einer Schattenwelt befindet, in der das Herz noch schlägt und der Tod noch nicht sichtbar eingetroffen ist, verlangt den Angehörigen Unzumutbares ab. Die Entnahme der Organe und das Wissen um deren Weiterleben in einem anderen Menschen hinterlassen ein »Etwas«, das weder fassbar noch ein »Nichts« ist: »Wie können sie den Tod ihres Kindes auch nur denken, wenn das, was etwas rein Absolutes war – der Tod, das Absolute schlechthin –, umgeformt wurde in verschiedene körperliche Zustände?« (Kerangal 2015, S. 90). Der Perspektivenwechsel, den die Autorin zwischen den professionellen und den privaten Sphären konstruiert, lässt das Absurde der schwer verdaulichen 24 Stunden etwas erträglicher werden. Die Vielfalt der Blickwinkel in einer ungeheuer realitätsnahen, rasanten Abfolge zeigt zudem die Ungleichzeitigkeit benachbarter Lebenswelten auf. Als wäre der Originaltitel »Réparer les vivants« Programm, wird der Tod und seine zersplitternden, fragmentierenden Folgen durch eine Konvergenz der Lebenden und des Lebens an sich konterkariert. Urs Faes (2017) erzählt in »Halt auf Verlangen. Ein Fahrtenbuch« von einem, der sich durch die rettende Kraft des Lesens und Schreibens über Wasser hält, nachdem ihn eine diagnostizierte Krebserkrankung und die nötig gewordene Therapie aus der Bahn geworfen haben. Der

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namenlose Protagonist, von dem in der dritten Person erzählt wird, ist laut Autor weitgehend aus autobiografischen Erfahrungen konstruiert. Die Erzählung findet auf mehreren Ebenen statt und setzt da ein, wo der Diagnostizierte auf seinem Weg zur Bestrahlungstherapie nachzudenken beginnt – über das Leben, die Liebe, die Frauen und den Vater. Die Liebesgeschichten und die Vaterfigur erhalten im Verlauf der Erzählung besondere Aufmerksamkeit. Der Vater, in den fünfziger Jahren Wagenführer der Aarau-SchöftlandBahn im Wynental, hatte seinen Sohn bis zu einem Unfall jeweils zu auserwählten Fahrten in den Führerstand mitgenommen. Mit diesen »Erfahrungen«, zugleich die kostbaren und etwas skurrilen Gelegenheiten, die ihm mit dem meist abwesenden Vater zu teilen erlaubt waren, wird eine zweite Zeitebene eingeführt. Die beiden Zeitebenen werden durch die Motive der Mobilität, die Tramfahrten, und der Einsamkeit, ehemals des eingeschüchterten Kindes, nunmehr des eingeschüchterten Erkrankten, in eine Parallelität gesetzt, die sich wiederum durch Nähe und Distanz sowie Brüchigkeit und Konsistenz auszeichnet. Mit einer weiteren Ebene reflektiert der Erzähler über die sinnstiftende Funktion des Schreibens, welches schon in jungen Jahren half, Unverständliches auszuhalten. Faes gelingt es, den an sich bedrückenden Plot kunst- und lustvoll zu erzählen. Eindringlich und überzeugend werden die redundanten Gänge in die Gefilde der Radiologie geschildert. Die teils beglückenden, teils beklemmenden fragilen Annäherungen an den Vater der Kindertage verlieren sich nie in Sentimentalitäten. Mit der Aufspaltung in verschiedene Erzähl- und Zeitebenen verleiht der Autor dem Stoff eine Dynamik, die zwischen Nähe und Distanz oszilliert und gleichzeitig eine wohltuende Relativierung aller Dinge ermöglicht. Komposition und verdichtete Sprache, Gestaltung und Strukturierung – inklusive Auslassungen – sind vom Autor so gewählt, dass die bedrückenden Ereignisse nie ins Verbrämte kippen. Weder wird das Schicksalhafte des Leidens romantisiert noch werden die existenziellen Widersprüche des Lebens harmonisiert. Organisch, leicht und schwer, authentisch und kunstvoll schreibt hier einer von den Dingen, die uns spätestens dann, wenn die lebensbedrohlichen Krankheiten kommen, wirklich bewegen: »Für uns Kranke ist nichts mehr so, wie es einmal war, nicht die Menschen,

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nicht die Räume, nicht einmal der Garten hinterm Haus« (Faes 2010, S. 115 f.). So Meret in Faes’ Buch »Paarbildung« – welches aus einer fast zweijährigen Tätigkeit in einer onkologischen Klinik heraus entstanden ist. Faes vermittelt uns mit seinen Werken anschauliche Bilder, wie aus persönlichen Krisen Literatur entstehen kann. Schreiben sei ihm zum Mittel der Selbstvergewisserung geworden, habe ihm Halt vermittelt. Im Beschreiben dessen, was man sieht, holt man die Welt, die zu entgleiten droht, wieder zu sich. Wer erzählt, bleibt nicht allein. Wer eine Sprache findet für das, was er erlebt und was ihn bewegt, ist dem Leben nicht schutzlos ausgeliefert. Faes’ Hinweis, er habe die Wirklichkeit seiner Erkrankung erfahren und »erschrieben« – und damit zugleich Distanz zur existenziellen Dimension dieser Wirklichkeit genommen –, deutet auf die Zirkularität des Erzählens und Schreibens hin, das sich aus der Stetigkeit der menschlichen Existenz speist – und gleichzeitig eine unabdingbare Distanz zum Eigenen und Eigentlichen sowohl ermöglicht wie auch erfordert. Das Erzählen des Verlustes von Integrität und Vertrauen hat dem Autor Halt gegeben, hat ihm vielleicht den Zugang zur »Welt« – zu seiner Welt – wieder ermöglicht.

Schreiben als Selbstorganisation

Im Schreibakt wird nicht nur erinnert und aufgezeichnet. Schreiben beinhaltet auch eine Tätigkeit, in der »Erinnerungen, Erfahrungen und Wissensbestände produziert, artikuliert und organisiert werden« (Zanetti 2012, S. 7). Das Ich, das seine Erfahrungen artikulieren möchte, findet sich und diese Erfahrungen nicht einfach vor, sondern bildet sie im Erzählprozess. Schreiben und Erzählen sind Denkarten. Sie regen die Reflexion an und organisieren die Flut von Informationen und Impulsen. Genauso können sich Erinnerungen und Erfahrungen auch verflüchtigen, amorph oder zumindest widerständig bleiben. Wer über sich und sein Leben schreibt, blickt zurück auf das, was sich eingeprägt hat – und bestimmt durch die nachträgliche Beschäftigung zugleich das, was als »implizite Selbstarchivierung« (Zanetti 2012, S. 31) bezeichnet werden kann. Im Schreib-

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prozess modifiziert sich unser Wissen und Erinnern. Die dabei gewonnenen Einsichten werden zu Triebfedern, die den Prozess vertiefen und voranbringen.6 Wer schreibt, wirft sich dem Stoff des Lebens in die Arme (vgl. Swift 2017, S. 108). Wer schreibt, setzt ein Zeichen gegen die Schnelllebigkeit von Mikroblogging und die Oberflächlichkeit von Messengern. Wer schreibt, entrückt sich und die Lesenden in andere Welten – in Welten, wo der rücksichtslose Lauf der Zeit, die rabiaten Gesetze der Natur und das Korsett gesellschaftlicher Konventionen nichts verloren haben. Wer schreibt, gießt seine achtsamen Wahrnehmungen in behutsam ausgewählte Sprachgefäße, löst Metaphern aus ihrer Erstarrung und erweckt die in ihnen schlummernden Geschichten (vgl. Koschorke 2017, S. 20). Er nutzt das Geschenk der Sprache, die mehr ist als Information, die über die Diktion bis dato Unerhörtes zum Klingen bringt. Wer schreibt, bekennt seine Liebe zur Geschichtlichkeit, seine Akzeptanz der Vergänglichkeit allen Daseins und seinen Widerstand gegenüber der repetitiven Indifferenz des Alltags. Wer schreibt, bleibt an einem Ort, verweilt, hält inne und schärft das eigene Bewusstsein. »Der Dichter ist das Sprachrohr der Ratlosigkeit seiner Zeit« (Kaschnitz 1963, S. 217). Die Schreibende soll die Widerständige sein, die mit ihrer Poesie und ihrem erzählerischen Ich die Denkräume offenhält. Sie ist wortgewaltig und sprachmächtig, sie gleicht der Bildhauerin, die aus den unförmigen Findlingen der Wort- und Ratlosigkeit Figuren formt, ohne die Fragen mit trivialen Antworten zu entwerten. Sie nimmt uns mit in den Dialog zwischen ihr und der Schöpfung, sie öffnet uns das Tor zu ihrer Seh- und Sprachschule. Sie mag als verklärte und verklärende Poetin missverstanden werden, doch sie achtet das Kleine und Schützenswerte. Erzählend hält sie die Leiden der Einsamen und Empfindsamen aus. Sie versagt sich, auf der Suche nach einem Weg zwischen Zynismus und Hoffnungslosigkeit zu kapitulieren.

6 Zanetti nennt die Form des Schreibens, in der die im Prozess gewonnenen Einsichten selbst wieder zum Teil des Prozesses werden, »epistemisches Schreiben« (Zanetti 2012, S. 29).

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Das hier angestimmte, zugegebenermaßen etwas pathetische Lob auf die Schriftstellerei gründet in der Überzeugung, dass Schreiben die Sensibilität und damit auch die dialogische Kompetenz fördern. Sie versetzt in andere soziale Welten und kulturelle Milieus. Erzählen ist – so ein mögliches Fazit – ein Therapeutikum gegen die kognitive Kapitulation.

Der Mehrwert des Erinnerns

Auf die antiken Gedächtnisstützen (hypomnêmata) und deren läuternde Funktion habe ich bereits hingewiesen. Nach Michel Foucault waren sie für den alleinlebenden Asketen das, was für die in Gemeinschaft Lebenden die anderen waren: Das Schreiben übt eine Rückkoppelung auf die Seele des Schreibenden aus. »Indem es Licht in die Gedanken bringt, vertreibt es die Dunkelheit, in der der Feind sein Netz spinnt. […] Durch das Spiel der Auswahl der Lektüre und des assimilierenden Schreibens sollte man sich eine Identität schaffen können, an der sich die ganze spirituelle Genealogie ablesen lässt« (Foucault 2012, S. 50 f. u. 57). Nebst den Notizbüchern, die auch der persönlichen Übung des Schreibens dienten, war die Korrespondenz ein geeignetes Mittel, sich über sich selbst zu vergewissern. Das Schreiben selbst – so Foucault –, das dem Empfänger hilft, wappnet auch den Schreibenden im Hinblick auf existenzielle Verlusterfahrungen. Die Korrespondenz ist indes »mehr als ein bloßes Training durch Schreiben und Erteilen von Anweisungen. Sie ist zugleich eine Form, sich dem anderen und sich selbst zu zeigen. Im Brief ist der Schreiber dem Empfänger präsent, und zwar nicht nur durch die darin gegebenen Informationen über sein Leben, sein Tun, seine Erfolge und Misserfolge, sein Glück und Unglück, sondern in einer Weise, die als unmittelbare und nahezu physische Präsenz erscheint« (Foucault 2012, S. 60).

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Schreiben bedeutet demnach, »sich sehen lassen, sein eigenes Gesicht vor dem des anderen erscheinen zu lassen« (Foucault 2012, S. 60). Die im Brief enthaltende Selbstdarstellung hat dabei zum Ziel, »den Blick des anderen mit dem eigenen Blick auf sich selbst zur Deckung zu bringen« (Foucault 2012, S. 66). Durch Sprache hervorgerufene Eindrücke oder Erinnerungen zeigen sich den Hörenden oder Lesenden in Form von Bildern. Sobald wir eine Geschichte hören, steigen bildhafte Assoziationen in uns auf. Jede Erzählung erfolgt in der Annahme oder in der Hoffnung, dass in den Hörenden oder Lesenden vergleichbare Bilder entstehen mögen. Erst dieser Wiedererkennungseffekt in Bildern und durch Bilder lässt initiales Verstehen zu. Anders würden auch die Geschichten der Hebräischen Bibel und die Evangelien kaum einen Sinn ergeben. Es muss etwas anklingen und vor dem geistigen Auge auftauchen, damit wir in die Sphäre des eigenen Abwägens und Argumentierens hineinkommen. »Erzählen ist […] eine Form des Sprechens, die ihrerseits auf wahrgenommene Bilder Bezug nimmt« (Ritschl 2018, S. 287). Die Schreibende oder Erzählende ist ebenso wie der Leser oder Hörer auf die Bildersprache angewiesen: Nur in der Referenzierbarkeit von Bildern und figuralen Assoziationen können Argumente transportiert werden. Kann Erzählen zu (neuem) Leben erwecken? – Eine (zu) gewagte Metapher, ein überhöhter Anspruch an menschliche Fähigkeiten, wenn wir nicht das Moment des Erinnerns mitbedenken (vgl. Wild 2018, S. 21). Wer erzählt oder schreibt, bewahrt vor Vergesslichkeit. Wer sich erinnert, holt die verloren geglaubten Geschichten aus der Finsternis ans Licht. »Was die Zeit davonträgt, dem Tod entgegen, und, schlimmer noch, dem Vergessen, das bewahrt die Erinnerung des Erzählers« schreibt Heinz Schlaffer (2013, S. 126) in seiner kurzen deutschen Literaturgeschichte. Nicht ohne jene Kehrseite zu benennen, die mit dem Erinnern einhergeht: »Die Tragik der Erinnerung besteht darin, dass sie die intensiven Momente und schmerzlichen Versäumnisse des Daseins in der Vorstellung wiederholt, aber nicht zurückholt.« (Schlaffer 2013, S. 126). Erzählen ist an ein Erinnerungsarchiv gebunden, das kein statisches Gut ist, dessen man sich bedienen und auf das man sich ver-

Das Potenzial narrativer Identität205

lassen könnte. Ausgangspunkt des Erinnerns ist immer die aktuelle Gegenwart des Erinnernden. Erinnerung ist somit in Bewegung, ist den Launen und dem Wandel der Zeit ausgesetzt (vgl. Caduff 2007, S. 28 f.). »Erinnerungen sind nicht fortlaufend. Sie springen von Ort zu Ort und über große Zeitabschnitte hinweg, mit vielen Lücken dazwischen« – so Paul Auster in der Konzeptualisierung seines »scharlachroten Notizbuches« (Auster 2017, S. 1054). Doch gerade in der Bemühung, aus dem »wüsten Chaos unverbundener Bruchstücke« (Auster 2017, S. 1054) eine Geschichte zu entfalten und Erinnertes zu benennen, entsteht jene Identifikation, die sich von der Nacht, die alle Katzen grau sein lässt, unterscheidet. »Nur der wird sich erinnern und die Bilder bewahren […], der sie benennen kann; darin findet jedes Sprechen sein Wagnis, sein Scheitern manchmal und manchmal sein Gelingen. Es bleibt immer […] der Zwiespalt zwischen einer sprachlosen Sprache, in der die stummen Dinge sprechen, und jener zur Zeichenhaftigkeit neigenden Sprache, die durch den Begriff einengt, was sie wahrnimmt, aber Sprache und Sprechen schaffen immer eine Form von Identität, von individueller zunächst, aber auch von kollektiver« (Faes 2007, S. 121). Erzählende, Schreibende und Lesende sind keine besseren Menschen und werden es auch nicht dadurch, dass sie erzählen, schreiben oder lesen. Wer sich indes erinnert und Erinnerungen zu versprachlichen versucht, schult nicht nur die Erinnerungsfähigkeit, sondern öffnet ebenso Tore zu neuen Verstehensmöglichkeiten. Insofern erwecken erzählendes Erinnern und erinnerndes Schreiben tatsächlich zum Leben.

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6.2 Erleben zur Sprache bringen Einer diagnosebedingten Krise, der Feststellung einer ernsthaften Erkrankung und der Beurteilung der erhobenen Befunde geht oft eine Phase der Ungewissheit voraus. Ungewissheit ist eine der nur schwer erträglichen Lebenssituationen. Sie ist voller Ambivalenzen. Immer schwingt die Hoffnung mit, dass der Befund harmlos ist oder sich als Irrtum erweist. Mit der Diagnose ist dieser Hoffnungsaspekt vorerst einmal zertrümmert. Das ist meist ein Moment, der Abgründe offenbart und innerhalb der ersten Phase in ein emotionales Chaos mündet. Das Chaos wiederum ist ein Zustand vollständiger Unordnung oder Verwirrung. Das emotionale Chaos löst große Verunsicherung aus und geht oft mit einem fundamentalen Orientierungsverlust einher. Es ist sowohl Ausdruck menschlicher Resilienz wie auch ein Relikt der zertrümmerten Hoffnung, dass sich nach dem Schock und dem emotionalen Chaos zeitnah ein Drang meldet, der Ordnung schaffen will. Patientinnen und Angehörige wollen beispielsweise Informationen zu Diagnose, Maßnahmen, Verlauf und Therapieangeboten sowie zu deren Risiken. Dahinter steht ein Kausalitätsbedürfnis, dem die Episteme der Medizin zwar selten ganz gerecht werden können, das aber Teil des Coping-Prozesses ist. Viele Patienten klammern sich an Fachpersonen, v. a. an Ärzte: Sie erwarten nebst fachlichen auch persönliche Kompetenzen. Sie möchten ihre Fragen an fachkompetente Adressatinnen richten können, die gleichzeitig aber über kommunikative Qualitäten verfügen. Solche Erfahrungen können mitten in der Tragödie beglückend und tröstend sein. Sie sind aber alles andere als selbstverständlich. Die Erwartungen können auch für das medizinische Personal zur Überforderung werden, insbesondere, wenn Patienten oder Angehörige jemanden benötigen, der ihnen ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt und ohne Zeitbegrenzung zuhört. Hinter diesen impliziten oder expliziten Erwartungen verbirgt sich häufig das dringende Bedürfnis, verstanden zu werden. Patientinnen benötigen keine Ratschläge in Bezug auf Akzeptanzleistungen, sondern eher neugierige, jedenfalls offene Fragen zu ihrer Geschichte, Gefühlslage, Denkweise und zu ihrem Wertesystem.

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Betroffene möchten ihr »Erleben zur Sprache bringen« (vgl. Schoeller 2019). Seelsorgliche Unterstützung ist undenkbar ohne respektvolle Anteilnahme, auf deren Basis Geschichten und Sorgen erzählt werden können, die sie neben gesundheitlichen Themen aktuell oder rückblickend belasten.

Krankheitserfahrung und Kohärenzverlust

Schwer erkrankte und sterbende Menschen berichten oft von einer Verlusterfahrung: »Was ich bin, verschwindet immer mehr«, meint eine Patientin mit Leukämie. Und eine Frau mit einem Mammakarzinom, das nach dem stationären Aufenthalt nun ambulant behandelt wird, antwortet auf die Frage, wie es ihr nun zu Hause ergehe: »Alles ist wie vorher, nur ich nicht.« Das Gefühl von »Kohärenzverlust« (Antonovsky 1997) ist nach einer Diagnose oft ein stiller Begleiter: »Ich bin der Welt abhandengekommen«, dichtete Friedrich Rückert für Gustav Mahlers berühmtes Lied7. Ein Patient würde sagen, dass er sich selbst abhandengekommen sei. Und dass er grundlegende Aspekte des kohärenten Daseins vermisse: die Fähigkeit, die Zusammenhänge des Lebens zu verstehen, die Überzeugung, das eigene Leben gestalten zu können und den Glauben an den Sinn des Lebens. Nebst Gesundheit, Berufstätigkeit und sozialer Integrität verliert der kranke Mensch das grundlegende Vertrauen: Das Selbstvertrauen, das Vertrauen in den eigenen Körper, das Vertrauen in die Machbarkeit und in die Selbstwirksamkeit. Im Moment einer existenziellen Erschütterung findet ein Paradigmenwechsel statt – ungefragt, ohne Zutun, ohne Willensäußerung. Das Leben war natürlich auch vorher nicht nur von positiven Dingen besetzt, aber es stand bestenfalls unter einem positiven Vorzeichen. Mit der Diagnose ändert sich das schlagartig: Nun ist alles von einem negativen Vorzeichen umrahmt. Eine ernsthafte Erkrankung tangiert unser Innerstes, unser Ureigenes, unsere Identität. Die Verletzung 7 »Ich bin der Welt abhandengekommen« ist eines der fünf Lieder für Singstimme und Klavier oder Orchester von Gustav Mahler, komponiert zu Texten von Friedrich Rückert.

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unserer ursprünglichen Selbstverständlichkeit kann das Ur- oder Grundvertrauen zerstören. Sie kann allerdings auch in eine neue Achtsamkeit führen – nicht sofort, nicht ungetrübt oder endgültig, und nicht ohne schmerzhafte und zeitintensive Prozesse. Als Seelsorgerinnen können wir uns zu den Erzählungen verhalten, indem wir darauf oder auf einzelne Aspekte davon Bezug nehmen. »Sobald referiert wird, ist eine Unterscheidung im Spiel. Die Markierung oder die Bezeichnung von irgendetwas macht einen Unterschied […]« (Fuchs 2011, S. 68). In der Auswahl und in der Priorisierung übernehmen wir – aufgrund unseres Wertesystems, unserer theologischen und anthropologischen Prämissen, aber auch aufgrund des Vertrauens in die eigene Intuition – Verantwortung für den kommunikativen Prozess.

»Re-entry« – der Rückblick auf einen Krankenhausaufenthalt

Ein ehemaliger Patient blickt rund eineinhalb Jahre nach seinem Austritt zurück auf seine Krankheitsgeschichte: »Ein persönlicher Blick zurück ohne Zorn – auf über drei Jahrzehnte als Leberkranker, 143 Tage am Stück im Berner Inselspital, die Dankbarkeit eines gut Umsorgten, den langen Weg zurück ins normale Leben und die wiedererwachte Lebensfreude.«8 Er tut das mit sprachlicher Kraft und Kompetenz, mit Humor und Ironie, in Betroffenheit und Dankbarkeit. Wir erfahren in den einzelnen Textbausteinen, dass der Patient während seines bis anhin letzten Krankenhausaufenthalts nicht allein mit dem Leben »davongekommen«, sondern nach diversen Komplikationen und Krisen zu einer neuen Lebensqualität durchgedrungen ist. Auf dem Hintergrund der Untersuchung »Close Talking« von Donata Schoeller

8 Der Verfasser der kursiven Textbausteine, die er in einer durchwachten Nacht niederschrieb, hat mir diese als Dank für die seelsorgliche Begleitung während den letzten Monaten seines Krankenhausaufenthalts dankenswerterweise zur Verfügung gestellt.

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(2019) werden die Textfragmente über das Situationsspezifische hinaus auch sprachphilosophisch eingeordnet.9 »Dem Vernehmen nach hat sich der irische Schriftsteller Oscar Wilde auf dem Sterbebett mit dem Satz verabschiedet: ›Entweder diese scheußliche Tapete geht oder ich!‹ Die Tapete blieb – und so ist er denn konsequenterweise auch gestorben. Es gibt im Berner Insel­ spital zum Glück keine scheußlichen Wandbehänge, und so bin auch ich geblieben, zumal mir in den letzten Stunden wohl kein so origi­ neller Abschiedsspruch eingefallen wäre. Erst gegen den Schluss mei­ nes fast fünfmonatigen Klinikaufenthalts zwischen Dezember 2017 und April 2018, als ich allmählich wieder die Kraft fand, mich aufzu­ rappeln, ist mir so richtig bewusstgeworden, wie knapp ich bisweilen am Tod vorbeigeschrammt bin. In den Tagebuch-Aufzeichnungen mei­ ner Partnerin habe ich dann Monate später dennoch mit Erstaunen den Satz gelesen, dass man mich in den ersten Januar-Tagen 2018 auf der Intensivstation des Inselspitals mit Druckbewegungen auf die Brust reanimieren musste, weil mein Atem zu schwach war.« Menschen, die eine gewisse Zeit in einem komatösen Zustand auf der Intensivstation lagen, müssen sich oft mit der Frage auseinandersetzen, wie sie anders dieselben bleiben können. Die veränderten Bewusstseinszustände beeinträchtigen das bisherige Selbstbewusstsein. Die Erinnerungslücken fühlen sich wie blinde Flecken der Identitätsentwicklung an. Häufig geht es darum, diese Phasen mit viel Geduld und behutsamen sozialen Interaktionen in das eigene Selbstbild zu integrieren. Tagebuchnotizen, verfasst von Pflegenden und Angehörigen, auch Bilder und Zeichnungen helfen zu jener Beziehung zurückzufinden, die ein Mensch zu sich selbst hat. Nicht jedes Puzzleteil passt ins Gesamtbild. Und manchmal passt das Gesamtbild auch überhaupt nicht mehr. Die Aufgeschlossenheit gegenüber unfreiwilligen Erfahrungen kann gar zu einer neuen Selbstfindung führen: Zu einer Identität zwischen Autonomie und Anpassung, die sich vergewissert, wie sie das zukünftige Leben gestalten möchte.

9 Im Nachgang wird das Modell von Schoeller (2018) in Bezug auf das »Talking«, also die mündliche Kommunikation, angewendet.

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»Die Selbstverständlichkeit, mit der ich seit jeher angenommen habe, dass ich es – trotz meiner chronischen Erbkrankheit – schon irgendwie schaf­ fen werde, kommt mir im Nachhinein ziemlich wagemutig vor. Denn inzwischen weiß ich, dass ich die Möglichkeiten der Intensivmedizin mit meinen unzähligen Komplikationen bis an ihre Grenzen ausgereizt habe: Blutvergiftungen, Verstopfungen von Blutgefäßen, das Zerstören der ersten Spenderleber, Nierenversagen, Lungenentzündungen, Wasser­ ansammlungen im ganzen Körper oder Infektionen mit antibiotika­ resistenten Keimen – ich habe nichts davon ausgelassen, und es wollte einfach nicht aufhören. Doch Anfang April 2018 spürte ich plötzlich, wie die Lebensenergie in meinen ausgelaugten Körper zurückkehrte. Nach­ dem ich monatelang halbtot in den Seilen hing, beraubt um alle Fähig­ keiten, die mich als Person ausmachen – wie das Sprechen, Denken, Schreiben, Gestalten oder Gehen – kamen nun endlich die Lebensgeister zurück. Obwohl ich vom Charakter her ein eher geduldiger Mensch bin, brachte mich die nicht enden wollende gesundheitliche Krise zuvor an den Rand der Verzweiflung. Deshalb empfand ich die baldige Verlegung von der Intensiv- auf die Bettenstation dann schon fast als den Beginn eines angenehmen Kuraufenthalts. Hier war ich umgeben und betreut von netten Menschen, die sich mit mir sichtlich darüber freuten, dass ich nun wieder sprechen und schlucken konnte, Geschichten aus meinem Leben erzählte, das Gehen erlernte, Appetit auf Nahrung hatte, mich alleine zur Toilette schleppte und Lust darauf verspürte, mich gedanklich wieder mit anderem zu beschäftigen als bloß mit den eigenen körper­ lichen Beschwerden. An meinem geglückten Überleben haben gewiss mehr als 200 Berufsleute aus verschiedenen Disziplinen mitgewirkt. An viele von ihnen habe ich auch überhaupt keine oder nur eine vage Erinnerung, weil ich tagelang im Koma lag oder in meinen wiederholten Verwirrungszuständen wenig von ihrer Betreuung mitbekam. Es sind unter diesen Personen einige, die mich – über ihre medizinischen und beruflichen Kompetenzen hinaus – berührt haben, weil sie sich in mei­ nen Augen besonders für mein Wohlergehen engagierten oder sich trotz Zeitnot dafür interessierten, was mich neben meiner damaligen Haupt­ beschäftigung als Spitalpatient im Leben sonst so umtreibt.« Die Passage zeugt von der Spannbreite des Erlebens und der Tragweite medizinischer Betreuung. Zwischen dem Verlust der Selbstver-

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ständlichkeit und der Rückgewinnung einer Teilautonomie kommt die ganze Palette von Widrigkeiten und Annehmlichkeiten eines Krankenhausaufenthalts zum Vorschein. Die Rückbesinnung wird nicht nur chronologisch verortet, sondern auch subjektiv gestaltet. Die diachrone Struktur ist durchsetzt von synchronen Begebenheiten. Die Bedeutungsvielfalt jeder einzelnen Station erhält dadurch eine persönliche Kohärenz. Das Spannungsfeld zwischen je nur angedeuteter Verzweiflung und Erleichterung erinnert an ein Weberschiffchen, dessen Hin- und Herfahren den Stoff webt. Jacques Derrida (2012) hat in seinen »Mémoires für Paul de Man« diese Metapher für das Entstehen eines Textgewebes verwendet. Er gebraucht das sprachliche Bild, um das Hin und Her zwischen Gegensätzen, das neue Erkenntnisse erzeugt, zu veranschaulichen. Das Hin und Her zwischen Hoffnung und Verzweiflung, das Auf und Ab zwischen Glücksgefühlen und Trostlosigkeit, sind im Kontext eines Krankenhausaufenthalts Bewegungen, die den Stoff täglicher Wirklichkeit weben. Und genau genommen nicht nur dort: Das Leben an sich ist ein Spannungsfeld zwischen unterschiedlichen Polen. Etwa zwischen Nostalgie und Aufbruchsstimmung. Oder zwischen individuellen und gemeinschaftlichen Bedürfnissen. Die jüdisch-christliche Tradition erinnert daran, dass dieses Pendeln zwischen den Polen »Tod« und »Auferstehung« der Stoff sein könnte, aus dem Leben gewoben wird. »Ich war 32 Jahre alt und eben zum zweiten Mal Vater geworden, als mir ein Arzt des Inselspitals in den frühen 1990er-Jahren erstmals mitteilte, dass ich an einer erbbedingten, chronischen Entzündung der Gallen­ gänge in der Leber leide, die das Organ nach und nach zerstören werde. Die Diagnose in relativ jungen Jahren war ein ziemlicher Tiefschlag, zumal ich schon damals erfuhr, dass es weder gegen die fortschreitende Leberzirrhose noch das ursächliche Leiden wirksame Medikamente gibt. Eine Lebertransplantation als einzige mögliche Ursachenbekämpfung stand daher bereits in dieser Zeit zur Debatte, wobei allerdings nie­ mand wusste, wie lange die vernarbte Leber noch durchhalten würde. Ich habe mich mit dem Verdikt abgefunden und trotz den eher düsteren Prognosen jahrzehntelang ein glückliches Leben geführt. Etwa drei bis fünf Mal pro Jahr haute mich jeweils eine schmerzhafte Entzündung der Gallenwege ins Bett, doch wenn die Bakterienstämme nicht gerade

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Resistenzen gegen die eingesetzten Antibiotika entwickelt hatten, war ich in der Regel nach fünf Tagen Schlappheit wieder auf den Beinen. So ging das mehr oder weniger gut bis im Juni 2013 – da wurde mir eines Nachmittags ohne ersichtlichen Grund schlecht, ich ging zum Lavabo und stellte mit einigem Entsetzen fest, wie rasch ich es mit erbrochenem Blut füllte. Mein umgehend konsultierter damaliger Haus­ arzt schickte mich mit der Empfehlung nach Hause, die Notfallstation des Regionalspitals aufzusuchen, falls dies nochmals geschehen sollte – am gleichen Abend war es dann soweit. Anderntags diagnostizierte der beigezogene Gastroenterologe Spuren von geplatzten Krampfadern in der Speiseröhre (eine typische Folge der inzwischen fortgeschrittenen Leberzirrhose), die er anschließend erfolgreich behandelte. Der Vater meiner Partnerin ist aufgrund der gleichen Symptome im Alter von 46 Jahren Mitte der 1960er-Jahre noch verblutet.« Der Rückblick auf die Zeit der Erstdiagnose und die frühen Erfahrungen mit der diagnostizieren Erkrankung lassen eine Verortung der Entwicklung zu. Dabei wird deutlich, wie alarmierend und bedrohlich die Erkrankung in jungen Jahren (schon) war, wie lange der Umgang mit diesem Befund und mit den punktuellen Krisen schon gedauert hatte. Erlebnisse, die fast dreißig Jahre zurückliegen, erhalten angesichts der überstandenen Krise nochmals eine »Gegenwärtigkeit«. Zeit- und medizingeschichtliche Entwicklungen, der frühe Tod des Schwiegervaters und die inzwischen errungenen Behandlungsmöglichkeiten lassen den Schreibenden und mit ihm die Lesenden zugleich schaudern und staunen. Erstaunlich ist indes auch, wie Menschen von ihrem Erleben sprechen und schreiben können, wie »fein adjustiert sie in Situationen von Situationen« (Schoeller 2019, S. 2) berichten, das keines Nachdenkens bedarf, und sich trotzdem präziser Begrifflichkeiten bedient. Wenn man Menschen von ihren Erlebnisweisen erzählen lässt, »wie sie, wenn sie etwas zu sagen haben, dieses als Dringlichkeitsgefühl empfinden; wie sich dasjenige, was sie denken oder erleben […] in einer Formulierung für sie fühlbar klärt, dann kann man neu ins Staunen geraten über einen derart nahegehenden Zusammenhang von Körper, Situation und Bedeutung.« (Schoeller 2019, S. 2 f.)

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»Es gehört also auch Glück dazu – Glück, wenn auch mit der falschen Krankheit, so doch wenigstens zur richtigen Zeit geboren zu sein. Glück in einem reichen Industrieland zu leben, das sich eine hochentwickelte und effiziente Medizin leisten kann, und nicht zuletzt Glück, von kom­ petenten Fachleuten aus den Bereichen Chirurgie, Intensivmedizin, Pflege, Physiotherapie, Ernährungsberatung, Lymphdrainage, Trans­ plantationskoordination oder Seelsorge betreut zu sein, die Hand in Hand arbeiten, um Schwerkranken wie mir wieder auf die Beine zu helfen. Zu diesem Glück gehören auch die Begegnungen mit Profes­ sor D. und seinem Team im Bauchzentrum des Inselspitals. In meiner Not nach der beängstigenden Varizen-Blutung wählte ich im Som­ mer 2013 die private Telefonnummer seines damals schon pensionier­ ten Vorgängers, der mich zuvor in kritischen Situationen bereits über Jahrzehnte kompetent betreut und beraten hatte. Er war nicht nur ein engagierter Forscher und Pionier auf dem Gebiet schwerer Leber­ erkrankungen, sondern ein mir durchaus sympathischer und humo­ ristischer Zeitgenosse, der im täglichen Umgang mit dem Elend seiner Patienten offensichtlich seine eigene Lebensphilosophie entwickelt hatte. Er machte mir den Eindruck einer hell leuchtenden Kerze, die über­ mäßig viel Licht ausstrahlt, weil sie gleich an beiden Enden brennt. In seiner jovialen Art – und doch allen Ernstes – riet er mir einmal ver­ suchsweise zu drei Gläsern Rotwein am Tag, um meine vernarbte Leber etwas herauszufordern und sie so am Laufen zu halten. Ich traute der empfohlenen Therapie trotz der ausgewiesenen Fachkompetenz wenig und vermutete angesichts seines auffällig geröteten Gesichts, es sei dies wohl eher die bevorzugte Wahl seiner eigenen Heilbehandlung im Umgang mit den Widrigkeiten der menschlichen Existenz als die für mich am besten geeignete Therapie […]. Prof. D. ist ein ganz anderer Mensch. Er übt sich dem Patienten gegenüber eher in Zurückhaltung, spricht mit ziemlich leiser Stimme, hört aufmerksam zu, stellt mit aller Selbstverständlichkeit die zentra­ len Fragen und zeigt waches Interesse am Menschen, der das kranke Organ mit sich herumschleppt. Es verging kaum ein Besprechungs­ termin, an dem er sich nicht auch nach den beruflichen Erfahrungen und der Familie erkundigte. Da paart sich Know-how auf hohem medizinischem Niveau mit einer spürbaren Anteilnahme am Schick­ sal der Erkrankten – eine wunderbare Kombination, die mir in dieser

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Form während meiner langen Krankheitsgeschichte nie zuvor begegnet ist. Über Jahre hat er mir am Bildschirm die MRI-Aufnahmen mei­ ner vernarbten Leber und Gallengänge erläutert, mich beruhigt, dass sich noch kein Tumor gebildet habe und doch in aller Offenheit das angesprochen, was mich im Endstadium der Leberzirrhose an physi­ schen und psychischen Herausforderungen erwarten würde und wor­ auf ich mich vorbereiten sollte.« Nun kommt in dieser Rückblende erstmals die Bedeutung guter Betreuung und professioneller Kommunikation zur Sprache. Allem voran die Kontakte mit den Klinikdirektoren werden zu Schlüsselmomenten im Bewältigungsprozess. Das einfühlsame Erklären medizinischer Fakten und das einfühlsame Erfragen persönlicher Verhältnisse zeichnen den turn to embodiment aus, der für Patienten unabdingbar wird: Vernetzte und verkörperte Lebenskontexte können benannt werden. Voraussetzung ist ein close talking – ein mit einem aufmerksamen Gegenüber geführtes, ergebnisoffenes Gespräch, das aus eingespielten und eingeübten Schritten besteht, die durch Anerkennen, Respektieren und Fokussieren gekennzeichnet sind. Nur wenn das situative Erleben klärend und bewusstmachend einbezogen wird, können sich unmittelbare Eindrücke, die noch nicht klar auf einen Begriff zu bringen sind, transformieren. Das scheint in verschiedenen Phasen der Krankheit immer wieder und mit unterschiedlichen Professionen gelungen zu sein. Der Patient resümiert zwar aus einer deutlich komfortableren Position, die potenziell immer auch verklärende Wirkungen haben kann. Aber man spürt die situative Verwobenheit des Textgewebes, wenn die Flüchtigkeit des Erlebens auch erst in der folgenden Passage – die nun wieder die jüngere Vergangenheit ins Visier nimmt – den Text ganz durchdringt. »Bei allen Versuchen einer gründlichen Vorbereitung hatte ich dann aber doch keine konkrete Ahnung, was es wirklich bedeutet, von der eigenen Leber allmählich vergiftet zu werden, bis ich es selbst körper­ lich erfahren musste […]. Den Erzählungen nach konnte mich meine Partnerin eines Morgens nicht mehr wecken und alarmierte meinen neuen Hausarzt, der darauf drängte, mich sofort mit der Ambulanz in die Notfallstation des Inselspitals einzuliefern. Es brauchte offen­

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bar einiges, um meinen Zustand in den folgenden Tagen zu stabilisie­ ren, zumal sich die diagnostizierte Blutvergiftung kurz nach meiner Einlieferung dramatisch verschlimmerte. Aus den Wochen danach ist mir vor allem ein Anruf kurz vor dem Jahresende präsent, sie hätten nun eine Leber für mich, am Folgetag werde transplantiert. Die ver­ antwortliche Chirurgin klang beim vorbereitenden Telefongespräch so ruhig und vertrauensvoll, dass ich am Vorabend der Operation selig einschlief. Danach folgten in kurzen Abständen drei stundenlange Eingriffe, wobei mir in meinem narkotischen Zustand vor allem haf­ ten blieb, dass ich die erste Spenderleber mit einer Thrombose gleich wieder zerstört und bereits ein weiteres Transplantat erhalten hatte. Diese Nachricht ließ meine Vorstellungskraft völlig aus dem Ruder lau­ fen. Ich steigerte mich in eine Paranoia und war überzeugt, nur dank einer illegal erworbenen Spenderleber gerettet worden zu sein. Wie sonst wäre es möglich, dass ich monatelang auf ein passendes Organ gewartet hatte, während nun innert Stunden ein zweites zur Verfügung stand? In ziemlich wilden Albträumen verfolgten mich Verwandte eines speziell für mich ermordeten Inders durch die Straßen Kalkut­ tas. Meinen besorgten Familienangehörigen, die mich am Krankenbett besuchten, gab ich Speichelproben in Papiertaschentüchern als DNABeweismaterial mit auf den Weg, weil ich überzeugt war, im Spital umgebracht zu werden, da ich zu viel über den angeblich illegalen Organhandel wusste. Heute lachen wir im Familien- und Freundes­ kreis über die von Medikamenten beeinflusste Einbildungskraft, doch in den Momenten des Durchlebens solcher Fantasien war es zumindest für mich – neben all den übrigen Schmerzen – nicht derart lustig. Auch in der verschrifteten Fassung ist das sprunghafte und irrationale Erleben erkennbar, das die Schilderung von existenziellen Gefühlen bestimmt: Bilder, Gedanken und Impulse gehen ineinander über. Die Modalitäten der Beschreibung verändern sich subtil und wechseln zwischen narrativen und interpretativen Ebenen. Auch Sprachlosigkeit, Schweigen, präreflexive Bewusstseinsebenen und symbolhafte Andeutungen gehören zur Plastizität teils verschwommener Gefühle. Die gefühlte Sprache des Körpers charakterisiert den menschlichen Sprachkörper so, dass Wortbedeutungen in Situationen hineinsprechen können. Die im Erzählen gewonnenen Erkenntnisse werden selbst wieder zum Teil des Erzählprozesses

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und führen diesen voran. Erzählen wird integraler Bestandteil des Denkens. Worte überkommen Erzählende – das Erzählen wird zu einer Weise des Denkens. Zudem sensibilisiert die Schilderung des postoperativen Aufenthalts auf der Intensivstation für die Wirklichkeit äußerst real erlebter oneiroider Erlebnisformen10. Bilder erlebter Ausweglosigkeit und Handlungsunfähigkeit dürfen nicht leichtsinnig abgewertet oder bagatellisiert werden. In Anbetracht der Entblößung und Verletzlichkeit, angesichts verlorener Selbständigkeit und Kontrolle sind Menschen in einem komatösen oder vegetativen Status11 der Angst – u. a. auch vor dem eigenen Tod – schutzlos ausgeliefert. Expertinnen gehen davon aus, dass die Ohnmacht, den eigenen Kontext wahrnehmen zu können, mit dem intensiven Erleben einer fiktiven Wirklichkeit einhergeht. Die meisten Menschen, die sich krankheitsbedingt in einem Delirium befinden, träumen sehr intensiv. Die Träumenden sind der ungesteuerten Verarbeitung ihrer Situation ohne Distanzierungs- und Reflexionsmöglichkeiten ausgesetzt – befinden sich aber subjektiv innerhalb ihrer Identität. Der fließende Übergang vom realen Ich zur Traumwelt verleiht den Erfahrungen einen – meist unheimlichen – Realitätscharakter. Betroffene leiden oft unter einem hypermnestischen Syndrom, bei dem sich Bilder – Nahtoderfahrungen ähnlich – intensiv einprägen und das Halluzinationen nur schwer vergessen lässt. Manche Patienten fühlen sich über lange Zeit dem Tod nahe, auch dann, wenn die perimortale Situation längst überwunden ist. Seither sind mehr als anderthalb Jahre vergangen, und ich stehe heute an einem völlig anderen Ort. Im Juli 2019 war ich erstmals seit drei Jahren wieder auf Reisen und erkundete zum ersten Mal in meinem 60-jährigen Leben den Südwesten Irlands. Auf der Rückreise von der kleinsten Aran-Insel Inisheer riss die Wolkendecke auf, und die Sonne 10 Oneiroide sind komplexe Träume, bei denen der Erlebende sich als wach empfindet und die er auch im Nachhinein nicht vom Wachzustand unterscheiden kann. (vgl. Schröter-Kunhardt 2006, S. 171 f.). 11 Zum Permanenten Vegetativen Status (PVS), der unter dem irritierenden Begriff Wachkoma bekannt ist, vgl. de Ridder 2010, S. 158 ff.

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beleuchtete die vom Ausflugsboot angesteuerten Cliffs of Moher. In den glitzernden Felsvorsprüngen nisteten die Papageientaucher, und vor den fast senkrecht aus dem Atlantik ragenden Steilklippen kreisten kreischende Möwen. Angesichts dieser Naturschönheit überwältigte mich einmal mehr die Freude, die schlimme Krise überstanden zu haben, noch am Leben zu sein und wieder reisen zu können. Es ist eine berauschende Erfahrung, die Kostbarkeit unseres Daseins gerade durch das Bewusstsein so intensiv zu erleben, dass die eigene Existenz zeitweise an einem sehr dünnen Faden hing. Jedenfalls kann ich mei­ nem Körper nun endlich wieder etwas zutrauen und lebe nicht mehr mit der permanenten Sorge, dass mich eine weitere Entzündung der Gallengänge oder eine vernarbte Leber umhauen könnte. Der Weg zu dieser neuen Leichtigkeit des Seins war lang und beschwerlich, doch er hat sich in jeder Beziehung gelohnt. Mir geht es gefühlsmäßig und vom Körperempfinden her besser als je zuvor in den letzten zehn Jah­ ren […]. Ich bin dankbar – für alle Professionalität und medizinische Kompetenz, die Pflege, die Ermutigungen, den Trost, das Mitgefühl und Einfühlungsvermögen, die tiefschürfenden Gespräche, die Necke­ reien im richtigen Moment, die mir lieb gewonnene Ironie und andere Aufsteller. Ich bin dankbar – für alle Leute, die mir mit interessanten Gesprächen und dem Interesse an meiner Person aufgezeigt haben, dass es ein Leben außerhalb des Spitals gibt und dass eine Heilung existiert, welche über die Pflege körperlicher Symptome hinausgeht.« Am Ende der Retrospektive kommen überwältigende Naturerlebnisse zur Sprache, die die »berauschende Erfahrung« auslösen und die »Kostbarkeit unseres Daseins« beschreiben. Einprägsame Bilder in emotionaler Verdichtung führen in eine existenzielle Dankbarkeit. Das reflexive Nachfühlen transzendiert gelebtes Leben in gefühlte Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit (felt meaning sense). Nochmals fließt die Interdependenz von körperlicher Empfindung und emotionalem Eingebundensein in den Sprachduktus ein. Der Erkenntniswert mindert zwar die durchlebte Krise und die Strapazen der lebensbedrohlichen Krankheit keineswegs, fügt diesen aber eine neue Konnotation bei: »Der Weg zu dieser neuen Leichtigkeit des Seins war lang und beschwerlich, doch er hat sich in jeder Beziehung gelohnt.« Die komplexe Erfahrung, die sich in den reflektiert verschrifteten Schilderungen niederschlägt, zeigt, wie unser Denken

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einerseits situativ und emotiv gesteuert wird – und anderseits »in höchstem Maße unser Eigentum ist« (Steiner 2008, S. 43). Gedanken verfestigen sich beim Schreiben. Das Schreiben wiederum eröffnet performative Räume des Denkens und Verstehens, ist in sich eine eigene Denkweise (vgl. Flusser 2015, S. 266): Jeder Satz bildet Realität nicht nur ab, sondern schafft Realität.

Ergebnisoffene Gespräche mit einem aufmerksamen Gegenüber

Der Alltag seelsorglicher Begleitung zeichnet sich oft durch weit weniger reflektierte Erzählweisen aus, allein schon aufgrund der fehlenden Distanz des Erlebten gegenüber. Zudem haben schriftlich verfasste Zeugnisse eher Seltenheitswert. In der Regel erfolgt das Erzählen des Erlebten und Gefühlten in mündlicher Form. Gleichwohl und umso deutlicher wird die Kulturtechnik des close talking, wie sie Donata Schoeller (2019) erarbeitet hat und wie diese oben in die Interpretationen zum verschrifteten Patientenrückblick eingeflossen ist, bedeutsam – und für die Seelsorge zu einer Schlüsselkompetenz. Mit close talking gemeint ist – in Abgrenzung zum Smalltalk – eine Sprachpraxis, die sich durch das Einlassen auf die jeweilige Situation, durch sensiblen Sprachgebrauch und subtile Aufmerksamkeitspraxis auszeichnet. Im Vergleich zur Schriftsprache spielen Gestik, Mimik und die Körperhaltung, aber auch das hörbare Sprechverhalten wie Stimmlage, Artikulation, Lautstärke, Sprechtempo und Sprachmelodie einschließlich Sprechpausen eine wichtige Rolle für die Koordination der Kommunikation.12 Schoeller erinnert an die Verhaltensweisen des Kampf- und des Tanzrituals (vgl. Schoeller 2019, S. 237 ff.): In beiden wird ersichtlich, wie die Geste des einen zur Geste des anderen führt, die Bewegung des Letzteren löst wiederum eine Bewegung der Ersteren aus – es kommt zu einer gegenseitig abgestimmten Veränderung der Positionen und Haltungen. Diese Koordination von Gesten lässt sich 12 Als paraverbale Kommunikation wird derjenige Aspekt der Performanz bezeichnet, der die individuellen Eigenschaften der sprechenden Person zusammenfasst. Diese werden in Stimme, Intonation und Prosodie unterteilt.

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nach Schoeller (2019) auf die verbale Kommunikation übertragen: Das, was der eine sagt, führt zu dem, was die andere äußert. Durch die verkörperte Interaktion bildet sich ein Sprachkörper in relativer Eigenständigkeit und Selbstverständlichkeit.13 Worte »kommen«, sie entstehen aus der Verfassung des situativen Sprachkörpers, aus der Art und Weise, wie etwas zwischen den Gesprächsteilnehmenden besprochen wird.14 Die Wortwahl ist sekundär, um etwas Relevantes sagen zu können. Die Situation an sich schafft oder ermöglicht ein (Vor-)Gefühl, das erkennen lässt, wovon man sprechen kann und wieviel man wagen darf. Eine 56-jährige Patientin weist sich aufgrund von akuten stechenden Schmerzen im Oberbauch, Diarrhoe und Erbrechen sowie vermehrter Müdigkeit, Husten und Atemnot selbst ein. Vor über 15 Jahren wurde bei ihr ein Mammakarzinom diagnostiziert und therapiert. Nun ist die Angst vor einem metastasierenden Rezidiv groß. Lebermetastasen werden diagnostiziert, dazu eine Gallenblasenentzündung und eine Lungenembolie. Die Pflege ruft die Seelsorge mit der Auskunft, die Patientin sei interessiert an Gesprächen auf Augenhöhe und wolle mit einer Fachperson über tabuisierte Themen sprechen. Während langwierige medizinische Untersuchungen laufen, finden mehrere Gespräche zwischen der Patientin und dem Seelsorger statt. Sie eröffnet, zutiefst erschüttert, mit der Aussage, sie sei nun mit der Alternative »Lebensqualität versus Lebensdauer« konfrontiert. Sterben sei aber zurzeit keine Option. Sie habe noch einiges vor: Ihre beiden erwachsenen Kinder seien auf dem »Sprungbrett« in 13 In der soziologischen Systemtheorie ist das Phänomen unter dem Begriff der Doppelten Kontingenz beschrieben. Dies beschreibt eine soziale Situation, in der mindestens zwei Teilnehmende sich gegenseitig wahrnehmen, und in der noch völlig unbestimmt ist, was als Nächstes geschehen soll. Die Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass nichts notwendig (zu tun) ist und zugleich auch nichts unmöglich (zu tun) ist; in der Ausschließung von Notwendigkeit und Unmöglichkeit besteht die Kontingenz. Dadurch, dass dies gleichzeitig für beide Teilnehmenden gilt, wird von doppelter Kontingenz gesprochen (vgl. Luhmann 1984, S. 152). 14 Schoeller (2019) bezieht sich auf Gendlin (1992) und Mead (1968).

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neue berufliche und private Projekte. Ihr Ziel sei, die Hochzeit ihrer Tochter und die Diplomierung ihres Sohnes noch miterleben zu können. Beides sei ihr Motivation und Verführung zugleich. Das Verführerische sei die kräftemäßige Selbstüberforderung angesichts der vielen Interessen. Sehnsüchte, aber auch die nackte Angst und die Bedrohung durch die fortschreitende Krankheit lösten in ihr ein emotionales Chaos aus. Sie wolle darüber reden können, ohne geschont zu werden. Sie müsse eine Strategie entwickeln für die letzte Lebensphase: »Wie kann ich diese Zeit ertragen und gestalten, wenn mir die seelische Kraft fehlt?« Nebst den Rückblicken auf beglückende und belastende Erfahrungen, auf Gelungenes und Gescheitertes wolle sie auch über spirituelle Themen, ihre unglücklichen Partnerschaften und einen in der Kindheit erlittenen sexuellen Missbrauch reden. Der Seelsorger fühlt sich herausgefordert, dieser leidgeprüften Frau gegenüber ein einfühlsamer und unerschrockener Gesprächspartner zu sein. Er schlägt ihr vor, die Themen, die sie anschlägt, zu fraktionieren, damit es nicht zu viel werde und sie nach den Gesprächssequenzen nicht in ein noch tieferes Loch falle. Die Patientin kann das annehmen und entscheidet, mit der Angst vor Fremdbestimmung einzusteigen. Unabhängige und wohlüberlegte Entscheidungen scheinen ihr wichtig geworden zu sein. Auf diese Bemerkung hin antwortet sie, dass sie nun definitiv keine Fremdinteressen mehr befriedigen, sondern sich nur noch ihre Herzenswünsche erfüllen wolle. Sie sei immer wieder Gefahr gelaufen, »extrinsische« Motive zu bedienen  – jetzt dürfe nur noch die »intrinsische« Motivation ausschlaggebend sein. »Also nicht mehr Feuerwerk ›outside‹, sondern wärmendes Feuer ›inside‹ ist jetzt angesagt«, wirft der Seelsorger ein. Daraufhin äußert die Patientin Ängste, im nahenden Winter durch erneute Chemo- und Bestrahlungstherapien örtlich gebunden und in ihren beruflichen Tätigkeiten eingeschränkt zu sein. Sie erzählt, dass sie schon seit langem gerne einen Speicherofen in ihr großes und oft etwas kalt wirkendes Haus hätte einbauen lassen wollen. Aber sie könne doch nicht jetzt, am Lebensende, Geld auf Kosten der erbenden Kinder verprassen. Es braucht kaum ein Wort, um die Diskrepanz zur eben formulierten Selbstbestimmung zu entdecken. Die Mimik genügt,

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die Blicke treffen sich, ein verhaltenes, fast verborgenes Lächeln zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab. Der Seelsorger beschließt, diesen Widerspruch nicht zu verbalisieren und das Gespräch in zwei oder drei Tagen fortzusetzen. Zwei Tage später ist die Situation in mancherlei Hinsicht eine ganz andere. Die Patientin ist emotional aufgelöst. Sie weint und zeigt damit auch ihren Schmerz, eine total pain wie Cicely Saunders (vgl. Holder-Franz 2012) das komplexe Erleben einer Grenzsituation umschrieben hat. Der Auslöser dieser Trauer ist das Verhalten ihres aktuellen Lebenspartners, der nur mit sich beschäftigt sei – und gleichzeitig die Erkenntnis, dass sie nie in den »Genuss« einer wirklich erfüllenden Liebesbeziehung gekommen wäre. Aufgewachsen, nach dem sexuellen Missbrauch durch ihren Vater und einer überforderten Mutter, ist sie bei ihren Großeltern mütterlicherseits. Ihr erster Ehemann sei ein »Bordi« (Borderline-Syndrom) gewesen – mit dem sie es nach der Geburt des ersten Kindes nicht mehr ausgehalten habe. Ihre Sehnsucht nach einer schönen, verlässlichen Partnerschaft sei ungestillt geblieben. Ihre Partnerwahlen seien immer Kompromisse gewesen. Dabei hätte sie die großen Gefühle und die Geborgenheit in der Zweisamkeit so oft gebraucht. Der Seelsorger widersteht der Versuchung, diese möglicherweise überrissenen Vorstellungen und damit verbundenen Liebensmythen zu hinterfragen. Er fragt sie vielmehr, wie sie denn dies alles überlebt habe. Sie antwortet: »Wie ich überlebte?« – »Meine Kinder, meine Freundinnen und Freunde, meine Schwester, die heranrückten, zuhörten, mitaushiel­ ten, trugen, einsprangen, mitweinten, trösteten, Hoffnung in sich tru­ gen, übernahmen, begleiteten, beteten und ganz praktisch anpackten.« Auch gute professionelle Hilfe durch ihre Psychoonkologin, ihre Physio­ therapeutin, dem Haus- und TCM-Arzt hätten ihr schon mehrmals das Leben gerettet. Manche kämen auch nach Hause! Erstaunt über den offensichtlichen Stimmungsumschwung und beeindruckt von dem ressourcenreichen Umfeld bedankt der Seelsorger sich für das entgegengebrachte Vertrauen, würdigt ihre Offenheit und Tapferkeit, die auch ein kräftiges Zeugnis für ihr Umfeld

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sei, zu dem er sich im Moment ja auch ein wenig zählen dürfe. Im dritten und letzten Gespräch thematisiert die Patientin ihre eigene Bestattung – vom Trauerzirkular, in dem sie ihren Ex-Mann und Vater ihrer Kinder aufführen möchte, bis hin zur Beschaffung und Pflanzung eines Ginkgobaumes. Wenige Tage später geht sie nach Hause. Fünf Wochen vor ihrem Tod erhält der Seelsorger ein Schreiben mit folgendem Inhalt: »Der Speicherofen ist montiert und ich schreibe, davorsitzend, beseelt und erwärmt, Ihnen diese Zeilen. Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis. Ich danke Ihnen für Ihre Begleitung, Ihr Einfühlungsvermögen, Ihren Mut und Ihre Klarheit, die ich erleben durfte, für Ihre Art, Ihr Ein- und Zulassen, das Abtauchen in meine Abgründe mit Ihrem Sicherungs­ seil zur Seite und das Aushalten meiner Not, Ohnmacht und Hilflosig­ keit, Trauer, Schmerz und Wut. Die tiefen, klärenden, nährenden und stärkenden Gespräche, Impulse und Anregungen haben mir gutgetan. Eine Anregung möchte ich Ihnen ins ›Lebenskörbchen‹ legen: Für mich wäre es wichtig gewesen von Anfang zu wissen, was Ihr Angebot ist. Die späte Kenntnis, dass Sie keine Abschiedsfeier und Hausbesuche machen können, ließ den Begleitprozess in eine Richtung gehen, den ich im vorzeitigen Wissen darum, z. T. anders gestaltet hätte. Da ich nur über sehr wenig Energie verfüge, bekommt der Ausrichtung der Gespräche eine zusätzliche Bedeutung zu.«

Close Talking – eine seelsorglich operationalisierbare Methodik

Das Praxismodell des close talking besteht aus einem Konglomerat reflexiven Nachfühlens, »tentativer« (abtastender) Sprechakte, vertiefender Begriffssuche und einlassenden Pausierens (vgl. Schoeller 2019, S. 271). Vor dem Hintergrund dieses Modells lassen sich einige Phänomene beschreiben, die mir für die Gesprächspraxis der Seelsorge bemerkenswert erscheinen: Eine (Gesprächs-)Situation verändert sich mit der Art und Weise, wie sie erleb- und formulierbar wird. Der Ereignischarakter eines Formulierungsprozesses bzw. eines Sprechaktes eröffnet nicht nur subtile Denk- und Gefühlszusammenhänge (vgl. Schoeller 2019, S. 12 f.), sondern auch Kon-

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textualisierungen, die Verhaltensweisen, Lebensformen und Lebensphasen umfassen. Schoeller nennt dieses Phänomen die »komplexe Plastizität erlebter Kontexte« und umschreibt es – in Anlehnung an Wittgenstein – wie folgt: »Zoomt man in einer Situation gewissermaßen auf die Worte, die in ihr fallen, dann treten die Konturen des Sprachspiels in ihrer (anscheinend rein) begrifflichen Form in den Vordergrund. Zoomt man hingegen auf die Situation, in der die Worte fallen, dann wird ein erweiterter, kontextueller Rahmen des Spiels bemerkbar« (Schoeller 2019, S. 73). Situative Zusammenhänge, in denen man sich befindet, greifen auf die plastische Vielschichtigkeit der Begrifflichkeit zu. Wortwahl und Sinnfindung entstehen aus erlebten Verbindlichkeiten – oder werden situativ blockiert. Sprachlosigkeit aus Ohnmacht oder aus kritischer Weigerung, an gewissen (Sprach-)Spielen teilzunehmen15, hat schon Hannah Arendt in »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« (Arendt 1991) thematisiert. Die Kontaktlosigkeit zur eigenen Erfahrung bis hin zur Abschottung von Erlebniswelten können als komplementäre Belege des situativ-emergenten Sprachgebrauchs verstanden werden. Wenn die Patientin von ihrem Erleben und ihrer gefühlten Kälte spricht und sich diese vor Augen führt, macht das etwas mit ihr – und dem Gesprächspartner: »Indem wir die Gefühle und Wünsche identifizieren, beschreiben und von anderen unterscheiden lernen, wandeln sie sich zu etwas, das genauere Erlebniskonturen hat als vorher. Aus Gefühlschaos kann durch sprachliche Artikulation emotionale Bestimmtheit werden« (Bieri 2011, S. 19). Der Brückenschlag emotionaler Kälte zum Gedanken an den ersehnten Speicherofen und derjenige vom imaginierten Bild hin 15 Man denke an das Schweigen Jesu vor seinen Anklägern. Vgl. auch Abbt 2007.

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zu Realisierung des Ofenbaus sind selbstsprechende Beispiele. Aber auch die bestimmte und kritische Äußerung der Patientin zur unterlassenen (bzw. nicht antizipierten) Information hinsichtlich Abschiedsritualen16 ist ein Zeugnis ebendieser Performativität. Eine gefühlte und erlebte Situation kann oft erst thematisiert werden, wenn sie sich verändert hat oder am Verändern ist (vgl. Ratcliffe 2008, S. 107 f.; 253). In der gefühlten Bedeutsamkeit transformiert sich die Wortwahl. Angemessene Worte und stimmige Sprache kommen (oder verkümmern!) mit der Differenzierung der gefühlten und verkörperten Erlebenswelt.17 In einer anderen seelsorglichen Begleitung einer Patientin werden die Sprachen der Bildkunst und der Musik zu Transformationsmitteln eigener Befindlichkeit. Die biografische und existenzielle Verwobenheit mit kulturellen Kunstwerken liegen für die Museumkuratorin auf der Hand. Sie erzählt von einem Liebesgedicht eines unbekannten Autors, das Johann Sebastian Bach 1725 vertonte.18 Paul Klee hat die Wörter der zweiten Zeile, »so fang es heimlich an«, mit den Zahlen von eins bis fünf markiert und wie ein Rätsel im Bild versteckt – eben »heimlich«. Die Buchstaben und Zahlen sind wahllos im kompletten aber zerstreuten Alphabet enthalten. Die Patientin erklärt dem Seelsorger detailgetreu, wie Klee sich in seiner Spätphase intensiv mit Schrift und Zeichen beschäftige und fasziniert vom Schwebezustand zwischen abstrakten Formen, Bild und 16 Im Universitätsspital Bern hat die Seelsorge entschieden, keine Bestattungen bzw. Trauerfeiern durchzuführen, weil man damit die Gemeindepfarrer nicht düpieren will und angesichts der vielen Todesfälle die Ressourcen für die Begleitungen der Patienten zu gering wären. Ausnahmeregelungen sind für Eltern bei sog. »Stillen Geburten« und für Teams von verstorbenen Mitarbeitenden vorgesehen. 17 Schoeller spricht von »verbalen Erlebenskapseln« (Schoeller 2019, S. 256.) – Worte sind keine Repräsentanten von Dingen, sondern »laden sich mit dem auf, was in den vielen Situationen erlebt wurde, in denen sie gebraucht werden. […] Sprache ist ein potentes Speichermedium menschlichen Erlebens« (Schoeller 2020, S. 19). 18 Das Gedicht »Willst du dein Herz mir schenken, // so fang es heimlich an, // dass unser beiden Denken // niemand erraten kann« hat Bach als Arie ins Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach einfließen lassen.

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der sprachlichen Bedeutung von Zeichen war. Die Patientin scheint diese Faszination übernommen zu haben. Sie verknüpft beim Erzählen diese mit ihren »heimlichen« Gedanken an den Tod, aber auch mit einem anstehenden großen Projekt, dass sie unbedingt noch zu Ende führen möchte. Im gemeinsamen Abtasten der Gedichtzeilen und des (imaginierten) Bildes entsteht ein neues Bild – in dem Leben und Sterben, Liebe und Leiden sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern in einer komplementären Art und Weise gegenseitig bedingen. Das Gedanken- und Sprachspiel führt zu einem für die Patientin und für den Seelsorger überraschenden Weg hin zur Sorge, dass ihr Werk unvollendet bleiben könnte. Aus dieser Einsicht ergibt sich für die Patientin eine Dankbarkeit für ihr Dasein – und eine relative Gelassenheit bezüglich ihrer Zukunft. Sie formuliert es als ein »vom Müssen zum Dürfen«. Das »Nahe-am-Ball-bleiben« lässt den transformativen und performativen Gebrauch von Sprache für Patienten und Seelsorger erfahrbar werden und trägt signifikant zu gelingenden seelsorglichen Begleitungen bei. Der tentative Aspekt hilft, Erlebniswelten nachzufühlen und zu formulieren – und in Begriffe so in diese Welten hinein zu modulieren, dass sie bedeutungsverändernd werden, ohne dass die Fachperson zu übermäßig invasiven Sprechakten greifen muss (vgl. Schoeller 2019, S. 283).19 Die responsive Komplexität von Seelsorgegesprächen wird durch das Anerkennen des situativen und subjektiven Erlebens ermöglicht und gestärkt. Im Gespräch wird behutsam versucht zu klären, was der leidtragenden Person wichtig ist, was sie will, meint, denkt und fühlt. Es geht nicht allein um das, was man erlebt, sondern ebenso, wie die schwindelerregende Komplexität und der Reichtum menschlichen Erlebens zur Sprache kommen kann (vgl. Schoeller 2020, S. 19).

19 Schoeller weist andernorts daraufhin, dass die Methodik des close talking nicht nur dem auf Descartes zurückgehenden Methodenverständnis, mit einer klaren Definition, einer Prämisse oder einer Behauptung zu beginnen, widerspricht. Auch der Rat (v. a. an Unmündige), zuerst zu denken und erst dann zu sprechen oder zu schweigen, wenn man nichts zu sagen hat, steht im Kontrast dazu, ungeklärtes Denken im Dialog approximativ ins Spiel zu bringen und das Stottern und Stammeln auszuhalten (vgl. Schoeller 2018).

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Close talking benötigt Zeit und die Bereitschaft zu einer »transkulturellen Kommunikation«. Die sorgfältige »Entfaltbarkeit von Zusammenhängen, die auf gewöhnliche Erfahrung angewiesen ist« (Schoeller 2019, S. 289) steht in einem Kontrast zu den operationalisierten Methoden von Spiritual Care-Modellen und zu den auf Wissensvermittlung fokussierten Ausbildungsmodellen. »Mäeutische Methodiken sind deshalb auch eine Schulung, mit der prä- und postsemantischen Bedingung der stimmigen Artikulation zu experimentieren, die es erlaubt, zu verlautbaren, was man selbst – aus der Mitte gewachsener Lebenszusammenhänge heraus – weiterdenken, fühlen und vermitteln kann« (Schoeller 2019, S. 116).

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7.1 Zur kulturellen Aufgabe des Tröstens1 In der Kultur des Tröstens scheint sowohl das spezifisch Seelsorgliche wie auch das alltäglich Zwischenmenschliche repräsentiert zu sein. Kulturelle Bedeutung haben jene Aufgaben und Verhaltensweisen, die in einer maßgebenden sozialen Gruppe als nachhaltig empfunden werden und damit auch eine Kultur prägen (vgl. Frevert 2013, S. 23 f.).2 Trost vermag durchaus ambivalente Erfahrungen auszulösen: So sehr die Begrifflichkeiten mit größter Selbstverständlichkeit und Unbefangenheit in die bindungsrelevanten Handlungsmuster von zu betreuenden (Klein-)Kindern gehören, so rasch können Trostversuche zwischen Erwachsenen peinlich berühren oder übergriffig wirken. Es scheint, als wäre der Trost Ausdruck eines (performativen) Unterstützungsangebots für Unmündige, der eine Delle in das autonome und souveräne Selbstverständnis schlägt oder rasch mit der Peinlichkeit falscher Vertröstung gleichgesetzt wird. Wenn man die seelsorgliche Patchwork-Identität in der »kulturellen Aufgabe« des Tröstens verorten und plausibilisieren will, ist zunächst die Frage nach dem Sinn- bzw. Trostpotenzial zwischen Trostlosigkeit und Vertröstung zu stellen.3 Die reformierte Theologie hat schon in ihren Anfängen den Trost zur Grundlage des Menschseins und des Glaubens erklärt. Gemeint ist ein Trost, der den Bedarf an Sinn, Halt und Gewissheit in der Flüchtigkeit unseres Daseins umfasst. In diesem Sinne eröffnet der Heidelberger Katechismus mit der Frage, was unser einziger Trost im Leben und im Sterben sei und antwortet dahingehend, dass wir nicht nur der Für- und Seelsorge Gottes 1 Überarbeitete und erweiterte Fassung des Beitrags »Der Trost, der im ›trust‹ steckt. Zur kulturellen Aufgabe des Tröstens in der Krankenhausseelsorge« (Wild 2020). 2 Die Implikationen des hier vertretenen Trostverständnisses für eine transkulturelle Seelsorge sind kaum diskutiert, ansatzweise in: Schneider-Harpprecht 2001, S. 290 ff. Die Nähe von seelsorglichem Beistand und Trost wiederum hat Stollberg 1978, S. 40 ff. pointiert herausgearbeitet. 3 Eine umfassende Studie zum Thema »Trost« ist letztmals vor rund 30 Jahren erschienen (vgl. Schneider-Harpprecht 1989).

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bedürftig sind, sondern dass wir uns in allen Belangen dieser Fürund Seelsorge gewiss sein dürfen.4 Der Grund dieses existenziellen Trostes liegt außerhalb menschlicher Verfügungsgewalt. Im Glauben erkennen wir, dass wir in der Obhut eines bzw. einer »Anderen« aufgehoben sind.5 Karl Barth hat die Zirkularität zwischen Trost und Glauben in die ihn und reformierte Theologie bezeichnende Formel fließen lassen: »Der Glaube weiß, dass der Mensch sich selber nicht trösten kann« (Barth 1947, S. 282).6 Auch wem der Glaube als tröstende Zuversicht auf Gottes Gnade nicht gegeben ist, hat ein Anrecht auf seelsorglichen Trost. Für den ideologiekritischen und kirchenfremden Menschen der Gegenwart haben weder Religion noch Glaube an sich tröstende Kraft. Und andersherum: Glaube, Religion, Moral und auch psychologische Erstversorgung haben sich in ihren je eigenen Trostpotenzialen daran messen zu lassen, ob sie nicht allein das Unverfügbare, sondern auch das Nonkonformistische der (verletzten) Seele zu respektieren gewillt sind. Die Herausforderung seelsorglicher Strategien liegt deshalb in der Bereitschaft, über den Tellerrand klassischer, ehemals evidenter Trostmotive hinaus nach dem zu suchen, was an Trostpotenzialen auf dem »Patiententeller« liegt. Wenn Trost als »symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium« (Emlein 2017, S. 246 f.) verstanden wird, dann steht dieses Symbol für die angedeutete Formenvielfalt. Und dafür, dass der oder die Bedürftige selbst definiert, welches Medium in welcher Form (und allenfalls durch wen) trostvoll war. Bis hin zur Entscheidung, dass es tröstlicher ist, wenn man nicht durch Trostbemühungen anderer eingedeckt wird. 4 Vgl. Barth 2013. Patricia Rich und Hans-Anton Drewes haben diese bis 2013 nicht veröffentliche, an der Universität Basel gehaltene Vorlesung vom 5. Mai 1936 zugänglich gemacht. 5 Der Gründer der Herrnhuter Gemeine, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760), hat mit Bezug auf Jes 66,13 und Joh 14,26 vom »tröstenden Mutteramt des Heiligen Geistes« gesprochen und das Trösten selber als ein »Generalwort« christlicher Existenz bezeichnet (vgl. Meyer 1983). 6 Barth thematisiert den Trost in KD II/1, § 30.2 (Gottes Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, bes. S. 433): Der Trost gilt als Basis des Glaubens (an Gottes Gerechtigkeit), der Glaube als Quelle allen Trostes (durch Gottes Barmherzigkeit).

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Zwischen Trostlosigkeit und Vertröstung

Trost wird herkömmlich als zwischenmenschliche Zuwendung verstanden – mit der Intention, Schmerz und Traurigkeit zu lindern und die seelische Verfassung zu stärken. Trösten hat nicht primär die Aufgabe, das Leiden aufzuheben oder den Mangel an Kohärenz und Konsistenz zu kompensieren7. Das Trösten richtet sich nicht auf Ursachen oder Symptome, sondern auf die leidende Person (vgl. Schwandt 2008, S. 43). Ihre Aufgabe zeichnet sich vorab dadurch aus, dass sie den leidenden oder trauernden Menschen in den Demütigungen und Verletzungen, die ihm durch das Schicksal zugefügt wurde, nicht allein lässt, sondern da aufsucht, wo er ist – im Leiden, Trauern, Hadern oder Verzweifeln – und ihm anbietet, seine situative Verfasstheit mitauszuhalten.8 Das Dasein dieses anderen gleicht jener Spaltbreite offener Türen, durch die ein Hauch von Licht in das Dunkle gelangt9 und damit zumindest die Möglichkeiten eines Weges aus der Dunkelheit heraus repräsentiert. Wie bei Kindern leicht festzustellen und von der Bindungsforschung bestätigt ist, zeichnet die Bereitschaft, sich trösten zu lassen, häufig eine gefestigte Beziehung zu einem anderen aus. Der Halt in dessen Armen muss mental gedeckt sein. Der trostbedürftige Mensch muss intuitiv wissen, dass er sich »anbinden« kann, dass es in diesem anderen etwas Tragendes gibt, das seinem Schmerz standhält. Trost finden wir, sollten wir getröstet werden, in der tragfähigen Beziehung zu einem vertrauenswürdigen Mitmenschen. Das Vertrauen, das Trost erst ermöglicht, muss sich in 7 Im Trost sucht der Mensch nicht das Aufheben des Leids, vielmehr das Aufgehobensein in der Einsamkeit seines Leidens, sozusagen des Leidens am eigenen Leid. Die aus der Verhaltenstherapie hervorgegangene Akzeptanzund Commitment-Therapie (ACT) versucht diesem Grundbedürfnis Rechnung zu tragen: Sie zielt nicht auf die Beseitigung von »Symptomen« und »Störungen« ab, sondern versucht, die individuelle Flexibilität im Umgang mit solchen Belastungen zu stärken (vgl. Eifert 2011). 8 Während »Trost« in der traditionellen Theologie mit »Gewissheit« korreliert, wird der Ausdruck in der pastoralpsychologischen Literatur den Erfahrungsbegriffen zugeordnet (vgl. Schneider-Harpprecht, Trost, S. 11 ff.). 9 Vgl. die Zeile in Leonhard Cohens Song Anthem: »There is a crack in everything that’s how the light gets in« (1992; vgl. auch Cohen 1968).

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der Krankenhausseelsorge allerdings häufig rasch einstellen, ohne dass viel Zeit für einen gründlichen Vertrauensbildungsprozess besteht. Seelsorgliches Trösten ist zwischen dem swift trust heterogen zusammengesetzter, temporärer Arbeitsgruppen (wie z. B. an Filmsets) und der verlässlichen Erfahrung, im Leid wahrgenommen und erkannt zu werden, angesiedelt. Die Kompetenzen, die der Seelsorge attestiert werden (z. B. Verständnis, Einfühlungsvermögen, Mut und Klarheit im Ausdruck), sind keinen Fachspezifika geschuldet. Wir fragen deshalb nach den Merkmalen seelsorglichen Handelns und nach den Kriterien, die seelsorgliche Identitäten qualifizieren und gleichzeitig das Unspezifische und Performative festzuhalten vermögen.10 In den seelsorglichen Gesprächen rückt das Kommunikationssystem, das sich durch und rund um die Krankheit bildet, in den Fokus. Patientinnen sollen darin unterstützt werden, ihre Vulnerabilität zu artikulieren. Was sich dem medizinischen Zugriff entzieht, soll und darf innerhalb des Bereichs menschlichen Erleidens und Widerstehens betrachtet werden. Aus seelsorglicher Sicht rücken subjektive Lebens- und Krankheitsgeschichten, biografische und kulturelle Prägungen, spirituelle und religiöse Haltungen ins Blickfeld. Die Unschärfe der Themen und Motive erfordert eine Haltung, die gekennzeichnet ist, auszuhalten, zu beobachten und darauf zu achten, was die Beobachtung an Resonanzen auslöst, diese zu differenzieren und zu versprachlichen. Die seelsorgliche Differenzierungsfähigkeit liegt in der situativen Abwägung von Reden und Schweigen, in der Ausgewogenheit dessen, was man adressiert und was man verschweigt (vgl. Fuchs 2011, S. 72). In der Auswahl und in der Priorisierung übernehmen wir – aufgrund unseres Wertesystems, unserer theologischen und anthropologischen Prämissen, aber auch aufgrund des Vertrauens in unsere eigene Intuition – Verantwortung für den seelsorglichen Prozess.

10 Zum (seelsorglich) Unspezifischen und Performativen zählen nebst praktischen Hilfeleistungen und Handreichungen jeglicher Art leibliche und sinnliche Trosterfahrungen durch Berührungen, Rituale, Poesie, Musik etc. (vgl. Schneider-Harpprecht, Trost, S. 345 ff.).

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Die Gesprächshaltung setzt sich aus den Fähigkeiten und Fertigkeiten zusammen, empathisch und gleichzeitig differenzsensibel zu bleiben (vgl. Bieler 2018, S. 149). Mit Differenzsensibilität ist das Vermögen gemeint, welches die Wahrnehmung der eigenen Gefühle von jener der Gefühle des Gegenübers unterscheiden kann und sich dieser Differenz bewusst ist (vgl. Engemann 2009, S. 273).11 Die Wahrnehmung der gegenseitig modifizierenden Affektivität bildet einen Resonanzraum, innerhalb dessen Trost geschehen kann. Allerdings ist die Versprachlichung emotionaler Erlebnisinhalte stets eine Gratwanderung mit offenem Ausgang: »In der Begegnung zwischen Menschen werden dann zwei Kreise verkörperter Affektivität so miteinander verknüpft, dass sich beide stetig modifizieren. So wird die jeweils erlebte eigenleibliche Resonanz um den Raum der zwischenleiblichen Resonanz vergrößert. Dabei kann es zu gegenläufigen Reaktionen kommen: auf die expandierende Wut reagiert das Gegenüber vielleicht mit Rückzug, während das Lächeln einer Person eine gleichsinnige Resonanz erzeugt, dann wird zurück gelächelt.« (Bieler 2018, S. 153).

Die personalisierte Gegenwart der Andersartigkeit

Das Schildern der Not muss zunächst einmal ausgehalten werden. Erfahrungen permanenter dynamischer Zwiespältigkeit, diffuse und irrationale Mitteilungen, endloses Reden, aber auch emotionale, inkongruente oder inkohärente Verhaltensweisen gilt es zu ertragen und zu bejahen, wenn ich die Existenz dieses Menschen (der sich selber im Moment möglicherweise als nicht identifizierter Mensch versteht) verstehen möchte. Seelische Spannkraft, Ausdauer und die

11 Ohne Differenzsensibilität kann Empathie zum Schlupfloch eigener Bedürfnisbefriedigung pervertieren (vgl. Breithaupt 2017, S. 22 f.).

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»Gelassenheit, mit komplexen und unübersichtlichen Beziehungsgefügen umzugehen, ohne vorschnell zu harmonisieren und zu simplifizieren und Ungewohntes, Fremdes, Lästiges, Unbequemes abzuspalten oder übergriffig zu vereinnahmen« (Beuscher 2010, S. 11) sind für den seelsorglichen Prozess bedeutsam. Ein 19-jähriger verliert bei einem Autounfall beinahe seinen rech­ ten Unterarm. Eine Versteifung des Ellenbogens wird unausweich­ lich. Zudem erleidet er komplizierte Beinfrakturen. Er war Beifahrer, der Fahrer blieb unverletzt. Der Patient ist verzweifelt. Er weint viel und sagt, sein Leben sei sinnlos geworden. Tatsächlich sind sowohl seine Ausbildung als Automobil-Mechatroniker wie auch seine sport­ lichen Ambitionen als Fußballer infrage gestellt bzw. außer Reichweite gerückt. Diverse Operationen liegen hinter, einige weitere noch vor ihm. Obwohl es dem Seelsorger gelingt, Gefühle der Wut zu konkre­ tisieren (z. B. jene gegenüber dem fahrenden Kollegen), bleiben die Begegnungen von Rat- und Trostlosigkeit geprägt. Zeit heilt nicht alle Wunden, sondern kann solche auch schmerzlich zum Vorschein brin­ gen. Der Seelsorger entscheidet abzuwarten, nichts zu forcieren und den Gefühlen Raum zu geben. Das Ausharren in und das Aushalten von emotional hoch belasteten Situationen kann zwar problematisch werden – etwa wenn eine latente Suizidalität oder eine pathologische Störung vorliegt und nicht angemessen diagnostiziert wird –, sie kann aber auch Teil der Lösung sein. Einerseits im Literalsinn dahingehend, dass sich etwas an seelischen Blockaden zu lösen beginnt, andererseits im Sinn einer Vertrauensbildung mit einhergehender Entlastung (»Dekompression«). Die Seelsorge darf zur Differenzerfahrung werden: Die personalisierte Gegenwart der Andersartigkeit und Zwecklosigkeit kann beim sich selbst entfremdeten Menschen ein tiefes Solidaritätsgefühl auslösen, das er über längere Zeit (bewusst oder unbewusst) auf den Prüfstein stellt. Die Widerfahrniskompetenz der Seelsorge ist gefragt. Diese kann auch darin bestehen, dass wir etwas unaussprechlich Herzzerreißendem gegenüberstehen, als müssten wir eine Folter mitansehen – ohne vorgängig zu wissen, ob je wieder Resilienzfaktoren ins Spiel kommen und Raum erhalten werden.

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Der Blick auf die Bühne und hinter die Kulissen

Im Unterschied zu einem schlichten Ertragen übernimmt der seelsorgliche Modus die Aufgabe zu beobachten. Das Beobachten zeichnet sich durch mehrere Ebenen aus. Zum einen beobachte ich, was Patienten, Angehörige und möglicherweise auch weitere Bezugspersonen mir und einander erzählen: Welche Geschichten werden geschildert, welche Realitäten damit erzeugt und mit welchen Aspekten wird informiert? Eine zweite Ebene der Beobachtung betrifft die Fokussierung der Verhaltensweisen und der Kommunikationsstile: Ich halte Ausschau danach, wie kommuniziert wird, was also an nonverbalen Signalen im Spiel ist. Damit eng verbunden ist die Wahrnehmung dessen, was eine oder einer sagt, ohne es auszusprechen. Und schließlich versuche ich zu verstehen, was in der Beziehung zwischen Patientin, Angehörigen, allenfalls weiteren Involvierten und mir an Botschaften gesendet, empfangen und erwidert wird. Eine 18-jährige Frau, die als Gleitschirmpassagierin (Tandemflug) beim Landemanöver verunglückt und mittelschwere Verletzungen (diverse Frakturen) davonträgt, erinnert sich sehr genau an den Unfall­ hergang. Beim Versuch einzuschlafen holen sie diese Bilder immer wie­ der ein. Wie in einer Filmsequenz sieht sie, wie sie versucht sich fest­ zuhalten, der Wind im Schirm aber zu stark ist. Sie hat Todesängste durchgestanden, die sie nun als Angst, sich in den Schlaf »fallen zu las­ sen«, wieder befallen. Die Seelsorgerin, die ihr aufmerksam zugehört hat und aus notfallpsychologischer Erfahrung weiß, dass das Schildern des Erlebten zwar bedeutsam für die Bewältigung des Traumas ist, die aktuelle Not (nicht einschlafen zu können) jedoch nicht zu lindern hilft, fragt sie, was sie von ihrer gewohnten Umgebung abends am meisten vermisse: das Bettkissen, sagt sie ohne zu zögern. Ihr Freund bringt ihr daraufhin ihr persönliches Bettkissen ins Krankenhaus. Das hat ihr offenbar so gutgetan, dass sich die Flashbacks rasch verringerten und nach wenigen Tagen verschwanden. Oft sind es kleine, in der Geschäftigkeit des Krankenhausalltags eher unscheinbare Dinge, die wichtig sein können und angesprochen sein wollen. Nebst engen Freundinnen sind die Pflegenden und Dienste wie die Seelsorge jene, die sich regelmäßig am Krankenbett

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aufhalten und denen sowohl das nötige Vertrauen entgegengebracht wird wie auch der beobachtende Blick hinter die Kulissen vergönnt ist. Die eigenen Wahrnehmungen gilt es kritisch zu überprüfen, auch wenn zuweilen spontane Äußerungen sinnvoll und angebracht sind. Timing und Setting seelsorglicher Rückmeldungen müssen passen, nicht nur des Berufsgeheimnisses wegen. Eine respektvolle Haltung den Betroffenen gegenüber ist selbstverständlich. Daneben braucht es jedoch auch Mut und Respektlosigkeit (den Konstrukten gegenüber), wenn es zum Beispiel darum geht, beobachtete (potenzielle) Vermeidungsmuster anzusprechen.

Pathische Zeugenschaft

Trost kann einerseits als Kommunikationsweise verstanden werden, deren Konstellation sich dadurch auszeichnet, dass sie vektoriell gestaltet ist. In der etwas altertümlich und klerikal klingenden Redeweise vom »Spenden« des Trostes kommt dieser Umstand zum Ausdruck. Das (aktive) Subjekt spendet dem (passiven) Objekt seinen Beistand, der die Not lindern hilft. Diese Funktionalisierung bleibt auch dann bestehen, wenn die Tröstende sich durch Anteilnahme und Empathie auszeichnet, durch die Bereitschaft also, mit dem trostbedürftigen Menschen in dessen Leid einzutauchen und mit ihm das Abgründige zu teilen. Auch wenn diese Aktion ohne Rückkoppelung unvorstellbar ist, den Tröstenden also nicht unverwandelt zurücklässt (vgl. Kissler 2008, S. 117), ist die Polarisierung damit nicht aufgehoben. Anders sieht es aus, wenn die Tröstungsbereitschaft fokussiert wird: Wenn wir also davon ausgehen, dass ein Mensch seiner Verletzung oder Demütigung nicht restlos ausgeliefert ist – und mit einer Restautonomie (mit-)entscheidet, ob und wie er oder sie sich trösten lassen will.12 Im englischen Sprachgebrauch findet sich neben dem klassischen consoling eine Redeweise, die insbesondere den Aspekt des Sich-trösten-lassens meint: to take comfort. Wenn sich 12 Vgl. die Widerrede Hiobs in Hi 21,2 ff., die auf eine Tröstung als narrative (Selbst-)Vergewisserung in Gegenwart signifikanter anderer hinweist.

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jemand trösten lässt – so die Assoziation – »holt« oder »nimmt« er sich etwas, das ihm allerdings auch angeboten werden oder zur Verfügung gestellt werden muss. Im Beispiel des 19-jährigen Verkehrsunfallopfers ereignet sich eine emo­ tionale Wende, als bei einem der Gespräche deutlich wird, wie sehr der junge Mann unter der Vorstellung leidet, seine Ausbildungsanstellung zu verlieren und damit seine Ausbildung als Automobil-Mechatroniker nicht abschließen zu können. Es dauerte einige Tage, bis er diese Angst thematisieren konnte – sie war in seinem worst-case-Szenarium so groß, dass er Hemmungen hatte, sie überhaupt anzusprechen. Der Seelsorger holt sich die Erlaubnis ein, mit dem Vorgesetzten des Aus­ bildungsbetriebs Kontakt aufzunehmen. Beim Telefonat wird deutlich, dass der Vorgesetzte durch das Unfallereignis seines Lehrlings mitbe­ troffen und sofort bereit ist, ins Krankenhaus zu kommen. Er wolle dem Patienten persönlich mitteilen, dass er die nötigen betrieblichen Maßnahmen treffen werde, um den Ausbildungsabschluss nicht zu gefährden. In einer existenziellen Krise sehnen wir uns nicht primär nach letzten Wahrheiten, sondern danach, in den emotionalen Erlebnisinhalten verstanden zu werden. Nicht kognitive Bedürfnisse wollen »bedient« werden, sondern die emotionale Basis. »Allein schon aufgrund der Tatsache, dass Seelsorge eine Arbeit mit und in Beziehungen ist, kann sich Seelsorge nur in, mit und unter der Wirkung von Gefühlen ereignen und ist so verstanden immer Gefühlsarbeit.« (Engemann 2009, S. 273).13

13 Vgl. auch Bieler 2018, S. 143: »Menschen suchen Seelsorger_innen auf, wenn sie […] zwischen Angst und Hoffnung hin und hergerissen sind.« Bieler (2018, S. 148 f.) unterteilt Gefühle in Gemütsbewegungen (»emotions«), Leidenschaften (»passions«) und Sinnesempfindungen (»sensations«), die uns überwältigen, aber auch unser Lebensgefühl still begleiten und unsere Umgangsformen prägen können. Ludwig Klages hat schon 1923 im Kontext seiner leibseelischen Einheitstheorie das Feld der Affekte und Gefühle präzis umschrieben (vgl. Klages 1968, S. 53–59).

Zur kulturellen Aufgabe des Tröstens241

Die Verletzung, die der Seelsorgerin gegenüber in den Fokus rückt, sind die gestörte Selbstvergewisserung und das verletzte Vertrauen in die Selbstwirksamkeit. Es gibt kaum ein Problem, das nicht auch die Frage der Regulierung von Emotionen aufwirft: »Ob Seelsorge eine professionelle Form von Gefühlsarbeit sein kann, hängt freilich in hohem Maße davon ab, ob ein Seelsorger tatsächlich selbst mit seinen Gefühlen lebt, d. h. ob er mit ihnen und durch sie kommuniziert. Das setzt voraus, dass er seine Gefühle überhaupt als solche erkennt, dass er sie verstehen und beurteilen kann.« (Engemann 2009, S. 272). In der seelsorglichen Begleitung können wir Gefühle hemmen oder enthemmen. Aber wir haben häufig keinen direkten Zugang: Gefühle haben keine festen Bezugs- und Markierungspunkte – und trotzdem geben sie uns Auskunft über das Wertesystem eines Menschen. Seelsorgliches Trösten kann von daher als »pathische Zeugenschaft« verstanden werden, als eine Präsenz, »die sich in der mitfühlenden Anteilnahme an der Gefühlslage der Ratsuchenden zeigt und sich bewusst dem Problemlösungsmodus verwehrt« (Bieler 2018, S. 144).

Abwege und Umwege

Wie in jeder kommunikativen Operationalisierung lauern im seelsorglichen Trostversuch Abwege und Missverständnisse. Hier sollen jene drei ausdrücklich erwähnt werden, die aus der Skizzierung der Voraussetzungen, Resonanzräume des Trostes zu eröffnen, bereits implizit hervorgehen: Das formalistische Missverständnis pervertiert das Ertragen dessen, was anstrengend und bemühend ist oder unverständlich bleibt, zu einem bloßen Abwarten. Das Zuhören und Anteilnehmen erfolgt nur der äußeren Form nach unter Vernachlässigung des Inhalts. Der Seelsorger ist nicht wirklich »bei der Sache«: Er mimt den Verständigen oder Empathischen, ist in seiner Intentionalität aber für das Gegenüber nicht greifbar. Ungenügendes Interesse und halbherzige Präsenz hindern eine Annäherung an die aktu-

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elle oder hintergründige Not des Gegenübers, denn wir kommen dem Fremden (der Person, der Krankheit) nur nahe, wenn wir dessen Fremdheit aushalten. »Jede Krankheitsgeschichte erhält Spuren einer Fremdheitsgeschichte« (Waldenfels 2019, S. 239): Diese Fremdheit zeigt sich mitunter in der eigenen und oft auch eigentümlichen Sprachwelt des kranken Menschen. Der Zugang zu dieser Welt fordert von der begleitenden Fachperson nicht allein ein Interesse an den Inhalten, sondern auch Aufmerksamkeit für den sprachlichen Ausdruck und die damit einhergehenden Einsichten und Ideen.14 Das hermeneutische Missverständnis überschätzt die Sinnfindung. Das Verstehen dessen, was an Nöten und Sorgen erzählt wird, kann unvermittelt in den Dunstkreis der Interpretationen gelangen. Das Unterfangen entgleitet zum irreführenden Versuch, Uncodierbares (um-)codieren zu wollen. Die Deutungskompetenz der Seelsorgerin ist in Gefahr, einem erzwungenen Sinnfindungsmodus zu verfallen. Auch wenn Sinnerleben ein universales Medium und Bedürfnis ist: In krankheitsbedingten Krisen haben wir es oft mit Sinnbrüchen, mit Unsinn und Wahnsinn zu tun. Die Seelsorgerin, die aufgrund des intentionalen Trostversuchs die Sinnlosigkeit manches Schicksalsschlages ignoriert, macht die Betroffenen ratlos oder renitent. Sie ist zwar nah an den menschlichen Krisen und Aporien, aber nicht an dem Leiden daran. Das heuristische Missverständnis verfällt einer unangemessenen Lösungsorientierung. Während die Patientin erzählt oder schweigt, klagt oder weint, ist der Seelsorger mit Lösungsansätzen internalisierter Theoriemodelle beschäftigt. Das seelsorgliche Explorieren ist zwar notwendig, läuft aber gleichzeitig stets in Gefahr, die Referenzsysteme dem impliziten Wissen des Patienten überzustülpen und damit die Selbstexploration zu unterbinden. Das Anvertraute dient dann als Modelliermasse, die einer generalisierenden Vulnerabilität oder Sterblichkeit eingepasst wird – als Rohmaterial, um das »Essenzielle« herauszukristallisieren. Getrieben von Suchbewegungen nach Sinnsystemen, fokussiert auf die Klärung von Erwartungen und Zielen, entgleiten der Mensch und dessen seeli14 Vgl. Winkler (2009, S. 357), der die idiolektische (eigensprachliche) Sprachwelt des Patienten als Tor zur Welt und zur Weltsicht des Patienten versteht.

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sche Verfasstheit. 15 Der Seelsorger verliert nicht nur die Patientin mit ihren eigenen, in ihr Leben und Verhalten eingebetteten Sinngebungen – er wird selbst zum Opfer eines Kohärenzanspruchs, dem weder er noch die Adressaten seiner Bemühungen genügen können.

Die Freunde Hiobs – Figuren gelungener und misslungener Trostversuche

In der biblischen Geschichte und Gestalt Hiobs ist uns das vermutlich namhafteste Beispiel eines initial gelungenen und letztlich doch gescheiterten Trostversuchs überliefert: Das Schicksal Hiobs, der Kinder, Hof und Gesundheit verliert, ist auch eine Erzählung über die Tragödie kontextueller Achtsamkeit und Solidarität, die sich im Verlauf der Begleitung in appellartige Moraltheologie wandelt. Mit dem Scharfsinn des Schwerkranken registriert Hiob zunächst den allmählichen Rückzug seiner Mitmenschen. Das einzige, was ihn an Lebenszeichen noch erreicht, sind drei Freunde, die ihn besuchen kommen. Eliphas, Bildad und Zophar sind bei genauerem Hinsehen nicht jene zynischen Kommentatoren oder besserwisserischen Ratschlaggeber, wie man sie immer wieder dargestellt hat (vgl. Reiser 1999). Sie lassen sich von Hiobs Schicksal erschüttern und »verabredeten miteinander hinzugehen, um ihn zu beklagen und zu trösten« (Hi 2,11). Sie kommen von weit her und »setzen sich zu ihm auf die Erde sieben Tage und sieben Nächte lang, ohne dass einer ein Wort zu ihm redete; denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war« (Hi 2,13). Die Freunde kommen mit dem Ziel, ihm ihr Mitleid und ihre Solidarität zu bezeugen. Alles, was sie in diesen sieben Tagen und Nächten tun, tun sie mit Hiob, nicht für Hiob. Sie weinen mit ihm. Sie trauern mit ihm. Sie entsetzen und erniedrigen sich mit ihm. Und sie schweigen mit Hiob. Als Hiob zu reden beginnt, reden auch seine Freunde. Auch darin erweisen sie sich als gut und sensibel. 15 Dabei wird vergessen, dass wir kranke Menschen grundsätzlich »frei von Vorkonzepten, Zielvereinbarungen, bedingenden Begrifflichkeiten oder mitgebrachten Antworten« (Probst 2017, S. 34) begegnen müssen, wenn wir ihnen auf Augenhöhe begegnen wollen.

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Wenn Hiob zu reden und zu klagen beginnt, wäre ein anhaltendes, hartnäckiges Schweigen nicht mehr ein solidarisches Schweigen, nicht mehr ein Schweigen mit Hiob. Also reagieren die drei Freunde.16 Bis dahin haben sie alles so getan, wie es nur Menschen mit Tiefgang und Betroffenheit tun können.17 Erst in jenem Moment, da Hiob zu zürnen beginnt, da er sich über Gott beschwert und den Tag seiner Geburt verflucht, lassen sich Hiobs Freunde zu Vorwürfen und Belehrungen hinreißen. Man kann in der (negativ konnotierten) Konversion von Hiobs Freunden eine Intention erkennen, die um die Schwierigkeiten weiß, mit verzweifelten Mitmenschen über längere Zeit kooperieren oder gar koexistieren zu wollen. Die Gefahr, die Geduld zu verlieren oder den Trost zu erzwingen, ist allen bekannt, die in lange andauernden Begleitungen engagiert sind. Erst recht lauern Grenzverletzungen, wenn das Verhältnis freundschaftlicher oder gar familiärer Natur ist. »Ich an deiner Stelle würde« (Hi 5,8): Wer so spricht, missachtet, dass er oder sie sich eben gerade nicht in der Situation des anderen befindet. Wer vorgibt, sich in den Leidenden hineinzudenken, sodass er für ihn auch noch des Rätsels Lösung findet, verkennt die Restautonomie des Leidenden ebenso wie die Selbstregulation innerhalb des Resonanzraumes zwischen Leidendem und Begleitendem. Liest man die Hiobsgeschichte rückwärts, kann man den Freunden Hiobs gewiss attestieren, sie verfielen im Laufe ihrer Begleitung der Anbiederung, die von Beginn weg die Gunst des Gegenübers sucht, um sich und die eigenen Wertmaßstäbe inszenieren zu können. Der Text lässt diese Deutung zwar zu und die etwas zögerliche Bemerkung Elifas – »Darf man ein Wort an dich richten, du bist so schwach; doch Worte zurückhalten, wer kann das?« (Hi 4,12 f.) – kann als Schmeichelei verstanden werden. Deutlicher und schwerwiegender sind indes die scheiternden Trostversuche, die dem her­ meneutischen Missverständnis unterliegen: »Bedenk doch! Wer geht 16 Das Schweigen bewahrt die Achtung vor dem leidenden Menschen. Es respektiert das Verstummen des anderen angesichts dessen Leids und bekennt implizit die Anteilnahme am Schicksal des anderen (vgl. Wils 2009, S. 95 f.). 17 Ein zeitgenössisches Beispiel von Trosterfahrung in großer Trostlosigkeit findet sich in der autobiografischen Sequenz von Fulbert Steffensky 2017, S. 74 ff.

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ohne Schuld zugrunde? Wo werden Redliche im Stich gelassen? Wohin ich schaue: Wer Unrecht pflügt, wer Unheil sät, er erntet es auch« (Hi 4.7). Hiobs Freunde entscheiden sich gegen die Ratlosigkeit ihres Freundes zugunsten der Kausalität ihrer Lebensweisheit. Der Anklagende wird zur Bedrohung ihrer eigenen Sinnhaftigkeit. Als Gefangene ihrer Denkmuster lassen sie sich dazu hinreißen, ihren Freund zu belehren. Indem sie das Sinn- und Glaubenskonstrukt höher werten als die Beziehung, verfallen sie auch dem heuristischen Missverständnis. Denn in dem Moment, da das Weltbild der drei Tröster in Gefahr gerät, opfern sie ihre Freundschaft und damit ihren Freund. Im Konflikt zwischen Hiob und seinem Gott leugnen sie Hiob, um ihren Gott zu verteidigen. Sie verschreiben Hiob einem Referenzsystem, das jedes Fragen und Rebellieren erstickt, einer Religion, die aus der Weite und Vielfalt der Möglichkeiten in ein eindimensionales Korsett von Tun und Ergehen und von Schuld und Strafe führt.

Poesie – Trost der Trostlosigkeit

Psalm 139 veranschaulicht exemplarisch die Präsenz als Basis jeder spirituellen Unterstützung – sowohl in ihrer passiven wie auch aktiven Dimension. Die weisheitstheologischen Passagen zum Geheimnis des menschlichen Daseins und zum Dunklen der Welt skizzieren ein eigenartig ambivalentes Gottesbild und erinnern stark an das Hiobbuch (vgl. Zenger 2005, S. 378). Der Betende empfindet die Zuwendung Gottes einerseits als bedrohende Begrenzung und Belagerung, anderseits würdigt er sich als ein wundervoll geschaffenes Wesen, das liebevoll umsorgt wird.18 Leidenschaftlich wie die Hiobfigur ringt er um das Geheimnis. Das Hadern ob der Unmöglichkeit, sich diesem Gott entziehen zu können, mündet schließlich in Ergriffenheit und Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, dass er in allen Facetten des Menschlichen erkannt und verstanden wird – von der Tendenz zu Flucht und Verdrängung, von Selbstüber-

18 Zur (jüdischen) Gebetspraxis vgl. Strenger 2019.

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schätzung und Selbsterniedrigung, von der Verführung trügerischer Hoffnung bis hin zur Versuchung, sich abzuschotten: »Wohin kann ich gehen vor deinem Geist, wohin vor deinem Ange­ sicht fliehen? Wenn ich hinaufstiege zum Himmel – dort bist du; wenn ich mich lagerte in der Unterwelt – siehe, da bist du. Nähme ich die Flügel des Morgenrots, ließe ich mich nieder am Ende des Meeres, auch dort würde deine Hand mich leiten und deine Rechte mich ergreifen. Würde ich sagen: Finsternis soll mich verschlingen und das Licht um mich soll Nacht sein! Auch die Finsternis ist nicht finster vor dir, die Nacht leuchtet wie der Tag, wie das Licht wird die Finsternis« (Psalm 139, 7–12). Da die Widerfahrnisse keine kausalen Begründungen mitliefern, die Geschehnisse oft unbegreiflich bleiben und der strukturellen Gewalt des Widersinnigen ausgesetzt sind, benötigt menschliches Leben Schutz und Trost. Wo der Trost versagt – weil das Elend zu groß ist oder die Verbindungen zu verletzt sind –, wo allein die Leere bleibt und die Bedürftigkeit nur noch in Aporien führt, ist – so könnte man den Psalm deuten – die Trostlosigkeit selbst ein schützenswertes und zu würdigendes Gut. In Anlehnung an Nelly Sachs’ »Chor der Tröster« kann man an Wunden denken, die noch offenbleiben sollen, und die noch nicht heilen dürfen (Sachs 1977, S. 31 f.): »GÄRTNER SIND WIR, blumenlos gewordene Kein Heilkraut lässt sich pflanzen Von Gestern nach Morgen. Der Salbei hat abgeblüht in den Wiegen – Rosmarin seinen Duft im Angesicht der neuen Toten verloren – Selbst der Wermut war bitter nur für gestern. Die Blüten des Trostes sind zu kurz entsprossen Reichen nicht für die Qual einer Kinderträne. Neuer Same wird vielleicht Im Herzen eines nächtlichen Sängers gezogen. Wer von uns darf trösten? In der Tiefe des Hohlwegs Zwischen Gestern und Morgen

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Steht der Cherub Mahlt mit seinen Flügeln die Blitze der Trauer Seine Hände aber halten die Felsen auseinander Von Gestern und Morgen Wie die Ränder einer Wunde Die offenbleiben soll Die noch nicht heilen darf. Nicht einschlafen lassen die Blitze der Trauer Das Feld des Vergessens. Wer von uns darf trösten? Gärtner sind wir, blumenlos gewordene Und stehn auf einem Stern, der strahlt Und weinen.« »Die Blüten des Trostes« sind noch nicht reif, sind noch »zu kurz entsprossen« – nicht etwa, weil die Zeit selbst die Wunden heilt, sondern weil zwischen Tröstenden und Trostbedürftigen noch nicht das Band geknüpft ist, das die Basis des Trostes bildet (vgl. Schwandt 2008, S. 43). Der Mensch ist in allen Dimensionen des Lebens, auch und gerade in der dunkelsten Verzweiflung, auf tragfähige Beziehungen angewiesen. Ist sein eigenes Suchen danach in der Nacht der Trostlosigkeit verhindert, steht das aufsuchende Trösten in der Gefahr, dem »Morgen« zuvorzukommen und den Cherubim ins Handwerk zu pfuschen. Wunden dürfen nicht unbesehen verbunden werden. Das, was wachsen und heilen muss, lässt sich nicht mit chirurgischem Flickwerk beschleunigen. Unangemessene Hilfeleistungen und unbedachte Äußerungen können im Gegenteil neue Wunden schlagen.

Zwischen Unverfügbarkeit und Evidenz

Oft genug wissen wir nicht exakt, was unser Dasein und unser Tun bewirken, was nun genau hilfreich und tröstend war. Noch weniger wissen wir im Voraus, was in der akuten Situation tröstet und welche Interventionen allenfalls das Leid lindern können. Erst wenn

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wir beim Mitmenschen angekommen sind, rückt ein hilf- oder trostreicher Brückenschlag in den Bereich des Möglichen oder gar Erfahrbaren. Der Brückenschlag setzt beidseitige Präsenz voraus. Die beiden (oder auch mehreren) Beteiligten in ihrer leiblichen Gegenwart fungieren – in der Metaphorik der Brücke – als Pfeiler. Das verkörperte Dasein (und Sosein) ermöglicht die seelische Aufmerksamkeit, innerhalb derer wirksamer Trost gedeihen kann. Ich frage damit abschließend nach Sinn und Grenzen des Suchens nach Trost – und lasse ein Textfragment von Franz Kafka ins Spiel kommen (Kafka 2019, S. 26): »Er will keinen Trost, aber nicht deshalb, weil er ihn nicht will, – wer wollte ihn nicht, sondern, weil Trost suchen heißt: dieser Arbeit sein Leben widmen, am Rande seiner Existenz, fast außerhalb ihrer immer zu leben, kaum mehr zu wissen, für wen man Trost sucht, und daher nicht einmal imstande zu sein, wirksamen Trost zu finden, wirksamen, nicht etwa wahren, den es nicht gibt.« »Trost heiβt suchen«, so wird der oben zitierte Text von Kafka häufig kolportiert und paraphrasiert. Dabei geht die semantische Bedeutungsvielfalt von Kafkas Trostverständnis verloren. Die Differenzierung von »wirksamem« und »wahrem« Trost eröffnet ein Sprachspiel auf verschiedenen Ebenen: »Trost« ist bei Kafka in erster Linie als Verschleierung von Wahrheit zu verstehen. »Wahrer Trost« ist ontologisch nicht verfügbar – es gibt ihn schlicht nicht. Und es darf ihn auch nicht geben, da das Erkennen der Unzulänglichkeit der eigenen Existenz fundamentaler Bestandteil der (Selbst-)Erkenntnis ist. Insofern ist das Suchen die einzige angemessene Form der Existenz, die nach dem Trost in der Selbst- und Weltvergewisserung strebt. Dass dieser Weg des Suchens nicht nur zu keinem Ziel, sondern auch in Aporien führt (»kaum mehr zu wissen, für wen man Trost sucht«), die einen untröstlich lassen (»nicht einmal imstande zu sein«), schließt nicht aus, unablässig (»dieser Arbeit sein Leben widmen, am Rande seiner Existenz, fast außerhalb ihrer immer zu leben«) »wirksamen« Trost in der Suchbewegung selbst zu finden. Ob im Sinne einer Annäherung an die verwehrte Erkenntnis der Wahrheit oder als (aus allen weltlichen Zusammenhängen und aus allen

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Selbstverstrickungen) entrückendes Moment, bleibt offen. Kafka spielt – taumelnd zwischen Denken und Fühlen – mit dem Begriff »Trost« und seinen unterschiedlichen Konnotationen. Man stolpert über diesen Text, bleibt etwas ratlos oder gar trostlos zurück – und wird vielleicht gerade darin auf die Unverfügbarkeit des Trostes zurückgeworfen.19 Kafka weist uns sowohl auf die Unverfügbarkeit wie auch auf die Unvermittelbarkeit »wahren« Trostes hin. Der Trost, den die Theologie lehrt, ist eine virtuelle Wirklichkeit und verweist auf eine metaphorische Welt Gottes (vgl. Ritschl 2010, S. 37 f.). Als Seelsorgerinnen sind wir in dieser Welt beheimatet und beziehen hieraus (mehr oder minder) unsere Identitäten. Als »Getröstete« kommen wir von einem außerhalb unserer menschlichen Wirklichkeit beheimateten Trost her (vgl. Schneider-Harpprecht 2001, S. 295), den wir nicht vermitteln oder gar spenden können, der jedoch unsere Wirklichkeit (wie auch jene der Trostsuchenden) berührt und für uns wie jene wirksame Konsequenzen hat (vgl. Ritschl/Hailer 2010, S. 363 f.). Seelsorge setzt dadurch eine Protestnote gegen die allseits grassierenden Autonomiemythen. Die schiere Präsenz von Seelsorgern in einem Krankenhaus hält die Aufmerksamkeit für die Grenzen menschlicher Machbarkeit, menschlicher Selbstbestimmung und (!) Selbstverschuldung aufrecht.20 Sowohl das Dasein als Patientin als auch jenes der Seelsorgenden ist ein pathisches Dasein: Eines, das in den Momenten der Schicksalsschläge und in den Phasen der Rückschläge oder Stagnationen für die Würde des Menschen und die Werte des Lebens einsteht. Die Präsenz derer, die sich in die Kollusion von Leidendem und leiderzeugendem Ereignis hineingeben, repräsen19 Die Beschäftigung mit holprigen Texten, die die theologische Ausbildung auszeichnet, kann der Praxis der Seelsorge, in der es oft um Verstehen und (!) Nichtverstehen geht, durchaus gute Dienste leisten. Vgl. Lösener (2006, S. 191 f.): »Kafka stolpernd lesen, das könnte heißen, die Widersprüche nicht zu glätten, sondern nach der Passung des Unpassenden zu fragen«. 20 Vgl. Jox 2013, der die Selbstbestimmung als Lebensphilosophie des Existenzialismus zwar würdigt, sie aber in Krankheits- und Sterbephasen als oft unrealistisches Desiderat versteht: »In diesen Situationen sind wir vielfach nicht mehr Akteure unseres Lebens, sondern Erlebende und Erleidende, lateinisch gesprochen, ›Patienten‹.« (Jox 2013, S. 45).

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tiert eine Bewegungsrichtung, die in Gottes Intention, mit uns zu sein und in versöhnter Gemeinschaft die Einsamkeit zu überwinden, begründet ist. Seelsorgliche Begleitung versucht – nicht ungeachtet der Fragen, warum wir leiden und sterben, sondern weil diese Fragen meist unbeantwortet bleiben müssen – dem grundlegenden Bedürfnis nach Trost Genüge zu leisten. Die suchende Tendenz des Tröstens zeigt sich darin, dass zwischen (emotionalem) Mitleid und (rationalen) Erklärungsversuchen Wege geebnet und Räume eröffnet werden, die es den Betroffenen erleichtern, wieder in die lebensspendenden Beziehungskontexte hineinzukommen und die verfügbaren Nischen der Selbstsorge zu entdecken und zu nutzen. Im Unterschied zu alten und neuen traditionalistischen Seelsorgekonzepten entzieht sich der Trost aber der umständlichen Begründung wie auch jeder wortreichen Apologetik: »Der Trost, der trösten können soll, muss evident sein« (Peters/Urban 2008, S. 8). Evidenter Trost, könnte man folgern, ist sowohl inter als auch intra nos erfahrbarer Trost. Ob der Dichter Kafka diesem Satz zustimmen könnte, bleibt fraglich. Genauso wenig können wir erwarten, dass die Repräsentanten medizinischer Einrichtungen unsere »Philosophie des Trostes« als besonders relevant und diskurswürdig einstufen. Wir dürfen aber darauf vertrauen, dass auch sie tröstliche Begegnungen erfahren oder solche in den Erzählungen der Patientinnen dankbar (und entlastend) zur Kenntnis nehmen. Der Anspruch der Krankenhausseelsorge, trostreich zu sein, wirft uns auf die Unerlässlichkeit der guten und umfassenden Selbstsorge zurück. Sie setzt die Arbeit am eigenen Selbst in ihrer emotionalen, intellektuellen und spirituellen Form und eine entsprechende Achtsamkeit hinsichtlich der eigenen Motive und Bedürfnisse voraus. Die Selbstsorge der Seelsorgenden nimmt vielleicht in der schlichten Frage ihren Ausgang, wie wir denn selbst getröstet werden wollten, wenn wir untröstlich sind.

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7.2 Annäherungen an eine trostvolle Theologie Eine seelsorglich verantwortete Theologie konvergiert und kontrastiert: Sie ist der Solidarität unter den Menschen und der Gerechtigkeit Gottes verpflichtet. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie kultursensibel ist, und versucht, die menschlichen Einbindungen zu ermitteln und zu vertiefen. Das ist zunächst einmal ganz allgemein und in größtmöglicher Offenheit gemeint. Menschen sind grundsätzlich nicht anders zu verstehen als in ihren geschichtlichen und kulturellen Kontexten. Wie bewusst diese erinnert oder gepflegt werden, gestaltet sich individuell. Wenn wir als Seelsorgerinnen in der jüdisch-christlichen Tradition verwurzelt sind, ist diese Verwurzelung nicht nur ein Attribut unserer Identität, sondern zugleich ein Spezifikum, Lebens- und Beziehungsgeschichten, Schicksalsschläge und persistierendes Leiden, Resignation und Verbitterung im Lichte dieser Tradition zu verstehen.21 Was Rass für die Theologie als solche bilanziert, gilt m. E. auch für die Seelsorge: Theologie hat den Raum für Fragen und radikal verunsichernde Veränderungen »offen zu halten in einer Gesellschaft, die zunehmend auf schnell[e] und möglichst optimal verwertbare Antworten ausgerichtet ist […]. Nur wenn auch sakral vermeintlich abgesicherte Bedeutungsräume des Christentums in ihrer Bedingtheit erfasst werden, besteht die Bedingung der Möglichkeit, überhaupt neu unterbrochen werden zu können, und damit dem Evangelium in seiner neu-schaffenden Kraft Raum zu geben, den es in seiner in Jesus Christus grundgelegten Botschaft immer schon beharrlich einfordert.« (Rass 2017, S. 266). Die Tendenz zur Verwertung und »Neutralisierung der lebensweltlichen Geschichten« (Marquard 2013, S. 62) manifestiert sich u. a. da, 21 Das kann und darf selbstverständlich auch eine Seelsorge islamischer und jeder anderen kulturellen oder religiösen Herkunft für sich in Anspruch nehmen.

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wo Traditionen und Narrative von Allgemeinplätzen verdrängt werden und Erinnerungskulturen verloren gehen. Glaubenstraditionen und Erinnerungskulturen besitzen Deutungspotenzial, das in der Begleitung und Unterstützung von Menschen und Gemeinschaften, die aus den lebensfreundlichen Verhältnissen herausfallen, genutzt werden kann. Dabei spielen Glaubensauffassungen und Glaubenssätze eine zentrale Rolle, die allerdings nicht unbedarft und unreflektiert übernommen werden können.

Glaubensüberlieferungen

Glauben als ein Fürwahrhalten eigener Wahrnehmungen, Überzeugungen und Schlussfolgerungen ist zunächst eine menschliche und für die Lebensgestaltung notwendige seelische Verfasstheit. Der religiös motivierte Glaube unterscheidet sich diesbezüglich nicht grundlegend davon. Ohne Annahmen und ohne Vertrauen wäre unser Leben und erst recht das Zusammenleben unvorstellbar. Gegenüber dem anthropologischen Modus des biologischen Überlebens und jenem des menschlichen Zusammenlebens kann indes der theologische Modus des Glaubens als »menschliches Miteinanderleben vor Gott« (Dalferth 2019, S. 125) verstanden werden. »Glauben« ist ein Kommunikationscode, der sich nicht in einer naiven, unreflektierten Meinung und in flüchtiger Ausrichtung auf ein irrationales »Etwas« erschöpft, sondern sich als Sediment eines gegenüber neuen Eindrücken offenen Erfahrungswissens versteht.22 Die Offenheit gegenüber den Erfahrungen, Wünschen und Hoffnungen macht die Tätigkeit des Glaubens lebendig und geschmeidig – und schützt den Glauben selbst vor starren Welt- und Gottesbildern.23 22 Zur Unterscheidung von kognitiven, pragmatischen und emotionalen Leitkodierungen von Glauben vgl. Dalferth 2019, S. 123 f. 23 Meier erkennt durch die Auseinandersetzung mit Friedrich Dürrenmatts Allergie gegen den Begriff des Glaubens und dessen Festhalten am Zweifel im »Festgenagelt-Werden« das, was skeptisch macht gegenüber der Theologie. »Es ist der Wunsch nach Fixierung, die fixe Idee, die jede Flexibilität verhindert […].« (Meier 2012, S. 195). Zu fragen wäre allerdings, ob nicht auch das Festhalten am Zweifel zu Fixierungen führen kann.

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Der Religionspädagoge Kurt Schori zeigt in seiner Studie »Glaubensüberlieferungen verstehen« auf, wie Religionen sich auf erfahrbare Lebenswirklichkeit beziehen, und wie diese Bezüge in religiösen Texten Ausdruck finden. Schoris Differenzierung zwischen Glaubensaussagen, Glaubensauffassungen und Glaubensüberlieferungen trägt entscheidend dazu bei, dass Glaube aus einer vagen, unbestimmten Dimension in einen von Erfahrung geprägten Wirklichkeitsbezug gerät. »Unser Glaube ist […] ein Resultat der Auseinandersetzung zwischen dem, was wir erleben und dem, was wir uns erhoffen und wünschen […]. Als dieser Glaube wirkt er in uns – ganz unabhängig davon, ob wir ihn mit Glaubensaussagen zum Ausdruck bringen oder nicht « (Schori 2020, S. 34). Der Wirklichkeitsbezug wird hier in einer ersten Position dem individuellen Erleben, dem Erhoffen und dem Wünschen zugeordnet. Damit Glauben im Allgemeinen und Glaubenstraditionen im Besonderen als grundlegendes Verhalten zur Wirklichkeit näher bestimmt werden können, muss auch das, was wir mit Wirklich­ keit benennen, in der Komplexität und Charakteristik verdeutlicht werden: »Es gibt eine ungeheure Menge von Bereichen des Wirklichen, die man unterscheiden kann, die aber nicht wirklich voneinander getrennt sind. Das Wirkliche ist all das, was uns begegnet ist und begegnet.« (Schori 2020, S. 70). Mit dem Begriff Wirklichkeit bringt Schori zum Ausdruck, dass das, was uns begegnet, immer erfahrbare Wirklichkeit ist und (a) einen herausfordernden Charakter, (b) einen tragenden, und einzelne Aspekte erkennenden Charakter, und (c) einen offenen, uns ein­ beziehenden Charakter hat. Wir sind durch die Herausforderung der Wirklichkeit »genötigt, Stellung zu beziehen und uns in dem, was wir als wirklich wahrnehmen, zu verhalten« (Schori 2020, S. 71). Die Erkenntnis der Wirklichkeit erlaubt eine Orientierung und macht uns so handlungsfähig. Mittels Beteiligung an der Wirklichkeit neh-

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men wir mit unserem Lebensvollzug, den eigenen Entscheidungen und unserem Handeln daran mitgestaltend teil.24 Nun lassen sich Glaubensaussagen, Glaubensauffassungen und Texte aus Glaubenstraditionen in ihrer Intention und in ihrer Begrenzung den Aussagen über Erfahrung und Wirklichkeit zuordnen: Ȥ »Glaubensaussagen sind Aussagen über Wirklichkeit, und Glau­ bensauffassungen stammen aus Aussagen über Wirklichkeit« (S. 33). Ȥ »In jeder Erzählung über Erfahrenes wird aber nicht alles erzählt – es handelt sich dabei immer um eine Auswahl dessen, was erfahren wurde« (S. 34). Ȥ »Texte sind Reaktionen auf Erfahrungswirklichkeit. Sie sind niemals Abbildungen von Erfahrungswirklichkeit. Wir können an Texten nicht ›sehen‹, was geschehen ist; wir können an ihnen nur ›sehen‹, wie auf bestimmte Ereignisse, Sachverhalte oder Situationen reagiert wurde« (S. 140). Die Aufgabe einer nicht allein historischen und wissensorientierten Religionspädagogik besteht u. a. darin, einen verstehenden Zugang zu Glaubensüberlieferungen zu ermöglichen und zu diskutieren. Der religionspädagogische Weg führt gewissermaßen vom Text zur Erfahrung. In einem seelsorglichen Kontext sind es dieselben Referenzen, die vermittelt werden – die Wegrichtung ist in der Regel aber entgegengesetzt: Die erzählten Erfahrungen des Einzelnen oder ganzer Gruppen lassen fragen, ob in den Glaubensüberlieferungen etwas von der je herausfordernden, tragenden und einbeziehenden Wirklichkeit repräsentiert wird. In welcher Richtung auch immer dieser Prozess erfolgen mag: Indem wir uns darauf einlassen und fragen, was an referenzierter Wirklichkeit zu ergründen ist, sind wir im Vollzug des Glaubens – in einem »permanenten Prozess der Befragung und Vergewisserung« (Schori 2020, S. 126). Gerade weil dieser Prozess nicht abschliessbar ist und keine eindeutigen Erkenntnisse liefert, ist das Hin und Her – zwischen Erfah24 Die theologische Voraussetzung dieser Interpretation liefert Schori (2020) nicht – sie liegt allerdings auf der Hand: Der Gott der jüdisch-christlichen Tradition bestimmt sich selbst zur Gemeinschaft mit den Menschen.

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rung und Tradition und umgekehrt – der Stoff, aus dem unsere subjektive Wirklichkeit konstruiert oder auch dekonstruiert wird. Die Frage nach der Erkenntnis einer (tröstenden) Wirklichkeit Gottes ist keine rein intellektuell zu beantwortende noch eine ausschliessliche Glaubensangelegenheit. Sie ist weder im einen noch im anderen angesiedelt. Erst durch die menschliche Vermittlung, Tradierung und Interpretation können unbegreifliche Dinge zu einer verständlichen Mitteilung werden, »zu etwas, aufgrund dessen sich leben und handeln lässt« (Schori 2020, S. 79, den jüdischen Religionshistoriker Gershom Scholem paraphrasierend). Nur in der Verwobenheit gedeuteter Wirklichkeit kann zum Beispiel die Sicht frei werden für die Trosterfahrungen – und für die pervertierten, falschen Trostangebote. Im Leben begegnet uns das Wirkliche nie einfach als vertrauens-, liebe- und hoffnungsvoll. Es ist immer gebrochen, durchzogen von Verachtung, Verkennung, Verletzung und Leiden, welches von einzelnen Menschen getragen und oft von einzelnen Menschen verübt wird. Die Qualifizierung des Lebens als etwas Gutes, als etwas Herausforderndes, Tragendes und unseren Einsatz Wollendes ist keine selbstverständliche Erfahrung, sondern das Ergebnis einer kollektiven Übereinkunft, einer individuellen Aneignung und einer immer wieder neuen Vergewisserung (vgl. Schori 2020, S. 152).

Eine Agnostikerin sucht nach Gott

Eine Patientin muss aufgrund ihrer fortgeschrittenen rheumatischen Erkrankung SLE25 täglich zwanzig Stunden liegen. Sie findet keine Kraft für irgendwelche Verrichtungen und leidet bei immer wiederkehrenden Schüben unter starken Schmerzen. Diese können zwar mit Medikamenten eingedämmt werden, gehen aber regelmäßig zu Lasten ihrer Lust am Denken. Sie bezeichnet sich als Agnostikerin, die Gott gesucht, aber nicht gefunden hat: »Ich bin am Ende meiner 25 Der Systemische Lupus erythematodes ist eine rheumatische Erkrankung aus der Gruppe der Kollagenosen und kann alle Organe befallen. Er wird den Autoimmunerkrankungen zugeordnet (vgl. https://www.rheumaliga.ch, Zugriff am 16.10.2020).

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Kräfte. Das über Jahre dauernde Leiden muss ein Ende haben. Ich ertrage nicht mehr mitanzusehen, wie das Leben an mir vorbei und anderswo abläuft.« Sie habe den Glauben verloren, dass es für sie noch Hoffnung gebe. Ihre letzte Hoffnung sei gewesen, dass ihr Gott zu Hilfe komme. Aber sie wisse gar nicht, was das sei, »Gott«. Sie habe bis anhin nie etwas gespürt von einem Gott. Und selbst, wenn es Gott gäbe, wüsste sie nicht einmal, wie sie zu diesem Gott beten könnte. »Ich hab’ kein Gebet und kein Klagelied, so wie die Muslime. Ich weiß nicht, wie ich Fühlung aufnehmen könnte – alles bleibt am Intellekt hängen.« Gläubige Menschen, die locker und flink von Gott reden, als wäre Gott etwas Dinghaftes, ertrage sie nicht mehr. – Sie bedauere, in einem Akutkrankenhaus zu liegen, und bereue den Entscheid, sich auf erneute Untersuchungen eingelassen zu haben. Sie würde, wenn sie könnte, einen palliativen Weg wählen – obwohl sie trotz allen widrigen Umständen am Leben hänge. Es falle ihr unglaublich schwer, sich zwischen Leben und Sterben zu entscheiden. Das Beispiel hat insofern repräsentativen Charakter, als Menschen, die sich als atheistisch oder agnostisch bezeichnen, ihre Not und ihren »Unglauben« oft ohne Rücksicht auf die religiös oder moralisch motivierten Gefühle anderer artikulieren können. Authentische »Unglaubensaussagen« und radikale Kritik an allzu oberflächlichen Glaubenskonstrukten sind eine Stärke, die im Dialog genutzt werden kann. Als Seelsorgerinnen können wir den Klagen dieser Frau u. a. folgende Botschaften entnehmen: Ȥ eine Autoimmunerkrankung ohne Heilungsaussichten – mit Phasen, die die Patientin an den Rand des Erträglichen bringen. Ȥ Die Bindung an das Bett schneidet sie vom gesellschaftlichen Leben ab und hinterlässt ein Gefühl der Isolation und Einsamkeit. Ȥ Die religiösen Suchbewegungen und spirituellen Gehversuche sind fehlgeschlagen und ihre Hoffnungen erloschen. Ȥ Trotz dieser Enttäuschungen artikuliert sich neben den resignativen Äußerungen eine Sehnsucht nach Gott und spiritueller Erfahrung. Ȥ Erfahrungen mit Menschen, die ihr zu leicht das Blaue vom Himmel herab verkünden, sind ihr eine zusätzliche Last. Ȥ Eine mutmaßliche (Erschöpfungs-)Suizidalität, die es auch ohne explizite Nennung ernst zu nehmen gilt.

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Ȥ Ein innerer Zwiespalt zwischen Lebenswillen und Sterbenswünschen, zwischen Widerstand und Ergebung, Kämpfen und Einwilligen.

Seelsorgliche Spurensuche in der jüdisch-christlichen Tradition

Eine in der jüdisch-christlichen Tradition verankerte Seelsorge kann aufgrund des Gehörten, Beobachteten und Vermuteten auf verschiedene Traditionsstränge Bezug nehmen und diese auf ihre Relevanz hin abhorchen. Wie könnte nun der Seelsorger auf die Klagen und darin enthaltenden theologischen Fragen der Patientin eingehen? Ihre Aversion gegen eine inflationäre Verwendung des Gottesbegriffs kann mit dem Hinweis auf die jüdische Tradition, den heiligen Gottesnamen JHWH (hebr. Tetragramm) nicht zu nennen, gewürdigt werden. Die Offenbarung Gottes aus dem brennenden Dornbusch an Mose in der Selbstaussage »Ich bin der ich [da] bin« (Ex 3,14) oder die Offenbarung am Horeb an den zuvor unter dem Ginsterstrauch liegenden, erschöpften und deprimierten Elia bieten sich als Narrative an, die die Unverfügbarkeit und Andersartigkeit Gottes bezeugen. Der Seelsorger fragt zunächst die Patientin, ob sie diese Geschichte aus der Hebräischen Bibel kenne. Als sie verneint, fragt er, ob er ihr diese vorlesen dürfe. Sie willigt ein. »Elia aber ging hin in die Wüste eine Tagereise weit und kam und setzte sich unter einen Ginster und wünschte sich zu sterben und sprach: Es ist genug, so nimm nun meine Seele; ich bin nicht besser als meine Väter. Und er legte sich hin und schlief unter dem Ginster. Und siehe, ein Engel rührte ihn an und sprach zu ihm: Steh auf und iss! Und er sah sich um, und siehe, zu seinem Haupt lag ein geröstetes Brot und ein Krug mit Wasser. Und als er gegessen und getrunken hatte, legte er sich wieder schlafen. Und der Engel kam zum zweiten Mal wieder und rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir. Er stand auf und aß und trank und ging durch die Kraft der Speise vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Berg Gottes, dem Horeb. Und er kam dort in eine Höhle und blieb dort über

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Nacht. Und siehe, Gott ging vorüber. Ein großer, starker Sturm, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach; Gott aber war nicht im Sturm. Nach dem Sturm aber kam ein Erdbeben; aber Gott war nicht im Erdbeben. Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber Gott war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Säuseln. Als das Elia hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem Mantel und ging hinaus und trat in den Eingang der Höhle.« (1. Kön 19, 4–12; frei übersetzt durch TW) An die Lesung anschließend breitet sich auch im Krankenhauszimmer eine Stille aus, die durch kein Wort unterbrochen werden will – so uneindeutig diese Stille auch sein mag. Der Seelsorger geht indes davon aus, dass die Geschichte berührt und zum Nachdenken anregt. Eine Paraphrasierung der Geschichte im Kontext der Erfahrungswirklichkeit der Patientin bzw. der Aspekte davon, die dem Seelsorger von der Patientin anvertraut wurden, vermitteln erste Impulse: Ȥ Elia wendet sich in der Wüste, erschöpft und lebensmüde, mit letzter Kraft an einen Gott, den er nicht wirklich kennt und noch weniger spüren oder sehen kann. Ȥ Im Schlaf wird er von einem Engel berührt; dieser Engel vermittelt ihm, so zumindest die Interpretation, ein Gefühl, gesehen und gehört zu werden. Ȥ Die Botschaft, die nun Elia seinerseits hört, ist rudimentär: keine Lebens- oder Glaubensweisheiten, sondern ein schlichtes »steh’ auf und iss«. Ȥ Als Elia erfasst, wie ihm geschieht, sind Grundnahrungsmittel da  – Brot und Wasser  –, die ihm das physische Überleben gestatten und die er als Zeichen sowohl einer Zuwendung als auch einer Beauftragung versteht. Ȥ Nachdem Elia sich wieder in seine Ausgangsposition zurücklegt und erneut einschläft, begegnet ihm der Engel ein zweites Mal, geduldig und bestimmt, mit fast derselben schlichten Botschaft. Ȥ Die zweite Rede des Engels endet mit einer Perspektiveneröffnung, die implizit eine Erinnerung an den Auftrag beinhaltet und ihm den Weg bzw. das Ziel weist.

Annäherungen an eine trostvolle Theologie261

Ȥ Nach der Ankunft am Berg Horeb zieht sich Elia in eine Höhle zurück, wo ihn die Nacht erwartet und mit ihr Naturphänomene, die alles andere als beruhigend und harmonisch sind. Ȥ Gott zeigt sich nicht – wie der Volksglauben erwarten würde – in mächtigem Getöse und Naturkatastrophen, sondern in einem »sanften Säuseln« – unscheinbar, unerwartet, in anderer »Gestalt«. Aus den vielfältigen Aspekten der Elia-Geschichte können – unter Beachtung der Resonanz, die die Geschichte bei der Patientin auslöst – einzelne ausgewählt und vertieft werden. Einem hermeneutischen Impuls haftet stets ein hypothetischer Charakter an. Es geht weder darum, die subjektiven Erfahrungen der Patientin zu vereinnahmen und zu generalisieren noch die Traditionselemente einzuebnen, zu harmonisieren und zu funktionalisieren. Ebenso wenig kann es darum gehen, um der Bibel willen »die Bibel ins Gespräch zu bringen« oder eine opportunistische Glaubensrichtung zu vertreten. Eine theologisch verantwortete Seelsorge darf indes davon ausgehen, dass in den Erfahrungen der Patientin Gottes Wirklichkeit zu suchen und – fragmentarisch – auch zu finden ist. Allein die Bilder des »geknickten Rohrs« und des »glimmenden Dochts« (Jesaja 42,3; Mt 12,20) zeugen von einer Fürsorge Gottes gegenüber dem gebrochenen und angesengten Leben. Die Patientin wollte in ihrem Leiden gesehen und in ihrem Zwiespalt verstanden werden. Das seelsorgliche Interesse dieser Frau und ihrer theologischen Fragen erschöpfte sich nicht in einem Allgemeininteresse an Spiritualität und Religiosität. Darum lässt sich ihr Suchen nach Gott kaum mit der Sinnopulenz der verbreiteten spirituellen Angebote beantworten. Sie suchte vielmehr nach der Gewissheit, gesehen und gehört zu werden. Sie suchte nach einer Wegzehrung in ihrer Wüste, nach »Brot und Wasser« auf dem langen und zermürbenden Weg, den ihr ihre Krankheit zumutet. Und sie suchte nach Worten mit einem Klang, der ihr sowohl das Antworten auf ihre Erfahrungswirklichkeit wie auch das Fragen und Rufen nach einem Zeichen der Verbundenheit ermöglichten. Sie wollte »Fühlung« aufnehmen können  – und nicht allein in ihrem durchaus vorhandenen intellektuellen Hunger bedient werden. – Das folgende Gebet von Antje S. Naegeli

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(2018, S. 14 f; hier ohne Anrede) hat die Agnostikerin dankbar entgegengenommen: Ich weiß nicht, wie dein Geist zu mir kommen soll, wenn die Schwermut alle Türen mit eisernen Riegeln verschließt. Ich weiß nicht, wie ich dir vertrauen soll, wenn du nicht selbst mich dazu bereit und fähig machst. Ich weiß nicht, wie ich dich wahrnehmen soll, wenn meine Augen von Tränen blind sind. Ich weiß nicht, wie ich deine Stimme hören soll, wenn in meinen Ohren die Schreie der Verzweifelten dröhnen. Ich weiß nicht, wie ich dich lieben soll, wenn ich dein Nahesein nicht erfahre. Einst kamst du zu den Deinen durch verschlossene Türen. Komm auch zu mir. Zerbrich meine Ketten.

Wie können wir von Gott, wie können wir zu Gott reden?

Wenn wir glauben dürfen, dass Gott sich unser erinnert, dann dürfte unser Erinnern und Beten zumindest ein Zeichen der sich an uns erinnernden Gegenwart Gottes sein. Auf die Frage einer Agnostikerin, wie Gott zu denken, an ihn zu glauben und zu ihm zu beten möglich sei, kann und darf auch geantwortet werden, dass wir Gott nicht denken und folglich auch nicht über Gott reden können: »Gott kann nicht in Sprache eingefangen werden.« (Ritschl 2010, S. 35; vgl. auch Ritschl 2008, S. 46f). Selbst zu Gott reden können wir nicht so, wie wir uns Menschen sprachlich mitteilen – und wenn, dann ist dieses Reden zu Gott oft ein Stammeln, Seufzen und Schreien.26 In diesem Stammeln, Seufzen und Schreien verbirgt sich ein Glauben, der den Zweifel nicht diskreditiert, ein Vertrauen, dem auch die Verzweiflung, 26 In der Hebräischen Bibel wird das in dem Auftakt »echa« zu vielen Klagegebeten verdeutlicht, unserem »Ach« gleich und eher einem Aufschrei ähnlich (vgl. Bieler 2017, S. 155).

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das Nichtwissen und die Ängste innewohnen. Die »Ambivalenz des Glaubens« (Klessmann 2018, S. 27), die in der situativen Verfasstheit von Leidenden besonders zum Vorschein kommt, unterscheidet sich von einer unkritischen, selbstverständlichen und vereinnahmenden Gläubigkeit. Die Geschichten der Hebräischen Bibel und die Gleichnisse des Evangeliums sind keine totalitären Glücks- und Heldennarrative. Sie konfrontieren uns vielmehr mit der Mehrdeutigkeit aller Widerfahrnisse und mit der Uneindeutigkeit dessen, was an Gesundem und Krankem in uns wohnt, worin Leben und worin Ster­ ben erhofft werden darf, wofür wir kämpfen und wozu wir leiden sollen. Anders als Dorothee Sölle (1980) in ihrem politisch motivierten Plädoyer für den Glauben als Kampf vertreten hat,27 ergreift eine seelsorglich motivierte Theologie Partei für Leben und Sterben. Dem Wort »ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, dass du das Leben erwählest und du und deine Nachkommen leben mögest« (Dtn 30,19) kontrastiert der Passionsweg des Messias, der nicht um sein physisches Überleben kämpft, sondern in einem existenziellen Sinn von Vertrauen den Tod erleidet. Die Bilder von JHWH, die im Widerspruch zum Bilderverbot (Ex 20,4) in beiden biblischen Testamenten verwendet werden, zeigen in sich widersprüchliche und spannungsgeladene Seiten. Zeichen, Metaphern und Parabeln können als in die Schöpfung gelegte Signaturen verstanden werden. Sie weisen auf eine transzendente Wirklichkeit hin, ohne dass diese fassbar oder verfügbar wird. Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886–1929) hat in seinem Hauptwerk »Der Stern der Erlösung« darauf hingewiesen, dass dem Denken das Wesen Gottes nicht tiefer verborgen sei als das Wesen der Welt oder das des Menschen.

27 Vgl. Sölle 1980, hierzu besonders S. 15: »Wir neigen dazu, das Leben zu bejahen unter bestimmten Umständen, bei gegebenen Konditionen, zum Beispiel wenn es jung, gesund, schön, leistungsstark ist. Das Ja, das im emphatischen biblischen Sinne gemeint ist, ist ein unbedingtes Ja, das etwa auch in Krankheit und Sterben gilt«.

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»Nicht Gott oder der Mensch oder die Welt ist das, was in der Offenbarung unmittelbar sichtbar wird; im Gegenteil: Gott Mensch Welt, die im Heidentum sichtbare Gestalten waren, verlieren hier ihre Sichtbarkeit; Gott erscheint verborgen, der Mensch verschlossen, die Welt verzaubert. Sichtbar aber wird ihr wechselweises Aufeinanderwirken« (Rosenzweig 1990, S. 435). Güte und Barmherzigkeit, Wohlwollen und Zuwendung, Treue und Gerechtigkeit sind zwar Eigenschaften, die JHWH oft (z. B. in den Psalmen) zugesprochen, die jedoch im Kontext menschlicher Wirklichkeit nur gebrochen und fragmentarisch erfahren werden. Die Spannung zwischen Verheißung und Wirklichkeit lässt sich unterschiedlich begründen (nicht: auflösen!): Auf der Argumentationslinie von Schori ist an den herausfordernden, an den tragenden und an den einbindenden Charakter der uns begegnenden Wirklichkeit zu erinnern. Güte und Barmherzigkeit, Wohlwollen und Zuwendung, Treue und Gerechtigkeit sind nicht ohne an die Menschen gerichtete Erwartungen erfahrbar.28 Theologisch sind die Attribute Gottes inkommensurabel – bezogen auf die erfahrbare Wirklichkeit können sie indes als Basis der partnerschaftsstiftenden Intention von JHWH verstanden werden.

28 Schori folgert daraus, dass die Gnade und die Liebe Gottes keineswegs bedingungslos seien (Schori, 2020, S. 81). So weit möchte ich nicht gehen: Liebe ist, biblisch verstanden, in sich bedingungslos – und schließt die Gnade, welche Verfehlungen nicht anrechnet und ausbleibende Antworten nicht bestraft, ein. Liebe kann zwar leidenschaftlich und infolgedessen verletzbar sein, aber sie ist nicht an Bedingungen geknüpft. Ich schlage vor, zwischen der bedingungslosen Liebe einerseits und der werbenden Partnerschaft andererseits zu unterscheiden. Partnerschaft kann geteilt und verhandelt werden. Fairness und Aufrichtigkeit, Solidarität und Verbindlichkeit sind integrale Bestandteile jeder Partnerschaft, die lebensfähig und erhaltenswert sein will. Die Metapher der Partnerschaft zwischen Gott und den Menschen ist in der jüdisch-christlichen Tradition ein zentrales Motiv.

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Gottes Selbstentäußerung

Ein Aspekt der gebrochenen Erkennbarkeit von JHWH kann durch den Hinweis auf die christologische Dimension der Kenose29 verständlich gemacht werden: In Bezug auf den Messias Jesus meint der Begriff in erster Linie den Verzicht auf göttliche Attribute bei der Menschwerdung: JHWH zeigt sich in Jesus in und durch die Abwesenheit göttlicher »Gestalt«. Die Eigenschaften Gottes sind – bis auf wenige und nicht eindeutige Ausnahmen – in dem Menschen Jesus von Nazareth nicht erkennbar. Die kenotische Dimension wird, auf die neutestamentlich verbriefte Geschichte des Messias ausgeweitet, an mehreren »Orten« erkennbar. Die herausfordernden, tragenden und einbindenden Aspekte der messianischen Wirklichkeit werden nur von einigen Wenigen erkannt – und auch diese verlieren in kritischen Situationen das Vertrauen in das Sinnhafte der messianischen Mission. Die Erfahrbarkeit dessen, was nicht von dieser Welt ist (Joh 8,23), wird im Rahmen politischer, konjunktureller und religiöser Interessen verdunkelt und schließlich ultimativ beseitigt. Die Dialektik zwischen Verkörperung und Entäußerung spiegelt sich nach dem Tod des Messias wider, wenn auch mit anderen Vorzeichen. Der auferweckte Messias kann in seinem Verschwinden nicht zurückgehalten und seine Gegenwärtigkeit weder haptisch noch in irdischen Gefäßen festgehalten werden. Seine Transformation ist somit objektiv nicht feststellbar. Seine Präsenz ist eine Präsenz in Abwesenheit und Unverfügbarkeit (vgl. Joh 20,17 ff.). Das Motiv der Kenose hat in der Diskussion um den Gottesbegriff nach Auschwitz auch innerhalb der jüdischen Theologie und Philosophie neue Aufmerksamkeit erhalten. Nebst Gershom Scholem hat v. a. Hans Jonas die Hypothese ins Spiel gebracht, dass JHWH seinem eigenen Sein entsagte und sich seiner Gottheit entkleidete (vgl. Jonas 1987, S. 17). Dass sich JHWH selbst zugunsten der Welt 29 Die sog. Kenose ist das Substantiv zu dem von Paulus im Brief an die Philipper gebrauchten Verb ἐκένωσεν (dt. »er entäußerte sich«, vgl. Phil 2,7). Der sog. Philipperhymnus umfasst Geburt, Leben, Tod und Auferweckung Jesu in den beiden Bewegungen der Erniedrigung und der Erhöhung (vgl. Phil 2,5–11).

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entäußerte – und dass die Welt wiederum neue Dimensionen und Modalitäten für JHWH bereithält, ist der jüdischen Mystik nicht völlig fremd: Mit dem hebräischen Begriff Zimzum wurde im 16. Jahrhundert die Selbstkonzentration und Selbstkontraktion des Schöpfers bezeichnet, aus der erst eine Schöpfung möglich wurde. Der Leitgedanke des Zimzum ist die Vorstellung, dass in der Selbsteinschränkung des Schöpfers seine wahre Macht zu finden ist.30 Jonas entwickelt diesen Gedanken weiter und konkretisiert ihn: Vom Augenblick der Schöpfung des Menschen an leidet JHWH an und mit dieser Schöpfung. In einem weiteren Gedankenschritt entwirft Jonas die Vorstellung eines sich sorgenden Gottes. Im Unterschied zu den vertrauten jüdischen und christlichen Bildern eines Gottes, der für seine Geschöpfe Sorge trägt, geht es Jonas um die Sorge dessen, der den Geschöpfen Spielraum und Mitbestimmung gewährt – und damit sich und seine Schöpfung gefährdet. Das von Jonas selbstgenannte spekulative Wagnis gipfelt in der Konsequenz, dass die absoluten Attribute von JHWH wie Allmacht, Allwissen und Allgüte keinen Sinn ergeben – und im Widerspruch zu einem sich selbsteinschränkenden und sich verletzlich machenden Gottesverständnis stehen (vgl. Jonas 1987, S. 33–47).31

Trostpotenziale in pneumatologischer Perspektive

Die Rede von Gottes Geist fällt oftmals noch schwieriger, da sie von vielen Klischees überfrachtet ist. Eine Traditionslinie, die von den frühen messianischen Kirchen, den Makarios-Homilien des syrischen Theologen Symeon von Mesopotamien (4. Jh.) und den Liturgien der frühen syrischen Christenheit, die – mit dem semitischen Ursprung des Christentums verbunden geblieben – bis zum Pietismus des 18. Jahrhunderts (Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, 1700–1760) reicht, prägte die Bildrede von der Mutterschaft

30 Vgl. Scholem 2000 sowie Schulte 2014. 31 Zur vertieften Auseinandersetzung mit der spekulativen Theologie Jonas’ vgl. Link (2016), S. 200–210, und Tück (2016), S. 125–158.

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Gottes.32 Die Wirkungen von Gottes Geist zeigen nach dieser Auffassung mütterlichen Charakter. Die Begründung hierfür wurde in den Prophetenworten des Jesaja-Buches gefunden, in welchem Gott zu seinem verbannten und leidenden Volk spricht: »Ich will euch trös­ ten, wie einen seine Mutter tröstet, ja, ihr sollt in Jerusalem getröstet werden« (Jes 66,13). Es ist eine der wenigen Stellen in der Hebräischen Bibel, in der Gott als mütterlich vorgestellt wird (vgl. auch Jes 49.15). So wie eine Mutter ihre Kinder tröstet, wenn sie leiden oder traurig sind, ihnen gut zuspricht und sie darin anleitet, was sie zu suchen und was sie zu meiden haben, hat der mütterliche Geist Gottes eine uns tröstende und erinnernde Funktion durch – so das Mutter-Ideal seit jeher – sanfte, einfühlsame und weise Leitung. Man kann aus einer genderkritischen Perspektive gewiss fragen, ob mit der Mutterschaft die Weiblichkeit nicht wiederum funktionalisiert, nämlich in Abhängigkeit – nun eben zum Kind – gedeutet wird. Die Metapher der Mutterschaft hat neben den Nachteilen aber den Vorteil, dass die Bibel nicht anders von Gott redet als von dem, der in Beziehung zu uns ist. Dieser Beziehungsaspekt Gottes ist im Bild der Mutter wie in jenem des Vaters bewahrt. Dass dabei belastende oder gar traumatische Erfahrungen mit leiblichen Vätern und Müttern eine Hypothek bedeuten, soll nicht verharmlost werden. Hier zeigen sich die Grenzen und Ambivalenzen solcher Bildreden, seien sie nun väterlicher oder mütterlicher Herkunft. In den anthropomorphen Bildern zeigt sich die Aufgabe der Theologie: Sie ist ein Mittel, um die Grenzen des Denkens, der Sprache und der Gotteserkenntnis kritisch zu hinterfragen, aber auch kreativ auszuloten.

Fazit

Theologische Motive lassen sich auch in einer säkularen Umwelt und gegenüber Agnostikerinnen durch Metaphern oder Geschichten nur begrenzt plausibilisieren. »Ohne dass Menschen sich gegenseitig erzählen, was sie erleben, erlebt haben, gibt es keine Kommunikation über Existenzfragen, und in der Konsequenz gibt es dann auch 32 Quellentexte bei: Meyer 1983.

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keine Kommunikation über Glaubensfragen« (Schori 2020, S. 244). Das gilt auch für die Kommunikation zwischen überlieferter und erfahrener Wirklichkeit. Seelsorge vermittelt nicht zwischen Gott und Menschen, zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt. Gott ist nach jüdisch-christlicher Glaubensauffassung in den menschlichen Widerfahrnissen da – gebrochen und werbend, herausfordernd und fragend. Seelsorgerinnen erinnern vielmehr daran, dass Gott den Lebens- und Leidensgeschichten auf partnerschaftliche, mütterliche und väterliche Weise nahe ist. Sie erinnern nicht allein durch Worte an die Facetten heilender Wirkungen. Sie tun es in der Kraft ihrer Person und ihrer Präsenz. Das Dasein von vertrauten oder vertrauenswürdigen Menschen ist vermutlich das stärkste Zeugnis eines tröstenden Gottes (vgl. Jes 51,12). Wenn die Erinnerungsmacht auch wechselseitig »Partei« ergreift, verkommt die tröstende Präsenz nicht zu einer bloßen seelsorglichen Attitüde – zu pastoraler »Anbiederung, die die Herablassung vermeidet und darum schlecht verbirgt« (Muschg 1981, S. 38). Hin- und herschwingend zwischen den Polen des Fühlens, Denkens und Wollens, zwischen fundamentaler und situativer Vulnerarbilität (vgl. Bieler 2017) lässt Seelsorge Gesagtes und Erinnertes in der Schwebe. Im Teilen von Fragen und Antworten, behutsam Ertastetem und Unaussprechlichem oder Verschwiegenem erweist sich ihre Fähigkeit, die Latenz der Situation auszuhalten. Ihre entschiedene Offenheit gegenüber erfahrener Wirklichkeit und tradierten Glaubensaussagen zeigt sich darin, dass sich die Erinnerungsmacht auch an oder gegen Gott wenden kann: »Du bist der Trost Israels und sein Nothelfer. Warum stellst du dich, als wärst du ein Fremdling im Lande und ein Wanderer, der nur über Nacht bleibt? Warum bist du wie einer, der verzagt ist, und wie ein Held, der nicht helfen kann? Du bist doch unter uns […], und wir heißen nach deinem Namen; verlass uns nicht!« (Jer 14, 8 f.). In der Konfrontation Gottes mit der Empfindung der Gottverlassenheit können sich Unfassbarkeit, Trauer und Zweifel artikulieren. Die Klage adressiert das Leid. Sie unterscheidet sich damit von der Wut ebenso wie von Resignation.

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Eine »Ontologie der Aktualität« (Foucault 2010, S. 432) sucht nach der Bedeutsamkeit von Lebens- und Glaubensgeschichten. Dass eine Patientin sich als Agnostikerin versteht, ändert grundsätzlich nichts an der seelsorglichen Haltung. Weder die konfessionelle (Nicht-)Positionierung, die säkularisierte Institutionalisierung (z. B. eines Universitätsspitals) noch die spirituell überhöhte Emotionalisierung unserer Zeit erschweren oder erleichtern die seelsorgliche Aufgabe. Der Zugang zu Gott, Welt und Menschen erfordert unabhängig davon eine »Lesekunst« – die »Fähigkeit, das zweite Gesicht der Dinge wahrzunehmen« (Steffensky 2010, S. 19). Menschen, die in ihrem Glauben verwurzelt sind, neigen dazu, die Erfahrungswirklichkeit und die damit verbundenen Herausforderungen mit Glaubenssätzen zu überschreiben – und damit die Verwobenheit göttlicher und menschlicher Wirklichkeit zu übersehen. Andere, der jüdisch-christlichen Tradition völlig entfremdet, sind in ihrem immanenten Weltgebäude so gefangen, dass sie nicht auf die Idee kommen, ein Fenster zu öffnen und zu entdecken, dass der Himmel nicht derart verhangen ist, dass die Sonne auch für sie kräftig scheint oder zumindest eine Amsel ein Lied mit so ganz anderen Botschaften als die der eigenen Stimme zwitschert. Das Monieren jedoch über die Verluste christlicher oder religiöser Verwurzelung in Zeiten von Kirchenaustritten und fortschreitender Säkularisierung ist m. E. nicht angebracht. Es könnte so verstanden werden, dass die Menschen früherer Jahrhunderte das Evangelium besser verstanden und Gott wohlgefälliger gelebt hätten. Dabei wird vergessen, dass Menschen in Krisen zu allen Zeiten an der Unverfügbarkeit Gottes, an der unberechenbaren Verzauberung der Welt und an der eigenen Verschlossenheit gelitten haben.

Literatur Bieler, A. (2017): Verletzliches Leben. Horizonte einer Theologie der Seelsorge. Göttingen. Dalferth, I. U. (2019): God first. Die reformatorische Revolution der christlichen Denkungsart (2. Aufl.). Leipzig. Foucault, M. (2010): Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II. Frankfurt a. M.

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Jonas, H. (1987): Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Frankfurt a. M. Klessmann, M. (2018): Ambivalenz und Glaube. Warum sich in der Gegenwart Glaubensgewissheit zu Glaubensambivalenz wandeln muss. Stuttgart. Link, Ch. (2016): Theodizee. Eine theologische Herausforderung. Göttingen. Marquard, O. (2013): Endlichkeitsphilosophisches. Über das Altern. Stuttgart. Meier, T. M. (2012): Dürrenmatt und der Zufall. Ostfildern. Meyer, M. (1983): Das »Mutter-Amt« des Heiligen Geistes in der Theologie Zinzendorfs. Evangelische Theologie, 43 (5), S. 415–430. Muschg, A. (1981): Literatur als Therapie? Ein Exkurs über das Heilsame und das Unheilbare. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a. M. Naegeli, A. S. (2018): Du hast mein Dunkel geteilt. Gebete an unerträglichen Tagen (3. Aufl.). Freiburg i. B. Rass, F. D. (2017): Die Suche nach Wahrheit im Horizont fragmentarischer Existenzialität. Tübingen. Ritschl, D. (2008): Bildersprache und Argumente. Theologische Aufsätze. Neukirchen-Vluyn. Ritschl, D./Hailer, M. (2010): Grundkurs Christliche Theologie. Diesseits und jenseits der Worte (3. Auflage). Neukirchen-Vluyn. Rosenzweig, F. (1990): Der Stern der Erlösung (3. Aufl.). Frankfurt a. M. Roser, T. (2018): Könnte es von Bedeutung sein, in der Seelsorge von Gott zu reden? Und wenn ja, wie? Und wenn nicht, was dann? Wege zum Menschen, 70 (2), S. 132–147. Scholem, G. (2000): Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen (Neuauflage). Frankfurt a. M. Schori, K. (2020): Glaubensüberlieferungen verstehen. Eine Einführung in den Fachbereich der Religionen und in die Didaktik der heiligen Schriften. Stuttgart. Schulte, C. (2014): Zimzum. Gott und Weltursprung. Berlin. Sölle, D. (1980): Wählt das Leben. Stuttgart/Berlin. Steffensky, F. (2010): Schwarzbrot-Spiritualität (Neuausgabe). Stuttgart. Tück, J.-H. (2016): Gottes Augapfel. Bruchstrücke zu einer Theologie nach Auschwitz. Freiburg i. B.