Scriptura efficax. Die biblisch-dogmatische Grundlegung des theologischen Systems bei Johann Andreas Quenstedt: Ein dogmatischer Beitrag zu Theorie und Auslegung des biblischen Kanons als Heiliger Schrift 9783666563973, 9783525563977

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Scriptura efficax. Die biblisch-dogmatische Grundlegung des theologischen Systems bei Johann Andreas Quenstedt: Ein dogmatischer Beitrag zu Theorie und Auslegung des biblischen Kanons als Heiliger Schrift
 9783666563973, 9783525563977

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Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Christine Axt-Piscalar und Gunther Wenz

Band 123

Vandenhoeck & Ruprecht

Michael Coors

Scriptura efficax Die biblisch-dogmatische Grundlegung des theologischen Systems bei Johann Andreas Quenstedt Ein dogmatischer Beitrag zu Theorie und Auslegung des biblischen Kanons als Heiliger Schrift

Vandenhoeck & Ruprecht

Adina, Tabea, Debora und Joel

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-56397-7

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein, der Evangelischen Kirche im Rheinland und der Georg Strecker Stiftung in Göttingen.

© 2009, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: b Hubert & Co, Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt Inhalt Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Zu Anlage und Methode der Untersuchung 2. Quellen- und Forschungslage . . . . . . . . . . 2.1 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Zur Forschungslage . . . . . . . . . . . . . .

. . . . a) Quenstedt und die lutherische Orthodoxie .

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b) Einordnung der lutherischen Orthodoxie in die Geschichte der theologischen Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil I: Biblische Theologie und Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Die Bibel zwischen Exegese und Dogmatik . . . . . . . . . 1.1 Historisch-kritische Exegese als lutherisches Erbe (Gerhard Ebeling) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die kritische Externität der Schrift . . . . . . . . . . . . Exkurs „Kanon im Kanon“ und Mitte der Schrift . . . . . . 1.3 Dogmatische Überbegründung kanonischer Einheit

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2. Gegenwärtige Ansätze Biblischer Theologie . . . . . . . . . . . . . 2.1 Brevard Childs’ Programm einer Biblischen Theologie . . .

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a) Der „canonical approach“ als Alternative zur rein historischen Exegese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kanon und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Einheit des Kanons und ihre Begründung . . . . . d) Zur Kritik an Childs’ Kanonbegriff . . . . . . . . . . . . e) „From Witness to Subject Matter“ – Sensus Literalis und theologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . f) Grenzwanderungen zwischen Exegese und Dogmatik g) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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.... .... .... 2.2 Das „Tübinger Modell“ einer biblischen Theologie . . .

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. . . . a) Kritik an der Kritik und Hermeneutik des Einverständnisses . b) Die Einheit des Kanons aus Altem und Neuem Testament . . c) Die Mitte der Schrift und das Neue Testament . . . . . . . . . . d) Offenbarungsgeschichte und Traditionsgeschichte . . . . . . .

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Inhalt e) Die Durchführung der Auslegung und das Verhältnis zur Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.3 Biblische Theologie in dogmatischer Perspektive (Friedrich Mildenberger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Historie und Gottesgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die einfache Gottesrede und die Einheit der Schrift . . . . . . .

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c) Die dreifache Zeitbestimmung des Wortes: Dogmatik als Anleitung zum Schriftverstehen . . . . . . . . . . . d) Das Verhältnis von Ökonomie und Theologie . . . . . . . . . . . e) Das Verhältnis von Einheit der Schrift und Einheit der Gottesgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3. Der status controversiae und seine Bearbeitung . . . . . . . . . . .

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Teil II: Verstehen lernen und Lebenspraxis – Der methodische Ansatz bei der Spätphilosophie Wittgensteins . . . . 1. Lernsituation – Sprache lernen und Sprachspiel . . . . . . . . . . . 1.1 Das Problem metasprachlicher Reflexion auf Sprache . . . . 1.2 Sprache lernen – Sprachspiel und Lernsituation . . . . . . . . 1.3 Übersichtliche Darstellung und Grammatik . . . . . . . . . . . 2. „Verstehen lernen“ und „einer Regel folgen“ . . . . . . . . . . . . . 2.1 Destruktion eines mentalen Verstehensbegriffs durch Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verstehen als „mentaler Mechanismus“? . . . . . . . . . . . . . . b) Exkurs: Lesen als Vergleich zum Verstehen (§§ 156–178) . . . c) „verstehen“ und „meinen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 „Verstehen“ und „einer Regel folgen“ – ein Vergleich . . . .

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a) Zur Verankerung der Rede von „einer Regel folgen“ in den vorangehenden Paragraphen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das sogenannte Regelfolgenargument in §§ 197–242 . . . . . .

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3. Verstehen eines musikalischen Themas – zur ästhetischen Dimension des Verstehens . . 3.1 Das musikalische Element unserer Sprache . . 3.2 Musikalisches Verstehen und kulturelle Praxis 3.3 Der Ertrag des Vergleichs . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwischenbilanz: Verstehen Lernen und Verstehen der Heiligen Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Teil III: Die dogmatische Konstitution des Kanons in der Theologia didactico-polemica Johann Andreas Quenstedts . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Wirksamkeit der Schrift: Wort – Text – Heiliger Geist . . . 1.1 Die efficacia Scripturae als Zentrum der Hermeneutik Quenstedts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Autorität der Heiligen Schrift und ihre Wirksamkeit zum Heil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Autorität der Schrift und die Autorität der Kirche . c) Die sufficientia Scripturae und die Tradition . . . . . . . d) Die Richterfunktion der Schrift in Glaubensfragen als Implikat ihrer Funktion als Herzensrichter . . . . . . e) Der Übergang in christliches Reden und Leben aus dem Wort der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Die Wirksamkeit der Schrift und der finis Scripturae . . . g) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.2 Die pneumatologische Ausrichtung der Schriftlehre Quenstedts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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a) Die Klarheit (perspicuitas) der Schrift als Implikat ihrer Autorität zum Heil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Selbstauslegung der Schrift im Geist als Vollzug der Klarheit der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.3 Soteriologisch-pneumatologische Texttheorie: Der inspirierte Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Mündliches Gotteswort und heiliger Text. . . . . . . . . . . . . . . b) Textgestalt und Textgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Inspiration von Textgehalt und Textgestalt: Relativierung realistischer Semantik und Autonomie des Textes . . . . . . d) Der sensus literalis juxta mentem Spiritus Sancti . . . . . . . e) Die Auslegung des sensus literalis der Heiligen Schrift . . . f) Die Physiognomie des Schriftwortes und die Frage nach der ursprünglichen Gestalt der Heiligen Schrift . . . . g) Das theologische Problem der Authentizität des Urtextes – Die Kirche als Leserin der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . .

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... 1.4 Erwartungen an die Praxis der Schriftauslegung . . . . . . . . 2. Beobachtungen zur Praxis der dogmatischen Schriftauslegung 2.1 Sedes doctrinae und „Textcluster“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Trinitätslehre als dogmatisch-hermeneutischer Ausgleich von innertextlichen Spannungen der Heiligen Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Zwischenbilanz: eine Problemanzeige . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

3. Das Wirken des Heiligen Geistes im Wort . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Gratia Spiritus Sancti applicatrix – Passivität und Aktivität des Menschen in der Heilsmitteilung . . . . . . . . . a) Das Verhältnis von Rechtfertigung und gratia Spiritus Sancti applicatrix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die universale Berufung aller zum Heil (vocatio) . . . . . . c) Der Mensch im Übergang (regeneratio und conversio) . . . d) Verdinglichung der Passivität in der Lehre von der Prädestination und vom unfreien Willen – Grammatische Täuschungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Das Heil als Gabe (donum, habitus, virtus) – Übergang von Passivität zur Aktivität in Buße (poenitentia) und Erneuerung (renovatio) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Gratia applicatrix und Schriftverständnis . . . . . . . . . . . .

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. . 3.2 Glaube als Mittel und Ziel des Evangeliums . . . . . . . . a) Glaube als notitia, assensus und fiducia . . . . . . . . . . . . .

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b) Glaube als Verhältnis und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Historisch-menschlicher Glaube und Rechtfertigungsglaube (fides humana sive historica und fides justificans sive salvifica) d) Akt und Gegenstand des Glaubens (fides qua und fides quae creditur) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Glaube und Schriftverstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schriftverstehen in Theologie und Glaube . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Theologie als praktische Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . a) Methode, Ordnung und System – Zabarellas Methodenlehre und die Ausbildung des Systembegriffs . . . . . . . . . . . . . b) Das theologische System Quenstedts im Spannungsfeld von analytischem und synthetischem ordo . . . . . . . . . . . . . . c) Der Praxisbezug der Theologie und der finis Theologiae . . . d) Theologie als habitus intellectus ceo/sdotoj practicus und das Verhältnis von habitus theologiae und habitus fidei . . . e) Die theologia acroamatica und die Onomatologie des Theologiebegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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.. 4.2 Die Glaubensartikel als System der himmlischen Lehre . . 4.3 Das Verstehen der Heiligen Schrift in Glaube und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Teil IV: Biblische Theologie und dogmatische Deskription . . . . . . . 1. Altlutherische Dogmatik als Rekonstruktion des biblischen Kanons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Biblische Dogmatik und die Auslegung der Heiligen Schrift 2.1 Konstitution der Einheit und der Autorität des Kanons in der Glaubenspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Biblische Theologie als theologische Grammatik der Glaubensrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Theologische Grammatik und theologische Schriftauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Exegetische und dogmatische Zugänge zur Biblischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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a) Die exegetischen Ansätze (Childs und die Tübinger Schule) . . b) Texttheoretische Beobachtungen zum Verhältnis von exegetisch-historischer und biblisch-dogmatischer Theologie . c) Der dogmatische Ansatz (Mildenberger) . . . . . . . . . . . . . . .

3. Thesen zum Verstehen der Heiligen Schrift . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Schematische Darstellung der Onomatologie des Theologiebegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liste der Sigel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Die diesem Buch zugrundeliegende Arbeit wurde im Januar 2008 von der theologischen Fakultät der Ernst Moritz Arndt-Universität Greifswald als Dissertation angenommen. Mit der Veröffentlichung dieser Arbeit kommt für mich jedoch mehr zum Abschluss als nur eine Dissertation. Denn die Frage danach, wie die Bibel angesichts der Herausforderungen historischer Exegese noch theologisch und geistlich verstanden werden kann, hat mein Studium von Anfang an begleitet. Es war vor allem das Schisma zwischen den Disziplinen der Exegese und der Dogmatik das nicht nur bei mir ein zutiefst unbefriedigendes Gefühl hinterließ. Manche alte Frontstellung ist hier inzwischen überwunden, so dass ich die Hoffnung hege, dass der Versuch einer dogmatischen Beschreibung des Verstehens der Bibel als Heiliger Schrift nicht von vorn herein auf Ablehnung stößt, sondern neue Gesprächsgänge auch zwischen den theologischen Disziplinen eröffnen kann. Meine Studien zum Thema wären nicht möglich gewesen ohne die großzügige Unterstützung der Studienstiftung des deutschen Volkes, der mein herzlicher Dank gilt. Für Zuschüsse zu den Druckkosten danke ich der Evangelischen Kirche im Rheinland, der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und der Georg Strecker Stiftung. Mein Dank gilt auch dem Verein der Freunde und Förderer der Universität Greifswald für die Auszeichnung dieser Arbeit mit dem Promotionspreis der Universität. Zu danken habe ich darüber hinaus den vielen Menschen, die meine Arbeit in den vergangenen Jahren begleitet und unterstützt haben: Prof. Dr. Friedrich Mildenberg war mit seiner Biblischen Dogmatik so etwas wie der geistige Vater dieser Arbeit. Prof. Dr. Oswald Bayer führte mich während meiner Tübinger Studienzeit in die Faszination und die Tiefe der lutherischen Theologie ein und blieb auch in der Zeit der Promotion ein wichtiger Gesprächspartner. Prof. Dr. Jörg Baur verdanke ich es, dass ich heute ein Originalexemplar von Quenstedts Systema Theologicum mein eigen nennen darf. Ihre ersten Anfänge nahm diese Arbeit während meines einjährigen Studienaufenthalts in Durham (England). Dank Prof. Dr. Walter Moberly stieß ich in dieser Zeit auf die anglo-amerikanische Diskussion zu Fragen der Biblischen Theologie, und die Diskussion über die Philosophie Ludwig Wittgensteins unter der kundigen Anleitung von Dr. Colin Crowder im Vennel’s Café werden mir unvergesslich bleiben. Thank you!

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Inhalt

Besonderer Dank gilt auch Dr. Henning Theißen und Dr. Hannes Illge, die mit viel Akribie diese Arbeit gelesen haben und von denen manche Anregung in den Text einfloss. Nicht zu vergessen die vielen erhellenden Dispute die ich mit letztem über die Philosophie Wittgensteins geführt habe. Darüber hinaus wären noch viele Menschen zu nennen, mit denen ich immer wieder im Gespräch war. Besonders hervorheben möchte ich die weiteren Mitglieder der Doktorandensozietät um meinen Doktorvater Prof. Dr. Heinrich Assel: Antje Brunotte, Stefan Kläs, Dr. Marco Hofheinz, Dr. Martin Langanke, Roger Mielke und Christian Neddens. Sie haben manches meiner Manuskripte nicht nur gelesen, sondern im Geiste guter theologischer Wissenschaft mit reichlicher, aber immer konstruktiver Kritik bedacht. Dank gilt meinem Vikariatsmentor Pfarrer Christoph Nötzel, der mir immer wieder den nötigen Freiraum verschaffte, damit ich meine Promotion in der Zeit des Vikariats abschließen konnte. Zu danken habe ich zudem den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek Köln für ihr stetes freundliches Entgegenkommen, das manche Recherche erleichtert hat. Prof. Dr. Gunther Wenz und Prof. Dr. Christine Axt-Piscalar danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie“. Irene Stephanus war meine stets verlässliche und hilfbereite Ansprechpartnerin beim Verlag – auch ihr gilt mein herzlicher Dank. Besonders aber bedanke ich mich bei den Gutachtern dieser Arbeit, namentlich bei Prof. Dr. Walter Sparn (Erlangen), der das Zweitgutachten in bewundernswerter Schnelligkeit verfasste, und bei meinem Doktorvater Prof. Dr. Heinrich Assel. In vielen Gesprächen hat er mich intensiv auf meinem Denkweg begleitet. Keines unserer Gespräche ging an mir vorüber, ohne dass es zu wichtigen Einsichten oder Fragestellung geführt hätte. In welche Tiefen des Denkens die theologische Wissenschaft führen kann, habe ich besonders in diesen Gesprächen gelernt. Aber es sind nicht nur die intellektuellen Gesprächspartner, die solch eine Arbeit ermöglichen. Mindestens genauso wichtig sind die Menschen, die einem in Freundschaft und Verbundenheit zu Seite stehen. Und so gilt mein Dank hier auch ganz besonders meinen Freundinnen und Freunden, die es über die Jahre immer wieder mit Geduld und Schmunzeln ertragen haben, wenn ich, durchaus auch mal zur Unzeit, ins Theologisieren geriet. Ohne ihre ganz persönliche Unterstützung wäre vieles in diesen Jahren nicht möglich gewesen. Das gilt nicht zu letzt für meine Frau und meine Kinder, die mich manche Stunde entbehren mussten, damit das Werk vollendet würde. Auch darum ist dieses Buch ihnen gewidmet. Rostock, im Oktober 2008

Michael Coors

„Die historische Erklärung, die Erklärung als eine Hypothese der Entwicklung ist nur eine Art der Zusammenfassung der Daten – ihrer Synopsis. Es ist ebensowohl möglich, die Daten in ihrer Beziehung zu einander zu sehen und in ein allgemeines Bild zusammenzufassen, ohne es in Form einer Hypothese über die zeitliche Entwicklung zu tun.“ (Wittgenstein, BFGB 36f )

Einleitung Einleitung Einleitung Diese Arbeit nähert sich einem alten Denker auf einem dem Historiker wohl zunächst seltsam anmutenden Weg an: Johann Andreas Quenstedt, jener letzte große Vertreter der Hochorthodoxie, wird hier nicht einfach Gegenstand einer historischen Untersuchung, sondern er wird – mit aller historisch und philologisch notwendigen Korrektheit und Akribie – als Vertreter einer den Protestantismus, in einer noch weitaus gründlicher zu erforschenden Weise, prägenden theologischen Epoche herangezogen, um die gegenwärtige Diskussion um die theologischen Erkenntnisse eben jener Epoche zu bereichern. Gefragt ist nach Quenstedts Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion um die Möglichkeiten und Perspektiven einer Biblischen Theologie. Dass diese Diskussion nicht in einem bloß akademischen Kontext sich vollzieht, haben die Jahre, in denen diese Arbeit entstanden ist, deutlich gezeigt. Ihren Anfang nahmen meine Studien zu diesem Thema im Jahr 2003, das von den Kirchen zum Jahr der Bibel ausgerufen worden war. Es mag exemplarisch dafür stehen, dass sich Kirche und Theologie nach wie vor unter den Anspruch des biblischen Wortes zu stellen begehren und die besondere Bedeutung des biblischen Textes für den Glauben offen bekennen. Das in diesem öffentlichen Akt zu Tage tretende einheitliche Handeln der christlichen Kirchen allerdings sollte sich schnell als oberflächlich erweisen. Dass sich die Geister an der Reichweite der Geltung des biblischen Wortes interkonfessionell scheiden, zeigte sich 2005, als es über den Versuch einer Revision der Einheitsübersetzung innerhalb der zuständigen Arbeitsgruppe zu einem Bruch zwischen evangelischen und katholischen

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Einleitung

Vertretern kam mit der Folge, dass die EKD sich aus dem gemeinsamen Projekt zurückzog. Es war eben jener alte Streit um das Verhältnis von Kirche und Lehramt, der sich hier einem gemeinsamen Vorgehen in den Weg stellte, wenn sich die evangelische Seite dagegen verwahrte, sich die Kriterien der Übersetzung der Bibel durch eine bereits 2001 erlassene Instruktion der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung1 vorschreiben zu lassen. Gegen den Anspruch des römischen Lehramtes, wenn auch noch so geringen Einfluss auf die Übersetzung der Bibel zu nehmen, beriefen sich die Vertreter der EKD auf den Primat der Schrift vor dem Lehramt. Dass gerade dieser Dissens uns in der Gegenwart wieder einholt, zeigt, dass eine Rückbesinnung auf die Gestaltung dieses Dissenses in seinen Anfängen und ersten theologischen Ausgestaltungen nicht einfach an der Gegenwart vorbeigeht. Freilich kann diese Arbeit nicht bei einer schlichten Repristination des Streites aus dem 17. Jahrhundert stehen bleiben. Dass das Verhältnis von Bibel und Ausleger allerdings auch innerhalb der evangelischen Kirche nicht unumstritten ist, zeigt die Diskussion um die Übertragung der Bibel in eine gerechte Sprache. Ab wann ist eine Übersetzung der biblischen Texte nicht mehr angemessen, ab wann stellt sie eine interpretatorische Vereinnahmung des biblischen Textes dar? Setzt derjenige, der die biblischen Texte dem Standard einer „gerechten Sprache“ unterwirft, eine Auslegeautorität jenseits des biblischen Textes voraus, ganz analog der katholischen Kirche, für die nach wie vor das kirchliche Lehramt die Auslegungshoheit hat? Das Problem der theologischen Gewichtung des Urtextes zieht sich durch beide Kontroversen, die interkonfessionelle und die innerevangelische, gleichsam als roter Faden hindurch. So beruft sich die EKD gegenüber Rom auf die uneingeschränkte Geltung des Urtextes ja nicht einfach deshalb, weil man die Übersetzung eines Textes nun einmal anhand des ursprünglichen Textes vornimmt – es ist also nicht nur das humanistische ad fontes –, sondern sie qualifiziert dieses Zurückgehen allein auf den Urtext als einen theologisch relevanten Vorgang. Wie strittig gerade dies ist, zeigt aber der Streit um die Übersetzung der Bibel in eine gerechte Sprache. Es sind eben diese Probleme, die Frage nach der Autorität der Schrift im Gegenüber zu Kirche und Vernunft und die Frage nach der theologischen Relevanz des Urtextes, die auch die altlutherische Schriftlehre im Kern bewegen und prägen. Ihre Antworten darauf galten lange Zeit als non degoutant. Doch hat man sie wohl schwerlich genau genug gelesen, um die 1 Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, Der Gebrauch der Volkssprachen bei der Herausgabe der Bücher der römischen Liturgie. Fünfte Instruktion „zur ordnungsgemäßen Ausführung der Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die heilige Liturgie“, Rom 2001 (http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/ccdds/documents/rc_ con_ccdds_doc_20010507_liturgiam-authenticam_ge.html, 9.5.2007).

Methode

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Komplexität und Vielschichtigkeit ihrer Argumentation zu durchdringen. Es ist eben dies die These dieser Arbeit, dass sich an Quenstedt zeigen lässt, dass manches Vorurteil über die altlutherische Schriftlehre und ganz besonders ihre Inspirationslehre nur die halbe Wahrheit über die Theologie dieser Epoche ist. An Quenstedts theologischem System soll die innere Spannung, die sein Werk durchzieht, dargestellt werden. Das Herausarbeiten der theologischen Gründe für diese Spannungen soll dabei neue Perspektiven auf die gegenwärtige theologische Diskussion eröffnen. Diese Herangehensweise, die nicht einfach auf eine Repristination der Theologie Quenstedts oder auf eine Darstellung seines Werks im historischen Kontext aus ist, erfordert besondere methodische Schritte.

1. Zu Anlage und Methode der Untersuchung Methode In einem ersten Schritt werde ich den systematisch-theologischen Diskussionshorizont inhaltlichen abstecken (Teil I). Ziel ist dabei nicht eine umfassende Darstellung der aktuellen Diskussion, weil die umfassende Darstellung der inzwischen äußerst komplexen hermeneutischen Diskussion auch zum Thema Kanon und Biblische Theologie ohne weiteres Thema einer ganzen Reihe weiterer Dissertationen sein könnte. Sinn und Zweck dieses ersten Teils der Arbeit ist vielmehr die Herausarbeitung eines systematisch-theologischen Problemprofils am Beispiel einzelner theologischer Ansätze. Das Problemprofil konzentriert sich dabei auf die Frage nach der Autorität und Einheit der Schrift in der Auslegung derselben. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf dem Verhältnis von Exegese und Dogmatik sowie den Aporien historischer Auslegungsmethoden liegen. Es wird den einen oder anderen in diesem Zusammenhang vielleicht verwundern, dass in diesem Teil die großen Vertreter der Tradition hermeneutischer Theologie mit Ausnahme von Ebeling nicht zu Wort kommen. Dieses hat mehrere Gründe. Zum einen steht die hermeneutische Tradition von Schleiermacher bis Bultmann für eine bestimmte Form des Dualismus von Exegese und Dogmatik, die ich im Folgenden am Beispiel von Gerhard Ebeling und James Barr darstelle: Ist bei Schleiermacher noch die grammatische Auslegung (Exegese) mit der psychologischen Auslegung, die dann im Kontext der Theologie das größere Gewicht trägt, eng verbunden, so ist doch hier schon eine Zweipoligkeit des Verstehens angelegt, die in unserer Zeit Krister Stendahl auf den Punkt gebracht hat: Die Exegese sucht zu verstehen, was die Texte meinten, die systematische Theologie sucht zu verstehen, was sie heute meinen. Dadurch kommt der Hermeneutik als systematisch-theologischer Disziplin die Aufgabe der Übersetzung eines vergangenen Textes in die Gegenwart zu. Hielt Schleiermacher dies – ins-

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Einleitung

besondere in seiner Glaubenslehre – noch unter dem Begriff der psychologischen Interpretation zusammen (denn dieser diente letztlich die grammatische Auslegung), so bricht der Zusammenhang in der Folgezeit auseinander.2 Bei Bultmann zeigt sich uns das Resultat dieses Auseinanderbrechens: Neben einer historisch-kritischen Exegese, die den Text in seiner ursprünglichen Bedeutung verstehen soll, steht hier die, sich vermeintlich an Heidegger anlehnende, existentiale Interpretation der biblischen Schriften, die diese antiken Texte auf die in ihnen enthaltenen Existenzmöglichkeiten hin befragt, die auch als Existenzmöglichkeiten für den Menschen in der Gegenwart bestehen.3 Einmal abgesehen davon, dass Bultmann mit diesem Ansatz weit hinter Heideggers Verständnis von Geschichtlichkeit der Existenz zurückbleibt, wird hier deutlich, dass das hermeneutische Programm letztlich recht unabhängig neben der Exegese steht und durch andere derartige Programme ersetzt werden kann: Was der biblische Text der Gegenwart zu sagen hat, das bestimmt letztlich die jeweilige Hermeneutik, die uns lehrt den Text in der Gegenwart zu verstehen. So kommt es zu einer Verdopplung des Verstehensbegriffs: Auf der einen Seite steht das objektive historische Verstehen, auf der anderen Seite das existentielle Verstehen des Subjekts. Dies führt auf den eigentlichen Grund, dass diese Texte hier nicht näher analysiert werden: Die Frage, wie die Bibel als Heilige Schrift, als autoritatives Buch für die Kirche zu lesen ist, spielt hier eine höchstens untergeordnete Rolle. Die Ansätze dieser Tradition verbleiben in ihren hermeneutischen Überlegungen ganz auf das Gegenüber von Text und einzelnem Leser konzentriert. Den Bezug des Verstehens der Bibel als Heiliger Schrift auf die Kirche haben sie nicht im Blick.4 Dies ist nach dem Dargestellten auch nicht verwunderlich, denn wenn die anwendungsbezogene Auslegung letztlich durch das hermeneutische Programm bestimmt ist, so kommt diesem die eigentliche Autorität zu. Gewinnt dieses hermeneutische Programm subjektivitätstheologischen Charakter, so muss letztlich der Text, der eigentlich das Leben der Kirche bestimmen soll, immer wieder vom verstehenden Subjekt her eingeholt werden, so dass er sich am Ende immer den 2 Die Gründe für dieses Auseinanderbrechen von grammatischer und theologischer Auslegung zu untersuchen wäre ein interessantes und wichtiges Thema für eine eigene theologiegeschichtliche Untersuchung, dem ich hier leider nicht weiter nachgehen kann 3 Vgl. Bultmann, Antwort an Ernst Käsemann, 191f. Zwar betont Bultmann, dass er existentiale Interpretation und historisch-objektives Verstehen nicht voneinander scheidet, sondern sie lediglich unterscheidet, aber dies geschieht eben so, dass dann in dem historischen verstandenen Text über das historische Verstehen hinaus nach dem in ihm sich ausdrückenden Selbstverständnis gefragt wird (aaO., 193). 4 Der Zusammenhang von Kanon und ihn rezipierender kirchlicher Lesegemeinschaft und eine daraus resultierende kanonische Auslegung der Bibel ist ein Aspekt, der erst in der neueren Diskussion ins Zentrum des Interesses rückt. Vgl. von Lipps, Was bedeutet uns der Kanon?, 53f.

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Verstehenskategorien dieses Subjektes unterzuordnen hat. So kann es hier nicht zu einem wirklichen Verständnis der Bibel als Heiliger Schrift kommen. Während das historische Verstehen die Objektivität moderner Wissenschaftlichkeit für sich in Anspruch nehmen kann, wird das applikative Verstehen der biblischen Texte damit nur allzu schnell in den Bereich bloß subjektiver Erfahrung abgeschoben. Daher suche ich in dieser Arbeit einen Zugang zu diesem Problem jenseits subjektivistischer Verstehenstheorien und wende mich im Gegenzug zu diesen der Philosophie Ludwig Wittgensteins zu (Teil II), die für die Bearbeitung des Themas hilfreich ist, insofern sie „Verstehen“ gerade nicht als inneren Vorgang, sondern als ein äußerliches Geschehen begreift.5 Von den begrifflichen Einsichten her, die wir in der Auseinandersetzung mit Wittgenstein gewinnen, fragen wir dann danach, inwieweit die vorkritische, dogmatische Schriftauslegung und hermeneutische Theorie des Altlutheraners Johann Andreas Quenstedt einen Beitrag dazu leisten kann, die Aporien der neuzeitlichen Schriftauslegung zu lösen. Der Rückgriff auf die Theologie jener Epoche legt sich auch deshalb nahe, weil hier die Frage nach dem Verstehen der Schrift immer auch die Kirche als Lesegemeinschaft mit im Blick hat. Der indirekte, sprachphilosophisch reflektierte Zugang zu Quenstedt gründet in der Einsicht, dass dogmatische Reflexion sich nicht einfach affirmativ auf die Positionen voraufklärerischer Theologie zurückbeziehen kann, sondern dass sie sich vor der Aufgabe sieht, die Reformation und diejenigen Positionen, die dieses Erbe in klassischer Weise vertraten, im Horizont der gegenwärtigen Debatten neu zu gewinnen. Das fordert die theologische Arbeit auch zu einer begrifflichen Klärung heraus, in der deutlich werden muss, wie und warum heute noch auf solche so genannten vorkritischen Positionen zurückgegriffen werden kann, ja warum es sogar in der postmodernen Situation ein Gewinn sein kann, auf diese vorkritische Schriftauslegung zurückzukommen. Dieser Rückgriff ist also nicht einfach ein Schritt hinter den Geist der Aufklärung zurück, sondern es ist der Versuch in einer neuen Situation, Altes neu zu bewerten und darin neue Aspekte zu entdecken, die es für die neue Situation in noch einmal neuer Weise relevant werden lassen, so dass dadurch Perspektiven eröffnet werden, die sich unter dem herrschenden Einfluss eines neuzeitlichen Wissenschaftsbegriffs sonst gar nicht zeigen könnten. In der Terminologie von Roland Barthes gesprochen behandeln wir hier also Quenstedts Theologia didactico-polemica in erster Linie als „Text“ und nicht als „Werk“. Ein altes Werk als „Text“ zu lesen, heißt zu fragen: „[W]ie kann man dieses vergan5 Ich folge darin dem Hinweis von Fergus Kerr, der allgemein aufgezeigt hat, dass ein theologischer Bezug auf Wittgenstein gerade im Gegenzug zur subjektivitätstheologischen Tradition weiterführend ist (vgl. Ders., Theology after Wittgenstein).

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vergangene Werk noch lesen?“6 Es geht um eine aktuelle Bewertung der vergangenen Kultur.7 Das Lesen eines Textes ist daher immer produktives Arbeiten mit dem Text: „[D]as Werk ruht in der Hand, der Text ruht in der Sprache: er existiert nur innerhalb eines Diskurses […]. Oder: der Text erweist sich nur in einer Arbeit, einer Produktion. Daraus folgt, daß der Text nicht enden kann (etwa auf dem Regal einer Bibliothek)“.8 Daher tritt im Text als einem Gewebe (lat. textus)9 von intertextuellen Verweisen der Autor mit seiner Intention zurück.10 Der Text ist nicht Produkt des Autors, sondern er markiert ein methodologisches Feld,11 auf dem sich Autor und Leser je unterschiedlich bewegen.12 Auf die historische Fragestellung gewendet führt dies für den so genannten New Historicism auf die These von der Textualität der Geschichte: Wir haben keinen Zugang zur authentischen Vergangenheit, sondern es gibt nur Spuren der Vergangenheit, die selber textueller Vermittlung unterworfen sind.13 In dieser Perspektive bewegt sich selbst eine historische Arbeit immer im Rahmen der Interpretation von Texten. Wir greifen hier mit Roland Barthes einen der bedeutenden Vertreter der texttheoretischen Diskussion der neueren Philosophiegeschichte auf.14 Die vorliegende Arbeit berührt diesen philosophischen und linguistischen Diskurs zum Textbegriff – allerdings nur am Rande. Auf einer Metaebene spielen diese Einsichten insofern eine Rolle, als sie die methodische Zugangsweise zum untersuchten Text plausibilisieren. Auf der anderen Seite führt die Interpretation der Schriftlehre Quenstedts selber auf eine theologische Texttheorie über den Text der Heiligen Schrift. Die Positionierung dieser theologischen Texttheorie im Kontext des angedeuteten Diskurses wird uns aber nur am Rande beschäftigen. Thema dieser Arbeit ist zunächst die Entwicklung dieser Texttheorie aus dem Text altlutherischer Theologie.

Der Griff nach der Sprachphilosophie Wittgensteins und die Hinwendung zu seinen Analysen des Verstehensbegriffes zielen in diesem Sinne darauf, gängige Denkmuster und Denkvoraussetzungen, die der Leser an einen Text wie den von Quenstedt herantragen mag, kritisch zu reflektieren, um so eine neue Perspektive zur Interpretation und zur Rezeption der vorkritischen Schrifthermeneutik zu gewinnen. Kurz, der Leser soll auf eine andere Denkungsart hingeführt werden, eine neue Weise die Dinge wahrzunehmen. Dies verbindet sich mit der These, dass diese neue Perspektive, die 6 Barthes, Das Rauschen der Sprache, 97. 7 Vgl. ebd. 8 Barthes, Das Rauschen der Sprache, 66f. 9 Zu Begriffs- und Ideengeschichte von „Text“ vgl. Frank, Das Sagbare, 125–127 und Hay, „Den Text gibt es nicht“, 74–80. 10 Vgl. Barthes, Das Rauschen der Sprache, 69f. Zur Intertextualität vgl. aaO., 61: „Der Text ist ein Geflecht von Zitaten, die aus den tausend Brennpunkten der Kultur stammen.“ Hierin steht Barthes dem Dekonstruktivismus Derridas nahe (vgl. Derridas, Semiologie, 65f). Vgl. zu Derridas: Frank, Das Sagbare, 159. 11 Vgl. aaO., 65 und 96. 12 Zur Entstehung des Autorbegriffs in der Moderne vgl. Cerquiglini, Textuäre Modernität. 13 Vgl. Montrose, Die Renaissance behaupten, 305. 14 Vgl. zu dieser Diskussion Kammer/Lüdeke (Hg.), Texte zur Theorie des Textes.

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uns auf einen Weg jenseits eines subjektivitätstheoretischen Verstehensbegriffs führt, es erlaubt, an jener vorkritischen Schrifthermeneutik eines Johann Andreas Quenstedt Aspekte zu entdecken, die ihn auch für die gegenwärtige Diskussion um eine Biblische Theologie interessant machen. Die Interpretation der Schriftlehre Quenstedts und ihrer materialdogmatischen Grundlagen wird zeigen, dass die veränderte Perspektive auf den Begriff des Verstehens, wie sie in Teil II anhand von Wittgenstein gewonnen wird, es erlaubt, Aspekte der Schriftlehre und Hermeneutik Quenstedts und der Altprotestanten wahrzunehmen, die in der Diskussion über die Theologie dieser Epoche bisher nicht im Blick waren. Verstehen ist weit mehr als das Verstehen des Inhalts von Sätzen, es hat mitunter schlicht den Charakter des Handelns und Reagierens. Begreift man Verstehen nicht in dieser Komplexität und zugleich in seiner Schlichtheit, so werden sich bestimmte Aspekte der altlutherischen Hermeneutik nicht erschließen und als Aporien oder supranaturalistische Postulate erscheinen. So wird die Reflexion auf den Begriff des Verstehens es uns ermöglichen, Quenstedts Schriftlehre als Darstellung des Verstehens der Bibel als Heiliger Schrift in der Praxis des Glaubens zu interpretieren (Teil III/1 und 3). Es macht nun aber die Schwierigkeit der Interpretation aus, dass diese Linie der Darstellung bei Quenstedt nicht in „reiner“ Form vorliegt, sondern sich von vornherein in Konflikt mit anderen Anschauungen befindet, die sich teils – jedoch mitnichten ausschließlich – auf die Verwendung metaphysischer Begrifflichkeit gründen, teils schlicht traditionelle Anschauung repristinieren, teils in der von Quenstedt rezipierten Methode begründet sind. Deutliches Symptom dieser inneren Spannung des theologischen Systems ist das unreflektierte Auseinanderklaffen von Schriftlehre und Praxis der Schriftauslegung im Vollzug der theologischen Reflexion (Teil III/2). Die weitere Interpretation stellt den Versuch dar, die Ursachen dieser Spannung im theologischen Begründungszusammenhang von Quenstedts theologischem System aufzuspüren (Teil III/3 und 4). Gefunden werden sie nicht dort, wo man sie gängiger Weise vermutet, also nicht in der Inspirationslehre und Hermeneutik, sondern vor allem in der Problematik des altlutherischen Theologiebegriffs und der Verhältnisbestimmung von Theologie und Glaube (Teil III/4). Von dieser Problematik her werden die Aporien und Spannungen des theologischen Systems in einem Rückblick noch einmal in ihren Konturen deutlich und das, was in der Interpretation Quenstedts an Erkenntnis gewonnen wurde, soll dann abschließend auf die gegenwärtige Diskussion bezogen werden (Teil IV). Die Theologie Quenstedts wird also nicht einfach auf eine klar zu bestimmende intentio auctoris hin ausgelegt. Vorausgesetzt wird vielmehr, dass Quenstedt als Autor an bestimmten Stellen die einander widerstrebenden Tendenzen seiner theologischen Ausführungen nicht im Blick hatte.

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Bedenkt man, dass Quenstedts theologisches opus magnum nicht einfach aus einem genialen Keimentschluss des Autors heraus expliziert wurde, sondern eine Unmenge von theologischen Traditionen der lutherischen, aber auch der scholastischen und altkirchlichen Theologie sammelt, verarbeitet und systematisiert, so ist es nicht verwunderlich, dass es in diesem System Bruchstellen gibt.15 Das Auffinden dieser Bruchstellen allerdings ist eine theologisch lohnende Arbeit, weil es auch uns zeigen kann, wo Konsequenzen und Aporien theologischen Denkens liegen. Es eröffnet uns so die Option, Quenstedts Theologie nicht einfach als hermetische Einheit (als Werk) zu rezipieren, sondern ihn produktiv als Text zu lesen (ihn zu reproduzieren),16 indem wir an bestimmten Stellen in die theologische Begründung einsteigen und sie auf die gegenwärtige Diskussion hin anwenden. So wird sich zeigen lassen, an welchen Stellen die gegenwärtige Diskussion auf ähnliche Aporien hinsteuert wie schon die Altlutheraner und an welchen Stellen eine theologisch reflektiert rezipierte Hermeneutik Quenstedts in der gegenwärtigen Diskussion neue und doch zugleich alte Perspektiven aufzeigen kann.17 Die hier vorliegende Untersuchung verbindet so systematisch theologisches Denken mit theologiegeschichtlicher Arbeit, in der Hoffnung in beider Hinsicht nicht nur solide zu arbeiten, sondern auch das ein oder andere Neue, vielleicht sogar – sic Deus vult – etwas Weiterführendes zu sagen.

15 Am Text von Quenstedts Theologie wird die Intertextualität des Textes und das damit verbundene zurücktreten der Bedeutung des Autors also besonders deutlich (s.o. Exkurs auf Seite 16f). Zum „Tod des Autors“ vgl. Barthes, Das Rauschen der Sprache, 57–63. 16 Vgl. das Zitat aus Barthes, Das Rauschen der Sprache, 66f oben im Exkurs auf Seite 18. Frank, Das Sagbare, 137f interpretiert Schleiermachers Begriff der Divination als Akt der Produktion von Sinn durch den Leser. Es geht dabei also nicht um das Reproduzieren oder Erraten einer Autorintention, „denn die Bedeutung eines Textes ist nicht anderes als das, was die Leser darin realisieren“ (aaO., 138). 17 Folgen wir der Terminologie von Barthes, so geht es darum, den Text von Quenstedts Theologie nicht nur nachzuspielen, sondern auf ihm zu spielen (vgl. Barthes, Das Rauschen der Sprache, 71).

Quellen

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2. Quellen- und Forschungslage 2.1 Quellen Quellen Quenstedts Theologia didactico-polemica sive Systema Theologicum erschien erstmals 1685 und erlebte bis 1715 fünf Auflagen. Trotz dieser starken Verbreitung, die Quenstedts theologisches opus magnum erreichte, gibt es bis heute kein Reprint, geschweige denn eine kritische Edition seines Werkes. Die Edition Quenstedts bleibt hier wie bei nahezu allen wichtigen Werken dieser Epoche dringendes Desiderat der theologischen und historischen Forschung. Dieser Arbeit wurden daher die dem Verfasser zugänglichen Ausgaben der Theologia von 1685 und 1715 zu Grunde gelegt. Wesentliche Abweichungen im Textbestand, von der Korrektur offensichtlicher Druckfehler der ersten Ausgabe abgesehen, sind nicht festzustellen. Quenstedts Theologia bildet die Primärquelle. Das Heranziehen anderer Quelltexte aus der Zeit der lutherischen Orthodoxie geschieht in den unterschiedlichen Abschnitten der Interpretation in Abhängigkeit davon, inwieweit das theologiegeschichtliche Umfeld bereits durch Sekundärliteratur erschlossen ist. Dies macht es an bestimmten Stellen notwendig, über Quenstedts Text hinauszugehen und andere Positionen einzubeziehen, während andere Positionen in anderen Fällen durch bereits vorliegende Arbeiten zum Teil erschlossen sind. Die Interpretation soll dadurch an theologiegeschichtlicher Tiefenschärfe gewinnen. Unterstützend werden Disputationstexte von Quenstedt herangezogen, die v.a. in der Bibiliothek des Predigerseminars in Wittenberg in großer Zahl vorhanden sind. Die Auswahl konzentriert sich dabei auf die thematisch relevanten Disputationen. Quenstedt unterteilt in seiner Theologia didactico-polemica jedes Kapitel in einen didaktischen und einen polemischen Teil. Während der didaktische Teil das Thema in einer Thesenreihe entfaltet, wobei die Thesen jeweils in sehr unterschiedlicher Länge in Petitdruck in verschiedenen notae und observationes erläutert werden, ist der polemische Teil nach Fragen (quaestiones) strukturiert.18 Bezogen auf die Quellenlage ist nun v.a. von Interesse, dass sich die Thesen des didaktischen Teils bis in den Wortlaut hinein an Johann David Friedrich Königs Theologia positiva acroamatica anlehnen. Man kann vermuten, dass Quenstedt Königs Kompendium zur Grundlage von theologischen Vorlesungen machte und in diesem Zusammenhang Königs Thesen kommentierte. Aus dieser Vorlesungstätigkeit dürfte der didaktische Teil von Quenstedts Werk hervorgegangen sein.19 Um so inte18 Zur Struktur der Quaestionen vgl. unten Teil III.2.1. 19 Dies entspräche auf jeden Fall der Lehrpraxis jener Zeit, die sich gerade im dogmatischen Unterricht an den gängigen Dogmatikkompendien orientierte und diese kommentierte. Vgl. dazu

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ressanter ist es dann allerdings, wenn Quenstedt von Königs Aufriss und seinen Ausführungen an einigen Stellen abweicht. Von Königs Theologia positiva wurden die Erstausgabe (Rostock 1664) und die letzte, 14. Ausgabe (Wittenberg 1719) verwendet.20 Zur Erläuterung der bei Quenstedt vorausgesetzten metaphysischen Begrifflichkeit beziehe ich mich v.a. auf die Metaphysica exemplaris und die Institutiones Logicae von Quenstedts Schwiegervater aus dritter Ehe Johannes Scharf.21 Scharf war zudem Quenstedts Vorgänger auf dem Wittenberger Lehrstuhl für Theologie,22 den Quenstedt von 1660 an bis zu seinem Tode 1688 innehatte. Scharfs Metaphysica exemplaris und seine Institutiones Logicae erreichten als gängige und theologisch angepasste Lehrbücher der lutherischen Metaphysik eine enorme Verbreitung in Kursachsen,23 so dass es angemessen scheint, sie für Quenstedts metaphysische Begrifflichkeit als Referenzpunkt zu nehmen. Neben Scharf wird auch Balthasar Meisners Philosophia Sobria herangezogen, v.a. deshalb, weil Quenstedt sie an gegebener Stelle explizit erwähnt. Den weiteren philosophiegeschichtlichen Kontext erschließen die einschlägigen Arbeiten von Wundt, Weber und Sparn.24 Von Quenstedt selber ist als einziger metaphysischer Text lediglich das Thesenblatt einer Disputation unter dem Titel Metaphysicae Conclusiones von 1652 erhalten. Es enthält nichts, was sich im Blick auf Quenstedts theologische Arbeit verwenden ließe. Überhaupt setzt Quenstedt die metaphysischen Begriffe eher voraus, denn dass er sie reflektiert. Ein allzugroßes Gewicht sollte man ihnen in der Interpretation seines theologischen Werkes schon allein deshalb nicht beimessen. 2.2 Zur Forschungslage Forschungslage a) Quenstedt und die lutherische Orthodoxie Eine Darstellung der Erforschung von Quenstedts Theologie ist in wenigen Zeilen abgehandelt. Lediglich zwei monographische Titel sind zu nennen, zum einen Max Kochs Arbeit zum sogenannten ordo salutis, die sich vor allem an Quenstedt orientiert (1899), und zum anderen Jörg Baurs Arbeit Stegmann, Johann Friedrich König, 130–147. Zur Verwendung von König durch Quenstedt vgl. aaO., 210f. Quenstedt wegen seiner Anlehnung an König Plagiatismus vorzuwerfen (so Appold, Calov’s doctrine, 111, Anm. 54), geht doch sehr an den Bedingungen der Produktion theologischer Texte in dieser Zeit vorbei. 20 Vgl. inzwischen die Neuausgabe und Übersetzung von Königs Theologia positiva acroamatica durch Andreas Stegmann, Tübingen 2006. 21 Vgl. zu Scharf: Kathe, Die Wittenberger Philosophische Fakultät, 214 und 223. 22 Vgl. Friedensburg, Geschichte der Universität Wittenberg, 427. 23 Vgl. Friedensburg, Geschichte der Universität Wittenberg, 507. 24 Wundt, Die Schulmetaphysik; Weber, Der Einfluss; Sparn, Die Wiederkehr.

Forschungslage

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zum Vernunftbegriff in Quenstedts theologischem System (1960). Ausführlicher hat sich sonst nur noch Hans Emil Weber in seiner Studie über den Einfluss der protestantischen Schulphilosophie auf die orthodox-luterische Dogmatik (1908) mit Quenstedt beschäftigt. Der zweite Teil seines Buches bietet ebenfalls eine Interpretation des sogenannten ordo salutis bei Quenstedt und ist eine in breiten Zügen durchaus gelungene Kritik an Kochs früherer Arbeit. Greift man über diese bescheidene Quenstedtforschung hinaus nach Literatur über die Epoche der lutherischen Orthodoxie, und der Mangel an Literatur zu Quenstedt nötigt ja geradehin dazu, so findet sich zwar nicht soviel Literatur wie zu manch anderer theologiegeschichtlichen Epoche, aber inzwischen doch zuviel, um hier alles zu erwähnen. Ich gebe daher hier keinen Bericht der Forschungsgeschichte, sondern referiere nur soviel wie nötig ist, um diese Arbeit im Kontext der Forschung zur lutherischen Orthodoxie zu verorten. Zunächst fällt auf, dass die Forschung zur lutherischen Orthodoxie offensichtlich in mehreren Schüben von statten ging. Die erste Phase beginnt Mitte des 19. Jahrhunderts und findet ihren Höhepunkt um die Jahrhundertwende herum, zur Mitte des 20. Jahrhunderts hin ebbt sie deutlich ab. Allen voran ist das zwar süffisant zu lesende, aber theologisch doch recht destruktive Werk von Tholuck über den Geist der lutherischen Theologen Wittenbergs im 17. Jahrhundert (1852) zu erwähnen, das den Blick recht einseitig auf die Persönlichkeiten der lutherischen Orthodoxie lenkt, die aus Quellen angemessen zu beurteilen schlicht ein Wagnis ist. Zu dieser Phase gehören aber auch die genannten Werke von Koch und Weber. Eine Art späte Reprise dieser Phase ist der vierte Band von Otto Ritschls Dogmengeschichte (1927) als bis dato einziger umfassender Darstellung der Geschichte der lutherischen Orthodoxie. Der Ton der meisten Arbeiten dieser Zeit ist kritisch, vor allem kritisch gegenüber der Metaphysikrezeption in der lutherischen Orthodoxie. Das Schlagwort von der Rekatholisierung oder Rescholastisierung der evangelischen Theologie ist hier gängiges Vokabular. Diese Einschätzung belastet die Erforschung der lutherischen Orthodoxie und noch mehr die allgemeine theologische Wahrnehmung dieser Epoche bis in die Gegenwart. Da folgt noch heute auf den „Prolog im reformatorischen Himmel“ die „Nacht der Orthodoxie“.25 Erste wohlwollendere Darstellungen finden sich dann in Elerts Morphologie des Luthertums (1931) oder aber in Max Wundts positiver Würdigung der deutschen Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts (1939). Die Arbeiten aus den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts leiten nun darin, dass sie deutlich um ein ausgewogeneres Urteil im Blick auf das Verhältnis von Metaphysik und Theologie bemüht sind, eine neue Phase ein. In diese Pha25

So markant und einflussreich in Stumpf, Des Theologen Faust, 9 und 12.

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se fallen u.a. Baurs Arbeit zu Quenstedt, aber auch die Studie von Walter Sparn zur Wiederkehr der Metaphysik (1976), die in erheblichem Maße eine Vertiefung des Wissens über die theologische Rezeption der Metaphysik in der lutherischen Orthodoxie bewirkte. Der Grundton der Rezeption ist nun eher positiv affirmativ, gerade auch im Blick auf das Verhältnis der Theologie zur Metaphysik. Einig sind sich diese beiden Phasen der Erforschung der lutherischen Theologie allerdings in der durchgehend starken Konzentration auf die Metaphysik als Voraussetzung der lutherisch-orthodoxen Theologie. Dies gilt auch für diejenigen Werke, die ihr Augenmerk auf andere Themengebiete legen, wie Hägglunds Arbeit zum Schriftverständnis bei Johann Gerhard (1951) oder Reinhard Kirstes Arbeit über das Testimonium Spritus Sancti internum bei Gerhard (1976). Alle diese Arbeiten orientieren sich zudem an den großen theologischen Systembildungen der lutherischen Orthodoxie. Erst die Forschung der letzten Jahrzehnte hat eine Horizonterweiterung über die metaphysische Fragestellung hinaus vollzogen. So ist es u.a. den Arbeiten von Johannes Wallmann26 zu verdanken, dass die Bedeutung der Frömmigkeit in der lutherischen Orthodoxie heute in einem gänzlich anderen Licht erscheint also noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als man den Theologen der lutherischen Orthodoxie noch vorwarf, dass sie sich von den Quellen des gelebten Glaubens abgetrennt hätten und ihre Frömmigkeit erstarrt und verdorrt sei.27 Der Blick richtet sich damit auch zunehmend auf andere Textgattungen, sowohl auf Texte der Erbauungsliteratur wie z.B. Johann Gerhards Meditationes Sacrae, die seit kurzem in einer von J.A. Steiger verantworteten kritischen Edition vorliegen, oder aber auf akademische Textgattungen wie die Disputation, die z.B. Kenneth Appold in seiner Habilitation zum Disputationswesen der Universität Wittenberg (2004) ins Zentrum seiner Arbeit rückt. Der Arbeit von Volker Jung zu Calvos Schriftverständnis und Hermeneutik (1998) schließlich ist es zu verdanken, dass die Bedeutung der Schrift und der Schriftauslegung für die lutherischorthodoxe Theologie nun auch wieder in ihrem eigenen Recht wahrgenommen wird. Hägglunds Arbeit war doch bei allem Lob, das ihr gebührt, stark davon geprägt, auch das Verstehen der Schrift aus der vorausgesetzten Metaphysik abzuleiten. Jung erschließt auch als erster die Literaturgattung des Bibelkommentars, indem er Calovs Biblia Illustra mit in seine Untersuchung einbezieht. Kenneth Appold schließlich hat in seiner Arbeit zur vocatio bei Abraham Calov als erster darauf hingewiesen, dass sich manches in der altlutherischen Dogmatik aus der Perspektive der analytischen Sprach26 Vgl. dessen Analyse der Forschungslage in Ders., Die lutherische Konfessionalisierung, sowie die Aufsatzsammlung Ders., Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. 27 So z.B. Weber, Der Einfluss, 173.

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philosophie besser verstehen lässt und damit auch methodisch eine neue Perspektive eröffnet, die über die Konzentration auf die Metaphysik hinausweist. Die vorliegende Arbeit zu Quenstedt nimmt die beiden zuletzt genannten Arbeiten als Ausgangspunkt: Jung hat deutlich gezeigt, welche zentrale Rolle der Lehre von der Wirksamkeit der Schrift in der lutherischen Schriftlehre zukommt. Was bei Jung aber fehlt, ist eine systematische Durchdringung dieses Lehrstücks auf seine Verankerung in der dogmatischen, v.a. in der pneumatologischen Reflexion hin. Diese systematische Durchdringung wird hier durch den Ansatz bei einer Reflexion auf den Verstehensbegriff anhand von Wittgensteins Sprachphilosophie möglich und am Beispiel der Theologie Quenstedts durchgeführt. So will die vorliegende Arbeit zeigen, dass die lutherische Dogmatik des 17. Jahrhunderts wesentlich stärker als bisher üblicherweise angenommen, nicht nur beansprucht biblische Theologie zu sein, sondern dies in ihrer systematischen Anlage auch wirklich ist und zwar aller Rezeption metaphysischer Kategorien zum Trotz. b) Einordnung der lutherischen Orthodoxie in die Geschichte der theologischen Hermeneutik Die wissenschaftliche Diskussion zur Hermeneutik ist in ihrer interdisziplinären Weite kaum noch zu erfassen und dies soll hier auch nicht geschehen. Thema ist hier vielmehr die Verortung der Untersuchung in der Erforschung der Geschichte der hermeneutischen Wissenschaft. Die hermeneutische Wissenschaft, die einst im 17. Jahrhundert ihren Ausgang innerhalb der Theologie als Wissenschaft des Textverstehens nahm, ist insbesondere im 20. Jahrhundert zu einem umfassenden Diskurs über die Deutung von Wirklichkeit herangewachsen. Die Hermeneutik wurde von der Textwissenschaft zur Fundamentalwissenschaft und wird als solche nicht mehr nur in Theologie und Philosophie, sondern in nahezu allen geisteswissenschaftlichen Fächern zum Gegenstand der Forschung. Die hier vorgenommene Einschränkung auf die theologische Hermeneutik birgt bereits erhebliches Diskussionspotenzial, insofern die Annahme einer universalen Hermeneutik als allgemeingültiger Lehre des Verstehens bis in die Gegenwart hinein gerade auch innerhalb der Theologie zahlreiche Vertreter hat. Diese Einschränkung ist hier aber dennoch angebracht, denn diese Arbeit nimmt eine Zeit in den Blick, in der die Lehre einer universalen Hermeneutik zwar bereits im Entstehen, jedoch nicht allgemein anerkannt ist. Der hier untersuchte Text Quenstedts gehört dabei gerade nicht in jene Traditionslinie, die im 17. und 18. Jahrhundert bereits solche Ansätze einer universalen Hermeneutik entwickelte, sondern das, was hier als Hermeneutik entwickelt wird, ist theologische Hermeneutik im engsten Sinne: Die Begründung der

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Auslegungsregeln ist ohne die dogmatischen Ausführungen nicht verständlich. So soll diese Arbeit auch zeigen, dass der Vorwurf Schleiermachers, dass die ihm vorangehenden Hermeneutiken ihre Auslegungsregeln nur unzureichend begründen und es ihnen an Konsistenz fehlt, nicht nur an den frühaufklärerischen Hermeneutiken des 17. und 18. Jahrhunderts vorbeigeht – diese Entwicklung hat Werner Alexander überzeugend nachgezeichnet.28 Vielmehr geht dieser Vorwurf auch an den im strikten Sinne dogmatischen Hermeneutiken der altlutherischen Theologen vorbei. Auch die hier zur Anwendung kommenden Auslegungsregeln sind nicht arbiträre Zusammenstellungen überkommener Traditionen. Nur wird ihr Zusammenhang auf eine gänzlich andere Art und Weise reflektiert, nämlich nicht primär im Medium der aristotelischen, barocken Logiklehre, sondern im Medium der dogmatischen Reflexion auf das Verhältnis von Wort und Geist. Während für die von Werner Alexander aufgedeckte Traditionslinie, die ihren Anfang mit Johann Konrad Dannhauer nimmt, zwar gilt, dass sie von Schleiermacher zu Unrecht kritisiert wurde, lebt die in dieser Tradition aufkeimende Vorstellung von einer universalen Hermeneutik doch bei Schleiermacher und der ihm folgenden Tradition der Hermeneutik bis in die Gegenwart fort. Die Idee jedoch einer dogmatisch begründeten Spezialhermeneutik ging gänzlich verloren, weil sie als nicht begründbar galt und häufig noch gilt. Dass sie durchaus ihre Gründe hatte und auch noch hat, dass aber diese Gründe anderer Art sind als die Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts sie kannte, auch dies gilt es in der Interpretation Quenstedts zu zeigen.

28 Vgl. Alexander, Hermeneutica generalis. Vgl. auch das für diese Entwicklung bedeutende Werk Johann Conrad Dannhauers: Ders., Idea boni interpretatis.

Teil I Biblische Theologie und Dogmatik

1. Die Bibel zwischen Exegese und Dogmatik Exegese und Dogmatik In seiner Biblischen Dogmatik diagnostiziert Friedrich Mildenberger einen Methodendualismus innerhalb der Theologie, der die eingangs angedeutete Verdopplung des Verstehensbegriffes wissenschaftstheoretisch pointiert: Historisch-empirisch arbeitende Disziplinen können ohne Probleme den Status wissenschaftlicher Arbeit für sich in Anspruch nehmen, die systematisch-dogmatisch orientierten Disziplinen stehen dagegen unter permanentem Rechtfertigungsdruck.1 Dieser Methodendualismus spitzt sich zu im Blick auf die Frage, wie und inwieweit der biblische Schriftenkanon als autoritative Heilige Schrift der Kirche gelesen werden kann. Im Folgenden soll diese Spannung anhand exemplarischer Positionen nachgezeichnet werden, um sodann auf einige Positionen zu verweisen, die in dieser Spannung zu vermitteln suchen. Die hier beschriebene Spannung zwischen Dogmatik und Exegese im Blick auf die Bedeutung der Heiligen Schrift ist eine Spannung, die charakteristisch ist für die evangelische Theologie – auch deshalb, weil sich beide Seiten immer wieder auf reformatorische Prinzipien der Schriftauslegung berufen. Der Frage, wie sich historische Kritik zur reformatorischen Schriftlehre verhält, gehe ich hier exemplarisch anhand von Gerhard Ebelings Text „Die Bedeutung der historischkritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche“2 nach. Anhand seiner Position und derjenigen von James Barr will ich charakteris1 Vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik I, 32–38. 2 In: Ebeling, Wort und Glaube, 1–49. Der Text Ebelings steht in einem Diskussionskontext, in dem noch von der historisch-kritischen Methode in Abgrenzung von fundamentalistischen und biblizistischen Auslegungsmethoden die Rede sein konnte. Heute hingegen von der historischkritischen Methode zu reden, bedeutet sicher eine Verkürzung im Blick auf die komplexe Methodendiskussion innerhalb der exegetischen Disziplinen, auf die ich hier nicht im Detail eingehen kann. Wenn ich im Folgenden von der historisch arbeitenden Exegese rede, so fasse ich damit also durchaus unterschiedliche Ansätze und Methoden zusammen, die ihr gemeinsames Proprium darin haben, die historische intentio auctoris ins Zentrum der Interpretation zu stellen. Auf die Bedeutung anderer Interpretationstheorien (z.B. linguistischer und semiotischer) werde ich im Verlaufe der Diskussion am Rande verweisen. Diese Vereinfachung dient hier der Orientierung in einem so oder so schon überaus komplexen und unübersichtlichen Problemfeld. Als einen Versuch der Orientierung in der unübersichtlichen Diskussion über biblische Hermeneutik vgl. Dalferth/Stoellger, Hermeneutik in der Diskussion.

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tische Probleme aufzeigen, die sich ergeben, wenn die biblischen Texte auf der einen Seite historisch-kritisch gelesen werden, auf der anderen Seite zugleich als Heilige Schrift gelten sollen. Dabei soll vorweg schon einmal betont werden, dass es nicht darum geht, eine historisch-kritische Interpretation der biblischen Texte gänzlich abzulehnen, sondern um die Frage nach den Grenzen – und das heißt immer auch, um die Frage nach den Möglichkeiten – einer solchen Interpretation im Blick auf ein theologisches Schriftverständnis. 1.1 Historisch-kritische Exegese als lutherisches Erbe (Gerhard Ebeling) Gerhard Ebeling Ebeling geht – zu Recht – davon aus, dass sich evangelische Theologie heute in einer Situation nach der Aufklärung nicht einfach unkritisch auf die reformatorische Theologie berufen und damit die veränderten Problemstellungen übergehen kann.3 Da als bedeutendste Frucht der Aufklärung innerhalb der Theologie die historisch-kritische Exegese gelten kann, geht es damit im Wesentlichen um die Frage, wie sich die reformatorische Theologie zu dieser Methode der Auslegung verhält.4 Dabei geht es um weit mehr als eine bloße Methodenfrage. Es geht – hier kommt Ebeling ganz aus der Schule der hermeneutischen Theologie5 – um Grundfragen theologischen Denkens und kirchlicher Existenz.6 Von der hermeneutischen Fragestellung her sind sowohl Exegese als auch systematische Theologie neu zu bedenken und zueinander ins Verhältnis zu setzen.7 Assertorischer Ausgangspunkt von Ebelings Argumentation ist, dass Grundlage des Christentums in seinen unterschiedlichen Konfessionen die Bindung an ein einmaliges historisches Ereignis ist, dem Offenbarungscharakter zugeschrieben wird.8 Die Heraushebung des Christusereignisses aus der Geschichte verband sich traditionell mit der Charakterisierung des biblischen Kanons, der von diesem Ereignis zeugt, als Heiliger Schrift.9 Durch die Interpretation des Offenbarungsgeschehens in den Kategorien traditioneller (aristotelischer) Metaphysik entstand laut Ebeling die Idee einer historia sacra, die neben der Profangeschichte bestehe. Die Bibel als Text, der von dieser besonderen Geschichte zeugt, galt genauso wie diese als eine 3 Vgl. Ebeling, Die Bedeutung, 2. 4 Vgl. ebd. 5 Vgl. z.B. schon bei Bultmann (Ders., Ist voraussetzungslose Exegese möglich, 144f) die Betonung, dass historische Exegese ein bestimmtes historisches Wirklichkeitsverständnis voraussetze. 6 Vgl. Ebeling, Die Bedeutung, 7, 28. 7 Vgl. aaO., 12. 8 Vgl. aaO., 13f. 9 Vgl. aaO., 14.

Gerhard Ebeling

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eigene Art von Schrift, eben als Heilige Schrift.10 „Als Offenbarungsmitteilung muß sie ontologisch von der gleichen Art sein wie das Offenbarungsgeschehen selbst. Das christologische Zweinaturendogma spiegelt sich wieder in der Lehre von der Schrift.“11 Die altprotestantische Schriftlehre mit ihrer Theorie der Verbalinspiration wird also von Ebeling auf die metaphysischen Voraussetzungen der Altprotestanten zurückgeführt. Diese durchaus verbreitete These werden wir im Hauptteil dieser Arbeit noch kritisch zu untersuchen haben. In dem reformatorischen Verständnis von Offenbarung und dem damit bestimmten Schriftbegriff ist aber zugleich auch die „Abgeschlossenheit und Historizität der Offenbarung prinzipiell festgehalten“,12 so dass auch das Verhältnis zum Text wesentlich historisch zu bestimmen ist. Zu Problemen kann es allerdings hinsichtlich der Anwendung dieses historisch definierten Literalsinnes auf die Bedürfnisse des gegenwärtigen Lesers kommen.13 Gerade hier, bei der Frage nach der Vergegenwärtigung der historisch einmaligen Offenbarung, kommt es zu Differenzen zwischen katholischer und evangelischer Theologie.14 Während katholischerseits eine Gegenwart der Offenbarung auf vielfältige Weise gewährleistet wird (z.B. durch die Gegenwart der Heiligen oder die sakramentale Vergegenwärtigung des Heils)15, richtet sich das reformatorische sola fide kritisch gegen solch eine kirchliche Vermittlung der Gegenwart und zielt ganz auf das solus Christus. Als einzige Brücke zwischen Offenbarung und Gegenwart bleibt so das Wort, präziser: das Heilswort.16 So dient Theologie in reformatorischer Tradition vor allem der Predigt und zwar nach Ebeling so, dass sie in erster Linie Exegese ist, genauer: „historische, durch die Schuttmassen der Tradition zum Urtext durchstoßende Exegese.“17 Theologie ist kritische Theologie, insofern sie sich von der Schrift her kritisch gegen die Tradition wendet. Damit sei sie zwar noch nicht historisch-kritisch im neuzeitlichen Sinne, aber die Ansätze dazu lägen, so Ebeling, bereits vor. Die historisch-kritische Methode im Vollsinn entwickelt sich erst mit dem Beginn der Neuzeit. Sie geht über eine Verfeinerung der philologischen Methoden, wie sie die Reformation vornahm, weit hinaus und schließt ihrem Wesen nach auch die Möglichkeit der Sachkritik ein.18 Der 10 11 12 13 14 15 16 17 18

Vgl. aaO., 16. AaO., 17. Ebd. Vgl. aaO., 17f. Vgl. aaO., 21. Vgl. Ebelings Ausführungen aaO., 19–21. Vgl. aaO., 21f. Vgl. aaO., 22. Vgl. aaO., 29.

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Historiker, der unter den Bedingungen eines neuzeitlichen Wissenschaftsbegriffs biblische Texte untersucht, kann diese Texte nicht anders behandeln als andere Texte auch.19 Der Theologie als Wissenschaft wird damit die Möglichkeit einer eigenen, spezifisch theologischen Methode der Hermeneutik (z.B. einer hermeneutica sacra oder einer pneumatischen Exegese) genommen.20 Auch wenn damit die Substanz der geschichtlichen Offenbarung selber der Kritik anheim zu fallen droht, gilt es nach Ebeling, „voranzugehen in der kritischen Überprüfung der Grundlagen, brennen zu lassen, was brennt, und vorbehaltlos zu warten, was sich als unverbrennbar, als echt, als wahr erweist“.21 Dieser Weg der Anfechtung „hinein in das Feuer der Kritik“ ist für Ebeling ein Weg, der mit innerer Notwendigkeit aus der Reformation folgt,22 denn es ist die konsequente Aufgabe aller Sicherheiten, auf die der Glaube bauen könnte, ganz wie es die Rechtfertigungslehre mit dem sola Scriptura fordert.23 So kann die Offenbarung im Sinne einer personalen Begegnung vergegenwärtigt werden.24 Theologie als historische Exegese geht hinter die Traditionen des Textes zurück auf das Urereignis der Offenbarung in Christus.25 Das Wort, das in der lutherischen Tradition, wie Ebeling vorher noch zu Recht betont hat, als die Brücke zwischen vergangenem Christusgeschehen und Gegenwart galt, gilt hier in seiner schriftlichen Form nur noch als defizitäres Medium der Vermittlung des eigentlichen Heilsgeschehens, das selber mit der Metapher der personalen Begegnung umschrieben wird. Die Mündlichkeit des Evangeliums, die Ebeling mit der mündlichen Tradition im Sinne historisch-kritischer Exegese identifiziert, gerät in Widerspruch zur Textualität der Heiligen Schrift.26 Dabei dient das objektive Verstehen der historischen Wissenschaft einem individuellen Verstehen, das hier mit der Metapher der persönlichen Begegnung umschrieben wird. Möglich ist das sachkritische Zurückgehen hinter die biblischen Texte, weil diese selber als Traditionen erkannt werden. So wird das sola Scriptura selber zu einer Art Traditionsprinzip.27 Auch wenn das eine Annäherung der katholischen und evangelischen Positionen bedeutet, unterscheiden sich

19 Vgl. aaO., 34. 20 Vgl. aaO., 37. Vgl. auch Ebeling, „Sola scriptura“, 99. 21 Ebeling, Die Bedeutung, 38f. 22 Vgl. aaO., 39. 23 Vgl. aaO., 42–44. 24 Vgl. aaO., 44f. 25 Vgl. Ebeling, „Sola scriptura“, 99. 26 Vgl. aaO., 102. John Barton verweist dagegen auf die interessante Möglichkeit einer Form von Mündlichkeit, die mit Schriftlichkeit zusammen bestehen kann. Siehe dazu unten Abschnitt 2.1 d). 27 Vgl. Ebeling, „Sola scriptura“, 98f.

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beide doch gerade in ihrem Verhältnis zur Geisteshaltung der Neuzeit.28 Protestantische Theologie, die sich als historische Exegese versteht, ist nach Ebeling ein Gegenmodell zum katholischen Verständnis einer von Traditionen geleiteten Exegese. Dieses katholische Modell ist für Ebeling der klassische Fall eines Dualismus von historischer und theologischer Schriftauslegung, den er daher ablehnt: Historische Schriftauslegung muss selber theologische Schriftauslegung sein.29 Kommt so der historischen Exegese die Aufgabe zu, den der Tradition externen Charakter der Offenbarung Gottes (eben nicht der Schrift, denn diese wird ja mitunter selber Gegenstand der Kritik) zu wahren, so steht eine so genannte theologische Schriftauslegung, die sich nicht als historisch-kritische Auslegung versteht, bei Ebeling dafür, dass die Schrift dogmatisch vereinnahmt wird. So muss auch die systematische Theologie ganz auf der historisch-kritischen Exegese aufbauen.30 Auch wenn oder gerade weil die Dogmatik sich wie die historische Exegese auf die biblischen Schriften beruft, hat eine „Biblische Theologie“ als historische Disziplin in allen das Verhältnis zur Bibel betreffenden Fragen der Dogmatik gegenüber eine normative Funktion“.31 Das heißt, die Exegese wird zum Anwalt des Textes der Dogmatik gegenüber: Nicht mehr der biblische Text ist Norm der Theologie, sondern der biblische Text, so wie ihn die historische Exegese auslegt. Das wiederum heißt aber eben: Nicht mehr der Text, sondern das durch die historische Exegese rekonstruierte Offenbarungsereignis, von dem der Text zeugt, ist Norm der Theologie. In seinem Aufsatz über „Biblische Theologie“ weist Ebeling allerdings zugleich einen Weg, der wieder auf die Frage der systematisch-theologischen Begründung der Biblischen Theologie auch in ihrer historischkritischen Gestalt verweist. So macht er zum einen darauf aufmerksam, dass „Biblische Theologie“ als eigene Disziplin selber in dogmatischen Überzeugungen verankert ist. Der Historiker beschäftigt sich mit den Texten der Bibel ja nur, weil er von ihrer Relevanz überzeugt ist.32 Biblische Theologie als historische Exegese führt aber gerade hier auf zahlreiche Probleme. Die theologische Einheit der biblischen Texte, sowie die Einheit von Altem und Neuem Testament lassen sich historisch nicht begründen.33 Ein Problem, das von Ernst Käsemann im Blick auf die ekklesiologischen Konsequenzen auf den Punkt gebracht wurde: „Der n[eu]t[estament]liche Kanon begründet als solcher nicht die Einheit der Kirche. Er begründet als 28 29 30 31 32 33

Vgl. Ebeling, Die Bedeutung, 34. Vgl. aaO., 42f, Anm. 4. Vgl. aaO., 47f. Ebeling, Was heißt „Biblische Theologie“?, 80. Vgl. Ebeling, Was heißt „Biblische Theologie“?, 81. Vgl. aaO., 82f und Ebeling, „Sola scriptura“, 138.

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solcher, d.h. in seiner dem Historiker zugänglichen Vorfindlichkeit dagegen die Vielzahl der Konfessionen.“34 Der biblische Kanon wird zu einer Sammlung von Texten, die von divergierenden theologischen Positionen zeugt,35 und kann daher auch nicht mehr als autoritative Schrift der einen Kirche gelten, sondern unterschiedliche Kirchen können sich jeweils auf unterschiedliche Positionen innerhalb des Kanons berufen. Zum Problem wird einer historischen Exegese auch die Beschränkung auf den überlieferten Kanon, denn die in ihm enthaltenen Texte sind Teil einer geschichtlichen Entwicklung, die sich nicht allein mit diesen Texten darstellen lässt.36 Die Texte sind Teil der antiken Religionsgeschichte. So wird die Anwendung des Theologiebegriffs auf den Inhalt der Bibel problematisch37 und an die Stelle einer Theologie des Alten bzw. Neuen Testaments tritt eine Religionsgeschichte Israels oder der urchristlichen Gemeinden.38 Die Problematik des Verhältnisses von Religionsgeschichte und Theologie wird innerhalb der exegetischen Zunft sowohl im Blick auf das Neue als auch im Blick auf das Alte Testament ausführlich diskutiert39 und lässt sich sicher nicht so einfach auf einen Satz bringen, wie es hier den Eindruck erwecken könnte. Im Wesentlichen geht es auch in dieser Diskussion um die Frage, inwieweit eine Theologie des Alten oder Neuen Testamentes an den Text von außen herangetragen wird, inwieweit sinnvoll von einer Mitte und damit einer Theologie des Alten oder Neuen Testamentes geredet werden kann. Dabei geht es den Vertretern einer Theologie auch jeweils um die Relevanz dieser Texte für die Gegenwart.40 Damit steht immer auch die Frage nach dem Einfluss von theologischer Reflexion auf die exegetischen Ergebnisse im Raum, also die Frage nach dem Verhältnis von Dogmatik und Exegese. Die im Zusammenhang dieser Diskussion vorgebrachten Argumente werden dementsprechend auch im Kontext unserer Fragestellung eine wichtige Rolle spielen. Dabei ist allerdings eine wichtige Differenz zu markieren: Geht es in der Diskussion um das Verhältnis von Religionsgeschichte und Theologie jeweils um die Einheit des Alten oder Neuen Testamentes, so fragen wir hier darüber hinaus, inwieweit sich die Bibel aus Altem und Neuem Testament als Einheit lesen lässt.41

Nun setzt Ebeling aber sowohl die Einheit der Schrift als auch ihre normative Funktion voraus: Es geht biblischer Theologie ja gerade darum, die Bibel als Norm der Theologie im Gegenüber zur dogmatischen Theologie 34 Vgl. Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?, 221. 35 Vgl. Barton, Unity and Diversity, 23. 36 Vgl. Ebeling, Was heißt „Biblische Theologie“?, 84. 37 Vgl. aaO., 85. 38 Vgl. z.B. Albertz, Religionsgeschichte Israels. 39 Vgl. zur Diskussion im Blick auf das Altes Testament: VuF 48. 40 Vgl. Jörg Jeremias, Neuere Entwürfe zu einer „Theologie des Alten Testaments“, 55. 41 Dort wo diese Frage von exegetischer Seite aus gestellt wird, befinden wir uns bereits wieder innerhalb des Diskurses über eine Biblische Theologie, mit dem wir uns hier beschäftigen. Vgl. unten die Abschnitte 2.1 (zu Childs) und 2.2 (zu Stuhlmacher und Gese).

James Barr

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zu etablieren.42 Daher sucht Ebeling nach Möglichkeiten der Rehabilitation der Rede von einer Theologie des Alten und Neuen Testaments. So kann Ebeling auch betonen, dass von einer Biblischen Theologie, bzw. von einer Theologie des Alten oder Neuen Testaments nur in einem konstruktiven, nicht in einem beschreibenden Sinne die Rede sein kann: Es geht um „[…] die wissenschaftliche Explikation dessen, was das Alte und Neue Testament enthält.“43 Biblische Theologie muss sich von daher der Frage nach dem Zusammenhang der vielfältigen Stimmen des Alten und Neuen Testaments widmen. Eine Aufgabe, die nach Ebeling nur unter Beteiligung systematisch theologischer Reflexion zu lösen ist.44 Das freilich weist darauf hin, dass systematische Theologie einen Zugang zu biblischen Texten haben könnte, der jenseits eines historischen Verstehens (das heißt nicht unbedingt in Konkurrenz dazu) liegt und sein Charakteristikum darin hat, von der Frage nach der Einheit des biblischen Kanons auszugehen. Ebeling selbst weist hier in Anlehnung an die lutherische Orthodoxie den richtigen Weg: „[D]ie Feststellung der Kanonizität und entsprechend das Urteil „sola scriptura“ [ist] Bekenntnisäußerung. Sie bezieht sich auf das testimonium spiritus sanctus internum als die Weise, wie sich die Sache der Schrift Geltung verschafft.“45 Die Frage nach dem Kanon der Heiligen Schrift und seiner autoritativen Geltung für Theologie und Kirche muss in die Pneumatologie hinein führen, genauer: auf die Frage nach der Wirkmacht des Geistes im und durch das Schriftwort.46 1.2 Die kritische Externität der Schrift (James Barr) James Barr Die normative Funktion der biblischen Schriften gegenüber Theologie und Kirche, in der traditionellen Dogmatik durch die Rede von der auctoritas Scripturae beschrieben, werde ich im Folgenden als externe Autorität der Schrift bezeichnen. Sie ist externe Autorität in dem Sinne, dass sie ihre Autorität nicht der Kirche verdankt, sondern gegenüber dieser gerade extern ist, ihr als kritische Norm gegenübersteht.47 Nach Ebeling bewahrt die historische Kritik unter anderem gerade diese externe Autorität der Schrift im Gegenüber zur Kirche und steht damit in der Tradition der Reformation. Diese Vorstellung ist weitgehend in das allgemeine Selbstverständnis historisch arbeitender Exegeten eingegangen, allerdings vielfach ohne dass ein 42 43 44 45 46 47

Vgl. Ebeling, Was heißt „Biblische Theologie“?, 77–80. AaO., 86. Vgl. aaO., 88. Ebeling, „Sola scriptura“, 106. Vgl. auch aaO., 123–125. So fordert es zu Recht auch Bayer, Autorität und Kritik, 47. Vgl. zu diesem Begriff der Externität Sauter, Zugänge zur Dogmatik, 38.

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Problembewusstsein für die Aporien der Situation existiert, wie es bei Ebeling noch zu finden ist. Verdeutlichen will ich diese Position hier an dem Exegeten James Barr, der sich explizit mit Fragen der Schriftautorität und des biblischen Kanons auseinander gesetzt hat.48 Für James Barr ist es die Autonomie der Exegese, das heißt ihre Unabhängigkeit von dogmatischen Entscheidungen, die dafür sorgt, dass die biblischen Texte eine kritische Funktion innerhalb der Theologie erfüllen können.49 Barr sieht hierin eine konsequente Fortführung des reformatorischen Schriftverständnisses,50 die zwar über das reformatorische Verständnis hinausgeht, aber eben nur indem sie die reformatorischen Ansätze konsequenter durchführt als die Reformatoren selber es taten.51 Weil die historisch-kritische Exegese also die externe Autorität der Schrift gewährleistet, ist sie eine theologische Notwendigkeit.52 Dabei wird die kritische Externität der Schrift letztlich mit der historischen Distanz des Textes identifiziert.53 Denn indem man diese Texte in ihrem ursprünglichen historischen Kontext wahrnimmt,54 befreit man sie aus der Umklammerung durch theologische Vorurteile. So können sie als kritische Norm der Theologie fungieren.55 Ähnlich wie bei Ebeling gelten hier also die Ereignisse hinter dem Text als autoritativ, nicht so sehr der Text selber.56 Es geht um die Überzeugungen der ersten Christen, die sich in diesen Texten ausdrücken.57 Das Christentum ist eben nicht Schriftreligion, sondern es gab eine Zeit vor der Schrift, nämlich die Zeit, in der die neutestamentlichen Texte abgefasst wurden, und die Zeit, in der sich der Kanon erst formierte.58 Geht man da48 Den folgenden Ausführungen liegen Überlegungen zu Grunde, die sich schon in meinem Aufsatz „Vom Lesen der Bibel als Heiliger Schrift“, in: NZSTh 45 (2003), 328–345 finden. 49 Vgl. Barr, The Scope and Authority, 39. 50 Vgl. aaO., 28f, 116 und Ders., Holy Scripture, 37: „One cannot avoid the conclusion: it was the dynamics of Reformation theology that created the needs which biblical criticism was developed to answer.“ John Barton folgt ihm in dieser Ansicht (vgl. Barton, The Future of Old Testament Study, 1–19, bes. 8f und 11.) 51 Vgl. Barr, The Scope and Authority, 123. Eine Vorstellung deren Verbreitung darin augenfällig wird, dass selbst Brevard S. Childs, der sich hier sonst sehr kritisch äußert, so formulieren kann. Vgl. Childs, Biblical Theology, 4. 52 Vgl. Barr, The Scope and Authority, 20, 23, 28. 53 Zu dieser Problematik vgl. auch Jenson, Hermeneutics and the Life of the Church, 103f. 54 Vgl. dazu Krister Stendahl, Dethroning Biblical Imperialism in Theology, 63 und Ders., Biblical Theology, 70 zur Bedeutung deskriptiver Exegese. Vgl. dazu bei Barr, The Scope and Authority, 24 („Objektivität“ als Ziel der Exegese) und 26–28. 55 Vgl. Stendahl, Dethroning Biblical Imperialism, 62, 65. Selbst der katholische Theologe Karl P. Donfried, der äußerst kritisch gegenüber dem hermeneutischen Totalansprüchen historischer Exegese ist, sieht hier den Wert historisch-kritischer Exegese (vgl. Donfried, Alien Hermeneutics, 25). 56 Vgl. Barr, The Scope and Authority, 33f. 57 Vgl. aaO., 125. 58 Vgl. Barr, Holy Scripture, 1–3.

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her, so Barr, von dem aus, was die biblischen Texte sagen,59 kann man gar nicht zu dem Ergebnis kommen, dass die Bibel als geschlossener Kanon Maßstab des Glaubens sei. Vielmehr folge die Schrift aus dem Glauben.60 Barr ist sich aber anders als Ebeling nicht der Probleme bewusst, die solch ein rein historischer Ansatz letztlich im Blick auf die Autorität der biblischen Texte mit sich bringt. Die Ebene der historischen Deskription wird mit dem Werturteil, dass diese Texte autoritative Texte sind, verlassen.61 Warum sich die Exegese auf die Bücher des biblischen Kanons beschränkt, kann hier nicht mehr plausibel gemacht werden: Warum sind es gerade diese Bücher, die der Kirche als autoritativ gelten?62 Barr gerät also hinsichtlich der theologischen Notwendigkeit historisch-kritischer Exegese des biblischen Kanons in Argumentationsprobleme.63 Anders als Ebeling, der hier konsequent daran festhält, dass der biblische Text nicht der Kirche unterzuordnen ist, geht Barr nun davon aus, dass der biblische Kanon auf eine Entscheidung der Kirche zurückgeht. Die biblischen Texte sind autoritativ, weil die Kirche sie als solche anerkennt.64 Von daher sieht Barr das katholische Traditionsprinzip relativ wieder ins Recht gerückt, insofern es um den biblischen Kanon geht.65 Allerdings will Barr trotzdem an dem „protestantischen Prinzip“ festhalten, dass die Schrift kritisch gegen die Tradition zu wenden ist.66 Dies ist aber nur dann möglich, wenn sich der Textsinn gegen die Interpretation des Textes durchsetzen kann.67 Das aber wiederum heißt sich auf die Pluralität innerhalb der Bibel einzulassen. So wie der Kanon steht, kann er nicht autoritative Appellationsinstanz sein, sondern er ist vielmehr die Ursache von Konflikten zwischen verschiedenen Positionen.68 Eine Schrift, die in sich nicht konsistent ist, in der also verschiedene teils sich widersprechende Positionen versammelt sind, kann in der Tat nicht als autoritativer Text für eine Gemeinschaft gelten.69 Sollen die biblischen Texte daher im Sinne Barrs als kritische Norm gegen die

59 Vgl. aaO., 22 charakterisiert dies als ein induktives Verfahren, entgegen einem deduktiven Verfahren, das den biblischen Kanon als Prinzip voraussetze. 60 Vgl. Barr, Holy Scripture, 4. 61 Vgl. Lash, Theology on the Way to Emmaus, 52. 62 Vgl. Moberly, The Bible, 13f und Mildenberger, Biblische Dogmatik I, 92–115. 63 Vgl. die Kritik an Barr bei Moberly, The Bible, 14f. 64 Vgl. Barr, The Scope and Authority, 48, 52, 59f, 113, 116 und Ders., Holy Scripture, 27, 43. Vgl. ähnlich Stendahl, Biblical Theology, 98. 65 Vgl. Barr, Holy Scripture, 28f. 66 Vgl. aaO., 31. 67 Vgl. aaO., 32. 68 Vgl. aaO., 32f und 99 (dort unter explizitem Bezug auf Käsemann). John Barton sieht diese Pluralität des Kanons als „Tugend“ (vgl. Barton, Unity and Diversity, 22–26). 69 Barton, The Spirit and the Letter, 140 weist zu Recht darauf hin, dass autoritative Texte (ob religiös oder profan) immer als in sich konsistente Texte gelesen werden müssen.

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Tradition gewendet werden können, muss in ihnen eine Einheit gesucht werden. Dies führt auf die Frage nach dem „Kanon im Kanon“. Kanon im Kanon Exkurs „Kanon im Kanon“ und Mitte der Schrift Liest man den biblischen Kanon historisch-kritisch, so zerfällt er zunächst in seiner Einheit. Er kann nicht mehr als autoritative Grundlage für die Christenheit gelten, sondern wird zur Ursache der divergierenden Konfessionen.70 Von daher bedarf es, soll die Schrift noch kritisch gegen die Tradition gewendet werden können, eines einheitsstiftenden Prinzips der Auslegung: eines Kanons im Kanon.71 Zu Recht kritisiert Barr diese Formulierung als unpräzise, da sie mit einer Äquivoaktion des Kanonbegriffs arbeitet. Der „innere Kanon“ meint „Kanon“ im Sinne von Regel, in diesem Fall eine Auslegungsregel für den „äußeren Kanon“, der hier die Schriftsammlung bezeichnet. Kanon im engeren Sinne einer Sammlung von Schriften ist nur der äußere Kanon.72 Daher schlägt Barr vor, hier von einem Organisationsprinzip zu sprechen.73 Verbreiteter ist die Rede von der Mitte oder der Sache (res) der Schrift,74 die sich auch auf Luther berufen kann. Soll der Kanon im Kanon die Autorität der Schrift in Glaubensfragen bestärken, so muss er als aus den biblischen Schriften selbst gewonnenes Prinzip gelten.75 Für Käsemann ist dies wie für viele lutherische Exegeten das Evangelium: „Denn allein das Evangelium begründet die eine Kirche in allen Zeiten und an allen Orten.“76 Somit wird die Evangeliumsverkündigung Maßstab für die Auslegung aller Texte, die formaliter im äußeren Schriftkanon versammelt sind. Normativ für die Kirche ist somit nicht der formale Schriftkanon, sondern die sachlich bestimmte Mitte dieses Schriftkanons. „Die eigentliche Grenze des Kanons läuft also durch den Kanon mitten hindurch.“77 Von daher kann an den biblischen Texten von der Mitte der Schrift her, beziehungsweise auf der Grundlage des Kanons im Kanon auch Sachkritik geübt werden. Die Frage nach dem „Kanon im Kanon“ bzw. nach der Mitte der Schrift verweist so auf mehrere Fragen: Zum einen auf die Frage nach dem Verhältnis von formalem (äußeren) Kanon und innerem Sachkanon, des Weiteren auf die Frage, ob der äußere Kanon durch die Kirche verändert werden kann, 70 Vgl. Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche? 71 Vgl. Barton, Unity and Diversity, 23. 72 Vgl. zur Definition des Kanonbegriffes unten Abschnitt 2.1 d). 73 Vgl. Barr, Holy Scripture, 71. 74 Vgl. Sauter, Kanon und Kirche, 243. 75 Vgl. Wolter, Die Vielfalt der Schrift, 48 zu Käsemann. Ähnlich Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments, 249. 76 Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?, 223. 77 Kümmel, Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons, 96.

Kanon im Kanon

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schließlich die Frage nach der Möglichkeit und der Grenze von Sachkritik an den biblischen Texten. Als letztes verweist die Rede vom „Kanon im Kanon“ auf die zentrale Frage, wie diese Mitte der Schrift im Verhältnis zum formalen Kanon zu bestimmen ist. Ob sich diese Mitte von der Schrift selber her bestimmen lässt – wie es für ein Verständnis der Schrift als externer Autorität ja notwendig wäre – ist strittig. Schon die Vielzahl unterschiedlicher Bestimmungen einer Mitte der Schrift, oder auch nur der Mitte des Alten oder Neuen Testaments, verweist auf die Problematik.78 Unklar wäre hier ja schon, wie die Mitte der Schrift mit den Methoden der Exegese bestimmt werden soll: durch einen Vergleich verschiedener Traditionsblöcke?79 Oder soll danach gefragt werden, ob die Verfasser ihre Schriften als kanonische intendierten? Ein solches Unterfangen dürfte schon daran scheitern, dass das Neue Testament an einem Kanonbegriff gar nicht interessiert ist.80 Vielfach versucht man die Mitte der Schrift auch dadurch zu bestimmen, dass man traditionsgeschichtlich nach dem Ausgangspunkt der Verkündigung im Neuen Testament fragt. Hier stößt man in der Regel auf das Christusereignis als Mitte der Schrift.81 Nach Barr muss man, um die Einheit des Kanons gewährleisten zu können, wieder auf ein der Schrift externes Prinzip verweisen. So kommt der kirchlichen Auslegung wieder entscheidendes Gewicht zu: „[I]t is the church that establishes the network of familiar relations within which its scriptures are known and understood.“82 So soll auf der einen Seite durch die Berufung auf eine Mitte der Schrift ihre Autorität gegenüber der Kirche geschützt werden, auf der anderen Seite scheint gerade dieses Prinzip sie der kirchlichen Tradition auszuliefern. Daher betont Barr andererseits, dass die kirchliche Konstitution des Kanons nicht schon die Auslegung der biblischen Texte mitbestimme.83 Trotz dieser Problematik ist das Konzept eines „Kanon im Kanon“ das prägende Konzept theologischer Hermeneutik im 20. Jahrhundert gewor78 Vgl. Wolter, Die Vielfalt der Schrift, 47f und Sauter, Kanon und Kirche, 243. 79 So geht z.B. Kümmel, Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons, 94–96 vor. Dabei konzentriert er sich allerdings ganz auf das Neue Testament (anders ist es bei solch einem Vorgehen ja auch gar nicht möglich)! Ähnlich, wenn auch mit kritischem Akzent gegenüber Kümmel, argumentiert H. Braun, Hebt die heutige neutestamentlich-exegetische Forschung den Kanon auf?, 230f. 80 Vgl. Barr, Holy Scripture, 82. Der Aufsatz von W. Marxsen (Ders., Das Problem des neutestamentlichen Kanons aus der Sicht des Exegeten) ist eine interessante Illustration der Aporien, in die solch eine Frage führt. 81 Vgl. oben, 30 zu Ebeling. 82 Barr, Holy Scripture, 43. 83 Barr, The Scope and Authority, 25f, 124. Der Kanonbegriff wird dadurch formalisiert: Die Texte werden nicht als kanonische Texte ausgelegt, sondern als einzelne Heilige Schriften, die rein formal in einem Buch, der Bibel, versammelt sind. Was aber, wenn die Texte als Teil der kanonischen Heiligen Schriften ausgelegt werden sollen?

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den. In der einen oder anderen Form – als Frage nach der Mitte oder der Sache der Schrift – liegt es allen Ansätzen zugrunde, die nicht von einem formalen Kanonbegriff ausgehen. Damit lassen sich nahezu alle Ansätze auf diesen Begriff bringen. Diese Weitläufigkeit des Konzepts – „Kanon im Kanon“ steht damit letztlich nur für eine Auslegung der Schrift, die sich nicht am formalen Kanon orientiert – gibt diesem Begriff wenig Differenzierungskraft. Hier wird man zu genaueren Differenzierungen kommen müssen: Wie bestimmt sich die Mitte der Schrift? Die bei der Beantwortung dieser Frage auftretenden Differenzen offenbaren die wichtigeren Entscheidungen in Fragen der theologischen Hermeneutik. Externität der Schrift Letztlich bleibt bei Barr unklar, wie sich die kirchliche Konstitution des Kanons zur historisch-kritisch gesicherten Externität der biblischen Schriften verhält. Er zeigt nicht auf, wie die kritische Externität des biblischen Schriftkanons sich zu dem kirchlich konstituierten (Sach-)Kanon verhält. Darauf, wie die biblischen Texte als Kanon der Kirche in der Gegenwart gelesen werden können, das heißt also auf die Frage der Anwendung, bleibt Barr eine Antwort schuldig. Nach katholischer Lehre ist die Sache klar: Die Kirche konstituiert die Schrift als Kanon, daher setzt sie letztlich auch die Regeln dafür, wie die biblischen Texte, dort wo sie als autoritativer Schriftenkanon gelesen werden, zu verstehen sind.84 Dass sich das Lehramt hier als Amt unter dem Wort Gottes, ihm dienend, versteht,85 ist eine Behauptung, die sich am faktischen Verhältnis von Schrift und Lehramt nicht mehr ausweisen lässt. Wenn historisch-kritische Exegese hier eine Alternative sein soll, die die externe Autorität der Schrift gegenüber einer solchen rein internen Autorität, die ekklesiologisch begründet ist, festhält, muss sie zeigen, wie der historisch ermittelte Textsinn seine kritische Wirkung gegenüber der Kirche entfalten kann. Sonst wird die Anwendung der Texte der methodischen Willkür überlassen: Neben das objektive historische Verstehen tritt die persönliche, subjektive Aneignung des Textes oder aber die objektive Gewalt des kirchlichen Amtes. Beide relativieren auf ihre Weise die externe Autorität der Heiligen Schrift. Sollen die biblischen Texte als autoritative Texte gelesen werden, so muss klar werden, worin ihre Autorität gründet, wenn nicht in einer Entscheidung der Kirche. Einheit der Schrift und externe Autorität geraten in diesen Ansätzen miteinander in Konflikt: Entweder wird die Einheit des biblischen Kanons um den Preis seiner Externität betont, oder aber die Externität der Schrift im Gegenüber zur Kirche wird um den Preis der Einheit des Kanons hervorgehoben. Die Frage aber, wie Einheit der Schrift und externe Autorität zu begründen sind, 84 85

Vgl. die Lehrtexte des Vat I und II in DH 3007 und 4214. Vgl. DH 4214: „[…] Magisterium non supra verbum Dei est, sed eidem ministrat“.

Dogmatische Überbegründung

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das hat Ebeling erkannt, lässt sich nicht historisch beantworten, sondern nur dogmatisch unter Bezug auf die Pneumatologie. Insofern wird man unterscheiden müssen zwischen einer ekklesiologischen Begründung der (internen) Autorität der Heiligen Schrift, wie sie sich z.B. in der katholischen Lehre findet, und einer dogmatischen, pneumatologischen Begründung der Autorität des Schriftkanons. Dogmatische und kirchliche Schriftauslegung sind nicht einfach in eins zu setzen, wie es von Barr vorausgesetzt wird. Wir werden im Folgenden der Frage nachzugehen haben, welche Konsequenzen eine dogmatische Begründung der Autorität der Heiligen Schrift für die Kirche auf die Auslegung der Schrift als externer Autorität hat.

1.3 Dogmatische Überbegründung kanonischer Einheit Dogmatische Überbegründung Der Widerspruch der Exegese gegen eine theologische Auslegung der biblischen Texte kommt freilich nicht von ungefähr, wie in diesem Abschnitt deutlich werden soll. Die Positionen, die in diesem Abschnitt in den Blick kommen, nehmen ihren Ausgang bei der Kritik des in der historischkritischen Exegese fehlende Zusammenhangs zwischen der Konstitution der Bibel als Heiliger Schrift und ihrem Verstehen als solcher. Von dieser Problematik herkommend scheint eine dogmatische Begründung der Mitte der Schrift nur von außerhalb des Kanons, nämlich von der Kirche als Lesegemeinschaft her möglich. Nicholas Lash geht in seinem einschlägigen Aufsatz „Performing the Scriptures“86 davon aus, dass biblische Texte nicht in erster Linie intellektuell verstanden werden, sondern vor allem in der Praxis der christlichen Gemeinde, die diese Texte liest und vollzieht (performance).87 Das Verstehen biblischer Texte – so stellt Lash in kritischer Abgrenzung gegen die Unterscheidung zwischen dem, was der Text einst meinte und dem, was er heute meint,88 fest – findet immer in der Gegenwart statt.89 In der gemeindlichen Praxis wird die Bibel als autoritative Schrift der Kirche konstituiert und verifiziert. Während Lash noch eine gewisse Nähe zu Ebeling und Barr darin zeigt, dass es ihm vor allem um das Christusereignis geht, von dem die Schrift zeugt – dieses gilt ihm letztlich als autoritativ –, konzentriert Rowan Williams sich auf die biblischen Schriften in ihrer Endgestalt. Für Williams besteht ein klarer Zusammenhang zwischen der Konstitution der 86 In Ders., Theology on the Way to Emmaus, 37–46. 87 Vgl. aaO., 42: „I want to suggest […] that Christian practise, as interpretative action, consists in the performance of texts“. Vgl. auch aaO., 89f. Dass Lash darin auch entscheidende Einsichten der Sprachphilosophie Wittgensteins aufnimmt, wird uns noch beschäftigen. 88 Vgl. Stendahl, Biblical Theology, 70–73. 89 Vgl. aaO., 75–82.

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biblischen Texte als Heiliger Schrift der Kirche und ihrer Interpretation durch die Kirche: „[The] unifying themes [of Scripture] are established according to what is understood as unifying the community.“90 Weil diejenigen Texte, die die Einheit des Kanons konstituieren, eben diejenigen Texte sind, die die Einheit der christlichen Gemeinde ausmachen, gilt: „[W]hat authoritatively matters in the text, and so in some sense organizes the text for a reader in the corporate context, is what grounds or explicates these identifying features.“91 Am deutlichsten bringt Robert Jenson diesen Zusammenhang zum Ausdruck: [There] can be no reading of the Bible that is not churchly. Therefore there can be no reading of the unitary Bible that is not motivated and guided by the church’s teaching. We will either read the Bible under the guidance of the church’s established doctrine, or we will not read the Bible at all.92

Liest man die biblischen Texte nicht unter der Anleitung der Kirche, so liest man zwar interessante Texte, aber man liest sie nicht als Texte der einen Bibel. Man beachte: Dies schreibt ein lutherischer Theologe! Diese Ansätze, das wird im Folgenden noch deutlicher werden, verdanken sich zu einem großen Teil einer problematischen Wittgensteininterpretation. Man kann sie aber auch als soziologische Kanontheorien bezeichnen.93 Der biblische Kanon ist Buch der christlichen Gemeinde, die ihn allererst als autoritative Schrift einsetzt. So kommt der biblische Kanon als ekklesiologisches und dogmatisches Konstrukt in den Blick.94 Der Bezug auf einen einheitlichen Schriftkanon ist Teil der Identität der Kirche, die damit auch die Interpretationsregeln dafür angibt, diese Texte als autoritative Texte zu lesen. Konzentrierte sich die historische Exegese auf die intentio auctoris, so konzentriert sich dieser Ansatz auf die Rezeption der Texte durch die Lesegemeinschaft. So kommt die Bibel hier nicht als externe Autorität, sondern vor allem als interne Autorität in den Blick, d.h. als

90 Williams, On Christian Theology, 56. 91 Vgl. ebd. 92 Jenson, Hermeneutics and the Life of the Church, 98. Vgl. auch Ders., Systematic Theology 1, 27f. 93 So z.B. Webster, „A Great and Meritorious Act of the Church“?, 99, 103f in polemischer Abgrenzung. Als wichtigster Vertreter solcher Theorien gilt David Kelsey (Ders., The Uses of Scripture in Recent Theology). Der Ansatz findet sich aber auch in dem einflussreichen Werk von George A. Lindbeck (Vgl. besonders seine performative Theorie religiöser Wahrheit: Lindbeck, The Nature of Doctrine, 65–67, sowie Ders., Postmodern Hermeneutics). Dabei sind durchaus unterschiedliche Kirchenverständnisse vorausgesetzt, sei es ein institutionelles wie in der katholischen Tradition, sei es ein empirischer oder gar ein dogmatischer Begriff von Kirche. Die Problematik bleibt jeweils bestehen, insofern Kirche hier letztlich immer als eine das Verstehen der Schrift bestimmende, der Schrift selber aber externe Größe auftritt. 94 So formuliert es Moberly, The Bible, 14.

Dogmatische Überbegründung

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Autorität nur innerhalb der Lesegemeinschaft der Kirche, die diesen Text als autoritativen Text liest. Paul Ricoeur weist nun aber zu Recht daraufhin, dass es sich argumentativ um einen Zirkel handelt: „Does not the whole thing appear as if the community decides on the authority of certain texts, basing its own authority on the content of those very texts, which designate it as the authority competent to define these founding texts? In short, the community would be deciding in an arbitrary and sovereign way what gives it its authority.“95 Die biblischen Texte kommen so als autoritative Schrift einer bestimmten Gemeinschaft in den Blick, ihre Autorität ist aber dieser Gemeinschaft nicht mehr extern, vielmehr handelt es sich um eine bloß interne, d.h. durch die Gemeinschaft konstituierte Autorität. Wie es in diesem System möglich ist, dass Kirche und Dogmatik von der Schrift her korrigiert werden, ist schwer vorstellbar.96 Gegen solch eine Form der „theologischen“ Schriftauslegung ist es durchaus angebracht, mit Barton im Namen des reformatorischen Schriftverständnisses Protest einzulegen.97 Die Alternative zur Konzentration auf die Rezeption durch den Leser kann aber nicht die Konzentration auf die Intention der Autoren sein, denn dies führt, wie bereits gezeigt, in andere Aporien. Es gilt vielmehr „die Frage nach der mens auctoris, der Absicht des Autors, und dem Geist des Auslegers, des Lesers […] als Vexierfragen“98 zu erweisen. Damit spitzt sich die Frage nach dem Verstehensbegriff darauf zu, was überhaupt verstanden werden soll: Der Autor des Textes oder der Text selber? Die soeben dargestellten Ansätze entfalten das Verstehen eines Textes als einen kommunikativen Prozess, der nicht in der Innerlichkeit eines verstehenden Subjektes zu verorten ist, sondern in einer öffentlichen Gemeinschaft. Dabei wird dann aber der Text selber in diesem Kommunikationsprozess geradezu konsumiert, so dass hier nicht mehr deutlich wird, wie er diesen Prozess bestimmt und reguliert. Die diesen kommunikativen Interpretationsvorgang normierenden Größen bleiben überhaupt unbenannt. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass die hier referierten Positionen sich zum Teil durchaus in der Tradition lutherischer Schrifttheologie verstanden wissen wollen und so auch betonen können, dass die Schrift zwar innerhalb der Kirche gelesen werde, ihr aber dennoch auch zu Grunde liege. So kann Robert Jenson im Blick auf diese Problemstellung 95 Ricœur, The Canon between the Text and the Community, 7. 96 Vgl. die äußerst präzise Kritik von Webster, „A Great and Meritorious Act of the Church“?, 99–107, bes. 102: „[T]hese accounts do not provide any non-arbitrary reasons for the use of the canon by the church.“ Ähnlich kritisch im Blick auf Kelsey äußert sich Hasel, Biblical and Systematic Theology, 124. 97 Vgl. Barton, The Future of Old Testament Study, 8. 98 Bayer, Hermeneutische Theologie, 50f.

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Exegese und Dogmatik

durchaus feststellen: „[T]he collection [of the canon] comes together in and for the church.“99 Alister E. McGrath fordert in demselben Band, der Vorträge einer Tagung unter dem Titel „Reclaiming the Bible for the Church“ veröffentlicht, dass die biblischen Schriften im Kontext der Kirche gelesen werden sollen, weil sie nur hier angemessen verehrt werden und unsere Vorverständnisse (preconceptions) und Werte hinterfragen können.100 So betont McGrath hier beides: Das Lesen der Schrift als interner Autorität muss um ihrer externen Autorität willen wiederentdeckt werden. Zu fragen bleibt aber bei all diesen Positionen, inwieweit die behauptete externe Autorität der biblischen Schriften auch argumentativ umgesetzt wird. So führt Robert Jenson exemplarisch aus, dass die Schrift im Kontext der Kirche zu lesen heißt, sie im Kontext von Liturgie, Frömmigkeit, Katechese und Predigt zu lesen.101 Seine Ausführungen zeigen indes, dass hier die biblischen Schriften in ihrer Auslegung der Praxis der Kirche untergeordnet werden. Am Beispiel wird nicht mehr deutlich, wie die Bibel, im Kontext der kirchlichen Praxis gelesen, diesen noch normieren und korrigieren kann. Vielmehr bestimmt nun der kirchliche Kontext, wie die biblischen Schriften als Heilige Schrift zu lesen sind. Die Behauptung, dass die Schrift es ist, der sich die Kirche mit ihren Praktiken verdanke, und die daher letztlich normierend sei, bleibt eine Behauptung, die nicht überprüft werden kann.102 Auch wenn man zustimmt, dass es eine enge Verbindung zwischen der Kirche und ihren biblischen Schriften gibt, wird man doch zunächst einmal diese Verbindung verstehen lernen müssen, um dann zu urteilen, wie sich beide zu einander verhalten. Zu fragen ist also danach, was es heißt, dass die Kirche den biblischen Kanon nicht nur selber tradiert, sondern ihn auch empfängt. Gefragt ist nach einem Verstehen der Schrift, das durch diese selbst bestimmt ist. Diese Frage ist die Frage nach dem theologischen Begründungszusammenhang dafür, dass die Kirche die Bibel als Heilige Schrift liest.103 Die Identifikation von ekklesiologischer und dogmatischer Konstitution des Kanons, die in diesen dogmatischen Positionen, aber auch 99 Jenson, Hermeneutics and the Life of the Church, 89. 100 Vgl. McGrath, Reclaiming our Roots and Visions, 76. 101 Vgl. Jenson, Hermeneutics and the Life of the Church, 90–95. 102 Es handelt sich also um dasselbe argumentative Defizit wie im zweiten Vatikanum (vgl. oben, 38f). Deutlicher ist hier McGrath, Reclaiming our Roots and Visions, 68: „There is an intimate and organic connection between the church and Scripture that, it seems to me, ultimately defies simple classification in terms of the priority of church over Scripture, or Scripture over the church.“ 103 Die Frage nach dem theologischen Begründungszusammenhang ist die Frage nach der Begründung kirchlichen Handelns (vgl. Sauter, Zugänge zur Dogmatik, 140) und verweist das kirchliche Handeln an die Externität der Verheißung Gottes (vgl. aaO., 144.) Fragen wir also nach dem theologischen Begründungszusammenhang der kirchlichen Praxis des Lesens der Bibel als Heiliger Schrift, so fragen wir danach, wie die Schrift selber in dem verheißenden Handeln Gottes gründet.

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von ihren Kritikern vorgenommen wird, gilt es hierbei zu hinterfragen. John Webster verweist zu Recht darauf, dass eine dogmatische Hermeneutik die Autorität der Schrift an Gottes Wirken und Sprechen zurückbinden sollte, also gerade nicht an das Wirken und Sprechen der Kirche.104 Wie kann solch eine dogmatische Hermeneutik aussehen, die den biblischen Text als einheitlichen autoritativen Kanon für die Kirche ernst nimmt ohne ihn dogmatisch zu vereinnahmen? Verschiedene Ansätze Biblischer Theologie versuchen in der Gegenwart in diesem Sinne eine theologische Auslegung der Biblischen Texte zu ermöglichen.

2. Gegenwärtige Ansätze Biblischer Theologie Biblische Theologien der Gegenwart 2.1 Brevard Childs’ Programm einer Biblischen Theologie Brevard S. Childs Brevard Childs’ Programm einer Biblischen Theologie kann in der Gegenwart wohl zu Recht als der prominenteste Entwurf einer Biblischen Theologie gelten. Um seinen canonical approach ist eine rege akademische Diskussion im Gange,105 die in ihrer Fülle hier nicht reflektiert werden soll. Vielmehr geht es mir darum, an Childs’ Programm, insbesondere an seinem späten Hauptwerk106 aufzuzeigen, inwieweit jeweils dogmatische Voraussetzungen sein Programm Biblischer Theologie mitbestimmen, ohne jedoch reflektiert zu werden. a) Der „canonical approach“ als Alternative zur rein historischen Exegese Childs wendet sich kritisch gegen die oben dargestellten Ansprüche einer rein deskriptiven Exegese. Deutlich sieht er das Problem, dass eine rein historisch-deskriptive Exegese letztlich zur Auflösung der Disziplin „Biblische Theologie“ führt, da sie den Begriff eines biblischen Kanons auflöst.107 Childs will im Gegenzug zu dieser historischen Dekanonisierung der biblischen Schriften die Bibel für die Theologie zurückgewinnen108 und entwickelt daher sein exegetisches Programm konsequent in einer theologischen 104 Vgl. Webster, „A Great and Meritorious Act of the Church“?, 109 und 116: „To sum up: the authority of the canon is the authority of the church’s Lord and his gospel, and so cannot be made an immanent feature of ecclesiastical existence.“ Vgl. auch Bayer, Autorität und Kritik, 50: „Die Autorität der Schrift ist identisch mit der Autorität des durch sie sich mitteilenden Gottes.“ Besonders hilfreich auch H. Diem, Das Problem des Schriftkanons. 105 Vgl. z.B. JBTh 3 (1988) und 12 (1997), sowie JSOT 16 (1980) und HBT 2 (1980). 106 Brevard S. Childs, Biblical Theology of the Old and New Testaments. Theological Reflections on the one Bible, London 1992. 107 Vgl. aaO., 6. 108 Vgl. Childs, On Reclaiming the Bible for Christian Theology, bes. 1–4.

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Perspektive.109 Dabei kommt dem Kanonbegriff eine zentrale Rolle zu. Dadurch dass die Schrift Kanon ist, unterscheidet sie sich von anderen Texten – sie kann nicht einfach als Literatur gelesen werden oder als historische Quelle.110 Genauer: Sie kann zwar so gelesen werden, dann aber liest man sie eben nicht als den biblischen Kanon, als Heilige Schrift der Kirche. In der Bezeichnung der Heiligen Schrift als Kanon sieht Childs ihre Einheit und ihre theologische Funktion als autoritative Schrift zusammen.111 Liest und interpretiert man die biblischen Texte also als kanonische Texte, so liest und interpretiert man sie zugleich in ihrer Bedeutung für die gegenwärtige Situation der Glaubensgemeinschaft.112 Biblische Theologie „[…] taking its stance from within the received tradition of the gospel, […] takes seriously the mediation of the biblical witnesses through the vehicle of the canonical tradition to be an essential part of the theological data. It is not a shell to be removed or corrected, but rather a testimony to be understood.“113 Childs vergleicht die Bedeutung der Kanonbildung für die Auslegung der Biblischen Texte mit der Funktion einer regula fidei.114 Childs, obwohl er sich von dem umfassenden Objektivitätsansprüchen der historisch-kritischen Exegese distanziert, will doch nicht hinter diese Frucht der Aufklärung zurück, die unwidersprochen auch einen Gewinn für die Theologie bedeutet.115 Anders allerdings als z.B. James Barr oder John Barton sieht er die Aufgabe historischer Exegese nicht einfach darin, die Externität des Schriftwortes zu gewährleisten. Er äußert sich auch kritisch gegenüber der These, dass historisch-kritische Exegese die konsequente Fortführung der reformatorischen Betonung des sensus literalis sei.116 Vielmehr zeigt eine historische Erforschung der Entstehung der kanonischen Texte ihre Tiefendimension auf.117 Im Hintergrund steht ein umfassender Begriff von Kanonisierung: Kanonisierung beginnt für Childs bereits mit den ersten redaktionellen Aktivitäten innerhalb der Schriftensammlung des Kanons und der schriftlichen Niederlegung einzelner biblischer Schriften.118 Seinen Abschluss findet dieser Prozess dann in der endgültigen Fixierung 109 Vgl. dazu Stefan Krauter, Brevard S. Childs Programm einer Biblischen Theologie, 24. 110 Vgl. Childs, Biblical Theology, 9. 111 Vgl. aaO., 72. 112 Vgl. aaO., 71. 113 AaO., 441f. 114 Vgl. aaO., 71. 115 Vgl. z.B. aaO., 525. 116 Vgl. Childs, The Sensus Literalis of Scripture, 88. In Ders., Biblical Theology, 4 klingt das alte Vorurteil dennoch durch. 117 Von der Tiefendimension (depth dimension) biblischer Texte redet Childs mehrfach. Vgl. z.B. aaO., 216f, 263. 118 In Childs, On Reclaiming the Bible for Christian Theology, 10 verdeutlicht er dies am Beispiel des Propheten Jesaja. Bereits mit der schriftlichen Fixierung und Tradierung seiner Botschaft durch Baruch (Jer 36) beginnt der Kanonisierungsprozess.

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des biblischen Kanons durch die frühe Kirche. Einen Fehler begeht man aber nach Childs dann, wenn man meint, das Faktum des einheitlichen Kanons allein durch diesen historischen Prozess erklären zu können.119 Dass diese Schriftensammlung als Kanon gelesen wird, erfordert nach Childs vielmehr eine theologische Erklärung. Diese theologische Erörterung des Kanonbegriffs bleibt aber, wie noch zu zeigen ist, defizitär. b) Kanon und Kirche Childs geht ähnlich wie z.B. Moberly oder Jenson davon aus, dass der biblische Kanon Buch der Kirche ist. Die Kirche empfängt den Kanon als autoritative Tradition. Schon in dieser Formulierung aber, in der ständig wiederkehrenden Rede vom Empfangen des Kanons,120 wird deutlich, dass Childs die Kirche nicht dem Kanon vorordnen will. Vielmehr ruft die Schrift die Kirche erst ins Leben.121 Darin steht er den soziologischen Kanontheorien und den oben dargestellten Ansätzen kritisch gegenüber.122 Childs sieht die Kirche vielmehr auf einer stetigen Suche nach dem Kanon.123 Die Externität der Schrift gegenüber der Kirche begründet er christologisch: Die Ekklesiologie muss der Christologie untergeordnet bleiben. Dies geschieht aber dort nicht, wo die Kirche über den Kanon gestellt wird.124 Das Christusereignis, von dem die biblischen Texte zeugen, verleiht den Texten ihre normative Wirkung, oder andersherum ausgedrückt: Der Kanon partizipiert an der Autorität des Christusereignisses. Dies drückt sich in der steten Rede von der Wirklichkeit, von der die biblischen Texte Zeugnis ablegen, aus. Diese Wirklichkeit ist es, die den biblischen Texten ihre autoritative Kraft verleiht und sie zugleich als einen einheitlichen Kanon formiert.125 In ihrer Relevanz für die Gegenwart bestimmt Childs die Externität pneumatologisch: Es ist die Wirksamkeit der Schrift im Heiligen Geist, die sie uns als externe Autorität wahrnehmen lässt: „[T]he church approaches its scripture in the confidence that in spite of its total timecondi119 Damit wendet Childs sich kritisch gegen die Tübinger Schule (Gese, Stuhlmacher etc.). Vgl. Childs, Biblical Theology, 76, 211. 120 Vgl. z.B. aaO., 71: „The term canon points to the received, collected and interpreted material of the church and thus continues to function authoritatively for today.“ Vgl. auch Childs, On Reclaiming the Bible for Christian Theology, 9: „Canon lays stress on the process of receiving and transmitting the treasured oracles of God.“ 121 Vgl. Childs, On Reclaiming the Bible for Christian Theology, 10. 122 Vgl. seine Kritik an Kelsey (Childs, Biblical Theology, 81f, 661–663) aber auch die Kritik an der Ethik von Hauerwas (aaO., 664–666). 123 Vgl. aaO., 67. 124 So wird es bei Childs’ Kritik an Kelsey deutlich (vgl. aaO., 23). Zu Recht verweist er darauf, dass es sich um das alte Problem des Verhältnisses von Schrift und Tradition handelt (Vgl. Childs, On Reclaiming the Bible for Christian Theology, 9f). 125 Auch Childs geht also von einer Mitte der Schrift aus (vgl. oben Exkurs in Abschnitt 1.2).

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tionality the true witness of the gospel can be heard in the sacred text through the continuing work of the Spirit.“126 Der Heilige Geist vergegenwärtigt die Wirklichkeit, von der die kanonischen Texte, die von der Kirche empfangen und überliefert wurden, zeugen. Zugleich betont Childs aber die aktive Rolle der Kirche bei der Formierung des Kanons.127 Der Kanon der biblischen Schriften wird in der christlichen Gemeinde gelesen, außerhalb dieser Gemeinde handelt es sich nicht um den Kanon der Heiligen Schrift.128 So bleibt das Verhältnis von Kirche und Kanon letztlich ambivalent. Dies ist besonders problematisch, insofern mit dem Kanonbegriff ja gerade das besondere Verhältnis der Kirche zu ihrer Heiligen Schrift betont werden soll.129 c) Die Einheit des Kanons und ihre Begründung Die Einheit des Kanons wird von Childs auf unterschiedlichen Ebenen thematisiert. So geht es zum einen um die Interpretation von Texten in ihrer kanonischen Endgestalt. Das heißt, eine literarkritisch eruierbare Entstehung des Textes zugestanden, sollen dennoch nicht die verschiedenen literarischen Schichten des Textes, sondern der Text in seiner endgültigen Form interpretiert werden.130 Zugleich geht es darum, die einzelnen biblischen Schriften in ihrem jeweiligen kanonischen Kontext wahrzunehmen. So sollen z.B. die Pastoralbriefe nicht als Zeugnis für ihre historisch festzustellende Zeit der Entstehung gelesen werden, z.B. als Zeugnis eines sich nach-paulinisch entwickelnden Frühkatholizismus, sondern sie sind im kanonischen Kontext als Teil des corpus paulinum zu interpretieren.131 Widersprüche und Spannungen zwischen verschiedenen Autoren, z.B. innerhalb des Neuen Testaments, sind zwar als historische Widersprüche nicht zu leugnen, sie müssen aber als Spannungen innerhalb des einen Kanons auch zusammengedacht werden können.132 Childs verweist hier auf die Bedeutung des Kanons für die christliche Gemeinde: Welche Bedeutung können solche Spannungen für das Leben einer Gemeinde und ihre theologische Reflexion haben?133 126 Childs, Biblical Theology, 215. Vgl. auch aaO., 67, 86f und 382. 127 Vgl. Childs, On Reclaiming the Bible for Christian Theology, 10. 128 Vgl. aaO., 9 und Childs, Biblical Theology, 71. 129 Vgl. Childs, Biblical Theology, 721. 130 So z.B. deutlich bei Childs Interpretation von Gen 22,1–19: Die Vv 15–18, die nach exegetischem Konsens als sekundäre Hinzufügung gelten, sind als Teil des Gesamttextes mit in die Interpretation einzubeziehen (aaO., 327). Aus demselben Grund wird die Q-Forschung kritisiert: Sie trägt nach Childs zur Interpretation der kanonischen Endgestalt der Evangelien nichts Wesentliches bei (aaO., 257). 131 Vgl. aaO., 438, 500. 132 Vgl. aaO., 293, 307, 441. 133 Vgl. aaO., 420. Dort bezogen auf Israel als Gemeinschaft und die unterschiedlichen Bundeskonzepte im Alten Testament als Heiliger Schrift Israels.

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Von grundlegender Bedeutung aber ist die Frage nach der Einheit des Kanons aus Altem und Neuem Testament.134 Wie kann der Kanon Israels als Altes Testament der christlichen Bibel gelesen werden? Childs geht davon aus, dass die alttestamentlichen Texte zunächst in ihrem eigenen Recht zur Geltung kommen müssen, also nicht direkt auf das Neue Testament zu beziehen sind. Andererseits reicht es aber auch nicht hin, das Alte Testament nur als die traditionsgeschichtliche Vorgeschichte des Neuen Testaments anzusehen, denn das Verhältnis zwischen Altem und Neuem Testament ist komplexer: Das Alte wird im Neuen Testament in der Perspektive des Christusgeschehens gelesen, das selber aber nur in der Begrifflichkeit des Alten Testaments erfasst werden konnte.135 Es bedarf eben einer theologischen Begründung der Einheit des Kanons.136 Das wird bei der Frage nach der Einheit der beiden Testamente besonders deutlich, gilt aber auch für die Einheit auf den anderen textgeschichtlichen Ebenen. Diese Einheit ist nach Childs im gemeinsamen Bezug der beiden Testamente auf die Wirklichkeit der Schrift gegeben, die er als göttliche Wirklichkeit (divine reality) bezeichnet.137 Mit dieser Wirklichkeit Gottes ist die Sache (subject matter) der Schrift (res Scripturae) bezeichnet.138 Auf diese Wirklichkeit beziehen sich die Texte des Alten und Neuen Testaments als Zeugnis zurück, durch diese Wirklichkeit wurden sie ins Leben gerufen. Von dieser einen Wirklichkeit her, von der die Texte des Kanons zeugen, kann und muss dann auch Sachkritik am Kanon geübt werden.139 Nun fällt nicht nur der assertorische Charakter dieser Aussagen bei Childs auf – dieser allein ließe sich ja vielleicht noch durch den assertorischen Charakter theologischer Anfangssätze begründen140 – sondern auch, dass die Bestimmungen der Sache der Schrift, bzw. der Wirklichkeit, auf die sich die Schrift bezieht, variieren. So benennt Childs Gott selbst als die Wirklichkeit, von der die beiden Testamente zeugen,141 kann aber auch das Heilshandeln Gottes als diese Wirklichkeit darstellen.142 Darüber hinaus ist die Rede davon, dass beide Testamente auf ihre eigene Art und Weise Zeugnis von Jesus Christus ablegen.143 Diese Variation 134 Vgl. Childs, Biblical Theology, 55. 135 Vgl. Childs, Biblical Theology, 212, 226. Childs spricht immer wieder davon, dass die Linien (trajectories) in beide Richtungen auszuziehen sind (vgl. aaO., 392, 459, 641). 136 Vgl. aaO., 333, 721. 137 Vgl. aaO., 85. 138 Vgl. aaO., 333. 139 Vgl. aaO., 591 (Jesus Christus als ultimatives Kriterium der Wahrheit beider Testamente) und 721. 140 Vgl. dazu Sauter, Zugänge zur Dogmatik, 112–124. 141 Vgl. Childs, Biblical Theology, 80, 369, 377, 721. 142 Vgl. aaO., 345. 143 Vgl. aaO., 78, 477. Jesus Christus kann auch als die Sache (subject matter) der ganzen Schrift gelten (vgl. aaO., 67f).

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in der Bestimmung der Sache der Schrift fordert die Frage nach der Begründung der Bestimmung dieser Sache geradezu heraus. Zwar mag es trivial erscheinen, dass Gott die Wirklichkeit der Schrift ist, doch die Frage, inwieweit diese Wirklichkeit Gottes auf die Wirklichkeit Jesu Christi zu beziehen ist, wirft bereits zentrale dogmatisch-theologische Fragen auf, gerade auch im Blick auf das Verhältnis von Altem und Neuem Testament.144 Denn die Behauptung, dass auch das Alte Testament Zeugnis vom Werk Jesu Christi ablegt, setzt genau genommen die Einheit des Kanons schon voraus. Der Bezug der Texte auf die Wirklichkeit Gottes ist daher weniger die von Childs eingeforderte theologische Begründung der Einheit des Kanons. Es handelt sich vielmehr um eine Auslegungsregel, die eine formale Einheit des Kanons, die im Modus der Behauptung auftritt, bereits voraussetzt. Diese von Childs vorausgesetzte Behauptung der Einheit des Kanons bedarf aber einer (von Childs selber eingeforderten, aber, wie sich hier zeigt, nicht wirklich eingelösten) theologischen, genauer einer dogmatischen Begründung,145 die den einzelnen bei Childs angedeuteten Themenkreisen nachgehen muss: Christologie, Pneumatologie, Handeln Gottes. Von dieser Begründung her ist dann auch nach der Legitimität der benannten Auslegungsregel zu fragen, so dass die vage Rede von der Wirklichkeit Gottes von dort her inhaltlich präzisiert werden kann. Denn wie sich der Text zu dieser Wirklichkeit, die hinter dem Text gesucht wird, verhält, ist durch den Begriff „Zeugnis“ nicht wirklich präzise beschrieben. Man kann Ereignisse und Erlebnisse bezeugen, Dinge die man gesehen oder gehört hat oder auch Gefühle. Doch offensichtlich ist derartiges hier nicht gemeint. Eine schlichte Zuordnung von Text und Sache, auf die der Text verweist, wie sie uns im alltagssprachlichen Bereich oft naheliegend erscheint, und wie sie auch der Vorstellung zugrunde liegt, die Bedeutung des Textes verdanke sich einer Autorenintention, funktioniert hier nicht.146 Weiterführender könnte es hingegen sein, bei dem pneumatologischen Moment anzusetzen und danach zu fragen, wie die göttliche Wirklichkeit in der Wirkung des Textes zur Geltung kommt.147 Wie hätte ein 144 Diese Problemstellung wird deutlich bei Janowski, Der eine Gott der beiden Testamente. Bei der Tatsache, dass die Rede von der Wirklichkeit Gottes als der Sache der Schrift alles andere als selbstverständlich ist, setzt auch die Kritik von Stefan Krauter an (vgl. Ders., Brevard S. Childs’ Programm einer Biblischen Theologie, 138–141). Er will dieses Defizit letztlich durch eine subjektivitätstheologische Figur beheben (vgl. aaO., 141–147), ein Vorgehen dem ich mich aus theologischen Gründen, die noch deutlicher werden sollen, nicht anschließen kann. 145 Insofern kann ich mich hier der Kritik von Barr anschließen, dass eine bloße Behauptung der Kanonizität nicht hinreicht (vgl. Barr, Holy Scripture, 149). 146 Das dieses Modell von Sprach- und Textverstehen grundsätzlich problematisch ist, wird anhand der Wittgensteininterpretation in Teil II deutlich werden. 147 Gerade vom Zeugnisbegriff legt sich ein solcher Ansatz nahe. Spricht doch die reformierte wie auch die lutherische Tradition im Blick auf das Verstehen der Heiligen Schrift vom testimoni-

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dementsprechender Begriff vom Verstehen eines biblischen Textes auszusehen? d) Zur Kritik an Childs’ Kanonbegriff Zu Recht macht James Barr darauf aufmerksam, dass Childs Kanonbegriff mehrere Aspekte umfasst und dadurch unscharf wird. Barr sieht bei Childs drei Kanonbegriffe miteinander vermischt: 1. Kanon im engeren Sinne des Wortes bezeichnet schlicht eine Liste von Büchern, bzw. einen fest definierten Corpus von Texten.148 2. Childs verwendet den Begriff Kanon allerdings auch im Blick auf die kanonische Endgestalt der biblischen Bücher.149 Darin nähert Childs sich der modernen Literaturtheorie150 und der Redaktionskritik151 an. 3. Darüber hinaus wird der Kanonbegriff auch verwendet, um das Verhältnis der Leser und Interpreten zu den kanonischen Texten zu beschreiben.152 „Kanon“ in diesem Sinne ist ein Werturteil über die Bedeutung der kanonischen Schriften.153 Barr möchte den Kanonbegriff am liebsten im engsten möglichen Sinne (also im Sinne von 1.) verwenden, weil die Vermischung der verschiedenen Konzepte auch theologisch zu einem Durcheinander bei Childs führe.154 Zugleich weiß er aber darum, dass in der gegenwärtigen Diskussion diese Aspekte unweigerlich miteinander verbunden sind. Zu fragen ist hier, inwieweit hier zu Recht eine Verschränkung der unterschiedlichen Aspekte stattfindet. Weiter helfen kann hier die Unterscheidung zwischen Heiliger Schrift und Kanon, wie sie John Barton in seiner historisch-terminologischen Studie über die Entstehung des biblischen Kanons in Anlehnung an A.C. Sundberg vornimmt.155 Eine Sammlung heiliger Schriften kann grundsätzlich offen sein – in der lutherischen und anglikanischen Tradition ist sie um spiritus sancti internum. Vgl. dazu Kirste, Das Zeugnis des Geistes und das Zeugnis der Schrift, sowie Assel, Art. Zeugnis. 148 Vgl. Barr, Holy Scripture, 71, 75. 149 Vgl. aaO., 75. 150 Vgl. aaO., 77. 151 Vgl. aaO., 146. 152 Vgl. aaO., 76. 153 Vgl. aaO., 79. 154 Vgl. ebd. 155 Vgl. Barton, The Spirit and the Letter, 8f, bes. 9: „Scriptures are books which a community accepts as holy and authoritative – which may be an open-ended class; but a ‚canon‘ is an exclusive list of books which have such a status“.

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prinzipiell offen156. Ein Kanon ist eine abgeschlossene Sammlung heiliger Schriften (oder eine heilige Sammlung von Schriften),157 die für eine Gemeinschaft autoritativ ist. Eine Heilige Schrift mit offenen Grenzen gab es nach Barton schon sehr früh, bereits zum Ende des ersten Jahrhunderts.158 Einen fest abgegrenzten Kanon kann man nicht vor dem 4. Jahrhundert ausmachen.159 Zum Charakter einer Heiligen Schrift gehört nach Barton, dass ihr Nicht-Trivialität, also Wichtigkeit und Relevanz für den Leser zugeschrieben werden.160 Das, was Childs mit dem dritten Aspekt des Kanonbegriffs thematisiert, ist also eigentlich ein Charakteristikum einer Heiligen Schrift, und zwar zunächst einmal unabhängig davon, ob sie Kanon ist. Gleiches gilt für die Interpretation der biblischen Bücher auf der Ebene ihrer kanonischen Endgestalt. Hier geht es ja darum, die Texte – bei Wahrnehmung aller Spannungen – als in sich konsistent zu lesen: nach Barton ebenfalls ein Charakteristikum der Interpretation Heiliger Schriften.161 Childs wäre also darin zu präzisieren, dass der zweite und dritte Aspekt nicht durch die Chiffre „Kanon“ zu benennen sind, sondern durch die Chiffre „Heilige Schrift“. Die Differenz zu den historisch orientierten Ausführungen von Barton liegt nun allerdings auf der Hand: Childs geht es um den Kanon (ein bestimmtes Textcorpus) als Heilige Schrift (autoritatives, in sich konsistentes Buch für eine Gemeinschaft). Dies ist eine Situation, die erst am Ende des Wachstums des Kanons erreicht wird.162 Nach Barton ist das Christentum nicht so sehr auf eine Sammlung Heiliger Schriften bezogen, sondern es ist vielmehr in Kontinuität zur frühen Kirche zu verstehen: Die Schriftlichkeit der Texte schloss die Mündlichkeit des Evangeliums nicht aus, sondern die Texte waren mehr eine Gedächtnisstütze für die fortgehende mündliche Überlieferung.163 Wenn für Barton allerdings die zentrale christliche Wahrheit des Evangeliums wichtiger ist als die vielfältigen Positionen der biblischen Schriften,164 so scheint hier doch die hinter den Texten stehende, historischkritisch zu rekonstruierende Mündlichkeit der Evangeliumsverkündigung die letzte Autorität für die Kirche zu sein. Andererseits nimmt Barton durchaus wahr, dass die Bibel heute vielfach als eine Heilige Schrift wahrgenommen wird, z.B. in der Liturgie: „In rea156 157 158 159 160 161 162 163 164

Vgl. aaO., 21. Vgl. ebd. Vgl. aaO., 19. Vgl. aaO., 20f. Vgl. aaO., 134–137. Vgl. aaO., 134 und 139f. Vgl. aaO., 27. Vgl. aaO., 91. Vgl. Barton, Unity and Diversity, 26.

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ding ‚God’s word‘ in the presence of God, the community reaffirms its relationship with God.“165 Die Wahrnehmung der Bibel als Heiliger Schrift ist dabei nicht immer ein Verstehen der Bedeutung des Textes.166 Das heißt aber wiederum, dass eine Theologie, die bei der gegebenen Situation der Kirche ansetzt, durchaus von einem, wenn auch offenen Kanon der Heiligen Schrift ausgehen kann. Im Blick auf die Situation einer gegebenen Heiligen Schrift, gesteht Barton (anders als Barr) durchaus zu, dass der Kanon eine hermeneutische Funktion hat: „The canon dictates how the books that fall within it are to be read.“167 Ob man hier sinnvollerweise von einer „kanonischen“ Auslegung spricht, kann man allerdings berechtigt fragen: Zu allererst geht es um eine Auslegung der Heiligen Schrift. Diese liegt zwar als ein faktischer Kanon (allerdings ein zwischen den Konfessionen divergierender) vor, aber inwieweit dieser prinzipiell abgeschlossen ist, das bleibt – hier hat Barton recht – zu fragen und hängt letztlich auch davon ab, wie theologisch(-dogmatisch) bestimmt wird, was die biblischen Texte zur Heiligen Schrift macht. In diesem Zusammenhang wird auch noch einmal der Frage nachzugehen sein, wie sich Schriftlichkeit und Mündlichkeit des Evangeliums zueinander verhalten. e) „From Witness to Subject Matter“ – Sensus Literalis und theologische Auslegung Gemäß der Ausgangsthese von Childs, dass der Kanon der ganzen Bibel Grundlage einer theologischen Auslegung der biblischen Texte ist, geht die Bewegung der Auslegung von der deskriptiven Auslegung des Einzeltextes hin zur theologischen Interpretation des Textes als Teil des ganzen Kanons, der auf die Wirklichkeit Gottes verweist.168 Die einzelnen Texte werden also auf den kanonischen Kontext dadurch bezogen, dass sie auf diejenige Wirklichkeit bezogen werden, von der sie Zeugnis ablegen. Dies zeigt sich schon deutlich am Aufbau von Childs’ Biblischer Theologie, die nach der Erörterung der theologischen Voraussetzungen zunächst zwei umfangreiche, deskriptiv orientierte Teile umfasst, die jeweils eine Theologie des Alten und des Neuen Testaments enthalten. In einem weiteren Teil führt Childs das exegetische Verfahren (From Witness to Subject Matter) je an einem alttestamentlichen (Gen 22,1–19) und an einem neutestamentlichen (Mt 21,33–46) Text vor, um im Anschluss daran thematische Querschnitte biblisch-theologisch zu reflektieren. Die Anordnung der Themen lehnt sich 165 166 167 168

Barton, The Spirit and the Letter, 128. Vgl. aaO., 107. Vgl. aaO., 133. Vgl. Childs, Biblical Theology, 80.

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dabei an traditionelle dogmatische Kategorien an (Gotteslehre, Schöpfungslehre, Ekklesiologie, Christologie, Soteriologie etc.), ohne dass diese Abgrenzung und Ordnung der Themen selber explizit zum Thema wird. Auch hier sind also wieder deutlich dogmatische Voraussetzungen mit im Spiel, die nicht reflektiert werden.169 Innerhalb der einzelnen thematischen Abschnitte bewegt sich die Reflexion wiederum von Deskription hin zu theologischer und dogmatischer Reflexion. Die Unterscheidung zwischen biblisch-theologischer Reflexion, die das zuvor deskriptiv aus beiden Testamenten Zusammengetragene aufeinander bezieht, und dogmatischer Reflexion kann dabei nicht immer konsequent durchgehalten werden.170 Der Übergang von der deskriptiven Exegese zur biblisch-theologischen Reflexion geht dabei parallel mit dem Übergang von der Auslegung des sensus literalis zur typologischen bzw. allegorischen Auslegung, die unter dem Begriff „figuration“ zusammengefasst werden.171 Schon in der Interpretation der Hermeneutik des Origenes wird deutlich, dass Childs eine figürliche Auslegung als Möglichkeit in den Blick nimmt, um vom Text zum spirituellen Sinn, der Sache des Textes, vorzudringen.172 Für Childs selbst ist, im Unterschied zu Origenes, entscheidend, dass die typologische Auslegung nicht der wörtlichen Auslegung, dem sensus literalis, widerspricht, sondern auf diesem aufbauend nach der Beziehung des Textes zur Wirklichkeit Gottes fragt.173 Der sensus literalis ist dabei der sensus historicus des Textes.174 Von daher kann die biblisch-theologische Auslegung nicht eine Interpretation des sensus literalis sein, gleichwohl Childs dazu tendiert, auch die Bedeutung der kanonischen Endgestalt an die historische Intention einer Gruppe von Redaktoren des Kanons zurückzubinden.175 Er verfolgt diese Vorstellung nicht weiter, aber sie ist Indiz einer wichtigen Unsicherheit: Was konstituiert die Bedeutung des Textes, die intentio auctoris bzw. re169 Vgl. von Lipps, Was bedeutet uns der Kanon?, 48. 170 So fasst Childs in dem Kapitel über „Law and Gospel“ biblisch-theologische und dogmatische Reflexion in einem Abschnitt zusammen (aaO., 550–562). 171 Vgl. aaO., 87. 172 Vgl. aaO., 35. 173 Vgl. aaO., 87, 380, 725. Zum dreifachen Schriftsinn bei Origenes vgl. Ders., De principiis, IV,2,4 (708,7–710,4). Der allegorische, geistliche Sinn der Texte zielt nach Origenes auf die himmlischen Dinge (IV,2,5 [715]). Durch literarische und geschichtliche Widersprüche im Text gilt es Origenes als eindeutig, dass der eigentliche Sinn der Texte im geistlichen Sinn zu suchen ist (IV,2,9 [726,3–728,5]), den er als den Hauptsinn der Texte ansieht (IV,3,5 [746,9f]). Im Unterschied zur traditionellen Typologie geht Childs nicht davon aus, dass die typologische Bedeutung des Textes vom Verfasser intendiert war (vgl. aaO., 564). 174 In „The Sensus Literalis of Scripture“ weist Childs auf, dass dieses Verständnis durch die Aufklärung und das Aufkommen der historisch-kritischen Methode entscheidende Modifikationen erfahren hat. 175 Vgl. z.B. Childs, Biblical Theology, 394: Childs bezieht sich für seine kanonische Auslegung der Akedah auf die Absichten der Editoren des kanonischen Textes.

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dactoris oder der Leser, das hieße bei Childs vor allem die den Kanon rezipierende Kirche? Oder gibt es gar eine Bedeutung des Textes unabhängig von Autor und Leser, im Sinne einer Autonomie des Textes?176 Damit geht es zugleich auch um die Frage, was in der Auslegung des Textes eigentlich verstanden werden soll. Childs geht von verschiedenen Ebenen der Textbedeutung aus.177 Im Rahmen der Deskription ist die Autorenintention maßgeblich.178 Unklar bleibt hingegen, wie sich die Textbedeutung auf der Ebene der kanonischen Interpretation konstituiert. Die Rezeption der Kirche kann hier nicht konstitutiv sein, denn das hieße ja die biblischen Texte der Kirche unterzuordnen. Andererseits verweist Childs im Blick auf das Alte Testament, insbesondere im Blick auf die Auslegung der Akedah (Gen 22,1–19), auf die reader response des christlichen Lesers, die seine Auslegung von der eines jüdischen Interpreten abweichen lassen wird.179 Doch Childs bindet diese reader response gleich wieder an das Ganze des Schriftkanons als regula fidei zurück.180 Childs selber hat in einem hervorragenden Aufsatz über die Entwicklung des Begriffs gezeigt, wie variabel die Bezeichnung sensus literalis in der Theologiegeschichte eingesetzt wurde.181 So ging schon Thomas von Aquin von einem Literalsinn der ganzen Schrift aus, den er auf die einheitliche Intention Gottes als Autor des Kanons zurückführte.182 Wir werden im dritten Teil dieser Arbeit sehen, dass auch die Altprotestanten nach dem sensus literalis iuxta mentem Spiritus Sancti fragten.183 Die Stärke dieser Ansätze und auch des Ansatzes der Reformatoren sieht Childs im genannten Aufsatz darin, dass sie im sensus literalis die historische und die theologische Dimension zusammenhalten.184 Mit der Aufklärung und dem verstärkten Aufkommen historisch-kritischer Erforschung der biblischen Texte zerbricht diese Einheit und der sensus literalis wird ganz an der historischen Autorenintention festgemacht, also auf den sensus historicus reduziert.185 Wenn Childs nun in seiner Biblischen Theologie den theologischen Textsinn vom sensus literalis abhebt,186 setzt er diese Neubestimmung durch die historische Kritik voraus und gibt die Einheit von sensus literalis und theologischem Textsinn auf. Dieser Verdopplung des Textsinnes entspricht also – 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186

Vgl. dazu Bayer, Hermeneutische Theologie, 50f. Vgl. Childs, Biblical Theology, 382: „[…] multilevel approach to the text.“ Vgl. aaO., 379. Vgl. aaO., 335. Vgl. aaO., 335f. Vgl. Childs, The Sensus Literalis of Scripture. Vgl. aaO., 84f. Vgl. J.A. Quenstedt, Theologia, I, CIV/2, q XIII, Th. Vgl. Childs, The Sensus Literalis of Scripture, 87. Vgl. aaO., 88–90. Vgl. dazu auch H.J. Iwand, Luthers Theologie, 113. So deutet er es auch schon am Ende von Childs, The Sensus Literalis of Scripture an.

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so wird es bei Childs deutlich – die Verdopplung des Verstehensbegriffs, auf die ich hier schon mehrfach aufmerksam gemacht habe: Einerseits gibt es ein historisches Verstehen des Textes, das sich auf die intentio aucotris richtet, zum anderen gibt es ein theologisches (allegorisches) Verstehen des Textes, bei dem aber unklar bleibt, in wie weit und in welchem Sinne der Text sein Gegenstand ist. Für eine reformatorische Theologie, die ihre Aussagen streng an den sensus literalis zurückbinden will, ergeben sich dadurch zahlreiche Probleme.187 Will man den theologischen Textsinn nicht als einen zum Literalsinn hinzutretenden Textsinn verstehen, so wird man auch den kanonischen Textsinn als Literalsinn erfassen müssen. Versteht man den Kanon einmal als einheitlichen Text, so ergibt sich durch konsequente Anwendung des Kontextprinzips,188 dass die biblischen Texte dadurch, dass sie im Kontext des Kanons stehen, einen neuen Sinn gewinnen, der über ihren ursprünglichen historischen Sinn hinausgehen kann. Dieser Textsinn ist aber nicht weniger ein Literalsinn als der historisch ursprünglichere Sinn. Genau genommen hat sich nicht der Sinn desselben Textes geändert, sondern der Text ist ein anderer geworden, nämlich der des Kanons. Ähnliche Überlegungen finden sich auch bei Childs immer wieder,189 aber er spricht dann nicht mehr vom Literalsinn der Texte. Ein wirklicher Grund dafür ist allerdings nicht einsichtig. Die Suche nach einer Neubestimmung des sensus literalis, die Childs fordert,190 wird in diese Richtung gehen müssen. Dieser Textsinn ist dann freilich, darin ist Childs Recht zu geben, wesentlich dadurch bestimmt, wie die Einheit des Kanons konstituiert ist. Für eine theologische Auslegung kann es nicht ausreichen, von der Bibel als literarischem Werk auszugehen, sondern es gilt nach einer theologischen Bestimmung des Literalsinns biblischer Texte und ihres Verstehens zu fragen.191 Dies aber führt wieder auf die Frage nach dem Verhältnis der Biblischen Theologie zur Dogmatik.

187 Zu Recht weist Childs darauf hin, dass gerade die protestantische Theologie immer wieder mit diesem Problem ringt. Vgl. Childs, The Sensus Literalis of Scripture, 91. Das Festhalten am sensus literalis hat seinen inneren Grund natürlich darin, dass der Text sich gegen die Auslegung behaupten können muss. 188 Klassisch formuliert von Schleiermacher, Hermeneutik, 116 (Zweiter Kanon der Grammatischen Auslegung). 189 Vgl. zusammenfassend Krauter, Brevard S. Childs Programm einer Biblischen Theologie, 37. 190 Vgl. Childs, The Sensus Literalis of Scripture, 92. 191 Vgl. Childs, Biblical Theology, 20. Zu Recht formuliert Barr, Holy Scripture, 159: „Literature after all, does not lead naturally to terms like canon and authority in the theological sense“ (Hervorhebung im Original). Barr stellt allerdings grundsätzlich die Eigenständigkeit theologischer Reflexion in Frage (vgl. aaO., 117f, 167). Wolter (Ders., Die Vielfalt der Schrift und die Einheit des Kanons, 66–67) deutet hingegen in Anknüpfung an Umberto Ecos semiotische Kategorie der intentio operis die Möglichkeit an, die Bibel als ein Werk zu interpretieren.

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f) Grenzwanderungen zwischen Exegese und Dogmatik Childs gesteht explizit zu, dass sich die Disziplin der Biblischen Theologie, so wie er sie in seinem Entwurf vorstellt, auf der Grenze zwischen Exegese und Dogmatik bewegt.192 Die hier dargestellten Beobachtungen über die dogmatischen Voraussetzungen des Kanonbegriffs werfen nun aber auch die Frage auf, inwieweit die biblisch-theologische Zusammenführung des zuvor deskriptiv Erfassten nicht schon eine dogmatische Reflexion ist. Dies verlangt allerdings eine Klärung des Begriffs der dogmatischen Reflexion. Nach Childs befasst sich die Dogmatik mit der Reflexion des Glaubens in seinen Bekenntnissen und Lehrsätzen (Dogmen).193 Sie zielt dabei genau wie die Biblische Theologie, die von der Deskription ausgeht, auf ein erneuertes Lesen der Biblischen Texte ab.194 Dabei gibt es auch einen legitimen Weg von der dogmatischen Reflexion hin zum biblischen Text, um diesen von dort her neu zu verstehen. Dies ist dann allerdings keine Interpretation des sensus literalis, sondern eine Form der figürlichen Schriftauslegung.195 Childs ist sich also dessen bewusst, dass auch eine Biblische Theologie nicht um dogmatische Voraussetzungen herumkommt.196 So schließt die Zirkelbewegung zwischen Zeugnis der Schrift und der Sache, von der die Schrift Zeugnis gibt,197 die naive Vorstellung, dass jede dogmatische Kategorie, die an die Biblischen Schriften herangetragen werde, ihren Sinn verfremde, aus.198 Klar ist sich Childs auch darüber, dass bereits der Versuch, den Text und die Wirklichkeit Gottes, von der der Text zeugt, in Beziehung zueinander zu setzen, bedeutet, den Bereich dogmatisch-theologischer Reflexion zu betreten.199 Das alles nötigt allerdings zu der Frage, ob nicht eine dogmatische Reflexion auf die Konstitution des Kanons als Buch der Kirche unabdingbare Voraussetzung für eine Biblische Theologie ist. g) Fazit Diese dogmatische Reflexion auf die Konstitution des Kanons als autoritativer Schrift der Kirche und die Frage, welche Konsequenzen diese Konstitution des Kanons für das Verstehen der Schrift hat, ist das Thema dieser 192 Vgl. Childs, Biblical Theology, 551, 592. Vgl. Auch Ders., On Reclaiming the Bible for Christian Theology, 15. 193 Vgl. Childs, Biblical Theology, 369f. 194 Vgl. aaO., 89. 195 Vgl. aaO., 87. Vgl. auch 365, 370 und 521 zur Bedeutung des trinitarischen Dogmas für die Schriftauslegung. 196 Vgl. aaO., 12. 197 Vgl. aaO., 381. 198 Vgl. aaO., 521. 199 Vgl. aaO., 551.

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Arbeit, die sich zur Beantwortung dieser Frage mit der klassischen Position der Altprotestanten am Beispiel Quenstedts auseinander setzen wird. Gefragt ist damit zugleich nach einer dogmatischen und eben nicht historischen Bestimmung des sensus literalis der ganzen Schrift. Die dogmatische Untersuchung wird danach zu fragen haben, wie sich Kirche und Kanon zueinander verhalten. Bei Childs zeigte sich zwar eine deutliche Tendenz, den Kanon als die der Kirche gegenüberstehende, externe Norm zu verstehen, aber er bietet dafür keine konsistente Begründung.200 Der Kirche gegenüber steht nach Childs letztlich die Wirklichkeit Gottes, von der der Kanon zeugt. Inwieweit der Kanon mehr auf der Seite der Kirche steht, die ihn aktiv rezipiert, oder mehr auf der Seite des handelnden Gottes, ist nicht geklärt. Gerade im Blick auf die Klärung dieses Verhältnisses wird die Frage nach der pneumatologischen Bestimmung des Kanons, die Frage nach der Wirksamkeit des Heiligen Geistes, der Gottes Kirche baut und durch das Wort wirkt, zentral sein. 2.2 Das „Tübinger Modell“ einer biblischen Theologie Das Tübinger Modell Neben dem vor allem den amerikanischen und englischen Diskussionskontext bestimmenden Modell von Brevard S. Childs bestehen im deutschen Diskussionskontext schon seit den siebziger Jahren rege Bemühungen um eine biblische Theologie. Im Zentrum dieser Diskussion standen zunächst die einflussreichen Arbeiten der beiden Tübinger Exegeten Hartmut Gese (AT) und Peter Stuhlmacher (NT). Im Bezug auf das von ihnen angeregte Programm einer biblischen Theologie, das sich in bestimmten Punkten charakteristisch von Childs’ Programm unterscheidet, spricht man häufig vom Tübinger Modell. Eine Bezeichnung, die wir hier aufnehmen, auch wenn sie verdeckt, dass es zum einen nicht um einen einheitlichen Entwurf geht, sondern um eine theologische Richtung, die unterschiedliche Ansätze vereint, und dass zum anderen dieses Modell auch außerhalb der Tübinger Theologenschule Anhänger gefunden hat. In meiner Darstellung dieser Richtung konzentriere ich mich auf einige Texte von Peter Stuhlmacher und 200 Dies zeigt sich dann auch darin, dass Childs so rezipiert wird, als ob er eine Einbindung des Kanons in die Kirche im strengen Sinne fordere. So bezieht sich z.B. R.W.L. Moberly, für den der Kanon dogmatisch und kirchlich konstituiert ist (vgl. Ders., The Bible, 14) vielfach auf Childs. Auch die in dem Band „Reclaiming the Bible for the Church“, hg. v. Carl E. Braaten/Robert W. Jenson versammelten Vorträge einer Tagung beziehen sich vielfach auf Childs, der als „patron figure“ (so Jenson, aaO., 103) der Tagung gilt. Allerdings ist der Titel des Aufsatzes von Childs („Reclaiming the Bible for Theology“) schon wieder ein latenter Kontrapunkt zum Titel der Sammlung: Es geht Childs darum, die Bibel für die Theologie zurück zu gewinnen. Das muss nicht gleich heißen sie der Kirche unterzuordnen. Eine dogmatische Bestimmung des Kanons muss nicht gleich eine kirchliche Vereinnahmung des Kanons bedeuten.

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verweise gelegentlich auf weitere Vertreter dieser Position, insbesondere auf die der Alttestamentler Hartmut Gese und Bernd Janowski. Wiederum wird es vor allem darum gehen bestimmte Argumentationsmuster und ihre Probleme aufzuzeigen, nicht um ein umfassendes Referat der jeweiligen Positionen. a) Kritik an der Kritik und Hermeneutik des Einverständnisses Stuhlmacher geht von einer Kritik radikal historisch-kritischer Bibelinterpretation aus, für die unter anderem die Beispiele Ernst Käsemanns und Gerhard Ebelings stehen.201 Diesen radikal-kritischen Ansätzen stellt er eine Hermeneutik entgegen, die die biblischen Texte in ihrem Anliegen ernst nimmt und ihre hermeneutischen Prinzipien in der Auslegung dieser Texte zu gewinnen sucht.202 Dazu gehört auch, die Bibel als einheitlichen Kanon ernst zu nehmen als der sie uns gegenübertritt. Als solcher aber ist die Bibel „Lern- und Lebensbuch der Kirche“203, das diese sich selbst als kritische Norm gegenübergestellt hat. Zu den hermeneutischen Implikationen der biblischen Texte gehört nach Stuhlmacher aber auch eine Lehre von der Inspiration biblischer Texte, von der sie nach Stuhlmachers Interpretation selber zeugen.204 Diese beiden Aspekte, die Einbindung der Schrift in die kirchliche Auslegungstradition und ihre Inspiration verweisen darauf, dass eine Auslegung des biblischen Kanons mehr leisten muss als historische Kritik leisten kann. Daher will Stuhlmacher diese einbinden in eine Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten,205 in der die wissenschaftliche Auslegung der biblischen Texte in den Kontext einer spirituellen Auslegung gestellt wird.206 Ich werde im Folgenden versuchen aufzuzeigen, wie diese unterschiedlichen Aspekte in Stuhlmachers Konzeption einer Biblischen Theologie (des Neuen Testaments) ineinander greifen.

201 Vgl. Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments, 28–30 und 32. 202 Stuhlmacher referiert hier immer wieder auf ein dictum von Hartmut Gese: „Ein Text ist so zu verstehen, wie er verstanden sein will, d.h. wie er sich selbst versteht.“ Vgl. z.B. Stuhlmacher, Der Kanon und seine Auslegung, 169; Ders., Erfahrungen mit der Biblischen Theologie, 18. 203 Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments, 222. Vgl. auch Ders., Biblische Theologie I, 4. 204 Vgl. Stuhlmacher, Biblische Theologie II, 327f; Ders., Der Kanon und seine Auslegung, 179–184; Ders., „Aus Glauben zu Glauben“, 218–221 und Ders., Vom Verstehen des Neuen Testaments, 53–59. Zur Kritik dieser Begründung der Inspirationslehre vgl. unten Abschnitt 2.2. 205 Vgl. Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments, 222–256. 206 Vgl. zur spirituellen Schriftauslegung Stuhlmachers Ausführungen zur Bedeutung der Anamnese in Ders., Biblische Theologie II, 332f; Ders., Der Kanon und seine Auslegung, 186f sowie 187–189 zu oratio, meditatio, tentatio und Ders., Anamnese. Vgl. auch Ders., Vom Verstehen des Neuen Testaments, 253f.

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b) Die Einheit des Kanons aus Altem und Neuem Testament Anders als Childs, der eine historische Begründung der Einheit des biblischen Kanons generell ablehnt, setzt Stuhlmacher mit Gese bei dem Traditionsprozess der Kanonisierung an. Beide gehen von der in der modernen kanongeschichtlichen Forschung inzwischen allgemein anerkannten Erkenntnis aus, dass der alttestamentliche Kanon vom Judentum erst um 100 n.Chr. abgeschlossen wurde, so dass sich die Entstehung des Neuen Testaments mit der Entstehung des alttestamentlichen Kanons verschränkt. Es gibt daher, so Stuhlmacher und Gese, nicht zwei Kanonisierungsprozesse – einen des Alten und einen des Neuen Testaments – sondern es gibt nur einen Kanonisierungsprozess der christlichen Bibel.207 Daher spielt es für beide Exegeten eine wesentliche Rolle, dass das Alte Testament nicht in der Gestalt der hebräischen Bibel kanonisiert wurde, sondern in der Gestalt der Septuaginta.208 Diese umfasst Schriften, die sonst in die sogenannte „zwischentestamentliche Zeit“ fallen. Halte man an dem hebräischen Kanon fest, wie es zum Beispiel von Childs mit zum Teil historisch äußerst fragwürdigen Argumenten vertreten wird,209 so entstehe leicht der Eindruck zweier separater Textblöcke (Altes und Neues Testament), die erst nachträglich verbunden werden müssten. Bezieht man den weiteren Septuagintakanon ein, so wird aber deutlich, dass Altes und Neues Testament durch einen kontinuierlichen Traditionsprozess miteinander verbunden sind.210 Damit ist die Einheit des Kanons als eine formale, historische Einheit bestimmt.211 Die biblischen Schriften gehören zusammen, weil sie Teil eines umfassenden Traditionsprozesses der Kanonisierung sind. Das allein allerdings reicht noch nicht aus, den exklusiven Charakter des Kanons zu begründen. Denn der von Stuhlmacher und Gese beschriebene Traditionsprozess hat ja mehr Schriften hervorgebracht als die kanonischen Schriften des 207 Vgl. Stuhlmacher, Biblische Theologie I, 4–8 und Gese, Erwägungen zur Einheit der Biblischen Theologie, 14. 208 Besonders pointiert Gese, Erwägungen zur Einheit, 16f: „Ein christlicher Theologe darf den masoretischen Kanon niemals gutheißen.“ 209 Vgl. Childs, Biblical Theology, 59–63. 210 Vgl. Stuhlmacher, Biblische Theologie I, 8f; Ders., Biblische Theologie II, 292f (kritische Auseinandersetzung mit Childs); Ders., Der Kanon und seine Auslegung, 171f und 175–177, sowie Ders., „Aus Glauben zu Glauben“, 217f. Vgl. auch Gese, Das biblische Schriftverständnis, 11f. 211 Der formale Charakter dieses Kanonbegriffs wird z.B. deutlich in der Formulierung des sich hier an Gese orientierenden Bernd Janowski: „[…] der Kanon [ist] der formale Rahmen dieser Einheit [der zweigeteilten Schrift].“ (Ders., Der eine Gott der beiden Testamente, 17). Bei Gese, Erwägungen zur Einheit, 12f wird dies daran deutlich, dass er explizit von dem kanongeschichtlichen Verhältnis von AT und NT ausgeht, um so die Frage nach deren inhaltlichem Verhältnis zunächst offen zu lassen. Vgl. auch die Kritik an dem Formalismus von Geses Kanonbegriff bei Oeming, Gesamtbiblische Theologien, 113f.

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Alten und Neuen Testaments.212 Hinzu kommt, dass das Alte Testament, bzw. der Traditionsprozess in dem es geformt wurde, einen doppelten Ausgang hat. Bernd Janowski betont mit dieser von Klaus Koch geprägten Formulierung213 zu Recht, dass die Bücher des Alten Testaments zum einen im Zusammenhang mit dem christlichen Neuen Testament gelesen werden, zum anderen aber auch vom rabbinischen Judentum im Kontext von Mischna und Talmud.214 Ein Altes Testament gibt es nur als christliches und nicht als jüdisches Buch.215 Der alttestamentliche Traditionsprozess verschränkt sich also nicht notwendigerweise mit dem neutestamentlichen Traditionsprozess zu einer Einheit, sondern diese Einheit des den einheitlichen Kanon hervorbringenden Traditionsprozesses muss selber erst in ihrem Grund erfragt werden. Die Begründung der Einheit des Kanons verschiebt sich also gegenüber dem Ansatz von Childs auf die Frage nach dem Grund des Zusammenhangs eines Traditionsprozesses. Die Problematik der Abgrenzung des Traditionsprozesses wird von Janowski erkannt und führt bei ihm zu einer Annäherung an die Position von Childs, indem er die Rede von der „kanonischen Kontinuität“ der von der traditionsgeschichtlichen Einheit vorzieht.216 Ähnlich wie Childs sieht er die Einheit der beiden Testamente in ihrem Bezug auf den einen Gott begründet.217 Dass dies notwendigerweise in eine dogmatische Fragestellung führt, wurde bereits erörtert. Wenn die Einheit des biblischen Kanons bei Janowski durch die den Kanon lesende Gemeinschaft (Israel oder die Kirche) begründet wird,218 so zeigt dies noch einmal, wie das Defizit einer dogmatischen Begründung des Kanons durch eine ekklesiologische Konstruktion kompensiert wird.

Stuhlmacher verweist ähnlich wie Janowski gerade in diesem Kontext immer wieder auf die kirchliche Gemeinschaft, die diesen Prozess der Kanonisierung zu einem Abschluss gebracht hat, indem sie den Kanon aus Altem (Septuaginta) und Neuem Testament formierte.219 Dabei betont Stuhlmacher allerdings auch, dass die „Kirche von Anfang an in dem Bewusstsein gelebt [hat], sich dem Wort der Schrift als Wort Gottes zu verdanken.“220 Die Schrift, das ist hier das Thema, soll nicht einer kirchlichen Entscheidung 212 Die Problematik der historischen Einheit des Kanons wird in der Kritik Oemings (Ders., Gesamtbiblische Theologien, 115f), der ganz aus der Tradition der historischen Kritik herkommt, sehr deutlich: Ihm ist die Einheit des Kanons eine historisch nicht haltbare Behauptung. Damit ist über die Behauptung der historischen Einheit zwar noch nicht entschieden, aber sie wird in ihrer historischen Strittigkeit deutlich. 213 Vgl. Koch, Der doppelte Ausgang. 214 Vgl. Janowski, Der eine Gott, 12–17. So auch schon Mildenberger, Gottes Tat im Wort, 75. Auch Oeming, Gesamtbiblische Theologien, 113 wendet dies kritisch gegen Gese ein. 215 Vgl. Gese, Erwägungen zur Einheit, 17 und Janowski, Der eine Gott, 4. 216 Vgl. Janowski, Der eine Gott, 13. 217 Vgl. aaO., 15. 218 Vgl. aaO., 35. 219 Vgl. z.B. Stuhlmacher, Biblische Theologie I, 2f. 220 Stuhlmacher, Biblische Theologie II, 303.

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untergeordnet werden. Mehrfach setzt Stuhlmacher sich diesbezüglich mit der katholischen Lehrauffassung kritisch auseinander und betont das reformatorische sola Scriptura.221 Bereits oben222 stellten wir fest, dass die an dieser Stelle weiterführende Frage diejenige nach dem Grund der kirchlichen Entscheidung für den Kanon der biblischen Schriften ist. In der Bearbeitung dieser Frage nach dem theologischen Begründungszusammenhang muss sich zeigen, inwiefern die Kirche den biblischen Kanon auch von Gott empfangen hat. Stellt man diese Frage an die Texte Stuhlmachers, so stößt man auf ein Argument, das letztlich wieder zu unserer Ausgangsfrage zurückführt: Der kanonische Prozess führt die Externität des Kanons gegenüber der Kirche vor Augen.223 Das aber heißt, dass auf der einen Seite die Einheit des Traditionsprozesses, der den Kanon hervorbringt, durch die Rezeption der Kirche begründet wird, andererseits der Traditionsprozess dieser Entscheidung der Kirche vor- und übergeordnet wird, weil die Schrift sonst der kirchlichen Auslegung unterzuordnen wäre. Auf der anderen Seite stößt man, danach fragend, wieso der kanonische Prozess auf die kanonischen Texte zu beschränken ist, auf die Rede von der Mitte der Schrift.224 Im Blick auf die Entscheidung der Alten Kirche referiert Stuhlmacher daher immer wieder darauf, dass die Kirche im Schriftenkanon ihren kanw\n th~j aÙ>lhcei/aj wieder fand. Dieser Kanon der Wahrheit fungierte nach Stuhlmacher als hermeneutischer Schlüssel. Von den Reformatoren wurde dieser dann auf die Soteriologie hin zugespitzt.225 c) Die Mitte der Schrift und das Neue Testament Um die kanonische Integrität des Neuen Testaments sicherzustellen, argumentiert Stuhlmacher also für eine sachliche Einheit des Neuen Testaments, das heißt für eine Mitte, von der her die neutestamentlichen Texte zu lesen sind. Diese Mitte des Neuen Testaments ist für ihn zugleich die Mitte der Bibel aus Altem und Neuem Testament insgesamt.226 Altes und Neues Tes221 Vgl. z.B. Stuhlmacher, Biblische Theologie II, 315f, vgl. auch Ders., Vom Verstehen des Neuen Testaments, 19f und 26f. 222 Vgl. Abschnitt 1.3. 223 Vgl. Stuhlmacher, Der Kanon und seine Auslegung, 178. 224 Vgl. Stuhlmacher, Biblische Theologie I, 34: „Umgekehrt muss die Theologie des Neuen Testaments auch verständlich machen können, warum gerade die 27 neutestamentlichen Bücher zum zweiten Teil des Kanons zusammengefaßt werden konnten, in dem die Alte Kirche ihre eigene ‚regula fidei‘ bezeugt fand. Neben die Nachzeichnung der Vielschichtigkeit des neutestamentlichen Zeugnisses muß deshalb auch der Aufweis von theologischen Einheitslinien im Kerygma treten“. 225 Vgl. Stuhlmacher, Biblische Theologie II, 313. 226 Vgl. Stuhlmacher, Biblische Theologie II, 307: „Die Frage nach der Mitte der christlichen Bibel ist abschließend erst vom Neuen Testament her zu beantworten, weil erst hier das Ziel der Offenbarung(sgeschichte) erreicht und von der Erscheinung des Logos im Fleisch die Rede ist.“

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tament verhalten sich zueinander also asymmetrisch. So kann Hartmut Gese Gerhard von Rad darin folgen, dass das Alte Testament keine klar zu bestimmende Mitte habe,227 denn die Mitte des biblischen Kanons und damit auch das Zentrum des Alten Testaments, insofern es im Kontext dieses Kanons gelesen wird, ist die Mitte des Neuen Testaments. Letztlich ist die Einheit des christlichen, biblischen Kanons darin gegeben, dass das Neue Testament das Alte enthält, ohne es ersetzen zu können.228 Die Mitte des Neuen Testaments liegt nach Stuhlmacher offen zu Tage, wenn auf die „Zentralsätze in den Schriften des Neuen Testaments“229 geachtet wird. Diese Mitte ist nun allerdings nicht so leicht auf einen Punkt zu bringen und Stuhlmacher nimmt einen längeren Anlauf, um sie schließlich in drei längeren Sätzen zu formulieren.230 Zentraler Begriff zur Formulierung dieser Mitte des Neuen Testaments und damit des biblischen Kanons ist der Begriff der „Versöhnung“231 mit dem die „soteriologische Mitte der Schrift markiert“ wird.232 Zugleich gilt aber, dass die Mitte der Schrift nicht in Sätzen zusammengefasst werden kann, „sie geht nicht in Satzwahrheiten auf“.233 Es bedarf hier sowohl der Zusammenarbeit mit der Dogmatik als auch des kirchlichen Kontexts der Schriftauslegung. Dementsprechend fordert er auch eine Modifizierung der streng historisch-kritischen Bibelexegese zugunsten einer Hermeneutik des Vertrauens zu den biblischen Texten, die die Texte der Kirche sind. Das heißt für Stuhlmacher zugleich, die kirchliche Auslegungstradition, ihre Wirkung im kirchlichen Kontext der Gegenwart und die dogmatische Reflexion auf diese Texte ernst zu nehmen.234 Die Grenzen einer historisch ansetzenden biblischen Theologie sieht Stuhlmacher also deutlich. Wenn er allerdings die Abgrenzung der Exegese von der Dogmatik dadurch begründet, dass die neutestamentlichen Texte einen geschichtlichen und qualitativen Vorsprung haben,235 dann klingt dies doch wieder danach, als ob die Exegese die Rolle übernehme, die kritische Externität der Schrift gegenüber der Dogmatik zu verteidi227 Vgl. Gese, Das biblische Schriftverständnis, 29. Auch hier setzt Janowski, Der eine Gott, 27–29, 31–33 einen Gegenakzent. 228 So formuliert sehr treffend Gese, Erwägungen zur Einheit der Biblischen Theologie, 30. 229 Stuhlmacher, Biblische Theologie II, 308. Stuhlmacher geht hier also ähnlich vor wie Kümmel, auf den er sich aaO., 317 auch bezieht. 230 Vgl. Stuhlmacher, Biblische Theologie II, 320f. und Ders., Erfahrungen mit der Biblischen Theologie, 18. 231 Vgl. Stuhlmacher, Biblische Theologie II, 309f. 232 Stuhlmacher, Biblische Theologie I, 33. 233 Stuhlmacher, Biblische Theologie II, 321. Vgl. auch Ders., Erfahrungen mit der Biblischen Theologie, 18: „Im Zentrum der christlichen Bibel steht die Person des lebendigen Christus.“ 234 Vgl. Stuhlmacher, Biblische Theologie I, 3f, 34 und Ders., Vom ,richtigen‘ Umgang mit der Bibel, 240. 235 Vgl. Stuhlmacher, Biblische Theologie I, 12.

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gen.236 Kritisch zu fragen ist hier, ob die exegetische Begründung der Mitte der Schrift stichhaltig ist und ob sie im Blick auf das Problem der Konstitution der Einheit des Kanons weiterführt. Das Hauptproblem liegt hier darin, dass ein formaler Kanon, innerhalb dessen eine Mitte gesucht wird, ja schon vorausgesetzt ist. Von daher kann eine Mitte der Schrift die Einheit dieses Kanons nur ex post begründen, gesetzt den Fall, die Zusammenstellung der biblischen Schriften als Kanon war sachlich berechtigt. Wenn diese Mitte zudem nicht in Satzwahrheiten aufgeht, sich die Schrift mit ihrer Mitte überhaupt erst durch das Wirken des Geistes237 als die Person Christi erschließt, so kann man darüber hinaus anfragen, ob sich eine Exegese, die sich im Modus objektivierender Aussagen bewegt, überhaupt diese Mitte in den Blick nehmen kann. Auf welche Weise wird diese Mitte der Schrift im Lesen derselben verstanden?238

d) Offenbarungsgeschichte und Traditionsgeschichte Das Konzept einer Offenbarungsgeschichte, die das Alte und Neue Testament zusammenhalte, ist Geses Alternative zu einer Rede von der Mitte des Alten Testaments. Offenbarungsgeschichte ist die Geschichte Gottes mit seinem Volk, seiner schrittweisen Offenbarung in unterschiedlichen geschichtlichen Situationen. Dabei wird das Vergangene nicht einfach durch das Neue ersetzt, sondern „[d]ie alte Wahrheit ist keine vergangene Wahrheit, sondern ist weiter präsent.“239 Die so definierte Offenbarungsgeschichte ist historischer Erforschung nur sehr bedingt zugänglich, nämlich nur im Reflex der Tradition, die aus diesen Offenbarungen Gottes hervorgeht.240 So verschränken sich nach Gese Offenbarungs- und Traditionsgeschichte miteinander241 und „die Darstellung einer Theologie des Alten Testaments ist die Darstellung der Traditionsbildung.“242 Beide sind nicht auf das Alte Testament beschränkt, sondern finden ihren Abschluss erst im Neuen Testament, in der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Die Offenbarungsgeschichte begründet so den theologischen Zusammenhang von Altem und

236 In diese Richtung weist auch die Rede vom Exegeten als „Anwalt der Texte“ (Stuhlmacher, „Aus Glauben zu Glauben“, 229). 237 Vgl. z.B. Stuhlmacher, Vom ,richtigen‘ Umgang, 239f. 238 Ich sehe einmal ganz davon ab, dass es für die historisch arbeitende Exegese natürlich immer strittig ist, ob sich alle biblischen oder auch nur alle neutestamentlichen Texte so auf ein Thema hin lesen lassen, ohne in ihrem Sinn verfälscht zu werden. Vgl. dazu die Kritik von Oeming, Gesamtbiblische Theologien, 124f an Stuhlmacher. 239 Vgl. Gese, Das biblische Schriftverständnis, 17. 240 Vgl. aaO., 29. 241 Vgl. Gese, Erwägungen zur Einheit der Biblischen Theologie, 23. 242 AaO., 19.

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Neuem Testament.243 Daher ist das „Neue Testament mehr als ein Bruch mit dem Alten Testament, es ist seine Vollendung.“244 Weil sich Altes und Neues Testament traditions- und offenbarungsgeschichtlich so verschränken, gilt: „Das Neue Testament an sich ist unverständlich“, denn es setzt die vorhergehende Offenbarungsgeschichte Gottes voraus und wird so erst von dieser her verständlich; „Das Alte Testament an sich ist missverständlich“, denn es muss nicht so gelesen werden, dass es auf das Neue Testament hinführt245 – die andere Lektüre des hebräischen Kanons durch das Judentum erinnert die Kirche daran beständig. Für eine Theologie des Neuen Testaments heißt dies: „Die Theologie des Neuen Testaments ist als eine vom Alten Testament herkommende und zu ihm hin offene Biblische Theologie des Neuen Testaments zu entwerfen“.246

e) Die Durchführung der Auslegung und das Verhältnis zur Dogmatik Weil Altes und Neues Testament als Teil eines kontinuierlichen Traditionsprozesses gesehen werden, spielt der Bezug der neutestamentlichen Texte auf die alttestamentlichen Vorstellungen eine besonders große Rolle.247 Dabei geht es aber nicht nur um die Aufnahme alttestamentlicher Traditionen in neutestamentlichen Texten und um die innerneutestamentlichen Auslegungsmethoden im Blick auf das AT,248 es geht darum, aufzuzeigen, dass das Neue Testament in seiner gesamten Sprach- und Vorstellungswelt in der alttestamentlichen Tradition gründet.249 Auch wenn die Auslegung letztlich auf die „kanonische Endgestalt“250 des Textes zielt, muss sie daher den „fortschreitende[n] Weg der Entfaltung der Offenbarung Gottes in Christus festhalten.“251 Dafür ist die historisch-kritische Auslegung mit ihrer traditionsgeschichtlichen Rückfrage hinter den Text ein unentbehrliches Instrument. Über die Möglichkeiten solcher historisch-kritischer Auslegung

243 Gese, Das biblische Schriftverständnis, 23. 244 Gese, Erwägungen zur Einheit der biblischen Theologie, 16. 245 Zitate nach Gese (aaO., 30). Janowski, Der eine Gott, 12f, Anm. 57 präzisiert Gese an dieser Stelle zu recht: Es geht nicht um ein Missverstehen des Alten Testaments, sondern um unterschiedliche Rezeptionen desselben (s.o. Exkurs, 59f). 246 Stuhlmacher, Biblische Theologie I, 5 (dort kursiv). Für die Interpretation des AT folgt daraus, dass nur der offenbarungsgeschichtliche Schriftsinn den ganzen Schriftsinn erschließt (vgl. Gese, Das biblische Schriftverständnis, 29). 247 Vgl. z.B. Stuhlmacher, Biblische Theologie I, 5 und Ders., Erfahrungen mit der Biblischen Theologie, 5f. 248 Dieser Aspekt spielt hingegen für die Biblische Theologie Hans Hübners eine besonders große Rolle. Vgl. Ders., Vetus Testamentum und Vetus Testamentum in Novo receptum. 249 Vgl. Stuhlmacher, Biblische Theologie II, 294. 250 AaO., 325. 251 Stuhlmacher, Biblische Theologie I, 24.

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hinaus aber führt die Frage nach dem Wahrheitsanspruch der Texte.252 Daher muss die historisch-kritische Methode in den Kontext einer spirituellen Schriftlektüre eingebettet werden.253 Würde eine solche Biblische Theologie, die jeweils die Stellung der Einzeltexte zur Mitte der Schrift zu bedenken hätte, durchgeführt,254 so würde damit die Grenze zur Dogmatik überschritten.255 Dies aber will Stuhlmacher vermeiden, schlicht aus Gründen der Arbeitsökonomie und der Qualitätssicherung: Die dogmatische Reflexion soll nicht dilettantisch und nebenbei geschehen, sondern den Fachleuten überlassen werden.256 So hält sich seine Biblische Theologie bewusst vor allem bei der historischen Rekonstruktion auf und markiert das Programm einer gesamtbiblischen Theologie als eine Aufgabe, die es erst noch einzulösen gilt. Die historische Rekonstruktion ist aber für den Weg dorthin unabdingbar.257 f) Fazit Es ist nicht ganz einfach zu entflechten, welche Funktion die verschiedenen Aspekte in Stuhlmachers hermeneutischem Ansatz im Blick auf die theologische Begründung desselben jeweils übernehmen. Insbesondere ist es schwer zu durchschauen, wie sich Externität der Schrift und Einheit des Kanons zueinander verhalten. Die Einheit des Kanons wird begründet aus der Einheit der Tradition, in der die kanonischen Texte entstanden sind. Aus welchem Grund aber wird der Traditionsprozess so abgegrenzt, dass wir am Ende genau unseren biblischen Kanon haben – gerade angesichts der Tatsache, dass uns der jüdische Kanon als mögliche Alternative der Abgrenzung des Traditionsprozesses vor Augen steht? Hier scheint Stuhlmacher auf die Entscheidung der Kirche zu verweisen und damit die Externität der biblischen Texte zu unterlaufen. Die kritische Externität des biblischen Textes soll nun dadurch gesichert werden, dass eine Hermeneutik entworfen wird, die ganz vom biblischen Text herkommt, diesen sagen lässt, was er sagt. Dabei ist aber der biblische 252 Vgl. Stuhlmacher, Biblische Theologie II, 325f. 253 Vgl. Stuhlmacher, Der Kanon und seine Auslegung, 178 (dort kursiv): „Das Wunder der Selbsterschließung Gottes durch die Texte ist dem modernen Verstehensproblem vor- und übergeordnet. Es hat deshalb auch die theologische Art und Weise zu bestimmen, in der die Texte der Schrift auszulegen sind.“ In „Aus Glauben zu Glauben“, 230f ordnet Stuhlmacher die historischkritische Rekonstruktion in das Schema von oratio, meditatio, tentatio ein, und zwar als Teil der meditatio des Textes. 254 Vgl. Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments, 248–250 (Der Abschnitt „Interpretation auf der Ebene des Biblischen Kanons“). 255 Vgl. Stuhlmacher, Biblische Theologie II, 334. Vgl. auch aaO., Bd. I, 12. 256 Vgl. Stuhlmacher, Biblische Theologie II, 287, 305. 257 Vgl. Stuhlmacher, Biblische Theologie I, 30.

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Text schon als kanonischer im Blick, und das heißt dann ja als kirchlich konstituierte Einheit. Hier hilft es auch nicht weiter, dass Stuhlmacher diese kirchlich konstituierte Einheit des Kanons wieder zurückbindet an eine Mitte der Schrift, die regula fidei, die die Alte Kirche im biblischen Kanon bezeugt fand. Denn die Frage nach der Mitte der Schrift setzt doch immer schon einen wenigstens formalen Kanon voraus, nach dessen Mitte gesucht wird. Die (exegetisch begründete) Inspirationslehre Stuhlmachers, die die Autorität der biblischen Texte begründen soll, steht insgesamt recht zusammenhangslos in diesem Argumentationskontext, so dass der Eindruck entstehen kann, die argumentativ letztlich nicht konsistent begründete, kritische Externität der Schrift solle durch eine exegetisch am Text ausgewiesene Inspirationslehre abgesichert werden. Die Stichhaltigkeit der exegetischen Argumentation kann mit guten Gründen in Frage gestellt werden. Die Texte in 2Tim 3,16 und 2Petr 1,16–21 mögen ja durchaus bestimmte biblische Texte im Blick haben, die als inspiriert gelten. Dass dies aber auf alle Schriften des biblischen, gerade auch des zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Schriften noch im Entstehen begriffenen neutestamentlichen Kanons gilt, ist mehr als fraglich.258 Auch hier stellt sich wieder das Problem der Abgrenzung: Warum gerade diese 27 neutestamentlichen Schriften und warum nicht zum Beispiel auch die Ignatiusbriefe als von Gott inspiriert betrachten?

Nach einem Grund der Autorität der Heiligen Schrift bräuchte angesichts der Inspiration dann nicht weiter gefragt zu werden.259 Da die Wirksamkeit des Geistes unverfügbar ist, könne man aus der Inspiration der biblischen Texte auch keine Konsequenzen für die Auslegung ziehen.260 So sehr der Inspiration der biblischen Texte also die Notwendigkeit zu einer Einbettung der historisch-kritischen Exegese in den Kontext einer spirituellen Schriftauslegung entspricht, so wenig kann diese spirituelle Auslegung ein methodisch zu bearbeitendes Problem der Theologie sein, insofern sie der unverfügbaren Wirksamkeit des Geistes entspricht. Damit besteht freilich die Gefahr, dass sie zu einer Sache der bloßen Willkür oder der kirchlichen Bevormundung wird. So kommt es auch hier zu einer Verdopplung des Verstehensbegriffs: Neben dem objektiven, historischen Verstehen steht das subjektive, geistliche Verstehen der Texte, das hier leicht im Sinne einer nicht mehr hinterfragbaren persönlichen Aneignung der Texte verstanden werden kann. 258 Vgl. Barr, Holy Scripture, 21. 259 In diese Richtung weist die Interpretation der Inspiration als einem Vorbehalt gegenüber methodischer Konsequenz einer Hermeneutik (vgl. Stuhlmacher, „Aus Glauben zu Glauben“, 221). 260 Vgl. Stuhlmacher, Vom ,richtigen‘ Umgang mit der Bibel, 240.

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Letztlich ist Childs mit seinem Programm biblischer Theologie darin weiter, dass er explizit nach einer theologischen Begründung des biblischen Kanons fragt, auch wenn er eine solche nicht wirklich liefert. Die Frage nach einer theologischen Begründung wird bei Stuhlmacher auf der einen Seite historisch unterlaufen (durch den Bezug auf die Traditionsgeschichte), auf der anderen Seite durch eine problematische Inspirationslehre, der eine subjektivistische Rede vom geistlichen Verstehen korrespondiert, blockiert. So hat eine dogmatische Reflexion gerade an diesem Punkt anzusetzen: Die Pneumatologie der Inspirationslehre ist zu explizieren im Blick auf das Verhältnis von Geist Gottes und menschlichem Verstehen. Hier ist der Dialog zwischen Exegese und Dogmatik, wie ihn Stuhlmacher explizit wünscht,261 eine drängende Notwendigkeit, wenn die Diskussion um eine gesamtbiblische Theologie weiterkommen soll. Positiv gegenüber dem Entwurf von Childs ist hier zu würdigen, dass der geschichtliche Charakter der biblischen Texte und des göttlichen Wortes stärker in den Blick tritt als bei Childs. Dies hängt natürlich auch mit dem traditionsgeschichtlichen Konzept des Tübinger Modells zusammen. Bei Childs geht dieser Aspekt trotz aller Betonung der Bedeutung der Textgeschichte letztlich unter.262 Die Gefahr einer statischen Erstarrung der biblischen Theologie, die erst recht für eine dogmatische Lehre von der Konstitution des biblischen Kanons droht, liegt auch im Blickfeld des dogmatischen Entwurfs von Friedrich Mildenberger. 2.3 Biblische Theologie in dogmatischer Perspektive (Friedrich Mildenberger) Friedrich Mildenberger a) Historie und Gottesgeschichte Das Motiv der Geschichte Gottes mit dem Menschen bestimmt Mildenbergers dogmatisches Denken bereits in seiner Habilitationsschrift Gottes Tat im Wort.263 Bereits hier setzt er sich auch mit den Problemen einer bloßen historischen Annäherung an diese Geschichte Gottes – am Beispiel der Geschichte Israels und des Alten Testaments – auseinander. Die Gottesgeschichte zeitigt zwar auch Ereignisse, die historischer Rekonstruktion zugänglich sind, doch diese kann sie gerade nicht in ihrer theologischen Tiefe als Handeln Gottes erfassen. Zu dieser Geschichte gehört unabding-

261 Vgl. z.B. Stuhlmacher, Der Kanon und seine Auslegung, 184. 262 Auf dieses Problem bei Childs macht z.B. Jeremias, Neuere Entwürfe zu einer „Theologie des Alten Testaments“, 38 aufmerksam. 263 F. Mildenberger, Gottes Tat im Wort. Erwägungen zur alttestamentlichen Hermeneutik als Frage nach der Einheit der beiden Testamente, Gütersloh 1964.

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bar auch das worthafte Bekenntnis, die Verkündigung des Handelns Gottes in der Geschichte mit seinem Volk Israel.264 Doch geht diese Geschichte ebenso wenig in der Verkündigung auf, wie sie im bloßen brutum factum historisch rekonstruierter Geschichte aufgeht. Daher sind beide Aspekte zu beachten: Weder kann der historische Vorentwurf von Wirklichkeit, der der historischen Exegese zu Grunde liegt, mit der Wirklichkeit überhaupt identifiziert werden,265 noch darf man die historische Rekonstruktion einfach ignorieren. Um die alttestamentlichen Texte in ihrer Eigenart zu erfassen, muss man von dem formalen, linearen Zeitbegriff, wie er in der historischen Forschung vorausgesetzt ist, absehen. Zeit ist im Alten Testament erfüllte Zeit,266 sie ist immer „Zeit zu …“ (danken, loben, feiern etc.) oder „Zeit des …“ (Feierns, Trauerns, Kämpfens etc.), nie bloß formaler, vom inhaltlichen Geschehen abstrahierter Prozess. Daher gibt es keine kontinuierliche Erstreckung der Zeit vom Anfang bis in die Gegenwart, sondern der Anfang wird in der Verkündigung vergegenwärtig, Gottes Handeln ist im Wort gegenwärtig.267 Dabei wird die Zeit der Verkündigung durch die verkündigte Zeit als Zeit der Gegenwart Gottes qualifiziert.268 Das aber heißt, dass beide Zeiten, die Gegenwart der Verkündigung und die verkündigte Zeit, in der Auslegung von Bedeutung sind.269 Von diesen Überlegungen her fragt Mildenberger dann nach der Einheit der Gottesgeschichte, wie sie im Alten und Neuen Testament verkündigt wird. Dass der Gott des Alten Testaments der Vater Jesu Christi sei, ist eben nicht selbstverständliche Voraussetzung, sondern es muss erst einmal begründet werden270 – gerade auch angesichts der Tatsache, dass das Judentum das Alte Testament nicht als Hinführung auf das Neue Testament liest.271 Vom Text des Alten Testaments ausgehend wird sich die Kontinuität der Gottesgeschichte also nicht erweisen lassen, sie „muss sich vielmehr in der die Gewissen treffenden Verkündigung bewähren.“272 Das heißt, die Einheit der Gottesgeschichte und damit auch die Einheit der biblischen Schriften erweist sich nur in der Zeit der Verkündigung; darin, dass sie in 264 Vgl. aaO., 28f. 265 Vgl. aaO., 30f. 266 Vgl. aaO., 32. 267 Vgl. aaO., 48 und 79: Die „Ereignisse, an welche Gott seinen Heilswillen gebunden hat, begegnen grundsätzlich nicht als bruta facta, sondern werden in der Eindeutigkeit der Verkündigung vergegenwärtigt.“ 268 Vgl. aaO., 79f. 269 Die Aussage „Eine Perikope wird nur dann für uns Text, wenn wir sie in ihrer Intention erfassen.“ (aaO., 83) legt den Akzent deutlich auf die verkündigte Zeit. 270 Vgl. aaO., 69. 271 Vgl. aaO., 75. 272 AaO., 78.

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der Verkündigung der gegenwärtigen Zeit einheitlich gegenübersteht und diese in die Verkündigung hineinzieht.273 Das Verstehen des biblischen Textes in seiner Einheit wird hier also nicht einfach als aktive Aneignung, sondern vielmehr noch als Widerfahrnis erfasst. Mildenberger verweist darauf, dass das Alte Testament von Anfang an in einer bestimmten Auslegung von der Kirche rezipiert wurde und in pneumatischer Weise ausgelegt wurde.274 Pneumatisch auslegen, das heißt hier nun gerade nicht willkürliche, spiritualistische Aneignung des Textes, sondern es heißt den Text des Alten Testaments im Kontext des kirchlichen Lebens zu verstehen. Dabei darf nun aber nicht eine pneumatische Intention des Textes, die selber wiederum nur unter Beistand des Heiligen Geistes verständlich wird, von der Sprecherintention abgelöst werden, sondern der pneumatische Sinn der Texte muss ihr Literalsinn sein, wenn die Differenz zwischen Wort und Ausleger nicht verwischt werden soll.275 Daher gilt es immer auch nach dem Sprecher des Textes und nach seiner Situation zu fragen und die Geschichte des Textes zu erforschen. Die kanonische Endgestalt der Texte hat also keinen Vorrang gegenüber früheren Entwicklungsstufen des Textes.276 Gleichwohl sind alle Texte in ihrem Bezug auf die eine Gottesgeschichte hin zu lesen, von der die Texte Zeugnis ablegen.277 Durch die Mitteilung dieser Gottesgeschichte im Text gewinnt auch die Zeit der Verkündigung, unsere Gegenwart, eine neue Qualität.278 Der Literalsinn, der in der pneumatologischen Auslegung interpretiert werden soll, wird von daher nicht in der historischen Auslegung erfasst, so sehr diese ein wichtiger Teil des Auslegungsprozesses ist. Wäre dies der Fall, so wäre es überflüssig den Einzeltext noch auf die Gottesgeschichte zu beziehen und damit würde die Gottesgeschichte doch wieder auf das brutum factum der Historie reduziert.279 Damit zielt Mildenbergers Hermeneutik darauf eine Verdopplung des Verstehensbegriffes zu vermeiden. Von diesem Ausgangspunkt aus wird bereits deutlich, dass sich Mildenbergers dogmatische Annäherung an das Thema einer Biblischen Theologie280 einen Weg sucht, der jenseits der vorgestellten Alternativen von Childs und der Tübinger Schule liegt. Umfassend hat Mildenberger diesen

273 Vgl. aaO., 113f. 274 Vgl. aaO., 95f. 275 Vgl. aaO., 98f. 276 Vgl. aaO., 101. 277 Vgl. aaO., 107. 278 Vgl. aaO., 106. 279 Vgl. aaO., 115. 280 Als Beitrag zu diesem Diskussionshorizont ist die Habilitationsschrift bereits deutlich gekennzeichnet. Vgl. aaO., 11–14, wo Mildenberger sich auch kritisch mit den hier besprochenen Texten von Ebeling beschäftigt.

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Ansatz in seiner dreibändigen Biblischen Dogmatik ausgearbeitet,281 auf die ich mich im Folgenden vor allem beziehe. Dabei geht es mir wiederum darum, einzelne Aspekte im Blick auf die Problemstellung herauszuarbeiten. Eine umfassende Interpretation des Werkes von Mildenberger kann hier nicht geleistet werden.282 b) Die einfache Gottesrede und die Einheit der Schrift Grundlegend für Mildenbergers Biblische Dogmatik ist die Unterscheidung der wissenschaftlichen Theologie von der einfachen Gottesrede. Mit „einfacher Gottesrede“ bezeichnet Mildenberger die Rede der Gläubigen – ihre Rede über, mit und zu Gott, die sich in unterschiedlichen Redeformen vollzieht. Als Beispiele nennt Mildenberger „Bekennen, Bezeugen, Bitten, Danken, Trösten, Ermahnen, Zurechtweisen, Belehren“.283 Theologie partizipiert nicht einfach an dieser Glaubensrede, sondern begleitet sie kritisch,284 reflektiert auf die dieser Sprachbewegung innewohnende Dynamik. Diese Unterscheidung von Theologie und einfacher Gottesrede ist bereits hermeneutisch begründet und schon in „Gottes Tat im Wort“ angelegt. Die Wirkmächtigkeit der Verkündigung, von der dort die Rede war, resultiert ja nicht unmittelbar in Theologie, sondern sie resultiert im Glauben und in der Rede des Glaubens, die sich eben aus dem wirkmächtigen Wort der Verkündigung nährt. In der Biblischen Dogmatik wird diese Unterscheidung in dem Abschnitt begründet, in dem Mildenberger der Frage nachgeht, wie die Bibel als eine Einheit gelesen werden kann.285 Diese Frage ergibt sich erst dadurch, dass die Einheit der Schrift durch die historische Erforschung der biblischen Texte fraglich geworden ist.286 Mildenberger unterscheidet drei Möglichkeiten, die Einheit der Schrift zu begründen: durch ihre Entstehung, durch ihren Inhalt oder durch ihre Wirksamkeit.287 Die traditionelle Begründung der Einheit der Schrift durch die Inspirationslehre geht zunächst von der Entstehung der Schriften aus. Wo diese im Lichte historischer Forschung fraglich geworden ist, rückt die Frage nach der Einheit des geschichtlichen Entstehungszusammenhangs ins Zentrum, wie wir es bereits 281 F. Mildenberger, Biblische Dogmatik. Eine biblische Theologie in dogmatischer Perspektive, Bd. 1–3. 282 Die Anregungen, die diese Arbeit Mildenbergers Entwurf verdankt, sind zahlreicher als es sich durch Fußnoten oder auch durch ein einzelnes Kapitel dieser Arbeit ausdrücken ließe. 283 Mildenberger, Biblische Dogmatik I, 20. 284 Vgl. aaO., 27 und 114. 285 „4: Die Einheit der Schrift in der einfachen Gottesrede“ (aaO., 91–115). 286 Vgl. Mildenbergers Analyse aaO., 93–98, die grundsätzlich die Überlegungen von „Gottes Tat im Wort“ aufnimmt und mit unserer Darstellung oben Abschnitt 1.1 und 1.2 der Sache nach übereinstimmt. 287 Vgl. aaO., 98.

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im Blick auf die Tübinger Schule gesehen haben.288 Zu Recht weist Mildenberger darauf hin, „daß diese geschichtliche Entwicklung nicht bruchlos in das Kontinuum eingezeichnet werden kann, das als Vorentwurf historischer Gegenständlichkeit der modernen Historie zugrunde liegt.“289 Das was hier als Geschichte rekonstruiert wird, ist durch den Glauben rekonstruierte Geschichte, man könnte auch mit Mildenberger sagen: Es ist die Gottesgeschichte, die jenseits des historisch feststellbaren brutum factum zu suchen ist.290 Die geläufige Methode, die Einheit der Schrift aus ihrem Inhalt zu bestimmen, ist der Verweis auf Christus als die Mitte der Schrift (Luthers „Was Christum treibet“). Mildenberger spricht hier zum einen als Problem an, was auch uns schon begegnete: Wie soll dieser einheitliche Inhalt begründet werden?291 Zum anderen weist er auf ein theologisches Problem hin, dass sich bei dieser traditionellen Bestimmung der Mitte der Schrift ergibt: Sie legt das Gewicht einseitig auf die Ökonomie, und die Fragen der Theologie drohen dadurch an den Rand gedrängt zu werden. Die Begriffe Ökonomie und Theologie seien hier kurz erläutert:292 „Ökonomie“ bezeichnet die Restitution der Wirklichkeit in Gott (Christologie, Soteriologie etc.) und „Theologie“ die Konstitution der Wirklichkeit in Gott (Gotteslehre, Trinitätslehre, Schöpfungslehre, Vorhersehungslehre, Anthropologie etc.). Damit knüpft Mildenberger sehr locker an den altkirchlichen Sprachgebrauch an. Ziel dieser ungewöhnlichen Unterscheidung, die sich im theologischen Diskurs der Gegenwart (noch?) nicht hat durchsetzen können, ist es, bestimmten Aporien in der Diskussion um die Bedeutung einer natürlichen Theologie zu entkommen.293

Wird der Inhalt der Schrift zu sehr auf die Soteriologie beschränkt, dann kann es leicht zu einer dualistischen Denkweise kommen, die die Welt nicht mehr theologisch erfassen kann.294 So bleibt zur Begründung der Schrifteinheit nur der, der lutherischen Tradition nicht unbekannte, Verweis auf die Wirksamkeit der Schrift.295 Diese Wirksamkeit und damit auch die Einheit der Schrift liegt der theologischen Reflexion voraus. Sie hat ihren Ort in der einfachen Gottesrede, in 288 Auch Mildenberger bezieht sich hier auf H. Gese (aaO., 101f). 289 AaO., 103. 290 Vgl. Mildenbergers Beobachtungen zu H. Gese: „Darum kann es aber auch eine andere als eine glaubende Wahrnehmung des Offenbarungsprozesses, wie ihn Gese beschreibt, kaum geben.“ (aaO., 102). Vgl. auch aaO., 156–180 („§ 7: Zeit und Geschichte“), hier besonders 167 zur Dopplung des Geschichtsbegriffs im Gegenüber von Heilsgeschichte und Weltgeschichte. 291 Am Beispiel Stuhlmachers zeigt Mildenberger auf, dass hier ein vermeintlich exegetisches Argument letztlich doch auf die Betroffenheit durch das Christusgeschehen verweist, also auf die Einheit der Schrift durch ihre Wirkung (aaO., 104f). 292 Ausführlicher dazu unten Abschnitt 2.3 c). 293 Vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik I, 230f. 294 Vgl. aaO., 107. 295 Vgl. aaO., 108.

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der die Schrift als ausgelegte und verkündigte Schrift begegnet. Vor dem aktiven, interpretierenden Verstehen der biblischen Texte durch die Theologie steht das widerfahrende Verstehen der Texte in der einfachen Gottesrede. Deutlich ist dabei das Anknüpfen an die früheren Überlegungen zur Wirksamkeit der Gottesgeschichte. Wenn nun in der Biblischen Dogmatik anders als in „Gottes Tat im Wort“ zunächst der biblische Text in den Vordergrund rückt, so soll dies doch nicht um den Preis des Bezugs zur Gottesgeschichte geschehen, sondern „[d]ieses Schriftganze ist gerade in seiner geschichtlichen Dimension zu erfassen.“296 Theologische Hermeneutik beschreibt in kritischer Begleitung, wie dieses Verstehen der Schrift in der einfachen Gottesrede geschieht. Nur dann kann sie überhaupt die Schrift als einheitliche wahrnehmen, nämlich dann, wenn sie sich die Wahrnehmung der Schrift als einer Einheit von ihrer Wirksamkeit in der Glaubensrede vorgeben lässt. Diese Wirksamkeit des Wortes in der einfachen Gottesrede und die Wahrheit dessen muss und kann die Theologie dann gerade nicht erweisen, sondern sie setzt sie mit der einfachen Gottesrede voraus.297 Die Wirksamkeit der Schrift ist in der Tradition in feste traditionelle Formulierungen eingeflossen (Bekenntnisse), auf die sich die Biblische Dogmatik bezieht.298 Von daher ist sie eine Form von kirchlicher Theologie.299 Doch geht die einfache Gottesrede nicht einfach in der kirchlichen Rede auf, sondern sie tritt an einer Vielzahl von Orten auf,300 und Biblische Dogmatik ist kritische Begleitung dieser einfachen Gottesrede,301 lässt sich also in ihrem Verständnis des Schriftganzen nicht einfach von der Tradition vereinnahmen. Biblische Dogmatik, die der Einheit der Schrift in der einfachen Gottesrede nachdenkt, muss sich vielmehr durch das „Schriftganze“ bewähren lassen.302 Drei Aspekte von Mildenbergers Analyse dieser Sprachbewegung der einfachen Gottesrede, die von dem wirksamen Schriftwort ausgeht, sollen hier noch näher betrachtet werden: die trinitarisch strukturierten Zeitbestimmungen des Schriftwortes als Fortführung des Programms einer pneumatischen Schriftauslegung, das Verhältnis von Ökonomie und Theologie und das Verhältnis von Einheit der Schrift und Einheit der Gottesgeschichte.

296 AaO., 109. 297 Vgl. aaO., 113. Vgl. auch aaO., 15. 298 Vgl. aaO., 265–271. 299 Vgl. aaO., 114. 300 Vgl. aaO., 16–18. 301 Vgl. aaO., 114. Hier verweist Mildenberger z.B. darauf, dass Theologie kritisch zu reflektieren hat, ob in der einfachen Gottesrede das Verhältnis von Ökonomie und Theologie richtig expliziert wird. 302 Vgl. aaO., 109.

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c) Die dreifache Zeitbestimmung des Wortes: Dogmatik als Anleitung zum Schriftverstehen Die Unterscheidung zwischen der Zeit der Verkündigung und der verkündigten Zeit bestimmt Mildenberger hier in konsequenter Anknüpfung an den Gedanken einer pneumatologischen Schriftauslegung fort. Die Zeit der Verkündigung kommt nun als pneumatologische Zeitbestimmung in den Blick, als Moment des glaubenden Hörens und Verstehens der Schrift.303 Vorausgesetzt ist dabei der oben eingeführte Zeitbegriff, der Zeit als inhaltlich bestimmte Situation erfasst. Wenn Zeit dabei als das „gerade anstehende Außen“ fortbestimmt wird,304 so steht hier Mildenbergers Schleiermacherinterpretation im Hintergrund, in der Leben als eine Wechselbeziehung zwischen Innen und Außen gedeutet wird.305 Die drei Zeitbestimmungen (pneumatologische, christologische und theologische), die Mildenberger einführt, sind von daher als inhaltliche Konkretionen der Situation des Verstehens der Schrift zu begreifen. Im Vordergrund stehen dabei zunächst die christologische und die pneumatologische Zeitbestimmung. In der christologischen Zeitbestimmung verschränken sich zwei Momente: Der Geist vergegenwärtigt Christus306 und dieser Christus ist ein bestimmter, eine geschichtliche Person, die zu einer bestimmten Zeit lebte und starb („Gekreuzigt unter Pontius Pilatus“).307 Diese Identität und Differenz der Zeiten gilt es wahrzunehmen.308 Die Schrift ist auf Christus hin und von ihm her zu verstehen. Wo dies geschieht, da erweist sie sich als wirksames, Leben schaffendes Wort Gottes im Geist (pneumatologische Zeitbestimmung).309 Dass dies geschieht, ist aber dem, der die Schrift zu verstehen sucht, nicht verfügbar. Die „Zeit des Heiligen Geistes“, das Zusammentreffen von Christuszeugnis der Schrift und Verstehen dieses Zeugnisses als das das Leben heilende Wort,310 ereignet sich von Zeit zu Zeit.311 In diesem Hören wird das Leben in der gegenwärtigen Zeit als von Gott bestimmtes Leben

303 Vgl. aaO., Bd. I, 116: „Es ist das Geschehen, in dem sich der Glaube heilsam auf dieses Christusgeschehen bezieht.“ 304 Vgl. aaO., 19. 305 Vgl. dazu aaO., Bd. II, 33–41, bes. 33: „Leben ist hier aufgefaßt im Beieinander von Innen und Außen, wobei Schleiermacher dieses Leben näher bestimmt als einen Wechsel von Insichbleiben und Aussichheraustreten des Subjekts.“ AaO., Bd. I, 72 weist Mildenberger daraufhin, dass er diesen Lebensbegriff vorläufig übernimmt. Das Verhältnis von Innen und Außen wird insbesondere durch den Begriff von Zeit als dem, was von Außen zukommt, und den Begriff von Welt als Außen für das Ganze der Biblischen Dogmatik grundlegend. 306 Vgl. aaO., Bd. I, 117, 124f. 307 Vgl. aaO., 116. 308 Vgl. Mildenbergers Ausführungen zu Joh 14–16 aaO., 123–129, hier: 125. 309 Vgl. aaO., 127. 310 Vgl. zu dieser Bestimmung der Zeit des Geistes aaO., 127. 311 Vgl. aaO., 134. Man wird hier sicher mithören müssen: ubi et quando visum est Deo (CA V).

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erfahrbar.312 Mit dieser pneumatischen Interpretation des Schriftverstehens reinterpretiert Mildenberger die Inspirationslehre als Lehre von der Inspiration des kommunikativen Vorgangs des Schriftverstehens in der einfachen Gottesrede.313 Verstehen der Schrift ist hier nicht Applikation eines äußeren Textes durch das Innen, das sich in der Welt zurechtzufinden sucht, sondern das Innen des Menschen findet sich im Verstehen durch den Text in einem – pneumatologisch und christologisch – bestimmten Außen wieder. Verstehen stellt sich ein in der Zeit des Geistes, also in der Situation eines bestimmten Außen. Verstehen ist daher nicht ein Vorgang im Innen, sondern etwas, das dem Innen vom Außen her zukommt. Wie dieses Zusammensprechen von christologischer und pneumatologischer Zeitbestimmung dann hermeneutisch geschieht, entfaltet Mildenberger in seiner These von der metaphorischen Prädikation:314 Biblische Texte werden zu Prädikaten für gegenwärtige Situationen. Damit haben sie eine doppelte Referenz. Sie verweisen einmal in die Situation ihrer Entstehung und zum anderen in die Gegenwart des Hörens. Indem uns die biblischen Texte die Sprache geben, unser Leben, die Welt wie sie ist, sprachlich in ihrem Verhältnis zu Gott zu thematisieren, kommt in solchem verkündigenden Sprechen der biblischen Worte Gott selber nahe – dort wo solches Sprechen in der Gegenwart des Geistes gelingt.315 In diesem Sinne bilden dann die biblischen Texte die Sprache der einfachen Gottesrede.316

Mit der christologischen und der pneumatologischen Zeitbestimmung verbleibt das Verstehen der Schrift noch ganz im Horizont der Ökonomie, des Heilshandelns Gottes am Menschen. Doch deutete sich schon an, dass auch die Theologie mit einbezogen werden muss: Im Verstehen der Schrift muss auch deutlich werden, wie die Welt, in der wir leben, in Gott gründet, von ihm geschaffen wurde und bewahrt wird, sonst wird die einfache Gottesrede ortlos im alltäglichen Geschehen. Es geht ja immer um die Frage, wie die gegenwärtige Zeit, und das heißt eben das anstehende Außen, also die Welt, wie sie mir jetzt begegnet, als Zeit zur Sprache kommt, die mir von Gott gegeben ist. Darin erweist sich ja gerade die Wirkmächtigkeit der Schrift. Die Zeit der Verkündigung soll zur Zeit der Gegenwart Gottes werden. Dass dies nur da geschieht, wo diese Zeit Zeit des Geistes ist, beantwortet, wie es zur theologischen Zeitbestimmung kommt, nicht aber, wie diese Zeit durch Gott bestimmt ist. Dieser Zusammenhang von Ökonomie und Theo312 Vgl. aaO., 128. Ganz grundlegend wird dies dann in der Soteriologie in Bd. 2 der Biblischen Dogmatik entfaltet: Hier wird der grundsätzliche Widerfahrnischarakter menschlichen Lebens thematisiert (Bd. 2, 303). So kommt auch der Glauben als Werk des Heiligen Geistes in den Blick (Bd. 2, 327). 313 Vgl. zur Bedeutung der Inspiration aaO., 20–23. 314 Vgl. aaO., 195–201. 315 Vgl. aaO., 219f. 316 Vgl. aaO., 213f.

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logie, von Heilshandeln Gottes und seinem schöpferischen Handeln, wird deutlich in der Rede von der Schöpfungsmittlerschaft Christi in den christologischen Hymnen des Neuen Testaments.317 Hier verschränken sich in der einfachen Gottesrede Ökonomie und Theologie miteinander. Dabei ist die Ökonomie der Ausgangspunkt, von dem her Gott dann auch als der Schöpfer gepriesen wird. Verdeutlicht wird dies am Beispiel des Johannesprologs,318 der mit dem Ziel der Inkarnation (Joh 1,14f), also im Blick auf die Ökonomie, den Logos als Schöpfungsmittler preist. Als Hymnus mit doxologischem Charakter beschreibt er allerdings nicht einfach, was wirklich ist – so dass man argumentieren könnte, das Licht des anfänglichen Logos ermögliche dem Menschsein überhaupt Gott zu erkennen –, sondern als doxologisches Sprechen ermöglicht es eine Beschreibung, deren Erfahrung aussteht. So korrespondiert der theologischen Zeitbestimmung in der einfachen Glaubensrede die eschatologische Hoffnung des Glaubens, die sich von Zeit zu Zeit erfahren lässt, nämlich dort, wo sich Glaube in dem Zusammentreffen von christologischer und pneumatologischer Zeitbestimmung ereignet. Hier wird Gott von Christus her auch als Schöpfer kenntlich und benennbar. Angemerkt sei hier, dass die Biblische Dogmatik mit ihrem Ausgehen von den Zeitbestimmungen des Wortes Gottes her konzentriert ist auf das dialogische Personsein des Menschen. Das Verhältnis von Innen und Außen, das Moment des Verstehens in der Bestimmtheit durch den Heiligen Geist und Jesus Christus, all dies sind Aspekte, die den Bruch und die Kontinuität des Personseins des Menschen im Glauben in den Mittelpunkt rücken.319 Das Verstehen der biblischen Texte kommt hier in seiner die Person neu bestimmenden Funktion in den Blick.320 Der ekklesiologische Horizont der Schriftlektüre ist damit nicht von vornherein ausgeschlossen, wird aber so vor allem als Dialog der Personen in den Blick kommen. Hier zeigt sich deutlich, dass Mildenberger in der Tradition einer subjektorientierten Theologie (namentlich Kant und Schleiermacher) steht, so sehr er sich auch von ihnen abgrenzt. Das Subjekt ist nun bei Mildenberger zwar nicht mehr der Ausgangspunkt allen Denkens, aber die Person des Glaubenden, der Glaubenden als Subjekt steht dennoch im Zentrum der theologischen Reflexion. 317 Vgl. aaO., 130–134. 318 Vgl. zum Folgenden aaO., 133f. 319 Von daher verwundert es dann auch nicht, dass gerade die dialogische Einbindung des Personseins in die Gemeinschaft der Erlösten eine zentrale Frage der Eschatologie bei Mildenberger ist (vgl. aaO., Bd. III, 275–280). 320 Vgl. Mildenbergers Ausführungen zur Bedeutung des Erzählens von Geschichten (stories) für die Zeit des Erzählers (aaO., Bd. I, 173–179). In Anknüpfung an D. Ritschls Story-Konzeption gilt, dass das Sein einer Person im Erzählen explizit wird (D. Ritschl, Zur Logik der Theologie, 45: „Menschen sind das, was sie in ihrer ‚Story‘ über sich sagen (bzw. was ihnen zugesagt wird)“ [zitiert bei Mildenberger, Biblische Dogmatik I, 171]). Von daher können die biblischen Erzählungen helfen das Sein der Person in ihrem Verhältnis zu Gott neu zu erschließen (aaO., 179).

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In der dreifachen Zeitbestimmung des Wortes Gottes ist bereits in nuce eine ganze Dogmatik angelegt oder besser gesagt: Eine Näherbestimmung dieser Zeitbestimmungen ist nur durch einen dogmatischen Entwurf möglich. Wie christologische, pneumatologische und theologische Zeitbestimmung näher und präziser zu fassen sind, das wird letztlich in der Christologie, der Pneumatologie, der speziellen Theologie und den jeweils angrenzenden Themenbereichen verhandelt.321 Dabei sind diese drei Zeitbestimmungen der Versuch deskriptiv zu erfassen, wie sich die einfache Gottesrede auf das Schriftwort bezieht. Von daher ist das Ganze der Biblischen Dogmatik zu verstehen: Sie rekonstruiert kritisch die theologischen Voraussetzungen dessen, wie die biblischen Schriften in der einfachen Gottesrede verstanden werden. Das heißt sie setzt auf der einen Seite voraus, dass die Schrift als einheitliche verstanden wird – sie muss sich durch das Schriftganze bewähren lassen; aber zugleich bringt sie in ihrer Ganzheit erst eine Begründung für diese Einheit der Schrift hervor. Die Einheit der Schrift ist gleichermaßen Voraussetzung wie Ziel der Biblischen Dogmatik.

d) Das Verhältnis von Ökonomie und Theologie Die Entfaltung der Biblischen Dogmatik orientiert sich nun der Struktur nach nicht in erster Linie an den drei Zeitbestimmungen des Wortes Gottes, sondern an der Unterscheidung von Theologie und Ökonomie. Mit dieser Unterscheidung will Mildenberger die Problematik des Verhältnisses von natürlicher Theologie und Offenbarung in einen neuen Horizont rücken.322 Es handelt sich also um das Themenganze der Dogmatik strukturierende Begriffe, die ihre Sinnhaftigkeit vor allem dadurch beweisen, dass sie im Blick auf die Entwicklung der Probleme der Theologie in der Neuzeit eine gewisse analytische Kraft entfalten. In der altprotestantischen Theologie wurde die spezielle Gotteslehre vom metaphysischen Gottesgedanken dominiert, die Ökonomie baute auf diese auf. In dieser Zuordnung von Vernunftwahrheit und Offenbarung waren Ökonomie und Theologie eng verbunden.323 Eine metaphysisch gedachte Normalität wurde durch die biblische Redeweise, die vom Sündersein des Menschen bestimmt ist, auf die Ökonomie hin bezogen. In der Aufklärung 321 Die hier vorgelegte Deutung muss daher defizitär bleiben. Bei einer detaillierteren Interpretation ließen sich sicherlich zahlreiche Bezüge zwischen der hermeneutischen Grundlegung in Bd. 1 und der materialen Dogmatik im 2. und 3. Band aufweisen. Ich kann hier als Beispiel nur auf die Parallele verweisen, die ich schon in Anm. 312 angedeutet habe: Der Widerfahrnischarakter des heilsamen Verstehens der Schrift wird in der Soteriologie pneumatologisch entfaltet und bestimmt dann auch die Anthropologie. 322 Vgl. aaO., Bd. I, 231. Zur Begriffsdefinition s.o., 70f. 323 Vgl. aaO., 231f.

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zerbricht diese Einheit, weil sich die metaphysisch bestimmte Normalität von der Ökonomie löst. Wird die Gotteslehre ganz vom Rationalismus bestimmt, so kann sich Theologie entweder auf die Ökonomie zurückziehen oder selber ganz in diesem Rationalismus aufgehen.324 Von daher stellt sich das Verhältnis von Ökonomie und Theologie als grundlegendes Problem für eine Dogmatik nach der Aufklärung dar. Kann nicht mehr von einer allgemeinen rationalen Theologie ausgegangen werden, so muss die Ökonomie zum Ausgangspunkt werden – das legt sich auch von dem Schwerpunkt der biblischen Texte her nahe –,325 vom dem her dann aber auch die Theologie Thema werden muss, soll die Dogmatik ihr Themengebiet vollständig bearbeiten.326 Das heißt im Blick auf die dreifache Zeitbestimmung des Wortes Gottes, dass zunächst die christologische und die pneumatologische Zeitbestimmung näher zu entfalten sind, um von dort her die theologische Zeitbestimmung zu erfassen. Wurde oben im Blick auf die Rede von der Schöpfungsmittlerschaft Christi bereits deutlich, dass mit diesen Zeitbestimmungen in der einfachen Gottesrede Ökonomie und Theologie immer schon aufeinander bezogen sind, so muss auch die theologische Reflexion dem Rechnung tragen, denn nur so lassen sich die biblischen Texte angemessen verstehen.327 Das heißt, dass nicht zuerst Christologie und Pneumatologie in sich zu entfalten sind und dann die Theologie, sondern die Themen der Ökonomie, die sich in der Christologie und der Pneumatologie verdichten, sind auf die Theologie hin zu entwickeln, um dann von der Theologie aus noch einmal nach der Ökonomie zurück zu fragen.328

e) Das Verhältnis von Einheit der Schrift und Einheit der Gottesgeschichte Mit der Unterscheidung von christologischer und pneumatologischer Zeitbestimmung und mit der metaphorischen Prädikation, in der biblische Texte von gegenwärtigen Situationen prädiziert werden, ist die Vorstellung der Gottesgeschichte, wie sie in „Gottes Tat im Wort“ maßgeblich war, nach 324 Vgl. aaO., 234f. in Bd. 2, 21–31 zeichnet Mildenberger die Problemverschiebung am zentralen Beispiel der Gotteslehre nach. 325 Vgl. aaO., 244. 326 Dies wird verdeutlicht am Beispiel Schleiermachers als dem ersten modernen Dogmatiker, der dieser neuen Situation nach der Aufklärung voll Rechnung trägt (aaO., Bd. 1, 236–238). 327 Vgl. aaO., 243, wo es im Blick auf Schleiermacher heißt: „Was in der einfachen Gottesrede immer beieinander sein muß, die Einheit von christologischer und pneumatologischer Zeitbestimmung mit dem, was ansteht, und gerade so dann als durch Gott bestimmt kenntlich gemacht werden soll [sc. die theologische Zeitbestimmung], wird hier in dogmatischer Analyse auseinandergelegt. Doch damit würden sich zu große Schwierigkeiten in Hinsicht auf die Behandlung der biblischen Texte ergeben.“ 328 Von daher der Aufbau der Dogmatik: Band 2: Ökonomie als Theologie, Band 3: Theologie als Ökonomie. Vgl. dazu Mildenberger, Bd. 1, 245.

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wie vor festgehalten. Die biblischen Texte haben eine doppelte Referenz: Einmal beziehen sie sich auf ihren Ort in der Gottesgeschichte zurück, zum anderen beziehen sie sich auf die Gegenwart und beziehen diese in die Gottesgeschichte ein. Von dieser Betonung der Gottesgeschichte her setzt Mildenberger sich dann auch kritisch mit dem canonical approach von Brevard S. Childs auseinander. Bei diesem trete die Bedeutung der Gottesgeschichte zu sehr hinter der kanonischen Endgestalt der Texte in den Hintergrund. Sicher ist Mildenbergers Kritik darin berechtigt, dass die geschichtliche Dimension, auf die die alttestamentlichen Texte selber großen Wert legen, nicht einfach übergangen werden darf. Zugleich ist aber auch bei Mildenberger danach zu fragen, wie sich eigentlich Einheit der Schrift (des Kanons) und Einheit der Gottesgeschichte zueinander verhalten. Mildenberger markiert das Kanonproblem in der Auseinandersetzung mit Childs als eine offene Frage der Theologie. Weil aber der kirchliche Gebrauch entscheidendes Kriterium der Kanonizität sei, ließe sich die Offenheit dieses Problems aushalten.329 Dieses Argument ist tief in der Struktur der Biblischen Dogmatik verankert, vor allem in ihrer Unterscheidung von Theologie und einfacher Gottesrede. Da sich die Dogmatik deskriptiv auf die einfache Gottesrede bezieht und darin auch kirchliche Theologie ist, kann sie die Kanonizität der Schrift, wie sie in der einfachen Gottesrede der Kirche vorgegeben ist, zunächst hinnehmen. Doch hat unsere bisherige Situationsanalyse bereits gezeigt, dass die Betonung des kirchlichen Charakters des Kanons einiges an theologischem Konfliktpotenzial in sich birgt. In eine dogmatische oder ekklesiologische Vereinnahmung der Schrift droht die Biblische Dogmatik von Mildenberger nur deshalb nicht abzugleiten, weil sie nicht einfach von der empirischen Kirche ausgeht, die einfache Gottesrede also nicht einfach mit dem gleichsetzt, was die Kirche redet, sondern sich selber als kritische Begleitung der faktischen einfachen Gottesrede versteht. Doch kann diese kritische Distanz ja eigentlich nur darin bestehen, die Autorität der Schrift im Gegenüber zur Kirche und einfacher Gottesrede zur Geltung zu bringen. Das aber heißt, Biblische Dogmatik muss auch darauf reflektieren, wieso in der einfachen Gottesrede gerade dieser Kanon von Schriften als autoritative Schrift gelesen wird. Es ist also durchaus auf die normative Funktion der biblischen Texte zu achten, aber eben auf ihre normative Funktion innerhalb der einfachen Gottesrede, die – wie Mildenberger zu Recht im Anschluss an die altprotestantische Theologie formuliert – in der Heilswirksamkeit der Schrift, ihrer Funktion als Gnadenmittel begründet ist.330 Von daher wird man fragen müssen, ob Bibli329 Vgl. Mildenberger, Bd. I, 257 Anm. 32. 330 Die Kritik von Mildenberger an Childs aaO., 257 ist daher m.E. nur teilweise berechtigt: „Mir scheint es so, wie wenn Childs in seinem Kanonverständnis zu viel Gewicht auf die normati-

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sche Dogmatik Einheit und Autorität des Biblischen Kanons nicht nur voraussetzt, sondern auch theologisch begründet und entfaltet. Wir haben oben bereits gesehen, dass Mildenberger selber bereits ein gutes Stück diesen Weg geht, wenn er die Einheit der Schrift in der einfachen Gottesrede begründet.

3. Der status controversiae und seine Bearbeitung Der status controversiae Geht es dem Projekt einer biblischen Theologie „um eine dogmatische Flucht aus den Schwierigkeiten des historischen Geschäfts in einen in seiner Bedeutung maßlos überschätzten positiven Kanon“?331 So wirft es Manfred Oeming dem canonical approach von Brevard S. Childs vor. Die bisherigen Untersuchungen haben aufgezeigt, dass die Sachlage komplexer ist. Zwar hat Oeming insofern Recht, als alle biblisch-theologischen Entwürfe von einem meist nicht explizierten, dogmatisch näher zu bestimmenden Kanonbegriff ausgehen. Von daher stellt sich hier die Aufgabe, dogmatisch auf die Begründung des biblischen Kanons zu reflektieren. Der Entwurf von Friedrich Mildenberger deutet dabei schon an, dass die Begründung des Kanons nicht zwingend selber eine dogmatische sein muss – der Kanon also nicht erst von der Dogmatik hervorgebracht wird –, sondern dass Dogmatik hier auf etwas in der einfachen Gottesrede Vorgegebenes reflektiert. Zum anderen aber, und hier muss man Oemings simplifizierender Gegenüberstellung von Dogmatik und Exegese deutlich widersprechen, ist zwischen historisch orientierter Exegese und Dogmatik viel mehr umstritten als nur die Methode der Auslegung eines Textes: Strittig ist vielmehr der Gegenstand der Auslegung. Wird hier irgendeine Sammlung von Texten in ihrem historischen Kontext ausgelegt oder legen wir diese Sammlung als Heilige Schrift aus? Man wird Oeming sicher nicht vorwerfen können, dass er die Grundsätzlichkeit des Gegensatzes, der hier besteht, nicht erkennt. Diesen Gegensatz aber als den Gegensatz von historisch-kritischem Rationalismus und „dogmatischer Verträglichkeit“ zu beschreiben,332 greift deutlich zu kurz. Hier zeigt sich, wie sehr seine Analyse der Diskussion von einem starken Vorurteil für den Objektivismus historischer Forschung bestimmt ist. Ist freilich erkannt, worum es in dem Streit geht – nämlich um ve Funktion des Kanons legte. Die normative Funktion der biblischen Texte ist aber abgeleitet von ihrer primären Funktion in der einfachen Gottesrede und der Erfahrung, die hier mit diesen Texten gemacht wird. Dogmatisch gesprochen: Die Schrift als Gnadenmittel hat den Vorrang vor der Schrift als principium cognoscendi“ (Hervorhebung im Original). Recht hat Mildenberger darin, dass die Normativität des Kanons vermittelt ist durch die einfache Gottesrede. Nichtsdestotrotz ist das offene Problem des Kanons nur dann zu bearbeiten, wenn gerade auf die Normativität des Kanons in der einfachen Gottesrede geachtet wird. 331 Oeming, Gesamtbiblische Theologien, 195f. 332 Vgl. aaO., 134. Oeming spricht hier von einer „hermeneutischen Fundamentaldifferenz“.

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die Frage nach dem Gegenstand der Schriftauslegung und dem Gegenstand der theologischen Reflexion auf die Schriftauslegung – so bietet sich die Möglichkeit hier erneut in ein Gespräch zu kommen. Dieses Gespräch wird sich darum drehen müssen, wie sich Theologie überhaupt auf die biblischen Schriften bezieht und wie sie diese dabei als Heilige Schrift wahrnehmen kann.

In diesem ersten Teil der Arbeit habe ich versucht, die Komplexität der Diskussionslage zu skizzieren. Dabei zeigte sich, dass historische Kritik, die antrat, um die Externität des biblischen Wortes gegenüber Kirche und Theologie zu verteidigen, die Kanonizität der Heiligen Schrift verliert: Der Kanon zerfällt für den historischen Betrachter in eine Pluralität von Positionen. Die Autorität der Schrift wird hier um den Preis ihrer Einheit behauptet. Auf der anderen Seite besteht die Kritik gegenüber einer dogmatischkirchlichen Vereinnahmung der Biblischen Texte durchaus zu recht, wie wir uns am Beispiel der anglo-amerikanischen Diskussion verdeutlichten. Der durchaus angebrachte Hinweis auf den kirchlichen Kontext, in dem die Bibel als Heilige Schrift gelesen wird, droht hier in ein exklusives Prinzip abzugleiten: Es ist dann nur noch die Kirche, die die Bibel als Heilige Schrift liest (die Bibel als interne Autorität der Kirche). Auch hier gilt es kritisch zu fragen: Kann die Bibel denn nicht außerhalb der Kirche als Heilige Schrift gelesen werden? Verdankt die Kirche ihre Existenz nicht gerade der Tatsache, dass die Bibel auch außerhalb des Kontextes der Kirche als Heilige Schrift zur Geltung kommt? Hier wird die Einheit der Schrift auf Kosten ihrer Autorität im Gegenüber zur Kirche konstruiert. Die verschiedenen Ansätze zu einer biblischen Theologie, die wir im zweiten Abschnitt thematisierten, bewegen sich alle in verschiedener Weise in diesem Spannungsfeld und suchen mehr oder weniger stark zwischen Exegese, kirchlicher und dogmatischer Schriftlektüre zu vermitteln. Während Childs die kanonische Endgestalt des biblischen Textes betont, und dadurch die Geschichte, in der die Texte stehen, zu kurz zu kommen droht, legt die Tübinger Schule den Akzent gerade auf die Geschichte, von der die Texte berichten und in deren Kontext sie entstanden sind. Dabei bleibt aber unreflektiert wie sich diese vom Glauben rekonstruierte Geschichte zur historisch rekonstruierten Geschichte verhält. An der Arbeit von Childs wurde deutlich, dass die Frage nach einem Verstehen der biblischen Texte in ihrem kanonischen Text die Frage nach einer theologischen Bestimmung des sensus literalis der Heiligen Schrift mit sich bringt. Darin liegt die wesentliche Differenz von Childs’ Programm zu linguistischen, semiotischen oder ähnlichen Interpretationstheorien,333 die sich durchaus auf den bibli333 Solche Interpretationstheorien entfalten gegenwärtig in den exegetischen Disziplinen eine breite Wirkung. Schon der Blick in ein aktuelles Methodenbuch zur neutestamentlichen Exegese (z.B. W. Egger, Methodenlehre zum Neuen Testament) zeigt dies.

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schen Kanon anwenden lassen. Mit Childs fragen wir hingegen danach, wie der sensus literalis der Heiligen Schrift zu verstehen ist. Dabei ist mit der Rede von der „Heiligen Schrift“ schon impliziert, dass der biblische Kanon eine theologisch näher zu bestimmende Größe ist, und erst von daher in seinem Verhältnis zu anderen Texten bestimmt werden kann, so dass sich auch erst von daher eine Verhältnisbestimmung theologischer Auslegung zu anderen Theorien der Auslegung neben der historisch orientierten Exegese gewinnen lässt. Diese dogmatisch-theologische Perspektive auf den Kanon wird von Childs und der Tübinger Schule zwar als Notwendigkeit angemerkt, ist von ihnen selber aber nicht entfaltet worden. In den Blick nimmt dies Friedrich Mildenberger, der zugleich zwischen den beiden Positionen vermittelt, indem er die Einheit der Schrift durch die Einheit der Gottesgeschichte in ihrer gegenwärtigen Wirksamkeit begründet sieht. Was dies nun aber für den biblischen Kanon und seine Geltung als Heilige Schrift bedeutet, ist auch bei Mildenberger noch nicht geklärt. Im Vordergrund steht bei ihm die Gottesgeschichte, nicht der Kanon. Die vorliegende Arbeit fragt nun – nicht im Widerspruch zu Mildenbergers Ansatz, vielmehr als ergänzende Perspektive – danach, wie diese Einheit des biblischen Kanons und seine Geltung als Heilige Schrift begründet ist. Grundlegend für die Weiterbearbeitung dieser Problemstellung ist dabei die Frage nach dem Begriff des Verstehens. Es zeigte sich im Verlauf der Problemanalyse immer wieder, dass es zu einer Dopplung des Verstehensbegriffes kommt: ein objektiv-historisches Verstehen einerseits und ein verinnerlichtes geistiges Verstehen andererseits. Die Tendenz zur Verinnerlichung des Verstehens ist kennzeichnend für die Tradition evangelischer Hermeneutik seit Schleiermacher. Das, was objektiv, historisch als Textsinn erfasst wurde, muss in einem zweiten Durchgang applikativ verstanden werden: Das Subjekt muss sich den von außen kommenden Textsinn innerlich zu eigen machen (oder eben auch nicht). Dass diese Entgegensetzung so zu einfach gedacht ist, zeigte sich nun aber schon in der Interpretation von Mildenbergers Biblischer Dogmatik, die hier eine komplexe theologische Dialektik des Verhältnisses von Innen und Außen entwickelt, in der das Verstehen nicht einfach dem Innen oder Außen zugehört, sondern übergreifend für die dialektische Vermittlung von Innen und Außen steht. Verstehen der biblischen Texte stellt sich dort ein, wo das Innen sich in einer konkreten Situation (Zeit) im Außen als von Gott bestimmter Welt vorfindet. In der weiteren Bearbeitung der Fragestellung knüpfen wir nun in doppelter Hinsicht an Mildenbergers Arbeit an: Einmal wird die Unterscheidung von einfacher Gottesrede und theologischer Reflexion vorausgesetzt. Theologie wird damit verstanden als Analytik der christlichen Gottesrede. Die hermeneutische Reflexion fragt danach, wie die biblischen Texte christ-

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liche Gottesrede als autoritative Texte bestimmen und welche Auswirkung dies für die Dogmatik selber hat. Diese Sprachbewegung der einfachen Gottesrede, die von der Wirksamkeit der Schrift ausgeht und in Lehrformulierungen zu einer (vorläufigen) Ruhe kommt, gilt es genauer zu analysieren. Was sind in diesem Verstehensprozess die normierenden Elemente und wie kommen sie theologisch in der Lehre zur Geltung? Vor diesem Hintergrund und als Beitrag zu dieser Problemlage soll hier die altlutherische Schriftlehre und Hermeneutik am Beispiel Quenstedts untersucht werden. Der Zugang zu Quenstedt geschieht dabei, wie bereits in der Einleitung skizziert, systematisch-theologisch und sprachphilosophisch vermittelt. Nachdem nun der systematisch-theologische Horizont der Interpretation abgesteckt ist, gilt es, im zweiten Teil der Arbeit die sprachphilosophischen Interpretationsmittel, die wir anhand der Sprachphilosophie des späten Wittgenstein gewinnen, darzustellen.

Teil II Verstehen lernen und Lebenspraxis – Der methodische Ansatz bei der Spätphilosophie Wittgensteins Wittgensteins Sprachphilosophie Vor dem Hintergrund der in Teil I skizzierten hermeneutischen Problemstellung soll nun also die Grundlage für eine Interpretation der altlutherischen Schriftlehre gelegt werden, die es erlaubt sie auf die gegenwärtigen Probleme zu beziehen. Dafür gilt es zunächst, vorgeprägte Begriffe zu hinterfragen und in ein neues Licht zu rücken. Daher wird hier danach gefragt, was sich für eine theologische Hermeneutik, die die Bibel als Heilige Schrift wahrnehmen will, ändert, wenn Verstehen nicht mehr wie in der Tradition der hermeneutischen Philosophie und Theologie der Neuzeit als Vorgang der Applikation eines Außen (z.B. Sprache) durch das Innen (z.B. Denken) verstanden wird.1 Diese neuzeitliche Auffassung des Verstehens verstellt den Blick für ein angemessenes Verständnis der vorkritischen Schriftauslegung der altlutherischen Dogmatik. Daher wendet sich dieser Teil der Arbeit zunächst einer Philosophie zu, die einen radikalen Bruch mit der neuzeitlichen Tendenz der Verinnerlichung auch des Verstehens herbeiführt.2 Indem ich mich also in diesem Teil der Arbeit auf die Spätphilosophie Wittgensteins beziehe, will ich die sprachphilosophischen Grundlagen der zentralen These, die der Interpretation der altlutherischen Schriftlehre Quenstedts zugrunde liegt, darstellen. Diese Interpretationsthese lautet: In der altlutherischen Dogmatik Quenstedts ist die grundlegende Lernsituation christlicher Glaubensrede und damit theologischer Rede das Lesen der Bibel als Heilige Schrift. Die Rede von der Bibel als Heiliger Schrift ist selber in dieser Lernsituation des Glaubens begründet. Jedes Verstehen der Bibel als Heilige Schrift gründet in diesem Verstehenlernen des Glaubens aus dem Wort der Schrift. 1 So klassisch bei Schleiermacher, Hermeneutik. Prägnant z.B. die Formulierung aaO., § 4.2 (76): „Die Zusammengehörigkeit der Hermeneutik und Rhetorik besteht darin, daß jeder Akt des Verstehens die Umkehrung eines Aktes des Redens ist, indem in das Bewußtsein kommen muß, welches Denken der Rede zum Grunde gelegen.“ 2 Vgl. Kerr, Theology after Wittgenstein.

Wittgensteins Sprachphilosophie

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Die Unterscheidung zwischen Lernsituation christlicher Glaubensrede und Lernsituation des Glaubens ist in dieser These bewusst unscharf gehalten, denn wie die Ausführungen zu Wittgenstein zeigen werden, ist das Lernen von Sprache immer mit einer praktischen, nicht sprachlichen Dimension des Lernens verbunden. Wer aus dem Wort der Schrift glauben lernt, der lernt auch die Sprache christlichen Glaubens zu reden und umgekehrt. Diese Verschränkung von Lebenspraxis (Wittgenstein redet von Lebensform) und Sprache ist ein wesentlicher Grund dafür, dass ich mich auf die Spätphilosophie Wittgensteins beziehe, um einen neuen Zugang zur altprotestantischen Hermeneutik zu bekommen. Dass neuere sprachphilosophische Ansätze hilfreich sein können, die altlutherische Dogmatik neu zu verstehen, hat bereits Kenneth Appold unter Bezug auf die Sprechakttheorie von John Langshaw Austin deutlich gemacht.3 Nun ist Austins Sprechakttheorie in der Tat hilfreich, die Rede von der Wirksamkeit der Berufung oder auch die Rede von der Wirksamkeit des Schriftwortes verständlich zu machen und zu plausibilisieren. An ihre Grenzen kommt Austins Sprechakttheorie aber dort, wo die Verankerung dieses Sprachgeschehens in der Lebenspraxis in den Blick kommen muss.4 Die Pointe der Spätphilosophie Wittgensteins hingegen liegt, so will ich es in diesem Abschnitt zeigen, gerade darin, dass vielleicht wichtiger noch als die Sprache die Praktiken sind, in die Sprache eingebettet ist und durch die sie erlernt wird. Da die hier vorausgesetzte Wittgensteininterpretation nicht allgemeiner Konsens, sondern sowohl strittige als auch teilweise eigenständige Interpretation ist, wird es an manchen Stellen nötig sein, tiefer in die Exegese der Philosophischen Untersuchungen einzudringen als man es von einer Arbeit über das Schriftverständnis der lutherischen Orthodoxie vielleicht erwartet. Die intensive Auseinandersetzung mit dem Text der Philosophischen Untersuchungen wird aber zugleich die Möglichkeit bieten, sich in diese ungewöhnliche Denkungsart5 hineinzudenken, um einen Zugang zu der Perspektive zu gewinnen, in der die altlutherische Dogmatik hier interpretiert werden wird.

3 Vgl. Appold, Calov’s Doctrine of Vocatio, 3f und 136–142. 4 Vgl. zum Verhältnis von Austins Sprechakttheorie und Wittgensteins Spätphilosophie im Bezug auf die Untersuchung religiöser Rede: Illge, Inwiefern bedürfen religiöse Sprechakte eines kognitiven Referenzrahmens? 5 Zum Begriff der Denkungsart vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, A123f (B124).

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Sprache lernen

1. Lernsituation – Sprache lernen und Sprachspiel Sprache lernen Im Zentrum der oben eingeführten These steht der Begriff der Lernsituation. Dieser Begriff dient als simplifizierende Kennzeichnung für bei Wittgenstein äußerst differenziert beschriebene und rekonstruierte Situationen des Lernens von Sprache. Mit der Einführung eines solchen Begriffs stellt sich zunächst ein grundlegendes Problem, nämlich das Fehlen jeglicher metasprachlicher Begriffe in der Spätphilosophie Wittgensteins, das durch die Einführung eines solchen Begriffs der Lernsituation übergangen zu werden scheint. 1.1 Das Problem metasprachlicher Reflexion auf Sprache Das Problem der Metasprache Das Fehlen solcher metasprachlichen Termini ist kein beiläufiges Phänomen, sondern es ist tief im Wesen der Philosophischen Untersuchungen verankert.6 Auch die häufig in der Wittgensteininterpretation so erscheinenden Begriffe des Sprachspiels, der Lebensform, der Grammatik oder der Regel sind gerade nicht in diesem Sinne zu verstehen. Wittgensteins Ausgangsfrage ist so trivial wie klar: Wie verstehe ich die Bedeutung solch metasprachlicher Aussagen über die Sprache? Woher weiß ich als Leser oder Hörer, welche Bedeutung die Worte dieser Sprache haben? Nehmen wir z.B. einen Satz aus dem Tractatus Logico-Philosophicus, dem Frühwerk Wittgensteins, in dem er selber noch einem solchen Ansatz verpflichtet war, gleichwohl er auch dort schon um seine Begrenztheit wusste:7 „Die allgemeine Form des Satzes ist ‚Es verhält sich so und so.‘“ (TLP 4.5)8 Dieser Satz, der sich als ein metasprachlicher Satz der Reflexion über Sprache ausgibt, ist ja zunächst selber ein Satz der deutschen Sprache, der verstanden werden will. Das gilt von dem, was hier als allgemeine Form des Satzes charakterisiert wird („Es verhält sich so und so.“) wie auch von dieser Definition selber („Die allgemeine Form des Satzes ist …“). Entweder wird mir dieser Satz durch eine Reihe von Definitionen der Wortbedeu6 Die Bedeutung dieses Charakterzuges der Philosophischen Untersuchungen wird in den meisten Interpretationen übergangen. Selbst Gilmore, Philosophical Health, der hier ähnlich urteilt (vgl. aaO., 114), hält die Begriffe „Sprachspiel“ und „Lebensform“ für metasprachliche Termini. 7 S.u. Anm. 20. 8 Zitiert in PU 134, nicht ohne Grund in unmittelbarem Zusammenhang mit den vorhergehenden Reflexionen über die Methode der PU: Die §§ 134–137 besprechen ein Beispiel, an dem bestimmte Aspekte der erörterten Methode verdeutlicht werden (vgl. Lange, Philosophische Untersuchungen, 216f): Es geht um die Frage nach dem Wesen des Satzes. Gibt es etwas, das allen Sätzen gemeinsam ist? Vgl. Savigny, Bd. 1, 178, der den Abschnitt allerdings anders abgrenzt. Auf § 134 bezieht sich die hier folgende Interpretation.

Das Problem der Metasprache

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tungen verständlich, die ich dann auch erst einmal verstehen muss, oder aber ich verstehe diesen Satz von dem her, was ich als deutsche Sprache gelernt habe9. Denn ein Verständnis dieser Worte habe ich ja: ich weiß unter normalen Umständen etwas mit einem Satz wie „Es verhält sich so und so“ anzufangen, in bestimmten Situationen nämlich: „Wir sagen z.B.: ‚Er erklärt mir seine Lage, sagte, es verhalte sich so und so, und er brauche daher einen Vorschuß.‘“ (§ 134)10 Die Metasprache der Reflexionsebene ist nur dann verständlich, ihre Wörter haben nur dann Bedeutung, wenn sie auf diese einfache, ursprünglich erlernte Bedeutung zurückgeführt werden kann, in sie übersetzt werden oder als eine Übersetzung dieser Sprache verständlich gemacht werden kann.11 Das aber heißt, dass diese Reflexionssprache neben der gewöhnlichen Sprache zu stehen kommt, nicht über ihr: Zu sagen, sie analysiere den gewöhnlichen Sprachgebrauch, heißt hier eigentlich nur, dass sie die gewöhnliche Ausdrucksform durch eine andere ersetzt (§ 90). Dass mit dieser Reflexionssprache mehr geleistet würde als mit der gewöhnlichen Sprache, kann so als allgemeiner Satz nicht stehen gelassen werden. Es gälte vielmehr zu fragen, in welcher Beziehung sie mehr leisten soll. Ein einleuchtendes Beispiel dazu findet sich in § 6012. Statt „Bring mir den Besen!“ kann ich auch sagen „Bring mir diesen Besenstiel und die Bürste, die an ihm steckt!“ Man könnte dies als eine Analyse des ersten Satzes bezeichnen und in bestimmten Situationen hätte sie sogar einen Sinn. Z.B. wenn jemand nicht weiß, was ein Besen ist, wohl aber was ein Stiel und was eine Bürste ist. Dann allerdings redet man besser nicht von „Besenstiel“, sondern einfach von einem Stiel mit einer Bürste dran. Dabei zeigt sich zugleich deutlich, dass auch das Verstehen des analysierten Satzes ein Verstehen der Sprache voraussetzt, in der der Satz formuliert ist. In den meisten Fällen aber wird solch eine Satzanalyse eher Verwunderung hervorrufen. Hier gilt: „Dieser Satz, könnte man sagen, leistet dasselbe, wie der gewöhnliche, aber auf einem umständlicheren Wege.“ (Ebd.)

9 Es ist ein wichtiger Fakt, dass Wittgenstein in den PU meist von „unserer Sprache“, nie von Sprache allgemein spricht. Er hat immer die konkreten gesprochenen Sprachen (Deutsch, Englisch etc.) im Blick und zielt gerade nicht auf einen abstrakten Allgemeinbegriff von Sprache. Die Rede von der Familienähnlichkeit der Verwendungsweisen eines Begriffs wird ja gerade im Blick auf den Begriff der „Sprache“ und die Frage nach dem Wesen der Sprache eingeführt (vgl. PU 65). 10 Paragraphenangaben im laufenden Text beziehen sich in Teil II auf PU. 11 Zum Problem der Bedeutungslosigkeit solch einer Metasprache, nämlicher der der Metaphysik, vgl. schon TLP 6.53: „Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat –, und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, daß er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat“ (Hervorhebung von M.C.). 12 In PU 60–64 beschäftigt sich Wittgenstein mit dem Problem der Analyse von Sätzen.

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Sprache lernen

Man kann sicherlich eine Metasprache der Reflexion allein durch eine Anzahl von Definitionen einführen, gewissermaßen eine rein formale Sprache. Doch setzt das immerhin schon voraus, dass das Definieren als sprachlicher Vorgang möglich ist, wir also gelernt haben mit einer bestimmten Sprache etwas zu definieren (§§ 28–31)13. So setzt also auch eine solche definitorisch eingeführte Sprache (zum Beispiel die des TLP) eine konkrete Sprache voraus, innerhalb derer die Wörter und Sätze der Definitionen einen Sinn haben und in der wir gelernt haben zu definieren. Daher muss man immer erst einmal nach der Bedeutung der Worte, dem Sinn der Sätze in ihrer „Heimatsprache“ fragen: Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen – „Wissen“, „Sein“, „Gegenstand“, „Ich“, „Satz“, „Name“ – und das Wesen des Dinges zu erfassen trachten, muß man sich immer fragen: Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht? (§ 116) Wir sind in der Täuschung, das Besondere, Tiefe, das uns Wesentliche unserer Untersuchung liege darin, daß sie das unvergleichliche Wesen der Sprache zu begreifen trachtet. D.i. die Ordnung, die zwischen den Begriffen des Satzes, Wortes, Schließens, der Wahrheit, der Erfahrung usw. besteht. Diese Ordnung ist eine ÜberOrdnung zwischen – sozusagen – Über-Begriffen. Während doch die Worte „Sprache“, „Erfahrung“, „Welt“, wenn sie eine Verwendung haben, eine so niedrige haben müssen, wie die Worte „Tisch“, „Lampe“, „Tür“. (§ 97)

Eine Metasprache zur Reflexion auf die Sprache kann ich bei dieser Frage nach der Bedeutung der Worte in ihrer „Heimatsprache“ dann gerade nicht mehr voraussetzen, ohne die Sache zu verunklaren. Denn diese Reflexionssprache gründet ja in den Wörtern und Sätzen der Sprache, deren Bedeutung allererst zu klären das Ziel ist: „Wenn ich über Sprache (Wort, Satz etc.) rede, muß ich die Sprache des Alltags reden. Ist diese Sprache etwa zu grob, materiell, für das, was wir sagen wollen? Und wie wird denn eine andere gebildet?“ (§ 120) Der letzte Satz dieses Zitates verweist auf das Problem, das uns hier beschäftigt: Wie sollte ich eine Metasprache bilden, wenn nicht mit den Wörtern der gewöhnlichen Sprache, auf die ich doch gerade reflektieren will? In diesen Zusammenhang gehört Wittgensteins Betonung des deskriptiven Charakters seiner Philosophie und seine Ablehnung jeglicher Hypothese (§ 109). „Die Philosophie darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache 13 Diese Paragraphen beschäftigen sich mit der Form der hinweisenden Definition. Aber was hier gilt, gilt wohl noch mehr von Definitionen, die nicht beanspruchen auf etwas hinzuweisen, sondern rein formale Definitionen sein wollen: „Die hinweisende Definition erklärt den Gebrauch – die Bedeutung – des Wortes, wenn es schon klar ist, welche Rolle das Wort in der Sprache überhaupt spielen soll.“ (§ 30) „Nach der Benennung fragt nur der sinnvoll, der schon etwas mit ihr anzufangen weiß.“ (§ 31)

Das Problem der Metasprache

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in keiner Weise antasten, sie kann ihn am Ende also nur beschreiben.“ (§ 124) Bei diesen Sätzen steht Wittgensteins Bemühen im Hintergrund nicht nach einer Idealsprache zu suchen, die besser als unsere ursprünglich erlernte Sprache die Wirklichkeit beschreibt.14 Eine solche Idealsprache der Logik leistet nicht mehr als unsere Alltagssprache, sie übersetzt diese nur in eine andere Sprache, die durch Definitionen eingeführt wird, die selber nur dadurch verständlich werden, dass sie sich der Sprache bedienen, die wir zu sprechen gelernt haben. Das Problem der Hypothesen ist also nicht, dass sie spekulativ ansetzen, um dann empirisch verifiziert zu werden – Hypothesen gehören in den Bereich der empirischen Forschung –, sondern dass sie im Blick auf die Funktionsweise der Sprache die Verständlichkeit derjenigen Sprache, die sie erklären sollen, schon voraussetzen müssen. Gerade über diese Voraussetzung aber täuscht man sich hinweg, wenn man versucht Sprache durch Sprachtheorien zu erklären. In § 121 verweist Wittgenstein auf zwei Beispiele, die evident machen, dass es nicht einer Metasprache der Reflexion bedarf: Eine Philosophie, die auf die Bedeutung des Wortes „Philosophie“ reflektiert, ist deswegen keine Metaphilosophie. Ebenso hat es die Rechtschreiblehre auch mit der Rechtschreibung des Wortes „Rechtschreiblehre“ zu tun, ohne dass sie deswegen eine Rechtschreiblehre zweiter Ordnung ist. In analoger Weise ist die Sprache mit der auf die Sprache zu reflektieren ist, keine Metasprache. Eine Form von Metasprache ist auch die Sprache der Metaphysik, in der Begriffe der Alltagssprache wie „Sein“, „Welt“ oder „Bedingung“ in stark abstrahierter Weise, dem gewöhnlichen Sprachgebrauch oft völlig fremd verwendet werden. Diese Begriffe, mit denen hier die Wirklichkeit des Seins ergründet werden soll, sind Begriffe, die keinen Ort mehr im gewöhnlichen Gebrauch der Sprache haben. Ihr Sinn ist daher ein willkürlich festgelegter.15 Verstanden werden sie nur von demjenigen, der die zu Grunde liegenden Definitionen kennt. So kann Wittgenstein in § 116 das Ziel seiner Philosophie auch so umreißen: „Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendungsweise zurück.“ Von daher wird man auch die in Theologenkreisen noch häufig vertretene These, dass jede Rede metaphysische Voraussetzungen habe, kritisch hinterfragen müssen.16 Sicher kann man jeden Begriff 14 Mit der Frage nach der Exaktheit und der Bedeutung des Ideals für die Sprache setzt Wittgenstein sich in §§ 88–107 auseinander. § 98 heißt es: „Einerseits ist klar, daß jeder Satz unserer Sprache ‚in Ordnung ist, wie er ist‘. D.h., daß wir nicht ein Ideal anstreben […]“ (Hervorhebung im Original). Wittgenstein setzt sich dabei implizit mit seinem Anspruch im TLP auseinander, die perfekte logische Sprache zur Beschreibung der Welt gefunden zu haben. 15 Vgl. Gilmore, Philosophical Health, 110: „That is, the results of philosophy (metaphysics) are ‚meaningless‘ propositions.“ 16 Diese These liegt auch Derridas Programm der Dekonstruktion zu Grunde: Weil wir dem metaphysischen Gebrauch der Worte nicht entkommen können, kann die Befreiung von der Metaphysik nur als Dekonstruktion von Innen geschehen, als radikale Selbstkritik der Metaphysik (vgl. Stone, Wittgenstein on Deconstruction, 93f). Stone sieht daher gerade in § 116 der PU die Differenz zu Derrida markiert (vgl. aaO., 108f).

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der gewöhnlichen Rede auch metaphysisch verwenden und seinem gewöhnlichen Sprachgebrauch entfremden. Doch dass dies möglich ist, besagt nicht, dass die metaphysische Verwendung in der alltäglichen Verwendung vorausgesetzt ist. Gelernt haben wir diese Begriffe jedenfalls auch ohne Metaphysik und wir verstehen sie auch ohne dieselbe. Die Begriffe der Metaphysik aber könnten wir gar nicht verstehen, wenn wir nicht unsere alltägliche Sprache so erlernt hätten, dass wir in ihr Begriffe mit neuen Inhalten verbinden können. Das Problem dabei ist dann allerdings, dass die neuen Inhalte willkürlich sind, so lang das Wort nicht Teil einer bestimmten Situation ist, in der es einen Zweck erfüllt. Die benannte These müsste also umgedreht werden: Jede metaphysische Rede setzt die Sprache unseres Alltags voraus.

Wie kann man dann aber die Bedeutung von Sprache darstellen, wie überhaupt erfassen, wie Sprache etwas bedeutet, verständlich wird und wie etwas mit der Sprache gemeint werden kann? In dieser Problematik gründet die eigentümliche Form der Philosophischen Untersuchungen wie auch ihr destruktiver Charakter: Wittgenstein postuliert die reflexionssprachlichen Begriffe nicht einfach als problematisch, sondern er setzt sie voraus, um die Problematik des mit ihnen vorausgesetzten Verständnisses von Sprache aufzuweisen. So stellt sich die Frage: „Woher nimmt die Betrachtung ihre Wichtigkeit, da sie doch nur alles Interessante, d.h. alles Große und Wichtige, zu zerstören scheint? (Gleichsam alle Bauwerke; indem sie nur Steinbrocken und Schutt übrig lässt.)“ (§ 118) Was bleibt denn, wenn all die philosophischen Reflexionen, die auf die Sprache blicken oder gar im Blick hinter sie erklären wollen, was die Welt denn wirklich sei, destruiert werden? Bleiben hier nicht nur die Wörter als das Baumaterial solcher Anschauungen zurück, ungeordnet wie Schutt? Wittgenstein bestreitet das nicht, aber er macht auf den trügerischen Charakter der Größe dieser philosophischen Konstruktionen aufmerksam: „Aber es sind nur Luftgebäude, die wir zerstören, und wir legen den Grund der Sprache frei, auf dem sie standen.“ (Ebd.) Die großen philosophischen Konstruktionen arbeiten nicht mit dem Baumaterial der Sprache, sondern mit einer Metasprache, einer „Über-Sprache“ (§ 97: „Über-Begriffe“)17, die ohne Fundament ist, da sie sich nicht auf die Sprache beziehen lässt, die wir erlernt haben. Das Zerstören dieser Luftgebäude soll den Blick auf diese Sprache, die wir sprechen, wieder freigeben. Was bleibt? Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zu zeigen!18 Philosophie ist für Wittgenstein in erster Linie Therapie, das 17 Nach Savigny, Bd. 1, 155 spielt der Begriff der Metasprache bei diesen Wendungen Wittgensteins nicht herein. Eine Begründung für diese Behauptung kann ich bei Savigny allerdings nicht ausmachen. Ich lese die Wendung „Über-Begriffe“ bei Wittgenstein als ironischmetakritische Übersetzung von „Metasprache“. Savignys Interpretation, die hier ein Autoritätsgefälle zwischen Über-Begriffen und Alltagssprache thematisiert sieht (ebd.), widerspricht dem nicht, sondern stützt m.E. eher diese Interpretation. 18 Vgl. PU 309: „Was ist dein Ziel in der Philosophie? – Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen.“

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heißt eine Methode zur Heilung einer Krankheit: „Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit.“ (§ 255) Die Philosophischen Untersuchungen zu interpretieren heißt daher in erster Linie, die therapeutischen Methoden Wittgensteins verstehen zu lernen. Der Verzicht auf metasprachliche Reflexion schlägt sich im Aufbau und in der Struktur der Philosophischen Untersuchungen nieder. In seinem Vorwort verdeutlicht Wittgenstein das Problem in einem einleuchtendem Bild: Diese Untersuchung „nämlich zwingt uns, ein weites Gedankengebiet, kreuz und quer, nach allen Richtungen zu durchreisen. – Die philosophischen Bemerkungen dieses Buches sind gleichsam eine Menge von Landschaftsskizzen, die auf diesen langen und verwickelten Fahrten entstanden sind. Die gleichen Punkte, oder beinah die gleichen wurden stets von neuem von verschiedenen Richtungen her berührt und immer neue Bilder entworfen.“ (231) Wie skizziert man eine Landschaft? Wittgenstein denkt wohl an den Maler mit seinem Skizzenblock, der die Landschaft mal von diesem, mal von jenem Punkt aus in den Blick nimmt und Bilder von ihr auf dem Skizzenblock festhält. So entsteht eine Reihe von Bildern, die dieselbe Landschaft aus verschiedenen Perspektiven darstellt und so eine Reihe unterschiedlicher, einander ergänzender Eindrücke bietet, durch die wir die Landschaft in ihrer Komplexität (aber auch Schönheit)19 wahrnehmen können. Die Landschaft, die Wittgenstein darstellen will, ist die Landschaft unserer Sprache. Das Bild, bzw. die Sammlung von Bildern, Skizzen liegt in den Philosophischen Untersuchungen vor uns. Damit aber verwehrt Wittgenstein sich dem Anspruch, die Landschaft gleichsam aus der Vogelperspektive wahrnehmend in Form einer Landkarte darzustellen. Eine solche übergreifende Skizze entspräche dem Entwurf einer umfassenden Theorie über die Sprache, die sich einer Metasprache der Reflexion bedienen würde. Als Beispiel ist hier an erster Stelle Wittgensteins eigenes Frühwerk, der Tractatus Logico Philosophicus, zu nennen, der allerdings in Thesenreihe 6 und These 7 bereits deutlich ein Bewusstsein für das hier skizzierte Problem zeigt: Die Sätze des Tractatus sind, gemessen an den Kriterien der Sinnhaftigkeit, die der Tractatus selber aufstellt, sinnlose Sätze. Gerade in diesem Problembewusstsein dafür, dass es keinen Standpunkt außerhalb der Sprache gibt, von dem her Sprache beurteilt werden kann, liegt die Kontinuität der wittgensteinschen Philosophie und der Grund für den Neuansatz in seiner Spätphilosophie.20 An die Stelle der metasprachli19 Der ästhetische Aspekt des Sprachverstehens ist für Wittgenstein nicht weniger wichtig als der rein logische. Dies verdeutlichen z.B. seine zahlreichen Bezüge auf das Verstehen von Musik und Kunstwerken. Vgl. PU 527–535, Z 161, 175 und VB 521–523, sowie LA. Zur Bedeutung des Verstehens von Musik für das Sprachverstehen bei Wittgenstein vgl. außerdem: Worth, Wittgenstein’s Musical Understanding und Lewis, Wittgenstein on Words and Music. 20 Dass hier die Kontinuität der Wittgensteinschen Philosophie liegt, ist eine der zentralen Thesen der Aufsatzsammlung The New Wittgenstein, hg. v. Alice Crary und Rupert Read, London u.a. 2000. Vgl. Crary, Introduction, aaO., 1–18, 6: „[Wittgenstein’s] fundamental aim is to get us to see that the point of view on language we aspire to or think we need to assume when philosophizing – a point of view on language as if outside from which we imagine we can get a clear view on the relation between language and the world – is no more than the illusion of a point of view.“ Weitere Sprachtheorien, die Wittgenstein im Blick hat, sind sicher auch diejenigen von Frege, Russell und G.E. Moore. Sprachtheorien wurden seit Wittgenstein inflationär verbreitet. In der Gegenwart sind im Blick auf die Theologie als besonders einflussreiche Theorien, die Metaphern-

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chen Deskription tritt die Beschreibung der Verwendung von Sprache in konkreten Situationen und der Vergleich dieser Verwendungszusammenhänge.

Die therapeutischen Methoden der Sprachphilosophie Wittgensteins darzustellen kann indes nicht die Aufgabe dieses Teils der Arbeit sein, sondern die Problematisierung metasprachlicher Reflexion dient vor allem dazu, eine grundlegende Problemstellung im Bezug auf die Philosophie Wittgensteins zu verdeutlichen. Der Begriff „Lernsituation“ kann ja leicht als ein metasprachlicher Begriff verstanden werden, der dazu dient, die Funktionsweise von Sprache zu erklären. So soll er hier aber nicht verwendet werden, sondern er dient als Kennzeichnung, als Abbreviatur der Beschreibung eines komplexen Sachverhaltes. Auf welche Beschreibung dieser Begriff verweist, soll nun im Folgenden dargestellt werden. Dabei werden wir uns allerdings mit einer grundlegenden Methode Wittgensteins näher beschäftigen müssen, weil sie für die Frage nach dem Erlernen von Sprache von grundlegender Bedeutung ist: die Sprachspielmethode Wittgensteins.

1.2 Sprache lernen – Sprachspiel und Lernsituation Sprachspiel und Lernsituation Anstatt von einer Theorie über die Sprache auszugehen, will Wittgenstein den Gebrauch von Sprache in konkreten Situationen beschreiben, um so zu erfassen, wie Sprache funktioniert. Die Sprache wird gleichsam beobachtet, wenn sie arbeitet (§ 109).21 Das heißt die zentrale Bedeutung des Sprachgebrauchs für die Philosophischen Untersuchungen verdankt sich einer methodischen Entscheidung Wittgensteins, die sich in ihrer Durchführung bewährt. Es geht hierbei nicht um eine Theorie (z.B. „Die Bedeutung von Sprache ist ihr Gebrauch“), sondern es geht um eine Grundentscheidung, wie ich Sprache wahrnehmen will.22 Der Anspruch dieser Grundentscheidung ist, so den Aporien einer metasprachlichen Reflexion zu entkommen. theorie Paul Ricœurs (Ders., Die lebendige Metapher, sowie Ricœur/Jüngel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache [EvTh, Sonderheft] zur theologischen Rezeption) als eine semantische Sprachtheorie und die semiotische Theorie Umberto Ecos (Ders., Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, München 1987) zu nennen. Eine formale Parallele besteht zwischen Wittgenstein und Derridas Dekonstruktivismus: Auch Derrida geht von dem Problem der Unmöglichkeit eines externen Beobachtungsstandpunktes aus (vgl. Stone, Wittgenstein on Deconstruction, 93). Die Antwort Wittgensteins auf dieses gemeinsame Ausgangsproblem ist aber eine grundsätzlich andere (vgl. aaO., 108–112). 21 Vgl. auch PU 132: „Die Verwirrungen, die uns beschäftigen, entstehen gleichsam, wenn die Sprache leerläuft, nicht wenn sie arbeitet.“ Die Sprache läuft leer, wenn sie nicht in einer konkreten Verwendungssituation betrachtet wird, sondern von dieser in einer Metasprache abstrahiert wird. 22 Vgl. Crittenden, Wittgenstein on Philosophical Therapy and Understanding, 39 und Stone, Wittgenstein on Deconstruction, 109.

Sprachspiel und Lernsituation

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Doch bedarf eine Beschreibung des Gebrauchs von Sprache nicht selber einer Sprache der Deskription? Den Ausweg aus dieser Problematik sucht Wittgenstein durch die skizzierte Methode des Vergleichs: Er vergleicht – im Bilde gesprochen – Landschaftsskizzen. Der einzelnen Landschaftsskizze entspricht im Kontext der Philosophischen Untersuchungen das, was Wittgenstein ein Sprachspiel nennt – bezeichnender Weise eine Wortkombination, die sich selber einem Vergleich verdankt, nämlich dem Vergleich von Sprache und Spiel. Sprachspiele, so erörtert Wittgenstein gleich bei der Einführung dieses Begriffs, sind Spiele, mit denen Kinder Sprache lernen (§ 7). Es geht also nicht um einen Reflexionsbegriff, sondern um ein Wort, das eine konkrete Verwendungssituation hat, nämlich das spielerische23 Lernen von Sprache. Für diese Situation des spielerischen Lernens von Sprache ist der Zusammenhang von Sprache und Tätigkeit charakteristisch.24 Wittgenstein dehnt die Verwendung des Begriffs aber aus, indem er zum Beispiel primitive Sprachen mit einem Sprachspiel vergleicht (nicht identifiziert). Dieser weiterreichende Gebrauch von „Sprachspiel“ – insbesondere der Bezug auf primitivere Sprachen – lässt sich in seiner Bedeutung für die Methode der Philosophischen Untersuchungen besonders gut anhand eines Abschnittes aus dem Braunen Buch verdeutlichen.25 Hier schreibt Wittgenstein unmittelbar zu Beginn des Buches im Blick auf Augustins Verständnis von Sprache: Suppose a man described a game of chess, without mentioning the existence and operations of the pawns. His description of the game as a natural phenomenon will be incomplete. On the other hand we may say that he has completely described a simpler game. In this sense we can say that Augustine’s description of learning the language was correct for a simpler language than ours. (BB 77)

In § 1 der Philosophischen Untersuchungen schreibt Wittgenstein dann über Augustin: „In diesen Worten [Augustins] erhalten wir, so scheint es mir, ein bestimmtes Bild von dem Wesen der menschlichen Sprache. Nämlich dieses: Die Wörter der Sprache benennen Gegenstände.“ § 2 entwirft dann eine Sprache, die diesem Bild von Sprache entspricht, ein Vorgehen, im Blick 23 Dieser spielerische Aspekt ist besonders als Gegengewicht zu dem all zu leicht unmenschlich klingenden Begriff der Abrichtung, der für Wittgensteins Betrachtung eine wichtige Rolle spielt, zu betonen. 24 Vgl. Lutz, Sprachspiel-Methode, 151f: „‚Sprachspiel‘ wird so zum Titel einer Form der Sprachbetrachtung, die diese Grenze zum Nichtsprachlichen dort markiert, wo Nichtsprachliches Sprache fundiert.“ 25 „The Brown Book“ ist eine Vorstudie zu den Philosophischen Untersuchungen, die Wittgenstein zwischen 1934 und 1935 Francis Skinner und Alice Ambrose diktierte. „[It is] an attempt by Wittgenstein to formulate the results of his own work for his own sake.“ (Monk, Wittgenstein, 344).

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auf das Wittgenstein dann in § 6 den Begriff des Sprachspiels einführt. „Sprachspiel“ steht hier also „for a simpler language than ours“, für eine konstruiert einfachere Sprache, die allein dem Zweck dient, unsere Sprache, die viel komplexer ist, verständlicher zu machen. Der Begriff des Sprachspiels postuliert also nicht ein semantisches Strukturelement der Sprache,26 sondern es wird etwas als ein Sprachspiel betrachtet:27 Es geht um eine bestimmte Methode, eine Therapie.28 Dabei dienen Sprachspiele einem ganz bestimmten Zweck, nämlich dem Erlernen von Sprache bzw. der Verdeutlichung dessen, wie wir Sprache erlernen. Sprachspiele werden vorgestellt, imaginiert oder aber sie kommen durch willkürliche Abgrenzungen in der Sprache zustande – ähnlich wie der Ausschnitt einer Landschaftsskizze willkürlich ist: ich betrachte einen Ausschnitt der Sprachlandschaft genauer, lasse das andere für den Moment beiseite (erkläre das Schachspiel ohne die Bauern). So kann Wittgenstein das von ihm in Anschluss an Augustin vorgestellte Sprachspiel auch eine Sprache nennen.29 Es ist ein „System der Verständigung“, das funktioniert. Nur ist es nicht das Ganze unserer Sprache (§ 3). Das Sprachspiel ist gleichsam eine primitive Sprache (§ 2) und das Bild, das Augustin von der Sprache entwirft, ist eben das Bild einer primitiveren Sprache als der unseren. Sich ein Sprachspiel vorzustellen, heißt in diesem Sinne, sich eine primitivere Sprache als die unsere vorzustellen, eine Sprache, in der sich alles auf wenige ausgewählte Aspekte reduziert, die durch dieses Sprachspiel erlernt bzw. die anhand dieses Sprachspiels analysiert werden können. Durch diese Übersichtlichkeit der einfachen, klaren, gegenüber unserer Sprache stark reduzierten Sprachspiele wird es leichter wahrzunehmen, wie unsere Sprache arbeitet. Doch ist das weitere sprachliche Umfeld und sein Verhältnis zu dem ausgegrenzten Sprachspiel damit nicht aus dem Blick, sondern es wird ebenfalls in einzelnen Aus26 So eine gängige und weit verbreitete Interpretation des Sprachspielbegriffs (vgl. z.B. Niebdalla, Christliches Sprachspiel und religiöse Erfahrung, 50f; Apel, Wittgenstein und das Problem der Hermeneutik; Stenius, Art. Sprachspiel, 1534f und Savigny, Sprachspiel und Lebensform). Für die Interpretation von „Sprachspiel“ als methodischen oder auch heuristischen Begriff argumentieren dagegen z.B. Barnett, Rhetoric of Grammar; Lutz, Sprachspiel-Methode; Shanker, Wittgenstein’s Solution; Crittenden, Wittgenstein on Philosophical Therapy and Understanding. 27 Man kann bei Wittgenstein zwischen faktischen und fiktiven Sprachspielen unterscheiden. Beide sind allerdings als Methode der Sprachwahrnehmung zu verstehen, auch das faktische Sprachspiel (Barnett, Rhetoric of Grammar, 47; vgl. auch Stuart G. Shanker, Wittgenstein’s Solution of the ‚Hermeneutic Problem , 113f). 28 In PU 48 spricht Wittgenstein im Blick auf § 2 explizit von einer Methode, die dort angewandt wurde. Der Zusammenhang macht deutlich, dass hier der methodische Schritt, sich ein Sprachspiel auszudenken, gemeint ist: „Laß uns die Methode des § 2 auf die Darstellung im Theätetus anwenden. Betrachten wir ein Sprachspiel […]“ (ebd., Hervorhebung im Original). 29 PU 2: „Denken wir uns eine Sprache, für die die Beschreibung, wie Augustinus sie gegeben hat, stimmt: […]“ Das Sprachspiel aus § 2 ist also der Versuch sich eine Sprache vorzustellen, auf die eine bestimmte Theorie der Sprache passt.

Übersichtliche Darstellung und Grammatik

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schnitten (Sprachspielen) wahrgenommen, so dass ein Vergleich möglich wird. Damit entsteht in der Betrachtung verschiedener Sprachspiele, die mal mehr mal weniger willkürlich in ihrem Umfang bestimmt sind, ein Netz von Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten, durch das ich erkennen kann, wie Sprache arbeitet ohne mich dafür einer Metasprache der Reflexion auf Sprache bedienen zu müssen: „Unsere klaren und einfachen Sprachspiele sind nicht Vorstudien zu einer künftigen Reglementierung der Sprache – gleichsam erste Annäherungen, ohne Berücksichtigung der Reibung des Luftwiderstandes. Vielmehr stehen die Sprachspiele da als Vergleichsobjekte, die durch Ähnlichkeit und Unähnlichkeit ein Licht in die Verhältnisse unserer Sprache werfen sollen.“ (§ 130)30 Durch diese Vergleiche entsteht eine übersichtliche Darstellung der Verwendung von Sprache.

Damit ist die Situation des Erlernens von Sprache schon durch den methodischen Ansatz Wittgensteins in besonderer Weise im Blick. Um zu verstehen, wie die Sprache arbeitet, wird das Erlernen von Sprache in den Blick genommen, sei es das faktische Erlernen oder aber das fiktiv konstruierte Lernen einfacherer Sprachen als unserer. Sprache ist so immer als erlernte Sprache im Blick und das Lernen von Sprache in Sprachspielen geschieht auf der Grenze von sprachlichen und nicht-sprachlichen Handlungen. Dieser Zusammenhang soll durch den Begriff der Lernsituation von Sprache markiert werden. 1.3 Übersichtliche Darstellung und Grammatik Übersichtliche Darstellung und Grammatik Die Methoden Wittgensteins zur Darstellung der Sprache konzentrieren sich im Grammatikbegriff. So geht es z.B. im Blick auf die Ähnlichkeit von Glauben, Erwarten, Hoffen und Denken (§ 574) bzw. der Ähnlichkeit von Wissen, Können, im-Stande-sein und Verstehen (§ 150) jeweils um Ähnlichkeiten und Differenzen in der Grammatik. Der Kampf gegen die Verhexung des Verstandes mit Mitteln der Sprache ist ein Kampf gegen eine falsche Grammatik, die sich uns aufdrängt (§ 304). Grammatik ist also ein ambivalenter Begriff: Sie kann auch in die Irre führen (§ 187), „grammatische Fiktion[en]“ (§ 307) sind der Grund der Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel der Sprache. Die Irrtümer, die sich uns hier aufdrängen, haben ihre Quelle darin, „daß wir den Gebrauch unserer Wörter nicht 30 Savigny, Bd. 1, 175 geht davon aus, dass sich dieser Paragraph nur auf erfundene Sprachspiele bezieht und kritisiert von daher die Interpretation von Barnett, der wir uns hier weitgehend anschließen. Gegen Savignys Interpretation spricht m.E. die allgemeine Formulierung: Es heißt „Unsere klaren und einfachen Sprachspiele […]“ – Eine Einschränkung auf erfundene Sprachspiele kann ich hier nicht ausmachen! Im Kontext geht es zu dem um den allgemeinen Charakter dessen, was Wittgenstein in den PU unternimmt: Sind Sprachspiele nur eine neue Art der Regulierung von Sprache durch Vorbilder (vgl. § 131)? Dem widerspricht Wittgenstein mit § 130 von vornherein.

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übersehen. – Unserer Grammatik fehlt es an Übersichtlichkeit.“ (§ 122) Die Philosophischen Untersuchungen als grammatische Betrachtung „bring[en] Licht in unsere Probleme, indem sie Mißverständnisse wegräum[en]. Mißverständnisse, die den Gebrauch von Wörtern betreffen“. (§ 90) Auf diesem Wege soll mit Hilfe der dargestellten Methoden eine übersichtliche Darstellung unserer Grammatik, das heißt der Verwendung unserer Sprache, gewonnen werden. Das folgende Zitat aus den „Bemerkungen über Frazers Golden Bough“ fasst diese Methode der übersichtlichen Darstellung gut zusammen: Der Begriff der übersichtlichen Darstellung ist für uns von grundlegender Bedeutung. Er bezeichnet unsere Darstellungsform, die Art, wie wir die Dinge sehen. […] Diese übersichtliche Darstellung vermittelt das Verständnis, welches eben darin besteht, daß wir „Zusammenhänge sehen“. Daher die Wichtigkeit des Erfindens von Zwischengliedern. Ein hypothetisches Zwischenglied aber soll in diesem Falle nichts tun, als die Aufmerksamkeit auf die Ähnlichkeit, den Zusammenhang der Tatsachen lenken. (BFGB 37)

Grammatische Sätze31 sind dabei ein Phänomen des gewöhnlichen Sprachgebrauchs. Sie sagen etwas darüber aus, wie wir bestimmte Wörter verwenden. Sie werden dabei aber leicht missverstanden als Sätze, die über Gegenstände und ihre Eigenschaften reden. Es sind Sätze, die wir z.B. verwenden, wenn wir jemandem unsere Sprache beibringen. Charakteristisch für solche Sätze ist, dass sie Selbstverständlichkeiten auszusagen scheinen, wie z.B. „Ein Körper hat eine Ausdehnung.“ (vgl. § 252) Wir können uns hier ein Gegenteil nicht vorstellen und zwar nicht deshalb, weil uns die Vorstellungskraft dazu fehlt, sondern weil ein Satz, der das Gegenteil behauptet, in unserer Sprache ein sinnloser Satz wäre (§ 251). Ein grammatischer Satz sagt etwas darüber, wie wir etwas nennen. „Beispiel: ‚Jeder Stab hat eine Länge‘. Das heißt etwa: wir nennen etwas (oder dies) ‚die Länge eines Stabes‘ – aber nicht ‚die Länge einer Kugel‘“. (§ 251) In diesem Sinne ist auch der Satz „Der Befehl befiehlt seine Befolgung.“ (§ 458) ein grammatischer Satz. Behaupte ich hier das Gegenteil, z.B. „Ein Stab hat keine Länge“, so besagt das nur: Ich verwende diese Worte nicht so, sondern es heißt bei mir etwas anderes. Der grammatische Satz drückt also eine Notwendigkeit aus, die sich allein aus der Verankerung der Sprache in einer bestimmten erlernten Praxis ergibt. Diese Form von Notwendigkeit nennen wir im folgenden grammatische Notwendigkeit. Der eigentümliche Charakter solcher grammatischen Sätze und der in ihnen dargestellten Notwendigkeit wird von Wittgenstein durch die Abgren31 Wittgenstein verwendet in den PU meist, aber nicht immer, die etwas gestelzte Wendung „grammatikalischer Satz“, die ich hier durch den sprachlich angenehmeren Begriff „grammatischer Satz“ ersetze.

Übersichtliche Darstellung und Grammatik

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zung von Erfahrungssätzen verdeutlicht.32 So ist es implizit auch im eben behandelten § 251 der Fall: Die Bemerkungen über die Unmöglichkeit der sinnvollen Verneinung eines solchen Satzes charakterisiert Wittgenstein in einer abschließenden Notiz (die allerdings in doppelte Klammern gesetzt ist) als „Bemerkung über die Verneinung eines Satzes a priori.“ Ein Satz a priori ist aber ein Satz, der vor aller Erfahrung liegt.33 In gewissem Sinne liegen die grammatischen Sätze vor aller Erfahrung, denn sie regeln ja unser Sprechen von Erfahrungen. Auf der anderen Seite jedoch gibt es hier auch eine Abhängigkeit von der Erfahrung: „[W]as wir ‚messen‘ nennen [die Grammatik von ‚messen‘], ist auch durch eine gewisse Konstanz der Messungsergebnisse bestimmt.“ (§ 242) Gäbe es hier keine Regelmäßigkeit – würde also z.B. eine Waage, die das Gewicht eines Gegenstandes misst, ohne Regel unterschiedlich ausschlagen – so würde unsere Rede vom Messen des Gewichts sinnlos oder sie hätte einen anderen Sinn. In § 354 redet Wittgenstein im Blick auf diesen Zusammenhang von einem Schwanken der Grammatik zwischen Symptomen („erfahrungsmäßige Begleiterscheinungen“) und Kriterien („bedeutungsrelevante Bedingungen“),34 durch das der Anschein entstehen kann, es gäbe nur Symptome: Die Konstanz der Messergebnisse scheint nur ein Symptom zu sein, tatsächlich ist sie jedoch auch ein Kriterium dafür, dass wir sinnvoll davon reden können, dass hier etwas gemessen wird. In § 354 selber geht es um das Verhältnis des Messens (mit einem Barometer) zu den Sinneseindrücken: Sind unsere Sinneseindrücke nur Symptome, da sie uns über das Wetter täuschen können? Dass aber das Barometer z.B. Regen anzeigt, wenn es regnet, basiert auf einer Definition der Messskala, bei der unsere Sinneseindrücke Kriterium waren.35 Insofern sind die Sinneseindrücke bzw. die Erfahrungen bald Kriterium und bald Symptom, bald Grundlage der sich bildenden Grammatik, bald der Grammatik nachgeordnet.36 Davon zu reden, dass die Grammatik 32 Vgl. z.B. PU 232, 295. 33 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B2f: „Wir werden also im Verfolg unter Erkenntnissen a priori nicht solche verstehen, die von dieser oder jener, sondern die schlechterdings von aller Erfahrung unabhängig stattfinden.“ Kants Kritik der reinen Vernunft zählt zu den wenigen philosophischen Werken mit denen Wittgenstein aus eigener Lektüre vertraut war (vgl. Monk, Wittgenstein, 158). 34 Diese Interpretation von „Symptom“ und „Kriterium“ entnehme ich Lange, Philosophische Untersuchungen, 287. 35 Vgl. ebd. 36 Von daher könnte man hier mit J.G. Hamann (vgl. Ders., Metakritik, § 15 [215,14–32]) davon reden, dass die Grammatik unserer Sprache a priori willkürlich und a posteriori notwendig sei (vgl. Bayer, A priori willkürlich, a posteriori notwendig und Ders., Vernunft ist Sprache, 374– 396). Eine Formulierung, die allerdings nur als metakritische Parodie Sinn macht, denn die Begriffe des a priori und des a posteriori werden dadurch eigentlich sinnentleert. Von daher ziehe ich Wittgensteins deskriptive Herangehensweise vor, die auf einen solchen zusammenfassenden Terminus für das Phänomen verzichtet.

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von der Erfahrung abhänge, greift also zu kurz. Das, wovon die Grammatik abhängt ist umfassender zu beschreiben: Der Grammatik unserer Sprache sind ihre Möglichkeiten und Grenzen dadurch vorgegeben, dass es nicht für alle Möglichkeiten der Sprache in unserem Leben eine Verwendung gibt (§ 520). Unsere Grammatik ist insofern nicht willkürlich, als dass einem, wenn man „sich gewisse sehr allgemeine Naturtatsachen anders vorstell[t], als wir sie gewohnt sind“, andere Begriffsbildungen als die gewohnten durchaus verständlich werden.37 Grundlage der Grammatik unserer Sprache ist also unser Leben in einem umfassenderen Sinne als es durch Erfahrung erfasst wird.38 So ist die Notwendigkeit eines grammatischen Satzes zwar von geringerem Grad als eine apriorische Notwendigkeit, wohl aber stärker als die Notwendigkeit von Erfahrungssätzen. Jene beanspruchen ewige Gültigkeit, diese sind bloß kontingent. Grammatische Sätze bewegen sich im Mittelmaß des Gewohnten und Gebräuchlichen, das aber eben nicht einfach per Definition aufgehoben oder gesetzt werden kann, sondern sich über größere Zeiträume entwickelt. Die Notwendigkeit grammatischer Sätze gründet in den alltäglichen Gewissheiten des Lebens.39

2. „Verstehen lernen“ und „einer Regel folgen“ Verstehen lernen Eine Sprache lernen heißt eine Sprache verstehen lernen. Damit ist das für unsere hermeneutische Fragestellung zentrale Thema des Verstehens angesprochen. Gerade hier eröffnen die Beobachtungen Wittgensteins eine neue Perspektive, die über die Tradition der philosophischen und theologischen Hermeneutik seit Schleiermacher hinausweist. Denn die Frage nach dem Verstehen stellt Wittgenstein selbstverständlich als die Frage nach der Bedeutung des Wortes „verstehen“. Wittgenstein versucht in oben beschriebener Weise durch das Vergleichen verschiedener Situationen der Verwendung von „verstehen“ (Sprachspiele mit dem Wort „verstehen“) darzustellen, was wir in verschiedenen Situationen unter diesem Wort verstehen. Die Fragestellung wird hier deutlich reflex. Von daher erklärt sich, dass die Ausführungen zum Verstehen und mit ihnen die Ausführungen über die 37 PU II, 578. 38 In diesen Zusammenhang gehört m.E. auch Wittgensteins gelegentliche Rede von unserer Lebensform. Vgl. in diesem Sinne etwa Baker/Hacker, Wittgenstein 2, 233, 241f. Der Begriff kommt in den PU allerdings nur selten vor, nämlich in §§ 19, 23, 241 und in Teil II, 489 und 572. Aufgrund der Unterbestimmtheit dieses Begriffs verzichte ich in meiner Interpretation weitestgehend auf ihn. Das, was damit zu sagen ist, muss sich gemäß dem, was hier über Wittgensteins Methode entwickelt wurde, auch anders sagen lassen. 39 Diesen Aspekt führt Wittgenstein dann in „Über Gewissheit“ aus. Vgl. z.B. ÜG 136, 138, 165f, 204f, 239, 338.

Dekonstruktion eines mentalen Verstehensbegriffs

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Grammatik von „einer Regel folgen“40 im Gefüge und in der Argumentation der Philosophischen Untersuchungen eine zentrale Rolle spielen. 2.1 Dekonstruktion eines mentalen Verstehensbegriffs durch Vergleich Dekonstruktion eines mentalen Verstehensbegriffs Die Frage nach der Grammatik von „verstehen“ in den Philosophischen Untersuchungen knüpft an einige Paragraphen an, die sich mit der Frage nach dem Wesen des Satzes beschäftigten (§§ 134–137). Diese Untersuchungen zum Wesen des Satzes ihrerseits waren eine konsequente Fortführung von Wittgensteins Beobachtungen zur Methode seiner Philosophie: Wittgenstein macht in ihnen an einem Beispiel seiner eigenen Frühphilosophie im Tractatus deutlich, worum es ihm geht, wenn er von metasprachlichen Wesensbestimmungen weg hin zu einer Beschreibung der vielfältigen Verwendungssituationen will. Zur Erörterung über das Wesen des Satzes gehört auch die traditionelle Definition, dass ein Aussagesatz dadurch gekennzeichnet sei, dass er wahr oder falsch sein könne. Man könnte auch sagen: „Was zum Begriff ‚wahr‘ paßt, oder worauf der Begriff ‚wahr‘ paßt, das ist ein Satz.“ (§ 136) Diese Rede vom „zum Satz passen“ nehmen sowohl § 137 als auch § 138 auf und erörtern, in welchen Situationen man von solch einem „Passen“ sinnvoll reden kann. § 138 wirft die Frage auf: „Kann dann aber nicht die Bedeutung eines Wortes, die ich verstehe, zum Sinn des Satzes, den ich verstehe, passen?“ Damit ist, von der Frage nach dem Verhältnis von Wort- und Satzverstehen ausgehend, die Frage nach dem Verstehen und dem Verhältnis von Wortbedeutung und Verstehen der Wortbedeutung aufgeworfen. Die schlichte Rede vom Passen der Wortbedeutung zum Sinn des Satzes, scheitert aber schon daran, dass die Bedeutung eines Wortes durch seinen Gebrauch bestimmt ist, denn der Gebrauch ist ja etwas in der Zeit ausgedehntes, wir erfassen (verstehen) aber die Bedeutung eines Wortes in einem Augenblick. Insofern passt beides nicht zusammen. (§ 138) Damit geht die Frage nach dem Passen hier über in die Frage nach dem Zusammenhang der Bedeutung eines Wortes mit dem Verstehen der Bedeutung eines Wortes. Die Begriffe der Bedeutung und des Verstehens greifen hier deutlich ineinander und sind unmittelbar aufeinander bezogen. Verstehe ich unter der Bedeutung eines Wortes sein Denotat, also das, worauf das Wort referiert oder verweist, so muss sich auch das Verstehen auf dieses Denotat richten und den Zusammenhang zwischen Wort und Wirklichkeit nachkonstruieren. Nun hat Wittgenstein aufgezeigt, dass die Bedeutung eines Wortes sich nur selten so einfach bestimmen lässt, sondern in den meisten 40 Die Ausführungen des sog. Regelfolgenargumentes dienen in den PU als Vergleich zur Rede vom „verstehen“ (s.u. Abschnitt 2.2).

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Fällen durch den Handlungs- und Sprachkontext bestimmt ist. Damit aber drängt sich nun wiederum die Frage auf, wie denn im Moment des Verstehens dieser Handlungsund Sprachkontext präsent sein kann. Passen „verstehen“ und „bedeuten“ nun überhaupt noch zusammen? Wie muss die Grammatik von „verstehen“ aussehen, wenn die Bedeutung eines Wortes durch seinen Gebrauch mitbestimmt ist? Wenn das Bedeuten schon kein mentales Phänomen ist, so scheint doch das Verstehen ein solches sein zu müssen: ein mentales Phänomen, das auf geheimnisvolle Weise alle Situationen der Verwendung eines Wortes erfasst.

a) Verstehen als „mentaler Mechanismus“? Um mehr Klarheit über die Verwendung von „verstehen“ und das Verhältnis des Verstehens zur Verwendung eines Wortes zu gewinnen, vergleicht Wittgenstein die hier benannte Problemstellung in § 143 mit dem analog gelagerten Problem, wie wir die Entwicklung einer Zahlenreihe verstehen können. Es werden hier also zwei Sprachspiele, in denen das Wort „verstehen“ vorkommt, miteinander verglichen. Was versetzt uns in die Lage, das Ganze einer Zahlenreihe zu verstehen, wenn wir nur die ersten paar Zahlen dieser Reihe kennen? Es scheint, dass wir im Blick auf dieses Sprachspiel um so etwas wie einen mentalen Mechanismus,41 der uns erlaubt, das gehörte Wort zu verstehen, nicht herumkommen. Die Funktionsweise solch eines mentalen Mechanismus kann man sich auf unterschiedliche Weise vorstellen: Wittgenstein nimmt sich die jeweils unterschiedlichen Vorstellungsbilder vom Verstehen als einem mentalen Mechanismus vor und untersucht das Verhältnis dieser Bilder zu unserer Verwendung von „verstehen“ in verschiedenen Sprachspielen, wie z.B. der Verwendung von „verstehen“ im Kontext des Verstehens einer Zahlenreihe. Eine erste Möglichkeit den (vermeintlichen) mentalen Mechanismus des Verstehens zu präzisieren, ist die Annahme, dass uns, wenn wir etwas verstehen, ein Bild im Geiste vorschwebt, das zwischen dem gehörten Wort und seinem Denotat vermittelt. Haben wir aber solch ein Bild (z.B. das eines Würfels) in unserem Geist oder Verstand, sobald wir ein entsprechendes Wort (z.B. „Würfel“) hören oder lesen, so stellt sich die Frage, wie sich dieses Bild zum Abgebildeten verhält, das wir durch es verstehen. Denn ein Bild kann ja auf unterschiedliche Weise projiziert werden. Sind uns diese Projektionsmethoden ebenfalls im Geiste vorgegeben (§ 139)? Dieser Projektionsmechanismus lässt sich wiederum damit vergleichen, dass wir eine Tabelle im Geist vor uns haben, anhand derer wir das Bild mittels einer durch diese Tabelle repräsentierten Projektionsmethode abbilden bzw. auf 41 MacDowell, Non-Cognitivism and Rule Following, 41 spricht hier von einem „psychological mechanism“. Vgl. dazu auch den kurzen Exkurs zu Wittgensteins Rede von der Maschine als dem Symbol ihrer Wirkungsweise unten, 100.

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den Gegenstand beziehen können (Wittgenstein nimmt hier Überlegungen aus §§ 85f auf).42 Jedoch wäre auch eine solche Tabelle selber wieder der Interpretation bedürftig und somit nicht eindeutig. Damit bedürfte es wiederum eines Schemas, durch das diese Tabelle eindeutig wird. Dieses Schema selber aber wäre auch wieder einer Interpretation bedürftig usw. Eine solche Vorstellung vom Verstehen als einem mentalen Mechanismus, der durch ein Bild des Verstandenen zwischen Wort und Bedeutung (Denotat) des Wortes vermittelt, führt also letztendlich in einen infiniten Regress von Deutungen, so dass die Bedeutung eines Wortes letztlich nicht feststände und wir eigentlich einander gar nicht verstehen könnten. Wir könnten letztlich nur raten, was der andere sagt, da jedes Verstehen nur eine Deutung der Worte des anderen ist, aber jede Deutung mit einer Unsicherheit belastet bleibt. Auch wenn es in der Kommunikation zwischen Menschen diese Situation des Missverständnisses gibt, ist sie doch nicht grundlegend, denn das hieße Kommunikation und Sprache für unmöglich zu erklären. Dass solche Missverständnisse in der Sprache geklärt werden können, weil wir eine gemeinsame Sprache (z.B. Deutsch oder Englisch) sprechen, zeigt aber, dass es ein grundlegendes Verstehen gibt, das wir unter normalen Umständen nicht in Frage stellen: „Nur in normalen Fällen ist der Gebrauch des Wortes uns klar vorgezeichnet; wir wissen, haben keinen Zweifel, was wir in diesem oder jenem Fall zu sagen haben.“ (§ 142) Fragen wir nun, wie das Lernen einer Zahlenreihe vor sich geht, so ist zunächst deutlich, dass wir keine klare Grenze angeben können, bis zu der ein Schüler die Reihe fortsetzen können muss, damit wir sagen können, er habe sie gelernt. (§ 145) Ab wann er das System verstanden hat, können wir also nicht eindeutig bestimmen. Damit kann eine eindeutige Kenntnis einer bestimmter Anzahl von Stufen und Übergängen der Zahlenreihe nicht das Lernziel noch eine Voraussetzung für das Verständnis der Zahlenreihe sein. Vielmehr scheint es hier nun so, als ob der mentale Mechanismus des Verstehens nur erklärbar ist, wenn das Verstehen ein Zustand (z.B. der Seele) ist, „woraus die richtige Anwendung entspringt.“ (§ 146) Allerdings bleibt auch hier die Frage, wie die Anwendung auszusehen hat. Letztlich bestimmt die Anwendung des Zustandes, was hier „verstehen“ heißt: „Die Anwendung bleibt ein Kriterium des Verstehens.“ (Ebd.)

42 Vgl. dazu unten Abschnitt 2.2 a) (111). Diese Paragraphen gehören zu den ersten Ausführungen, die die Grammatik von „einer Regel folgen“ betreffen, die §§ 197ff wieder aufgegriffen werden. Die Frage nach der Grammatik von „verstehen“ verschränkt sich also schon hier mit der Frage nach der Grammatik von „einer Regel folgen“. Auch Puhl, Regelfolgen, 130 sieht hier einen Zusammenhang zum Regelfolgenargument, geht aber darin zu weit, dieses in §§ 139f selber unmittelbar als Thema anzusehen und nicht die Frage nach der Grammatik von „verstehen“. Siehe dazu unten Abschnitt 2.2, insbesondere Anm. 78.

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In §§ 147–150 verdeutlicht Wittgenstein dies am Beispiel der Rede vom Wissen als Seelenzustand. Diese Fragestellung ist mit der Frage nach der Entwicklung der Zahlenreihe eng verbunden, denn gegen eine Begründung unseres Verstehens der Zahlenreihe aus der Erfahrung spricht vor allem die Aussage, dass wir die Anwendung des Gesetzes zur Entwicklung der Zahlenreihe wissen, ohne uns an die tatsächliche Anwendung erinnern zu müssen (§ 147). „Wissen“ scheint also für den Zustand zu stehen, der durch das Verstehen erlangt wird und aus dem die richtige Anwendung des Verstandenen entspringt. Damit steht auch die Frage nach dem Verhältnis der Grammatik von „verstehen“ und „wissen“ im Raum. Redet man von etwas als von einem Seelenzustand, so fasst man es gleichsam als Zustand eines Seelenapparates auf. Will man von solch einem Zustand reden, so gibt es für die Bestimmung dieses Zustandes zwei Kriterien: 1. das Erkennen der Konstruktion des Apparates, 2. die Wirkungen dieses Apparates. (§ 149)43 Weil wir aber vom Wissen über die Entwicklung einer Zahlenreihe nicht reden können, ohne auch die Wirkungen des Wissens in den Blick zu nehmen – denn das Wissen wird ja an seiner Wirkung daraufhin überprüft, ob es wirkliches Wissen ist – „ist es nicht einwandfrei, hier von einem Zustand der Seele zu reden“ (ebd.). So gesehen ist die Grammatik von „wissen“ verwandt mit der Grammatik von „können“, „im Stande sein“, aber eben auch mit der Grammatik von „verstehen“ (§ 150), für die ebenfalls die Anwendung des Verstandenen Kriterium zur Beurteilung der rechten Verwendung des Wortes „verstehen“ ist.44

Hinzu kommt ein Aspekt, der sowohl gegen die Vorstellung eines mentalen Bildes als auch gegen die Vorstellung vom Verstehen als einem Zustand der Seele spricht: Die Art und Weise, wie wir die Wörter „Bild“ und „Zustand“ verwenden, ihre Grammatik also, unterscheidet sich grundsätzlich von dem, was wir „verstehen“ nennen. So gilt zum Beispiel: „We can keep an image in mind for five minutes, but it makes no sense to talk of ‚keeping one’s understanding in mind (before one’s mind) for five minutes‘“.45 Ähnliches gilt von Seelenzuständen: Ein Zustand hat eine Dauer, kann unterbrochen werden, man kann in einen Zustand versetzt werden oder verfallen. Nichts davon kann man ernsthaft vom Verstehen sagen. Wenn wir von einer Unterbrechung des Verstehens reden, so hat dies einen gänzlich anderen Kontext.46 Die Nähe zwischen der Grammatik von „wissen“ und „verstehen“ greift § 151 auf, indem er die Ausrufe „Jetzt weiß ich’s!“ und „Jetzt versteh ich’s!“ neben einander stellt: Beide Ausrufe signalisieren, dass jemand die Zahlenreihe meint fortsetzen zu können. Während eines solchen Ausrufes 43 Die Wirkungen des Apparates werden von Wittgenstein nicht explizit genannt, sind aber aus der Formulierung zwingend als zweites Kriterium zu erschließen: „[…], insofern es für den Zustand zwei Kriterien geben sollte; nämlich ein Erkennen der Konstruktion des Apparates, abgesehen von seinen Wirkungen.“ (§ 149) 44 Wir haben es wiederum mit dem Schwanken der Grammatik zwischen Symptom und Kriterium zu tun. Vgl. dazu oben, 95. 45 Baker/Hacker, Wittgenstein 1, 607. 46 Vgl. die Anmerkung PU II, 315 und 500. Vgl. dazu Baker/Hacker, Wittgenstein 1, 609f.

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können verschiedene Dinge im Rufer vorgegangen sein: Er kann z.B. eine bestimmte Empfindung gehabt haben (§ 51). Den mentalen Mechanismus des Verstehens allerdings mit einem dieser Vorgänge zu identifizieren, führt auf ein ähnliches Problem wie die Identifikation des Verstehens mit einem Zustand: Ein Vorgang braucht Zeit; er hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende und hat verschiedene Phasen.47 Einen Vorgang kann man unterbrechen, aber wir sagen nicht, dass wir Verstehen unterbrechen (§ 151f). Es mag Vorgänge geben, z.B. seelische, die das, was wir „verstehen“ nennen, begleiten, aber wir können das Verstehen nicht einfach mit diesen Vorgängen identifizieren. Das, was Wittgenstein im Blick auf die Identifikation von Verstehen mit den Begleitvorgängen des Verstehens als Problem anmerkt, ist ein grundlegendes Problem aller bisher betrachteten Definitionsversuche des Begriffs „verstehen“: Betrachten wir unseren faktischen Gebrauch des Wortes „verstehen“, so können wir letztlich nicht begründen, warum wir „verstehen“ für genau diesen Zustand, diesen Vorgang oder diese Erfahrung verwenden sollten: „[W]arum sollte das nun das Verstehen sein?“ (§ 153) Woher wissen wir überhaupt, dass wir für diese Begleiterscheinungen das Wort „verstehen“ verwenden können? Was sind die Kriterien für solch eine Identifikation (§ 322)? Hat man uns das Wort „verstehen“ unter Bezug auf solche mentalen Phänomene beigebracht? Was also ist es, dass uns berechtigt zu sagen, dass jemand verstanden hat? All diese Definitionsversuche gehen davon aus, dass „verstehen“ sich auf etwas uns verborgenes bezieht (wir sehen ja nicht ein etwas, auf das das Wort zeigen könnte). Es ist nun aber demgegenüber entscheidend, dass das Wort „verstehen“ mit einem objektiven Anspruch verbunden ist. Wenn also jemand sagt „Ich habe verstanden“, dann gibt es Kriterien, die anderen ein Urteil darüber erlauben, ob er wirklich verstanden hat (§ 154).48 Solche Kriterien sind in den meisten Fällen nicht mentale Phänomene, die andere nicht wahrnehmen können oder deren Wahrnehmung durch andere mit Unsicherheiten belastet ist: dann könnten andere jeweils nur raten, ob das Wort „verstehen“ richtig verwendet wurde, also ob die entsprechende Person wirklich verstanden hat. Wenn z.B. jemand sagt „Jetzt verstehe ich, wie die Reihe fortzusetzen ist“, dann ist das, was für uns als Kriterium für ihr Verstehen zählt, wie der Betreffende die Reihe wirklich fortsetzt (§ 180). Freilich kann man sich auch eine Situation vorstellen, in der ein inkorrektes Fortführen der Reihe durch andere Umstände begründet ist als ein faktisches Nicht-Verstehen (§ 181, § 323), z.B. durch einen Schlag auf den Hinterkopf oder eine andere Form der Ablenkung, die dazu führt, dass die 47 Vgl. Baker/Hacker, Wittgenstein 1, 608. 48 „[S]o sind es gewisse Umstände, die mich berechtigen, zu sagen, ich könnte fortsetzen, – wenn mir die Formel einfällt.“ (§ 154) Vgl. dazu auch Gilmore, Philosophical Health, 66f.

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Lösung vergessen wurde. Andererseits kann das Fortsetzen der Reihe auch einfach Zufall sein. Sie alleine ist also nicht hinreichendes Kriterium dafür zu sagen, jemand habe verstanden, wie die Reihe sich entwickelt. Es müssen andere Aspekte hinzutreten: „Umstände wie ‚die Reihe gelernt haben‘, ‚auf Einwendungen reagieren können‘ etc.“49 Die Kriterien für die richtige Verwendung des Wortes „verstehen“ hängen also von der Situation ab, in der das Wort gebraucht wird. Und damit hängt auch seine Bedeutung von der Situation der Verwendung ab: Die Beschreibung dieser Verwendungssituationen aber ist komplexer als es auf den ersten Blick den Anschein hat. So ist es auch etwas grundlegend verschiedenes, zu sagen „Ich verstehe!“ oder „Er/sie versteht.“50 Ist dieses mehr beschreibend so hat jenes mehr Ähnlichkeit mit einem Signal (§ 180)51 oder einem Ausruf (§ 323). Es muss nichts weiter vorgegangen sein, als dass jemand diese Worte gerufen hat, und wenn er dann wirklich fortfahren kann, so sagen wir: „Er hat wirklich verstanden.“ Der Ausruf „Ich verstehe!“ heißt, wenn wir ihn in die dritte Person übersetzen zunächst ja nur „Er/Sie meint verstanden zu haben“ und noch nicht „Er/Sie hat verstanden.“ Letzteres können wir erst sagen, wenn die Person, die diesen Ausruf von sich gab, auch wirklich die Zahlenreihe fortsetzt, wie wir es erwarten (und wenn wir wissen, dass es kein Zufall ist, dass sie die Reihe so fortsetzt) oder wenn der Schüler das Wort so verwendet, wie wir es gewöhnlicher Weise verwenden. Man kann sich auch andere Vergleiche ausdenken, wie z.B. das Verstehen von Beweggründen für eine Tat („Jetzt verstehe ich, warum Du dies getan hast“). Was gilt hier als Kriterium? Man könnte z.B. an eine Änderung im Verhalten gegenüber der betreffenden Person denken oder auch daran, dass man sich unter ähnlichen Umständen von nun an ähnlich verhält. Wittgenstein selber greift später in den Philosophischen Untersuchungen das Beispiel des Verstehens eines musikalischen Themas auf (§§ 527– 535).52 Schon in § 184 verwendet Wittgenstein das Beispiel des Einfallens einer Melodie als Beispiel: Wenn wir im Blick auf die Entwicklung einer Zahlenreihe rufen „Jetzt versteh ich!“ so mag dies heißen, dass mir die Formel der Reihe eingefallen ist und insofern bedeutet „verstehen“ hier soviel wie „mir ist die Formel eingefallen“. Erinnere ich mich aber an die Melodie eines Musikstückes, so fällt mir keine Formel ein. „Verstehen“ bedeutet hier etwas ganz anderes, nämlich z.B. schlicht dies, dass ich die Melodie nun pfeifen kann. 49 Lange, Philosophische Untersuchungen, 229. 50 Dies wird in PU 155 an dem Wechsel der Perspektive deutlich: „[…] was ihn aber für uns berechtigt […].“ Vgl. zur grundlegenden Problematik des Perspekivwechsels Rankin, Wittgenstein on Meaning, Understanding and Intending, 10. 51 Vgl. Savigny, Bd.1, 218. 52 Zum Verstehen eines musikalischen Themas vgl. unter Abschnitt 3.

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Deutlich werden soll also zunächst, dass das Wort „verstehen“ nicht die eine Bedeutung hat,53 sondern dass keines der möglichen Kriterien, die es erlauben über die rechte Verwendung und die Bedeutung des Wortes zu urteilen, in allen Fällen gegeben ist, in denen wir das Wort „verstehen“ verwenden und verstehen. Dies aber kommt nur in den Blick, wenn wir die Verwendung des Wortes „verstehen“ nicht allein im Blick auf die verstehende Person untersuchen, sondern den Blick auch auf die Personen lenken, die anderen Verstehen zusprechen, also auch die Grammatik von „er/sie versteht“ mit in die Überlegungen einbeziehen. Dafür, dass dieser Satz richtig verwendet wird, sind die Umstände seiner Verwendung entscheidend und diese Umstände sind nicht seelische Vorgänge in der verstehenden Person. (§ 155) Diese Zusammenhänge verdeutlicht Wittgenstein durch einen Exkurs zur Grammatik von „lesen“, den wie nun in unsere Erwägungen mit einbeziehen müssen. b) Exkurs: Lesen als Vergleich zum Verstehen (§§ 156–178) Wittgenstein nimmt hier das Lesen als einen rein mechanischen Vorgang in den Blick, das heißt er betrachtet das Lesen unabhängig vom Verstehen des Gelesenen (§ 156). Das mag im Kontext einer Untersuchung zur Grammatik von „verstehen“ zunächst überraschen, erklärt sich aber aus dem avisierten Vergleichspunkt zwischen den Sprachspielen mit „lesen“ und den Sprachspielen mit „verstehen“. Beim so verstandenen Lesen geht es um „die Tätigkeit, Geschriebenes oder Gedrucktes in Laute umzusetzen“ (ebd.). Damit entsteht die Frage, wie leite ich aus dem Text die Laute ab, wie kommt der Übergang vom Text zur mündlichen Rede zustande, wenn ich lese? Diese Frage ist analog der Frage, die uns im Kontext der Frage nach der Grammatik von „verstehen“ beschäftigt: Wie leite ich von einem Wort seine Bedeutung ab, wenn ich es verstehe? Ähnlich wie beim Verstehen sind auch beim Lesen verschiedene Situationen zu unterscheiden: Das Lesen eines gedruckten Textes, das Lesen eines handschriftlichen Textes, das Lesen des Anfängers, das Lesen des geübten Lesers usw. Im Blick auf den Unterschied zwischen einem Schüler, der gerade erst das Lesen lernt und einem geübten Leser, mag die Tendenz bestehen zwei unterschiedliche Lesemechanismen als Erklärungsmodelle anzunehmen (§ 156). Wiederum kommt es im Blick auf das Lesenlernen zu einem Problem ähnlich dem beim Erlernen des Fortsetzens einer Zahlenreihe: Wir können nicht genau festlegen, ab wann der Schüler gelernt hat zu lesen. Anders als eine bloße Maschine, die entsprechend justiert sein müsste, damit wir sagen können, dass sie lese, haben wir bei der „lebendigen 53

Vgl. Goldfarb, Wittgenstein on Understanding, 119.

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Maschine“ nur bestimmte Reaktionen des Schülers, ein bestimmtes Reagieren auf die Schriftzeichen. Wo der Schüler wirklich zu lesen anfängt, bemerken wir das z.B. an einer Veränderung in seinem Verhalten (eine Änderung in der Stimme, eine entspannte Haltung, flüssiges Lesen) (§ 157). Damit deutet Wittgenstein an, dass eine bestimmte Auffassung vom Lesen wie auch vom Verstehen eigentlich eher dem Bild vom Menschen als einer Maschine entspricht. Ein Ableiten der Laute aus dem Text nach einer festen Regel hat die Form eines Mechanismus, der lediglich richtig justiert werden muss um zu funktionieren. Das Lesenlernen wird dann auf solch ein Justieren des Mechanismusses reduziert. Dass Ähnliches für die Rede vom Verstehen als mentalem Vorgang gilt, deutete schon die Rede vom „mentalen Mechanismus des Verstehens“ an. Diese mechanistische Vorstellung greift Wittgenstein in §§ 193f auf, indem er unsere Rede von der Maschine, bei der alle Bewegungen im voraus festgelegt sind, in den Blick nimmt. Dabei verdeutlicht er, dass sich das mechanistische Bild vom Lesen und Verstehen an einem faktisch nicht existenten Ideal einer Maschine orientiert. Denn wirkliche Maschinen funktionieren nicht immer einwandfrei und insofern ist es irreführend, die Maschine als Vergleich dafür heranzuziehen, dass im Verstehen eines Wortes alle Situationen seiner Verwendung erfasst werden.54 Die Vorstellung vom Verstehen als mentalem Vorgang geht so gesehen von einem Menschenbild aus, das den Menschen als noch mechanischer als eine Maschine erscheinen lässt: Dieses Menschbild orientiert sich am Idealbild einer Maschine, die selber Symbol ihrer Wirkungsweise ist.

Wittgenstein untersucht verschiedene Erklärungsmodelle, die den Vorgang des Lesens erklären sollen: Das einzig wirkliche Kriterium dafür, dass jemand wirklich liest, scheint uns, gerade wenn wir auf die Situation des Lesenlernens blicken,55 der bewusste Akt des Lesens selbst zu sein. Doch auch wenn es für den Vorgang des Lesens charakteristische Empfindungen geben mag (§ 159), so gibt es auch Fälle, die aus diesem Erklärungsmodell herausfallen: Besonders zu beachten ist hier der fließende Übergang zwischen dem Ablesen Buchstabe für Buchstabe und dem auswendigen Aufsagen eines Textes (§ 161). Was macht hier die Differenz aus? Kann man im letzten Fall noch sinnvoll vom bewussten Akt des Lesens sprechen oder postuliert man ihn dort nicht nur, weil man ihn im anderen Fall regelrecht sehen kann? In dieser Perspektive erscheint es nun als wesentlich für das Lesen, dass wir die Reproduktion von der Vorlage (dem Text) ableiten. Ein Schüler macht den Übergang vom Gedruckten zum Gesprochenen mit Hilfe einer Regel, z.B. einer Tabelle (§ 162). Deutlich knüpft Wittgenstein hier wie schon im Kontext der Diskussion der Grammatik von „verstehen“ an §§ 85ff 54 Vgl. zu den Hintergründen eines technisierten Denkens und den theologischen Problemen, die es impliziert, die Ausführungen bei Mildenberger, Biblische Dogmatik I, 38–42 und Trowitzsch, Technokratie. 55 Vgl. Lange, Philosophische Untersuchungen, 230.

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an und verbindet so auch die Frage nach der Grammatik von „lesen“ mit der Frage nach der Grammatik von „einer Regel folgen“.56 Die Probleme, auf die der Begriff des Ableitens führt, sind dementsprechend auch dieselben.57 Das grundsätzliche Problem ist, dass wir von den konkreten Fällen der Verwendung von „ableiten“ und „lesen“ absehen, in denen sie ihre Bedeutung durchaus haben. In der Situation eines Schülers, der Lesen anhand einer Tabelle lernt, wie sie § 162 vorgestellt wird, kann man „lesen“ in der Tat durch „Ableiten nach einer Regel“ erklären. Das, was hier unter „ableiten“ verstanden wird, ist nicht ein innerer Vorgang, der unter diesen äußeren Vorgängen versteckt ist, sondern „dieses ‚Äußere‘ war ein Fall aus der Familie der Fälle des Ableitens.“ (§ 164) Dennoch sind wir geneigt zu sagen, dass Lesen ein ganz bestimmter Vorgang ist, z.B. dann, wenn wir uns fragen: Was unterscheidet das Lesen eines Textes vom Aussprechen eines ausgedachten Textes? Das, was hier so charakteristisch ist, wird in § 166 anhand eines Gedankenexperimentes deutlich: wir lesen einen gewöhnlichen Buchstaben unseres Alphabets (z.B. A) ohne näher sagen zu können, wie es zu dem Laut kommt, den wir aussprechen. Wenn ich nun aber einen Laut zu einem beliebigen Zeichen aussprechen soll (z.B. Z als U), so finde ich hier einen Unterschied allein in der Situation: „Der Unterschied lag in der etwas anderen Situation: Ich hatte mir vorher gesagt, ich solle mir einen Laut einfallen lassen; es war eine gewisse Spannung da, ehe der Laut kam. Und ich sprach nicht automatisch den Laut ‚U‘, wie beim Anblick des Buchstaben U. Auch war mir jenes Zeichen nicht vertraut, wie die Buchstaben.“ (§ 166) Die Differenz in dieser Situation ist die Differenz in der Vertrautheit des Umgangs mit den Zeichen. Dies wird auch daran deutlich, dass wir einen handschriftlichen Text ganz anders lesen als einen gedruckten (§ 168), oder einen in altertümlicher Drucktype anders als einen in der heute gängigen Drucktype. „Bedenke, daß das gesehene Wortbild uns in ähnlichem Grade vertraut ist, wie das gehörte.“ (§ 167) Freilich, auch das Lesen von Zeichen, die uns nicht vertraut sind, ist ein Lesen, sowie auch das Lernen des Lesens ein Lesen ist. Gerade der fließende Übergang vom Entziffern eines handschriftlichen Textes hin zum flüssigen Lesen desselben macht wiederum deutlich, dass die Vertrautheit mit dem Schriftbild nur das Charakteristikum einer bestimmten Verwendung von „lesen“ ist. Insofern ist auch diese Vertrautheit mit den Zeichen nichts, was allen Verwendungssituationen von „lesen“ gemeinsam ist. (§ 168) Man möchte den Zusammenhang zwischen Text und Aussprache des Textes beim Lesen als einen Einfluss der Buchstaben auf unser Lesen bestimmen. Sobald man 56 Vgl. Gilmore, Philosophical Health, 71. 57 Vgl. die Ausführungen zur Destruktion des mentalen Verstehensbegriffs oben in Abschnitt a) und die Interpretation von §§ 85ff unten, 113.

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diesen Einfluss näher bestimmen will (z.B. als ein Ableiten der Laute aus dem Text) zeigt sich aber, dass dieser Einfluss selber nicht eindeutig zu bestimmen ist. Dieser Einfluss des Textes fällt uns unter normalen Umständen auch nicht auf, sondern nur, wenn wir uns beim Lesen selbst beobachten und z.B. unser normales Lesen mit dem Aussprechen eines bestimmten Lautes beim Anblick eines ungewöhnlichen Zeichens vergleichen. Den Unterschied zwischen diesen beiden Situationen deuten wir als Einfluss und als Fehlen eines Einflusses des Zeichens auf unsere Aussprache (§ 170). Wir können die verschiedenen Situationen des Lesens genau beschreiben und auch den jeweiligen Zusammenhang zwischen Text und Aussprache des Textes charakterisieren. Jedoch wird sich hierbei nicht das Kriterium finden, dass die Anwendung des Wortes „lesen“ in all diesen Situationen rechtfertigt.58 Gleiches gilt nun für das Wort „verstehen“: Wie „lesen“ ist „verstehen“ ein Wort, das in Situationen verwendet wird, die nicht alle durch ein gemeinsames Kriterium, sondern vielmehr durch das, was Wittgenstein als Familienähnlichkeit eingeführt hat, verbunden sind: Es gibt eine Überlappung der Kriterien von Situation zu Situation, aber kein Kriterium, das in allen Situationen gegeben ist. Auch bei der Rede vom Verstehen sind wir geneigt, den Zusammenhang zwischen dem Verstehen und dem Fortsetzen der Reihe auf so etwas wie ein inneres Erlebnis zurückzuführen. Doch ebensowenig wie „lesen“ lässt sich „verstehen“ von einem geheimnisvollen Vorgang her beschreiben, der verborgen ist, entscheidend sind vielmehr die offensichtlichen Umstände der Verwendung des Wortes. Damit ist nun allerdings nicht gesagt, dass die Aussage „Jetzt verstehe ich“ diese Umstände beschreibt, die hier eine Rolle spielen (§ 179). Die Rede vom Verstehen als einem seelischen Zustand missversteht diese Worte in diesem Sinne, weil hier „verstehen“ für etwas steht, das zu den Umständen des Verstehens gehört. „Eher könn[t]e man sie [die Worte „Jetzt verstehe ich!“] hier ein ‚Signal‘ nennen; und ob es richtig angewendet war, beurteilen wir nach dem, was er weiter tut.“ (§ 180) Wenn man nun allerdings darauf besteht, dass es ein definierendes Kriterium geben müsse (etwa, weil es ja immer dasselbe Wort sei), so ist man genötigt, weil man etwas anderes nicht findet, ein mentales Phänomen zu postulieren (§ 322):59 Wir postulieren, dass bei jedem Lesen die Laute nach 58 Vgl. Gilmore, Philosophical Health, 76: „[T]here is no single definition that will adequately cover all the different uses of ‚reading’. The word ist used differently in different circumstances.“ 59 Vgl. PU 36: „Weil wir nicht eine körperliche Handlung angeben können, […] so sagen wir, es entspreche diesen Worten eine geistige Tätigkeit.“ Vgl. dazu auch Goldfarb, Wittgenstein on Understanding, 116–119, der darstellt, wie solch eine grammatische Täuschung auch empirische Untersuchungen in die Irre führen kann: „[T]he inclination to think that science might disco-

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einem bestimmten, aber nicht offensichtlichen, Mechanismus aus dem Text abgeleitet werden; wir postulieren, dass wir bei jedem Verstehen die Bedeutung eines Wortes mittels eines mentalen Mechanismus aus dem gehörten Wort ableiten. Im Blick auf die Frage nach dem Erlebnis des Geführtwerdens (unmittelbar im Anschluss an die Paragraphen über das Lesen) schreibt Wittgenstein: „Ich möchte sagen, ich hätte das ‚Weil‘ erlebt; und doch will ich keine Erscheinung ‚Erlebnis des Weil‘ nennen.“ (§ 176) Dies lässt sich recht unmittelbar auf den Abschnitt über das Lesen beziehen, insbesondere auf die Rede vom Ableiten der Laute vom Text oder auf die Rede vom Text als der Ursache unseres Redens beim Lesen. Weil wir die Situation durch das Medium des Wortes „weil“ anschauen, sind wir geneigt zu sagen, dass wir dieses Weil erleben. Eine konkrete sprachliche Begebenheit (das Wörtchen „weil“) führt uns also bei der Betrachtung unserer eigenen Sprache in die Irre: „Ich spreche diese Laute aus, weil sie im Text stehen.“ Wir meinen, diesem „weil“ müsse eine Begebenheit entsprechen, die allen Situationen gemeinsam ist. Doch damit reduzieren wir die Bedeutung von „verstehen“ wie auch die von „lesen“ auf lediglich einen von vielen Aspekten60 und erliegen damit einer grammatischen Täuschung (§ 110), die dazu führt, dass wir unsere eigene Sprache missverstehen. Entscheidend sind die Einzelfälle und nicht die Frage nach dem Wesen des Verstehens.61 Weil die Bestimmung der Kriterien hier komplexer ist, als sie auf den ersten Blick erscheint, reicht eine einfache Definition der Wortbedeutung, die das Wort nach dem Muster von genus proximum und differentia specifica bestimmt, nicht aus (§ 182). c) „verstehen“ und „meinen“ Bisher haben wir nur dargelegt, dass die richtige Fortsetzung einer Zahlenreihe unter bestimmten Umständen Kriterium des Verstehens dieser Reihe ist. Damit wissen wir freilich immer noch nicht, wie wir sie richtig fortsetzen. Weshalb akzeptieren wir diese und keine andere Fortsetzung? In den §§ 185–196 legt Wittgenstein zunächst dar, dass wir dieses Problem nicht unter Rückgriff auf ein mentales Phänomen des ‚Meinens einer Formel zur Beschreibung einer Reihe‘ oder des ‚Meinens eines Wortes‘ lösen können, da wir uns hierbei wieder in dieselben Probleme verstricken, wie wenn wir vom Verstehen als einem mentalen Phänomen reden: Bestimmt jemand, der beim Aufschreiben der ersten Zahlen einer Reihe (z.B. zum Zwecke des Unterrichts) diese Zahlen in bestimmter Weise „meint“, alle Übergänge der ver an appropriate state rests on an accession to a picture of the mental apparatus, of definite states an processes of some sort“ (aaO., 118). 60 Vgl. Cook, Wittgenstein’s Appeal to Particular Cases, 56–66. 61 Vgl. Gilmore, Philosophical Health, 73.

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Zahlenreihe im voraus bzw. hat er alle diese Übergänge in seiner Vorstellungskraft präsent? (§§ 185–188) Das Problem liegt hier nun ähnlich wie beim Verstehen eines Wortes oder dem Verstehen der Entwicklung einer Zahlenreihe in einem Moment. Die Probleme sind dieselben, die vermeintlichen Lösungen scheitern hier ebenso wie dort. Denn nicht geklärt wird durch den Bezug auf einen mentalen Vorgang des Meinens, wie die Übergänge objektiv im voraus bestimmt werden. Das, was gemeint wird, muss ja bei jedem Übergang neu angewendet werden. (§ 186) Auch der Bezug auf eine gemeinte Formel, die die Entwicklung der Zahlenreihe beschreibt, führt hier nicht weiter. Zum einen ist die Rede von Formeln auf mathematische Sprachspiele beschränkt (vgl. den Bezug auf die Musik in § 184) und auch in diesem hat sie nur unter bestimmten Umständen eine Funktion (z.B. im Mathematikunterricht). (§ 189) Zum anderen ist es nicht notwendig, dass jemand, der die Reihe fortführt, auch die entsprechende Formel kennt. Zur Fortführung der Reihe 1, 2, 3, 4, … z.B. braucht man normalerweise keine Formel, schon gar nicht für die Reihe 2, 2, 2, 2, 2, … Ob das, was jemand mit seinen Worten meinte, auch das ist, was er sagte, ist nachprüfbar. Jeder kann für das, was er meint, die falschen Worte verwenden. Das, was jemand mit seinen Worten meint, ist also nicht immer das, was die Worte auch bedeuten. Es kann z.B. jemand „Stuhl“ sagen, aber „Sessel“ meinen. Das Wort „Stuhl“ bedeutet in dieser Situation nach wie vor nicht das, was das Wort „Sessel“ bedeutet, und unser Verstehen des Wortes würde nicht davon tangiert, dass der Sprecher „Sessel“ meinte. Wenn wir „Stuhl“ verstehen, haben wir richtig verstanden. Einfluss auf unser Verstehen hätte hier eher, dass dort, wo ein Stuhl stehen soll, gar kein Stuhl steht, sondern ein Sessel. Aber das hat nichts mit einem mentalen Phänomen des Meinens zu tun, sondern es ist ein offensichtlicher Fakt. Wir würden dann vielleicht aufgrund dieses offensichtlichen Fakts sagen: „Er meinte wohl ‚Sessel‘ und nicht ‚Stuhl‘.“ Ebenso würde jemand, den wir fragen, ob er meinte, dass die Reihe „+2“62 nach 1000 mit 1002 fortgesetzt werden soll, antworten: „Ja, so meinte ich es.“ (§ 187) Das Wort „meinen“ verweist auch hier nicht auf einen mentalen Vorgang, durch den die Reihe im Voraus bestimmt wird, vielmehr können wir beurteilen, ob jemand mit seinen Worten das gemeint hat, was er gesagt hat (z.B. ob er auch wirklich „Stuhl“ meinte, als er „Stuhl“ sagte, oder ob er „Sessel“ meinte, als er „Stuhl“ sagte.) Hätte die Person geantwortet „Nein, so meinte ich es nicht“, so würden wir wohl entgegnen: „Du verstehst die Bedeutung dieser Worte falsch, denn sie bedeuten genau dies. Um das zu sagen, was du meintest, musst du andere Worte verwenden.“ Das können wir aber nur, weil wir mit Gewissheit wissen, wie die Reihe 62

So lautet Wittgensteins Notation für die Reihe, die der Formel an+1=an+2 entspricht (§ 185).

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hier fortzusetzen ist (bzw. wie wir ein Wort unter normalen Umständen gebrauchen). Das viel diskutierte Beispiel des Schülers, der diese Zahlenreihe anders versteht und nach 1000 nicht 1002, sondern 1004, 1008 etc., fortsetzen würde, gleichwohl er bis 1000 die Reihe so entwickelte, wie auch wir es machen würden, und der den Unterschied zu unserem Vorgehen nicht versteht (§ 185), soll verdeutlichen, wie sehr uns die Entwicklung der Zahlenreihe selbstverständlich ist, und wie wenig wir eine andere Fortsetzung verstehen können.63 Diese Gewissheit im Verstehen und im Meinen der Entwicklung einer Zahlenreihe, aber auch im analogen Fall des Meinens und Verstehens von Worten, wird nicht durch die Worte „verstehen“ und „meinen“ beschrieben. Vielmehr ist die Verwendung dieser Worte von Kriterien abhängig, die von diesen Worten zu unterscheiden sind und anhand derer die Verwendung dieser Worte und damit auch ihre Bedeutung bestimmt werden kann.64 Um darzulegen, wie wir zu solchen Kriterien unseres Sprachgebrauchs kommen, führt Wittgenstein im Folgenden einen für seine Philosophischen Untersuchungen zentralen Vergleich ein: den Vergleich zwischen „verstehen“ und „einer Regel folgen“. 2.2 „Verstehen“ und „einer Regel folgen“ – ein Vergleich Die Grammatik von „einer Regel folgen“ In § 197 wird der Begriff der Regel durch einen Vergleich zwischen der Absicht Schach zu spielen und dem Verstehen eines Wortes eingeführt. Das Ziel des Vergleichs von Sprachspielen mit dem Wort „verstehen“ und Sprachspielen mit der Wendung „einer Regel folgen“ ist es, Klarheit über unseren Gebrauch der Wörter „verstehen“ und „meinen“ zu gewinnen. Wenn ich im Folgenden besonders den Vergleichscharakter dieser Auseinandersetzung mit dem Regelbegriff in den Philosophischen Untersuchungen betone, so geht es mir dabei darum, dass Wittgenstein hier nicht von Sprachregeln als einem semantischen Strukturelement unserer Sprache handelt. Um diesen vergleichenden Charakter des so genannten Regelfolgenargumentes recht zu verstehen, muss man diejenigen Erörterungen des Regelbegriffs mit einbeziehen, die sich schon vor § 198 in den Philosophischen Untersuchungen finden.

63 Vgl. dazu McDowell, Non-Cognitivism and Rule Following, 42 und Stroud, Wittgenstein on Logical Necessity, bes. 4–11. 64 Vgl. Savigny, Bd. 1, 226, 231.

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a) Zur Verankerung der Rede von „einer Regel folgen“ in den vorangehenden Paragraphen Das Wort „Regel“ wird innerhalb der Philosophischen Untersuchungen zuerst in § 31 durch die Wendung „Regeln des Spiels“ eingeführt. Der Paragraph steht im Kontext der Frage nach der Möglichkeit hinweisenden Definierens. Wittgenstein konstatiert hier, dass die hinweisende Definition eines Wortes (wie z.B. „Dies ist ein Tisch.“) nur dann hilft ein Wort zu erklären, wenn schon klar ist, welche Rolle das Wort in der Sprache spielen soll („Tisch“ z.B. ist ein Substantiv, das zur Bezeichnung eines Gegenstands verwendet wird) (§§ 30f). Diese Situation vergleicht Wittgenstein hier mit dem Schachspiel: Die Erklärung „Das ist der König“ sagt nur demjenigen etwas, der die Regeln des Schachspiels schon beherrscht, denn für diesen ist der Platz gewissermaßen schon vorbereitet, es fehlte ihm nur noch das Wort „König“ (§ 31). Die Regeln bilden im Schachspiel (von den Regeln der Sprache ist hier nicht die Rede!) ein System, das an dieser Stelle eine Figur erfordert, die ein Feld weit in jede Richtung ziehen kann, die unter bestimmten Bedingungen rochieren kann und durch deren Geschlagenwerden das Spiel beendet wird. Dieser Zusammenhang des Regelsystems im Spiel ist der Vergleichspunkt zwischen der Sprache und dem Schachspiel. Das heißt jedoch nicht, dass die Sprache in gleicher Weise durch Regeln bestimmt ist wie das Schachspiel, dass sich also Regeln nach dem Vorbild von Spielregeln formulieren ließen, die die Bedeutung eines Wortes festlegen. Der Vergleich ist nicht als Allegorie zu deuten, in der jedes Element des Vergleichsbildes für ein Element im Gegenbild (also Spielregeln für Sprachregeln) stehen muss. Es geht dabei allein darum, dass für eine hinweisende Definition die darin vorausgesetzte Rolle des Wortes in der Sprache schon vorausgesetzt wird, so wie die hinweisende Definition „Das ist der König“ beim Erklären des Schachspiels, alle Regeln des Schachspiels voraussetzt. In §§ 53f nimmt Wittgenstein einen ersten Anlauf zur Bestimmung der Grammatik von „einer Regel folgen“. Im weiteren Kontext (§§ 46–59) thematisiert Wittgenstein die These, dass Namen Einfaches bezeichnen und problematisiert den Begriff der Einfachheit. In § 48 führt Wittgenstein ein imaginäres Sprachspiel ein, in dem durch eine Buchstabenfolge eine Kombination von farbigen Rechtecken beschrieben wird. Im Blick auf die Frage, wie denn die Zuordnung von Buchstabe und farbigem Rechteck erlernt werden kann, nennt Wittgenstein § 53 als eine Möglichkeit eine Tabelle, anhand derer Buchstabe und farbiges Rechteck einander zugeordnet werden. Diese Tabelle kann im Sprachspiel als Werkzeug angesehen werden und hat damit eine Funktion, die in anderen Fällen z.B. das Gedächtnis übernimmt. Diese Tabelle bezeichnet Wittgenstein als „Ausdruck einer Regel eines Sprachspiels“ – die Tabelle selber ist also nicht die Regel des

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Sprachspiels, sondern sie ist Ausdruck dieser Regel, die unmittelbar nicht benannt wird (weil sie, wie sich zeigen wird, unmittelbar gar nicht benannt werden kann).65 Eine solche Regel kann unterschiedliche Funktionen übernehmen: sie kann eine Unterrichtshilfe sein, sie kann aber auch ein Werkzeug des Spiels selber sein oder aber keines von beiden. Es gibt also eine Vielzahl von familienähnlichen Situationen der Verwendung des Wortes „Regel“.66 Wir können aber auch eine Regel erkennen, ohne dass es einen Ausdruck dieser Regel gibt, z.B. wenn wir anderen beim Spielen zuschauen.67 Kennt ein Zuschauer die Regeln eines Spieles nicht und soll er sie aus dem Spiel erraten, so schließt er aus den Reaktionen der Spielenden darauf, ob jemand gegen eine Regel verstoßen hat. Ähnliches kennen wir aus dem Bereich der Sprache: „Denke an das charakteristische Benehmen dessen, der ein Versprechen korrigiert. Es wäre möglich, zu erkennen, daß einer dies tut, auch wenn wir seine Sprache nicht verstehen.“ (§ 54) Wittgenstein deutet damit schon an, welcher Vergleichspunkt zwischen Sprache und Spielregeln ihn besonders interessiert: nämlich, dass das Befolgen von Regeln und das Gegen-Regeln-Verstoßen eng mit dem Verhalten der Spieler verknüpft ist. Im Blick auf die Frage nach dem Vergleichscharakter der Rede von Spielregeln und Sprache ist zunächst festzustellen, dass die Wendung „Ausdruck einer Regel eines Sprachspiels“ diejenige Wendung in den Philosophischen Untersuchungen ist, die einer Rede von „Sprachregeln“ oder „Regeln der Sprache“ am nächsten kommt. Freilich ist sie von dieser Redewendung zu unterscheiden, denn hier wird erstens nicht von der Sprache allgemein geredet, sondern von einem bestimmten imaginierten Sprachspiel, das in den Kontext des Erlernens von Sprache gehört. Zu beachten ist dabei auch, dass Wittgenstein sehr sorgfältig zwischen der Regel eines Sprachspiels und dem Ausdruck der Regel eines Sprachspiels unterscheidet.68 Zum anderen lässt sich die Wendung „Regel eines Sprachspiels“ auch als auf den Begriff gebrachter Vergleich verstehen: Schon der Begriff Sprachspiel ist ja ein solcher auf den Begriff gebrachter Vergleich, nämlich des Vergleiches von Sprache mit Spielen, den Wittgenstein immer wieder bemüht. Dadurch wird nun aber nicht behauptet, dass Sprache ein Spiel sei oder aus Sprachspielen bestehe, sondern solche Sprachspiele dienen dazu, komplexe Sachverhalte und Sprachverwendung zu elementarisieren und übersichtlich darzustellen. Sie eröffnen eine bestimmte Perspektive auf das Verstehen von Sprache, eine Perspektive, die bestimmt ist vom Vergleich von Sprache und Spiel.69 In ähnlicher Weise gilt dies für die Rede von den 65 66 67 68 69

Vgl. dazu unten, 120. Vgl. Puhl, Regelfolgen, 124. Vgl. Savigny, Bd. 1, 104 und Lange, Philosophische Untersuchungen, 162f. Vgl. dazu unten, 119f. Zu dieser Funktion von Sprachspielen vgl. oben Abschnitt 1.2.

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Regeln des Sprachspiels, ein Vergleich, der ja ganz offensichtlich mit dem Vergleich von Sprache und Spiel zusammenhängt: Wörter werden betrachtet wie Figuren in einem Spiel (§ 108),70 weil dies eine Engführung im Sprachverständnis zu überwinden erlaubt, die davon ausgeht, dass alle Anwendungen ideal geregelt sein müssen. Dieses Problem wird von Wittgenstein in §§ 80–87 thematisiert. Das Thema „Regeln“ wird hierbei von vornherein auf die Frage nach dem Ideal der Logik hin orientiert, die dann in §§ 88–107 Thema ist (§ 81): Die Rede von Regeln soll sich nicht mehr an den Regeln eines logischen Kalküls orientieren, sondern vielmehr an der Struktur von Spielregeln. All die folgenden Untersuchungen zum Verstehen, Meinen und Denken sind auf diese Fragestellung (Regeln und Logik) bezogen und haben hier einen gemeinsamen Angelpunkt.71 Zuvor hat Wittgenstein in den §§ 65–79 den Begriff der Familienähnlichkeit thematisiert. Dabei ging es unter anderem darum, dass ein Begriff nicht in jeder Hinsicht klar bestimmt, seine Verwendung nicht immer eindeutig geregelt ist. (§ 68) Diese Problematik greifen nun die §§ 80ff auf72 und verbinden sie mit der Rede von Regeln, die zuletzt in den §§ 53f Thema war. Gefragt ist im konkreten Beispiel nach Regeln, die bestimmen, wann wir etwas noch Sessel nennen und wann nicht. Wir sind hier nicht für alle Situationen mit Regeln ausgestattet, haben z.B. keine Regel dafür, ob wir einen Sessel, der da und bald wieder nicht da ist, noch Sessel nennen können. Das Beispiel ist bewusst abstrus, um zu verdeutlichen, dass wir gar nicht alle vorstellbaren Situationen durch Regeln bestimmen können (§ 80). Entgegen der Vorstellung von festen, starren Regeln der Logik einer idealen Sprache (§ 81) betrachtet Wittgenstein die Grammatik der Wendung „die Regel, nach der er vorgeht“,73 indem er die Funktionsweise von Spielregeln als Vergleich heranzieht. In einem Spiel aber ist es nichts ungewöhnliches, dass nicht alles durch Regeln geklärt ist (z.B. gibt es beim Schach keine Regeln dafür, ob ich das Schachbrett vor dem Spiel dreimal umdrehen muss, beim Fußball keine Regel, wie hoch ich 70 PU 108: „Die Frage ‚Was ist ein Wort?‘ ist analog der ‚Was ist eine Schachfigur?‘“ (Hervorhebung von M.C.) 71 Vgl. PU 81: „All das kann aber erst dann im rechten Licht erscheinen, wenn man über die Begriffe des Verstehens, Meinens und Denkens größere Klarheit gewonnen hat. Denn dann wird es auch klar werden, was uns dazu verleiten kann (und mich dazu verleitet hat) zu denken, daß, wer einen Satz ausspricht und ihn meint, oder versteht, damit einen Kalkül betreibt nach bestimmten Regeln“ (Hervorhebung im Original). Entsprechend wird die Thematik der Grammatik von „Regel“ in § 100 und § 108 noch einmal aufgegriffen und auf die Rede vom Ideal und die Rede von der Logik bezogen. 72 In PU 84 wird explizit auf den Abschnitt über Familienähnlichkeit Bezug genommen, indem Wittgenstein auf § 68 anspielt: „Ich sagte von der Anwendung eines Wortes: sie sei nicht überall von Regeln begrenzt.“ Vgl. PU 68: „Es [das Wort] ist nicht überall von Regeln begrenzt.“ 73 So setzt PU 82 ein: „Was nenne ich ‚die Regel, nach der er vorgeht‘?“

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den Ball höchstens werfen darf etc.).74 Es gibt auch Spiele, bei denen wir die Regeln im Verlauf des Spiels erst festlegen („making the rules up as we go along“), z.B. die Kinder, die auf der Straße Ball spielen. (§ 83) Darin ist die Verwendung eines Wortes in einem Sprachspiel den Regeln eines Spiels vergleichbar. Der Versuch, Regeln eindeutig zu bestimmen, führt letztlich in eine Aporie, denn die Anwendung einer Regel ist ja selber regelbedürftig. (§ 84) In § 85f entwickelt Wittgenstein grundlegend am Regelbegriff jenes Argumentes des infiniten Regress, das er im Kontext der Darstellung der Grammatik von Verstehen wieder aufnimmt.75 Eine Regel ist so etwas wie ein Wegweiser. Dass dieser bald einen Zweifel zulässt und bald nicht, ist ein Erfahrungssatz. Wittgenstein interessiert sich aber für die Grammatik, die diese Möglichkeiten der Rede bestimmt: Eine Regel wird im Blick auf das Sprachspiel aus § 2 wiederum als eine Tabelle vorgestellt, mit der das Sprachspiel gelehrt wird. Wie aber weiß man, wie diese Tabelle zu verstehen ist? Man könnte ihr wieder ein Schema beifügen „als Regel, wie sie zu gebrauchen sei“. (§ 86) Man kann sich ohne Probleme weitere Stufen vorstellen: ein Schema, das erklärt, wie jenes Schema zu gebrauchen sei etc. So erscheint es, als „hinge eine Erklärung, gleichsam, in der Luft, wenn nicht eine andere sie stützt.“ (§ 87)76 Faktisch aber kann es zwar vorkommen, dass eine Erklärung so auf einer anderen beruht, grundsätzlich jedoch dient eine Erklärung nur dazu, ein faktisch vorhandenes Missverständnis zu klären oder eines zu verhüten. Jedoch bedarf es nicht einer Erklärung aller möglichen und vorstellbaren Missverständnisse: „Der Wegweiser ist in Ordnung, – wenn er, unter normalen Verhältnissen, seinen Zweck erfüllt.“ (Ebd.) Der infinite Regress von Erklärungen bricht im faktischen Gebrauch unbegründet ab: Wir folgen dem Straßenschild ohne lange nach Erklärungen zu suchen, warum wir ihm folgen: „Habe ich die Begründungen erschöpft, so bin ich nun auf dem harten Felsen angelangt, und mein Spaten biegt sich zurück. Ich bin dann geneigt zu sagen: ‚So handle ich eben.‘“ (§ 217) Für unser Handeln und Reden gibt es also keine philosophische Letztbegründung.77 Nach solchen zu suchen, ist vielmehr ein Missverständnis der Grammatik von „Erklärung“: „Eine Erklärung dient dazu, ein Miß74 Es geht hier also nicht nur darum, dass nicht alle Regeln explizit sein müssen (so Savigny, Bd. 1, 138), sondern darum, dass es weder explizite noch implizite Regeln für alle möglichen Probleme in einem bestimmten Spiel gibt. 75 Dazu s.o. Abschnitt 2.1 a) (98). 76 Diese Formulierung wird fast wörtlich in § 198 (vgl. unten bei Anm. 80), im Kontext der Regelfolgenargumentes wieder aufgegriffen. 77 Vgl. Lange, Philosophische Untersuchungen, 184. Vgl. Cavell, Excursus, 29: „We begin to feel, or ought to, terrified that maybe language (and understanding and knowledge) rests upon very shaky foundations – a thin net over an abyss. (No doubt that is part of the reason philosophers offer absolute ‚explanations‘ for it.)“

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verständnis zu beseitigen, oder zu verhüten – also eines, das ohne die Erklärung eintreten würde; aber nicht: jedes, welches ich mir vorstellen kann.“ (§ 87) Im Blick auf den Vergleich von Regeln und Sprache ist damit deutlich, dass die Rede von den Regeln eines Sprachspiels zunächst die Pointe hat, dass die Verwendung von Worten nicht bis ins letzte geregelt sein muss. Eine ideale Sprache ist gerade nicht das Ziel der Frage nach der Funktionsweise unserer Sprache. Von daher führen diese Überlegungen im Folgenden zunächst zu einer Auseinandersetzung mit den Begriffen des Ideals und der Logik und sodann zu einer Auseinandersetzung mit dem Charakter der Philosophischen Untersuchungen insgesamt, um von dorther über die Frage nach dem Wesen des Satzes zur Frage nach der Bedeutung vom Verstehen eines Satzes und damit zur Frage nach der Grammatik von „verstehen“, die es dann wiederum nötig macht, die Rede vom Befolgen einer Regel erneut, diesmal als Vergleich zur Rede vom Verstehen, in den Blick zu nehmen.

b) Das sogenannte Regelfolgenargument in §§ 197–242 Das in den §§ 197–24278 entwickelte sogenannte Regelfolgenargument, genauer handelt es sich um Untersuchungen zur Grammatik der Wendung „einer Regel folgen“, geht von einem Vergleich zwischen der Grammatik von „verstehen“ bzw. „meinen“ und „einer Regel folgen“ aus. Ausgangspunkt ist hier die Frage, wieso es uns so scheint, als ob „die künftige Entwicklung auf irgendeine Weise schon im Akt des Erfassens gegenwärtig sein muß und doch nicht gegenwärtig ist.“ (§ 197) Damit nimmt Wittgenstein Überlegungen auf, die ihn unmittelbar zuvor im Kontext der Frage nach der Bedeutung von „meinen“ beschäftigt haben: die Frage, ob das Meinen alle Übergänge der Entwicklung einer Zahlenreihe im Voraus bestimmt.79 Er parallelisiert dies mit der Aussage, dass wir „die ganze Verwendung des Wortes mit einem Schlag erfassen“ (ebd.). Daran, so stellt Wittgenstein hier fest, ist eigentlich nichts seltsames. „Wir sagen ja, dass 78 Da die Abgrenzung des Regelfolgenargumentes häufig anders vorgenommen wird, ist hier eine kurze Begründung für die vorgenommene Einteilung angebracht: Baker/Hacker, Wittgenstein 2 und Lange, Philosophische Untersuchungen, 213–260 sehen den Beginn dieses Abschnittes bereits vor § 197, nämlich Baker/Hacker in § 185, Lange sogar schon in § 133, wobei er dann aber §§ 185–242 noch einmal als Unterabschnitt abgrenzt. Gegen solch eine Einteilung spricht zunächst die Wortstatistik, die zeigt, dass der Begriff der „Regel“ oder die Wendung „einer Regel folgen“ zwischen § 108 und § 197 nicht vorkommt. In den §§ 133–184 dominiert, von dem Exkurs über „lesen“ in §§ 156–178 abgesehen, der Begriff des Verstehens die Überlegungen Wittgensteins. Die §§ 185–197 bilden einen Übergang, in denen der Begriff des Meinens in den Mittelpunkt des Interesses tritt. Erst § 197 bringt den Begriff der Regel in der hier beschriebenen Weise wieder ins Spiel. 79 Siehe dazu oben, 108.

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wir es tun.“ (Ebd.) Die Frage ist nur, worin hier der Zusammenhang besteht: Ob darin, dass die gesamte zukünftige Entwicklung schon im gegenwärtigen Augenblick da ist, oder ob nicht doch in etwas anderem? Um diesen Zusammenhang zu klären, verweist Wittgenstein nun auf den Zusammenhang, der zwischen dem Vorhaben zu einer Schachpartie und der Schachpartie selber besteht: [W]elcherlei überstarre Verbindung besteht zwischen dem Akt der Absicht und dem Beabsichtigten? – Wo ist die Verbindung zwischen dem Sinn der Worte „Spielen wir eine Partie Schach!“ und allen Regeln des Spiels? – Nun im Regelverzeichnis des Spiels, im Schachunterricht, in der täglichen Praxis des Spielens. (§ 197)

Allein das Maßnehmen an den aufgezeichneten Regeln des Spiels (dem Regelverzeichnis) erlaubt es, festzustellen, ob ich auch wirklich das Spiel spiele, das zu spielen ich beabsichtigte, weil durch diese Regeln das Spiel „definiert“ ist. Doch ist damit nicht behauptet, dass alle Regeln im Moment der Absicht gegenwärtig sind. Damit aber stellt sich die Frage, wie denn anders die Regel das Spiel im Voraus bestimmen kann, wo ich doch immer mein Tun durch irgendeine Deutung mit der Regel in Übereinstimmung bringen kann. Damit nimmt Wittgenstein nun die Überlegungen aus §§ 84– 87 und die Überlegungen über die Grammatik von Verstehens in §§ 139– 142 auf: „Aber wie kann mich eine Regel lehren, was ich an dieser Stelle zu tun habe? Was immer ich tue, ist doch durch irgendeine Deutung mit der Regel zu vereinbaren.“ (§ 198) Der Vergleich zwischen der Grammatik von „einer Regel folgen“ und „verstehen“ zielt hier also zunächst darauf, dass wir, wenn wir eine Regel im Horizont von Deutungen verstehen, mit demselben Problem konfrontiert sind, wie wenn wir Verstehen als ein mentales Phänomen betrachten. Das Problem des infiniten Regresses der Deutungen muss hier nicht noch einmal dargelegt werden, sondern Wittgenstein kann seine vorhergehende Argumentation einfach resümieren: „Jede Deutung hängt, mitsamt dem Gedeuteten, in der Luft; sie kann ihm nicht als Stütze dienen. Die Deutung allein bestimmt die Bedeutung nicht.“ (§ 198)80 Wäre einer Regel zu folgen von der Interpretation einer Regel abhängig, so wäre die Bedeutung einer Regel nicht eindeutig, sondern stünde immer im Streit der Interpretationen. „Daher gäbe es hier weder Übereinstimmung noch Widerspruch“ (§ 201) mit der Regel. Darin verhalten sich die Grammatik von „einer Regel folgen“ und von „verstehen“ analog: Deuten wir das Verstehen als ein mentales Phänomen, also das Wort „verstehen“ so, dass es auf ein bestimmtes, aber verborgenes Etwas verweist, so stehen wir vor demselben Problem: Ein Verstehen des Gesagten ist nicht zweifelsfrei möglich, denn auch hier ist jedes Verstehen dann nur eine Deutung unter 80

Dieser Satz nimmt fast wörtlich einen Satz aus § 87 auf. Vgl. oben bei Anm. 76.

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Deutungen, die selber in der Luft hinge. Wir müssten letztlich erraten, was andere sagen (§ 210).81 Sicher mangelt es im alltäglichen Gespräch nicht an Missverständnissen, doch entscheidend ist, dass wir unter Bezug auf eine gemeinsame Sprache, die wir verstehen, in einen Dialog über diese Missverständnisse eintreten können.82 Dies kann man sich bereits an recht trivialen Beispielen verdeutlichen: Niemand, der der deutschen Sprache mächtig ist, wird ernsthaft in Zweifel ziehen, dass er einen Satz wie „Setzen Sie sich doch bitte“ verstanden hat. Wenn freilich gerade kein Stuhl da steht, kann ein Zweifel aufkommen und die nahe liegende Frage wäre: „Auf welchen Stuhl denn bitte?“ Und das Problem ließe sich wohl recht schnell lösen. Das ist nur möglich, weil beide eine Sprache beherrschen und sie grundsätzlich verstehen, unabhängig davon, dass in bestimmten Situationen Unklarheiten entstehen. Würde hier jemand sagen: „Ich verstehe nicht, was Sie mit ‚Stuhl‘ meinen“, so würden wir ihm eben erklären, was das Wort bedeutet, z.B. indem wir einen Stuhl herbeiholen, ihm diesen zeigen und sagen: „Das ist ein Stuhl.“ Dadurch würde der andere die deutsche Sprache ein Stück weit erlernen. Die Frage danach, was „verstehen“ heißt, wird von Wittgenstein in genau derselben Weise angegangen, nur dass das Zeigen hier komplizierter ist, weil da kein Gegenstand ist, auf den man zeigen könnte. Also vergleichen wir z.B. das Verstehen mit dem Befolgen einer Regel. Schon in der Interpretation von § 87 stellten wir fest, dass wir im normalen Leben einer Menge von Regeln folgen, ohne sie permanent anzuzweifeln: Wenn wir einer Regel folgen, interpretieren wir sie nicht, noch raten wir, was die Worte eines anderen bedeuten (vgl. § 210).83 Daher kann das, was wir „einer Regel folgen“ oder was wir „ihr entgegen handeln“ nennen, nicht eine Deutung sein. Die Argumentation mit dem infiniten Regress der Deutungen, die in § 201 noch einmal aufgegriffen und als Paradox bezeichnet wird, ist also von Wittgenstein als eine reductio ad absurdum gedacht: Ihr Grund ist das Missverständnis, dass einer Regel zu folgen voraussetze, die Regel zu deuten (§ 201). So wie es nun aber keine „Kluft“84 zwischen der Regel und ihrer Anwendung geben kann, so darf es auch keinen Abstand zwischen dem Verstehen und dem Verstandenen geben, wie es sie 81 Vgl. auch PG 47: „Eine Interpretation ist doch etwas, was in Zeichen gegeben wird. Es ist diese Interpretation im Gegensatz zu einer anderen. (Die anders lautet.) Wenn man also sagte: ‚Jeder Satz bedarf noch einer Interpretation‘, so hieße das: kein Satz kann ohne einen Zusatz verstanden werden.“ 82 Vgl. zur Idee einer „dialogisch-praktischen Einbettung“ von Sätzen Kambartel, Versuch über das Verstehen. 83 Vgl. Finkelstein, Wittgenstein on Rules and Platonism, 55. 84 PU 206: „Einer Regel folgen, das ist analog dem: einen Befehl befolgen.“ Vgl. dazu den Einwand des imaginären Gesprächspartners in PU 431: „‚Zwischen dem Befehl und der Ausführung ist eine Kluft. Sie muß durch das Verstehen geschlossen werden.‘“

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gäbe, wenn man von einem postulierten mentalen Phänomen des Verstehens im Unterschied zur Anwendung des Verstehens ausgeht.85 Nur so kann es mir selbstverständlich sein, der Regel zu folgen. Nur so kann der Eindruck entstehen, die Regel habe alles schon im Voraus bestimmt (§§ 220f, 238). Damit aber sind wir wieder beim Ausgangspunkt des Vergleiches zwischen „verstehen“ und „einer Regel folgen“ in § 197 angelangt: Damit wir im Moment des Verstehens eines Wortes all seine Verwendungen erfassen, darf das Verstehen selber kein Deuten sein, ebenso wenig das Meinen eines Wortes oder einer Zahlenreihe. Nur weil es zwischen dem Verstehen und dem Verstandenen, sowie zwischen dem Meinen und dem Gemeinten keine Kluft gibt, die durch eine Deutung zu überwinden wäre, haben wir den Eindruck, dass durch das Meinen einer bestimmten Reihenentwicklung schon alle Übergänge der Reihe im voraus bestimmt sind. Um zu verdeutlichen, wie es dazu kommt, dass einer Regel zu folgen für uns solch eine Selbstverständlichkeit ist, bedenkt Wittgenstein in §§ 198– 200 zwei zentrale Momente, die für unsere Rede vom Befolgen einer Regel wesentlich sind. Ein Grund für die Gewissheit, die uns beim Befolgen einer Regel leitet, ist, dass wir darauf „abgerichtet“ wurden, dass wir gelernt haben, dieser Regel so zu folgen und nicht anders: Was hat der Ausdruck der Regel – sagen wir, der Wegweiser – mit meinen Handlungen zu tun? Was für eine Verbindung besteht da? – Nun etwa diese: ich bin zu einem bestimmten Reagieren auf dieses Zeichen abgerichtet worden, und so reagiere ich nun. (§ 198)

Die Gewissheit im Befolgen einer Regel ergibt sich also dadurch, dass wir daraufhin abgerichtet wurden, auf den Ausdruck einer Regel in bestimmter Weise zu reagieren. Es ist nicht die Gewissheit einer a priori gegebenen logischen Struktur, sondern diese Gewissheit ähnelt vielmehr der Gewissheit eines Instinkts.86 Diesen Aspekt hat Wittgenstein gerade im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit der Grammatik von „verstehen“ und „meinen“ immer wieder betont: Und nun setzt er einmal die Reihe selbständig fort, – oder er tut es nicht. – Aber warum sagst du das; das ist selbstverständlich! – Freilich; ich wollte nur sagen: die Wirkung jeder weiteren Erklärung hänge von seiner Reaktion ab. (§ 145)

85 Vgl. Baker/Hacker, Wittgenstein 2, 97. 86 Bei dem Vergleich mit der Gewissheit des Instinkts lehne ich mich an Hamanns Metakritik Kants an: „Endlich versteht […] sich am Rande, daß, wenn die Mathematik sich einen Vorzug des Adels wegen ihrer allgemeinen und notwendigen Zuverläßigkeit anmaaßen kann, auch die […] menschliche Vernunft selbst dem unfehlbaren u[nd] untrüglichen Instinct der Insekten nachstehen müste.“ (Hamann, Metakritik § 8, Zeile 21–25, zitiert nach: Bayer, Vernunft ist Sprache, 296, Hervorhebung im Original).

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Einer Regel folgen, das ist analog dem: einen Befehl befolgen. Man wird dazu abgerichtet und man reagiert auf ihn in bestimmter Weise. (§ 206)

Schon in § 86, also im Kontext der Diskussion des Regelbegriffs, heißt es: Die Tabelle ist also eine Regel, nach der er sich beim Ausführen der Befehle richtet. – Das Aufsuchen des Bildes in der Tabelle lernt man durch Abrichtung, und ein Teil dieser Abrichtung besteht etwa darin, daß der Schüler lernt, in der Tabelle mit dem Finger horizontal von links nach rechts zu fahren; also lernt, sozusagen eine Reihe horizontaler Striche zu ziehen. (§ 86)

Ein wesentlicher Aspekt dessen, wie wir jemandem beibringen, einer Regel zu folgen – und d.h. auch dessen, wie wir selber lernen, einer Regel zu folgen – ist, dass wir die natürlichen Reaktionen der Lernenden „abrichten“.87 Von „abrichten“ redet Wittgenstein, weil die Situation so vorgestellt ist, dass das reflexive Moment eines Lernvorgangs, das bereits Sprachkompetenz voraussetzt, fehlt. Wer noch nicht fragen kann „Wie geht das?“ oder „Was heißt das?“, und wer die Bedeutung der Worte unserer Erklärungen noch nicht verstehen kann, weil er die Sprache, die er lernen soll, ja noch nicht versteht, dem muss diese Sprache auf eine grundlegendere Art beigebracht werden, durch ein Erklären, dass auf eine Art instinktives Reagieren setzt, zur Nachahmung animiert, also ein Erklären, das dem Abrichten eines Tieres ähnlich ist. Der entscheidende Unterschied zum Abrichten eines Tieres ist dabei zunächst schlicht, dass wir einen Menschen lehren zu sprechen, und dass wir ihn lehren selbständig Lernender zu werden.88 Wenn nun aber ein Mensch gänzlich anders reagieren würde, als wir es gewohnt sind, wie z.B. der außergewöhnliche Schüler in § 185, dann würde er eine ganze Reihe von Erklärungen nicht verstehen. Was genau dabei zu den natürlichen Reaktionen zählt, ist zunächst einmal unerheblich. Entscheidend ist, dass solche grundlegend für gegenseitiges Verstehen sind. In einer bestimmten Hinsicht nimmt Wittgenstein damit einen Aspekt des augustinischen Sprachbildes, von dem er in § 1 ausging, wieder auf. Augustin verwies auf die Gebärden als „natürliche Sprache aller Völker“ (verbis naturalibus omnium gentium), aus der er die Bedeutung der Wörter erschloss. Den signifikationshermeneutischen Aspekt dieses Sprachbildes („ […] so nahm ich wahr und ich begriff, daß der Gegenstand durch die Laute, die sie aussprachen, bezeichnet wurde, da sie auf ihn hinweisen wollten“) destruiert Wittgenstein, die Vorordnung der Gebärdensprache als einer grundlegenden Form der Kommunikation vor der komplexeren sprachlichen Kommunikation aber behält auch er bei und bestimmt den 87 Vgl. Baker/Hacker, Wittgenstein 1, 585 und 624. 88 Was es heißt, eine Sprache zu lernen und zu lernen, das Erlernte eigenständig neu zu verwenden (die Verwendung eines Wortes in andere Situationen zu projizieren), wird sehr schön dargestellt bei Cavell, Excursus.

Die Grammatik von „einer Regel folgen“

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Übergang von der einen zur anderen als einen Abrichtungs- und Lernprozess: „Der Ursprung und die primitive Form des Sprachspiels ist eine Reaktion, erst aus dieser können die komplizierteren Formen wachsen. Die Sprache – will ich sagen – ist eine Verfeinerung, ‚im Anfang war die Tat‘“. (VB 493) „Die gemeinsame menschliche Handlungsweise ist das Bezugssystem, mittels dessen wir uns eine fremde Sprache deuten.“ (§ 206)

Doch das Vorhandensein solcher gemeinsamer natürlicher Reaktionen allein reicht als Grund für das, was wir „einer Regel folgen“ nennen, nicht aus. Der Bezug auf die Reaktionen der Menschen ließe sich ja als kausale Erklärung missverstehen. „[I]ch habe auch noch angedeutet, daß sich Einer nur insofern nach einem Wegweiser richtet, als es einen ständigen Gebrauch, eine Gepflogenheit, gibt.“ (§ 198) Dies ist das zweite Moment, das Wittgenstein zur Grammatik von „einer Regel folgen“ bedenkt: „Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben, eine Schachpartie spielen sind Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen).“ (§ 199) Unsere Reaktionen werden immer im Kontext gegebener Gepflogenheiten – Gebräuche einer Kultur, die auch gesellschaftlich institutionalisiert sein können – abgerichtet. Dies allein gibt ihnen ihre Regelmäßigkeit (vgl. § 207f). Man kann uns z.B. den Ausdruck einer Regel an die Hand geben und uns lehren, aufgrund dieses Ausdrucks eine bestimmte Handlung zu vollziehen. Wie wir auf die Erklärung, bestehe sie rein aus Gesten oder auch aus Wörtern, reagieren, ist entscheidend dafür, dass wir der Regel zu folgen lernen. Einer Regel folgen lernen ist in diesem Sinne learning by doing.89 Wenn wir aber in der Praxis lernen, einer Regel zu folgen, dann ist das, was uns dazu bewegt, der Regel zu folgen, eben diese erlernte Praxis:90 „Darum ist ‚der Regel folgen‘ eine Praxis.“ (§ 202) Wenn es jedoch keine Differenz zwischen der Regel und der Praxis des Regelfolgens geben kann, – weil dann ja eine Interpretation der Regel zum Zwecke ihrer Anwendung möglich und nötig wäre – dann gibt es die Regel auch nur in der Praxis des Regelfolgens, so wie wir sie ja auch im Zusammenhang bestimmter Gebräuche lernen zu befolgen. Daher besteht eine Regel nicht „an sich“, losgelöst von der Praxis des Regelfolgens. Dieser Eindruck entsteht nur dadurch, dass der Ausdruck der Regel von der Praxis des Regelfolgens gelöst werden kann. Das Wort „Regel“ aber erfasst lediglich die Praxis des Regelfolgens im Hinblick auf die Formulierung des Regelausdrucks. So folgen wir z.B. dem Schild „Einbahnstraße“, weil das 89 90

Vgl. Baker/Hacker, Wittgenstein 2, 134. Vgl. Puhl, Regelfolgen, 127.

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die Art und Weise ist, wie wir gelernt haben, auf dieses Schild zu reagieren. Diese Praxis, die allein darin besteht, dass wir auf dieses Schild in bestimmter Weise reagieren, ist die Regel, der wir folgen, und sie findet ihren Ausdruck in einer sprachlichen Formulierung, die dann zum Beispiel im Fahrschulunterricht zur Anwendung kommt. Das Wort „Regel“ hat Sinn nur in der Rede vom Regelfolgen und kann daher nicht losgelöst von diesem Kontext auf seine Bedeutung hin untersucht werden. Von daher wird nun abschließend deutlich, wieso der Vergleichscharakter des sogenannten Regelfolgenargumentes so zentral für das Gesamte der Philosophischen Untersuchungen und insbesondere für die Untersuchungen über den Verstehensbegriff ist. Von „Sprachregeln“ zu sprechen, die unsere Sprache regeln so, als ob sie die semantischen Grundstrukturen der Sprache wären, ist genauso falsch, wie vom Verstehen als einem mentalen Phänomen auszugehen. Denn auch hier bliebe die Regel von der Anwendung getrennt und müsste erst gedeutet werden.91 Die Rede von „Sprachregeln“ in Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen entpuppt sich so als eine (notwendige) Zwischenstufe im Prozess der Klärung der Grammatik unserer Sprache. Diese Zwischenstufe wird durch die Analyse der Grammatik von Regelfolgen überwunden: Wenn man von Sprachregeln reden will, so ist auch hier das Wort „Regel“ nur eine sprachliche Art und Weise die Praxis des Regelfolgens im Blick auf die Formulierung eines Regelausdrucks zu fassen. Daher soll der Vergleich zwischen „verstehen“ und „einer Regel folgen“ nicht zeigen, dass es in unserer Sprache Regeln gibt, sondern er soll zeigen, dass Sprache genauso wie Regelfolgen eine Angelegenheit der Praxis ist: „Eine Sprache verstehen, heißt, eine Technik beherrschen.“ (§ 199) Dem entspricht es auch, das Wittgenstein in § 199 „einer Regel folgen“ neben die auf Sprachverstehen bezogenen Ausdrücke „eine Mitteilung machen“ und „einen Befehl geben“ stellt, also die Rede vom Regelfolgen nicht als eine Analyse des Verstehens und Meinens von Sprache einführt, sondern als Analogie zu diesen Vorgängen. So wie einer Regel zu folgen sind auch eine Mitteilung zu machen oder einen Befehl zu geben „Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen)“ (§ 199). So wie wir lernen einer Regel zu folgen, so lernen wir auch ein Wort zu verstehen (oder zu meinen), indem wir eine bestimmte Praxis lernen, in der die Wörter und Sätze eine bestimmte Rolle spielen. Die Art und Weise, wie wir lernen, diese Wörter zu gebrauchen, ist durch die Gepflogenheiten des Gebrauchs, durch gesellschaftliche Institutionen bestimmt. Diese stellen die kontextuellen Kriterien für den Gebrauch von Sprache zur Verfügung. Wir lernen, auf diese zu reagieren, ohne dass wir dabei auf die Befolgung einer Regel reflektieren müssten (vgl. § 190): Wir folgen ihr „blind“ (§ 219). Den 91

Puhl, Regelfolgen, 120 spricht von einer „Autonomisierung von Regeln.“

Sprachklang und Ton

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Satz „Ich verstehe!“ erlernen wir dann aber zunächst als einen Ausruf über unser Lernen. Und den Satz „Sie hat verstanden“ hören wir womöglich zunächst als einen Satz über den Erfolg unseres Lernens von Sprache (oder Handlungen) und lernen ihn von dorther zu verstehen. Wir haben schlicht und einfach gelernt, dass wir ein Wort dann verstanden haben, wenn wir auf bestimmte Kriterien so reagieren, wie wir es gelernt haben. In diesem Sinne heißt Verstehen so viel wie Reagieren (BB 141). Das instinktiv reagierende Verstehen in der Situation des Verstehen-Lernens ist die vergewissernde Grundlage jedes komplexeren reflexiven Verstehens, das im Kontext kultureller Praxis erlernt wird. Seiner Bedeutung nach unterscheidet sich die Rede vom Verstehen in einer Lernsituation von den unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes „verstehen“ außerhalb einer solchen Lernsituation. Für unsere oben formulierte theologisch-hermeneutische These ist aber gerade die Grammatik des Verstehens in einer Lernsituation von besonderem Interesse.92 Sie kommt noch einmal auf ganz andere Weise in den Blick, wenn wir uns nun einem anderen Aspekt von Wittgensteins Untersuchungen zum Verstehensbegriff zuwenden, nämlich seinen Beobachtungen zum Musikverstehen.

3. Verstehen eines musikalischen Themas – zur ästhetischen Dimension des Verstehens Verstehen eines musikalischen Themas 3.1 Das musikalische Element unserer Sprache Sprachklang und Ton „Ich finde es unmöglich, in meinem Buch auch nur ein einziges Wort zu sagen über alles das, was die Musik für mich in meinem Leben bedeutet hat. Wie kann ich dann darauf hoffen, daß man mich versteht?“93 Ganz anders als dieses Zitat vermuten lässt, finden sich in den Philosophischen Untersuchungen allerdings einige Anmerkungen zum Verstehen eines mu92 Vgl. auch Illge, Inwiefern bedürfen religiöse Sprechakte eines kognitiven Referenzrahmens?, 262: „Wittgenstein hat in seiner zweiten Schaffensphase darauf hingewiesen, daß Sätze […] zwei ganz verschiedene Funktionen haben, je nach dem, ob sie unter der Voraussetzung einer gemeinen Sprache zur Beschreibung oder Erklärung der nichtsprachlichen Wirklichkeit dienen oder ob sie gebraucht werden, um jemandem eine Sprache bzw. die Verwendungsweisen bestimmter Begriffe erst beizubringen.“ Die Bedeutung solcher Redeeinführungssituationen verdeutlicht schon Wittgenstein charakteristischer Weise an einem religiösen Beispiel, nämlich anhand der Frage „Wie wird uns das Wort ‚Gott‘ beigebracht (d.h. sein Gebrauch)?“ (VB 566) Vgl. Illge, aaO., 263f. 93 Diese Aussage Wittgensteins ist überliefert von M. O’C. Drury (vgl. M. O’C. Drury, Bemerkungen zu einigen Gesprächen mit Wittgenstein, in: Rhees, Ludwig Wittgenstein: Portraits und Gespräche, 120). Zur Bedeutung, die Wittgenstein der Musik im allgemeinen beimaß, vgl. zusammenfassend Lewis, Wittgenstein on Words and Music, 382.

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Verstehen eines musikalischen Themas

sikalischen Themas, die, wenn man dem Inhalt des Zitates folgt, für ein Verständnis des Werkes von zentraler Bedeutung sind. Sieht man von dem relativ in sich geschlossenen Abschnitt §§ 527–535 einmal ab, so sind diese Anmerkungen allerdings recht verstreut. Der Vergleich, soviel wird an § 527 deutlich, zielt dabei darauf, das Verstehen von Sätzen durch den Vergleich mit dem Verstehen eines musikalischen Themas in ein neues Licht zu rücken.94 Einen wichtigen Aspekt dieses Vergleichs fasst Wittgenstein in der folgenden Bemerkung zusammen: In der Wortsprache ist ein starkes musikalisches Element. (Ein Seufzer, der Tonfall der Frage, der Verkündigung, der Sehnsucht, alle die unzähligen Gesten des Tonfalls.) (Z 161)

Es ist der musikalische Charakter unserer Sprache selbst, der Wittgenstein auf die Spur dieses Vergleiches setzt. Auch wenn sich diese Bemerkung nicht in den Philosophischen Untersuchungen findet, betonen diese den musikalischen Charakter der Sprache immer wieder: Was ist der Unterschied zwischen der Meldung, oder Behauptung ‚Fünf Platten‘ und dem Befehl ‚Fünf Platten!‘? […] [E]s wird wohl auch der Ton, in dem sie ausgesprochen werden, ein anderer sein. (§ 21) So paraphrasiert, so betont, so gehört, ist der Satz der Anfang eines Übergangs zu diesen Sätzen, Bildern, Handlungen. (§ 534, Hervorhebung von M.C.) Das Gefühl gibt dem Wort „hoffen“ vielleicht seinen besonderen Klang. (§ 545) [E]s gibt einen Tonfall des Glaubens wie des Zweifels. (§ 578) Wenn Einer, statt zu sagen „Ich erwarte jeden Moment die Explosion“ flüstert: „Es wird gleich losgehen“, so beschreiben doch seine Worte keine Empfindung; obgleich sie und ihr Ton eine Äußerung seiner Empfindung sein können. (§ 582, Hervorhebung von M.C.) [Man kann sich eine Sprache vorstellen,] in der „Ich glaube, es ist so“ nur durch den Ton der Behauptung „Es ist so“ ausgedrückt wird. (PU II, 515). Von der Sicherheit, vom Glauben möchte man manchmal sagen, sie seien Tönungen des Gedankens; und es ist wahr: sie haben einen Ausdruck im Ton der Rede. (PU II, 571, Hervorhebung im Original) Zur unwägbaren Evidenz gehören die Feinheiten des Blicks, der Gebärde, des Tons. (PU II, 576) [E]s gibt einen Ton, eine Gebärde, die gewissen Erzählungen aus vergangenen Tagen angehören. (PU II, 579)95

94 95

Deutlich ist dies auch schon in BB 167 der Fall. Vgl. zu § 527 Hacker, Wittgenstein 4, 328. Vgl. außerdem Z 149, 176.

Sprachklang und Ton

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Schon ein leichter Unterschied in der Betonung kann bei denselben Worten einen anderen Sinn ausmachen. Besonders eindrücklich macht dies die Intonationsfrage im Französischen deutlich: Durch eine Veränderung des Sprachtons wird aus einem Aussagesatz eine Frage. Aber auch der Satz „In diesem Raum sind nur fünf Stühle“ kann je nach Ton der Rede ein einfacher Aussagesatz, eine Feststellung, ein Vorwurf oder eine Aufforderung sein. Man kann sich auch eine Tonlage vorstellen (und eine entsprechende Situation), in der der Satz Ausdruck von Frustration ist. Die Differenz zwischen lokutionärem und illokutionärem Sprechakt, um einmal diese Termini aus Austins Sprechakttheorie zu entleihen, liegt hier allein im Ton der Rede. Noch einmal eine andere Rolle spielt der Ton der Rede beim Vortragen eines Textes – bei einem poetischen Text mehr noch als bei einem Prosatext. Einen Text hier in einer bestimmten Tonlage und mit einer bestimmten Betonung zu lesen, zeugt davon, ob man den Text, den man vorträgt verstanden hat oder nicht.96 Darüber hinaus, das verdeutlichen die §§ 528–530, geht es Wittgenstein aber auch um die eigentümliche Klanggestalt der Worte unserer Sprache, um eine Art Physiognomie des Wortklangs.97 Die §§ 528f und § 530 stellen zwei Gegensätze vor, die beide etwas mit unserer Sprache verwandtes darstellen: „Lautgebärden, ohne Wortschatz und Grammatik“ (§ 528) und „eine Sprache […], in deren Verwendung die ‚Seele‘ der Worte keine Rolle spielt“ (§ 530). Beim ersten Vergleich kann man z.B. an die Geräusche eines Säuglings denken, der sich uns durch Laute mitteilt. Das, was er mitteilt, ist in gewissem Sinn verständlich: Wir hören hier Freude, Trauer und Schmerz heraus, jedoch, ohne dass wir sagen könnten, dieser oder jener Laut habe die Bedeutungen von „Freude“ oder „Trauer“ (vgl. § 529). „Here we would have an intermediate case, which links understanding a language to understanding music.“98 Solch eine Lautsprache ist auch Teil unserer Sprache, insofern wir auch sagen, dass wir die Bedeutung eines Wortes hören (§ 534): zu bestimmten Worten gehört ein bestimmter Klang. Die Sprache ohne Seele auf der anderen Seite ist eine Sprache, in der der eigentümliche Klang des Wortes keine Rolle spielt, es also durch jedes beliebige andere Wort mit derselben Bedeutung ersetzt werden könnte. Hier kommt es auf die Wortgestalt nicht mehr an, sondern nur noch auf die Bedeutung, die Funktionalität des Wortes.99 Auch diesen Aspekt der Ersetzbarkeit gibt es in unserer Sprache. So kann Wittgenstein resümieren: 96 Vgl. PU II, 553f. 97 Den Begriff der Physiognomie verwendet Wittgenstein in PU 235 (Physiognomie von „einer Regel folgen“) und 568 („Die Bedeutung eine Physiognomie.“). 98 Hacker, Wittgenstein 4, 331. 99 Zur Rede von der „Seele eines Wortes“ vgl. Hacker, Wittgenstein 4, 332. Vgl. zur Interpretation auch Lange, Philosophische Untersuchungen, 342f.

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Verstehen eines musikalischen Themas

Wir reden vom Verstehen eines Satzes in dem Sinne, in welchem er durch einen anderen ersetzt werden kann, der das Gleiche sagt; aber auch in dem Sinne, in welchem er durch keinen anderen ersetzt werden kann. (So wenig wie ein musikalisches Thema durch ein anderes.) Im einen Fall ist der Gedanke des Satzes, was verschiedenen Sätzen gemeinsam ist; im anderen, was nur diese Worte, in diesen Stellungen, ausdrücken. (Verstehen eines Gedichts.) (§ 531)

Insofern es bei dem Verstehen eines Satzes immer auch um das Verstehen des eigentümlichen Wortklangs, der klanglichen Physiognomie des Wortes, und um das Verstehen der Satzmelodie geht, heißt den Satz zu verstehen, seine Unersetzbarkeit zu verstehen. Besonders auffällig ist dies in poetischer Rede, aber es gilt nicht nur von dieser. Insofern liegt es nahe, das Verstehen eines Satzes mit dem Verstehen eines musikalischen Themas zu vergleichen, um so mehr Klarheit darüber zu gewinnen, wie wir das musikalische Element in unserer Sprache verstehen. 3.2 Musikalisches Verstehen und kulturelle Praxis Musikverstehen als kulturelle Praxis Im Braunen Buch ging Wittgenstein zunächst noch von einem anderen Vergleichspunkt aus: Der Vergleich diente hier zunächst dazu, aufzuzeigen, dass es kein mentales Paradigma gibt, anhand dessen wir die Zeichnung eines Gesichtes als Gesicht erkennen und nicht für eine bloße Ansammlung von Strichen halten (BB 156f). Wittgenstein begründet dies, indem er ein musikalisches Beispiel als Vergleich heranzieht: Wenn wir uns an eine bestimmte Melodie erinnern, so vergleichen wir sie nicht mit einem mentalen Paradigma, damit wir sie richtig singen.100 Es gibt viele Möglichkeiten sich an eine Melodie zu erinnern, sie richtig zu wiederholen, aber das Vergleichen mit einem mentalen Bild der Melodie gehört nicht dazu. In dieser Hinsicht ist das Verstehen eines Satzes dem Verstehen eines musikalischen Themas ähnlich. In keinem der beiden Fälle bezieht sich „verstehen“ auf ein mentales Phänomen oder eine Erfahrung.101 Insofern unterstützt der Vergleich zwischen dem Verstehen eines Satzes und dem Verstehen eines musikalischen Themas die Kritik eines bestimmten Bildes vom Verstehen eines Satzes, nämlich dass das Verstehen eines Satzes auf eine Wirklichkeit außerhalb des Satzes verweisen müsse.102 So wenig wie ein musikalisches Thema zu verstehen heißt, zu verstehen, worauf außerhalb der Musik es 100 Dieser Gedanke wird in PU 184 aufgegriffen. 101 Vgl. VB 521–523. 102 In BB, 167 fasst Wittgenstein diese kritisierte Position in einem Satz zusammen: „For understanding a sentence, we say, points to a reality outside the sentence.“ Vgl. Hacker, Wittgenstein 4, 327f.

Musikverstehen als kulturelle Praxis

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verweist (z.B. ein Gefühl, das die Musik hervorruft), so wenig heißt einen Satz zu verstehen, zu verstehen, worauf außerhalb seiner selbst in der Welt der Satz verweist: „Understanding a sentence means getting hold of its content; and the content of the sentence is in the sentence.“ (BB 167)103 Die Vorstellung davon, dass ein musikalisches Thema auf etwas außerhalb seiner selbst verweist, wird zwar aufgenommen, aber in gänzlich anderer Weise: Weist das Thema auf nichts außer sich? Oh ja! Das heißt aber: – Der Eindruck, den es mir macht, hängt mit den Dingen in seiner Umgebung zusammen – z.B. mit unserer Sprache und ihrer Intonation, also mit dem ganzen Feld unserer Sprachspiele. Wenn ich z.B. sage: Es ist, als ob hier ein Schluß gezogen würde, oder, als ob hier etwas bekräftigt würde, oder als ob dies eine Antwort auf das Frühere wäre, – so setzt mein Verständnis eben die Vertrautheit mit Schlüssen, Bekräftigungen, Antworten, voraus. (Z 175)104

Dass wir in bestimmten Fällen einen Satz so wenig durch einen anderen ersetzen können, wie wir ein musikalisches Thema durch ein anderes ersetzen können, hat also seinen Grund auch darin, dass es nicht ein Etwas außerhalb des Satzes gibt, auf das ein anderer Satz nur auf andere Weise genauso gut verweisen könnte (so wie zwei Zeichen auf ein und denselben Gegenstand verweisen können). Das, worauf das musikalische Thema als etwas außerhalb seiner selbst verweist, macht hier vielmehr gerade seine Einzigkeit aus: Es hat in seinem Umfeld eine bestimmte Position, die durch nichts anderes ausgefüllt werden kann: Und so gilt es auch von bestimmten Sätzen. Dies trifft freilich nicht in allen Fällen zu, es gibt auch die Fälle, in denen ein Satz sehr wohl durch einen anderen ersetzt werden kann. Situationen, in denen wir sagen, wir haben den Satz dann verstanden, wenn wir ihn durch einen anderen ersetzen können. Der Satz „Komm her!“ kann unter bestimmten Umständen dasselbe bedeuten wie der Satz „Hierher!“ Den Satz zu verstehen heißt hier, der Aufforderung zu folgen oder ihr nicht zu folgen. Auch Musik kann in diesem Sinne ersetzbar sein, nämlich dann, wenn sie nur dazu da ist, eine bestimmte Reaktion (z.B. eine Stimmung) hervorzurufen, die auch ein anderes Musikstück hervorrufen kann.105 Die Sätze eines Gedichtes hingegen kann ich nicht einfach durch andere Sätze ersetzen, denn hier liegt die Bedeutung auch in der Form der Worte und nicht in etwas außerhalb der Worte, auf das sie verweisen.106 Ebenso 103 Vgl. LA IV, § 2 (29). 104 Vgl. VB 523. 105 Vgl. das Beispiel in LA IV, § 9 (34). 106 Vgl. LA IV, § 9 (34): „If I admire a minuet I can’t say: ‚Take another. It does the same thing.‘ What do you mean? It is not the same“ (Hervorhebung im Original). Vgl. Worth, Wittgenstein’s Musical Understanding, 161.

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Verstehen eines musikalischen Themas

wenig kann ich, um ein theologisches Beispiel zu nennen, die Einsetzungsworte des Abendmahls einfach durch andere Worte ersetzen, denn die Bedeutung dieser Worte liegt nicht darin, dass sie ein vergangenes Geschehen, das von diesen Worten unterschieden werden kann, beschreiben, sondern ihre Bedeutung liegt in ihrer Funktion im Kontext dieses Ritus. Ihr Platz ist nicht einfach durch andere Worte zu ersetzen, da er sich durch genau diese immer schon verwendeten Worte bestimmt. Was aber heißt es nun, solche Sätze zu verstehen, wenn sie zu verstehen nicht heißen kann, sie durch andere Sätze zu ersetzen? Dies zu verdeutlichen, dient der Vergleich mit dem Verstehen eines musikalischen Themas in erster Linie, denn auch hier gilt: Man kann nicht einfach die musikalische Phrase eines Themas durch eine andere ersetzen: Wie kann man aber in jenem zweiten Falle [von § 531] den Ausdruck erklären, das Verständnis übermitteln? Frage dich: Wie führt man jemand zum Verständnis eines Gedichts, oder eines Themas? Die Antwort darauf sagt, wie man hier den Sinn erklärt. (§ 533)

Will man verstehen, wie man ein musikalisches Thema oder ein Gedicht versteht, so fragt man am besten, wie man jemandem beibringt ein musikalisches Thema oder ein Gedicht zu verstehen. Dies geschieht nicht, soviel ist hier schon deutlich geworden, durch den Verweis auf etwas außerhalb des musikalischen Themas, wie zum Beispiel ein Gefühl, das die Musik in uns hervorruft. Denn das hieße, dass ein musikalisches Thema durch ein anderes ersetzt werden könnte, das in uns dieselben Gefühle hervorruft. „We use the phrase ‚A man is musical‘ not so as to call a man musical if he says ‚Ah!‘ when a piece of music is played, anymore than we call a dog musical if it wags its tail when music is played.“ (LA I, § 17) Ein Mensch gilt uns vielmehr dann als musikalisch, wenn er fähig ist ein begründetes Urteil über ein Musikstück auszubilden (ebd.). In solch einem ästhetischen Urteil spielen Wörter wie z.B. „schön“, „gut“, „wundervoll“ nur eine sehr untergeordnete Rolle.107 Solche Worte lernt man als Ausrufe der Begeisterung, die die Funktion übernehmen können, die in dem eben zitierten polemischen Satz der Ausruf „Ah!“ übernimmt.108 Wie aber sieht ein ästhetisches Urteil dann aus und wie wird man zu solch einem Urteil befähigt? „Das Verstehen einer musikalischen Phrase. – Die einfachste Erklärung ist manchmal eine Geste; eine andere wäre etwa ein Tanzschritt, oder Worte, die einen Tanz beschreiben.“ (VB 548) Wich107 Vgl. LA I, § 8 (3): „It is remarkable that in real life, when aesthetic judgements are made, aesthetic adjectives such as ‚beautiful‘, ‚fine‘ etc., play hardly any role at all.“ Vgl. auch LA I, § 5 (Seite 5) und I, § 17 (6). 108 Vgl. LA I, § 9 (3): „Words such as ‚lovely‘ are first used as interjections. Later they are used on very few occasions.“

Musikverstehen als kulturelle Praxis

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tiger als das, was ich sage, ist hier das, was ich tue. Wenn ich z.B. ein Musikstück für bedeutend erachte, so werde ich es häufig hören, vielleicht mit einem bestimmten Ausdruck oder einer bestimmten Haltung verbunden, ich werde mich mit dem Stück auseinander setzen und in einer bestimmten Weise über es reden. Will man verstehen, was wir das „Verstehen eines musikalischen Themas“ nennen, so muss man auf diese Weise alle Umstände der Verwendung dieser Wendung beschreiben. Dabei besteht freilich wieder die Gefahr eines Missverständnisses: Diese Umstände (z.B. das Vorstellen bestimmter Gesten oder eines Tanzschrittes) sind nicht selber das Verstehen der musikalischen Phrase, noch verweisen sie auf ein dahinter liegendes, vermeintlich mentales Phänomen des Verstehens, das sich nur in diesem Vergleich ausdrückt, sondern das Verstehen einer musikalischen Phrase besteht eben auch, in bestimmten Situationen, in solchen Vergleichen: „Ich gebe Einem eine Erklärung, sage ihm: ‚Es ist wie wenn …‘; nun sagt er: ‚Ja, jetzt verstehe ich’s‘ oder ‚Ja, jetzt weiß ich, wie es zu spielen ist‘“. (Ebd.)109 Um jemandem ein bestimmtes Verständnis für ein musikalisches Thema zu vermitteln, kann man ihn auch zu einem Vergleich verschiedener Musikstücke auffordern, man kann im Unterricht bestimmte Noten besonders betonen, einen Rhythmus besonders deutlich spielen oder ihn ermuntern Varianten eines Themas zu erproben.110 Wir sagen dann z.B.: „Achte auf die Dynamik dieser Phrase!“ oder „Hörst Du die Spannung, die hier aufgebaut wird?“ Wer nun einwendet, das seien alles nur Beschreibungen verschiedener Situationen, und die Frage sei doch die nach dem, was allen Situationen gemeinsam ist, dem muss man wohl im Sinne Wittgensteins antworten: In allen diesen Situationen reden wir davon, dass jemand Musik versteht, all das nennen wir „Verstehen eines musikalischen Themas“. Es muss nicht allen Situationen etwas gemeinsam sein – sie sind miteinander vielmehr durch Ähnlichkeiten verbunden (Familienähnlichkeit). Zu beschreiben, was wir „Verstehen eines musikalischen Themas“ nennen, heißt dann zu beschreiben, welche Rolle Musik und das Verstehen von Musik im Leben eines Menschen und im Leben der Menschen einer Kultur spielt.111 So wie die Einzigkeit des musikalischen Themas durch seine Positionierung im Kontext unserer Lebenswelt und Sprache bestimmt ist, so besteht das Verstehen von Musik darin, die Bezüge zum lebensweltlichen Kontext der Musik wahrzunehmen. 109 Vgl. auch PU 527: „Zur ‚Erklärung‘ könnte ich es mit etwas anderem vergleichen, was denselben Rhythmus (ich meine, dieselbe Linie) hat.“ Vgl. dazu Lewis, Wittgenstein on Words and Music, 384. Wittgenstein selber verwendet des öfteren Vergleiche um Verständnis für ein musikalisches Thema zu wecken. Vgl. z.B. VB 479, 485, 497f, 504, 528, 553 und 566. 110 Vgl. z.B. LA II, § 9 (20). 111 Vgl. LA I, § 35 (11): „In order to get clear about aesthetic words you have to describe ways of living.“

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Verstehen eines musikalischen Themas

Das Verständnis der Musik hat einen gewissen Ausdruck, sowohl während des Hörens und Spielens, als auch zu andern Zeiten. Zu diesem Ausdruck gehören manchmal Bewegungen, manchmal aber nur, wie der Verstehende das Stück spielt, oder summt, auch hier und da Vergleiche, die er zieht, und Vorstellungen, die die Musik gleichsam illustrieren. Wer Musik versteht, wird anders (mit anderem Gesichtsausdruck, z.B.) zuhören, reden, als der es nicht versteht. Sein Verständnis eines Themas wird sich aber nicht nur in Phänomenen zeigen, die das Hören oder Spielen dieses Themas begleiten, sondern in einem Verständnis für Musik im allgemeinen. Das Verständnis der Musik ist eine Lebensäußerung des Menschen. (VB 549f)

Um ein musikalisches Thema zu verstehen, braucht es ein Verständnis für Musik, so wie ich, um einen Satz in einer Sprache verstehen zu können, ein Verständnis dieser Sprache haben muss.112 Als musikalisch, also als jemand, der über Musikverständnis verfügt, gilt uns jemand, der nicht nur zufällig in einer dieser Situationen sich so verhält, dass wir sagen würden „Er versteht dieses musikalische Thema“, sondern es bedarf einer gewissen Konstanz.113 Dieser Mensch kann einem Musik auf vielfältige Weise nahebringen. Er hört in bestimmter Weise auf ein Musikstück und musiziert selber in einer Weise, die erkennen lässt, dass er etwas mit dieser Musik verbindet, sie versteht. Musik hat im Leben dieses Menschen einen bestimmten Platz, ist Teil seines Lebens und in seinem Musikverständnis drückt sich etwas von seinem Leben aus. Musikverständnis in diesem Sinne aber kann nicht ein Mensch allein haben, sondern er bedarf hierfür eines bestimmten Umfeldes, in dem über Musik kommuniziert und in dem auf bestimmte Weise musiziert wird. Dass jemand Musik versteht, zeigt sich an seinen Reaktionen auf diese Musik, daran, wie er in seinem Leben mit Musik umgeht und sich auf diese bezieht. Dies aber gilt als Zeichen dafür, dass jemand musikalisch ist, nur im Kontext einer bestimmten Kultur: Denn wie läßt sich erklären, was „ausdrucksvolles Spiel“ ist? Gewiß nicht durch etwas, was das Spiel begleitet. – Was gehört also dazu? Eine Kultur, möchte man sagen. – Wer in einer bestimmten Kultur erzogen ist, – dann auf Musik so und so reagiert, dem wird man den Gebrauch des Wortes „ausdrucksvolles Spiel“ beibringen können. (Z 164) Dies gilt für ästhetische Urteile ganz allgemein: „The words we call expressions of aesthetic judgement play a very complicated role, but a very definite role, in what we call a culture of a period. To describe their use or to describe what you mean by a cultured taste, you have to describe a culture. What we now call a cultured taste

112 Vgl. Worth, Wittgenstein’s Musical Understanding, 161: „Roughly, then one cannot understand a sentence without being able to understand more than that one particular sentence: one must understand the language as a whole.“ Vgl. PU 199. 113 Vgl. LA I, § 17, Anm. 4 (Mitschrift von James Tylor) (6).

Das Verstehen von Sprache und Musik im Vergleich

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perhaps didn’t exist in the Middle Ages. An entirely different game is played in different ages.“ (LA I, § 25)

Hier zeigt sich wiederum eine Parallele zum Verstehen eines Satzes: Nicht nur gehört zum Verstehen eines Satzes das Verstehen einer Sprache, sondern das Verstehen einer Sprache ist, das zeigte der Vergleich mit der Rede von „einer Regel folgen“, eingebettet in Gepflogenheiten (Gebräuche und Institutionen), wie sie durch die Kultur einer Gesellschaft bestimmt sind. So ist auch für die Rede vom „Verstehen eines musikalischen Themas“ eine Kultur des Hörens, Spielens und Interpretierens von Musik vorausgesetzt, in der unsere Art und Weise auf Musik zu reagieren gebildet und geformt wird. Nur in solch einer Kultur gibt es Kriterien, anhand derer sich feststellen lässt, ob die Rede vom „Verstehen eines musikalischen Themas“ in einer bestimmten Situation richtig angewendet wurde, ob also jemand wirklich Musik versteht.

3.3 Der Ertrag des Vergleichs Das Verstehen von Sprache und Musik im Vergleich Was bringt dieser Vergleich zwischen dem Verstehen eines musikalischen Themas und dem Verstehen eines Satzes im Blick auf die Frage nach der Grammatik von „verstehen“? Zunächst wird hier ein bestimmter Aspekt der Grammatik von „verstehen“ betrachtet, nämlich, wie wir das Wort „verstehen“ im Kontext des musikalischen Verstehens verwenden. Auch das ist ein Teil der Grammatik dieses Wortes und gehört zur übersichtlichen Darstellung seiner Verwendung. Der Vergleich wird hier allerdings mit der Zielvorgabe durchgeführt, dass er auch etwas im Blick auf die Verwendung von „verstehen“ im Kontext des Verstehens von Sätzen austrägt. Ich sehe hier zunächst zwei allgemeine Einsichten zur Grammatik von „verstehen“ als Ertrag der Interpretation dieser Bemerkungen. Zum einen: Da unsere Sprache über zahlreiche musikalische Elemente verfügt, die zu verstehen für das Verständnis eines Satzes oft elementar ist, gehört das Verstehen eines Satzes ähnlich wie das Verstehen eines musikalischen Themas in den Kontext einer Kultur, nämlich einer Kultur der Rede, des Sprechens und des Zuhörens.114 Intonation der Rede, Sprachklang und musikalische Ausdrucksformen greifen dabei vielfach ineinander und beeinflussen sich gegenseitig.115 Zum anderen: Die Rede vom „Verstehen eines Satzes“ wird durch den Vergleich mit dem musikalischen Verstehen noch deutlicher vom mathema114 Vgl. PU 534: „Ein Wort in dieser Bedeutung hören. Wie seltsam, daß es so etwas gibt!“ (Hervorhebung im Original) 115 Vgl. die entsprechenden Hinweise in Z 175.

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Verstehen eines musikalischen Themas

tischen Kalkulusmodell abgegrenzt, als es durch den Vergleich mit der Rede von „einer Regel folgen“ möglich ist.116 „Das Hören eines Wortes in bestimmter Bedeutung ist vergleichbar dem ‚Empfinden‘ des Schlusses einer Kirchentonart (§ 535), das mehr ist, als Kenntnis der Regeln, nach denen er gebildet wird“.117 Es ist das Hören eines Wortes in seiner genuinen klanglichen Gestalt, die es unersetzbar macht. Der Vergleich mit dem musikalischen Verstehen betont so die unableitbaren Aspekte unseres Verstehens, die Singularität bestimmter sprachlicher Äußerungen, die gerade nicht darin besteht, dass sich diese Äußerungen nach dem Referenzmodell von Sprache auf eine (ontologisch) private innere Begebenheit beziehen (z.B. ein Gefühl), sondern vielmehr in der Rolle, die diese Äußerungen in unserem lebensweltlichen Kontext spielen, in unserer Kultur und in unserem persönlichem Umfeld. Durch die kulturelle Prägung unseres Lernens von Musik und Sprache entsteht eine Vertrautheit mit bestimmten Tonfolgen, Musikarten, sowie Sprech-, Rede- und Schreibweisen, mit der (klanglichen) Physiognomie unserer Sprache und Schrift, die uns diese als Musik und als Sprache wahrnehmen lässt.118 Von daher wird es möglich, zugleich die Singularität, die Unersetzbarkeit dieser Äußerungen zu betonen und sie dennoch zu interpretieren. Dabei aber kann jedes vermittelnde Verstehen und Interpretieren nur an das zu Verstehende (das musikalische Thema, die sprachliche Äußerung) selbst zurückverweisen.119 Es gilt hier, was Wittgenstein zuvor im Blick auf die Interpretation eines Genrebildes schreibt und dem Verstehen eines musikalischen Themas parallelisiert: „‚Das Bild sagt sich mir selbst.‘ – möchte ich sagen. D.h., daß es mir etwas sagt, besteht in seiner eigenen Struktur, in seinen Formen und Farben. (Was hieße es, wenn man sagte ‚Das musikalische Thema sagt sich mir selbst‘?)“ (§ 523) Dieser Aspekt der Unersetzbarkeit des Verstandenen durch das Verstehen, wird uns im Zusammenhang der altlutherischen Inspirationslehre wieder begegnen.

Die Schrift verstehen lernen

116 Diese Funktion übernimmt ja schon PU 184 im Kontext der Paragraphen über „verstehen“ und „meinen“. 117 Lange, Philosophische Untersuchungen, 344. 118 Vgl. Lange, Philosophische Untersuchungen, 344. 119 Hier von einer sekundären Weise des Verstehens zu reden (so schlägt es Lange, Philosophische Untersuchungen, 343 vor), halte ich für irreführend.

Die Schrift verstehen lernen

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4. Zwischenbilanz: Verstehen Lernen und Verstehen der Heiligen Schrift Die Schrift verstehen lernen Die hermeneutische These dieser Arbeit, deren theologischen Gehalt ich im Folgenden anhand der altlutherischen Dogmatik Johann Andreas Quenstedts begründen und darlegen will, pointiert das Verstehen der Bibel als Heiliger Schrift als Verstehen in der Lernsituation des Glaubens. Um den Charakter eines solchen Verstehens in einer Lernsituation zu verdeutlichen, musste hier weiter ausgeholt und die Sprachphilosophie Wittgensteins interpretiert werden. Was es heißt, verstehen zu lernen, wurde dabei anhand zweier Vergleiche grundlegend verdeutlicht: einmal im Vergleich zwischen der Grammatik von „verstehen“ und „einer Regel folgen“ und zum anderen im Vergleich zwischen dem Verstehen eines Satzes der Wortsprache und dem Verstehen eines musikalischen Themas. Beide Vergleiche führen mit unterschiedlichen Akzentsetzungen darauf, dass das Verstehenlernen von Sprache in praktischen, nicht-sprachlichen Vollzügen geschieht. Sprache kommt so v.a. als pragmatisches Werkzeug in den Blick. Wer z.B. lernt einen Befehl zu verstehen, der lernt in bestimmter Weise auf Sprache hin zu handeln. Wir werden im Folgenden feststellen, dass gerade diese praktische Dimension des Verstehens, man kann auch von einem praktischen Verstehen sprechen,120 für das Verstehen der Bibel als Heiliger Schrift bei Quenstedt grundlegend ist, insofern Quenstedt das Verstehen der Schrift mit dem Glaubensvollzug und dem Geschehen der Heilszueignung identifiziert. Aufgrund dieser strukturellen Parallele, die sich begrifflich in der altlutherischen Rede von der „Wirksamkeit der Schrift“ (efficacia Scripturae) bündelt, verwende ich die Beobachtungen, die hier anhand der Philosophischen Untersuchungen Wittgensteins gemacht wurden, als Interpretament, um die Hermeneutik und das Schriftverständnis Quenstedts als eines herausragenden Vertreters der lutherischen Orthodoxie neu verständlich und für die gegenwärtige Diskussion um die Möglichkeiten einer Biblischen Theologie fruchtbar zu machen. Wittgensteins Untersuchungen zum Verstehensbegriff begreifen Verstehen nicht mehr als inneren, verborgenen Vorgang, bei dem ein äußerer Text durch ein inneres Verstehen appliziert wird, sondern als äußeres Geschehen, das sich in jeweils unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich vollzieht. Gerade darin trifft sich Wittgenstein mit dem vormodernen Verstehensbegriff der Altlutheraner, der so von Wittgenstein her neu erfasst werden kann, teilweise aber von dieser Perspektive aus auch kritisch zu hinterfragen ist.

120 Vgl. dazu Teil III, Abschnitt 1.1a).

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Die Schrift verstehen lernen

So dient dieser der Quenstedtinterpretation vorausgehende Teil über die Sprachphilosophie Wittgensteins auch dazu, einen neuen Blick auf das Phänomen Sprache und seine Bedeutung einzuüben. Er dient der Einübung einer neuen Denkungsart, von der aus die altlutherische Dogmatik hier in den Blick genommen wird. Diese neue Denkungsart ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich bewusst philosophischer wie theologischer Letztbegründungen enthält und versucht die vorausgesetzten Notwendigkeiten als grammatische Notwendigkeiten zu begreifen. In diesem Sinne soll auch das grundlegende „Axiom“ lutherischer Theologie, dass die Heilige Schrift „Regel und Richtschnur“121 des Glaubens ist, als grammatische Notwendigkeit begriffen werden. Das Herausgehobensein der Schrift aus der Geschichte ihrer Auslegung, ihre Einzigkeit als theologische Norm und die gleichzeitige Notwendigkeit sie auszulegen und zu verkündigen, weisen den Weg zu einer Grammatik von „verstehen“, die dem Verstehen eines musikalischen Themas, eines poetischen Textes oder eines Kunstwerkes ähnelt. Aber auch die anderen hier thematisierten Aspekte (Lernsituation, grammatische Notwendigkeit, Verstehen und Lebenspraxis) werden in der Interpretation der Schriftlehre Quenstedts in unterschiedlichen Zusammenhängen aufgegriffen werden, so dass sich die Plausibilität dieser, zugegebenermaßen ungewöhnlichen Zusammenstellung von wittgensteinscher Sprachphilosophie und altlutherischer Dogmatik, im Vollzug der nun folgenden Interpretation zeigen wird.

121 FC I (BSLK 767,14–19).

Teil III Die dogmatische Konstitution des Kanons in der Theologia didactico-polemica Johann Andreas Quenstedts Quenstedts Theologia Die Wirksamkeit der Schrift Eine gängige Interpretation der altprotestantischen Schriftlehre liest sich in etwa folgendermaßen: Die lutherische Orthodoxie geht von dem Dogma der Verbalinspiration aus, d.h. die biblischen Texte haben einen supranaturalen Ursprung und Charakter, der sie zur unfehlbaren Norm des christlichen Glaubens macht und mit dem Wort Gottes identifiziert. Dieser supranaturale Charakter zeigt sich dann u.a. darin, dass die Schrift den Glauben und das Heil bewirkt.1 Das Dogma von der Verbalinspiration lässt sich so recht leicht kritisieren: Es erscheint als Immunisierung gegen jegliche Kritik der eigenen Theologie. Dass diese Interpretation zu kurz greift, ist inzwischen erkannt.2 Daher möchte ich nun gerade auch vor dem in Teil I erörterten Hintergrund der gegenwärtigen Diskussion einmal nach der dogmatischen Begründung der altprotestantischen Hermeneutik fragen. Dies kann in einer Arbeit wie dieser nur am exemplarischen Beispiel durchgeführt werden, nämlich an der Dogmatik Johann Andreas Quenstedts. Dabei kann Quenstedt freilich nicht einfach stellvertretend für die gesamte lutherische Orthodoxie stehen. Dagegen spricht schon die bereits von Johannes Wallmann herausgearbeitete Grundunterscheidung zwischen zwei Typen des altprotestantischen Theologiebegriffs,3 die eher noch weiter zu differenzieren wäre, denn dass man sie einebnet. Ebenso sprechen dagegen die Ausführung zur Entwicklung der altlutherischen Hermeneutik und Schriftlehre bei Volker Jung und jüngst bei Bengt Hägglund.4 Anhand von Quenstedts Theologia didactico-polemica möchte ich die dogmatische Tiefenstruktur altprotestantischer Hermeneutik untersuchen – exemplarisch insofern, als dabei bestimmte Argumentationsmuster aufgedeckt werden, die grundlegend auch für andere Vertreter dieser theologiegeschichtlichen Epoche sein dürften, wenn auch 1 Vgl. z.B. Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit I, 74. 2 So hat insbesondere Jung, Das Ganze der Heiligen Schrift, darauf hingewiesen, dass die Wirksamkeit der Schrift zum Heil nicht einfach aus einer ontologischen Überhöhung der Schrift folgt, sondern grundlegend ihre Majestät erst ausmacht. 3 Vgl. Wallmann, Der Theologiebegriff, 2. 4 Vgl. Hägglund, Vorkantische Hermeneutik.

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Quenstedts Theologia

nicht für alle. Exemplarisch aber vor allem auch insofern, als sich an Quenstedt aufzeigen lässt, dass theologische Texte der lutherischen Orthodoxie auch für die gegenwärtige Diskussion Relevantes zu bieten haben. Die altprotestantische Hermeneutik und Schriftlehre erweist sich dabei als tief in den materialen dogmatischen Überlegungen verankert, so dass die Arbeit weit ausgreifen muss, um die Aporien und Perspektiven von Quenstedts Hermeneutik zu erfassen. Das Verstehen der Bibel als heiliger Schrift des christlichen Glaubens gehört nämlich mitten hinein in die Kommunikation zwischen Gott und Mensch, in die Korrelation von verbum Dei und fides. Die grundlegenden Entscheidungen werden dort getroffen und spiegeln sich dann in den hermeneutischen Entscheidungen wieder. Diese theologische Reihenfolge wird durch den äußeren Aufbau der Dogmatik verdeckt, weil dort die Lehre De Sacra Scriptura in die Präliminarien gehört, also vor der eigentlichen theologischen Lehre als grundlegend behandelt wird, während die gratia applicatrix und die Heilsmittel erst im dritten und vierten Teil der Dogmatik behandelt werden. Auch dieser Aufbau der Dogmatik wird uns im Zusammenhang der Frage nach den Grundlagen von Quenstedts Hermeneutik noch beschäftigen. Den Einstieg nehmen wir bei der Lehre von der Heiligen Schrift, wie sie Quenstedt im vierten Kapitel der Pars Prima entfaltet (Abschnitt 1). Hier schon zeigt sich, dass die lange Zeit gängige Interpretation der altprotestantischen Schriftlehre zu kurz greift. Wenn wir darüber hinaus dann aber nach der Kongruenz von hermeneutischer Theorie und hermeneutischer Praxis fragen (Abschnitt 2), wird sich zeigen, dass die alten Vorurteile gegen die altprotestantische Hermeneutik ihr partielles Recht in der Kritik an der Praxis der Schriftauslegung in der Dogmatik haben. Handelt es sich bei dem Auseinanderfallen von Schriftlehre und praktischer Schriftauslegung in der Theologie Quenstedts nur um eine, freilich weitreichende, systematische Unzulänglichkeit, oder aber gründet dieses Defizit in einer tiefer verankerten dogmatischen Entscheidung, die zu diesem Problem hin führt? Um diese Frage zu beantworten, wenden wir uns der dogmatischen Tiefenstruktur der Hermeneutik zu: Die Pneumatologie, wie sie in der Lehre von der Gratia applicatrix Spiritus Sancti entfaltet wird, wird so als eine Analytik des Schriftverstehens interpretiert, in der glaubendes Verstehen der Bibel als Heiliger Schrift theologisch dargestellt und begründet wird (Abschnitt 3). Es wird sich dabei zeigen, dass diese Analytik des Wirksamwerdens des Geistes im Wort der Schrift von einer begrifflichen Unklarheit durchzogen ist, die in einer problematischen Verhältnisbestimmung von Theologie und Glaube, von theologischer Interpretation der Schrift und unmittelbarem Glauben aus dem Wort der Schrift, gründet (Abschnitt 4).

Die Wirksamkeit der Schrift

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1. Die Wirksamkeit der Schrift: Wort – Text – Heiliger Geist Die Wirksamkeit der Schrift „Und diese ihre Autorität und Wahrheit offenbart die Schrift zum dritten durch sich selbst und bewirkt so durch sich selbst den Glauben.“5 So lautet in dem Kapitel über das Prinzip der Theologie eine der Begründungen dafür, dass die Heilige Schrift, genauer die „göttliche Offenbarung, die in den Heiligen Schriften enthalten ist“,6 Prinzip der Theologie ist. Aufgeführt ist dieses Argument unter denjenigen Argumenten, die ex rationibus argumentieren,7 zunächst wohl schlicht aus dem Grund, dass hier weder aufgrund einer bestimmten Bibelstelle noch auf Grund der Tradition argumentiert wird. Es wird damit aber auch ein Anspruch deutlich: Die Behauptung, dass die Schrift durch ihre Fähigkeit den Glauben zu wirken, zugleich höchste Autorität in Glaubensfragen und Prinzip des Glaubens ist, will eine vernünftige Aussage sein, d.h. ein nachvollziehbarer Satz, der nicht auf ein spezielles Glaubenswissen rekurrieren muss. Ähnlich stellen sich die beiden vorangehenden Argumente in diesem Abschnitt dar: Die Schrift ist Prinzip der Theologie wegen ihrer Vollständigkeit (sufficientia): Sie enthält alles, was zum Glauben zu wissen notwendig ist, also braucht es keine weiteren Autoritäten neben ihr. Zum anderen ist sie Prinzip der Theologie, weil sie in der Theologie genau die Funktion übernimmt, die man eben einem solchen Prinzip auch in anderen Wissenschaften zuschreibt: in ihr finden am Ende alle theologischen Schlussfolgerungen ihre Lösung.8 Gesteht man die jeweiligen Voraussetzungen dieser Aussagen zu, nämlich, dass die Schrift suffizient ist und dass alle theologischen Aussagen in ihr eine Lösung finden, so sind diese Argumente durchaus allgemein nachvollziehbar. In diesem Sinne gilt es auch von dem eingangs zitierten Satz: Das, was Glauben hervorbringt, ist im Blick auf diesen Glauben die letzte Autorität, ist Prinzip auch im ganz wörtlichen Sinne, nämlich Anfang des Glaubens. Das in diesem rationalen Argument Vorausgesetzte aber, nämlich, dass die Schrift Glauben hervorbringt, entzieht sich der rationalen Begründung. Ihre Wirksamkeit muss die Schrift selber erweisen. 5 I, III/2, Beb. II: „Hancque veritatem & autoritatem suam Scriptura tertio per se ipsam demonstrat, sibique ipsi fidem facit“ (Hervorhebung im Original). Diese und folgende Stellenangaben ohne weitere Nennung eines Titels beziehen sich auf Quenstedt, Theologia didactico-polemica. Zitiert werden: Pars, Caput/Sectio, weitere Angaben (P=Porisma, q=quaestio, st.c.=status controversiae, Th=Thesis, Ekth.=Ekthesis, Antith.=Antithesis, Beb.=Bebaiosis, FS=Fontes Solutionem, Ekdik.=Ekdikesis, Dial.=Dialysis, nota, obs=observatio). 6 „SS. Theologiae principium est divina revelatio in Sacris Literis comprehensa“ (Q I, III/1, Th, Hervorhebung im Original). Die Frage nach dem Verhältnis von Offenbarung Gottes und biblischem Text wird von Quenstedt als die Frage danach behandelt, wieso das Wort Gottes Text werden musste, und wird uns unten in Abschnitt 1.3 a) noch beschäftigen. 7 I, III/2, Beb. II. 8 I, III/2, Beb. II.

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Zu beachten ist dabei, dass Quenstedt in bester aristotelischer Tradition sorgfältig unterscheidet zwischen dem principium essendi (dem Seinsgrund)9 und dem principium cognoscendi (dem Erkenntnisprinzip).10 Weil die Schrift Anfang des Glaubens ist, ist sie Erkenntnisprinzip des Glaubens im logischen Sinne. Seinsgrund, principium essendi des Glaubens und der Theologie aber ist Gott.11 Dieser wirkt nun aber wiederum durch die Schrift als dem principium operandi in uns die Wiedergeburt (regeneratio), den Glauben und das ewige Heil.12 Damit aber bewegen wir uns bereits mitten hinein in die Frage nach der Näherbeschreibung jener Wirksamkeit der Schrift zum Glauben, hinein in die Frage, wie sich Schriftwort und Gotteswort zueinander verhalten und wie das Verhältnis von Schriftwort, Glaube und Theologie näher zu bestimmen ist. Die Frage nach der Näherbestimmung der Wirksamkeit der Schrift führt so mitten hinein in die Zusammenhänge der Prolegomena von Quenstedts Theologia. Dass die Rede von der Wirksamkeit der Schrift (efficacia Scripturae) den Kern der altprotestantischen Schriftlehre ausmacht, wurde auch in der neueren Forschung zu Recht wieder ins Zentrum der Überlegungen gestellt.13 Ihre Autorität erweist die Heilige Schrift durch ihre Heilswirksamkeit, die zugleich als das Spezifikum des biblischen Textes gilt. Als autoritativer, zum Heil wirksamer Text unterscheidet sich dieser Text von anderen Texten und ist von daher auch anders zu lesen. Wenn wir also nach dem spezifisch theologischen Charakter der altprotestantischen Hermeneutik fragen, empfiehlt es sich, genau hier anzusetzen, nämlich bei der Frage nach der Auswirkung der Rede von der Wirksamkeit der Schrift auf das Verstehen der Schrift. Sehr deutlich werden diese Auswirkungen dort, wo Quenstedt in der Auseinandersetzung zwischen den Auslegeautoritäten den Vorrang der Schrift verteidigt. Dies geschieht unter den Bedingungen der konfessionellen Polarisierung insbesondere dort, wo die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Schrift gestellt wird, und dabei insbesondere in der polemischen Abgrenzung von der katholischen Verhältnisbestimmung von Kirche, Tradition und Schrift. Diese Fragestellung nach dem Verhältnis von Kirche und Schrift erwies sich schon in Teil I als eine zentrale Frage des Problemkomplexes. Die Ausführungen Quenstedts zeigen, dass die Lehre von der Wirksamkeit der Schrift die Selbst9 I, III/1, Th, nota II: „principium essendi est, a quo aliquid esse suum habet, sive a quo dependet in essendo“ (Hervorhebung im Original). 10 Ebd.: „pricipium cognoscendi est, a quo res dependet in cognoscendo, cujus correlatum est non res, sed cognitio rei “ (Hervorhebung im Original). 11 Ebd.: „Deus est principium essendi, & causa prima Theologiae.“ 12 I, IV/1, Th. VII, nota II: „Scriptura S. ad salutem conducit, tum qua est principium cognoscendi, seu quatenus est medium, per quod Deus dat scientiam salutis, 2 Tim III, 15. tum qua est principium operandi. Per Scripturam enim Deus operatur in nobis regenerationem, fidem, & sic aeternam salutem, Rom. I,16. Jac I,21“ (Hervorhebung im Original). 13 Vgl. Jung, Das Ganze der Heiligen Schrift.

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suffizienz und damit die externe Autorität der Schrift gegenüber der Kirche sichert. So soll in Abschnitt 1.1 anhand dreier affectiones Scripturae, nämlich der Autorität der Heiligen Schrift, die eben in ihrer Wirksamkeit besteht, der sufficientia seu perfectio, der Vollständigkeit und Vollkommenheit der Schrift, und der Richterfunktion der Schrift die zentrale Bedeutung der Rede von der Wirksamkeit der Schrift dargestellt werden.14 Von dieser Wirksamkeit der Schrift her wird die Schrift als auf das Heil der Menschen ausgerichteter Text gelesen. Diese Wirksamkeit der Schrift zum Heil wird pneumatologischtheologisch bestimmt und prägt so grundlegende hermeneutische Begriffe wie den Begriff der Klarheit der Schrift und ihrer Fähigkeit zur Selbstauslegung (Abschnitt 1.2) und den Textbegriff (Abschnitt 1.3) pneumatologisch. Die Interpretation folgt also ganz bewusst nicht dem Duktus der Thesen und Fragen Quenstedts selber, sondern versucht den systematischen Grundgedanken der theologischen Darstellung zu entwickeln. Der Text Quenstedts entwickelt seine Position ja nicht aus einer durchgehenden stringenten Argumentation, sondern er geht von der gültigen Lehre aus, die zunächst in Thesen dargestellt, nicht aber systematisch entwickelt wird, und die dann argumentativ in verschiedenen Fragen gegen Einwände verteidigt wird. Die argumentativen Grundlagen werden dabei häufig vor allem in der apologetischen Auseinandersetzung deutlich, dabei aber eben jeweils strikt auf die diskutierte Frage bezogen. So bietet die Theologia Quenstedts im Grunde nur die Oberfläche des argumentativen Systems und seiner Entwicklung, die an verschiedenen Punkten durch kritische Fragen durchbrochen wird. An diesen Stellen wird das argumentative Fundament sichtbar, das wir hier als biblisch-theologisches Fundament interpretieren wollen.

1.1 Die efficacia Scripturae als Zentrum der Hermeneutik Quenstedts Efficacia Scripturae Dass die Heilige Schrift principium der Theologie ist, bewährt sich zunächst einmal in der Auseinandersetzung mit Positionen, die andere solche Prinzipien benennen. Den breitesten Raum nimmt hierbei die Auseinandersetzung mit der katholischen Position ein, die dem römischen Lehramt und insbesondere dem Papst das ius interpretandi Scripturae einräumt und damit die Schrift der Autorität des Lehramtes unterstellt. Vor allem in dieser Aus14 Zu den affectiones Scripturae vgl. I, IV/1, Th. VIII. Der weitere Gang der Interpretation wird zeigen, dass auch die anderen affectiones Scripturae (Die Klarheit der Schrift und ihre Fähigkeit zur Selbstauslegung [vgl. Abschnitt 1.2]) in der Wirksamkeit der Schrift gründen. Schon die Formulierung in I, IV/1, Th VIII legt dies nahe, denn dort heißt es am Ende der Auflistung der affectiones Scripturae: „& denique divina efficacia“ (Hervorhebung von M.C.). Das „denique“ legt es nahe in der göttlichen Wirksamkeit der Schrift nicht eine weitere affectio neben anderen zu sehen, sondern sie als Summe aller affectiones zu verstehen.

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einandersetzung zeigt sich, wie die Vorstellung von der Wirksamkeit der Schrift zum Glauben näher zu denken ist und welche abgrenzende Funktion sie übernimmt. Andere (vermeintliche) Prinzipien, gegen die die biblischen Schriften bei Quenstedt verteidigt werden, sind die Vernunft (ratio),15 die Berufung auf die altkirchliche Tradition (insbesondere den sogenannten consensus quinque saeculorum) und die Berufung auf eine unmittelbare Eingebung des Geistes bei den Schwärmern. Alle drei Abgrenzungen spielen dementsprechend auch schon in dem Kapitel über das Prinzip der Theologie eine Rolle. In vier Porismata wird die These des apologetischen Teils gegen eben jene Positionen profiliert.16 Im apologetischen Teil der Schriftlehre begegnen diese Abgrenzungen, insbesondere die Abgrenzungen gegen die Autorität der Kirche, dann vor allem dort, wo es um die Autorität der Heiligen Schrift geht. Dies ist zunächst in Frage VII der Fall, die nach der Schriftautorität und ihren Gründen fragt. Konsequenterweise taucht hier unter den Gegenpositionen die katholische Lehre auf, die die Autorität der Schrift ganz bestreite oder sie nur als gleichwertig der kirchlichen Autorität betrachte.17 Das Verständnis der Autorität der Schrift aus ihrer Wirksamkeit wird dabei deutlicher werden im Zusammenhang mit den Ausführungen über die Fähigkeit der Schrift Effekte in den Lesern zu wirken (Frage XVI). Frage VIII schließt mit der Fragestellung, ob die Autorität der Heiligen Schrift von der Autorität der Kirche abhänge, an die Frage nach der Autorität der Schrift an.18 Der Konflikt der Autoritäten manifestiert sich im Blick auf die Praxis in der Frage, ob die Schrift oberste Urteilsinstanz, höchster Richter des Glaubens ist (Frage XV). Auch Frage IX mit ihrer Frage nach der Schrift externen Kriterien, die von der Autorität der Heiligen Schrift überzeugen können, behandelt, wie ein Blick auf die Antithese zeigt,19 noch einmal das Problem des Verhältnisses von Kirche und Schrift und weitet diese Frage auf die allgemeinere Frage hin aus, wie denn die Autorität der Heiligen Schrift überhaupt vermittelbar ist. Damit ist dann die Frage nach dem gestellt, was in dem oben genannten Argument ex ratione als nicht aus der allgemeinen ratio begründbar vorausgesetzt ist, nämlich die Frage danach, ob die Wirksamkeit der Schrift zum Heil selber noch einmal begründet werden kann. 15 Zur Begrenzung der Vernunft durch die Schrift vgl. Baur, Die Vernunft. 16 I, III/2, P I: Das Papstamt ist nicht Prinzip der Theologie, P II: die natürliche Vernunft ist nicht Prinzip der Theologie, P III: die altkirchliche Tradition ist nicht Prinzip der Theologie, P IV: private Visionen, Erscheinungen oder Offenbarungen sind nicht Prinzip der Theologie. 17 I, IV/2, q VII, Antith. VI. 18 I, IV/2, q VIII: „Utrum S. Scripturae autoritas dependeat ab autoritate Ecclesiae?“ 19 So heißt es I, IV/2, q IX, Antith. III: „Pontificiorum eorum, qui I. vel praecipue vel unice ab Ecclesia, vel etiam Romani Pontificis autoritate dependere Scripturae autoritatem contendunt, ut supra vidimus“ (Hervorhebung im Original).

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Wenn wir mit der Interpretation hier mitten im Kapitel über die Heilige Schrift ansetzen, so deshalb, weil sich von hier aus die Interpretation der anderen Abschnitte am besten verstehen lässt. Die folgenden Ausführungen werden zeigen, dass die Rede von der Wirksamkeit der Schrift grundlegend für Quenstedts theologische Hermeneutik ist.

a) Die Autorität der Heiligen Schrift und ihre Wirksamkeit zum Heil „Und so ist die Autorität der Hl. Schrift nichts anderes als ihre Göttlichkeit im Verhältnis zu den Menschen“.20 Die Autorität der Schrift wird so von vornherein zurückgebunden an die Autorität Gottes. Sie ist nicht per se Autorität in Glaubensfragen, sondern nur, weil sie von Gott bestimmtes Medium der Vermittlung seines Offenbarungshandelns an uns Menschen ist. Dieses Offenbarungshandeln Gottes wird hier näher bestimmt als ein Handeln Gottes an uns durch sein Wort, und zwar zunächst einmal als ein Handeln, das nicht einfach Mitteilung von Information ist: Die Schrift „macht sich durch sie [ihre Autorität] bekannt und offenbart sich, sie lockt und gewinnt ihre [der Menschen] Seelen für ihre Verehrung, also zur Anerkennung der von ihr dargebotenen Sätze, und sie bewegt und verpflichtet den Willen zum Gehorsam gegenüber den Geboten, die sie gebietet.“21 Die Anerkennung des Geschriebenen ist hier nur ein Punkt neben anderen, und auch im Blick auf diese Anerkennung ist damit noch nicht gesagt, dass es um die Anerkennung eines propositionalen Gehaltes der Sätze der Schrift geht. Vielmehr ist die Anerkennung (assensus) des Geschriebenen hier als Verehrung der Schrift thematisiert. Grundlegend geht es zunächst darum, dass die Schrift diejenige Autorität ist, durch die Gott uns in neue Lebensund Handlungszusammenhänge führt: Die Anbetung Gottes in der Liturgie und das Handeln des Christen im Alltag, beide gründen letztlich in diesem anredenden Gotteswort der Schrift. Die Autorität der Schrift ist also die Autorität Gottes bezogen auf das Leben des Christen.22 Dies wird von Quenstedt unmittelbar auf ein Dictum Johann Gerhards bezogen: „Das Wort Gottes ist der redende Gott.“23 Die Autorität der Schrift ist die Autorität des anredenden Gotteswortes, das den Leser und Hörer lockt (trahens), gewinnt (alliciens), bewegt und ihm gebietet. Damit ist hier zunächst eine 20 I, IV/2, q VII, Ekth. I: „Atque ita S. Scripturae autoritas nihil aliud est, quam ejusdem divinitas spectata cum relatione ad homines, […].“ 21 I, IV/2, q VII, Ekth. I (Fortsetzung des Zitats in Anm. 20): „[…] quibus illa innotescit & manifestatur, trahens alliciensque eorum animos in sui venerationem & quidem illorum intellectum ad assensum praebendum illius dictis, & voluntatem ad obsequium praestandum ejus mandati movens & obligans.“ 22 I, IV/2, q VII, Ekth. IV: „una eademque est autoritas Dei & Scripturae S.“ 23 Ebd.: „Verbum Dei est Deus loquens.“

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sehr grundlegende Form des Lesens im Blick, die dem entspricht, was wir von Wittgenstein her als ein reagierendes Lesen und Verstehen des Textes in den Blick nahmen; ein Verstehen, das selber ein Verstehen-lernen ist. John Barton spricht in seiner Studie zum Kanonproblem von einem Verstehen, das kein Bedeutungsverstehen ist,24 und nennt Beispiele wie die liturgische Rezitation Heiliger Schriften, die mehr Ähnlichkeit mit der Handhabung musikalischer Niederschriften habe als mit dem Lesen eines literarischen Textes. Es geht Barton um ein Verstehen, bei dem die Schrift ausgeführt wird.25 Barton spricht damit also durchaus etwas Ähnliches an wie die altprotestantische Theologie mit ihrer Rede von der efficacia Scripturae. Solch ein Verstehen allerdings als ein nicht auf die Bedeutung des Textes gerichtetes Verstehen zu charakterisieren, ist problematisch, insofern auch ein solch praktisches Verstehen, das z.B. dem Verstehen eines Befehls ähnelt (ich habe den Befehl verstanden, wenn ich nach ihm handle), auch ein Verstehen von Bedeutung ist, insofern nach Wittgenstein die Bedeutung ja gerade durch die Handlungskontexte der Sprache bestimmt ist. Die Bedeutung eines Befehls z.B. besteht gerade nicht in einem von der Sprachhandlung abzulösenden Inhalt. Man kann solch ein Verstehen am ehesten als ein praktisches Verstehen charakterisieren, insofern Verstehen hier in einer bestimmten Praxis besteht, die nicht notwendigerweise auf den Inhalt des Verstandenen reflektiert, sondern einfach aufgrund des Verstandenen handelt.

Der biblische Text versetzt den Leser – noch bevor ein Reflektieren auf den Inhalt des Textes einsetzt – im Modus der gewinnenden Anrede in denjenigen Kontext, in dem der Text der biblischen Schriften als Text der Heiligen Schrift gelesen wird. Die Schrift als anredendes Gotteswort bewegt den Leser dazu, sie als Heilige Schrift zu verehren. Ähnlich wie einen Befehl zu verstehen nicht heißt, den Inhalt und die Bedeutung des Befehls wiedergeben zu können, sondern nach dem Befehl zu handeln, heißt einen biblischen Text als Heilige Schrift zu verstehen nicht, seinen Inhalt zu verstehen, sondern es heißt, den biblischen Text als Gottes Wort anzuerkennen und nach den Geboten des Textes zu handeln. Verstehen heißt hier, in der Terminologie der Altprotestanten selbst gesprochen, conversio, regeneratio, also umfassende Erneuerung des Lebens durch Gott. Die Art und Weise der Wirksamkeit des Schriftwortes wird noch einmal besonders deutlich in der probatio der These. Quenstedt bezieht sich hier unter anderem auf 1. Thess 2,13: „Und darum danken wir auch Gott ohne Unterlass dafür, dass ihr das Wort der göttlichen Predigt, das ihr von uns empfangen habt, nicht als Menschenwort aufgenommen habt, sondern als das, was es in Wahrheit ist, als Gottes Wort, das in euch wirkt, die ihr 24 Vgl. Barton, The Spirit and the Letter, 125. Zu den Ausführungen über das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in diesem Kontext vgl. unten Abschnitt 1.3 a). 25 Vgl. aaO., 129. Vgl. dazu auch Lash, Performing the Scriptures. Zu Lash vgl. Teil I, 1.3.

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glaubt.“26 Dabei betont Quenstedt, dass hier der Glaube nicht von Gott, sondern durch das Wort hervorgebracht wird, das grammatisch Subjekt des Relativsatzes ist. Dieses Wort ist aktive Kraft der Veränderung. Es „erneuert und erleuchtet den Verstand (mens), reinigt das Herz, bringt im Willen wahren und treuen Glauben (fiducia) hervor“.27 Dies wirkt das Wort in den Hörern, im konkreten Fall in den Thessalonichern. Betont wird wiederum: Es wirkt allein das Wort und nicht zum Teil das Wort und zum Teil die Thessalonicher. Es ist allein die Wirkmacht des Gotteswortes und nicht Werk der verstehenden Menschen, dass es zu solch einem Verstehen des Wortes kommt.28 Reden wir hier von einem „Verstehen der Heiligen Schrift“, so reden wir also davon, dass der Leser und Hörer des Textes durch den Text verändert wird. Die Vollmacht des Wortes Gottes besteht also nicht in erster Linie darin, nach außen bekannt zu geben, was Gottes Wille ist, sondern „[…] sie ist wirksam darin, dass sie geistliche Wirkungen (effectus) hervorbringt“.29 In Frage XVI, die sich diesen geistlichen Wirkungen der Schrift widmet, werden diese Wirkungen näher beschrieben und gegen ein bloß historisches, objektives Verstehen des Schriftgehalts abgegrenzt: „Und daher erfreut sie [die Schrift] nicht nur durch ein historisches Licht, objektiv und instrumental, wie es Rathmann nennt, sondern sie ist versehen mit dem Licht der Gnade, subjektiv und prinzipiell, nämlich mit einem belebenden Geist und Leben, mit göttlicher Kraft versehen, um heilvolle Werke zu wirken, damit sie das Herz durchdringt, von innen heraus verwandelt, und so in ihm die Bekehrung, die Wiedergeburt etc. wahrlich wirkt.“30 In der Probatio dieser These von der Fähigkeit der Schrift geistliche Effekte hervorzubringen heißt es im Blick auf 1 Petr 1,23: „Diese Kraft und dieses 26 Quenstedt bezieht sich hier, wie auch bei anderen Bibelstellen, ausschließlich auf den griechischen Text: „Kai\ dia\ tou~to kai\ hxaristou~men tw~| cew~| a>dialei/ptwj, o[ti paralabo/ntej lo/gon a>koh~j par' hde/qasce ou> lo/gon a>ncrw/pwn a>lla\ kacw/j e>stin a>lhcw~j lo/gon ceou~, o%j kai\ e>nergei~tai e>n u une/rgeia seu efficacia omnis sit Dei & Verbi divini, non hominis ex naturae suae viribus“ (Hervorhebung im Original). 29 I, IV/2, q XVI, Ekth. III: „[…] effectiva ad producendum spirituales effectus“. 30 I, IV/2, q XVI, Ekth. III: „Adeoque non gaudet tantum lumine historico, objecti & instrumentali, quod ita vocat Rathmannus, sed instructa est lumine gratiae, subjecti, & principali, utpote animata Spiritu & vita, vi divinae ordinationis ad efficienda salutaria a>potele/smata, ut cor ipsum penetret, intrinsecus mutet, atque in eo conversionem, regenerationem &c., vere operetur.“ In der Auseinandersetzung mit Rathmann, im so genannten rathmannschen Streit, klärte sich in der lutherischen Orthodoxie die Explikation des Verhältnisses von Geist und Text, die unmittelbar mit der soteriologischen Funktion des Textes als Heilsmittel zusammenhängt (dazu Abschnitt 1.3). Vgl. zum rathmannschen Streit: Steiger, „Das Wort sie sollen lassen stahn …“.

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Leben des Wortes ist den Menschen von Gott nicht nur zur äußeren Vermittlung von Informationen gegeben, sondern auch um innerlich zu erleuchten und lebendig zu machen.“31 Die Schrift in diesem Sinne zu verstehen kann dann aber nur heißen, durch die Schrift verändert zu werden. Verstehen kommt hier also als Widerfarnis und als praktisches Verstehen in den Blick. Das Verstehen der Schrift in diesem Sinne besteht in einer neuen Lebensweise, die durch die Begriffe Wiedergeburt (regeneratio), Bekehrung (conversio), Glaube (fides), Reinigung (purificatio), Lebendig machen (vivificatio), Rechtfertigung (justificatio), Heiligung (sanctificatio), Erneuerung (renovatio), Bewahrung in Gnade und Glaube (conservatio) und Rettung (salvatio) charakterisiert wird.32 Dass es sich hierbei um Widerfahrnisse des Schriftwortes handelt, wird besonders daran deutlich, dass Quenstedt durchgängig die passive Verbform verwendet (regenerari, converti, donari etc.). In diesem durch diese Effekte der Schrift charakterisierten Leben „existieren wir im Wort, gleichwie der Embryo im Mutterschoß geborgen ist“.33 Diese geistlichen Effekte, durch die das Leben im Wort gekennzeichnet ist, wirkt die Schrift als „ordentlich gegebenes Mittel und Instrument“34 des Heiligen Geistes, durch das dieser in unseren Herzen wirkt.35 Daher ist die Schrift in der Bekehrung (conversio) nicht das Prinzip derselben, sondern nur Gott gegebenes Mittel des Heils (medium salutis).36 So sehr Wort und Geist hier also eng zusammengerückt werden, wenn Quenstedt betont, dass der Geist die Herzen nicht unabhängig vom Wort erleuchtet,37 „sondern zugleich und verbunden mit dem Wort handelt“38 und in der Verbindung mit dem Wort das Heil bringt, so sehr kann doch auch zwischen Wort und Geist differenziert werden. Das Wort ist und bleibt Instrument, dem der Geist seine Kraft zu Bekehren realiter mitteilt. Diese Kraft hat die Schrift nicht aus sich heraus, sie eignet ihr nicht wesentlich (essentialiter). Die 31 I, IV/2, q XVI, Beb. V, obs. 3: „Haec vis & vita Verbi divinitus data est ad homines non tamen externe informandum, sed & interne illuminandum & vivificandum.“ Ähnlich im Blick auf Röm 1,16: I, IV/2, q XVI, Beb. II, obs. 2 und obs. 3. 32 Quenstedt sammelt unter diesen Begriffen in I, IV/2, q XVI, Beb. VII Bibelstellen, die der Schrift die Fähigkeit eben jene Effekte hervorzubringen zuschreiben. Da hier zunächst einmal nur die Begriffe interessieren lasse ich die Bibelstellen im Zitat aus: „[Probatur Verbi Dei efficacia] Ex actibus & effectibus variis, qui verbo Dei tribuuntur. Per verbum Dei enim dicimur regenerari & converti, […] fide donari & credere, […] purificari, […] vivificari, […] justificari, […] sanctificari, […] renovari, […] in gratia & fide conservari, […] salvari“(Hervorhebung im Original). Es handelt sich hierbei um zentrale Begriffe der gratia Spiritus S. applicatrix. Vgl. zu diesem Zusammenhang unten Abschnitt 3. 33 I, IV/2, q XVI, Beb. V, obs. 2: „Nos sumus in Verbo, velut embryo clausus in alvo.“ 34 I, IV/2, q XVI, Ekth. XII: „[…] ordinarium medium ac organon […]“. 35 Vgl. ebd. 36 I, IV/2, q XVI, Ekth. XIV und FS XV. 37 Dazu vgl. auch unten Abschnitt 1.1 c). 38 I, IV/2, q XVI, FS IV: „[…] simul & conjunctim agit cum Verbo“.

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Schrift hat, gleichwohl real, doch nur auf kommunikative Weise Anteil an der göttlichen Wirkmacht.39 So wird die Wirksamkeit der Schrift zum Heil pneumatologisch beschrieben als Wirksamkeit des Geistes im Wort. Dem entsprechen im negativen allerdings auch gegenteilige Wirkungen der Schrift, nämlich die Erschütterung (concussio), das Sterben (mortificatio) und die Verdammnis (damnatio).40 Die Schrift ist nicht nur Evangelium, sondern dort, wo sie nicht als Heilswort gehört wird, ist sie auch Gesetz.41 Diese doppelte Wirksamkeit der Schrift ergibt sich aus der Lehre von der Wirksamkeit der Schrift auch außerhalb ihres Gebrauchs (efficacia Sacrae Scripturae extra usum). Diese Wirksamkeit außerhalb des Gebrauchs soll nicht als eine magische Wirksamkeit allein der Wortgestalt (materia) vorgestellt werden, sondern es ist die Göttlichkeit des Textsinns (sensus), die die Schrift auch außerhalb des Gebrauchs zum wirksamen Wort macht.42 Diese Wirksamkeit extra usum wird begrifflich expliziert als eine Wirksamkeit im actus primus, das heißt als die Fähigkeit oder die Möglichkeit wirksam zu werden, also als Wirkmächtigkeit. Diese Wirkmächtigkeit hat die Schrift immer, auch dann, wenn sie nicht gebraucht wird. Effektiv (zum Heil) wirksam (dem actus secundus nach) ist die Schrift nur im rechten Gebrauch, weil nur dort diese Potentialität aktualisiert wird.43 Diese Wirksamkeit der Schrift zum Heil im actus secundus realisiert sich wiederum nicht automatisch im Hörer oder Leser des Schriftwortes, sondern sie kann durch die Herzenshärte des Hörers oder Lesers beeinträchtigt werden, ohne dass dadurch aber die Wirksamkeit des Schriftwortes an sich (im actus primus) aufgehoben würde. Diese inefficacia zum Heil ist nur eine akzidentielle Unwirksamkeit.44 Statt zum Heil wirksam zu werden wird die Schrift hier zum verdammenden Gesetzeswort. Weil aber aus dem Gesetz Erkenntnis der Sünde kommt (elenchthische Funktion des Gesetzes), ist die Schrift eben auch den Ungläubigen zu predigen,45 – weil die Predigt des Gesetzes, dort, wo sie den Hörer der Sünde überführt, bereits eine Predigt zum Evangelium hin ist. Logisch geht dabei aber die Wirksamkeit der Schrift zum Heil (Evangelium) der Wirksamkeit der Schrift als Gesetz voraus (hier gilt also: Evangelium und Gesetz), insofern die Wirksamkeit der Schrift grundsätzlich zunächst als Heilswirksamkeit gedacht ist.46 39 I, IV/2, q XVI, FS VI und XVI. 40 I, IV/2, q XVI, Th. 41 I, IV/2, q XVI, Ekth. II. 42 I, IV/2, q XVI, Ekth. I. 43 I, IV/2, q XVI, Ekth. VIII. 44 I, IV/2, q XVI, Ekth. IX, FS XIIX. Das hier angedeutete Problem wird dann im Kapitel „De conversione“ näher untersucht. Vgl. dazu unten Abschnitt 3.1 c). 45 I, IV/2, q XVI, Ekth. XI. 46 So spiegelt es sich dann auch in der Bestimmung des finis Scripturae wieder (dazu unten Abschnitt 1.1 f): „Finis Scripturae est semper salutaris“. (I, IV/1, Th VII, n 1). Dem entspricht es

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Was aber ist die theologische Funktion dieser eigentümlichen Rede von der Wirksamkeit der Schrift extra usum, aus der sich die Wirksamkeit der Schrift im Negativen gleichsam als negative Kehrseite ihrer Wirksamkeit zum Heil ergibt? Bei Quenstedt ist diese Lehre auf der einen Seite metaphysisch konstruiert und motiviert. Weil gilt: „to\ esse rei non pendet ab usu“,47 muss die Göttlichkeit der Schrift, und das heißt eben ihre Wirksamkeit, auch außerhalb ihres Gebrauchs behauptet werden. Darauf baut die metaphyische Unterscheidung von actus primus und actus secundus auf. Diese metaphysische Explikation unterläuft allerdings die Argumentation mit der Wirksamkeit der Schrift als einem Wortgeschehen. Es erscheint nun vielmehr so, dass die Wirksamkeit der Schrift eine in der Schrift liegende supranaturale Eigenschaft ist, unabhängig vom Kommunikationszusammenhang zwischen Gott und Mensch. Die Grenze zu einem magischen Verständnis ist damit aber verschwindend gering, so dass sich die Abgrenzung gegen ein magisches Missverständnis der Wirksamkeit der Schrift extra usum eher aus der großen Nähe zu solch einem Verständnis erklärt, als von einer wirklichen Differenz her. Auf der anderen Seite aber argumentiert Quenstedt für die Rede von der Wirksamkeit der Schrift auch außerhalb ihres Gebrauchs durchaus von der Ausrichtung der Schrift auf ihren Gebrauch her. Wenn man den Begriff usus so verstehe, dass die Schrift ad usum ordinatum sei, dann sei es auch korrekt, dass die Schrift nur in usu Gottes Wort ist, insofern „in usu“ hier „ad usum ordinatum“ heißt.48 Diese Argumentation setzt dabei an, dass die Wirksamkeit der Schrift dort, wo sie gebraucht wird, nicht erst durch die Menschen, die sie gebrauchen, hervorgebracht werden muss, sondern aus dem Wort der Schrift selber kommt. In diesem Sinne soll das Schriftwort und seine Wirksamkeit durch diese Formulierung als von dem Vermögen des Lesers unabhängig charakterisiert werden, aber ohne dass dabei aus dem Blick gerät, dass die Schrift nur Instrument bzw. Mittel49 des Heiligen Geistes ist. Die Schrift, so betont Quenstedt, ist kein unbelebtes Instrument (instrumentum inanimatum), das erst durch den Benutzer wirksam werden müsste, sondern sie ist lebendiges Instrument (instrumentum animatum), wie z.B. ein Samenkorn, das aus eigener Kraft heraus wächst.50 Indem die wenn Quenstedt am Ende der Exercitatio de efficacia Verbi Dei formuliert: „Verbum Evangelii in se vim & facultatem salvandi habet, actu tamen non salvat, nisi in fide receptum.“ (aaO., Theseos Fundamenta, VI) 47 I, IV/2, q XVI, Beb. III, obs. 1. 48 In I, IV/2, q XVI, FS XXI. 49 Quenstedt redet anfangs von der Schrift als Instrument, präzisiert aber in I, IV/2, q XVI, FS XV, dass man im strikten Sinne eigentlich von organum statt von instrumentum reden müsse. Im weiteren Sinne kann man die Schrift aber auch als instrumentum bezeichnen. 50 I, IV/2, q XVI, FS VII.

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Schrift gebraucht wird, wird sie aus sich heraus, bzw. aus der Kraft, die ihr der Geist realiter mitgeiteilt hat, wirksam. Ein Verstehen der Schrift ist also nicht ein Handeln des verstehenden Intellekts, sondern ist passive Widerfahrnis, Handeln Gottes in der Schrift. Das ist die eigentliche Pointe der Rede von der Wirksamkeit der Schrift extra usum.51 In der Auseinandersetzung mit den Gegnern greift Quenstedt den Vergleich von Schrift und Laterne auf: Während die Gegner darauf verweisen, dass die Laterne erst von jemand anders angezündet werden müsse, argumentiert Quenstedt, dass das nichts daran ändere, dass die Laterne als Laterne auch dann, wenn sie nicht leuchtet, die Möglichkeit und die Fähigkeit hat zu leuchten. Die Gegner verwechseln hier also actus primus und actus secundus.52 Dass das Wort der Schrift gepredigt oder gelesen werden muss, damit es faktisch wirksam wird, steht auch für Quenstedt außer Frage.53 In Frage steht allein, wie von der Schrift zu reden ist, wenn sie nicht aktiv in Gebrauch ist. Wie schlägt sich ihre Wirksamkeit in usu nieder, wenn wir über die Schrift außerhalb ihres Gebrauchs reden? Dass die Schrift dort, wo sie in Gebrauch ist, Heil wirkt, gehört ja zum Kontext unserer Rede von der Bibel als Heiliger Schrift, auch wenn sie gerade nicht gelesen wird. Es geht bei der Frage nach der Wirkmächtigkeit im actus primus so gesehen um ein grammatisches Phänomen: Wir können von den biblischen Texten gar nicht anders reden als so, dass wir von ihnen als wirkmächtigen Texten reden, zumindest dann nicht, wenn wir von der Bibel als Heiliger Schrift reden, die beim Lesen oder Hören jederzeit ohne unser Zutun zum Heil wirksam werden kann. Die Notwendigkeit, der Schrift auch außerhalb ihres Gebrauchs Wirkmächtigkeit zuzuschreiben, ist also keine ontologische, sondern eine grammatische Notwendigkeit. Der Satz von der Wirksamkeit des Schriftwortes extra usum ist daher weder ein ontologischer noch ein bloßer Erfahrungssatz. Er lässt sich ganz im Sinne Wittgensteins als ein grammatischer Satz interpretieren.54 Quenstedt freilich ist sich dieses Charakters grammatischer Notwendigkeit nicht bewusst und deutet sie daher als ontologische Notwendigkeit. Deshalb entfaltet er die Rede von der Wirksamkeit der Schrift außerhalb ihres Gebrauchs in ontologischen Termini und hält so in ontologischer Fassung eine wesentlichen Grundzug der Grammatik christlicher Glaubensrede von der Schrift fest. Der Heilige Geist wirkt nun aber „nicht nur den Glauben, durch den wir die Glaubensartikel glauben, sondern auch den [Glauben], durch welchen

51 Genau darin sieht auch Volker Jung auch die Funktion der Lehre von der efficacia Scripturae extra usum bei Abraham Calov. Vgl. Jung, Das Ganze der Heiligen Schrift, 99. 52 I, IV/2, q XVI, FS XII. 53 I, IV/2, q XVI, FS II. 54 Vgl. zu dieser Charakterisierung grammatischer Sätze Teil II, 1.3.

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wir glauben, dass die Schrift die Glaubensartikel darbiete und vorstelle.“55 Die Schrift als Prinzip der Theologie ist also selber Gegenstand des Glaubens, den der Heilige Geist durch sie wirkt. Die Bibel als Heilige Schrift zu verstehen heißt hier aus der Kraft des Heiligen Geistes zu glauben. Zu dem Leben im Wort und aus dem Wort gehört auch der Glaube an die Schrift als den Ort, an dem dieses Wort widerfährt. Dem entspricht die Beobachtung, dass die Bibel „Heilige Schrift“ genannt wird, wegen ihres Ursprungs in Gott und wegen ihrer Würde, „denn einer ihrer Sätze vollbringt mehr als alle Bücher der Welt.“56 Die Verwendung der Worte „Heilige Schrift“ für diese Textsammlung, so wird es also gleich zu Eingang des Kapitels über die Heilige Schrift deutlich, hat ihr Kriterium darin, dass diese Texte Außergewöhnliches bewirken, mehr bewirken als andere Bücher, und darin, dass sie ihren Ursprung in Gott haben.57 Aus der Anrede der Schrift, genauer aus der Anrede des Heiligen Geistes durch die Schrift folgt also auch der Glaube an die Schrift als Heiliger Schrift als Teil des Glaubens, den der Geist durch sie wirkt. Die Schrift, genauer der Heilige Geist, der durch die Schrift wirkt, schafft also erst den Kontext, in dem die Worte „Heilige Schrift“ sinnvoll auf diese Texte angewendet werden können. Die Frage nach einer näheren Beschreibung dieser Veränderung, die hier ansatzweise als Erleuchtung, Buße und Glaube charakterisiert wird, verweist schon von sich aus in die materialen Ausführungen der Dogmatik, nämlich in die Kapitel über die gratia applicatrix hinein. Hier wird es zunächst darum gehen, diejenigen Aspekte näher zu untersuchen, die schon in den Prolegomena in den Blick kommen. Wenn die Schrift selber den Glauben wirkt und damit auch den Glauben an die Bibel als Heilige Schrift, so ist damit ausgeschlossen, dass es eine Instanz geben könnte, die in Glaubensfragen über der Schrift steht. Wenn, so Quenstedt, schon Paulus an die Galater schrieb, dass auch die Engel nicht über der Botschaft stünden, die er ihnen verkündigte (Gal 1,8), so gilt dies umso mehr von der Kirche: auch sie steht nicht über der Schrift, sondern sie dient ihr.58 Damit leitet Quenstedt bereits zur nächsten Fragestellung über: Wie verhalten sich die 55 I, IV/2, q VII, Beb., obs. 6: „Utramque fidem largitur Spiritus S. tanquam suprema causa illuminans, sc. non tantum eam, qua credimus articulis fidei, sed etiam eam, qua credimus Scripturae articulos fidei exhibenti & proponenti“. 56 I, IV/1, Th.1, nota 4: „[…] quia illius una sententia pluris facienda est, quam omnes totius mundi libri“ (Hervorhebung im Original). 57 Das an dieser Stelle ebenfalls auftretende Argument des Alters der biblischen Schriften ist ein traditionelles Argument, das vielfach Verwendung fand, wenn es darum ging, die besondere Würde eines Textes herauszustellen (vgl. z.B. auch Bullinger, De testamento unico, 46–52). Quenstedt bringt an einer Stelle selber eine theologische Kritik dieses Argumentes, die er allerdings nicht weiter verfolgt: Das Alter kann über die Würde eigentlich nichts aussagen, denn sonst wäre das AT mehr wert als das NT, die Propheten mehr als Christus (vgl. I, IV/2, q VIII, FS I). 58 I, IV/2, q VII, Beb. (am Schluss).

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Autorität der Schrift, die in ihrer Wirksamkeit gründet, und die Autorität der Kirche zueinander?

b) Die Autorität der Schrift und die Autorität der Kirche Schon die Klärung des status controversiae führt hier weiter: Es steht nicht in Frage, dass die Kirche vorzügliches und wirksames Mittel (medium praeclarum & efficax) sei, um zu einem Verständnis der Schrift zu kommen. In Frage steht allein der absolute Anspruch der römischen Kirche, der einzige und damit absolut notwendige Zugang zur Heiligen Schrift zu sein.59 Ein besonderes Verhältnis zwischen Schrift und Kirche wird also gar nicht in Frage gestellt, in Frage gestellt wird vielmehr eine bestimmte Verstehensordnung, die das Lehramt der Kirche der Schrift vorordnet. So heißt es gleich in der Eingangsthese, dass die Schrift weder ihrem inneren Wesen, ihrer Konstitution nach, noch unserer Erkenntnis nach ausschließlich von der Kirche abhängig sei.60 Die wesensmäßige Unabhängigkeit der Schrift wird aus der Relation von Zeugnis und Bezeugtem dargelegt: „Der Zeuge bewirkt die Sache, von der er zeugt, nicht, sondern er erkennt sie. […] Daher folgt, weil die Kirche nicht der Ursprung (causa efficiens) der Schrift ist, dass die Autorität dieser [der Schrift] von jener nicht so abhängig ist, wie von ihrem Ursprung (a causa efficiente), sondern so wie vom Zeugen.“61 Die Kirche legt Zeugnis von der Schrift ab und ist Mittel, die Schrift zu erkennen, aber sie ist nicht notwendiger Zugang zur Schrift, denn sie ist nicht deren Autor oder Richter.62 Sie erkennt die Schrift a posteriori als göttlich an, nämlich aufgrund der Wirkung der Schrift. Dass das Zeugnis der Kirche von der Wahrheit der Schrift in diesem Prozess der Anerkennung der Wirksamkeit der Schrift eine besondere Rolle spielt, macht die Schrift in ihrer Wirksamkeit ontologisch nicht von der Kirche abhängig. Die Funktion der Kirche im Blick auf die Schrift ist ministerialis, dienend, nicht magisterialis, beherrschend.63

59 I, IV/2, q VIII, st.c. II: „[…] non [est quaestio], an Ecclesia sit medium praeclarum & efficax cognoscendae Scripturae, sed an unicum, praecipuum ac absolute necessarium“ (Hervorhebung im Original). Fast wörtlich findet sich diese Formulierung wieder in Ekth. III. 60 So formuliert es die These zu Quaestio VIII: „Autoritas Scripturae, nec ratione sui, hoc est intrinsecae constitutionis, nec ratione nostri, h.e. respectu cognitionis & manifestationis, ab Ecclesiae testimonio, unice vel necessario dependet.“ 61 I, IV/2, q VIII, Ekth. VII: „Testis rem, de qua testatur, non efficit, sed notificat. […] Cum itaque Ecclesia non sit causa efficiens Scripturae, sequitur, nec hujus autoritatem ab illa esse, tanquam a casua efficiente, sed tanquam a teste.“ 62 I, IV/2, q VIII, Ekth. V: „Ecclessia est testis, custos, praeco, index, vindex & interpres Scripturae, non autor, praetor, judex.“ 63 I, IV/2, q VII, Beb. (am Schluss).

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Die wesensmäßige Selbständigkeit der Schrift freilich könnte immer noch eine Abhängigkeit in der Erkenntnisordnung zulassen, etwa in dem die Kirche als einzig wahre Zeugin der Schrift gilt. Diese Frage nach der Unabhängigkeit der Schrift von der Kirche auch in der Erkenntnis, tritt mit der Frage nach der Vergewisserung der göttlichen Autorität der Schrift in den Blick. In Frage steht hierbei nicht, ob die Schrift den Glauben wirkt (die Frage nach dem principium quod oder nach der causa efficacia), sondern es geht vielmehr um die spezielle Frage, durch welche Mittel uns der Heilige Geist von der Autorität der Schrift überzeugt (die Frage nach dem principium quo): Ist es die Kirche, die uns die biblischen Schriften als autoritative Schriften zu verstehen lehrt, oder ist es die Schrift selbst? Die katholischen Gegner stimmen nämlich laut Quenstedt zu, dass der Glaube vom Heiligen Geist durch die Schrift gewirkt wird. Strittig ist nun aber, wie es zum Glauben an die Schrift kommt, bzw. wie die Schrift diese Wirkung entfalten kann. Bedarf es dazu des Zeugnisses der Kirche oder liegt die Fähigkeit dazu in den Buchstaben der Schrift selber?64 Letzteres ist die Position Quenstedts, der in diesem Zusammenhang darauf verweist, dass sich der göttliche Charakter der Schrift allein durch „die innere Kraft und Wirksamkeit der Hl. Schrift und durch das Zeugnis des Heiligen Geistes, der in und durch die Schrift redet“65 erweist. Die efficacia Scripturae ist die sich selbst im Modus der Anrede begründende Autorität der Schrift, die sie gegenüber anderen Autoritäten unabhängig macht. Nur so ist es nämlich erklärbar, so lautet hier ein wichtiges Erfahrungsargument, dass die Schrift auch außerhalb des Kontextes der Kirche gelesen und verstanden werden kann. Das heißt sie kann auch außerhalb der Kirche ihre lebensverändernde Wirksamkeit entfalten und Menschen zum Christentum und zur Kirche hinführen.66 Damit wird die externe Autorität also durch die Wirksamkeit der Schrift zum Heil begründet. Weil die Schrift denjenigen Glauben hervorbringt, der sie als Heilige Schrift anerkennt, in dem die Worte „Heilige Schrift“ für diese Sammlung biblischer Bücher verwendet werden, ist sie die unhintergehbare Autorität für diesen Glauben. Die Differenz zwischen ontologischer Unterscheidung von Schrift und Kirche und gnoseologischer Unterscheidung (nur die Kirche kann uns lehren die Bibel als Heilige Schrift zu lesen) ist so gesehen letztlich nur ein Unterschied der Perspektive. Wäre die 64 Vgl. I, IV/2, q VIII, Ekth. IX. 65 I, IV/2, q VIII, Ekth. VIII: „Ex interna vi & efficacia S. Scripturae, & Spiritus S. in Scriptura & per Scripturam loquentis testificatione.“ 66 Vgl. allgemein I, IV/2, q VIII, Ekdik.: „Testatur enim experientia, plurimos sola S. Literarum lectione […] absque Ecclesiae testificatione, propositione atque autoritate fuisse conversos.“ Ähnlich aaO., Beb. IV, 7. Quenstedt verweist u.a. auf das Beispiel des katholischen Schriftstellers Johann Gerson, der vom Judentum zum Christentum konvertierte: aaO., Ekth. III.

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Kirche die einzige Zeugin, die uns bezeugt, dass die Bibel als Heilige Schrift zu lesen ist, so hieße das faktisch die Schrift der Auslegung der Kirche unterzuordnen. Wenn wir nur im Kontext der Kirche lernten die Bibel als „Heilige Schrift“ zu benennen und nur hier lernten, was es heißt, die Bibel als Heilige Schrift zu lesen und zu verstehen, dann würde auch nur in diesem Lernraum der Kirche festgelegt, wann die Heilige Schrift verstanden wäre und wann nicht. Genau dies ist die Position der katholischen Theologie, gegen die sich Quenstedt und die Altprotestanten damit verteidigen, dass sie darauf hinweisen, dass auch die Kirche sich allein dem Wort der Schrift als einem sich ereignenden, wirksamen Wort verdankt, das einem reflexivem Lesen vorausliegt und die Lebenswirklichkeit, in der Theologie und reflexives Lesen der Schrift stattfinden, so allererst hervorbringt. Dies wird hier durch die Grammatik des Verhältnisses von Zeugnis und Bezeugtem begründet. Die Kirche, so können wir vor dem Hintergrund der Ausführungen in Teil I sagen, konstituiert die Autorität der Schrift nur als eine interne Autorität, das aber bestenfalls so, dass sie genau damit von der externen Autorität der Schrift Zeugnis gibt. Die Bibel ist Heilige Schrift nicht durch die Kirche und wird auch außerhalb der Kirche als Heilige Schrift gelesen, insofern sie ihre Wirksamkeit auch außerhalb der Kirche entfalten kann. Sie ist damit aber freilich nie ohne die Kirche, die sie als die Gemeinschaft der Glaubenden ja durch ihre Wirksamkeit hervorbringt. Von dieser Wirksamkeit der Schrift legt die Kirche so schon durch ihre bloße Existenz Zeugnis ab. Dieser Zeugnischarakter wird anhand von Joh 4,42 verdeutlicht. Die Geschichte von der Samaritanerin am Brunnen war in der katholischen Theologie Belegstelle dafür, dass die Schrift nicht ohne die Kirche verständlich sei. Man deutete die Samaritanerin als Symbol für die Kirche, die den Menschen im Dorf mitteile, dass Jesus der Christus sei. So wie die Menschen hier aufgrund der Botschaft der Samaritanerin glauben, so glauben sie nach der katholischen Auslegung aufgrund der Lehre der Kirche. Quenstedt dreht nun diese Pointe um: Man kann in der Tat sagen, dass die Samaritanerin die Kirche symbolisiere. Entscheidend ist dabei aber, dass die Worte der Samaritanerin nur einen vagen und ungewissen, menschlichen Glauben an den Messias hervorrufen.67 Die eigentliche Pointe des Textes liegt, so Quenstedt, darin, dass die Frau die Leute aus dem Dorf zu Christus hinführt, damit sie ihn selber hören und so durch das Wort Christi selber glauben. Erst das Wort Christi bewirkt in den Menschen den wahren, heilsamen Glauben (fides salvifica), so dass sie sagen: „Von nun an glauben wir nicht mehr um deiner Rede willen; denn wir haben selber gehört und erkannt: Dieser ist wahrlich der Welt Heiland.“ (Joh 4,42) Auf diese Weise führt auch die Kirche durch ihr 67

Vgl. I, IV/2, q VIII, Ekdik.

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Zeugnis zu dem durch die Schriften redenden Christus, dessen Stimme in uns wahren, Heil bringenden Glauben (fides salvifica) hervorruft.68 Zu unterscheiden ist also zwischen einem menschlichen, bloß historischen Glauben (fides humana & historica) und dem Heil bringenden, göttlichen Glauben (fides divina & salvifica). Der historische Glaube richtet sich auf das Zeugnis der Kirche vom Kanon, in der in Teil I eingeführten Terminologie der gegenwärtigen Diskussion also auf die formale Anerkenntnis des äußeren Kanons und damit auf die interne Autorität der Heiligen Schrift als Buch der Kirche. Der Glaube daran, dass es sich dabei wirklich um göttliche und kanonische Bücher handelt, entspringt aber nicht aus dem Zeugnis der Kirche, sondern er kommt allein aus dem inneren Zeugnis des Geistes, dem testimonium Spiritus Sancti internum als dem Zeugnis des Heiligen Geistes in der Schrift im Gegenüber zur Kirche (externe Autorität der Schrift).69 Die unterschiedlichen Begriffe der Internität und der Externität können hier verwirren: Interne Autorität ist die Schrift, insofern als sie innerhalb der Lesegemeinschaft der Kirche als Autorität konstitutiert wird (internum der Kirche). Externe Autorität ist sie, insofern sie dieser Gemeinschaft gegenüberstehend diese hervorbringt. Die externe Autorität der Schrift gründet ihrerseits im testimonium Spiritus Sancti internum. Das dabei angesprochene Internum ist das Internum der Schrift im Gegenüber zu den Lesern der Schrift,70 betont also gerade die externe Autorität der Schrift im Gegenüber zur Kirche. Daneben steht ein doppelter Begriff der Externität: Die Heilige Schrift ist in ihrer Heilswirksamkeit extern gegenüber Kirche und Welt, und kann gerade darum auch außerhalb der Kirche wirksam werden und so Kirche schaffen.

Insofern gilt, dass die Schrift vor der Kirche ist und die Kirche ihre Autorität nur aus der Schrift ableiten kann.71 Dass die Kirche den Kanon historisch hervorgebracht hat, widerspricht dieser sprachlogischen Vorordnung der Heiligen Schrift vor die Kirche nicht. Denn das Hervorbringen des Kanons war ein Akt des Zeugnisses72 und der Glaube an diesen Kanon ist zunächst eine bloße fides historica und Glaube an die interne Schriftautorität. Dem entsprechend ist auch die Frage nach der Zahl der kanonischen Bücher nicht eine Frage des Heilsglaubens und kann daher offen bleiben: Es gibt in der 68 I, IV/2, q VIII, Beb. II, obs. 2: „Sc. Testimonio Ecclesiae […] ad Christum in Scripturis loquentem deducimur, postea vero ipsa Christi vox animos nostros ita percellit, ut non amplius propter Ecclesiae testimonium credamus, sed ipsimet majestatem, sanctitatem & veritatem Verbi, Spiritus S. operatione, in cordibus nostris persentiscamus.“ Auch die moderne Exegese legt den Text noch auf die unterschiedlichen Formen des Glaubens hin aus, auch wenn die Samaritanerin dabei nicht mehr als Symbol für die Kirche gilt (vgl. z.B. Bultmann, Das Evangelium nach Johannes, 148f oder auch Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, 94). 69 I, IV/2, q VIII, FS III. 70 Vgl. Kirste, Das Zeugnis des Geistes, 68. 71 I, IV/2, q VIII, Beb. IV. 72 I, IV/2, q VIII, FS XXI.

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Schrift keinen Katalog der Schriften, die als kanonisch zu gelten haben, noch leitet sich eine solche unmittelbar aus der Wirksamkeit der Schrift ab. Diese Liste ist nur durch die Tradition und die Alte Kirche überliefert und von daher Gegenstand der durch die Kirche hervorgebrachten fides humana et historica, aber kein heilsnotwendiger Glaubensartikel.73 c) Die sufficientia Scripturae und die Tradition Die Frage nach dem Verhältnis von Schrift und Kirche ist, so zeigte es sich schon in Teil I, eng verbunden mit der Frage nach dem Verhältnis von Schrift und Tradition, ein Thema, mit dem Quenstedt sich unter anderem in Frage XI des Kapitels über die Schrift auseinander setzt. Die Ausführungen hier bestätigen zunächst einmal das, was über das Verhältnis von Schrift und Kirche gesagt wurde: So wenig es darum geht, ein besonderes Verhältnis der Kirche zur Schrift zu leugnen, so wenig geht es hier darum, zu leugnen, dass es Traditionen gibt, die in der Auslegung der Schrift nützlich und hilfreich seien können. Strittig ist hier allein, dass es Traditionen gibt, die über die Schrift hinaus etwas zum Heil Notwendiges vermitteln.74 Quenstedt nimmt hier also nur ein ganz bestimmtes Traditionsverständnis in den Blick,75 nämlich dasjenige der katholischen Theologie und Lehre seiner Zeit. Aus der Kritik ausgeschlossen werden kirchlich tradierte Riten und Gebräuche,76 Auslegungstraditionen (traditiones hermeneuticae aut interpretativae)77 und pastorale und katechetische Traditionen.78 Sie alle können akzeptiert werden, so lange sie nicht beanspruchen dogmatisch etwas Neues, das über den Text der Heiligen Schrift hinausgeht, zu enthalten, sondern als Instrumente gelten, die das Verstehen der Heiligen Schrift erleichtern. 73 I, IV/2, q VIII, FS V. 74 Vgl. I, IV/2, q XI, st.c. II: „[Est quaestio] an post Canonem Scripturae completum, exstet aliquod Verbum Dei non-scriptum, quod in divino Canone non comprehendatur.“ So deutet es auch schon die Fragestellung an, die im übrigen auf die Formulierung des 1. Dekrets der 4. Session des Tridentinums anspielt: „An dentur praeter Verbum Dei scriptum, Traditiones non-scriptae, tum ad fidem, tum ad mores pertinentes, pari pietatis affectu suscipienda?“ (I, IV/2, q XI, Hervorhebung von M.C.). Der Tridentinumstext wird dann in der Antithese zitiert. Vgl. DH 1501: „Sacrosancta oecumenica et generalis Tridentina Synodus … orthodoxorum Patrum secuta, omnes libros tam Veteris quam Novi Testamenti, cum utriusque unus Deus sit auctor, nec non traditiones ipsas … tamquam vel oretenus a Christo, vel a Spiritu Sancto dictatas et continua successione in Ecclesia catholica conservatas, pari pietatis affectu ac reverentia suscipit et veneratur“ (Hervorhebung von M.C.). 75 I, IV/2, q XI, Ekth. I: „Disting. inter Traditionem sumtam generaliter, quatenus notat omnem doctrinam, sive scripto, sive viva voce traditam […] & acceptam specialiter, pro doctrina extra Scripturam tradita“ (Hervorhebung im Orginal). 76 I, IV/2, q XI, FS IX. 77 I, IV/2, q XI, Ekth. IV. AaO., FS XII werden die alttestamentlichen Priester, die das Volk aus dem Gesetz lehrten, als Beispiel angeführt. 78 I, IV/2, q XI, Ekth. IV.

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Soll es neben der Heiligen Schrift keine weiteren Traditionen geben, die etwas für den Glauben Notwendiges mitzuteilen haben, so muss also die Heilige Schrift alles enthalten, was zum Glauben zu wissen notwendig ist. Diese Frage wurde von den Altprotestanten als Frage nach der Vollständigkeit der Schrift (sufficientia Scripturae) behandelt.79 Dass diese Fragestellung eng mit der Frage nach dem Verhältnis von Schrift und Tradition verbunden ist, wird gleich am Anfang der entsprechenden Quaestio deutlich:80 Strittig ist nicht, dass das Wort Gottes vollkommen ist, sondern strittig ist vielmehr, ob zu dem geschriebenen Gotteswort noch mündliche Traditionen hinzutreten müssen, die ebenfalls Gottes Wort enthalten und dementsprechend auch auf gleiche Weise zu verehren wären. Es geht also um die grundsätzliche Frage, wo das Gotteswort gehört wird: ob nur in der Schrift oder ob neben der Schrift auch noch in der Tradition. Die Antwort Quenstedts und der Altprotestanten darauf ist, „dass das Wort Gottes heute allein in der heiligen und kanonischen Schrift existiert und nicht außerhalb dieser gesucht werden darf.“81 Dabei geht es Quenstedt nicht um eine absolute Vollkommenheit (perfectio absoluta), sondern um eine begrenzte Vollkommenheit (perfectio restricta), nämlich um die Unfehlbarkeit der Schrift, uns zum Heil zu führen.82 Die Frage nach der Suffizienz und Vollkommenheit der Schrift ist dementsprechend eine strikt inhaltliche Frage, nicht eine Frage nach der Vollzähligkeit der kanonischen Bücher, sondern eine Frage nach der Vollständigkeit des dogmatischen Gehalts.83 Begründet wird die Vollkommenheit und Suffizienz der Heiligen Schrift einmal aus der so genannten Bundesformel in Dtn 4,2.84 Diese Stelle verdeutliche, dass es nicht um ein Verbot des Hinzufügens kanonischer Bücher geht, sondern um ein Verbot des Hinzufügens neuer Dogmen.85 Daraus folgt auch, dass die Bücher, die das Alte Testament zusätzlich zum Pentateuch enthält, und ebenso das Neue Testament nur Erfüllung dessen sind, was im Pentateuch schon vorhergesagt wurde. Etwas substantiell Neues bringt das Neue Testament gegenüber dem Alten Testament also nicht.86 Besonders aufschlussreich ist die Begründung der Suffizienz der Schrift aus dem „locus classicus“ 2 Tim 3,15-17,87 denn hier wird zur Begründung 79 I, IV/2, q X. 80 Nämlich in I, IV/2, q X, Ekth. I. 81 I, IV/2, q X, Ekth. I: „[…], Verbum Dei hodie in sola Scriptura Sacra & canonica extare, nec extra eam quaerendum esse.“ 82 I, IV/2, q X, st.c. I. 83 I, IV/2, q X, st.c. VI und Ekth. VIII. 84 I, IV/2, q X, Beb. I und Ekdik. I. 85 I, IV/2, q X, Ekdik. I, obs. 4. 86 I, IV/2, q X, Ekdik. I., obs. 4: „Evangelistae vero & Apostoli in N.T. testantur, id esse completum, quod in V.T. praedictum, ita ut in substantialibus nulla sit variatio.“ 87 I, IV/2, q X, Beb. II: „Ex loco classico 2. Tim iii, 15.16.17“ (Hervorhebung im Original).

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der Suffizienz der Schrift auf ihre Wirksamkeit zum Heil verwiesen. Die Rede von der Wirksamkeit der Schrift zum Heil geht dabei von V 15 aus, der von der du/namij se sofi/sai ei>j sothri/an redet. Dass der Apostel hier von der ganzen Heiligen Schrift redet und nicht nur vom Alten Testament, was historisch ja zunächst nahe liegt, wird mit einem Schluss a minore ad maius begründet: Gilt es vom Alten Testament so gilt es um so mehr vom ganzen biblischen Kanon aus Altem und Neuem Testament.88 Eine am historischen Textsinn orientierte Exegese kann darin freilich keine Auslegung des sensus literalis mehr erkennen, insofern sie unter dem sensus literalis den sensus historicus eines Textes versteht. So deutet sich hier schon an, dass das altprotestantische Verständnis des sensus literalis ein anderes, weiteres ist, das es erlaubt, auch solch eine Schlussfolgerung als Auslegung des sensus literalis zu verstehen.89

Die Wirksamkeit der ganzen Schrift wird anhand dieser Bibelstelle als eine dreifache dargestellt: Die Heilige Schrift bewirkt (1) eine außerordentliche Weisheit, (2) den Zugang zum Heil bringenden Glauben, der als fiducia näherbestimmt wird und (3) das ewige Leben als das Ziel des Glaubens (finis fidei).90 Während (2) und (3) hier unmittelbar auf die fides salvifica bezogen sind, verdeutlicht sich der Bezug von (1) auf das Heil erst durch die Auseinandersetzung mit der Kritik der Gegner. Diese wenden nämlich ein, es gehe in diesem Text nicht um die Fülle aller Weisheit, die zum Heil notwendig zu wissen sei. Dagegen wendet Quenstedt in einer Synthese aus aristotelischem Weisheitsbegriff und biblischem Text ein: „Für Aristoteles ist derjenige in irgendeiner Sache weise, der in ihr vollkommen ist. Und so ist derjenige weise zum Heil, der weiß, auf welche Weise er das Heil erlangen kann und muss.“91 Es geht, soviel ist von 2 Tim 3,15 her klar, um die Weisheit zum Heil (sofi/sai ei>j swthri/an), und das, so führt es Quenstedt hier in Anlehnung an Aristoteles aus, heißt, dass es darum geht, zu wissen, wie allein man das Heil erlangen kann. Nämlich nur aus der Schrift, durch die Gott redet und die eben darin vollkommen ist, dass sie Menschen Gottes (homines Dei) hervorbringt. Solche Weisheit ist aber nach Aristoteles immer eine Vollkommenheit, insofern kann hier nicht von einem Teilwissen die Rede sein, wie die Gegner behaupten. Die Suffizienz und Vollkommenheit der Schrift wird also zunächst nicht so dargestellt, dass die Schrift vollkommenes und vollständiges Wissensreservoir des Glaubens ist, sondern sie ist in ihrer Wirksamkeit zum Heil vollkommen, indem sie Men88 I, IV/2, q X, Ekdik. II/II, Resp. 89 Zur pneumatologischen Bestimmung des sensus literalis bei Quenstedt vgl. unten Abschnitt 1.3 d). 90 I, IV/2, q X, Beb. II, obs. 2. Vgl. das Zitat des lateinischen Textes unten in Anm. 130. 91 I, IV/2, q X, Ekdik. II, Resp. 2: „Aristoteli sapiens est in aliqua re, qui in ea perfectus est. Et sic sapiens ad salutem est is, qui novit, quomodo salus obtineri possit & debeat“ (Hervorhebung im Original).

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schen zum Glauben führt und dafür keiner ergänzenden Tradition bedarf, die die Worte der Schrift erst zu heilswirksamen Worten machte.92 Allein in diesen Worten und durch sie redet Gott im Heiligen Geist die Menschen so an, dass sie Glauben finden und mit dem Glauben den Weg zum ewigen Heil. Wenn es zuvor hieß, dass diese Vollständigkeit der Schrift eine dogmatische sei, so heißt dies also nicht, dass die Schrift alle dogmatischen Sätze enthält, sondern dass sie als alleiniges Heil wirkendes Gotteswort hinreichende Grundlage aller dogmatischen Sätze ist.93 Dass Gott allein durch dieses schriftliche Wort redet, wird nicht noch einmal begründet, sondern es wird hier auf die faktische Wirksamkeit einerseits und auf die Aporie der Alternative andererseits verwiesen. Wäre nicht dieses Wort der einzige Ort, an dem das Wort Gottes widerfährt, so geriete es in den infiniten Regress kirchlicher und damit menschlicher Deutungen.94 Mit Wittgenstein gesprochen: Das wirksame Wort der Schrift ist das Fundament, an dem sich der Spaten zurückbiegt, hier hat das Fragen ein Ende, so reden wir im Glauben oder wir reden nicht im Glauben. Käme der Regress hier nicht an ein Ende, so gäbe es keine Gewissheit des Glaubens, weil jedes Verstehen sich interpretativ hinterfragen ließe. Der Verweis auf die Heilige Schrift als letzte Autorität in Glaubensfragen resultiert so gesehen aus der Suche nach einem gewissen Fundament des Glaubens.95 Dem korrespondiert auf der anderen Seite die altprotestantische Lehre, dass das Wort Gottes verschriftlicht werden musste, weil es nur so für die ganze Menschheit bewahrt und damit auch zugänglich werden konnte,96 ohne in dem Interpretationsprozess der Überlieferung verundeutlicht zu werden.97 92 Sie wird zunächst nicht so dargestellt, denn es macht die Problematik der altprotestantischen Schriftlehre aus, dass die Schrift hier in der faktischen Anwendung doch zu einem vollständigen Reservoir des Wissens über die übernatürlichen Dinge reduziert wird (siehe dazu unten Abschnitt 2). 93 I, IV/2, q X, Beb. II, obs. 5. 94 So eine entscheidende Kritik an der Vorordnung des kirchlichen Lehramtes: Vgl. z.B. I, IV/2, q XV, P I, Beb. II.1. 95 Vgl. z.B. I, IV/2, q XIV, Beb. VI: Die biblischen Texte dürfen deshalb nicht einfache menschliche Texte sein, weil sie sonst fehlbar wären und nicht gewisse Grundlage des Glaubens sein könnten. In I, III/2, P IV, Beb. 5,6,8 wendet Quenstedt ähnliches gegen die Position der Schwärmer ein: Sie können nicht wissen, woher ihre Visionen kommen. Vollkommen gewisser Glaube kommt nur aus dem göttlichen Wort der Schrift. 96 I, IV/2, q I, Th: „Saluti Ecclesiae valde necessarium fuit, ut Verbum Dei scriptum inter homines exstaret, sive, ut divini sensus de salute hominis revelati per Scripturam humano generi communicarentur“. AaO., Beb. II verweist auf die Kürze des menschlichen Lebens und die große Zahl der Menschen, die durch das Wort Gottes erreicht werden sollen, um die Verschriftlichung des Wortes Gottes zu erklären. Beb. I führt 2 Tim 3,15.16 an und verweist auf die Ausrichtung der Schrift auf das Heil aller, um zu begründen, dass das Wort Gottes auch alle erreichen muss. 97 Vgl. I, IV/2, q I, Beb. II, (3)–(5): Hier verweist Quenstedt auf die Gefahr von Irrtümern (errores proclivitatem), die Fehlbarkeit des menschlichen Gedächtnisses und den von den Wächtern der Tradition zu erwartenden Unglauben.

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Das Wort Gottes als Autorität des Glaubens musste also Text werden, wenn es sein Ziel, nämlich das Heil aller, erreichen sollte. Daher begegnet das Wort Gottes nur in diesem Text und nicht losgelöst von demselben. Das zeigt sich gerade in der Wirksamkeit des Textes der Heiligen Schrift zum Heil.98

d) Die Richterfunktion der Schrift in Glaubensfragen als Implikat ihrer Funktion als Herzensrichter Die Autorität der Heiligen Schrift bewährt sich in der Anwendung der Schrift als oberster Urteilsinstanz in Glaubensfragen.99 Dementsprechend werden in dieser Quaestio noch einmal die Abgrenzungen gegen die anderen Autorität beanspruchenden Instanzen thematisiert100 und wird von der pneumatologisch bestimmten Wirksamkeit der Schrift zum Heil her die alleinige Autorität der Schrift in Glaubensfragen dargelegt. Die These, dass die Schrift oberste Urteilsinstanz und Norm in allen Glaubensfragen ist, wird schon in der Formulierung der These pneumatologisch präzisiert: „Die Heilige Kanonische Schrift ist Richter, oder vielmehr Stimme des obersten und unfehlbaren Richters, des Heiligen Geistes“.101 Diese Präzisierung bestätigt die bisherigen Ausführungen: Die Richterfunktion der Schrift wird zurückgebunden an die Anrede des Heiligen Geistes durch die Schrift. Weil durch das Wort der Schrift die Herzen der Menschen gerichtet werden, muss die Schrift auch Richter in den äußeren Fragen des Glaubens sein.102 Die efficacia Scripturae, die Wirksamkeit des Heiligen Geistes durch das Wort der Schrift, begründet also die Funktion der Schrift als Stimme des obersten Richters in Glaubensfragen. Mit der Schrift als richtender Stimme ist hier bereits im Blick, dass die Wirksamkeit der 98 Auf die notwendige Verschriftlichung des Gottes Wortes wird im Kontext der Frage nach dem sensus literalis noch einzugehen sein. Vgl. dazu unten Abschnitt 1.3a). 99 I, IV/2, q XV: „An S. Scriptura sit norma adaequata & Judex omnium Controversiarum fidei ac religionis?“ (Hervorhebung im Original). Die darin implizierte Frage nach dem Verhältnis von Wirksamkeit der Schrift und Verwendung der Schrift in der Theologie greifen wir unten in Abschnitt 4 auf. 100 I, IV/2, q XV, P I wendet sich gegen die Kirche und das Papstamt, P II gegen die Vernunft und innere Eingebung als höchsten Richter in Glaubensfragen. 101 I, IV/2, q XV, Th: „S. Scriptura Canonica est judex, seu potius vox summi ac infallibilis Judicis, Spiritus S.“ 102 In I, IV/2, q XV, Beb. VII heißt es im Blick auf Hebr 4,12: „[…] si enim V[erbum] D[ei] judicat internas cogitationes, quae in corde, tanquam res secretissimae, adhuc latent & nondum per exteriora signa vel actus sese manifestarunt, multo magis judicat controversias fidei ex cogitatis cordis jam exortas, & per externos actus manifestas.“ Dieselbe Schriftstelle wird in q IX und XVI verwendet um die Wirksamkeit des Wortes („vivus est sermo Dei & efficax“) zu begründen. Zum Zusammenhang von effektivem Urteil der Schrift und Richterfunktion der Schrift vgl. auch Ekth. XI und FS I.

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Die Wirksamkeit der Schrift

Schrift zum Heil auch nach Gesetz und Evangelium unterschieden gedacht wird. Im Blick ist dabei die elenchthische Funktion des Gesetzes: Durch das Wort der Schrift werden wir vom Heiligen Geist unserer Sünden überführt und durch die Schrift hören wir die Heilsverheißung Gottes. Weil der Heilige Geist aber allein vermittelt durch das Wort der Schrift richtet, kann man auch sagen, dass die Schrift oberster Richter in Glaubensfragen sei, auch wenn es im strikten Wortsinne falsch ist, weil nur der Heilige Geist oberster Richter ist.103 Das lateinische Wort „judex“ ließe sich auch mit „Urteilsinstanz“ übersetzen. Damit würde man eine Hypostasierung der Schrift vermeiden, die sich bei der Rede von der Schrift als „oberstem Richter“ nahe legt. Auf der anderen Seite aber weist gerade diese Redeweise darauf hin, dass nicht die Schrift, sondern der Heilige Geist, der durch die Schrift redet und sich ihrer bedient, oberster Richter ist, der durch die Worte der Schrift die Herzen der Gläubigen richtet. Die Funktion der Schrift als theologischer Urteilsinstanz, die uns in Abschnitt 4 noch beschäftigen wird, gründet in diesem soteriologischen Richterbegriff. Dies wird durch die Rede von der Schrift als Richter angezeigt.

Die Schrift ist oberste Urteilsinstanz, Richter in allen Glaubensfragen also nur insofern der Heilige Geist durch sie unsere Herzen richtet und aufrichtet. Damit ist aber auch deutlich, dass der Glaube als ein genuines Verstehen der Bibel als Heiliger Schrift dem theologischen Diskurs und seinem Verstehen der biblischen Schriften vorausliegt. Denn dieser Diskurs, in dem Glaubensfragen erörtert werden, entsteht ja erst durch die Wirksamkeit der Schrift zum Glauben. Aus der obersten Richterfunktion der Schrift als der Stimme des Heiligen Geistes folgt nun aber konsequent, dass weder der Papst noch der Konsens der Alten Kirche oder eine von der Schrift losgelöste Eingebung des Heiligen Geistes Autorität in Glaubensfragen sein kann. Die Kirche untersteht dem richterlichen Urteil der Schrift,104 ebenso Vernunft und innerer Instinkt.105 Aufschlussreich ist hier wiederum Quenstedts Umgang mit dem Einwand, dass die Schrift nicht oberste Richterin im Blick auf die Frage nach ihrer eigenen Richterfunktion sein kann, weil niemand sein eigener

103 I, IV/2, q XV, Ekth. II: „In stricta significatione S. Scriptura judex dici nequit, sed Spiritus S. est supremus judex in Controversiis fidei: S. Scriptura vero est vox supremi judicis […]. Nihil tamen prohibitet, quo minus Scriptura latius loquendo dicatur judex […], quia Spiritus S. judicium suum non pronunciat immediate, sed per verbum seu S. Scripturam“ (Hervorhebung im Original). Quenstedt schärft diese Unterscheidung zwischen der Schrift als Stimme des obersten Richters und dem Geist als oberstem Richter in dieser Quaestio immer wieder ein: Vgl. z.B. Ekth. IX, Beb. IV und IIX, sowie FS XVI. 104 I, IV/2, q XV, P I, Ekth. II. 105 I, IV/2, q XV, P II.

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Richter sein kann.106 Impliziert ist bei diesem Einwand, dass es eine Instanz braucht, durch die die Schrift als Richterin in Glaubensfragen eingesetzt wird, nämlich die Kirche. Quenstedt weist die Analogie zur zivilen Gerichtsbarkeit, derer die Gegner sich hier bedienen, zurück und verweist darauf, dass zunächst einmal zu unterscheiden ist, ob die Autorität der Schrift als oberster Urteilsinstanz von außerhalb der Kirche oder im Kontext der Kirche in Frage gestellt wird. Handelt es sich um eine Kritik von außerhalb, so ist die Schrift keine geeignete Basis für eine Auseinandersetzung, weil es hierfür eines von beiden Seiten gemeinsam akzeptierten Prinzips als Grundlage bedarf.107 Geht es aber um eine Auseinandersetzung um die Autorität der Schrift innerhalb der Kirche, so muss diese Auseinandersetzung aus der Schrift heraus gelöst werden. Damit aber ist nicht beansprucht, dass die Schrift hier als ihr eigener Richter auftritt, sondern es geht vielmehr darum, dass wir in der Kirche die Schrift als unseren Richter anerkennen. Uns zu richten ist nämlich ihre eigentliche Aufgabe, aus der heraus ihre theologische und lehrmäßige Richterfunktion abgeleitet wird. Es geht nicht um ein Urteil der Schrift über sie selbst.108 Zu beachten ist hierbei, wie sorgfältig Quenstedt aus der Passivität des unter dem Wort der Heiligen Schrift stehenden Lesers heraus argumentiert: Es geht darum, dass über uns geurteilt wird, nicht darum, dass wir über die Schrift urteilen. Die Autorität und die Richterfunktion der Schrift lassen sich so gesehen nicht argumentativ erweisen. Entweder sie wird von beiden Seiten implizit schon vorausgesetzt, weil beide Seiten aus demjenigen Kontext heraus argumentieren, der durch die Wirksamkeit der Schrift erst entsteht, oder aber es kommt gar nicht erst zu einer Verständigung. Zugleich zeigt sich damit, dass die Anerkenntnis der Schrift als Autorität in einem bestimmten Kontext erfolgt, nämlich dem der Kirche, die die Schrift als ihre Grundlage anerkennt, weil diese es ist, die den Glauben wirkt. Diesen Gegensatz sieht Quenstedt nun aber nicht als einen absoluten Gegensatz, das Reden der Kirche aus der Schrift wird nicht kategorisch von einem nichtkirchlichen Reden über die Schrift getrennt. Die Wirksamkeit des Schriftwortes als Richterwort des Heiligen Geistes bricht nicht einfach in unser Leben hinein, sondern sie geschieht im Kontext der menschlichen Kommunikation und Argumentation. Diejenigen, die die Autorität der 106 I, IV/2, q XV, FS I: „Objiciunt Pontificii: Quando de ipsa Scriptura Controversiae moventur, illarum non posse esse judicem S. Scripturam, cum nemo judex esse possit suis ipsius & in propria causa“ (Hervorhebung im Original). 107 I, IV/2, q XV, FS I: „[…] certum est, hujus controversiae Scripturam non posse esse idoneum judicem aut normam, quia ex principiis utrique partium communibus omnis institui debet disputatio“. 108 I, IV/2, q XV, FS I: „Supponitur insuper falsum; Scripturam constitui judicem sui ipsius. Sufficit, si sit nostri judex & fidei nostrae, nec enim Scriptura opus habet judice, sed nos.“

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Die Wirksamkeit der Schrift

Schrift von außerhalb der Kirche her kritisieren, können zwar nicht aus der Schrift überzeugt werden, aber sie können durch Argumente, z.B. aus dem Buch der Natur (also durch Argumente natürlicher Gotteserkenntnis) zur Anerkenntnis der Schrift hingeführt werden, auch wenn diese nur durch das Wirksamwerden des Schriftwortes im Herzen der Gläubigen realisiert wird. Damit greift Quenstedt hier Überlegungen auf, die ihn in Frage IX schon beschäftigten.109 e) Der Übergang in christliches Reden und Leben aus dem Wort der Schrift Die Frage nach dem Verstehen der Bibel als Heiliger Schrift und damit als oberster Urteilsinstanz in Glaubensfragen wird in Frage IX zunächst als die Frage nach dem Übergang in den Kontext christlichen Lebens durch die Schrift gestellt. Wie ist dieser Übergang vorzustellen, wenn nicht so, dass die Kirche uns darin unterweist, diese Texte als Heilige Schrift zu lesen? Quenstedt unterscheidet hier zunächst zwischen inneren Kriterien und äußeren Motiven, aufgrund derer wir die Bibel als Autorität anerkennen.110 Als innere Kriterien bezeichnet er dabei zum Beispiel, dass Gott in der Schrift über seine Majestät redet, die Wahrheit der Schrift, die Erhabenheit der in der Schrift enthaltenen Geheimnisse und Ähnliches, also Kriterien, die der Schrift selber entnommen sind. Äußere Motive sind z.B. die Klarheit der Wunder oder das Zeugnis der Kirche.111 Solche äußeren Motive und inneren Kriterien können aber nur Hinweise sein, sie sind „induktiv, nicht überzeugend, empfehlend, nicht überredend“112. Es sind Kriterien, um den Nichtgläubigen auf die Autorität der Heiligen Schrift hinzuweisen, Motivationen in der Bibel mehr zu sehen als eine zufällige Sammlung historischer Texte, überzeugt werden kann er durch sie nicht. Unter Glaubenden soll gar nicht auf diese Weise über die Schrift (de Scriptura) diskutiert werden, sondern sie sollen aus der Schrift (e Scriptura) argumentieren.113 Damit markiert Quenstedt hier zwei verschiedene Diskurse und grenzt so die christliche Glaubensrede aus der Schrift von einer allgemeinen Rede über die biblischen Schriften ab. Dass christliche Rede von der Schrift ausgeht und diese von daher als Grundlage nicht in Frage stellt, gründet wiederum in der Wirksamkeit der Schrift: „Der wahrhaftig 109 I, IV/2, q IX: „An per alia krith/ria persuaderi possit S. Scripturae autoritas?“ (Hervorhebung im Original). 110 I, IV/2, q IX, Ekth. I. 111 Vgl. I, IV/2, q IX, Ekth. I. 112 I, IV/2, q IX, Ekth. IV: „[…] sunt argumenta divinitatis scripturae inductiva, non convictiva; suadentia, non persuadentia.“ 113 Vgl. I,IV/2, q IX, Ekth. II: „Cum Christianis enim non de Scriptura, sed e Scriptura disputandum est.“

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letzte Grund, um dessen willen und durch den wir mit göttlichem und unfehlbarem Glauben glauben, dass das Wort Gottes das Wort Gottes ist, ist seine innere (intrinsecavis) Kraft, die Wirksamkeit und Majestät des Wortes Gottes und des Zeugnisses des in ihm redenden Heiligen Geistes.“114 Es ist das „testimonium internum Spiritus S[ancti]“,115 das uns von der Heiligkeit der Schrift überzeugt. Im christlichen Glauben reden wir also aus der Schrift, weil diese die christliche Rede und das ihr ensprechende Leben erst hervorbringt. Dass die Schrift auf diese Weise einziges unfehlbares Kriterium ihrer Autorität ist, wird mit Hebr 4,12 begründet.116 Der Text wird von Quenstedt philologisch detailliert ausgelegt. Aus dem Zusammenhang von Hebr 2–4 wird argumentiert, dass mit dem „Wort“ hier nicht das hypostatische Wort, sondern nur das gepredigte Wort Gottes gemeint sein kann.117 Dieses gepredigte Wort wird in dieser Bibelstelle als lebendig und als wirksam beschrieben. Dass kein Geschöpf vor Gottes Augen unsichtbar ist, wie es im folgenden V 13 heißt, bezieht sich nach Quenstedt auf Gott als den Autor der Schrift und begründet damit den vorangehenden Vers: „Der Apostel zeigt nämlich mit diesem V 13, woher jene belebende und wirksame Kraft, die er dem Wort zuschrieb, kommt, nämlich aus Gott, der Herzen und Nieren erforscht (Ps 7,10).“118 Die Wirksamkeit der Schrift, ihre Lebendigkeit, ist also die Wirkmacht Gottes, der durch sie redet. Diese Anrede Gottes schafft den Zusammenhang christlicher Rede, die aus dem Gotteswort der Schrift argumentiert. Weil christliche Rede aus dem Wort der Schrift entsteht, fragt sie nicht nach anderen, inneren Kriterien oder äußeren Motiven für die Autorität der Schrift. Klar ist damit auch, warum diese Kriterien und Motive den Glauben an die Autorität der Schrift nicht hervorbringen können: Sie können höchstens Wegweiser sein, die zu dem in der Schrift redenden Gott, oder wie es schon am Beispiel von Joh 4,42 verdeutlicht wurde, zu dem in der Schrift redenden Christus, hinführen. Dass die Schrift 114 I, IV/2, q IX, Ekth. IV: „Ultima vero ratio, sub qua & propter quam fide divina & infallibili credimus, verbum Dei esse verbum Dei, est ipsa intrinsecavis vis, efficacia & majestas verbi divini & Spiritus S. in eo loquentis testimonium“ (Hervorhebung im Original). 115 I, IV/2, q IX, Ekth. V. 116 I, IV/2, q IX, Beb. I (Sp. 144). Hebr 4,12: „Zw~n ga\r o< lo/goj tou~ ceou~ kai\ e>nergh\j kai\ tomw/teroj unnoiw~n kardi/aj.“ – „Denn das Wort Gottes ist lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und es dringt durch Seele und Geist und Mark und Bein und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.“ 117 I, IV/2, q IX, Beb. I, obs. 1: „Nam praeter c. ii & c. iii. etiam hujus ipsius iv. capitis v.2.6.7. & 11. clarissime ostendunt, sermonem Apostolo esse de Verbo Dei praedicato.“ 118 I, IV/2, q IX, Beb. I, obs. 1: „Ostendit namque Apostolus hoc versu 13. unde sit illa vivifica & efficax e>ne/rgeia, quam Verbo tribuerat, nempe ex Deo, qui corda & renes scrutatur, Ps vii, 10.“

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Die Wirksamkeit der Schrift

Heilige Schrift ist, davon kann den Leser nur die Heilige Schrift selber überzeugen, indem Gott durch sie den Glauben weckt. Der Übergang zur christlichen Rede, in der von der Bibel als Heiliger Schrift geredet wird, ist also insofern unableitbar, als er nur durch die Schrift selber bewirkt werden kann. Dieser unableitbare Übergang aber vollzieht sich in der menschlichen Kommunikation und Argumentation, die durch äußere Motive und innere Kriterien auf die Autorität des Schriftwortes hinweist. Als eine genuine Situation des Übergangs zwischen alter und neuer Rede, altem und neuem Leben kommt so die Situation der Anfechtung in den Blick, in der der Christ an der Autorität der Schrift zweifelt, weil er im Glauben zweifelt. Damit geht es um die Situation, von der wir in der Interpretation dieses Abschnittes ausgingen, nämlich die Situation der Fraglichkeit der Autorität der Heiligen Schrift. In dieser Situation erfüllen die inneren Kriterien und die äußeren Motive für die Autorität der Schrift für den Glaubenden eine wichtige Funktion, indem sie ihn wieder zum Wort Gottes zurückführen.119 Der Diskurs innerhalb der Kirche und derjenige außerhalb der Kirche bilden also nicht einfach einen diametralen Gegensatz, sondern weil die Glaubenden immer auch in Anfechtung stehen, ihr Glaube nie vollkommener Glaube ist, darum ist die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden nicht einfach von dem außerkirchlichen Reden abgesondert. Das Reden der Kirche ist immer im Übergang vom Reden über die Schrift zum Reden aus der Schrift. Dass das Reden aus der Schrift gelingt und dass es damit zum Glauben an die göttliche Autorität der Schrift kommt, kann die kirchliche Rede nicht herbeiführen, sondern sie kann nur bezeugen, dass dieser Glaube aus dem Wort der Schrift, durch den Heiligen Geist entsteht. So muss es gegen die katholische Lehre festgehalten werden, die davon ausgeht, dass die Göttlichkeit der Schrift allein durch die Kirche glaubhaft werde oder gar ganz von ihr abhänge.120 Sonst würde die Autorität der Schrift doch wieder einer anderen Instanz untergeordnet. Diesem Problem entkommt man aber nur, wenn man beschreiben kann, wie die Schrift selber den Glauben an ihre Autorität hervorbringt, ohne dabei einem simplen Zirkelschluss zu verfallen. Dies aber gelingt Quenstedt eben durch den Verweis auf die Wirksamkeit der Schrift im Modus des anredenden Gotteswortes, das den Glauben an seine Autorität und den Kontext für seine Auslegung so selber schafft. Dass es sich nicht um einen Zirkelschluss handelt, wenn die Autorität und Göttlichkeit der Schrift aus dem inneren Zeugnis des Heiligen Geistes, das aus dem Wort der Schrift zukommt, gefolgert wird, legt Quenstedt dabei ausdrücklich dar. Es ist kein Zirkelschluss, sondern ein regressus demon119 Vgl. I, IV/2, q IX, Ekth. II und q XV, FS I. 120 Vgl. I, IV/2, q IX, Antith. I–III.

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strativus: „Der Heilige Geist bewirkt nämlich zuerst solch eine Bewährung (probatio) und Versiegelung des Wortes Gottes durch das Wort in den Herzen der Glaubenden, und diese Versiegelung wiederum zeugt vom Heiligen Geist, gleichsam wie die Wirkung von ihrer Ursache.“121 Die Rede von der Autorität und der Göttlichkeit der Schrift geht also zunächst vom Faktum der Wirksamkeit des Wortes aus. Dieses Faktum ist dadurch gegeben, dass Menschen über dieses Wort zum Glauben kommen und ihren Glauben aus diesem biblischen Wort leben. Dass es durch das Wort der Schrift zum Glauben kommt, ist das Werk des Heiligen Geistes, von dem die Wirksameit des Wortes Zeugnis gibt – so, wie die Wirkung von ihrer Ursache zeugt.122 So wie sich also in einer bestimmten regelgeleiteten Praxis reflektiert, wie wir diese Praxis und ihre Regeln gelernt haben, so reflektiert sich in der Sprache und Praxis des Glaubens, dass wir den Glauben und die Praxis die Bibel als Heilige Schrift zu lesen, durch den in der Schrift zu uns redenden Geist Gottes gelernt haben. So ließe sich im Vergleich zu Wittgensteins Analyse der Grammatik von „einer Regel folgen“ und ihrer Parallelisierung zum Sprachverstehen die sprachlogische Struktur dieses Argumentes von Quenstedt, das sich an der Grammatik unserer Rede von „Zeugnis“ orientiert, plausibilisieren. Das Lesen und Hören der Schrift als Heiliger Schrift, durch die der Heilige Geist zu uns redet und durch die er unser Leben erneuert, ist so gesehen die Lernsituation christlicher Glaubensrede, die von der Bibel als Heiliger Schrift redet. Darin gründet die unhintergehbare Autorität der Heiligen Schrift, die weiter nicht begründet werden kann, außer dadurch, dass sie sich selbst als diese Autorität im Leben legitimiert. Diese Selbstlegitimation der Heiligen Schrift aber ist für die theologische Reflexion uneinholbar. Sie kann sie nur in geklärter Weise voraussetzen und bekennen.123

f) Die Wirksamkeit der Schrift und der finis Scripturae Von der Wirksamkeit der Schrift zum Heil her erklärt sich auch die Ausrichtung der Auslegung der Schrift auf den finis Scripturae, die wir hier in den Blick nehmen müssen, weil sie für das Ganze der Hermeneutik Quenstedts prägend ist. In der Ausrichtung der Schrift auf das Heil wird nämlich 121 I, IV/2, q IX, FS VI: „Spiritus S. enim primario operatur & efficit talem probationem & obsignationem per Verbum de Verbo Dei in corde fidelium, & haec obsignatio iterum testatur de Spiritus S. tanquam effectus de sua causa.“ 122 Dieser Ausgang von der faktischen Vergewisserung des Glaubens im Wort der Schrift wird auch deutlich in I, IV/2, q XIII, FS XV: „[N]on quaeritur, quid Deus possit, sed quid voluerit. Agimus enim de Scriptura, quae est jam certa & determinata.“ 123 Insofern gilt, „daß die theologische Bedeutung der Heiligen Schrift durch ihre wissenschaftliche Funktion nicht voll abgedeckt ist“ (Sparn, Die Wiederkehr, 30).

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Die Wirksamkeit der Schrift

nämlich die Rede von der Wirksamkeit der Schrift in Quenstedts Theologie in eine Auslegungsmethode umgesetzt: Die Bibel ist als Heilige Schrift als auf das Heil ausgerichteter Text zu lesen. Die Bestimmung des finis Scripturae erfolgt im didaktischen Teil des Kapitels über die Schriftlehre. Quenstedt wendet hier in der für die altprotestantische Theologie üblichen Weise das aristotelische Vier-causae-Schema an, um das Wesen der Schrift näher zu bestimmen. Die Unterscheidungen, die Quenstedt hier im Blick auf die causa efficiens, die causa materialis und die causa formalis vornimmt, werden uns noch an anderer Stelle beschäftigen. Von Interesse ist hier zunächst die causa finalis, die Zweckbestimmung der Heiligen Schrift: „Das Ziel der Hl. Schrift ist ein anderes in Bezug auf Gott als in Bezug auf uns: Auf Gott bezogen geht es um die heilvolle Anerkennung und die würdige Verehrung desselben. Darum nämlich hat Gott sich in seinem Wort offenbart, damit er von den Menschen recht erkannt, in diesem und im zukünftigen Leben gefeiert wird. Auf die Menschen bezogen gibt es ein Zwischenziel (finis intermedius), nämlich die Unterrichtung (informatio), die Bekehrung, die Annahme des Glaubens, die Heiligung und gleichsam einen Vorgeschmack auf das ewige Leben […], und [es gibt] ein Endziel (finis ultimus), nämlich das ewige Heil“.124 Zu, diesem Ziel, so führt es Quenstedt dann in nota II näher aus, führt die Heilige Schrift, indem sie principium cognoscendi und principium operandi ist, das heißt, indem sie uns Kenntnis vom Heil gibt und indem sie in uns „die Wiedergeburt (regeneratio), den Glauben und das ewige Heil wirkt“.125 Es ist also die Schrift als Heilsmittel Gottes in ihrer Heilswirksamkeit, die zugleich auch den finis Scripturae bestimmt, so dass gilt: „Der Zweck der Hl. Schrift ist immer ein heilvoller, sowohl nach der Absicht Gottes des Autors als auch nach der Kraft und Wirksamkeit der Schrift selbst.“126 Dass die Schrift immer auf das Heil der Menschen hin ausgerichtet ist, wird mit Joh 20,31 und 2 Tim 3,15 begründet.

124 I, IV/1, Th. VII: „Finis S. Scripturae alius respectu Dei, alius respectu nostri est; Respectu Dei est salutaris ejusdem agnitio, & digna glorificatio. Ideo enim Deus in Verbo suo se patefacit, ut ab hominibus recte agnitus, in hac & futura vita celebraretur; respectu hominum finis est vel intermedius, sc. informatio, conversio, fidei accensio, sanctificatio, & manducatio veluti ad vitam aeternam […], vel ultimus, sc. aeterna salus“ (Hervorhebungen im Original). Zur Unterscheidung von finis ultimus und subordinatus vgl. Scharf, Metaphysica exemplaris, 120: Es handelt sich dabei um eine Unterscheidung innerhalb des Begriffs des finis principalis. 125 I, IV/1, Th VII, nota II: „Scriptura S. ad salutem conducit, tum qua est principium cognoscendi, seu quatenus est medium, per quod Deus dat scientiam salutis, 2 Tim. iii,15. tum qua est principium operandi. Per Scripturam enim Deus operatur in nobis regenerationem, fidem, & sic aeternam salutem, Rom. i, 16. Jac. i, 21“ (Hervorhebungen im Original). 126 I, IV/1, Th VII, nota I: „Finis S. Scripturae est semper salutaris, & ex intentione Dei autoris, & vi & efficacia ipsius Scripturae.“

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Bei der Argumentation auf Grund von Joh 20,31 ist dabei insbesondere die Argumentation gegen die Auslegung Bellarmins und anderer katholischer Theologen aufschlussreich. Diese bezogen das tau~ta in Joh 20,31 nicht auf die Schrift oder das Evangelium des Johannes, sondern auf die Wunderberichte. Quenstedt verweist dagegen darauf, dass der Glauben nicht aufgrund von Wundern entsteht, sondern allein durch die Rede Christi, auf die der Apostel sich dementsprechend auch beziehen muss. Von daher bezieht sich das tau~ta also zunächst auf das ganze Evangelium. In einem Schluss a minore ad maius kann Quenstedt aber auch folgern, dass dies, wenn es von einem kanonischen Buch gilt, auch von der ganzen Heiligen Schrift gelten muss.127 Dass es die Predigt von Christus ist, die das Heil schafft, kann Quenstedt hier also bei seiner Auslegung des Textes voraussetzen. Ist dies eine dogmatische Vereinnahmung des Textes oder liest Quenstedt hier den Text von einem Verstehen her, das vortheologisch ist, sich dem anredenden Gotteswort verdankt? Nach dem, was bisher über die Hermeneutik Quenstedts ausgeführt wurde, ist von letztem auszugehen: Hier zeigt sich die exegetische Konsequenz der Hermeneutik Quenstedts. Der Text wird im Horizont der Heilswirksamkeit der ganzen Schrift, in der er steht, ausgelegt. Dabei deutet sich aber auch schon an, dass das vortheologische, vorreflexive, widerfahrende Verstehen nicht nur pneumatologisch, sondern auch christologisch zu entfalten ist.

In der Auslegung von 2 Tim 3,15,128 das hier ja dazu dient, den finis Scripturae zu begründen, wird der Zusammenhang zwischen Zweck (finis) und Wirksamkeit (efficacia) der Schrift noch einmal besonders deutlich: Paulus schreibe an dieser Stelle den Schriften eine besondere Wirkmacht, eine „du/namij, seu efficacia“ zu. Diese efficacia bestehe in dreierlei:129 1. im Verleihen (collatio) von Weisheit, 2. im Entzünden (accensio) des Glaubens an Jesus Christus, genauer, des Vertrauens (fiducia) auf sein Verdienst (meritum) und 3. in der Hinführung zum Heil. Zum Heil als dem Ziel des Glaubens führt Gott uns also durch die Weisheit, die die Schrift lehrt und die im Glauben an Jesus Christus besteht.130 Das ewige Heil ist also das Ziel des Glaubens, zu dem der Mensch von Gott durch die Schrift, die eben auf

127 I, IV/1, nach Th VII, [3],I,obs. 2. Nach These VII folgen drei Probationes, die nicht nummeriert sind und jeweils die verschiedenen Causae begründen. Die probatio des finis Scripturae ist hier die dritte probatio und wird daher von mir mit „nach Th VII, [3]“ zitiert (in der Ausgabe von 1685 in Spalte 84f). 128 I, IV/1, nach Th VII, [3],II. 129 Die Unterscheidung wird in q X, Beb. II, obs. 2 noch einmal in gleicher Weise aufgegriffen. Vgl. dazu oben, 151. 130 I, IV/1, nach Th VII, [3],II,obs.1, (2): „du/namij, seu efficacia, quam Paulus h.l. Scripturae tribuit, in tribus consistit: 1. in verae ac solidae Sapientiae collatione. 2. fidei, quae est in Christo Jesu, hoc est, fiduciae in ejus meritum, accensione, & 3. ad salutem deductione. Salus enim est finis fidei, 1Pet i,9. ad quam deducimur per sapientiam, quam Scriptura docet, quae in fide Christi consistit.“ Zur Interpretation des Weisheitsbegriffes vgl. oben die Ausführungen zu I, IV/2, q X, Beb. II, obs. 2 auf 153f.

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Die Wirksamkeit der Schrift

dieses Heil ausgerichtet ist, hingeführt wird.131 Der finis Scripturae wird so in der Gegenwart durch die Wirksamkeit der Heiligen Schrift schon teilweise verwirklicht. Von daher wird die Unterscheidung zwischen finis intermedius und ultimus notwendig. In der Gegenwart wirkt die Schrift den Glauben (finis intermedius) und gibt darin einen Vorgeschmack auf das ewige Heil (finis ultimus), das als Überschuss, dessen Erfüllung noch aussteht, Thema der Eschatologie ist. Durch das widerfahrende Verstehen der Bibel als Heiliger Schrift im Heiligen Geist werden wir also auch in eine bestimmte Praxis des Lesens der Bibel als Heiliger Schrift hinein versetzt, nämlich in ein Lesen, das diese Texte als auf das Heil des Menschen ausgerichtete Texte liest. Damit wird den Texten aber nicht ein dogmatischer Satz aufgedrängt, so dass sie dogmatisch vereinnahmt würden, sondern dass diese Texte auf das Heil des Menschen ausgerichtet sind, ist eine Erkenntnis, die sich selber diesen Texten verdankt. Sie kommt nun aber nicht durch ein exegetisches Verstehen zustande, das den Text Wort für Wort auslegt und in seinem Kontext interpretiert, sondern durch ein grundlegenderes, vorreflexives, praktisches Verstehen, durch das wir diese Texte überhaupt erst als heilige Texte wahrnehmen. Die biblischen Texte also als auf das Heil des Menschen ausgerichtete Texte zu lesen, heißt sie als Heilige Schrift zu lesen. g) Fazit Soll christlicher Glaube eine gewisse Grundlage haben, so muss diese Grundlage von menschlichem Fehlurteilen frei sein. Daher können menschliche Institutionen (als solche gelten für Quenstedt die sichtbare Kirche und das kirchliche Lehramt) nicht Grundlage des Glaubens sein. Will die Kirche aber für sich in Anspruch nehmen die einzige legitime Auslegungsinstanz der Schrift zu sein, so stellt sie sich faktisch über die Schrift und untergräbt damit die gewisse Glaubensgrundlage. Die Unabhängigkeit der Schrift muss auch in der Auslegungspraxis Bestand haben, d.h. es darf nicht nur eine allgemeine Autorität der biblischen Texte postuliert werden, sondern diese Autorität muss auch Konsequenzen im Blick auf die Auslegungspraxis haben. Sollen die biblischen Texte als heilige Texte gelesen werden, so müssen sie als Texte gelesen werden, die ihre Autorität im Lesen selber bewirken, nämlich indem sie den Glauben, der sie als Heilige Schrift glaubt, hervorbringen. Dadurch, dass sie diesen Glauben hervorbringen, werden diese Texte zum Prinzip dieses Glaubens in mehrfacher Hinsicht: 131 Vgl. Scharf, Metaphysica exemplaris, 123: Der finis ultimus ist Maßstab (mensura) aller ihm untergeordneten Ziele, so dass diese alle auf jenen hinstreben. Dementsprechend strebt der Glaube auf das Ziel des ewigen Lebens hin.

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Sie sind Erkenntnisprinzip, weil sie unhintergehbare Grundlage der Glaubensrede sind, die sich allein der Wirkmacht dieser Texte verdankt, so dass nur aufgrund dieser Wirksamkeit diese Texte als heilige Texte bezeichnet werden können. Und sie sind Handlungsprinzip, weil der Glaube, der sich dem Lesen dieser Texte verdankt, sich auch im gläubigen Handeln an ihnen orientiert. Da diese Wirksamkeit der Schrift als Wirksamkeit zum Heil gedacht wird, werden die biblischen Schriften immer im Blick auf diesen ihren Zweck hin gelesen. Damit ist die Heilige Schrift in den geschichtlichen, auf das Heil ausgerichteten Kommunikationszusammenhang zwischen Gott und den Menschen eingeordnet: Sie ist Mitteilungsmedium, durch das der Heilige Geist unser Heil jetzt schon in vorläufiger Erfüllung wirkt und durch das er uns ewiges Leben als letztes Ziel (finis ultimus) verheißt. In diesem Kommunikationsprozess zwischen Gott und Mensch ist die Verschriftlichung des Gotteswortes ein notwendiger Vorgang, weil nur so die Ausrichtung des Gotteswortes auf das Heil aller realisiert werden kann. Die Mitteilung des Heils durch die Schrift erfolgt dabei zunächst nicht so, dass der Gehalt des Gesagten inhaltlich erfasst würde, sondern die Schrift wirkt Heil, indem sie anredet und indem der Heilige Geist durch sie Menschen ergreift, sie für den Glauben gewinnt (allicire), indem er ihre Herzen richtet und auf ein neues Leben ausrichtet und sie so in ein neues Reden aus der Schrift einführt, in dem diese Schrift selber dann als Heilige Schrift gelesen und verstanden wird. Es ist ein widerfahrendes Verstehen, das diese Wirksamkeit der Schrift ausmacht, ein widerfahrendes, praktisches Verstehen, das die sprachlogisch unhintergehbare Grundlage der christlichen Glaubensrede ist. Die Schrift in diesem Sinne als Heilige Schrift zu verstehen, heißt zu glauben. Dieses Verstehen der Heiligen Schrift ist also ein Verstehen, das allem theologisch-reflektierenden Verstehen vorgeordnet ist, ein Verstehen, auf das die Theologie reflektieren kann, das sie selber aber nicht hervorbringt. Denn die Theologie steht selber im Kontext des durch die Schrift geschaffenen Kommunikationszusammenhangs des Glaubens, setzt also die Wirksamkeit des Schriftwortes zum Glauben als unhintergehbar voraus. Daher ist die Bibel als Heilige Schrift das Erkenntnisprinzip der Theologie, wobei „Heilige Schrift“ heißt: Die im Glauben gehörte und verstandene Schrift. Wo in der Theologie die Heilige Schrift vorkommt, kommt sie also immer als die auf das Heil des Menschen hin orientierte Schrift vor, durch die Gott uns Glauben mitgeteilt hat. Ihre Richterfunktion in Glaubensfragen, ihre Funktion als oberste Urteilsinstanz, gründet ja in ihrer Heilswirksamkeit. Das Verhältnis von Theologie und Schrift sowie die Ausrichtung beider auf denselben Zweck (finis) werden uns weiter unten noch beschäftigen.132 Hier muss nun zunächst in den Blick 132 Vgl. unten Abschnitt 4.

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genommen werden, wie dieses vorreflexive Verstehen der Schrift in ihrer Wirksamkeit näher beschrieben werden kann. Dabei gehen wir in unserer Interpretation davon aus, dass Quenstedt hier einen sprachlichen Prozess in den Blick nimmt: Die Bibel wird dort als Heilige Schrift verstanden, wo sich im Lesen derselben ein Übergang in der Sprache, und das heißt eben immer auch ein Übergang in der Lebensform, hin zum christlichen Glauben an das Heilshandeln Gottes vollzieht. Durch die Schrift als anredendes Gotteswort wird ein neuer Sprach- und Lebensraum geschaffen, durch sie lernen wir die christliche Glaubensrede und die ihr korrespondierende Lebenspraxis. Daher ist die Heilige Schrift höchster Richter des christlichen Glaubens. Wollen wir also verstehen, wie die Bibel im Kontext der Glaubenspraxis als Heilige Schrift gelesen wird, so gilt es diese Lernsituation, in der die Schrift als Heil bringendes Gotteswort verstanden wird, näher in den Blick zu nehmen. Das, was in dieser Lernsituation des Hörens der Bibel als Heiliger Schrift über die Schrift erlernt wird, prägt die Rede von der Bibel als Heiliger Schrift und die Praxis des Verstehens der Bibel als Heiliger Schrift, insofern im Lernen von Sprache die in der Praxis bestehende Grammatik der Sprache erlernt wird. Ich rufe in Erinnerung, was über das Phänomen grammatischer Notwendigkeit gesagt wurde: Daraus, dass wir in unserem Sprachspiel z.B. des Messens nicht sinnvoll in Frage stellen können, was ein Meter ist, weil wir, wenn wir einen Meter anderes bestimmen, ein anderes Sprachspiel spielen würden, kann man erkennen, dass der Begriff „Meter“, so wie er in diesem Sprachspiel verwendet wird, für das Erlernen dieses Sprachspiels grundlegend ist. Die Notwendigkeit, mit der wir diese Maßeinheit im Sprachspiel verwenden, ist eine grammatische Notwendigkeit: So und nicht anders haben wir gelernt vom „Meter“ zu sprechen. Ähnlich kann man nun auch in theologischer Hinsicht argumentieren: Deutlich zeigte sich, dass Quenstedt die Wirksamkeit der Schrift zum Heil als Wirksamkeit des Heiligen Geistes versteht, der durch die Schrift redet und so Glauben (fiducia) und Wiedergeburt (regeneratio) wirkt. Die Schrift ist die Stimme des Heiligen Geistes als des Herzensrichters. Damit wird die Lernsituation der Glaubensrede aus dem Schriftwort pneumatologisch bestimmt. Wenn wir aber in der Lernsituation des Glaubens und der Glaubensrede die Heilige Schrift als Stimme des Heiligen Geistes hören und verstehen, dann besteht in der christlichen Glaubensrede, die Teil des umfassenden christlichen Lebensvollzugs ist, eine grammatische Notwendigkeit, die Rede vom Verstehen der Bibel als Heiliger Schrift pneumatologisch auszuführen. In diesem Sinne sind die folgenden Ausführungen Überlegungen zur Grammatik der christlichen Rede von der Bibel als Heiligen Schrift.

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1.2 Die pneumatologische Ausrichtung der Schriftlehre Quenstedts Pneumatologische Explikation Dies soll nun am Beispiel der Rede von der Klarheit (perspicuitas bzw. claritas) der Schrift (Quaestio XII) und an der Fähigkeit der Schrift zur Selbstauslegung (Quaestio XIV) verdeutlicht werden. Beide werden pneumatologisch entfaltet und aus der Wirksamkeit des Schriftwortes im Geist begründet. a) Die Klarheit (perspicuitas) der Schrift als Implikat ihrer Autorität zum Heil Die Lehre von der Klarheit der Schrift und die Lehre von der Selbstauslegung der Schrift korrespondieren einander: Die Schrift kann nur dann in sich klar sein, wenn sie die Fähigkeit hat, sich selbst auszulegen. Müssten wir für die Auslegung der Schrift auf eine der Schrift äußere Instanz zurückgreifen, so wäre nicht mehr die Schrift die klare und helle Grundlage des Glaubens, sondern eben jene andere Instanz. Die Schrift, so Quenstedt, wäre nur noch wie eine Laterne, die angezündet werden muss.133 Sie wäre nicht lucerna lucens, leuchtendes Licht, wie es in 2 Petr 1,19 heißt.134 „Gäbe es ein anderes neues Licht, durch welches die Schrift zu beleuchten wäre (illustrandum), so wäre nicht auf diese [die Schrift], sondern auf jenes [das neue Licht] zu achten.“135 Wäre die Schrift also ein Licht der Art, das von der Kirche beleuchtet werden müsste, um zu strahlen, so wäre die Auslegung der Kirche mehr von Interesse als die Heilige Schrift. Das aber führt wiederum in eine Aporie: Denn gesetzt, der Papst habe als einziger das Recht, die Schrift auszulegen, so könnte doch keiner gewiss sein, dass er die Schrift recht verstanden hat, wenn er es nicht selbst vom Papst hörte, denn alle anderen außer dem Papst wären hier fehlbar. Wenn ich nun das Urteil des Papstes aus seinem eigenen Munde hörte, so könnte ich immer noch nicht gewiss sein, seine Auslegung ohne Fehler verstanden zu haben, da der Heilige Geist ja allein dem Papst und nicht mir beistünde.136 Damit aber wäre das ius interpretandi Scripturae des Papstes ad absurdum geführt. Es kann nämlich niemandem nützen und die Wirksamkeit der Schrift zum 133 Vgl. z.B. I, IV/2, q XII, Ekdik. III, 2.4: „Cognitio illa vel ex insito Scripturae lumine, vel ab externa adventia & luce mutatitia interpretationis vel traditionis non scriptae hauritur: Si ex lumine insito, lucida igitur, non obscura: Sin aliunde, obscura igitur ex se & laterna dici meretur, non lucerna, nedum lux.“ Im Kontext geht es dabei konkret um die Frage, ob die Vernunft den Textsinn erst erhellen muss, damit er verständlich wird. 134 Eine Wendung, die charakteristischer Weise sowohl in q XII (I, IV/2, q XII, Beb. II, obs1f) als auch in q XIV (I, IV/2, q XIV, Beb. II, obs. 6(8)) aufgegriffen wird. 135 I, IV/2, q XIV, Beb. II, obs. 6, (8): „Si aliud novum lumen est, quo Scripturae lumen illustrandum, non huic, sed illi potius attendendum.“ 136 I, IV/2, q XIV, P, Ekth. XVIII.

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Heil würde ins Leere gehen. So folgt, dass der Heilige Geist allein durch die Schrift klar und deutlich zu uns redet und nicht durch den Papst.137 Denn sonst wäre die Schrift menschlicher und damit fehlbarer Rede untergeordnet und eine Gewissheit im Glauben könnte es dann nicht mehr geben.138 Daraus, dass die Autorität der Schrift, ihre Wirksamkeit zum Heil eine Unterordnung auch unter andere Auslegungsinstanzen ausschließt, folgt also notwendig, dass die Schrift sich selber auslegen können muss und dadurch eine in sich klare Schrift ist. Damit ist die Klarheit der Schrift ebenso wie die Autorität der Schrift ein Charakteristikum, das sie von anderen Texten unterscheidet. Das wird deutlich in der Auseinandersetzung mit der katholischen Kritik, die behauptete, die Schriften wären nur deshalb klar, weil sie klar und deutlich durch die Kirche ausgelegt würden. Dann aber, so wendet Quenstedt ein, würde sich die Schrift in diesem Punkt von anderen Texten nicht unterscheiden. Auch die Orakel der Sphinx wären dann klar geredet, weil sie von Ödipus gelöst wurden. „Wenn zwischen den geschriebenen Orakeln Gottes und dem Orakel von Delphi kein Unterschied besteht, so wäre auch die Schrift die Sphinx und der Papst wäre Ödipus.“139 Ein Text wird nicht durch seine Deutung klar, sondern einer Deutung bedarf es nur bei einer Unklarheit. Die Schrift unterscheidet sich gerade darin vom Orakel von Delphi und von anderen Texten, dass ihre Klarheit nicht von der Auslegung durch eine andere Instanz abhängig ist. Die Behandlung der beiden Fragen, der nach der Klarheit und der nach der Selbstauslegung, hängt also eng zusammen und die Beantwortung der einen Frage wirft auch Licht auf die Beantwortung der anderen. Dass beide Fragen auch eng mit der Frage nach dem sensus literalis verknüpft sind, um dessen Klarheit es hier ja geht – dieser soll ja durch die Selbstauslegung der Schrift verstanden werden – erklärt, warum sich die Frage nach der Einheit des Literalsinns bei Quenstedt zwischen die beiden Fragen schiebt. Da wir aber in unserer Auslegung die Frage nach der pneumatologischen Konstitution des Literalsinns in einem eigenen Kapitel behandeln, werden hier zunächst nur quaestio XII („Ob die Heilige Schrift in dem, was zum Heil zu glauben notwendig ist, klar ist?“)140 und XIV („Ob die Hl. Schrift durch sich selbst ausgelegt wird?“)141 thematisiert.

Folgt die Klarheit und die Fähigkeit der Schrift zur Selbstauslegung aus ihrer externen Autorität, die, wie ich oben dargelegt habe, eben in ihrer Wirksamkeit zum Heil besteht, so kann man davon ausgehen, dass auch die 137 Vgl. I, IV/2, q XIV, P, FS I. 138 I, IV/2, q XIV, Beb. VI. 139 I, IV/2, q XII, FS XVI (Quenstedt zitiert Dannhäuser): „Sic inter oracula Dei scripta & Delphica non est differentia, & Scriptura Sphynx erit, Papa Oedipus.“ 140 I, IV/2, q XII: „An Sacra Scriptura sit perspicua in illis, quae ad salutem creditu sunt necessaria?“ 141 I, IV/2, q XIV: „An S. Scriptura seipsam interpretetur?“

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Klarheit der Schrift und die Fähigkeit der Schrift zur Selbstauslegung in dieser Heilswirksamkeit des Schriftwortes gründen. Nun begründet Quenstedt nicht nur beide durch die Wirksamkeit des Schriftwortes, sondern er pointiert dies zugleich als ein Verstehen des Schriftwortes, das durch den Heiligen Geist vermittelt ist. Schon die Begrenzung der Frage nach der Klarheit der Schrift auf die Klarheit der Schrift zum Heil142 macht deutlich, dass der finis Scripturae, der, wie wir sahen, „semper salutaris“ ist, mit in die Frage hineinspielt. Die Rede vom finis Scripturae aber, auch das wurde schon deutlich, gründet in der Wirksamkeit der Schrift. Im Blick auf das Heil des Menschen muss die Schrift in sich klar sein, denn gerade hier darf sie keiner Auslegungsinstanz untergeordnet werden, weil sie selber dieses Heil erst schafft. Geht es um andere Fragen, z.B. solche der Chronologie oder historische Fragen, so kann es Unklarheiten geben.143 Im Blick auf das Heil des Menschen aber, auf das die Schrift als Ganze ausgerichtet ist und das sie in uns wirkt, muss sie in sich klar sein, weil sie sonst dieses Heil nicht wirken könnte.144 Dies ist dann konsequenter Weise eine Klarheit der Sache, um die es in der Schrift geht, nicht unmittelbar eine Klarheit der Worte, in denen diese Sache sich ausdrückt. In der Rede von der Klarheit der Sache und der Klarheit des Textes gibt es einige terminologische Abweichungen von Luthers Ausführungen in De servo arbitrio.145 Zwar wird Luther mit den Worten „Res Dei sunt obscura, res Scripturae sunt perspicua“ zitiert,146 aber in Ekth. I unterscheidet Quenstedt zunächst eine evidentia rerum und eine claritas verborum und betont dabei, dass es um die Klarheit der Worte der Schrift gehe, auch wenn in der Schrift viele Geheimnisse (mysteria) überliefert seien. Hier geht es zunächst darum, dass mysteria des Glaubens, die auch Luther zugesteht, in der Schrift als mysteria klar ausgedrückt sind, auch wenn sie ihren geheimnisvollen Charakter nicht verlieren.147 Entsprechend präzisiert Quenstedt durch ein weiteres Lutherzitat: „Die Dogmen an sich sind dunkel, aber insofern sie in der Schrift gegeben sind, sind sie offensichtlich“.148 Der Sache nach klar und deutlich aber sind in der Schrift die Grundlagen des Glaubens (elementaria), die zum Heil notwendig sind, ausgeführt.149 Wenn eine solche Sache an einer Stelle unklar ist, wird sie an einer 142 I, IV/2, q XII, st.c. und Th. 143 I, IV/2, q XII, FS XI. 144 I, IV/2, q XII, Ekth. IV. 145 WA 6, 610,6–29. Vgl. zu Luthers Lehre von der claritas Scripturae Rothen, Die Klarheit der Schrift und Hermann, Von der Klarheit der Heiligen Schrift, sowie meine Ausführungen in Coors, Vom Lesen der Bibel als Heiliger Schrift, 342–344. 146 I, IV/2, q XII, Ekth. II. 147 I, IV/2, q XII, Ekth. I: „Agnoscimus enim, tradi in Scripturis multa mysteria […], sed negamus, illa obscuro sermone & verbis ambiguis in Scriptura proponi.“ 148 I, IV/2, q XII, Ekth. II: „Dogmata in se sunt obscura, sed quatenus in Scriptura proponuntur, sunt manifesta“. 149 I, IV/2, q XII, Ekth. V: „Elementaria voluit Deus clarissime in S[acris] L[iteris] proponi, quia omnibus ad salutem scitu necessaria sunt, quae per illa confirmantur.“

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anderen Stelle klarer ausgedrückt.150 Der Sache nach decken sich Quenstedts Ausführungen also mit Luthers Unterscheidung von res und verba Scripturae, nur dass er eine andere Terminologie wählt: Die res Scripturae umfassen bei Quenstedt auch die mysteria Dei, die Luther der res Scripturae entgegenstellt. Luthers Begriff der res Scripturae findet sich bei Quenstedt am ehesten im Begriff der elementaria fidei wieder, die in der Schrift absolut klar sein müssen. So gilt auch für Quenstedt: „Der wahre Kern, das innerste und der Skopus oder das Zentrum, auf das sich alles in der Schrift bezieht, ist Christus Jesus.“151

Dass die Schrift in der Sache, in den heilsnotwendigen Grundlagen auf diese Weise klar ist, ergibt sich als Implikat der Lehre von der Autorität der Schrift als ihrer Wirksamkeit zum Heil. Daher ist die Aussage, dass dort, wo Unklarheiten auftreten, diese Unklarheiten nicht im Text, sondern im Leser vorhanden sein müssen,152 nicht einfach ein Postulat, sondern sie ergibt sich aus der hier vorausgesetzten Autorität der Schrift zum Heil. Die Unklarheit im Herzen aber kann letztlich nur durch das klare Wort der Heiligen Schrift beseitigt werden, die als lucerna lucens (2 Petr 1,19) das Herz des verstehenden Subjektes erleuchtet.153 Damit wird die Relation von Ausleger und ausgelegtem Gegenstand hier umgekehrt: Der Ausleger der Schrift wird durch die Schrift erleuchtet, muss seine aktive Rolle also aufgeben. Damit gewinnt die häufig zitierte und vielfach variierte Rede davon, dass nicht wir die Schrift auslegen, sondern diese uns, eine theologisch präzise Gestalt.154 Dogmatisch detailliert ausgeführt wird dies dann in den Kapiteln De Conversione155 und De Praedestinatione.156 Das Erleuchten des Herzens des Lesers durch die Schrift, das Schaffen der inneren Klarheit im Herzen des Lesers, durch das er die Schrift in ihrer Klarheit wahrnehmen kann, ist das Werk des Heiligen Geistes, der hier durch die Schrift wirkt.157 Zwar verstehen wir nicht alles klar, weil nicht alle Dunkelheit vom Herzen genommen wird, aber wir verstehen eben genug, 150 I, IV/2, q XII, Ekth. VI: „quod in uno loce obscure, id alibi planissime proponitur, & quod alicubi latet sub tropis & figuris, id alibi patet in verbis apertis & propriis.“ 151 I, IV/1, Th 4: „nucleus vero, medulla & scopus seu centrum, ad quod omnia in Scripturis referuntur, est Christus Jesus.“ Vgl. dazu Luther in WA 18, 606,29: „Tolle Christum e scripturis, quid amplius in illis invenies?“ 152 I, IV/2, q XII, Ekth. VII und IX. 153 I, IV/2, q XII, Beb. II, obs. 1f. 154 Ähnlich, wenn auch mit anderen theologiegeschichtlichen Referenzen arbeitet Bayer, Hermeneutische Theologie das Verhältnis von Leser und Text heraus. Vgl. aaO., 54: „Dementsprechend kommt die Priorität nicht der Frage ‚Wie verstehe ich den vorgegebenen biblischen Text?‘ zu, sondern der umgekehrten Frage: ‚Wie gibt sich der vorgegebene biblische Text mir zu verstehen?‘“ 155 Q III, VIII. 156 Q III,II: De Benevolentia Dei Speciali, & Praedestinatione finaliter credentium, ad vitam aeternam. Vgl. zu den Ausführungen dort Abschnitt 3.1 c). 157 I, IV/2, q XII, FS II und Ekth. X.

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um unseren Weg zum Heil zu finden.158 Dass hier Unklarheiten bleiben, kann Quenstedt dann noch einmal im Willen Gottes begründen: Er will uns damit auf die Endlichkeit unseres Verstehens in diesem Leben hinweisen und so unsere Hoffnung über dieses Leben hinaus auf das ewige Leben ausrichten.159 Die Dialektik von Klarheit des Textes und Dunkelheit des Herzens verweist uns also letztlich auf die Endlichkeit unseres Verstehens und darauf, dass unser Verstehen vom Text her durch den Heiligen Geist erleuchtet werden muss. So steht die Hermeneutik gerade im Blick auf die Klarheit des Textes auch unter einem eschatologischen Vorbehalt: Die volle Wahrnehmung dieser Klarheit ist in diesem Leben nicht möglich, sondern sie ist Teil der eschatologischen Hoffnung des Glaubens. Der im Verstehen der Schrift durch den Heiligen Geist erleuchtete Intellekt ist nun nicht ein neutraler, sondern es ist der durch die „vorangehende Gnade des Heiligen Geistes, durch das Lesen, Hören oder Meditieren des Wortes Gottes begleitete, erleuchtete Intellekt“.160 Hier wird deutlich, dass das Verstehen der Schrift als klarer, Heiliger Schrift, die zum Heil führt, ein vortheologisches, passives und praktisches Verstehen ist. In pointierter Umbesetzung des Begriffs der gratia praeveniens161 verweist Quenstedt auf den Kontext der Erleuchtung des von Natur aus wegen der Sünde verdunkelten Verstandes162 des Menschen durch den Geist: Es ist das Lesen, Hören und Meditieren des biblischen Textes, also die Lesepraxis der Gläubigen und der Kirche, in deren Kontext der Geist durch den Text den Verstand erleuchtet. Die gratia praeveniens bereitet hier also nicht wie in der scholastischen Theologie den Menschen auf den Empfang der Gnade durch das Sakrament vor,163 sondern sie kommt durch das Wort in der Praxis des Lesens und Meditierens des Wortes, um uns auf das Verstehen des Wortes vorzubereiten. Damit zeigt sich hier zugleich, wie Verstehen ganz im Sinne Wittgensteins in den Kontext einer genuinen Praxis des Lesens gehört. Die Rede vom Lesen, Hören und Meditieren der Schrift dürfte hier auf beides verweisen, die private Schriftlektüre und den gottesdienstlichen Schriftgebrauch. Offen bleibt damit allerdings noch die Frage, wie der Übergang zur theologischen Auslegung der biblischen Texte aussieht. Das Auslegen der Schrift im Kontext dogmatischer Reflexion ist ja nicht einfach ein passives 158 I, IV/2, q XII, Beb. II, obs. 4. 159 I, IV/2, q XII, Ekth. XVII. 160 I, IV/2, q XII, Ekth. X: „intellectum per praevenientem Spiritus S. gratiam, lectionem, auditionem vel meditationem verbi divini concomitantem, illustratum“. 161 Ausführlich wird dieser Begriff in Pars III, Caput VII: De Conversione behandelt (siehe dazu unten Abschnitt 3). 162 I, IV/2, q XII, FS XXVII. 163 Vgl. zur scholastischen Lehre von der gratia praeveniens unten den Exkurs in Abschnitt 3.1.2).

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Hinhören, sondern auch ein aktives Umgehen mit den Texten, indem sie interpretiert werden und selber zur Grundlage von Schlussfolgerungen gemacht werden. Die Frage, wie dieser Übergang vom passiven Verstehen der Schrift im Glauben zur theologischen Aneignung und Verwendung des Textes geschieht, wird sich als zentrales Problem der Schriftlehre und Hermeneutik Quenstedts erweisen. b) Die Selbstauslegung der Schrift im Geist als Vollzug der Klarheit der Schrift Die Lehre von der Selbstauslegung der Heiligen Schrift reflektiert, wie diese Klarheit der Heiligen Schrift durch den Heiligen Geist sich im Vollzug der Auslegung realisiert. Daher pointiert die Antwort auf die Frage, ob die Schrift durch sich selber ausgelegt werden kann, gleich den pneumatologischen Aspekt dieser Auslegung: „Die Schrift nämlich, oder vielmehr der Heilige Geist, der in der Schrift und durch die Schrift redet, ist ihr eigener legitimer und unumschränkter Ausleger.“164 Die Fähigkeit der Schrift sich selbst auszulegen ist also nicht einfach als Konkordanzmethode gedacht, sondern zunächst einmal von der Wirksamkeit der Schrift her, von dem durch die Schrift im Heiligen Geist redenden Gott, der im Modus der Anrede durch die Schrift die Schrift selber auslegt. „Allein die Schrift und Gott, der durch die Schrift redet, sind unfehlbar.“165 – So heißt es dementsprechend in kritischer Wendung gegen die katholische Lehre, die Papst, Konzilien oder Kirchenväter in der Praxis der Auslegung über die Schrift stellt. Wieder zeigt sich als durchgehendes Motiv der Lehre von der Wirksamkeit der Schrift die Vergewisserung der Glaubensgrundlage und die Befreiung von einer Bevormundung der Auslegung durch das kirchliche Lehramt: „Dass die Schrift durch sich selbst ausgelegt werde, behaupten wir, damit von einem jedem Christen, der die Heiligen Schriften demütig und fromm durchforscht, ihr Sinn, insofern er zum Heil reicht, erfasst werden kann.“166 Die Schrift muss einem jeden Christen verständlich sein, wenn sie denn Gottes Mittel ist, die Menschen zum Heil zu führen. Dieser Frage, ob die Schrift auch von Laien gelesen werden darf, geht Quenstedt noch einmal in einer eigenen Quaestio nach.167 Zwar kann hier keine absolute Not164 I, IV/2, q XIV, Th: „Scriptura enim, vel potius Spiritus S. in Scriptura & per Scripturam loquens, est suipsius legitimus & a>nupeu/cunoj Interpres.“ 165 I, IV/2, q XIV, Dial. IIX: „Sola Scriptura & Deus per Scripturam loquens est infallibilis.“ 166 I, IV/2, q XIV, Ekth. IIX: „Scripturam ita semetipsam interpretari asserimus, ut a quovis Christianos S. Literas devote ac pie scrutante, sensus ejusdem, quantum ad salutem sufficit, haberi possit“. 167 I, IV/2, q XXI: „An Laicis etiam permissa Scripturae lectio?“ Vgl. auch Quenstedt., Dissertatio theologica de Lectione Scripturae Sacrae Laicis concedenda.

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wendigkeit der Schriftlektüre durch die Laien behauptet werden, da viele schlicht nicht lesen können, aber eine necessitas hypothetica gibt es schon: Wird jemand nicht durch einen defectus davon abgehalten, die Schrift lesen zu können, so ist er gehalten die biblischen Schriften auch zu studieren. Dies soll zwar nicht ohne vorangehende Unterweisung (exercitia catechetica) geschehen, ist diese aber erfolgt, so ist jeder Christ dazu anzuhalten. Begründet wird dies aus mehreren Bibelstellen, die das Studium der Schrift befehlen. Besonders interessant ist hierbei die Begründung mit Joh 5,39, wo Jesus Christus das sorgfältige und gründliche Lesen und Meditieren (so Quenstedts Auslegung des e>rauna~n) der Schrift befiehlt.168 Zur Begründung verweise der Text auf zweierlei: 1) In diesen Texten haben wir das ewige Leben und zwar indem sie uns den Weg zum ewigen Leben, das durch Christus kommt, weisen und uns dieses Leben durch das Wort des Lebens darstellen und uns damit zum Heil führen.169 Weil sie also von Gott als zum Heil wirksame Texte vorgesehen sind, müssen diese Texte auch allen zugänglich sein. 2) Sie zeugen von Christus, der das Leben ist, in dem die Erkenntnis unseres Heils und das ewige Leben ist.170 Christus als der Heilsbringer wird uns nur durch diese Texte zugänglich, auch deshalb müssen alle die Möglichkeit haben, diese Texte zu lesen. Dass auch die Laien die biblischen Texte lesen und verstehen können müssen, gründet also in einem Verständnis dieser Texte als heilswirksamer Texte. Dementsprechend müssen auch nicht alle Sätze der Schrift verstanden werden, sondern es reicht aus, wenn all die Sätze verstanden werden, die zur Vervollkommnung des Heils und zu dessen Verkündigung zu verstehen notwendig sind.171 Dass auch die Laien die Schrift lesen sollen und verstehen können, macht aber die Auslegung der Schrift durch die Kirche in ihrer offiziellen Gestalt nicht überflüssig, denn allein die Doctores ecclesiae haben das Recht die Schrift öffentlich in der Kirche auszulegen, weil nur sie dazu berufen und ausgebildet sind,172 das Wort Gottes unter dem Volk zu verbreiten und schwierige Stellen zu erklären.173 Beide aber, private und öffentliche Schriftauslegung, unterstehen dem Wort Gottes und dem Heiligen Geist, der durch die Schrift redet.174 In theologischer Hinsicht sind also beide Auslegungsformen legitim, eine Unterscheidung wird aus ekklesiologischen Gründen eingeführt, die hier von Quenstedt nur angedeutet werden. Die polemische Pointe gegen den Katholizismus darin aber ist deutlich: Es gibt kein im engeren Sinne theologisches Argument, das eine Vorordnung der kirchlichen Auslegung 168 I, IV/2, q XXI, Beb. V, obs. 3 (in der Ausgabe 1715: Sp. 318). 169 Vgl. I, IV/2, q XXI, Beb. V. obs. 5 (Sp. 318): „Habetur autem vita aeterna in Scripturis, non sicut in pixide medicina, ut loquitur B. Chemnitius c.54. Harm. Ev. neque etiam onerghtiko\n, salutare, & efficax divinitus ordinatum & ad salutem instruunt. 2 Tim iii,15.“ 170 I, IV/2, q XXI, Beb. V, obs. 6. 171 I, IV/2, q XIV, Ekth. VI. 172 I, IV/2, q XIV, Ekth. X: „Facultas vero publice, h.e. in Ecclesia Scripturam interpretandi, non competit omnibus, sed solum Ecclesiae Doctoribus, qui sc. dono & vocatione ad hoc instructi sunt.“ Vgl. dazu auch aaO., Dial. XIII und XV. 173 I, IV/2, q XXI, FS I und II. 174 I, IV/2, q XIV, Ekth. X: „Utraque haec interpretandi Scripturas facultas, publica sc. & privata subest Verbo Dei & Spiritui S. in Scripturam loquenti.“

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legitimiert. Den Klerikern kommt nicht qua Amt ein Verstehensvorsprung zu.175 Diese Unterscheidung gründet vielmehr allein in der ekklesiologisch zu begründenden Organisation der Kirche. Im Blick auf ihre Stellung zur Schrift als dem Ort des Wortes Gottes sind öffentliche und private Schriftauslegung gleich: Sie stehen beide unter dem Wort Gottes.

Dass die Heilige Schrift nur durch den Heiligen Geist verstanden wird, führt nun aber gerade nicht zu einer Ablösung der Wirksamkeit des Geistes vom Buchstaben der Schrift wie beim radikalen Flügel der Reformation. Wenn es die Anrede des Heiligen Geistes durch die Schrift ist, durch die die Schrift sich selber auslegt, heißt dies gerade nicht, dass man die Anrede des Geistes von dem Buchstaben der Schrift lösen kann. Dann ginge es hier ja nicht mehr um eine Selbstauslegung der Schrift. Sie würde hier wieder einer äußeren Verstehensinstanz, nämlich nicht nachvollziehbaren unmittelbaren Geisteseingaben untergeordnet. Damit aber würde wiederum die gewisse Grundlage des Glaubens menschlicher Interpretation unterworfen.176 Was der Heilige Geist durch die Schrift sagt, ist nicht anders herauszufinden als durch ein genaues Studium der Texte.177 Zwar ist der durch die Heilige Schrift redende Heilige Geist der einzige unfehlbare Ausleger der Schrift (interpres Scripturae), aber die Menschen sind die Diener der Auslegung (minister interpretationis), deren Aufgabe es ist, „durch die Untersuchung der Quellen, das Bedenken der Wörter und Phrasen, die Beobachtung des Zusammenhangs und des Kontextes der Rede mit dem Vorausgehenden und dem Folgenden, das Sammeln von Parallelstellen etc., den wahren Sinn herauszufinden und zu bestärken“.178 Damit scheint die Frage nach der pneumatologischen Dimension des Textes zunächst doch wieder den exegetischen Methoden untergeordnet. Wir sahen in Teil I, wie es von dieser Vorstellung her zu einer problematischen Dopplung des Verstehens kommen kann: Da ist dann zum einen das Verstehen der biblischen Texte nach den allgemeinen anerkannten exegetischen Methoden und zum anderen ist da ein geistliches, theologisches Verstehen. Der Zusammenhang zwischen beiden Verwendungen von „verstehen“ ist dabei nicht geklärt. Allzu schnell erscheint die Wirksamkeit des Geistes im Verstehen des Textes mit Hilfe der philologischen Methoden als überflüssige Zugabe. Wo also philologische Methoden und „dogmatische“ Methoden des Textverstehens auseinander treten, droht das genuin theologische Verstehen zu einem bloß subjektiven Verstehen zu werden, das für ein objektives Verstehen des biblischen Textes überflüssig ist. 175 I, IV/2, q XXI, FS VIII. 176 Zur Kritik an den Schwärmern in diesem Sinne vgl. I, III/2, P IV, Beb. 5, 6, 8. 177 I, IV/2, q XIV, Dial. III. 178 I, IV/2, q XIV, Ekth. IX: „[…] per fontium inspectionem, verborum & phrasium ponderationem, nexus & contextus orationis antecedentium & consequentium observationem, locorum parallelorum collationem &c. verum scripturam sensum eruant & adstruant.“

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Doch damit wäre die grundlegende Bedeutung der pneumatologischen Orientierung der Hermeneutik Quenstedts verkannt. Sie wird dort deutlich, wo Quenstedt darlegt, was unter einer vorurteilsfreien Auslegung des Textes, an die das Reden des Heiligen Geistes zurückgebunden wird, zu verstehen ist. Es ist dies nämlich eine bestimmte Praxis des Lesens und Interpretierens der Schrift, die auf den Beistand des Heiligen Geistes im Verstehen hin ausgerichtet ist. Derjenige, der ohne Vorurteile die Wahrheit aus der Schrift schöpft, ist derjenige, der für das Verstehen der Schrift die Hilfe des Heiligen Geistes erbittet: „Wir brauchen solch einen Ausleger der Schrift, der ohne Vorurteil an diese Sache herangeht und nicht seinen Eigensinn oder seine vorgeprägten Meinungen in die Schrift hineinlegt, sondern die Wahrheit aus der Schrift schöpft, das heißt jemanden, der durch das Erbitten der Hilfe des Heiligen Geistes und durch das Verwenden angemessener Interpretationsmittel den wahren Sinn aus der Schrift gewinnt und aus jener hervorholt.“179 Deutlich zeigt sich hier ein anderes Verständnis von Objektivität des Textverstehens als das in der gegenwärtigen Exegese leitende Verständnis von Objektivität. Dieses Verständnis von Objektivität des Textverstehens hängt zusammen mit einem genuin pneumatologischen Textbegriff, den wir noch näher zu untersuchen haben werden.180 Hier ist zunächst einmal von Interesse, dass die Rede vom Heiligen Geist die Rede vom Verstehen der Schrift durchgehend bestimmt. Ein Verstehen des biblischen Textes ist immer ein Verstehen, das durch den in der Schrift redenden Geist gegeben wird. Dabei ist das, was verstanden wird, am Text auszuweisen, aber eben doch so, dass es als Rede des Heiligen Geistes am Text ausgewiesen wird. Dazu aber ist eben die Bitte um den Beistand des Heiligen Geistes notwendig. So stehen in der Auflistung der hermeneutischen Methoden die auch heute gängigen Methoden der philologischen Textauslegung neben solchen Methoden, die wir heute von diesen abgesondert höchstens noch als Teil eines spirituellen oder (im negativen Sinne) dogmatischen Verstehens zulassen würden: Vorzügliche Mittel und Werkzeuge zum Verstehen (th~j enalogi/a th~j pi/stewj) beachten, die der Apostel in Röm 12,6 zur Norm und Richtschnur aller Auslegung macht […]. IX. Zu konsultieren sind die Meditationen und Sentenzen anderer, die sich an der Erforschung des wahren Sinnes der Schrift einst abmühten oder auch heute abmühen. X. Zum Leiter des Gebrauchs dieser Mittel machen wir das Lehramt (magisterium) des Heiligen Geistes, das die Frommen durch Fürbitten erlangen sollen. Dass dieser unseren Geist (mentes nostras) erleuchtet, ist nämlich notwendig, damit wir den Sinn des Wortes Gottes erfassen.181

In diesem Passus, Quenstedts wohl ausführlichste Auflistung der hermeneutischen Methoden, die aus der theoretischen Schriftlehre folgen, werden logische und rhetorische Analyse neben die andächtige Textmeditation gestellt, das Erwägen des Kontextes und das Achten auf den Skopus des Textes stehen neben der Einordnung von Bibelstellen in ein Schema von sedes doctrinae und all dies als Anweisungen dafür, dass hier der Sinn nicht in den Text hineingelesen, sondern aus ihm gewonnen werde. Dabei stehen alle diese methodischen Anweisungen unter dem Vorbehalt der Erleuchtung durch den Heiligen Geist, ohne den der Sinn des Textes nicht verstanden werden kann. 181 I, IV/2, q XIV, Ekth. XIII: „Media & admincula th~j enalogi/an th~j pi/stewj, quam omnis interpretationis normam & mensuram constituit Apostolus Rom. xii, 6 […] IX. Conferendae meditationes & sententiae aliorum, qui in investigando vero Scripturae sensu vel desudarunt olim, vel etiam nunc desudant. X. Usui horum mediorum praeficimus magisterium Spiritus S. piis precibus impetrandum. Hic enim illuminet, necesse est, mentes nostras, ut sensum Verbi divini assequamur“.

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Wer den Text der Heiligen Schrift als Wort Gottes verstehen will, der muss also den durch diesen Text redenden Heiligen Geist hören lernen.182 Aus dem Lesen der Schrift entsteht Glaube. Glauben vermag aber nur Gott kraft des Heiligen Geistes zu wecken. Daher kommt die Wirksamkeit der Schrift unausweichlich als Wirksamkeit des durch sie redenden Geistes Gottes in den Blick.183 Die Anrede des Heiligen Geistes durch das Schriftwort und die Rede vom Verstehen des Schriftwortes sind also grammatisch in den Ausführungen Quenstedts unauflöslich miteinander verknüpft, weil die Rede vom Verstehen der Heiligen Schrift durch die Anrede des Heiligen Geistes erlernt wird. Weil die Wirksamkeit der Schrift, durch die wir in die christliche Rede eingeführt werden, Anrede durch den Heiligen Geist ist, darum können wir ein Verstehen der Bibel als Heiliger Schrift nicht anders denken denn als ein Verstehen der Schrift im Heiligen Geist. Dieser Zusammenhang ist ein grammatisch notwendiger Zusammenhang, ähnlich wie für uns die Begriffe des Körpers und der räumlichen Ausdehnung unauflöslich zusammengehören, weil beide Begriffe im Erlernen unserer Sprache zusammengehören und einander gegenseitig erklären. Ebenso erklären sich „Anrede des Heiligen Geistes“ und „Heilige Schrift“ gegenseitig: Der Heilige Geist wirkt durch die Schrift das Heil, darum ist jeder methodische Schritt zum Verstehen des Textsinnes darauf ausgerichtet, das Wort des Heiligen Geistes durch diesen Text zu hören. So verschränken sich hier menschliches und göttliches Handeln: Über der Interpretation des Textes nach allen Regeln der Auslegungskunst (menschliches Handeln) erweist sich Gottes Geist als durch diesen Text anredender und zum Heil führender Geist (Gottes Handeln). Dem Beieinander von Geist und Text, das im nächsten Kapitel noch näher zu betrachten sein wird, entspricht hier das Beieinander von Gott und Mensch in der Auslegung des Textes. Zwei Anmerkungen zu den hermeneutischen Methoden seien hier noch nachgetragen: 1) Es zeigt sich, dass die Selbstinterpretation der Schrift zwar nicht in erster Linie als Konkordanzmethode gedacht ist, gleichwohl aber in der methodischen Durchführung doch auch auf solch eine Methode des Sammelns von inhaltlichen Parallelstellen hinausläuft.184 Durch die Sammlung von Parallelstellen und die Ordnung auf jeweils eine Bibelstelle als sedes doctrinae hin wird eine systematische Einheit des Kanons konstruiert, die für das Verstehen der Bibel als eines Textes wesentlich ist.185 2.) Das Heranziehen von Kommentaren zum Text steht nicht ohne Grund ziemlich am Ende der Methodenauflistung, denn solche Kommentare sind nicht notwendig für ein Verstehen der Schrift, wenn diese sich durch sich selbst auslegt. Die biblischen 182 Vgl. auch I, IV/2, q XII, Ekth. XIII: „non potest tamen absque Spiritus S. illuminatione internum, spiritualem & divinam Sacr. Literarum sensum perspicere.“ 183 I, IV/2, Q VII, Beb., obs. 6. 184 Vgl. dazu Abschnitt 2. 185 Vgl. dazu unten Abschnitt 1.3 d) zum sensus literalis der ganzen Schrift.

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Die Wirksamkeit der Schrift

Schriften können auch ohne Kommentare verstanden werden, ja wurden vielfach auch ohne Kommentare verstanden.186

1.3 Soteriologisch-pneumatologische Texttheorie: Der inspirierte Text Theologische Texttheorie Mehrfach deutete sich schon an, dass mit dem Verstehen der Bibel als Heiliger Schrift auch ein genuiner Textbegriff verbunden ist, den Quenstedt in einer eigenen Art von Texttheorie entfaltet. Das Verstehen des biblischen Textes als eines heiligen Textes, durch den der Heilige Geist anredet und wirkt, ordnet diesen Text nicht nur in den Kommunikationszusammenhang zwischen Gott und Mensch ein, sondern es fordert auch die Frage danach heraus, warum die Anrede Gottes durch das Medium des Textes erfolgt, und es wirft die Frage auf, wie dadurch das Verhältnis von Geist und Text begriffen wird. Auffällig ist ja, dass Quenstedt von der Wirksamkeit der Schrift redet, diese aber als Wirksamkeit des Wortes Gottes und des Heiligen Geistes in diesem Text interpretiert, und doch nicht einfach schriftliches Wort und Wort Gottes statisch identifiziert. Das offenbarte Wort Gottes ist „in den Schriften enthalten“,187 die biblischen Schriften sind Anrede Gottes, der einzige Ort, an dem das Wort Gottes dem Menschen Heil schaffend begegnet.188 Die Verhältnisbestimmung zwischen Wort Gottes und biblischem Text ist aber komplexer als sich in diesen Stichworten andeuten lässt. Thematisiert wird sie als Frage nach der Notwendigkeit der Verschriftlichung des Gotteswortes: „Ob die Heilige Schrift notwendig war?“189

a) Mündliches Gotteswort und heiliger Text Dabei geht es nicht um eine Notwendigkeit im Blick auf Gott, so als ob Gott der Hilfe der Schrift bedürfe, um sein Werk vollbringen zu können,190 sondern die Notwendigkeit zur Verschriftlichung des Wortes entsteht durch die Kirche.191 Dass die Kirche ohne das Wort Gottes nicht bestehen kann, ist 186 I, IV/2, q XIV, Dial. XII. 187 Vgl. z.B. I, III/1, Th: „SS. Theologiae principium est divina revelatio sacris literis comprehensa.“ So muss man es gerade vor dem Hintergrund von Hägglunds Auslegung der Schriftlehre Johann Gerhards betonen. Hägglund hält im Blick auf Gerhard fest: „Damit ist der Hauptgedanke der orthodoxen Schriftauffassung angegeben: die einfache Identität der heiligen Schrift mit dem Worte Gottes.“ (Hägglund, Die Heilige Schrift, 67) 188 Vgl. oben Abschnitt 1.1 c) zur sufficientia Scripturae. 189 I, IV/2, q I: „An S. Scriptura fuerit necessaria?“ 190 Als Beispiel dafür, dass Gott die Kirche auch ohne Schrift lenken konnte, hält die mosaische Zeit her: Da die Kirche hier nur eine Familie umfasste, bedurfte es der Verschriftlichung des Wortes Gottes nicht. (I, IV/2, q I, FS I) 191 I, IV/2, q I, Ekth. II.

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dabei offensichtlich. In Frage steht hier aber eben noch mehr, nämlich, „ob das offenbarte Wort Gottes notwendigerweise in Buchstaben niedergeschrieben werden musste.“192 Die These benennt zwei Gründe für diesen Vorgang der Verschriftlichung des mündlichen Gotteswortes: 1) Das Wort Gottes soll unter den Menschen bestehen bleiben und 2) der göttliche Heilswille soll allen Menschengeschlechtern mitgeteilt werden.193 Mit der Behauptung der Notwendigkeit der Verschriftlichung des Gotteswortes wendet sich Quenstedt dagegen, dass es neben dem Text der biblischen Schriften noch mündliche Traditionen geben könnte, in denen das Gotteswort ebenso rein oder gar noch reiner als in der Schrift bewahrt wurde.194 So kristallisiert sich auch in dieser Frage wieder der Konflikt der Autoritäten: Dass das mündliche Wort zum Text wurde, war notwendig um der Vergewisserung der Grundlage des Glaubens willen, denn ein mündliches, menschliches Wort bleibt immer fehlbares Wort.195 Durch die Verschriftlichung ist das offenbarte Wort Gottes also zunächst dem menschlichen, potentiell verfälschenden Zugriff entzogen. So argumentiert Quenstedt für die Notwendigkeit der Verschriftlichung ausführlich ex hominum conditione, also anthropologisch. Er verweist dabei nicht nur auf die Kürze des menschlichen Lebens, die Vielzahl der Menschen und die Ausbreitung der Kirche, sondern auch auf die Gefahr von Fehlern, die Schwäche des menschlichen Gedächtnisses, den zu erwartenden Unglauben der Hüter der Tradition und andere Schwächen und Anfechtungen, die in der Schwächung der menschlichen Natur durch den Sündenfall gründen.196 Zusammenfassend heißt es, dass die Verschriftlichung des Wortes Gottes notwendig war „um der Festigkeit des Glaubens willen und daher zum Zwecke der Zurückdrängung der Irrungen der Häretiker.“197 Nun lehrt uns die Textkritik, dass auch der schriftlich fixierte Text nicht einfach vor Verfälschungen sicher ist.198 Zugleich aber zeigt uns allein schon die Praxis der Text192 I, IV/2, q I, Ekth. I: „[…] an necessario Verbum Dei revelatum literis fuerit consignandum.“ 193 I, IV/2, q I, Th: „Saluti Ecclesiae valde necessarium fuit, [1] ut Verbum Dei scriptum inter homines extaret, sive, [2] ut divini sensus de salute hominis revelati per Scripturam humano generi communicarentur“. 194 I, IV/2, q I, Antith. I. 195 Vgl. z.B. I, IV/2, q VIII, Beb. IV. 196 I, IV/2, q I, Beb. II. Anthropologisch, ja geradezu implizit hamartiologisch, argumentiert in der gegenwärtigen texttheoretischen Diskussion auch McGann, Texte, 135: „Da Menschen keine Engel sind, impliziert dieser Austausch [in kulturellen symbolischen Tauschbeziehungen] immer materielle Vermittlungswege.“ Texte sind körperliche Repräsentationen menschlichen Handelns (aaO., 136). 197 I, IV/2, q I, Beb. II: „necessaria fuit scriptura […] ob […] (10) fidei firmitatem: & denique (11) ad reprimendam haereticam pravitatem.“ 198 Darauf, dass die Schriftlichkeit ihre eigenen Gefahren birgt, weist auch J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 101 hin. Zur Zeit Quenstedts allerdings galt die Schrift und insbesondere

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kritik, was die Verschriftlichung mündlicher Traditionen bedeutet: Die Veränderungen eines schriftlich tradierten Textes lassen sich kritisch rekonstruieren auf Grund der Tatsache, dass ältere Texte zugänglich sind oder andere Abschriften zum Vergleich herangezogen werden können. Durch die Verschriftlichung werden Worte und Textversionen synchron zueinander angeordnet, während sie im Fluss der mündlichen Kommunikation aufeinander folgen.199 Erst die Synchronität erlaubt das Vergleichen, das Hin- und Hergehen zwischen Worten, die Interpretation. Das mündliche Wort ist, sobald es gesprochen wurde, auch schon vergangen und ob es von dem nächsten Tradenten gleichlautend wiedergegeben wurde, lässt sich nicht anhand einer anderen Vorlage überprüfen.200 Das lateinische Sprichwort bringt es auf den Punkt: „Verba volant – scripta manent.“201

Weil das Wort Gottes also auf das Heil aller Menschen ausgerichtet ist und für alle Menschen vergewissernde Grundlage des Glaubens sein soll, muss es im Vollzug der Verkündigung an alle Welt der menschlichen Schwäche entzogen und aufgeschrieben werden. So gründet die Rede von der Notwendigkeit der Verschriftlichung des Gotteswortes letztlich auch in der Ausrichtung des Wortes Gottes auf das Heil der Menschen und damit in der Rede von der Wirksamkeit des Gotteswortes zum Heil, die durch diese Theorie an das schriftliche Wort gebunden wird.202 Sie gründet darin, dass sich diese Wirksamkeit des Gotteswortes in der Zeit erstreckt, so dass das Wort Gottes zu allen Zeiten hörbar und wirksam sein muss. Kontinuität über die Zeit hinweg gewinnt es aber nur in der Gestalt eines Textes.203 So klärt diese Theorie, in der freilich problematischen Gestalt einer heilsgeschichtlichen Konstruktion der Verschriftlichung des Gotteswortes, das Verhältnis von mündlich verkündigtem Gotteswort und zu verkündigendem Text als Ort der Gegenwart dieses Gotteswortes. Dabei zeigt sich deutlich, dass der Text der Schrift immer als auf das Heil hin ausgerichteter Text zu

das Buch noch als Garant dafür, das Vergangene für die Zukunft aufzubewahren. Das Vertrauen zur Schriftlichkeit schwindet erst mit Beginn des 18. Jahrhunderts (vgl. A. Assmann, Erinnerungsräume, 201–204). 199 Vgl. Stierle, Text als Handlung, 218f: „Die Übergänglichkeit der Rede als Vollzug, ihr Nacheinander, wird zum Nebeneinander der Schrift arretiert.“ Vgl. Barthes, Das Rauschen der Sprache, 68: „Das Sprechen ist unwiederholbar, dies ist sein Verhängnis.“ 200 In mündlichen Überlieferungskulturen wird daher die inhaltliche Kohärenz der Überlieferung durch rituelles Wiederholen abgesichert. Vgl. zum Übergang von ritueller zu textlicher Kohärenz J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 87–103. 201 Dieses Sprichwort ziert in der Rennaissance zahlreiche Drucke – es ist gleichsam das Motto von Druckern und Verlegern (vgl. A. Assmann, 199). Vgl. zur Hochschätzung der Schrift bei den antiken lateinischen Dichtern aaO., 181–185. 202 I, IV/2, q II, Beb. VIII: „Ex intentione finis, quem Deus scriptione intendit, patet eoque, quod jussi scripserint Apostoli. Haec scripta sunt, ut credatis, Joh xx, 31.“ 203 Dieser diachrone Aspekt textlicher Kommunikation wird auch von Ricœur, Der Text als Modell, 197 betont. Ehlich, Text und sprachliches Handeln, 242 spricht von einer „zerdehnten Sprechsituation“.

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lesen ist, denn das ist der Grund der Verschriftlichung des Wortes.204 So wie das Wort einst zur Zeit Jesu und des Neuen Testaments mündlich wirksam wurde, so wird es in den Zeiten und Situationen späterer Generationen und in der Gegenwart als schriftliches Wort wirksam. Die schriftliche Niederlegung ist der Garant der Selbigkeit des Wortes – einer Selbigkeit im Wirken, die nicht einfach eine statische Identität ist. Ich nehme hier in der Interpretation Quenstedts Überlegungen von Friedrich Mildenberger zur zeitlichen Bestimmtheit des Gotteswortes auf:205 Zeit versteht Mildenberger dabei immer als inhaltlich gefüllte Zeit. Grundlegend unterscheidet er zwischen der Zeit der Verkündigung und der verkündigten Zeit. Die christologische und die pneumatologische Zeitbestimmung erfassen jeweils den gegenwärtigen Moment des Verstehens der Schrift als heilsames Wort. Die christologische Zeitbestimmung legt den Akzent auf die verkündigte Zeit, also auf die Zeit Christi. Dass diese Zeit der Verkündigung Christi die gegenwärtige Zeit des Hörens und Lesens erfüllt, ist Werk des Heiligen Geistes. In diesem Sinne ist die Zeit des Verstehens der Schrift durch den Heiligen Geist bestimmt (pneumatologische Zeitbestimmung). Quenstedts Ausführungen zur Verschriftlichung des Gotteswortes nehmen nun das in den Blick, was Mildenberger voraussetzt, nämlich die Gleichheit der Wirksamkeit des Wortes in den unterschiedlichen Zeiten. Weil das Wort der Verkündigung Text wurde, kann der Text wieder zum geisterfüllten Wort werden und das, was einst Verkündigung Christi war, kann in der Gegenwart kraft des Heiligen Geistes wieder die Zeit erfüllen.

So kommt der biblische Text, so wie wir es bereits ausgeführt haben, als anredendes Gotteswort in den Blick, genauer als Anrede des Heiligen Geistes, der durch das Medium des verschriftlichten Gotteswortes in uns Glauben weckt. Dadurch aber, dass das geschriebene Wort der Schrift in der Gegenwart als anredendes Gotteswort in den Blick kommt, wird die Differenz zwischen der Verkündigung des Wortes Gottes durch die Apostel einst, aus der die Schrift hervorging, und der Verkündigung des Wortes Gottes aus dem Schriftwort heute, relativiert. „Es ist ein und dasselbe Wort Gottes, das die Propheten und Apostel durch göttliche Eingebung lehrten, mit lebendiger Stimme predigten und das sie durch Buchstaben und Zeichen auf Papier aufzeichneten und ausdrückten.“206 Das mündliche Wort der Apostel und das von ihnen aufgeschriebene Wort unterscheiden sich dem Wesen nach nicht, der Akt des Schreibens und der Akt der mündlichen Predigt sind dem Wort Gottes äußerlich, es subsistiert in beiden Modi der Verkündigung.207 204 Vgl. das Abschnitt 1.1 e) zum finis Scripturae. 205 Siehe dazu oben in Teil I, Abschnitt 2.3 c). 206 I, IV/1, Th 1, n2: „Unum enim & idem Dei verbum est, quod Prophetae & Apostoli, per divinam inspiratione edocti, viva voce praedicarunt, & quod per literas & characteres in charta signarunt & expresserunt.“ 207 I, IV/2, Th 1, n2: „Actus scribendi, ut & praedicandi accidit Verbo Dei, estque ejus pa/coj, seu accessorius proponendi & communicandi modus, qui ipsam essentiam Verbi divini non mutat.“

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Die Selbigkeit des Wesens des Wortes Gottes in den beiden unterschiedlichen Modi der Verkündigung (mündliches Wort und Text) wird in einer kritischen Wendung gegen die katholische Lehre von der mündlichen Tradition als die Selbigkeit der Lehre bestimmt: Die mündliche Tradition lehrt gerade nichts anderes als der schriftliche Text.208 In dieser Fixierung auf die Identität der Lehre, die doch etwas anderes ist als die Identität des Wortes in seiner Wirksamkeit, liegt nun aber die Gefahr, die Selbigkeit des Gotteswortes in seiner Wirksamkeit auf eine statische Identität von Lehrsätzen zu reduzieren. Grundsätzlich jedoch gilt zunächst, dass dort, wo das Schriftwort in seiner gegenwärtigen Wirksamkeit als anredendes Gotteswort in den Blick kommt, zwar nicht die Verschriftlichung des Wortes Gottes rückgängig gemacht wird – der Text bleibt ja gerade im Gegenüber zum mündlichen Wort bestehen –, aber das Wort Gottes als Text hier wieder übergeht in das Wort Gottes als mündliches Wort. Daher kann Quenstedt auch biblische Texte, in denen vom Wort Christi als mündlichem Wort die Rede ist, auf die Verkündigung des Schriftwortes heute beziehen: „Sie [die Schriften] erzeugen nämlich heute in unserm Geist denselben göttlichen Begriff und dieselbe dem Geist gleichförmige Gesinnung wie einst zur Zeit Christi auch das von Christus geäußerte.“209 So wird hier die Identität von mündlichem Wort Christi und textgewordenem Wort in der Identität der Wirkung des Wortes in den Hörern und Lesern gesehen. Dabei stehen mündliches Wort und Text nicht einfach nebeneinander oder im Sinne einer Entwicklung nacheinander, sondern der Text ist das Wort, das mündlich anredet. Mit der Verschriftlichung des Verkündigungswortes kommt also die mündliche Verkündigung nicht an ihr Ende, sondern sie wird zur Auslegung der verschriftlichten Verkündigung. Text und mündliches Wort sind daher immer aufeinander zu beziehen. Darin impliziert ist, dass sich die mündliche Tradition nicht vom Text lösen kann und darf, sondern dass sie nur als Auslegungstradition dieses Textes weiter bestehen kann.210 Als Paradebeispiel für 208 I, IV/2, Th 1, n2: „Quod contra Pontificios tenendum, qui contendunt, verbum a¢]grafon & e]ggrafon in eo differre, quod a]grafon contineat alia dogmata, quam e]ggrafon, & vice versa.“ 209 I, IV/2, q XVI, Ekdik. I: „Eundem enim conceptum divinum & sententiam menti divini conformem etiamnum in mente nostra generant, quam olim tempore Christi & a Christo enunciata.“ Dort bezogen auf Joh 6,63. 210 Vgl. auch Stierle, Text als Handlung, 219: Jeder Text und seine Bedeutung wird erfasst in der Dialektik von Struktur des Textes und Prozess der Rede, die je neu auf den Text und seine vorangegangenen Rezensionen Bezug nehmen kann. Auch Martens, Was ist ein Text?, 105f drängt auf einen Textbegriff, der das statische und das dynamische Moment des Textes in einer Dialektik miteinander verbindet. Zwar hat Martens bei der Dynamik des Textes v.a. die Dynamik der Textentstehung im Blick und zielt auf editorische Konsequenzen (vgl. aaO., 108), jedoch wird einer Dialektik von statischem Text und Dynamik der intertextuellen Verweiszusammenhänge der

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spiel für dieses Neben- und Miteinander von Schrift und mündlichem Wort gilt Quenstedt die alttestamentlich-jüdische Praxis der Gesetzesauslegung.211 Der schriftliche Text ist so darauf hin angelegt, wieder mündliches Wort zu werden.212 So kann Quenstedt den predigenden Pfarrer als Scriptura loquens und die Schrift als schweigende Schrift bezeichnen, insofern sie erst durch die Predigt redet.213 Zugleich entbehrt die Schrift nicht eines mündlichen Charakters, da sie selber nur schriftlich fixiertes, mündliches Wort ist, darauf ausgerichtet, wieder mündliches Wort zu werden.214 So wird in der Predigt der Text der Bibel ausgelegt, und zwar so, dass die Predigt diesen Text voraussetzt und zugleich auf keine andere Wirkung aus ist als der biblische Text. Damit hat schon der Altprotestantismus eine Verhältnisbestimmung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit der Tradition im Blick, die dem ähnelt, was John Barton in seiner Studie zum Kanonbegriff215 – charakteristischer Weise ebenfalls am Beispiel des jüdischen Umgangs mit Texten – herausarbeitet. Barton stellt Kultur der Mündlichkeit (oral culture) und Textkultur einander gegenüber. Während in einer Kultur der Mündlichkeit dem mündlichen Wort mehr Gewicht zugemessen wird als einem Text, bietet eine Textkultur den Kontext, in dem es so etwas wie Heilige Schriften geben kann.216 Aufschlussreich an der jüdischen Auslegung der hebräischen Bibel (unseres Alten Testamentes) ist nun nach Barton, dass das Alte Testament gewissermaßen zugleich als mündlicher als auch als schriftlicher Text existiert, wie Barton an dem Nebeneinander und Miteinander von Ketib und Qere verdeutlicht.217 „The system is designed to ensure that the traditional graphic form is faithfully preserved and transmitted even when it is apparently meaningless.“218 Die inhaltliche Verarbeitung geschieht in der mündlichen Tradition. Dass der graphischen Gestalt des Textes219 solche Bedeutextlichen Zeichen auf ihre Weise auch in Quenstedts Verhältnisbestimmung von Text und Auslegung des Textes Rechnung getragen. 211 I, IV/2, q I, FS IV betont im Blick auf die jüdische Auslegungstradition: „vocem Traditionis verbaliter esse accipiendam de actu tradendi, praedicandi, catechizandi, cum dependentia ad legem scriptam, & eam utique necessarium fuisse largimur.“ 212 In der gegenwärtigen Diskussion betont auch Hardmeier, Erzähldiskurs, 4 im Blick auf das Alte Testament, dass die biblischen Texte auf Mündlichkeit hin angelegt sind. Dies verdeutlicht er insbesondere am deuteronomistischen Thoraverständnis (vgl. z.B. aaO., 124–130, 377f). In der Renaissance wird dies texttheoretisch verallgemeinert: Das Buch ist lebendiger Abdruck eines Geistes, der jederzeit wiederauferstehen kann. Vgl. die Ausführungen zu Francis Bacon und John Milton bei A. Assmann, Erinnerungsräume, 192–196. 213 I, IV/2, q XV, FS VI. 214 I, IV/2, q XV, P I, FS IV. Dort geht es um den mündlichen Charakter der richterlichen Urteile der Schrift. 215 Vgl. dazu oben Teil I, Abschnitt 2.1 d) und in Teil III, Abschnitt 1.1 a). 216 Vgl. Barton, The Spirit and the Letter, 126. 217 Vgl. aaO., 124. 218 AaO., 125. 219 Siehe dazu Abschnitt f).

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tung zugemessen wird, verweise darauf, dass der Text „in a mysterious way“ vor seiner Bedeutung existiere, in der Aussprache der Zeichen, in ihrer Gestalt220 – zum Beispiel im Kontext der Liturgie.221 Auch Jan Assmann hat sich in seiner Studie zur Bedeutung der Schriftlichkeit für das kulturelle Gedächtnis mit den Begriffen des Kanons und der Heiligen Schrift befasst. Die Entwicklung der Schrift bedeutet einen gravierenden Einschnitt in der kulturellen Entwicklung: Während in mündlichen Kulturen Kohärenz der Überlieferung durch rituelle Wiederholung hergestellt wurde,222 geschieht dies nun durch die Tradierung und Aufbewahrung von Texten, die ihrerseits zirkuliert werden müssen.223 Dabei unterscheidet Assmann zwischen Heiligen und kanonischen Texten. Die rituelle Einbindung z.B. im Kontext der Liturgie, die Barton als Kennzeichen der Verwendung des biblischen Kanons beschreibt, ist nach Assmann Kennzeichen heiliger Texte. „Heilige Texte gehören in die Sphäre ritueller Kohärenz und Repitation.“224 Sie sind nicht wie kanonische Texte kulturell fundierend, sondern finden ihren Ort innerhalb des fundierenden Ritus. Der Übergang von ritueller zu textueller Kohärenz geschieht eigentlich erst mit der Ausbildung eines Kanons.225 Erst der Kanon ist ein fundierender Text: „Kanon, so ließe sich definieren, ist die ‚Fortsetzung ritueller Kohärenz im Medium schriftlicher Überlieferung‘“.226 An die Stelle des Ritus treten nun die Textpflege und die Sinnpflege, die im Diskurs der Interpretationen geschieht.227 Ein Kanon zeichnet sich zudem dadurch aus, dass er in die gelebte Wirklichkeit umgesetzt werden will.228 In theologischer Perspektive ist daran interessant, dass die biblischen Texte also Merkmale sowohl heiliger als auch kanonischer Texte auf sich vereinen: Die Texte werden in liturgischen Kontexten rituell verwendet. Kohärenz der (Text-)Überlieferung und der Deutungstraditionen wird hier durch Wiederholung des Textes in kultischen Kontexten hergestellt. Zugleich aber handelt es sich um Texte, die in gelebte Wirklichkeit umgesetzt werden wollen und eine komplexe Kultur der Textund Sinnpflege nötig machen.229 Quenstedt stellt mit der Betonung des praktischen Verstehens und dem Gewicht, das er der Textgestalt zumisst, den rituellen Aspekt des Lesens und Tradierens in den Vordergrund: Es geht ihm weniger um die kanonische Dimension, sondern primär um die Bibel als Heilige Schrift. Diese macht sich nun aber gerade an der Wirksamkeit der Texte im Leben der Leser fest. Insofern wird hier deutlich, dass in dieser von Assmann vorgenommenen Distinktion der altlutherischen 220 Barton, The Spirit and the Letter, 125. 221 Vgl. aaO., 128. 222 Vgl. J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 88–91. 223 Vgl. aaO., 91f.. 224 AaO., 102. 225 Vgl. aaO., 93: „Nicht schon der heilige, sondern erst der kanonische Text erfordert Deutung und wird so zum Ausgangspunkt von Auslegungskulturen.“ 226 J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 105. 227 Vgl. aaO., 87f und 94f. 228 Vgl. aaO., 94f: „Diese Texte wollen beherzigt, befolgt und in gelebte Wirklichkeit umgesetzt werden.“ 229 Es ist ja gerade die Ausbildung des biblischen Kanons die nach Assmann den Kanonbegriff bis in die Gegenwart hinein geprägt hat. Vgl. aaO., 114–127.

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Kanon- und Schriftbegriff nicht recht zu fassen ist: Die Bibel ist als Kanon Heilige Schrift.

Die Ausführungen Quenstedts machen deutlich, dass das Beieinander von mündlichem Wort und Text in ihrer Verflechtung miteinander, die von Barton vorzüglich beschrieben wird, nichts Mysteriöses an sich hat, wie Barton annimmt. Vielmehr zeigt sich hier die funktionale Verschränkung von Texttheorie, in der Text und mündliches Wort aufeinander bezogen werden, und der Rede von der efficacia Scripturae, die von einem praktischen, präpropositionalen Verstehen230 ausgeht. Durchgängiges Thema auch der texttheoretischen Reflexion Quenstedts ist ja die Frage nach der Wirksamkeit des Gotteswortes. Weil das Wort Gottes seine Wirksamkeit bei allen Menschen entfalten können soll, muss es Text werden. So wird der Text zum Mitteilungsmedium im Kommunikationsprozess zwischen Gott und Mensch. Diese Funktion erfüllt der Text gerade durch die Stabilität seiner Zeichengestalt, die dem Kommunikationsprozess insofern äußerlich ist, als dass sie durch diesen nicht mehr verändert werden kann, außer es kommt zu einer erneuten Verschriftlichung des mündlichen Wortes. Durch die Verschriftlichung des Wortes treten Text und mündliches Wort so auseinander, dass das mündliche Wort immer nur als Auslegung des wirksamen Schriftwortes verstanden werden kann. Dabei ist aber zu beachten, dass die Auslegung des Textes hier nicht in erster Linie auf rationale Verständlichkeit zielt, sondern Aktualisierung der Wirksamkeit der Schrift zum Glauben ist. So kann es zu einem praktischen Verstehen der Schrift im Glauben kommen, das nicht auf ein Verstehen der Bedeutung der Textzeichen abzielt, sondern diese Texte zunächst dadurch versteht, dass es sie in bestimmte Praktiken einbezieht, z.B. die Psalmen als Gebete in die gottesdienstliche Liturgie integriert. Durch die Textwerdung des Wortes liegt die Wirksamkeit des Wortes Gottes nun ganz im Schriftwort und wird so zur Wirksamkeit der Schrift. Das mündliche Wort wird zur Auslegung des wirksamen Wortes, z.B. in der Rezitation von Texten oder aber in der Predigt. Die interpretatorische Auslegung biblischer Texte wird damit zu einem der Räume, in denen das schriftliche Wort seine Wirksamkeit als Gottes Wort entfalten kann. Lutherische Worttheologie und theologische Hermeneutik sind hier also aufs engste miteinander verknüpft. Mit dem Festhalten an der äußeren Wortgestalt der Schrift geht es also nicht einfach darum, „die Heiligkeit eines Textes um jeden Preis, selbst den Preis der Bedeutung festzuhalten“,231 noch haftet der Wirksamkeit des Wor230 Zur Bedeutung des Begriffs „praktisches Verstehen“ und Bartons Begriff vom „Verstehen eines Textes vor seiner Bedeutung“ vgl. oben Abschnitt 1.1 a). 231 Barton, The Spirit and the Letter, 125: „The K[etib ]Q[ere] system is part of the drive in Judaism to preserve the purity of the biblical text at any cost – even at the cost of its meaningfulness.“

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tes „vor seiner Bedeutung“ etwas mysteriöses an, sondern sie lässt sich sprachlogisch entfalten als Lerngeschehen, durch das der Leser in die Kommunikation zwischen Gott und Mensch einbezogen wird und von dem her die Grammatik christlicher Rede (d.h. auch die Rede von der Bibel als Heiliger Schrift) strukturiert ist. Damit wird zugleich auch deutlich, dass von diesem Lerngeschehen her die Textgestalt für eine theologische Hermeneutik besonderes Gewicht gewinnt. Sie steht symbolisch für das praktische Verstehen des Textes vor der Reflexion auf den Gehalt des Textes. Wenn Barton darauf hinweist, dass auch wir Kommunikationsformen kennen, die nicht in erster Linie dem Austausch von Informationen dienen,232 so unternimmt er bereits einen ersten wesentlichen Schritt, einem Verstehen der Heiligen Schrift, das nicht auf ein Erfassen der inhaltlichen Bedeutung der Texte zielt, seinen vermeintlich mysteriösen Charakter zu nehmen. Die Stärke der altprotestantischen Dogmatik eines Johann Andreas Quenstedt mit ihrer worttheologischen Beschreibung des Verstehens der Bibel als Heiliger Schrift besteht nun darin, aufzuzeigen, dass diese Art des Schriftverstehens notwendig für die christliche Glaubensrede ist, weil erst diese Art von Schriftverstehen Kontexte für ein inhaltliches, propositionales Verstehen biblischer Texte als Heiliger Schrift schafft. Die Notwendigkeit der Verschriftlichung des Gotteswortes und des dadurch bedingten Auseinandertretens von Text und mündlicher Auslegungstradition ist eine Notwendigkeit, die sich aus der inhaltlichen Näherbestimmung der Lernsituation der Glaubensrede ergibt, und sie kann von daher auch als eine grammatische Notwendigkeit charakterisiert werden: Würden wir Text und mündliches Wort anders aufeinander beziehen, so sprächen wir nicht mehr die Sprache des christlichen Glaubens, weil es im christlichen Glauben um das Heilshandeln Gottes am Menschen durch sein Wort geht. Gerade dies aber macht angesichts der zeitlichen Erstreckung dieses Heilshandelns die Verschriftlichung des Wortes notwendig. Dass sich Text und mündliches Wort auf diese Weise miteinander verschränken, gründet so letztlich darin, dass der Glaube in der Situation des Hörens auf die biblischen Texte als wirksames Gotteswort entsteht. Ein Verstehen des Textes in dieser Lernsituation ist ein praktisches Verstehen des Textes, das Quenstedt als Glauben, als unbedingtes Vertrauen (fiducia) charakterisiert. Diese Lernsituation christlicher Glaubensrede strukturiert die Grammatik unserer Glaubensrede, auch unsere Grammatik von „Text“ und „mündlichem Wort“. Die heilsgeschichtliche Form, die Quenstedt dieser Texttheorie gibt, ist aus der Perspektive solch einer grammatischen Interpretation nicht notwendig zur Explikation des theologischen Gehalts dieser Theorie. Die Explikation der Notwendigkeit der Verschriftlichung des Gotteswortes und des Beieinanders von mündlichem Wort und Text 232 Vgl. aaO., 128.

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in heilsgeschichtlichen Topoi lässt sich vielmehr als problematische Historisierung des Lerngeschehens der Glaubensrede aus dem Wort verstehen: Das Beieinander von Text und Wort ist prägend für diese Lernsituation, ebenso wie der Rückbezug auf das gewisse Wort der Schrift. Beide Aspekte prägen die Grammatik christlicher Rede und werden von Quenstedt in einer historisierenden Theorie der Entstehung der Schrift aus dem mündlichen Gotteswort zu begründen versucht. Es handelt sich dabei also um eine grammatische Täuschung: Aus einer Grundbegebenheit christlicher Rede wird eine Theorie extrapoliert, die etwas begründen soll, das als grammatische Gegebenheit der Rede schlicht hinzunehmen ist. Es ist der Versuch über eine grammatische Notwendigkeit hinaus eine größere, ontologische Notwendigkeit nachzuweisen. Als positives Resultat dieses heilsgeschichtlich theoretischen Konstrukts aber bleibt die Einsicht in die Bezogenheit aller mündlichen Verkündigung auf den Text, der aus dem mündlichen Wort Gottes hervorgeht und seine Kontinuität in den unterschiedlichen Zeiten gewährt.

Diese Einordnung des schriftlichen Wortes, der Heiligen Schrift, erfordert nun eine eigene, theologische Texttheorie. Der biblische Text kommt hier ja gewissermaßen als medium medii in den Blick: Heilsmittel im strengen Sinn ist das Wort Gottes, das auf das Heil der Menschen ausgerichtet ist. Die Verschriftlichung dieses Wortes bringt einen Text hervor, der wiederum Mittel in diesem auf das Heil ausgerichteten Kommunikationsgeschehen ist. Grundlegendes Argument für die Verschriftlichung des Wortes war dabei die Zuverlässigkeit des Textes, die allein ihn zur vergewissernden Grundlage des Glaubens macht. Während Menschen sich irren können, vergessen können und Tradition verfälschen können, bleibt ein einmal geschriebener Text bestehen, spätere Verfälschungen z.B. können aufgrund älterer Textdokumente als solche erwiesen werden. Dementsprechend muss nun die altprotestantische Schriftlehre eine Texttheorie entfalten, die gerade diese Beharrlichkeit des Textes allen Veränderungen zum Trotz festhält und sie im Kommunikationsgeschehen zwischen Gott und Mensch verortet. Insofern es dabei um ein Verstehen des Textes geht, das nicht in erster Linie ein Verstehen des Textgehaltes ist, ist zu erwarten, dass hier der Textgestalt entscheidendes Gewicht zukommt. Genau dies ist die Funktion der vielfach gescholtenen, aber zumindest ebenso oft in ihrer Komplexität unterschätzten Lehre von der wörtlichen Inspiration der biblischen Schriften. Zunächst werden wir nun deren begriffliche Voraussetzungen in den Blick nehmen. b) Textgestalt und Textgehalt Begrifflich expliziert wird die Texttheorie Quenstedts und der Altprotestanten durch das Vier-causae-Schema des mittelalterlichen Aristotelismus, das für die Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts insgesamt prägend war.233 233 Vgl. Wundt, Die Schulmetaphysik, 198. Vgl. dazu Aristoteles, Metaphysik, l.5, c2 (1013a24–1014a25). Dabei ist die Anwendung dieses Schemas bei Quenstedt sicher nicht bis ins

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Dabei wird aber deutlich, dass dieses begriffliche Schema, das der Beschreibung eines Seienden dient, von der dynamischen Vorstellung der Wirksamkeit des Schriftwortes her gedacht ist. Die Wirkursache (causa efficiens bzw. causa) wird noch einmal unterschieden nach causa principalis (der dreieinige Gott)234 und causa ministerialis (die menschlichen Verfasser).235 Die Zweckursache (causa finalis) der Schrift, bei Quenstedt kurz als Zweck (finis) bezeichnet, ist der Lobpreis Gottes (finis ultimus respectu Dei) bzw. das Heil aller Menschen (finis ultimus respectu hominum) und der Glaube als Zwischenziel (finis intermedius).236 In der Erfassung des Textes als eines Seienden in den Kategorien der aristotelischen Metaphysik bildet sich also deutlich die theologische Grundausrichtung der Schriftlehre Quenstedts ab. Die beiden äußeren Ursachen (causae externae)237 bilden das grundlegende Kommunikationsgeschehen ab, das wir im ersten Abschnitt skizzierten. Dabei ist die Kommunikation zwischen menschlichen Verfassern und menschlichen Lesern eingebettet in einen göttlichen Kommunikationsprozess: Gott richtet die Kommunikation zwischen Menschen auf das Heil der Menschen und darüber hinaus und dadurch aus auf den Lobpreis seiner selbst. Im ontologischen Schema, das sich an der Entstehung eines Seienden orientiert, wird so die Dynamik der Wirksamkeit des Schriftwortes durchaus angemessen aufgenommen. Auf der anderen Seite besteht allerdings auch die Gefahr, dass Wirkursache und Zweckursache als zwei Begründungen neben einander stehen bleiben, also der Zusammenhang, der sich von der Rede von der Heilswirksamkeit des Schriftwortes her nahe legt, nicht konsequent durchgehalten wird. Diese Gefahr besteht, weil das letzte Detail als metaphysische Anwendung gedacht, sondern trägt oft auch einen bloß formalen Charakter. Das Schema selber ist ja nicht nur in der Metaphysik, sondern auch in der Logik zu Hause. So behandelt z.B. Balthasar Meißner in seiner Philosophia Sobria die Frage der Wirksamkeit der Schrift als causa conversionis in Sectio I: Quaestiones logicas proponentes. Zur Einordnung der causae in die Logik vgl. auch schon Aristoteles, Analytica Posterior, II, 11, bes. 94a20– 24. Die Verwendung der Begrifflichkeit bei Quenstedt orientiert sich vermutlich an der Metaphysica exemplaris von Johann Scharf. Zum vier causae-Schema vgl. daher Scharf, Metaphysica Exemplaris, 96–123. 234 I, IV/1, Th 2. 235 I, IV/1, Th 3. Die Unterscheidung zwischen causa principalis und instrumentalis ist eine traditionelle Unterscheidung der Metaphysik (vgl. Wundt, Die Schulmetaphysik, 202). Scharf, Metaphysica exemplaris, 112f, unterscheidet zwischen causa efficiens principalis und minus principalis, wobei letztere dann noch einmal nach causa impulsiva und instrumentalis unterschieden wird. 236 I, IV/1, Th 7. Siehe dazu oben Abschnitt 1.1 e). 237 Vgl. dazu Wundt, Die Schulmetaphysik, 199, 203: Während forma und materia in der Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts als causae internae behandelt wurden, galten causa efficiens und causa finalis als causae externae. Der sich zeigende Zusammenhang der jeweiligen Ursachenbestimmungen wurde allerdings nicht näher ausgeführt. So behandelt auch Scharf, Metaphysica Exemplaris, 106–111 forma und materia im Zusammenhang eines Kapitels, während er causa efficiens und finalis jeweils in einem eigenen Kapitel behandelt.

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aristotelische Schema der vier Ursachen in der Schulmetaphysik jener Zeit als Beschreibung von vier nicht aufeinander zurückzuführenden Ursachen eines Seienden verstanden wurde.238 Umso bemerkenswerter freilich ist es, wenn bis in dieses Schema hinein die Auswirkungen der Rede von der Wirksamkeit der Schrift deutlich sind. Wir werden aber auch sehen, dass sich die Rede von der causa efficiens als eigenständige Begründung, losgelöst von der Begründung aus dem Zweck der Schrift, findet, etwa um die Inspiration der Texte zu begründen. So kann sich auch die Begründung aus dem Stoff (causa materialis) und aus der Form (causa formalis) als Begründung von der auf die Wirksamkeit der Schrift ausgerichteten Gesamtstruktur der Theologie Quenstedts lösen, nämlich dort, wo die Inspiration der Schriften selber als Begründung für theologische Positionen angeführt wird.239 Stoffursache (causa materialis) und Formursache (causa formalis) hatten wir bisher aber noch gar nicht im Blick. Mit diesen inneren Ursachen (causae internae) kommt der Text als das medium der Kommunikation zwischen Gott und Mensch in den Blick. Unterschieden wird zwischen dem formalen Aspekt der Schrift (formale Scripturae) und dem materialen Aspekt der Schrift (materiale Scripturae): Das materiale Scripturae sind die Buchstaben, Laute oder die Schrift, das formale der Sinn der Schrift, genauer der sensus divinus.240 Es scheint daher zunächst so, dass die Textwerdung des Wortes Gottes lediglich eine Frage des Stoffes ist: An die Stelle des mündlichen Wortes tritt das schriftliche Wort. Jedoch ist damit übersehen, dass in der aristotelischen Metaphysik gilt, dass die Form den Dingen ihr eigentümliches Sein mitteilt: „Forma dat esse rei.“241 Der Stoff hingegen ist das, was eine Form hat,242 also das bloße Rohmaterial, das erst durch die Form als Seiendes bestimmt wird.243 Das Rohmaterial der menschlichen Schriftsprache wird also durch den göttlichen sensus erst zu dem Text, der hier in seinem Sein bestimmt wird. Das heißt Textgestalt (materiale Scripturae) und Textgehalt (formale Scripturae) werden hier durch das aristotelische Schema eng zusammengerückt. Das aber ist eine Einsicht, die sich gerade auch von Wittgensteins Sprachphilosophie her nahe legt.244 238 Vgl. Wundt, Die Schulmetaphysik, 203. 239 Vgl. dazu unten Abschnitt c). Zu beachten ist dabei aber auch, dass Stoff und Form schon bei Aristoteles unabhängig vom Ursachenschema miteinander korreliert werden. Vgl. z.B. Aristoteles, Metaphysik 1032a12–1034b19. 240 I, IV/1, Th 1, n 7. 241 Scharf, Metaphysica exemplaris, 111. Vgl. auch Scheibler, Opus metaphysicum, l 1, c 22, th 44 (zitiert nach Wundt, Die Schulmetaphysik, 200): „Forma est causa, per quam res est id, quod est.“ 242 Vgl. Wundt, Die Schulmetaphysik, 199. 243 Vgl. Scharf, Metaphysica exemplaris, 111: „Materia per se indifferens est.“ 244 Die physische und ästhetische Gestalt des Textes gewinnt auch in der texttheoretischen Diskussion der Gegenwart an Gewicht. Vgl. z.B. die Kritik Derridas’ am Psychologismus des Zeichen-

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Auszugehen ist hier von der Vertrautheit der Wortgestalt, auf die Wittgenstein im Kontext der Untersuchung zur Grammatik von „lesen“ aufmerksam gemacht hat und die sich mit den Beobachtungen zur Vertrautheit des Wortklangs verbinden lässt. So wie uns die klangliche „Physiognomie“ eines Wortes vertraut ist und einen bestimmten Eindruck auf uns macht, so gibt es auch eine Physiognomie des Schriftbildes eines Wortes. Diese Vertrautheit rührt daher, dass wir ein Wort eben in dieser Gestalt zu lesen lernen: Zu einem bestimmten Wort gehört ein bestimmtes Schriftbild. Es ist Vertrautheit durch Gewöhnung, die sich als Resultat eines längeren Lernprozesses einstellt. Sprachlogisch handelt es sich hierbei um etwas Ähnliches wie eine grammatische Notwendigkeit. Von grammatischer Notwendigkeit sprachen wir im Blick auf Sätze, die Grundlagen unseres Sprachgebrauchs explizieren und daher nicht negiert werden können. So gibt es z.B. keine sinnvolle Negation des Satzes „Jeder Stab hat eine Länge“, weil dieser Satz etwas über die Grammatik des Begriffs „Länge“ aussagt, das heißt etwas darüber, wie wir gelernt haben diesen Begriff zu verwenden. Verwenden wir den Begriff anders, so sprechen wir eine andere Sprache. In ähnlicher Weise gehört für uns eine bestimmte Wortgestalt, eine bestimmte Abfolge von Buchstaben, zu einem bestimmten Wort, weil wir gelernt haben, dass Schrift und Lautsprache auf diese Weise zusammengehören (vgl. § 167). Wenn Wittgenstein im Kontext der Darlegung der Grammatik von „einer Regel folgen“ von der Gewohnheit spricht, die für das Befolgen einer Regel wesentlich ist, so ist die Grammatik von „lesen“ das Paradebeispiel für solch eine Gewohnheit, die durch einen Lernprozess in einem bestimmten kulturellen Kontext geprägt ist. Wir hören ein Wort nicht nur in einer bestimmten Bedeutung, sondern wir sehen es auch in einer bestimmten Bedeutung. Von einer Notwendigkeit im strengen Sinne zu sprechen, macht hier nun aber keinen Sinn, denn die Gestalt der Worte ist in einem bestimmten Maße durchaus flexibel und auch dies hängt damit zusammen, wie wir diesen Zusammenhang erlernt haben. Flexibel ist dieser Zusammenhang in dem Sinne, dass wir durchaus verschiedene Schrifttypen mit einem Wort verbinden können, z.B. Schreibschrift oder verschiedene Druckbilder. Der Übergang zu uns fremd erscheinenden Textformen ist dabei ein fließender und eine klare Grenze lässt sich nicht definieren. Wortgestalten, die uns fremd sind, können wir durch Übung erlernen: man kann z.B. lernen Sütterlin zu lesen oder mittelalterliche Dokumente. Dieses Lernen ist ähnlich dem Erlernen einer fremden Sprache, insofern man lernt, dass bestimmte Zeichen für Buchstaben unseres Alphabets stehen. Schwierig wird es allerdings, sich das Erlernen einer Sprache ohne Schriftbild vorzustellen. Hier zeigt sich deutlich, dass mündliches Wort und Text für uns zusammengehören. Dies ist ein Aspekt der Grammatik unserer Sprache. Eine ontologische Notwendigkeit des Zusammenhangs von Textgestalt und Wortgehalt ist damit allerdings nicht behauptet, und hier liegt der grundliegende Unterschied zur aristotelischen Fundierung der altprotestantischen Texttheorie. Der Zusammenhang ist keine absolute Notwendigkeit, sondern nur eine Notwendigkeit relativ auf unsere Sprache (und das heißt mit Wittgenstein gesprochen immer auch relativ zu unserer Lebenspraxis). Dies ließe sich nun wiederum mit den Altprotestanten formulieren: begriff (Ders., Semiologie, 61–64), aber auch McGann, Texte, 147–149. Zur Bedeutung der materiellen Gestalt des Textes in der neueren Diskussion vgl. Kammer/Lüdeke, Einleitung, 15f.

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Der Zusammenhang von Wort Gottes und Textgestalt ist eine necessitas hypothetica, non absoluta.245

Wie bei allen anderen causae führt Quenstedt auch in den Begriffen der materia und der forma noch einmal weitere Unterscheidungen ein. Im Begriff der materia wird unterschieden zwischen der materia ex qua, die identisch ist mit dem, was zuvor als materiale Scripturae bezeichnet wurde, und einer materia circa quam, dem Gegenstandsbereich des Textes, den res divinae & sacrae universae, die unterteilt werden nach Gesetz und Evangelium und ihr Zentrum in der Person Christi finden.246 Die materia ex qua247 ist also der Stoff, aus dem Texte ganz allgemein bestehen, während die materia circa quam der genuin theologisch Gegenstandsbereich der Texte ist. Diese Unterscheidung ist insofern von großer Bedeutung, als dass in ihr deutlich wird, dass der theologische Gehalt des Textes durchaus nicht in der materialen Textgestalt aufgeht. Andererseits deutet sich auch schon an, dass beide nicht einfach voneinander zu trennen sind. Bei der forma unterscheidet Quenstedt zwischen der forma interna und externa. Die forma interna ist der göttliche Sinn (sensus) der Schrift, der sie von anderen Texten unterscheidet. Sie ist das formale dieses Textes, insofern er Wort Gottes ist.248 Die forma externa betrifft im Gegensatz zur forma interna das allgemein Verständliche des Textes: seine Form als Rede, sein Stil, die Verwendung der hebräischen bzw. griechischen Sprache. Es geht um die äußere Form der Niederschrift. Sie ist das formale des Textes, insofern sie Wort wie jedes andere Wort auch ist.249 Die Unterscheidung von Menschlichem und Göttlichem deckt sich also nicht einfach mit der Unterscheidung von materia und forma. Schließlich lässt sich auch das Wesen eines jeden anderen Textes nach materia und forma hin differenzieren. Jeder Text hat forma interna und forma externa. „Denn der Sinn (sensus) ist die forma und gleichsam die Seele der Worte.“250 Insofern die forma der materia ihr Sein gibt, muss sich das Miteinander von Gott und Mensch im Text gerade hier wiederfinden. So muss der Theologe hier noch einmal genauer unterscheiden und muss darstellen, wie sich die theologisch als sensus divinus bestimmte forma interna zur forma interna anderer Texte verhält:

245 Vgl. I, IV/2, q I, st.c. IV und Ekth. III. 246 I, IV/1, Th 4. Zu dieser gängigen Unterscheidung vgl. Scharf, Metaphysica exemplaris, 107. 247 Nach Scharf, Metaphysica exemplaris, 107 bezeichnet der Begriff der materia ex qua die materia im eigentlichen Wortsinn. 248 I, IV/1, Th 5, n 1: „[…] formale quatenus Verbum divinum est“. 249 I, IV/1, Th 5, n 1: „[…] formale quatenus verbum est“. 250 I, IV/2, Th 5, n 2: „[…] sensus enim verborum forma & quasi anima est“.

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Dreierlei muss man hier in Betracht ziehen: 1. Sensus, 2. Sensus divinus, 3. Sensus divinus revelatus. Insofern das Wort Gottes Wort ist, besteht seine Form im Sinn (sensus) bzw. in der Bedeutung (significatio), denn der Sinn ist die Form und gleichsam die Seele der Worte. Doch dieser Sinn steht nicht für die Form des Wortes Gottes, insofern es göttlich ist, sondern nur, insofern es Wort ist (und aus diesem Grund pflegen andere zu sagen, dass der grammatische Sinn des Wortes Gottes im Gegensatz zum geistlichen Sinn stehe und der äußere [Sinn] im Gegensatz zum inneren und göttlichen [Sinn]). Insofern also dieses Wort Gottes Wort ist, besteht sein Sinn im göttlichen Sinn (sensus divinus), der ein Begriff in Gott (conceptus in Deo) über unser von Ewigkeit her beschlossenes (formatus) Heil ist, hineingelegt in das göttliche Wort. Doch weil dieser göttliche Begriff uns nicht bekannt wird ohne Offenbarung und nur für die Form des göttlichen Wortes steht, insofern es göttlich ist und im Geist Gottes existiert, nicht aber, insofern es offenbartes Wort ist, daher muss man hinzufügen, dass die Form der Hl. Schrift oder des geschriebenen Wortes Gottes der offenbarte göttliche Sinn (sensus divinus revelatus) ist oder gleichsam der Ausdruck und Ektypus des ursprünglichen göttlichen Sinnes (sensus divinus a>rxhtu/poj), der im göttlichen Geist von Ewigkeit her beschlossen ist. Und so ist er [der sensus divinus revelatus] allein den Wiedergeborenen bzw. der erleuchteten Vernunft einsehbar.251

Zu Beginn wird hier so etwas wie eine allgemeine Texttheorie expliziert. Der Sinn eines Wortes ist seine Form, er ist die Seele des Wortes, das, was dem Wort sein Sein gibt. Die Notwendigkeit nun, diesen Text als Mitteilungsmittel Gottes an den Menschen zu verstehen, nötigt hier zu theologischen Distinktionen. Wie lässt sich diese Funktion des Textes, die in seiner ihm eigenen Wirkkraft (efficacia) und in der Ausrichtung auf das Heil aller Menschen (finis Scripturae) gründet, in der Beschreibung der forma des Textes festhalten? Durch die Rolle, die der Text im Kommunikationsgeschehen zwischen Gott und Mensch spielt, ist er nicht mehr ein Text wie jeder andere. Es überrascht daher nicht, wenn die Distinktionen des sensusBegriffes deutlich von der Formulierung des finis Scripturae her mitbestimmt sind. Zugleich zeigt sich in der Bestimmung der Übergang vom Wort zum Text. Der göttliche Sinn des Wortes (nicht des Textes!) ist ein „Begriff in Gott über unser Heil von Ewigkeit her beschlossen“. Dieser 251 I, IV/1, Th 5, n 2: „Tria hic spectanda, 1. Sensus, 2. Sensus divinus, 3. Sensus divinus revelatus; quaetenus Verbum Dei est Verbum, eatenus ejus formale consistit in sensu, seu significatione, sensus enim verborum forma & quasi anima est; Ast hic non absolvit formale Verbi Dei quatenus divinum est, sed tantum quatenus verbum est, (& hac ratione ab aliis sensus Verbi Dei Grammaticus, in oppositione ad spiritualem; & externus, in oppositione ad internum & divinum, dici solet) in quantum ergo Verbum hoc est Dei verbum, eatenus formale ejus consistit in sensu divino, qui est conceptus in Deo, de salute nostra ab aeterno formatus, & Verbo divino inditus. Ast quia hic conceptus divinus nobis non innotescit sine revelatione, tantumque absolvit formale Verbi divini, in quantum divinum est, & in mento Dei existit, non quatenus est verbum revelatum; ideo addendum, quod S. Scripturae, seu Verbi Dei scripti formale sit, sensus divinus revelatus, sive expressio quaedam & e>ktu/pwma sensus divini a>rxetu/pa in mente divina ab aeterno concepti, & sic est perceptibilis soli regenito, sive intellectui illuminato.“

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Begriff ist dem Wort eingegeben und bildet seinen göttlichen Sinn, die forma des Wortes. Dieses Wort ist uns nicht zugänglich, sondern es ist im Geist Gottes und wird uns erst dadurch zugänglich, dass Gott es uns offenbart. Damit ist die Offenbarung des Wortes Gottes von vornherein als Offenbarung des Heilswillens und Heilswortes Gottes bestimmt.252 Der sensus divinus revelatus des Textes ist die Offenbarung des von Ewigkeit her geformten Begriffs, den Gott von unserem Heil hat. Zwar ist die Unterscheidung eines Begriffs von unserem Heil in Gott von der Offenbarung dieses Begriffs zunächst einmal als ein Reflex der Unterscheidung von causa principalis Scripturae, nämlich dem Deus unitrinus, und dem finis ultimus Scripturae, nämlich dem Heil aller Menschen, zu verstehen. Die Ausrichtung der Schrift auf das Heil wird hier schon in die causa efficiens der Schrift, nämlich Gott, hinein formuliert. Dass Gott diesen Text auf das Heil aller Menschen ausgerichtet hat, bestimmt so auch die in aristotelischer Terminologie explizierte Texttheorie. Zugleich aber zeigt sich hier die oben angedeutete Gefahr, die Wirkursache des Textes als autonome Begründung zu verstehen: Der Text ist heiliger Text wegen seines Ursprungs im Geist Gottes, der ihn auf das Heil hin ausrichtet. Das aber muss ein spekulativer Gedanke bleiben, wenn nicht die Rede von der Ausrichtung des Textes auf das Heil durch Gott selber Implikat der Rede von der Wirksamkeit der Schrift zum Heil ist. Daran, dass nur der erleuchtete Intellekt, der neu geborene Mensch, diesen offenbarten göttlichen Sinn des Textes wahrnehmen kann, zeigt sich deutlich die Bezogenheit dieser Konstruktion auf die Lehre von der Wirksamkeit der Schrift. Nur derjenige, der aus dem Wort der Schrift lebt, der sie als Heilige Schrift versteht (und verstehen heißt hier ja fiducia, regeneratio etc.),253 nimmt diesen Text überhaupt als Heilige Schrift wahr. Für denjenigen, dem durch diese Texte die Anrede Gottes im Heiligen Geist widerfährt, sind sie heilige Texte, deren Sinn nicht mehr ein allgemeiner Textsinn ist, sondern eine Offenbarung des göttlichen Heilswillens, der in diesen Texten zum Ausdruck kommt und sie zum Wort Gottes macht. Darin ist Verschiedenes angedeutet: Zum einen gibt es offensichtlich einen genuinen Textsinn, der zwar durchaus sensus literalis ist, aber doch eben nicht einfach mit dem allgemeinen Textsinn, wie ihn jeder wahrnehmen kann, in Deckung zu bringen ist. Darauf deutet ja schon Quenstedts Anmerkung in Klammern hin, in der er auf die Unterscheidung von grammatischem, äußerem Sinn des Wortes Gottes und innerem, göttlichem Sinn hinweist. Zum anderen ist zu erwarten, dass diese Texttheorie, wenn sie 252 Dieser Passus weist in mancher Hinsicht Analogien zu Barths Lehre vom Evangelium als dem ursprünglichen Wort Gottes auf. Vgl. dazu Barth, Evangelium und Gesetz. 253 S.o. Abschnitt 1.1 a), 142.

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denn wirklich wie hier dargestellt im Zusammenhang mit der Rede von der efficacia Scripturae steht, pneumatologisch entfaltet wird. Wird der biblische Text als heiliger Text, der seinen Sinn durch den offenbarten göttlichen Sinn bekommt, nur wahrgenommen, weil Gott durch ihn im Heiligen Geist anredet und Glauben weckt, so ist zu erwarten, dass das Verhältnis von Geist und Text näher reflektiert wird. Dies aber geschieht in der Lehre von der Verbalinspiration. c) Inspiration von Textgehalt und Textgestalt: Relativierung realistischer Semantik und Autonomie des Textes Das Thema der Inspiration wird von Quenstedt in Frage drei und vier des polemischen Teils des Kapitels über die Heilige Schrift behandelt. Dabei geht es zunächst um die allgemeine Frage, ob alles in der Schrift inspiriert ist, und dann um die speziellere Frage, ob auch die einzelnen Wörter (also die materia ex qua bzw. das materiale Sacrae Scripturae) durch den Heiligen Geist eingegeben sind. Man muss sich, will man die Funktion dieses Lehrstückes recht verstehen, von Vorurteilen frei machen. Es geht hier nicht in erster Linie um eine Immunisierung des Schriftwortes oder der göttlichen Offenbarung. Inspiration und Offenbarung werden vielmehr deutlich von einander unterschieden. Die Inspirationslehre muss in ihrer Funktion für die Texttheorie interpretiert werden. Hier kann die Orientierung an Wittgensteins Sprachphilosophie helfen, grundlegende Vorurteile zu überwinden. Wir wiesen bereits darauf hin, dass es von der Lernsituation her einen gewohnheitsmäßigen Zusammenhang zwischen Textgehalt und Textgestalt gibt. Wenn nun christliche Glaubensrede im Hören des Wortes Gottes durch die Heilige Schrift in einem praktischen Verstehen, das nicht in erster Linie auf den Textgehalt gerichtet ist, erlernt wird, so liegt es nahe, dass hier ein grammatischer Zusammenhang zwischen der Gestalt der Worte in der Heiligen Schrift und der Bedeutung dieses Textes in seiner genuinen Gestalt für die christliche Rede konstituiert wird. Weil wir das Wort Gottes in dieser Wortgestalt als Heilswort vernehmen, das uns in eine neue Praxis des Lesens und Verstehens versetzt, besteht in unserer Glaubensrede ein gewohnheitsbedingter Zusammenhang zwischen der biblischen Wortgestalt und dem Gehalt dieser (An-)Rede. Der Gehalt dieser Rede aber ist dadurch bestimmt, dass wir die Bibel dort als Heilige Schrift verstehen, wo wir sie als Anrede Gottes im Heiligen Geist hören. Weil wir die Schrift als geisterfülltes Wort gehört haben, glauben wir und reden wir von der Bibel als Heiliger Schrift. So konstitutiert sich sprachlogisch ein Zusammenhang zwischen der Rede vom Heiligen Geist und der Heiligen Schrift. Im Glauben also lesen wir die Schrift in diesem Sinne als inspirierte Schrift, als Text, durch den der Geist uns anspricht. Damit ist zugleich ausgesagt, dass die Rede von Inspiration die Wirksamkeit der Schrift und das praktische Verstehen der Schrift im Glauben voraussetzt. Dass die Bibel Heilige Schrift ist, kann

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daher durch die Inspiration nicht begründet werden, sondern ist in ihr bereits vorausgesetzt. Der grammatische Zusammenhang zwischen Geist und Text in unserer Rede von der Schrift gründet ja im praktischen Verstehen der Schrift als demjenigen Lerngeschehen, in dem wir die Bibel als Heilige Schrift verstehen lernen. Dieser besondere grammatische Zusammenhang zwischen der Textgestalt der Heiligen Schrift, der Physiognomie des Schriftwortes und unserer Rede vom Wort Gottes als Anrede des Heiligen Geistes, das unsere Redeweise konstituiert, verweist auf die besondere Rolle, die diese Texte selber im Blick auf ihr Verstehen spielen. Diese Texte zu verstehen, heißt immer auch zu verstehen, warum man sie bei aller Möglichkeit der Interpretation nicht durch andere Texte, die dasselbe auszusagen scheinen oder auch wirklich aussagen, ersetzen kann. Eine Kommentarreihe zum Neuen Testament kann nicht an die Stelle desselben treten, macht es nicht überflüssig. So gesehen ist das Verstehen eines biblischen Textes dem Verstehen eines musikalischen Themas oder dem Verstehen eines Gedichtes ähnlich und in der Interpretation der theologischen Schriftlehre Quenstedts wird darauf zu achten sein, inwieweit hier Muster auftreten, die sich von diesem Vergleich her deutlicher verstehen lassen. Dass diese Beobachtungen mit der Schriftlehre Quenstedts kongruieren, gilt es nun aufzuzeigen.

Die Frage nach der Inspiration lässt sich nach zwei Fragen differenzieren – eine Differenzierung, die auch wirkungsgeschichtlich bedeutend ist: Es ist zum einen die Frage nach der Inspiration des Textgehalts, also des formale Scripturae (Realinspiration, inspiratio rerum) und zum anderen die Frage nach der Inspiration der Textgestalt, also des materiale Scripturae (Verbalinspiration, inspiratio verborum).254 Schon die Behandlung der Frage der Realinspiration verweist auf die eigentümliche Funktion der Inspirationslehre, denn es geht hier nicht nur darum, dass das übernatürliche Wissen oder das prophetische Wissen über die Zukunft vom Heiligen Geist eingegeben ist, sondern auch das Wissen, das den menschlichen Verfassern der Texte natürlicher Weise zukommt, wird im Akt des Schreibens unter der Leitung des Heiligen Geistes niedergeschrieben.255 Im Blick auf die Inspiration ist die Unterscheidung zwischen dem, was die Verfasser wissen können und dem, was sie aus verschiedenen Gründen nicht wissen können, unerheblich.256 Die Unterscheidung zwischen natürlichem und übernatürlichem Wissen ist eine Frage der Offenbarung (revelatio) und nicht eine Frage der Inspiration. Während Offenbarung das „bekannt werden unbekannter und verborgener Dinge“257 ist, wird mit der Rede von der Inspiration ein Modus der Vermittlung bzw. der Weitergabe des offenbarten Wis254 Das wird besonders deutlich am Aufbau von Quenstedt, Disputatio theologica: Sectio I handelt De inspiratione rerum, Sectio II de inspiratione verborum. In der Theologia handelt zunächst quaestio III von der Inspiration allgemein (im Wesentlichen geht es hier um die Realinspiration), quaestio IV behandelt die speziellere Frage der Verbalinspiration. 255 I, IV/2, q III, st.c., Th. und Ekth. I. 256 I, IV/2, q III, Ekth. II. 257 I, IV/2, q III, Ekth III: „manifestatio rerum ignotarum & occultarum“.

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sens benannt: Es geht um eine übernatürliche Eingabe des natürlichen Wissens des Verstandes oder auch um einen Vorschlag, eine Anregung zur Entwicklung eines inneren Begriffs, unabhängig davon, ob die Sache vor der Niederschrift bekannt war oder nicht.258 In der Inspiration „steht der Heilige Geist den prophetischen Männern, den Aposteln und Evangelisten auf besondere Weise bei, treibt ihre Seelen dazu an, die berichteten Sachverhalte (res) niederzuschreiben, er gibt ihnen die heiligen Sachverhalte (res) und erinnerungswürdigen Geschehnisse ein, lenkt ihre Schreibfedern, und schreibt durch ihre Schrift seine Wundertaten (oracula) nieder.“259 Zweierlei wird hier deutlich: Zum einen wird die Inspiriertheit des Textes vermittelt über die Inspiration der Verfasser des Textes gedacht. Das überrascht nach dem bisher Ausgeführten zunächst, da es ja um den Zusammenhang von Geist und Text geht: Muss dieser notwendigerweise als Inspiration der Verfasser gedacht werden? Es scheint, dass sich hier die Orientierung an der causa efficiens in den Vordergrund drängt. Die causa efficiens instrumentalis und die causa efficiens principalis werden hier so aufeinander bezogen, dass die bloß instrumentelle Funktion der menschlichen Verfasser in den Vordergrund rückt. Die Ausrichtung des Textes auf das Heil spielt dabei keine Rolle mehr. Inspiration wird hier zu einem Geschehen, das zwischen Gott und den menschlichen Verfassern des Textes stattfindet, und droht dadurch, aus der Dynamik der Glaubensrede herausgelöst, zu einem bloß spekulativen Satz zu werden. Zum anderen wird deutlich, dass die Rede von der Inspiration des Textes den Text zwar als göttlichen Text qualifizieren will, dass die Frage nach dem übernatürlichen Charakter des mitgeteilten Gehaltes hier nicht Thema ist. Worauf aber zielt die Betonung der Göttlichkeit des Textes? Geht es hier um eine bloße Immunisierungsstrategie: Weil der Text inspiriert ist, ist alles, was in ihm steht, unfehlbar, sowohl das, was natürlicher Weise bekannt als auch das, was übernatürlich offenbart ist? Oder geht es um die Explikation des grammatischen Zusammenhangs von Geist und Text, den wir oben ausführten, nur dass dies durch die Orientierung am aristotelischen Causae-Schema überdeckt wird? Es macht die Spannung der altprotestantischen Hermeneutik aus, dass in ihr beide Funktionen teils in widersprüchlicher Weise im Blick sind. Die apologetische Funktion der Inspirationslehre wird dort deutlich, wo sie bei Quenstedt in den Abschnitt der Probatio (Bebai/wsij) abrückt, also ihrer258 I, IV/2 q III, Ekth. III: „Inspiratio est actio Spiritus S. qua actualis rerum cognitio intellectui creato supernaturaliter infunditur; seu, est interna conceptuum suggestio, seu infusio, sive res conceptae jam ante Scriptori fuerint cognitae, sive occultae.“ 259 Quenstedt, Disputatio theologica, I, § 3: „Sed hic intelligitur aliqua pnoh\ specialissima, qua Sp. S. sanctis Dei viris Prophetis, Apostolis & Evangelistis peculiarissimo modo adstitit, eorum animos ad consignandum res propositas impulit, res sacras & facta memorabilia memoriae eorum indidit & inspiravit Calamum direxit, & ipsorum Scriptura, sua Oracula consignavit.“

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seits dazu dient, andere Aspekte der Schriftlehre zu begründen. So heißt es zum Beispiel in der Begründung dessen, dass die Schrift die unfehlbare Wahrheit enthält: „Was von Gott inspiriert ist, kann nicht falsch sein, weil Gott nicht durch sich noch durch andere lügen kann.“260 Das, was den bisherigen Ausführungen zufolge eigentlich eine Aussage über die Einbettung des Textes in den Kommunikationszusammenhang zwischen Gott und Mensch und damit eine Aussage über das Lesen dieses Textes als eines Heiligen Textes im Leben der christlichen Gemeinde sein sollte, wird hier zu einer Aussage über Wesen und Ursprung des Textes als eines göttlichen Textes. Die Wirksamkeit der Schrift wird gleichsam zu einer supranaturalen Kraft,261 obwohl es dabei eigentlich um die Passivität der Vernunft in der Auslegung ging.262 Die Inspiration kommt hier ganz von der causa principalis des Textes her in den Blick. Von Wittgenstein herkommend ließe sich dies als eine grammatische Täuschung charakterisieren. Die Grammatik der Aussage „Dieser Text ist von Gott inspiriert“ wird falsch verstanden, weil der eigentliche Verwendungskontext dieser Rede, den wir hier als die Ausrichtung des Textes auf das Heil der Menschen rekonstruiert haben, nicht mehr in den Blick kommt. Anstatt ihn als grammatischen Satz aufzufassen, der etwas über das Erlernen der Rede vom Verstehen der Heiligen Schrift aussagt, wird er analog der Aussage „Dieser Text ist von Michael Coors verfasst“ verstanden. Darauf weist die regelmäßige Bezugnahme auf Gott als Autor der Schrift263 ja deutlich hin. Gleichwohl diese Sätze einander ähnlich sind (ihre Oberflächengrammatik ist die gleiche), ist die (Tiefen-) Grammatik des Satzes „Gott ist Autor der Heiligen Schrift“ eine andere, nämlich eine am Zweck der Anrede Gottes an den Menschen orientierte Rede. Die Aussage „Gott ist Autor der Heiligen Schrift“ oder „Die Heilige Schrift ist von Gott inspiriert“ ist im eigentlichen Sinne eschatologische Rede, die die Lektüre des Textes auf den Zweck der Heilsvermittlung ausrichtet. Die Orientierung an der Verhältnisbestimmung von causa principalis (Gott) und causa instrumentalis (menschliche Verfasser) aber desorientiert bei der Lektüre des Textes auf eine bloße Behauptung des göttlichen Ursprungs der Schrift hin und lenkt so von der Ausrichtung der Lektüre auf den Zweck der Schrift, nämlich das Heil, ab. Die Bezogenheit der Inspirationslehre auf den Text kommt durch die Verbalinspiration im engeren Sinne in den Blick. Bedenkt man, dass die 260 I, IV/2, q V, Beb. I,b: „Ceo/pneuston falsum esse nequit, cum Deus nec per se, nec per alios mentiri possit.“ Ein anderer Kontext, in dem die Inspiration selber zur Begründung wird, ist z.B. die Frage nach dem Verhältnis von Schrift und Kirche (I, IV/2, q VIII, Beb. III). 261 Vgl. Baur, Die Vernunft, 121. Ähnlich die Kritik bei Jung, Das Ganze der Heiligen Schrift, 114 und 297f. 262 Vgl. Baur, 120. Mehr dazu unten in Abschnitt 3.1. 263 Vgl. z.B. I, IV/2, q XIII, Beb. IV.

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Schrift Prinzip der Theologie ihrem sensus nach ist,264 so kann die starke Betonung der Inspiration der Wortgestalt überraschen. Was nötigt Quenstedt also dazu, noch über die Inspiration des Textgehaltes hinaus auch eine Inspiration der Textgestalt anzunehmen? Aufschlussreich ist, dass, obwohl die menschlichen Verfasser der biblischen Schriften die Redeweise ihrer Zeit aufnehmen, es dennoch als das Werk des Heiligen Geistes gilt, dass sie genau diese Wörter und Sätze schrieben.265 Die Rede von der wörtlichen Inspiration steht also einer historischen Einordnung der Texte nicht entgegen. Es geht nicht darum, die biblischen Texte ihrem zeitlichen Kontext zu entheben, der Heilige Geist passt sich dem gewöhnlichen Sprachgebrauch der Zeit der Verfasser an (Akkommodation). Die gängige Argumentation historischer Exegese, dass es sich bei den biblischen Texten um eine Offenbarung Gottes im menschlichen Wort handle, das von daher wie jedes andere menschliche Wort auszulegen ist, bedient sich auch einer Form von Akkomodationstheorie. Dabei wird die Argumentationsrichtung dann umgekehrt: Weil Gottes Geist sich den Begebenheiten der Zeit anpasst, kann man auch kritisch mit den Texten umgehen. Dabei wird dann allerdings der Geist schnell zu einem bloßen Supperaditum, und darüber, wie das Verstehen der biblischen Texte durch die Gegenwart des Geistes im Verstehen dieser Texte qualifiziert ist, wird hier nicht mehr nachgedacht. In der altprotestantischen Lehre von der Verbalinspiration geschieht genau das.

Die Rede von der Inspiration scheint die Texte auf einer anderen Ebene zu qualifizieren als auf der unmittelbaren Ebene der Auslegung. Weder geht es hier um eine Begründung der Schrift als dem Prinzip der Theologie, noch um eine historische Unfehlbarkeit der Texte. Dass die Texte der verschiedenen biblischen Autoren sich in Stil und Redeweise sehr stark voneinander unterscheiden, hindert Quenstedt nicht daran, zu behaupten, dass jedes einzelne Wort inspiriert ist.266 Gleichwohl also die situative Verfasserschaft der einzelnen Schriften im Blick ist, soll sie auf die Einheit der Schrift im Heiligen Geist hin überstiegen werden. Dadurch aber wird der Text letztlich vom menschlichen Autor und seiner historischen Situation gelöst, zumindest insofern er als Text der Heiligen Schrift im Blick ist. So gilt selbst die Rede des Paulus in 1 Kor 7,10, die sich explizit als menschliche Rede gibt, als inspirierte Rede,267 weil Inspiration etwas anderes meint als die Unter264 I, III/1, n13. 265 I, IV/2, q IV, FS I: „quod vero has & non alias phrases, has & non alias voces, vel aequipollentes adhibuerunt Scriptores sacri, hoc unice ab instinctu & inspiratione divina est“ (Hervorhebung im Original). 266 I, IV/2, q IV; FS V: „Magna est inter sacros Scriptores, quoad stylum & genus dicendi, diversitas ut supra dictum, quae ex eo esse videtur, quia Spiritus S. accomodavit se ordinario dicendi modo, unicuique suum sermonis genus relinquens; propterea tamen non negandum, Spiritum S. ipsa verba in individuo ipsis inspirasse.“ 267 I, IV/2, q IV, FS IIX.

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scheidung von menschlicher und göttlicher Rede. Es entsteht hier eine Art von Autonomie des Textes gegenüber den menschlichen Verfassern gerade dadurch, dass der Heilige Geist als Verfasser und Interpret dieser Heiligen Schriften in den Blick kommt. So kann es sogar als nebensächlich gelten, ob Matthäus oder jemand anders unter diesem Namen das Matthäusevangelium verfasste, wenn nur das innere Zeugnis des Heiligen Geistes zum Text hinzutritt und den Glauben weckt.268 Auch wenn Quenstedt sich nicht dazu durchringen kann, die Möglichkeit eines nichtapostolischen Verfassers in den Blick zu nehmen, ist hier doch deutlich der Weg hin zu einer Autonomie des Textes vom menschlichen Autor eingeschlagen.269 Dementsprechend tritt die historische Persönlichkeit der apostolischen Verfasser hinter ihrer Funktion als Träger des Apostolats zurück. Die Verfasser gelten als inspiriert, nur insofern sie Apostel sind. Sie sind also nur qua Amt Verfasser der unfehlbaren Wahrheit im Geist, nicht in ihrer eigenen Person.270 Diese Unterscheidung in den menschlichen Verfassern enthistorisiert den Vorgang der Autorschaft. Das Amt ist nicht eine kontingente historische Persönlichkeit, sondern es ist ein auf das Heil der Menschheit hin ausgerichtetes Amt. So reflektiert sich selbst noch im Begriff des inspirierten Autors die Ausrichtung der Schrift auf das Heil. Noch einmal deutlich wird diese Autonomie des Textes gegenüber den menschlichen Verfassern in der Diskussion der Frage nach den Kriterien der Kanonizität: Entscheidend ist hier gerade nicht die menschliche Verfasserschaft, diese ist vielmehr oft ungeklärt, sondern die göttliche Autorität und damit die Inspiration der Schrift.271 Ein weiterer Aspekt tritt in den Blick, wenn wir Quenstedts Auseinandersetzung mit der katholischen Kritik in den Blick nehmen: Indem die katholische Theologie die Schrift einer der Schrift externen Auslegungsinstanz unterordnet, trenne sie die Sätze des Heiligen Geistes vom Buchstaben der Schrift und den Sinn der Worte von der äußeren Gestalt der Wor268 I, IV/2, q VIII, FS VII: „Distinctae sunt Quaestiones: An Evangelium Matthaei sit Canonicum, & an Evangelium Matthaei sit a Matthaeo scriptum. Prius pertinet ad fidem salvificam, posterius ad cognitionem historicam; Sive enim Philippus, sive Bartholomaeus illud scripserit Evangelium, quod sub Matthaei nomine legitur, nihil facit ad fidem salvificam. […], sed necesse est, ut accedat internum Spiritus S. testimonium.“ 269 Die Ablösung des Textes und seiner Bedeutung von der Autorintention spielt auch in der texttheoretischen Diskussion eine zentrale Rolle. Vgl. z.B. Ricœur, Der Text als Modell, 194: „Was der Text aussagt, zählt mehr als das, was der Autor damit auszusagen meinte.“ Vgl. außerdem Barthes, Das Rauschen der Sprache, 57–63; Frank, Das Sagbare, 130–140; Derrida, Semiologie, 68; Martens, Was ist ein Text?, 98. Zur Entstehung des Autorbegriffs unter den Bedingungen des Buchdrucks vgl. Cerquiglini, Textuäre Modernität. Daneben bleiben Modelle bestehen, die sich primär am Autorhandeln im Text orientieren (vgl. z.B. Bachtin, Das Problem des Textes; Stierle, Text als Handlung; Ehlich, Text). 270 I, IV/2, q V, Ekth. VI. 271 I, IV/2, q XXIII, st.c. II und Ekth. II.

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te.272 Es geht mit der Inspirationslehre also auch um den unaufhebbaren Zusammenhang von Textgestalt (materiale Scripturae) und Textgehalt (formale Scripturae), den wir bereits thematisiert haben. Weil der Sinn des Textes von seiner Funktion als Heilstext her als göttlicher, vom Heiligen Geist gegebener Sinn verstanden wird, bedeutet eine Ablösung des Sinns vom Text immer auch ein Auseinandernehmen von Geist und Text. Damit wäre der Text nicht mehr der Ort, an dem Gott uns heilvoll begegnet. Umgekehrt heißt dies, dass eine bloße Inspiration der Sache auf eine Inspiration auch der Textgestalt hin ausgedehnt werden muss, wenn der Zusammenhang von Text und Geist nicht aufgegeben werden soll. Von daher erscheint allerdings der ständige Bezug auf die inspirierten menschlichen Verfasser als überflüssig. Er erklärt sich nur von der Orientierung am aristotelischen Schema der vier Ursachen her, das es Quenstedt wohl nahe legte, den Sinn der Worte als die Intention des Verfassers (als causa efficiens des Textes) zu deuten. Der Text als sprachliche Äußerung wird im Rahmen des aristotelischen Sprachverständnisses als Ausdruck des Gedachten verstanden.273 Damit aber, dass nun Gott der Heilige Geist als Verfasser in den Blick kommt, wird der Textsinn auch als auf einen Zweck, eine bestimmte Funktion hin orientierter Sinn wahrgenommen. Der Sinn des Textes ist es, zum Heil zu führen, denn dazu hat Gott ihn intendiert. Durch diese theologische Konstruktion unterläuft Quenstedt gewissermaßen die realistische Semantik274 seiner Zeit, die den Textsinn auf den Autor und das, was er in seinem Geist intendierte, zurückzuführen müssen meinte. Das, was sich in dem Text ausdrückt, ist nicht mehr nur das vom Verfasser individuell intendierte, sondern ist die Wirklichkeit des Geistes. Die Intention des Autors wird so letztlich an der faktischen Heilswirksamkeit des gegebenen Wortes festgemacht, die als Wirksamkeit des Geistes durch den Text verstanden wird.275 Damit ist der Textsinn durch seinen Zweck bestimmt, und das Ver272 I, IV/2, q XIV, P, Ekth. IIX. 273 Vgl. Jung, Das Ganze der Heiligen Schrift, 109, der darauf hinweist, dass Calov und vor ihm Gerhard und Glass von dem Grundsatz „Verba sunt mentis su/mbola“ ausgingen. Wörter repräsentieren demnach also Gedachtes. Dieser Bedeutungsbegriff, der davon ausgeht, „daß die Sprache als Zeichensystem einer vorsprachlich gegebenen Welt nachträglich zugeordnet ist“ (Alexander, Hermeneutica generalis, 33) ist gängig für das aristotelische Sprachverständnis des 17. Jahrhunderts und geht auf Aristoteles, De interpretatione zurück (vgl. aaO., 31–34). 274 Zur Unterscheidung von realistischer und pragmatischer Semantik und ihrer Bedeutung für die Interpretation der reformatorischen Wort- und Sprachtheologie vgl. Illge, Gewissheit durch das Wort (Diss. Tübingen 2006). 275 Dieser Typ von Texttheorie lässt sich im gegenwärtigen texttheoretischen Diskurs nur bedingt einordnen. Weder der Autor, noch der Leser, aber auch nicht einfach die Strukturen des Textes machen den Text als Text aus, sondern seine Wirkung. Die größte Nähe zu diesem altlutherischen Textverständnis, das freilich keine allgemeine, sondern eine genuin theologische Texttheorie sein will, sehe ich in der Texttheorie Paul Ricœurs: Einen Text zu verstehen, heißt für ihn, dass der Text dem Leser eine neue Welt als „Ensemble der durch den Text eröffneten Bezüge“

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hältnis von Autor und Text wird daraus nur mittelbar erschlossen. Die Inspiration der Verfasser durch den Heiligen Geist ergibt sich also vor dem Hintergrund eines aristotelischen Sprachverständnisses aus der Wirksamkeit des Geistes im Text. Weil der Geist hier zum Heil wirkt und nach der von Quenstedt vorausgesetzten realistischen Semantik dieser Textsinn auf die Intention eines Autors zurückgeführt werden muss, kommt Gott als ursprünglicher Autor in den Blick, der sich der menschlichen Autoren bedient. Diese semantische Problematik wird noch deutlicher an der Begründung der Verbalinspiration aufgrund von 1 Kor 2,12f.276 Hier heißt es: „Die Wörter müssen von den Dingen, die durch die Wörter mitgeteilt werden, unterschieden werden.“277 Zwischen res und verba wird hier offensichtlich so unterschieden, dass sich die Wörter in bestimmter Weise auf die bezeichneten Sachverhalte beziehen. Dieses aristotelische Bild von Sprache, das Quenstedt hier fraglos voraussetzt, entspricht dem Sprachbild, das wir in Teil II dieser Arbeit von Wittgenstein her problematisiert haben. Aufschlussreich ist nun aber, dass Quenstedt diese Unterscheidung nur trifft, um sogleich festzustellen, dass wir beide, die Wörter und die durch die Wörter bezeichneten Sachverhalte, nämlich die Kenntnis der göttlichen Geheimnisse (notitia mysteriorum divinorum), durch den Heiligen Geist empfangen,278 die Unterscheidung für das Verstehen des inspirierten Textes also letztlich ohne Konsequenz ist: Sie kann faktisch ausgeblendet werden und die enge Zusammengehörigkeit von Sprache und mitgeteiltem Gehalt wird dadurch betont. Die Lehre von der Verbalinspiration birgt also in sich ein bisher nicht wahrgenommenes Potenzial zu einem Verständnis von Sprache, das über die realistische Semantik der Zeit Quenstedts hinausgeht. Der unauflösliche Zusammenhang von Textgehalt und Textgestalt kommt hier deutlich in den Blick. Die Unterscheidung zwischen Wörtern und durch die Wörter bezeichneter Sache wird zwar nicht aufgehoben (das macht auch Wittgenstein nicht), aber sie wird relativiert, nämlich auf eine Art pragmatischer Semantik hin, die den Text von seinem Zweck und seiner Wirksamkeit her versteht. Die von den Wörtern zu unterscheidende Sache ist bei Quenstedt ja die Weisheit Gottes als das, was „uns von Gott aus Gnade gegeben ist, nämlich Wundertaten Gottes, die durch Christus zuteil gewor(Ricœur, Der Text als Modell, 196) eröffnet. Berührungen gibt es natürlich auch zu den Theorien, die die pragmatische Dimension von Texten betonen (z.B. Stierle, Text als Handlung; Ehlich, Text, bes. 233; Hardmeier, Textwelten 1, 47–75 und Ders., Textwelten 2, 24–120). Diese Ansätze gehen allerdings alle vom Text als Autorhandlung aus. 276 I, IV/2, q IV, Beb. II. 277 I, IV/2, q IV, Beb. II, (1): „verba a rebus per verba communicatis distinguuntur“. Vgl. zum vorausgesetzten aristotelischen Sprachverständnis Anm. 273. 278 I, IV/2, q IV, Beb. II, (2).

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denen und im Evangelium dargebotenen Wohltaten.“279 Die Sache ist also das durch Christus zu Teil gewordene und durch das Evangelium verkündigte Heil und gerade diese Sache ist von der Textgestalt des Text gewordenen Gotteswortes nicht zu trennen: beides kommt vom Heiligen Geist. So wird hier also die Verbalinspiration wieder auf die Wirksamkeit des Schriftwortes hin orientiert. Ebenso aufschlussreich ist der Bezug auf 2 Tim 3,16, einen Vers aus dem locus classicus der altprotestantischen Schriftlehre.280 Im Kontext der Frage nach der sufficientia Scripturae wird 2 Tim 3,15–17 auf den Weisheitsbegriff hin ausgelegt: Die Schrift vermittelt die Weisheit zum Heil und das heißt, sie führt zum Heil. Dementsprechend wurde im didaktischen Teil der Zweck (der finis ultimus) der Schrift, nämlich das Heil aller Menschen, durch diesen Text begründet.281 Nun wird im Blick auf eben diese Stelle im Zusammenhang der Rede von der Inspiration betont, dass mit grafh/ hier der äußere formale Akt des Schreibens der Buchstaben im Blick ist. Nicht die Sache, über die geschrieben wird, sondern die Schrift selber ist im Blick. Quenstedt verweist dazu auf die Formulierung des biblischen Textes. Es heißt „Alle Schrift ist von Gott inspiriert“ und nicht „Alle Dinge (pa/nta) in der Schrift sind von Gott inspiriert“. Es ist also der Text in seiner äußeren Form, die der Materie des Textes ihre Gestalt gibt,282 der hier als Mitteilungsmittel zum Heil im Blick ist. Damit ist nicht nur eine Autonomie des Textes gegenüber den Verfassern des Textes denkbar (auch wenn Quenstedt hier wieder vom Akt des Schreibens durch den Verfasser ausgeht), sondern es ist explizit auch eine Autonomie des Textes gegenüber den Auslegern und Übersetzern des Textes im Blick:283 Weil der Text nur in dieser materialen Gestalt als Mitteilungsmedium des Geistes gilt, kann eine Übersetzung nicht als inspiriert gelten. So dient die Inspirationslehre also auch dazu, den Text gegenüber den Rezipienten vor einer Vereinnahmung zu schützen. Weil der Text aber durch die Lehre von der Inspiration gegenüber dem Leser autonom werden soll, muss die Inspiriertheit des ganzen Textes postuliert werden. Denn würde man sie nicht annehmen, so müsste man erst an jeder Stelle fragen, ob der Text inspiriert ist, müsste ihn also 279 AaO., (1): „illa, quae a Deo nobis ex gratia data sunt, sc. magnalia Dei, beneficia per Christum parta, & in Evangelio oblata“. 280 Vgl. I, IV/2, q X, Beb. II (vgl. dazu oben Abschnitt 1.1 c). 281 I, IV/1, nach Th. VII. 282 Wenn Quenstedt in I, IV/2, q IV, Beb. I davon spricht, es gehe bei „Schrift“ um das formale externum, so muss man in Erinnerung rufen, dass in I, IV/1, Th 5 die forma externa als die Form der äußeren Wortgestalt bestimmt wurde. Dementsprechend heißt es hier nun: „formale externum, seu actum externum scribendi“. Es geht um die äußere Form der Niederschrift. Sachlich geht es dabei also um die Genese des materiale Scripturae. 283 So kann Quenstedt in I, IV/2, q VIII, FS XXVIII die Inspiration der Schrift als Argument gegen die Vereinnahmung der Schrift durch die Kirche verwenden.

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der Auslegung des Lesers unterwerfen. Damit aber wäre die „Gewissheit und Stärke der Schrift“ aufs Spiel gesetzt, die Schrift könnte nicht mehr das feste Fundament des Glaubens sein, weil die Unterscheidung von Text und Leser aufgeweicht würde. Der Leser könnte an jeder Stelle die Inspiriertheit des Textes und damit den Zusammenhang von Geist und Text in Frage stellen.284 Damit würde der Text nicht mehr als Anrede Gottes an den Menschen wahrgenommen, sondern er würde wieder der menschlichen Interpretation unterworfen. So wid die Rede von der Inspiration der ganzen Schrift also als eine Regel des Schriftverstehens eingeführt, die den Text vor interpretatorischer Vereinnahmung schützen soll: „Lest die ganze Schrift als durch den Heiligen Geist inspiriertes Wort.“ Damit zeigt sich auch, welche Funktion die Rede von der wörtlichen Inspiration des Textes im Blick auf die Schrift als Prinzip der Theologie hat. Die Schrift ist Prinzip der Theologie ihrem Sinn nach. Dieser Sinn aber kann übersetzt und interpretiert werden, aus ihm können Schlussfolgerungen gezogen werden, ohne dass der Sinn dadurch aufgegeben würde.285 Der sensus des Textes ist also übersetzbar, nicht aber die Wortgestalt. Sie ist gegenüber jeder Interpretation des Textsinnes autonom. Zwar kann der Textsinn in einer Schlussfolgerung bewahrt bleiben, die ursprüngliche Textgestalt der Schrift geht aber verloren. Daher kann die Schlussfolgerung aus dem Text nicht mehr als wörtlich inspiriert gelten.286 So sichert die Inspirationslehre, gerade als Lehre von der Verbalinspiration, nicht nur die Autonomie des Textes gegenüber den menschlichen Verfassern der Texte, sondern vielmehr noch die Autonomie des Textes gegenüber den menschlichen Rezipienten. Dabei bleibt bei Quenstedt allerdings eine Unschärfe, weil die Autonomie gegenüber dem Rezipienten von ihm nur an dem materiale Scripturae, also der äußeren Textgestalt, festgemacht wird, aber gerade nicht am sensus Scripturae, der ja auch in den Schlussfolgerungen, die der Leser aus dem Text zieht, gewahrt sein kann. Wirkliche Autonomie des Textes gegenüber dem Rezipienten wird daraus nur, wenn allein die Einheit von formale und materiale Scripturae die Heilige Schrift charakterisiert. So läge es ja auch im Wesen der aristotelischen Zuordnung von materia und forma. Das formale für sich genommen, also der Sinn des Textes in anderer Gestalt, kann nicht Anspruch auf dieselbe Autorität wie die Heilige Schrift erheben. Dass gerade diese Betonung der Einheit von fomalem und materialem Aspekt der Schrift nicht durchgehalten wird und daher die Theologie mitunter den 284 Vgl. dazu I, IV/2, q III, FS VII. 285 Vgl. zur Zugehörigkeit des aus dem Text Geschlussfolgerten zum Textsinn I, III/1, n 13 und III/2, FS III. 286 Dieser Zusammenhang der Rede von der Inspiration und dem Begriff des sensus literalis wird uns im folgenden Abschnitt d) weiter beschäftigen.

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autoritativen Anspruch erheben kann, an Stelle der Heiligen Schrift zu sprechen, ist ein Grundproblem der Theologie Quenstedts, das uns noch beschäftigen wird. Dass diese Autonomie des Textes als theologische Autonomie entfaltet wird, das Gegenüber von Schriftwort und Leser also von dem Gegenüber von Text und Leser bei anderen Texten zu unterscheiden ist, ist das theologische Charakteristikum dieser Texttheorie. Der Text wird sowohl im Blick auf die menschlichen Verfasser als auch im Blick auf die menschlichen Leser als Text des Heiligen Geistes und als Anrede Gottes charakterisiert und dadurch menschlicher Verfügung entzogen. Nur so bleibt er als Text von der Auslegung des Textes, in der er als Gotteswort wirksam wird, unterscheidbar. Das aber ist theologisch notwendig, weil die Auslegung Gotteswort nur ist, insofern sie Auslegung dieses Textes ist, in dem das mündliche Gotteswort verschriftlicht und so der menschlichen Einflussnahme entzogen ist. Diese Stellung des Textes als Mittel der Kommunikation zwischen Gott und Mensch, als Mitteilungsmittel Gottes unabhängig von Verfassern und autonom gegenüber den ihn lesenden Menschen in und außerhalb der Kirche, wird durch die Lehre von der Verbalinspiration expliziert. Problematisch aber wird diese dort, wo sie diese funktionale Bestimmung des Textes in eine Ontotheologie der Textentstehung umdeutet.

d) Der sensus literalis juxta mentem Spiritus Sancti Hatten wir bisher das Verhältnis von Geist und Textgestalt im Blick, so müssen wir nun auch die pneumatologische Bestimmung der forma des Textes, nämlich seines Sinns in den Blick nehmen. Damit stellen wir uns der schon in Teil I virulent gewordenen Frage nach der Bestimmung des Literalsinns des biblischen Textes. Quenstedt behandelt dieses Thema in einer eigenen Frage. Was der Literalsinn eines Textes ist, war also offensichtlich schon zu Zeiten der lutherischen Orthodoxie alles andere als klar. Im Blick auf die heutige Problematik des Begriffs287 interessiert hier vor allem, wie ein pneumatologischer Textsinn gedacht wird, der nicht ein Sinn des Textes hinter oder neben dem Literalsinn ist. Das heißt, es interessiert die Frage nach der Einheit des Literalsinns des biblischen Textes und die Frage, wie denn dieser Literalsinn erkannt werden kann. Frage XIII des Kapitels über die Heilige Schrift widmet sich zunächst dem Problem der Einheit des Literalsinns: „Ob ein einzelnes Wort der Bibel nur einen Literalsinn hat oder mehrere?“288 Die Antwort der These ist deut287 Siehe dazu oben Teil I, Abschnitt 2.1 e) und Abschnitt 3. 288 I, IV/2, q XIII: „An unius dicti Biblici unius tantum sit literalis sensus, an plures?“ (Hervorhebung im Original).

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lich: Es gibt nur einen Literalsinn, nämlich den, „der aus den Wörtern, seien sie eigentlich oder figürlich [verwendet], gemäß der Absicht des Heiligen Geistes, in Übereinstimmung mit dem Vorangehenden und dem Folgenden, und in Analogie zur ganzen Schrift zu erheben ist.“289 Der Literalsinn wird also pointiert pneumatologisch verstanden und ist der Literalsinn der ganzen Heiligen Schrift als dem Buch, durch das der Heilige Geist Glauben weckt. Vom Literalsinn kann man allerdings einen sensus mysticus unterscheiden, der aber nicht ein zweiter Textsinn neben dem Literalsinn ist, sondern nur die Anwendung des Literalsinns zur Bezeichnung einer anderen Sache.290 Der sensus mysticus betrifft die Anwendung der Schrift (usus Scripturae), die vielfältig sein kann,291 nicht aber das Verstehen des Literalsinns. Diesen zu verstehen ist aber die Voraussetzung für jede Anwendung, so dass der sensus mysticus vom sensus literalis abhängig ist.292 Als Sinn (sensus) eines Textes gilt ganz allgemein das, was die Wörter bezeichnen (significatur) oder zu verstehen anbieten (intelligendum offertur).293 Auffällig ist dabei, dass eine Autorenintention hier nicht im Blick ist: Es ist nicht die Absicht des Verfassers des Textes, die festlegt, was der Sinn des Textes ist, sondern das, was der Text zu verstehen anbietet. Damit ist der Sinn des Textes deutlich an die Rezeption des Textes gebunden.294 Für die Einheit des Literalsinns führt Quenstedt zwei Argumente an. Das erste Argument schöpft aus der Anwendung der aristotelischen Metaphysik auf den Textbegriff. Der Sinn des Textes ist dessen Formursache (causa formalis), gibt also dem Stoff (materia) sein Sein. Als solcher aber muss er ein eindeutiger Sinn sein, weil sonst der Text als Seiendes nicht eindeutig bestimmt wäre.295 Der zweite Grund ist, dass das Wort Gottes nach 2 Petr 1,19 289 I, IV/2, q XIII, Th: „Unius loci vel dicti Biblici unus tantum est genuinus sensus, literalis sc. qui ex verbis propriis, sive figuratis, juxta mentem Spiritus S. antecedentium & consequentium cohaerentiam, & totius Scripturae analogiam colligitur.“ 290 Ebd.: „Sensus vero, qui Mysticus dicitur, non tam peculiaris Scripturae sensus est, quam unius literalis sensus ad res alias significandas applicatio & accomodatio.“ Die Unterscheidung von sensus literalis und sensus mysticus wurde in der altlutherischen Theologie von Salomon Glass eingeführt, der in ihnen zwei unterschiedliche Textsinne sah. Die altprotestantische Theologie ist ihm darin nicht gefolgt, sondern hat den sensus mysticus meist so verstanden wie auch Quenstedt. Vgl. dazu Jung, Das Ganze der Heiligen Schrift, 68–72. 291 I, IV/2, q XIII, Ekth. III. 292 Zum sensus mysticus vgl. unten, 212f. 293 I, IV/2, q XIII, Ekth. II. 294 Vgl. Frank, Das Sagbare, 194: „Nicht die Schrift, wir sind für den Sinn verantwortlich“ (Hervorhebung im Original). Frank fasst damit eine verbreitete Position im texttheoretischen Diskurs zusammen. Zugleich kann er jedoch auch die Unterscheidung von Interpretation und Text betonen (vgl. aaO., 134). Das Ausloten der Dialektik von Autonomie des Textes und rezeptiver Konstitution von Sinn im Text ist ein Grundproblem der Texttheorie, das Quenstedt im Blick auf die Heilige Schrift durch das Ausgehen von der Wirksamkeit derselben bearbeitet. 295 I, IV/2, q XIII, Ekth. VIII und Beb. VII: „Ex Sensus & significationis natura; Sensus & significatio est verborum forma, & quasi anima. Sicut autem unius rei forma non est, nisi unica, ita

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gewisse und vergewissernde Grundlage des Glaubens ist. Das Wort Gottes aber begegnet uns nur durch das Wort der Schrift, das, wenn es einen mehrfachen Schriftsinn hätte, nicht gewisse Glaubensgrundlage sein könnte.296 Der Verweis auf den Zweck der Schrift, nämlich uns das Heil mitzuteilen (unter Verweis auf 2 Tim 3,15 und Joh 20,31),297 und auf das Amt des Heiligen Geistes uns in die Wahrheit zu führen,298 kann nach dem bisher Ausgeführten nicht als davon abgelöste separate Begründung gelten, sondern es ist ein Aspekt der Begründung der Einheit des Literalsinns aus dem Charakter des Wortes der Schrift als vergewissernder Grundlage des Glaubens. Soll die Schrift uns zum Heil führen, so muss sie eindeutig sein. Diese Wirksamkeit der Schrift zum Heil aber ist die Wirksamkeit des durch die Schrift redenden Heiligen Geistes, so dass die Eindeutigkeit der Schrift, die in der notwendigen Gewissheit des Wortes gründet, eben auch als eine Eindeutigkeit durch den Heiligen Geist gedacht wird. So erklärt sich die pneumatologische Ausrichtung der Rede vom sensus literalis letztlich von der pneumatologischen Explikation der efficacia Scripturae her. Die Rede von der Eindeutigkeit des Literalsinns und die Rede von der Klarheit der Schrift entsprechen sich so in ihrer soteriologisch-pneumatologischen Begründung.299 Der Textsinn muss klar und eindeutig sein, da durch diesen Textsinn Gott die Menschen zum Heil führen will. Dies aber geschieht durch die Wirksamkeit des Geistes in diesem Text. Daher ist die Eindeutigkeit des Textsinns an die Absicht des Heiligen Geistes mit diesem Text zurückgebunden, so dass Quenstedt von dem sensus literalis iuxta mentem Spiritus Sancti redet. Das „iuxta mentem Spiritus Sancti“ ist also nicht unbedingt im Sinne einer Autorschaft des Heiligen Geistes zu verstehen, die einer menschlichen Autorschaft analog gedacht ist, sondern es ist auch und wesentlich im Sinne der Funktion des Textes als Mittel (medium) des Heiligen Geistes zu verstehen. Diese Formulierung ist ganz auf die Absicht (intentio) des Heiligen Geistes mit diesem Text hin orientiert. Durch diesen Text will der Heilige Geist Glauben schaffen, das ist die intentio auctoris des Heiligen Geistes. Die Rede von der intentio auctoris bedient sich zwar der sprachlichen Analogie der intentio autoris bei menschlichen Verfassern, ist von dieser aber in ihrer Bedeutung grundlegend zu unterscheiden, weil sie einen anderen Verwendungskontext und damit eine andere Grammatik quoque unius dicti Biblici, non nisi unicus sensus.“ Vgl. auch Beb. VI: „Ubi multi sunt sensus, ibi nullus est sensus“ (Hervorhebung im Original). 296 I, IV/2, q XIII, Beb. I: „Si enim plures in enunciatis divinis reperirentur sensus literales, immediate in illis contenti, essent enunciata ista multiplicia, ambigua, fallacia“. 297 I, IV/2, q XIII, Beb. III. 298 I, IV/2, q XIII, Beb. V. 299 Dementsprechend führt Quenstedt als Begründung für die Einheit des Literalsinns auch die Lehre von der perspicuitas Scripturae an (I, IV/2, q XIII, Beb. II).

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hat. Diesen Verwendungskontext haben wir versucht anhand der Texte Quenstedts zu rekonstruieren. Auf einen Punkt gebracht, der die bisherigen Ausführen andeutungsweise zusammenfasst, ließe sich dieser Kontext so beschreiben: Die Rede von der intentio Spiritus Sancti auctoris Sacrae Scripturae steht im Kontext einer Erneuerung des Lebens aus den Heiligen Texten und damit im Kontext einer christlichen Lese- und Lebenspraxis und hat nur in diesem Kontext Sinn, nicht abgelöst von diesem Kontext als eine metaphysische Aussage über die Beschaffenheit des Textes in sich. Freilich besteht hier bei Quenstedt eine Spannung, weil er immer wieder dazu tendiert, die Rede von der intentio auctoris des Heiligen Geistes in ein metaphysisches Attribut zu verwandeln. Der Verweis auf Gott als den Autor der Heiligen Schrift, der die Menschen nicht täuscht, als Begründung für die Eindeutigkeit des Literalsinns ist ebenfalls im Zeichen dieser Spannung zu verstehen.300 Es zeigt sich hier zum einen deutlich, dass Quenstedt implizit das aristotelische causae-Schema anwendet. Die forma, der Textsinn, wird im Blick auf den finis Scripturae und im Blick auf die causa efficiens Scripturae reflektiert.301 Zum anderen aber reicht der bloße Verweis auf den unfehlbaren Gott als Autor charakteristischer Weise nicht aus, sondern Quenstedt reflektiert Gott als Autor und causa principalis des Textes auf den Zweck des Textes hin. Das geschieht hier indirekt, wenn von der providentia Dei geredet wird, die dafür Sorge trägt, dass alle verstehen, was Gott redet.302 Direkter wird die Autorschaft Gottes via negationis im Verhältnis zum Menschen betrachtet: „Gott täuscht die Menschen nicht.“ Mit dieser Aussage wird eigentlich nur die Gewissheit des Gotteswortes als der Grundlage des Glaubens auf Gott als Ursache und Autor des Wortes projiziert. Diese Gewissheit des Gotteswortes aber ist sprachlogisch in der Wirksamkeit dieses Wortes als Lernkontext der Glaubensrede verankert.

Weil die Schrift in dieser Lesepraxis vor allem als Mittel zum Heil in den Blick kommt, tritt das Interesse an den historischen Unterscheidungen zurück. Nicht die einzelnen Bücher des Alten und Neuen Testaments in ihrem jeweiligen Kontext interessieren Quenstedt, sondern die ganze Heilige Schrift als Heilsmittel (medium salutis) des Heiligen Geistes. Der Literalsinn, nach dem Quenstedt hier fragt, ist dementsprechend der Literalsinn der ganzen Heiligen Schrift, nicht der historische Literalsinn eines ihrer Bücher. So kommt die ganze Schrift als Kontext eines Bibelwortes in den Blick und zum Verständnis des Literalsinns einer Bibelstelle gehört dementsprechend auch das Verständnis für die Einordnung des Schriftwortes in 300 I, IV/2, q XIII, Beb. IV: „Scriptura Deum autorem habet, Deus autem non est delusor hominum“. 301 Zu dieser Problematik bei Quenstedt vgl. oben in Abschnitt b), 193f. 302 I, IV/2, q XIII, Beb. IV: „Sed summa providentia carere fuco voluit ea, quae divina sunt, ut omnes intelligerent, quod ipse omnibus loquebatur, inquit Lactantius l. 6. Instit. Christ. Rel. c. 21“ (Hervorhebung im Original).

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den Kontext der gesamten Heiligen Schrift.303 Aus der Ausrichtung der Schrift auf das Heil aller Menschen, die sich als hermeneutische Regel aus der Feststellung der Heilswirksamkeit des Schriftwortes ergab, ergibt sich also, dass die Heilige Schrift als ein Text mit einem Literalsinn gelesen wird. Dieser einheitliche Text ist sie aber nur in diesem Kommunikationsvorgang zwischen Gott und Mensch, das heißt nur als Text des Heiligen Geistes. Daher ist der Begriff des sensus literalis der ganzen Schrift ein genuin pneumatologischer Textbegriff. Dieser Textsinn ist nicht ein Sinn jenseits des Textes, der uns etwa unvermittelt durch den Heiligen Geist mitgeteilt werden könnte, sondern es ist der Sinn des biblischen Textes und er kann nur aus diesem Text erhoben werden.304 Von diesem soteriologischpneumatologisch bestimmten Textsinn der ganzen Schrift reden wir, wenn wir vom Textsinn der Heiligen Schrift reden.

e) Die Auslegung des sensus literalis der Heiligen Schrift Die Frage nach der Auslegung des Literalsinns der Heiligen Schrift beschäftigte uns bereits in dem Abschnitt über die Fähigkeit der Schrift zur Selbstauslegung. Bereits in diesem Zusammenhang stellten wir fest, dass von der Lernsituation des Glaubens aus dem Wort der Schrift her ein objektives Verstehen des Textes der Heiligen Schrift nur ein solches Verstehen ist, das in der Bitte um die Gegenwart des Heiligen Geistes geschieht.305 Dies erweist sich nun vom pneumatologischen Textbegriff Quenstedts her als konsequent: Ein Verstehen des Literalsinns der Heiligen Schrift gibt es nur dort, wo der Heilige Geist durch den Text wirkt, weil nur dort dieser Textsinn der Bibel als Heiliger Schrift überhaupt gegeben ist. Das heißt aber, es gibt kein Verstehen des Literalsinns der ganzen Heiligen Schrift ohne den Beistand des Heiligen Geistes.306 Ohne den Beistand des Heiligen Geistes liest man diese Texte nur als einzelne Texte einer kontingenten Textsammlung, versteht also lediglich den sensus historicus, aber nicht den sensus literalis juxta mentem Spiritus Sancti, der der Sinn des einen auf das Heil aller Menschen ausgerichteten Kanons ist. Der Begriff vom Kanon der Heiligen Schrift ist also in der Tat ein dogmatischer Begriff,307 aber eben ein dogmatischer Begriff, der sich selber dem Wort der Heiligen Schrift ver303 So formuliert es schon die These: „[…] sensus literalis […] antecedentium & consequentium cohaerentiam, & totius Scripturae analogiam colligitur.“ (I, IV/2, q XIII, Th). Schon im Blick auf die sufficientia Scripturae galt, dass die Vollkommenheit der Heiligen Schrift die Vollkommenheit des ganzen Kanons und nicht der einzelnen Schriften ist (I, IV/2, q X, FS II). 304 I, IV/2, q XIII, Ekth. XVI. 305 Vgl. Abschnitt 1.2 b). 306 Vgl. I, IV/2, q XII, Ekth. XIII und q XIV, Dial. X. 307 So Jung, Das Ganze der Heiligen Schrift, 46, 223.

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dankt, nämlich dem anredenden Schriftwort, in dem der Heilige Geist Glauben wirkt. Daher ist eine Auslegung biblischer Texte im Kontext des soteriologisch-pneumatologisch bestimmten Kanons eine Auslegung der Schrift durch sich selbst. Das ist der Sinn der Formulierung, dass „die Schrift […], oder vielmehr der Heilige Geist, der in der Schrift und durch die Schrift redet, […] ihr eigener legitimer und unumschränkter Ausleger [ist].“308 Der pneumatologische Begriff des sensus literalis ist nun aber nicht nur insofern weiter, als er als Literalsinn der ganzen Schrift verstanden wird, sondern auch, insofern er das, was aus dem Text „per bonam consequentiam“ geschlossen wird, mit umfasst.309 Weil der Textgehalt (Sinn) und die Textgestalt (materia) voneinander unterschieden werden, kann der Sinn in bestimmter Weise auch von der Textgestalt gelöst werden. Der Sinn des Textes bleibt in dem erhalten, was aus dem Text gefolgert wird, denn die möglichen Schlussfolgerungen werden als im Text impliziert gedacht,310 so dass eine korrekte Interpretation des Textes auch Teil des Textsinns ist. Die Auslegung des Textes bringt sogar den in den Worten liegenden Textsinn überhaupt erst zur Wirkung.311 Der Begriff des Textsinns ist damit unabhängig von der menschlichen Autorenintention gedacht. Die Autonomie des Textes gegenüber der Interpretation wird auf der anderen Seite durch die Lehre von der wörtlichen Inspiration des Textes gewährleistet, die den Text in seiner materialen Gestalt als den ursprünglichen Ort des Textsinns kennzeichnet.312 Dieser (weit gefasste) Literalsinn der Heiligen Schrift ist das Prinzip der Theologie.313 Ein Fehler in der Schlussfolgerung aus dem Text darf dabei nicht dem Text angelastet werden. Die Irrlehre, die sich auf die biblischen Schriften beruft, kann in Wahrheit nicht als aus der Schrift abge308 I, IV/2, q XIV, Th: „Scriptura enim, vel potius Spiritus S. in Scriptura & per Scripturam loquens, est suipsius legitimus & a>nupeu/cunoj Interpres“ (Hervorhebung von M.C.). Vgl. dazu oben Abschnitt 1.2 b). Dies wird man gegenüber Jungs Interpretation von Calov betonen müssen (wobei ich hier natürlich zunächst einmal nur für Quenstedt sprechen kann), der schreibt, es sähe bei Calov nur so aus, als ob das Ausgehen von der ganzen Schrift von der Schrift herkommt (vgl. Jung, Das Ganze der Heiligen Schrift, 223). Aufschlussreich ist hingegen der Hinweis, dass die Altprotestanten das Ganze der Heiligen Schrift unter dem Terminus der regula fidei zur Auslegungsnorm erhoben, diesen Begriff damit also an die Schrift als heilswirksames Gotteswort zurückbanden (vgl. aaO., 46, 66, 116, 119f). Bei Quenstedt taucht der Begriff der regula fidei zwar auf, wird aber m.E. nicht näher bestimmt. Vermutlich kann man von einer ähnlichen Verwendung wie bei Calov ausgehen. 309 I, IV/2, q V, st.c. V, sowie q X, Ekth. VI und q XI, Beb. XVIII. 310 I, III/1, n 13. 311 I, IV/2, q XVI, FS I. 312 Dieses Verhältnis der Inspiration von Textsinn und Textgestalt zur Auslegung wird besonders in I, IV/2, q X, Ekth. V deutlich: „Legitimae enim consequentiae ex Scripturae erutae sunt Verbum Dei, quoad rem & sensum, licet non sint, quoad literam & sonum“ (Hervorhebung im Original). 313 I, III/1, n 13.

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leitet gelten, weil gilt: „Die Lüge ist nicht aus der Wahrheit.“ (1 Joh 1,21) Vielmehr wird hier der biblische Text zur Lüge gemacht.314 Von diesem Verständnis des sensus literalis her werden Ausführungen wie die folgende zum Verhältnis von eigentlichem und uneigentlichem Textsinn (sensus proprius und sensus figuratus) verständlich: Vom sensus proprius ist nur dort abzuweichen, wo dieser „absurd und Gottes unwürdig ist, sei es, weil er den Glaubensartikeln und den Geboten der Liebe offensichtlich und wahrlich zu wider läuft, oder weil er Dinge behauptet, die einen Widerspruch implizieren oder die dem Willen und der Wahrheit Gottes, wie sie aus anderen Schriftstellen gewisslich bekannt ist, widerstreiten.“315

Das, was auf den ersten Blick nach einer dogmatischen Vereinnahmung des Textes aussieht, erweist sich vor dem Hintergrund des Ausgeführten als konsequente Regel zur Auslegung des sensus literalis der ganzen Schrift. Weil der Textsinn nur einer sein kann, darf er in sich nicht widersprüchlich sein. Das, was also von seinem historischen Kontext her einander widerspricht, muss auf der Textebene des biblischen Kanons zusammengedacht werden können.316 Dabei zählt hier zum Textsinn eben auch das, was aus dem Text gefolgert wird und damit alle Glaubensartikel und die ganze Theologie, die Schlussfolgerungen aus der Schrift als dem Wort Gottes zieht.317 Das dogmatische System ist so die Explikation des soteriologischpneumatologisch bestimmten Textsinnes der Heiligen Schrift. Das führt freilich in die Gefahr, dass das theologische System zur Substitution des Textes der Heiligen Schrift wird, dass es den gleichen autoritativen Anspruch erhebt. Dass die altlutherische Dogmatik in bestimmten Fällen diesem Fehler verfällt, wird uns v.a. im Zusammenhang mit der Frage nach dem Theologiebegriff noch beschäftigen. Hier bleibt demgegenüber nur festzuhalten, dass dadurch die Bedeutung des Zusammenhangs von Textgestalt und Textgehalt aus dem Blick gerät, insofern die Rückbindung dessen, was aus der Schrift gefolgert wurde, an die konkrete Textgestalt der Heiligen Schrift übergangen wird. Das Vorgehen Quenstedts entspricht hier dem, was in der gegenwärtigen hermeneutischen Diskussion als Sachkritik bezeichnet wird, nur dass 314 I, IV/2, q V, Ekth. V. 315 I, IV/2, q XIII, Ekth. VII: „[…] sensum absurdum, & Deo indignum; sive, si in fidei articulos aut charitatis praecepta palam & vere incurrant, aut si asserant id, quod implicat contradictionem, vel quod cum voluntate & veritate Dei, ex aliis Scripturae dictis certo cognita, directe pugnat.“ 316 In I, IV/2, q V, FS XI wird dies mit der Autorschaft Gottes begründet. Bereits oben (196) habe ich dargelegt, dass diese Rede von der Autorschaft Gottes sich auf die Schrift als Heilsmittel in der Kommunikation zwischen Gott und Mensch hin interpretieren lässt. 317 I, III/1, n 3: „Conclusiones Theologicae nihil aliud sunt, quam Veritates fidei, quae eliciuntur & deducuntur e Verbo Dei“ (Hervorhebung im Original).

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Quenstedt nicht kritisch ausschließt, sondern den Textsinn über den eigentlichen Wortsinn hinaus auf den uneigentlichen figürlichen Textsinn erweitert. Wenn Quenstedt allerdings feststellt, dass man zwischen einer wahren Auslegung und einer wahren Auslegung des Textsinns unterscheiden muss,318 so zeigt dies, dass er auch die Gefahr sieht, dass aus dem wahren dogmatischen System etwas in einen Text eingetragen werden kann, das dort nicht Thema ist. Dann ist das, was in der Auslegung gesagt wird, zwar wahr, aber es ist keine Auslegung des Textes. Dies aber gilt es zu vermeiden. Vielmehr gilt: „Jeder ursprüngliche Sinn ist orthodox, aber nicht alles, was orthodox ist, ist ursprünglich.“319 Quenstedt achtet also (zumindest der hermeneutischen Theorie nach) sorgfältig darauf, dass alle Glaubensartikel aus dem Literalsinn der Heiligen Schrift abgeleitet werden, so dass das methodische Gefälle vom Text zur Auslegung als Gefälle vom äußeren Wort zum Glauben320 in der Praxis der Auslegung gewahrt bleibt. Die aus der faktischen, durch die Theologie nur zu bekennenden, Wirksamkeit der Schrift sich ergebende pneumatologisch-soteriologische Einheit des Schriftwortes nötigt nun dort, wo diese Einheit durch den eigentlichen Sinn des Testes (sensus proprius) nicht gewährleistet ist, über den sensus proprius hinauszugehen. Das geschieht zum einen, indem auf den sensus figuratus, den uneigentlichen Sinn der Wörter geachtet wird. Dabei gelten konsequenter Weise sowohl uneigentlicher als auch eigentlicher Textsinn als sensus literalis,321 denn das Übergehen zur figurativen Auslegung ist ja vom Kontext des Textes als Teil der Heiligen Schrift her notwendig. Vom eigentlichen Textsinn, so wurde es oben schon deutlich, ist nur dann abzuweichen, wenn es aus dem Kontext der ganzen Schrift notwendig ist. Das schließt allerdings auch Widersprüche zwischen einer im eigentlichen Sinne verstandenen Bibelstelle und dem aus der ganzen Schrift Gefolgerten ein. Neben die Unterscheidung von eigentlichem und uneigentlichem Textsinn als einer Unterscheidung im Begriff des Literalsinns, tritt die Unterscheidung des mystischen Textsinns als einer Unterscheidung vom Literalsinn eines Textes. Der Heilige Geist erleuchtet den Verstand auch zu einem Verstehen der Schrift, das über den sensus grammaticus & externus hinaus auf ein Verstehen des sensus mysticus des Textes zielt.322 Dieser sensus 318 I, IV/2, q XIII, FS VI. 319 Ebd.: „Omnis sensus genuinus est orthodoxus, sed non omnis orthodoxus est genuinus.“ 320 So formuliert Hermann, Schriftauslegung als Lebensvollzug, 194 im Blick auf Johann Gerhard. 321 I, IV/2, q XIII, Ekth. VI: „Uterque sensus est literalis, unde & uterque sc. Grammaticus & Rhetoricus, simplex & figuratus sensus, una defintione sensus literalis comprehenditur, cum non secus hic, ac ille, ex intentione dicentis colligatur.“ 322 I, IV/2, q XII, FS I.

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mysticus betrifft die Anwendung des Literalsinns der Schrift.323 Die Anwendung des sensus literalis im sensus mysticus geschieht so, dass die durch den Literalsinn bezeichnete Sache (res) selber wieder zum Zeichen wird, das auf anderes verweist, so wie z.B. bestimmte Ereignisse, von denen der Text des Alten Testaments berichtet, die Ankunft Christi vorabschatten (adumbrant).324 Dieser mystische Textsinn allerdings ist nicht eindeutig, so dass es unterschiedliche Anwendungen des Literalsinns in diesem Sinne geben kann.325 Auf den sensus mysticus bezieht Quenstedt auch die mittelalterliche Unterscheidung des vierfachen Schriftsinns („Literas gesta docet, quid credas, Allegoria: Moralis, quid agas: quo tendas, Anagogia“).326 Grundlegend gibt es für Quenstedt nur noch einen doppelten Schriftsinn, nämlichen den Literalsinn (sensus literalis) und den mystischen Sinn (sensus mysticus). Allegorischer, moralischer und anagogischer Schriftsinn sind Formen des mystischen Schriftsinns, wobei moralischer und anagogischer nur Spezialformen der Allegorie sind.327 Quenstedt schlägt zudem in Anschluss an Salomon Glass eine andere begriffliche Unterscheidung vor: typologischer, parabolischer und allegorischer Schriftsinn, wobei die Allegorie die ersten beiden mit umfasst.328

Eine wichtige Funktion kommt dieser Unterscheidung vor allem in der Auslegung des Neuen Testaments in seinem Umgang mit den alttestamentlichen Texten zu. Der Bezug auf einen über den sensus literalis hinausgehenden sensus mysticus erscheint ja zunächst als überflüssig. Es muss aber erklärt werden, wieso die typologische Auslegung alttestamentlicher Texte im Neuen Testament nicht darauf hinweist, dass das Alte Testament einen doppelten Literalsinn habe. So argumentiert Quenstedt, dass die Auslegung alttestamentlicher Stellen auf Christus hin, wie sie im Neuen Testament geschieht, lediglich eine Anwendung der alttestamentlichen Texte auf Christus hin ist, hier also der sensus mysticus der alttestamentlichen Texte auslegt werde.329 Dadurch kann der Literalsinn der alttestamentlichen Texte in ihrem eigenen Kontext gewahrt werden und zugleich aus dem Kontext des biblischen Kanons heraus argumentiert werden, dass die durch die Texte bezeichneten Sachverhalte auch auf die neutestamentliche Heilsbot323 I, IV/2, q XIII, Ekth. IX. 324 I, IV/2, q XIII, Ekth. V: „Sicut sensus literalis est is, quem primo verba significant, ita mysticus est, quem res per literalem sensum significatae adumbrant.“ Vgl. auch Ekth. IX: „Sensus enim proprie est, qui verbis significatur; Mysticus autem, quem vocant, sensus, non significatur proxime per verba, sed per rem, ipsis verbis significatam“. 325 I, IV/2, q XIII, Ekth. V. 326 I, IV/2, q XIII, Ekth. XII. 327 I, IV/2, q XIII, Ekth. XIII. 328 I, IV/2, q XIII, Ekth. XV: „typicum & parabolicum sub allegorico sensu, uti sub genere species fere contineri“ (Hervorhebung im Original). 329 Vgl. z.B. I, IV/2, q XIII, FS I, II, VII, XXI, XXIII, XXIV.

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schaft Christi zu beziehen sind. In diesen Fällen ist die mystische Auslegung des Textes vom sensus literalis her geboten, denn die alttestamentlichen Texte müssen als Texte der ganzen Heiligen Schrift auch im Zusammenhang mit ihrer Auslegung im Neuen Testament gelesen werden.330 Für die Theologie hat der sensus mysticus aber, insoweit er nicht in diesem Sinne Implikat des sensus literalis ist, keine Bedeutung,331 da „allein aus dem Literalsinn der Schrift solide und wirksame Argumente zur Begründung der Lehrsätze des Glaubens und zur Widerlegung der Irrtümer angeführt werden können.“332 f) Die Physiognomie des Schriftwortes und die Frage nach der ursprünglichen Gestalt der Heiligen Schrift Es zeigt sich also, dass in der Inspirationslehre Quenstedts eine doppelte Bewegung liegt: Zum einen wird durch die Inspiration der Textgestalt die Autonomie des Textes gegenüber menschlichem Autor und Interpreten gewahrt. Nur dieser Text in seiner genuinen Gestalt ist Ort des Textsinns, durch den Gott anredet. Der Textsinn kann sich allerdings auch von dieser Gestalt lösen und bleibt dabei in der Auslegung des Textes dennoch als göttlicher Sinn erhalten. So wirkt der Geist durch den Text nur dort, wo er ausgelegt wird und wo diese Auslegung eine Auslegung dieses Textes in seiner inspirierten Gestalt ist. Diese Argumentation lässt sich von den Ausführungen Wittgensteins über das Verstehen eines musikalischen Themas her präzisieren: Auch dort ging es ja um ein Verstehen, bei dem das Verstandene das zu Verstehende in seiner klanglichen Physiognomie nie ersetzen kann und so immer wieder auf das zu verstehende musikalische Thema zurückführen muss. Der beste Ausdruck des Verstehens eines musikalischen Themas ist die musikalische Umsetzung. Ähnlich wie wir bei Wittgenstein von der klanglichen Physiognomie redeten, können wir hier von einer Physiognomie des Textes reden. Sie ist wesentlicher Bestandteil des auszulegenden Textes, da in der Lernsituation des Glaubens es eben dieser Text in seiner eigentümlichen Textgestalt ist, durch den wir lernen, die Bibel als Heilige Schrift zu lesen. Dabei entspricht der Wirksamkeit der Schrift ein Verstehen des Textes, das nicht in erster Linie ein Verstehen des Textsinns ist. So gewinnt gerade die Textgestalt hier besonderes Gewicht. Wie man den Text liest, in welchen Zusammenhängen man ihn wie verwendet (z.B. im Gottesdienst), ist oft der 330 I, IV/2, q XIII, Ekth. XIIX. 331 I, IV/2, q XIII, Ekth. XI und XIIX. 332 I, IV/2, q XIII, Ekth. XIIX: „Ex solo sensu literali Scripturae ducuntur firma & efficacia argumenta, ad probanda fidei dogmata & errores refellendos“ (Hervorhebung im Original). Quenstedt fasst damit die Position scholastischer Theologie zusammen und sieht sich darin mit ihr einig.

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beste Ausdruck solch eines Verstehens dieses Textes. Zugleich ist aber der Gehalt dieses Textes auslegbar und daher in andere Text- und Sprachgestalten überführbar, ja er muss aus theologischen Gründen immer wieder aktualisiert und in andere Textgestalten überführt werden, weil der Text ja das Wort in unterschiedlichen Zeiten bewahren soll, so dass es verkündigt werden kann. Diese Auslegungen des biblischen Textes können aber den ursprünglichen Text mit seiner nur ihm eigentümlichen Physiognomie nicht ersetzen, sondern nur zu diesem Text als dem Lernort des Glaubens, an dem der Mensch Gott in heilvoller Weise begegnet, zurückführen. Solche Auslegungen müssen von daher Anleitungen sein, den biblischen Text als Heilige Schrift zu lesen. Das Verstehen der Bibel als Heiliger Schrift lässt sich also in einem Vergleich mit dem Verstehen von Musik plausibilisieren. Dadurch wird zum einen deutlich, dass dieses theologische Verstehen einen stark ästhetischen Akzent hat – es geht um ein praktisches Verstehen vor dem Verstehen des Inhaltes, um die Wahrnehmung der Textgestalt, z.B. in der Rezitation biblischer Texte, der Psalmodie, der Textmeditation – und zum anderen, dass die Rede von solch einem Verstehen als genuin theologischer Rede an bestimmte Aspekte der allgemeinen Rede von „verstehen“ in vergleichender Weise anknüpfen kann, es also nicht um ein vermeindlich autonomes „Sprachspiel“ der Theologie geht. Wenn man auf diese Weise von der Physiognomie des biblischen Textes redet, wird man allerdings auch die Frage aufwerfen müssen, auf welche Gestalt des biblischen Textes sich diese Überlegungen beziehen. Mit diesem Problem setzt Quenstedt sich gleich mehrfach anhand verschiedener Fragen auseinander. Angesichts der Tatsache, dass der für uns gewöhnlicher Weise prägende biblische Text eine deutsche Übersetzung ist, liegt die Frage nach der Sprache des Textes als Aspekt der Textphysiognomie nahe. Quenstedt stellt diese Frage zum einen als Frage nach dem griechischen und dem hebräischen Text als der ursprünglichen, einzig authentischen Textgestalt,333 die als solche nicht verderbt sein darf;334 zum anderen als Frage nach dem Sinn und der Möglichkeit von Übersetzungen dieser ursprünglichen Textgestalt.335 Zu beachten ist dabei, dass die Sprache für Quenstedt nicht zur materia ex qua zählt, sondern zur forma externa. Materia ex qua sind die Buchstaben, Silben etc. Auch die Textgestalt hat also forma und materia. Bei einer Übersetzung ändern sich beide. Unser Interpretationsansatz kommt hier insofern an seine Grenzen, als sich der Begriff der Textphysiognomie nicht mit den aristotelischen Distinktionen von forma und materia deckt. Zugleich liegt in dieser begrifflichen Verschiebung aber auch 333 I, IV/2, q XIX. 334 I, IV/2, q XVIII. 335 I, IV/2, q XXII.

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die Chance einer interpretatorischen Weiterführung der Überlegungen Quenstedts. In unserem Kontext, also im Kontext der evangelischen Kirche, ist der Text, an dem sich der Glaube des einzelnen Christen festmacht, meist die Übersetzung Martin Luthers.336 Von daher wäre es gemäß dem Ausgeführten sinnvoll, von dieser Textgestalt als maßgeblicher Textgestalt auszugehen, da sie die Lernsituation des Glaubens in unserer Situation prägt.337 Entgegen einem vielfach, wohl schon zu Zeiten Quenstedts verbreitetem Irrtum338 gilt nun aber die Übersetzung Luthers nicht als authentischer Text, sondern authentisch sind allein die Originaltexte: „Allein der hebräische (und an einigen Stellen in Daniel und Esra der aramäische) Text des Alten und der griechische des Neuen Testaments ist authentisch, und auf diesen müssen alle Übersetzungen der Bibel, so wie ein Bach zur Quelle, zurückzuführen, aus ihm zu erschließen und an ihm zu überprüfen und von dort her zu verbessern sein.“339 Damit macht bereits die These zu dieser Frage die Problematik deutlich, die Quenstedt dazu veranlasst, allein den historischen Originaltext als authentisch gelten zu lassen: Es braucht eine verbindliche Textgestalt, an der alle anderen Textgestalten sich messen lassen müssen. Hier aber eine der Übersetzungen des Originaltextes zur Norm zu erklären, hieße den Text, der von Anfang an als Richtschnur schon etabliert war, seiner Position zu entheben und einen beliebigen anderen Text willkürlich zur Norm zu erheben.340 Denn wie jede Interpretation ist auch die Übersetzung des biblischen Textes menschliches und damit fehlerhaftes Werk.341 Wären die jeweiligen Übersetzungen die normativen Texte, so gäbe es nicht mehr den einen normativen Text, sondern nur verschiedene Fassungen des einen Textes. Die Betonung der Bedeutung der Textgestalt für das Verste336 Das starke Festhalten an der Übersetzung Luthers im liturgischen Gebrauch erklärt sich v.a. daher. Wer biblische Texte auswendig kennt, kennt sie als evangelischer Christ in Deutschland fast immer in der Übersetzung Luthers. Diese Textgestalt hat unsere Wahrnehmung biblischer Texte geprägt wie keine andere. Erst in zweiter Linie spielt hier die kulturgeschichtliche Bedeutung dieser Übersetzung eine Rolle. 337 In diesem Sinne verstehe ich auch Mildenbergers Entscheidung, sich grundsätzlich an der Übersetzung Martin Luthers zu orientieren, solange sie korrekt ist (vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik I, 14). 338 I, IV/2, q XIX, FS VII. 339 I, IV/2, q XIX, Th: „Textus Hebraeus (paucis in Daniele & Esra intersertis Chaldaicis) Veteris, & Graecus Novi Testamenti, solus est authenticus, & ad hunc omnes Bibliorum Versiones, ut ad fontem rivuli, deduci, exigi, examinari & emendari debent.“ 340 So wird es besonders in der Kritik an der katholischen Position deutlich, die genau dies tat, indem sie die Vulgata zur normativen Übersetzung machte. Vgl. I, IV/2, q XIX, Beb. IV, bes. Beb IV.II.4: „Paucis; Vulgatam Versionem Latinam authentia in Concilio Tridentino donatam, pro authentica agnoscere non possumus […] 4. quia ne quidem apud Pontificios ante Concilium Tridentinum authentica fuit, nec per sanctionem ejus authentica fieri potuit“ (Hervorhebung im Original). 341 So formuliert in Blick auf Vulgata, Septuaginta und Syriaca in I, IV/2, q XIX, Beb. IV.

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hen der Schrift in der Rede von der Verbalinspiration würde damit aber ad absurdum geführt: Denn es geht dabei ja wesentlich um die Betonung der Kontinuität und Selbigkeit des Textes in der Verbindung von Textgehalt und Textgestalt. Aufschlussreich ist nun, dass Quenstedt von der Inspiration erst in der probatio der These spricht, also die Frage der Authentizität des Textes von der nach der Inspiration des Textes unterscheidet, so dass letztere erstere begründen kann.342 Dabei muss für Quenstedt nun freilich die Inspiration von der causa efficiens her in den Blick kommen, wenn durch sie begründet werden soll, dass allein die Texte inspiriert sind, die von den menschlichen Verfassern unter Anleitung des Geistes niedergeschrieben wurden. Die Authentizität des Textes als Ursprünglichkeit des Textes wird hier durch Inspiration als Ursprungsgeschehen begründet. An ihre Grenzen stößt das Ausgehen von diesem Bild von Inspiration jedoch schon dort, wo Quenstedt darlegen muss, dass nicht nur die Autographen, also die OriginalHandschriften der Verfasser, sondern auch die Apographen, also die Abschriften vom Original als authentisch zu gelten haben. Für die Apographen kann ja nicht mehr die besondere Verhältnisbestimmung von causa principalis und causa instrumentalis in Anspruch genommen werden, die Quenstedt für die ursprünglichen Verfasser konstruierte. So muss nun die Inspiration der Apographen aus der Inspiration der Autographen abgeleitet werden. Dabei ist deutlich, dass hier letztlich nicht die Verfasserschaft interessant ist, sondern die Selbigkeit der Textgestalt, so dass auch die Apographen als wörtlich inspiriert gelten können.343 Die Notwendigkeit sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen erklärt sich daher, dass die Autographen nicht mehr vorhanden sind, sondern nur noch Apographen. Wären also nur die Autographen inspiriert, so gäbe es keinen inspirierten und authentischen Text mehr, an dem die Übersetzungen der Schrift sich messen könnten. Deutlich setzt sich hier die Orientierung am faktisch Gegebenen durch: Die faktisch gegebene Schrift muss sich als Autorität des Glaubens begründen lassen. Es muss eine Kontinuität des Textes über die zeitliche Erstreckung des Wortes geben. Das aber geht nur vermittelt über die Apographen als inspirierte Texte, denn nur diese stehen zur Verifikation der Übersetzungen zur Verfügung und können so deren abgeleitete Autorität begründen. Die Betonung der Inspiration der originalsprachlichen Schriften erweist sich so als daraufhin orientiert, die gebene Gestalt des biblischen Kanons zu begründen. Die Betonung der Kontinuität zwischen Autogra342 I, IV/2, q XIX, Beb. I: „Quicuncque enim textus est ceo/pneustoj, sive immediate a Deo inspiratus, ille est authenticus“ (Hervorhebung im Original). 343 I, IV/2, q XIX, Ekth. II: „Quamvis enim ceopnoh\ & divina autoritas originaliter sit in ipsis autographis, eadem tamen etiam radicaliter est in apographis, fideliter ex illis transcriptis, ita ut non tantum sensus, sed & verba omnino sint eadem“ (Hervorhebung im Original).

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phen und Apographen gründet letztlich wieder in der Ausrichtung des Textes auf das Heil aller Menschen. Weil durch diesen Text Gott allen Menschen das Heil mitteilen will, muss dieser Text in seiner ihm eigenen Textgestalt auch alle Menschen in unterschiedlichen Zeiten erreichen. Dies lässt sich entweder als Handeln Gottes, als providentia Dei interpretieren,344 oder aber in der Rede von der providentia Dei reflektiert sich nur die Ausrichtung an der Situation des gegenwärtigen Glaubens, der vom gegebenen Text ausgehend danach zurückfragt, wie denn dieser Text als Heiliger Text vor dem Hintergrund seiner Textgeschichte zu verstehen ist und dies im Glauben als Handeln Gottes bekennt. Die Orientierung an der Heilswirksamkeit des Textes und der um dieser Heilswirksamkeit willen geforderten Kontinuität des Textes wird noch deutlicher in der Frage, warum es Übersetzungen der hebräischen und griechischen Originaltexte überhaupt geben muss und warum es sie geben darf. Weil das Wort der Schrift auf einen heilvollen Zweck hin ausgerichtet ist, muss es den Lesern aller Völker zu allen Zeiten verkündigt werden, so dass sie diesen Text verstehen können. Die ursprachlichen Originaltexte würde indess keiner verstehen, so dass sie übersetzt werden müssen. Die Übersetzungen der Schrift sind aber schon ein Schritt in der Auslegung des Textes, insofern sie die ursprüngliche Textgestalt verlassen, den sensus Scripturae aber beibehalten, durch den sie zum Glauben wirksam werden können.345 Im Unterschied zu einer bloßen Auslegung aber behalten sie auch die Wörter bei und gelten daher als Wort Gottes dem Sinn und dem Wort nach (quoad senus & verba), während die Apographa darüber hinaus auch die Gestalt der Worte beibehalten (ipsum idiomata).346 So ergibt sich die folgende Abstufung: Die Autographen sind unmittelbar auch der Textgestalt nach inspiriert, die Apographen sind in abgeleiteter Form auch der Textgestalt nach inspiriert, Übersetzungen sind dem Gehalt und dem Wort nach inspiriertes Wort Gottes, während Auslegungen der Schrift nur den sensus der Schrift beibehalten. Das heißt nun freilich, dass die Wirksamkeit des Textes in seiner ursprünglichen Gestalt eine Wirksamkeit ist, die die wenigsten Christen je unmittelbar betrifft, weil die ursprüngliche Textgestalt den wenigsten Menschen vertraut ist. De facto wirkt die Heilige Schrift durch ihren Gehalt auch in einer abgeleiteten Textgestalt. Allerdings wird auch diese abgeleitete Textgestalt von Quenstedt noch als genuine Textgestalt der Heiligen Schrift gekennzeichnet, indem er sie den Wörtern nach als Wort Gottes bezeichnet. Die Physiognomie des Schriftwortes ist also nicht klar umris344 I, IV/2, q XVII, Th. 345 Vgl. I, IV/2, q XXI, Ekth. VI: Die Wirksamkeit des Wortes wird dort ganz auf die res und den sensus Scripturae bezogen, die auch durch die Übersetzungen vermittelt werden. 346 I, IV/2, q XIX, Ekth. V.

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sen, der Begriff bleibt bewusst unscharf. In einem engeren Sinn, der sich von der Notwendigkeit der Eindeutigkeit des Schriftwortes her ergibt, ist die originale sprachliche Gestalt elementarer Bestandteil der Physiognomie der Heiligen Schrift, in einem weiteren Sinn, der sich von der Ausrichtung der Schrift auf das Heil her ergibt, ist die sprachliche Form kein Bestandteil der Physiognomie des Schriftwortes. Die eigentümliche Gestalt der Schrift bleibt in unbestimmter Weise auch in ihrer Übersetzung erhalten. Orientiert sich die Rede von der Inspiration also stärker an der Wirksamkeit des Schriftwortes zum Heil, so wird sie eher vom letzteren Verständnis ausgehen und so die Heilige Schrift in ihrer Textgestalt unabhängig von der sprachlichen Gestalt als inspiriert betrachten. Die Frage nach der Authentizität des Textes wäre dann von der Frage der Inspiration zu unterscheiden als Frage nach dem Maßstab einer jeden Übersetzung, wie es Quenstedt ja selber als Argument anbringt.347 g) Das theologische Problem der Authentizität des Urtextes – Die Kirche als Leserin der Schrift Dieser Weg, die Frage nach der Authentizität der Schrift nicht als theologische Frage, sondern primär als eine historische und philologische Frage zu behandeln, kann allerdings nicht wirklich befriedigen. Hier liegt m.E. nicht nur ein Desiderat der altlutherischen Theologie, die das Problem durch die protologischen Aspekte ihrer Inspirationslehre überdeckte, sondern auch ein Desiderat der gegenwärtigen theologischen Diskussion. Der Primat des Urtextes wird in evangelischer Theologie und kirchlicher Praxis unhinterfragt vorausgesetzt und gilt dabei nicht nur als philologisch relevant, sondern markiert einen theologisch relevanten Unterschied u.a. zur katholischen Konfession, die bei aller Anerkenntnis der philologischen und historischen Notwendigkeit auf den Urtext zurückzugehen, doch aus theologischen Gründen daran festhält, dass die Heilige Schrift zumindest im Zusammenhang mit den liturgischen Traditionen der katholischen Kirche gelesen werden muss.348 Wenn nun evangelische Theologie und Kirche demgegenüber darauf insistieren, dass allein der Urtext Grundlage theologischer und kirchlicher Entscheidungen sein kann, so werden sie dies doch auch theologisch begründen müssen. Wie aber könnte eine solche theologische Begründung aussehen, die dabei nicht in das Muster einer Inspirationslehre verfällt, die Inspiration in erster Linie als Ursprungsgeschehen begreift? 347 I, IV/2, q XIX, Beb. III. 348 Die historisch-philologische Notwendigkeit erkennt die Konstitution Dei Verbum des Zweiten Vatikanischen Konzils ja vorbehaltlos an (DH 4217f), kann aber zugleich doch aus theologischen Gründen die Auslegung an das Lehramt zurückbinden (DH 4219).

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Kern des Problems ist dabei die individualistische Zuspitzung des Heilsbegriffes. Quenstedts Ausführungen sind ja ganz auf den einzelnen Menschen, der die Schrift liest und durch sie zum Heil findet, konzentriert. Dies wird sich in den Ausführungen zur gratia applicatrix noch deutlicher zeigen als hier schon deutlich wurde.349 Die Beobachtung, dass die Schrift in ihrer Wirkung zwar nicht von der Kirche als Interpretationsgemeinschaft abhängig ist, wohl aber im Kontext dieser Interpretationsgemeinschaft in besonderer Weise als Heilige Schrift gelesen wird,350 gerät so letztlich doch wieder aus dem Blick. Dieses Verhältnis von Kirche und Schrift lässt sich m.E. gut durch die bereits in Teil I dieser Arbeit eingeführte Begrifflichkeit von externer und interner Autorität der Schrift bzw. von formalem und materialem Kanonbegriff bestimmen. Grundlegend ist die externe Autorität der Heiligen Schrift, die ihr durch ihre Wirksamkeit zum Heil zukommt. In diesem Sinne ist jede Schrift Teil des biblischen Kanons, die autoritativer, heilswirksamer Text ist, unabhängig davon, wer ihr menschlicher Autor ist.351 Die Entscheidung jedoch, ob eine Schrift Teil des Kanons ist, wird nicht von jedem einzelnen Christen immer wieder gefällt, denn damit würde die Schrift wieder der verstehenden Vernunft und dem entscheidenden Willen des Menschen untergeordnet, sondern diese Entscheidung wird durch die Rezeption des Kanons durch die Kirche als der Zeugin der Schrift formalisiert: Eine bestimmte Anzahl von Schriften gilt im Zeugnis der Kirche, also derjenigen Gemeinschaft der Glaubenden, die aus dem Wort der Heiligen Schrift leben, als kanonisch und autoritativ, weil sie sich als heilswirksame Schriften, als lebendiges Wort Gottes erwiesen haben. Deutlich wird damit, dass das Verstehen der Schrift als Heiliger Schrift nicht ein individueller Vorgang ist, sondern ein Verstehen, das sich in einer durch die Schrift selbst konstituierten Gemeinschaft von Glaubenden – eben der Kirche – vollzieht oder aber in diese Gemeinschaft hineinführt. In dieser Gemeinschaft bildet sich durch das Zeugnis des Heiligen Geistes in den Schriften ein Konsens über den Kanon, der dann wiederum, als formaler Kanon, tradiert wird. Bezogen auf diesen formalen Kanon gilt, dass die Kirche den Kanon liest und hervorbringt, indem sie von ihm Zeugnis ablegt. In diesen Kontext sind die von Quenstedt positiv bewerteten Auslegungstraditionen (traditiones hermeneuticae) der Kirche, die liturgischen und katechetischen Traditionen einzuordnen, die zu einem Lesen der Bibel als Heiliger Schrift anleiten.352 So wird in der Kirche die Bibel als interne Autorität, als Buch der Kirche tradiert, das aber so, dass eine Lesepraxis eingeübt wird, die lehrt 349 350 351 352

Zur gratia applicatrix vgl. unten Abschnitt 3.1. Vgl. oben Abschnitt 1.1 c). I, IV/2, q XXIII, Ekth. II. Vgl. dazu oben Abschnitt 1.1 c).

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diesen formalen Kanon, der interne Autorität ist, als anredendes Wort Gottes und damit als externe Autorität zu hören. Dort, wo die Bibel so als Heilige Schrift gelesen wird, erweist sich, dass der formale Kanon auch der materiale Kanon der Heiligen Schrift ist. Dieser Vorgang kann, insofern er dadurch nicht autoritativ abgeschlossen werden soll, auch mit Quenstedt als Handeln Gottes in der Vorsehung (providentia Dei) beschrieben werden, gerade weil die Ausbildung des Kanons als Autorität in Glaubensfragen elementarer Bestandteil des göttlichen Heilshandelns an den Menschen ist. Im Blick auf die Frage nach der genuinen Textgestalt der Heiligen Schrift ist dabei v.a. aufschlussreich, dass die Kirche hier als primäres Lesesubjekt im Blick ist. Sie liest als sich über die Zeiten erstreckende Gemeinschaft der Gläubigen die Bibel als Heilige Schrift. Für diese Kirche, die nicht in einer festen Sprache und Zeit verankert ist, bleibt die originalsprachliche Textgestalt (Hebräisch, Aramäisch, Griechisch) die genuine, authentische Textgestalt des formalen Kanons der Heiligen Schrift. In dieser Gestalt hörte die Kirche sie ursprünglich als Wort Gottes und hat sie durch ihr Zeugnis anerkannt. In dieser Gestalt begegnet die Schrift der Kirche als Wort Gottes, als externer Autorität, in allen Zeiten als dieselbe Heilige Schrift. Allein an der ursprachlichen Gestalt der Schrift haben sich Lehre, Bekenntnis und Verkündigung der Heiligen Schrift in der Kirche zu orientieren. Die Kirche legt von dieser Schrift als Wort Gottes dadurch Zeugnis ab, dass sie diese Schrift in verschiedene Sprachen übersetzt und so ermöglicht, dass sich dieser formale Kanon als materialer Kanon der Heiligen Schrift für jeden Menschen erweisen kann. So lässt sich die Betonung der Authentizität allein der originalsprachlichen Texte Alten und Neuen Testaments auch von daher verstehen, dass hier die Kirche als Rezipientin des Kanons im Blick ist. Dann nämlich löst sich das Problem der vorausgesetzten Kenntnis der Originalsprachen insofern, als auch Quenstedt für diejenigen, die für die Lehre der Kirche einstehen, eine Kenntnis dieser Sprachen gerade fordert. Die Kirche muss sich in Kontinuität zur Urkirche und zur Alten Kirche als Kirche begreifen, die aus den originalen biblischen Texten lebt und durch die Übersetzung eben jener Texte bereits ihrer Aufgabe der Verkündigung dieser Texte an ihre Zeit nachkommt. Damit zeigt sich auch, dass die Bedeutung der ursprachlichen Gestalt der biblischen Texte wesentlich auch in der Kontinuität der Textgestalt liegt. Der ursprachliche Text bleibt „jenseits“ aller Zeiten in allen Zeiten der gleiche und identische Referenzpunkt jeglicher Übersetzung und garantiert so die Kontinuität der Wirksamkeit der Schrift.353 353 Zwar ist klar, dass der uns vorliegende ursprachliche Text nur textkritische Rekonstruktion eines möglichen ursprachlichen Textes ist. Aber schon allein dises Rekonstruktion wäre ja nicht mehr sinnvoll, würde man sich von der Ausrichtung am ursprünglichen Text verabschieden.

Theologische Texttheorie

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Die Inspiration des Textes bezieht sich dann nicht auf die Lernsituation des Glaubens des Einzelnen, sondern auch auf die Lernsituation des Glaubens der Kirche. Lebt der Glaube des einzelnen Christen meist aus dem Sinn des übersetzten Textes, so der Glaube der Kirche aus der originalen Textgestalt, die so im Blick auf die Kirche als inspiriert gelten kann, weil die Kirche aus dieser orignialsprachlichen Textgestalt hervorgeht. Maßstab der kirchlichen Lehre bleibt der Originaltext. Die Übersetzungen sind selber schon Mittel der Verkündigung der Kirche aufgrund des Originaltextes, die in einem weiteren Sinne des Wortes dieselbe Textgestalt haben wie der Originaltext und in diesem Sinne ebenfalls als verbal inspiriert gelten können. Damit wird freilich die Rede von der Verbalinspiration auch gegenüber Quenstedt insoweit neu bestimmt, als dass die Rede von der Inspiration (nicht die vom Verstehen der Bibel als Heiliger Schrift!) die Rezeption der ursprachlichen Texte in der Kirche zur Voraussetzung hat. Dies deckt sich mit den Beobachtungen zur Bedeutung der Physiognomie von Sprache für das Verstehen von Sprache. Die Vertrautheit der Wortgestalt gehört ja gerade nicht in die Lernsituation von Sprache, sondern ist Resultat eines längeren Lernprozesses, der sich an dieser Wortgestalt orientiert.354 Das Befolgen der Regel als Praxis ergibt sich ja erst durch das Lernen. Ein solcher Lernprozess aber geschieht im Kontext von Gebräuchen und Institutionen einer Gemeinschaft. Bezogen auf den Lernprozess, die Bibel als Heilige Schrift zu lesen, vollzieht sich dieser Lernprozess innerhalb des Kontextes der Glaubens- und Lesegemeinschaft der Kirche. So sehr also die Kirche nicht die Schrift hervorbringt, sondern nur ihre besondere Wirksamkeit bezeugt und damit einen formalen Kanon ausbildet, so sehr ist doch die Rede von der Inspiration des Urtextes eine Rede, die nur innerhalb dieser Lese- und Glaubensgemeinschaft Kirche einen Sinn hat, weil sie aus der langen, viele Generationen überdauernden Praxis der Einübung in das Lesen der Schrift resultiert. Damit ist aber zugleich auch klar, dass die Rede von der Inspiration nicht als Begründung für die externe Autorität der Heiligen Schrift angeführt werden kann, sondern nur der internen Autorität der Schrift zuzuordnen ist. Wer also außerhalb der Kirche die Schrift liest und über dieses Lesen der Schrift glaubend versteht, der wird erst im Kontext der Kirche als der Gemeinschaft der Gläubigen durch die fortwährende Lesepraxis der Kirche lernen von einer Inspiration des Textes und damit von diesem Text als Heiliger Schrift zu reden. Er kann sich, sosehr er auch aufgrund des Textes der Heiligen Schrift glaubt, nicht eine private Sprache des Glaubens ausbilden. Diese Verhältnisbestimmung jedoch gerät bei Quenstedt aus dem Blick. Inspiration gilt bei ihm als Kennzeichen der äußeren Autorität der Schrift 354 Vgl. Teil II, 3 c).

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Die Wirksamkeit der Schrift

im Gegenüber zur Kirche. Dies lässt sich dann in der Tat nur durch eine Inspirationslehre entfalten, die Inspiration als Ursprungsgeschen versteht. Dann aber erstarrt die Rede von der Verbalinspiration und es drängen sich alle möglichen Detailfragen auf, wie z.B. die, ob auch wirklich alles am Text inspiriert ist, also auch die Vokalzeichen und jede einzelne Silbe.355

1.4 Erwartungen an die Praxis der Schriftauslegung Zur Praxis der Hermeneutik Folgt man den Ausführungen des Kapitels über die Heilige Schrift, so wird man zunächst erwarten, dass Quenstedts praktische Hermeneutik, also die Anwendung der hermeneutischen Theorie der Schriftlehre in der Auslegung biblischer Texte im Zusammenhang dogmatischer Erörterungen, die biblischen Texte jeweils im gesamtkanonischen Kontext in den Blick nimmt. Weil dieser gesamtkanonische Kontext jedoch nicht ontologisch, sondern sprachpragmatisch in der Wirksamkeit der Schrift begründet ist, wird die praktische Hermeneutik den jeweiligen Zusammenhang unterschiedlicher biblischer Texte auch pragmatisch begründen müssen. Die Einheit des biblischen Textes und damit das Zusammenspiel unterschiedlicher biblischer Texte konstituiert sich ja in der einen Wirksamkeit der Schrift zum Heil des Menschen. Wo also unterschiedliche Bibeltexte aufeinander bezogen werden, müsste dies so geschehen, dass die jeweiligen Texte in ihrer Heilsbedeutung pragmatisch, also z.B. durch eine bestimmte Lesepraxis miteinander verknüpft sind.356 Als Beispiel nenne ich die christologische Auslegung der Psalmen. Soll sie nicht dogmatische Vereinnahmung des Alten Testamentes sein, so muss sie sich aus der Praxis des Psalmengebets im christlichen Gottesdienst oder auch der monastischen Psalmodie begründen. Letztere bietet durch die Zusammenstellung von neutestamentlichem Kehrvers und alttestamentlichem Psalm ein interessantes Beispiel liturgisch vollzogener biblischer Theologie. Damit ist zugleich impliziert, dass jeder Text in der Auslegung auch auf das soteriologische Zentrum des Glaubens und der Dogmatik zu beziehen ist, insofern die Pragmatik des Textes die Hinführung zum Heil ist. Auf der anderen Seite ist die dogmatische Auslegung damit starken Schwankungen unterworfen, insofern sich die Praxis verändern kann. Diese Veränderung der Praxis aber geschieht nicht willkürlich, sondern es ist gerade die Aufgabe der theologischen Reflexion, diese Veränderungen der Praxis im Be355 Vgl. z.B. Quenstedt, Disputatio theolgica, Sectio II, § 20. 356 Als Beispiel verweise ich hier auf die Ausführungen zu Childs, der Spannungen im Text des biblischen Kanons ausgleichen will, indem er nach den unterschiedlichen Funktionen von biblischen Texten für die Praxis der die Schrift lesenden Gemeinde fragt. Vgl. dazu oben Teil I, 2.1 c).

Zur Praxis der Hermeneutik

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wusstsein für die Wirksamkeit des Wortes in diesen Praktiken geschehen zu lassen. Daher wird die dogmatische Schriftauslegung auch die Konsistenz und theologische Legitimität der jeweiligen Praktiken der Schriftlesung prüfen müssen. Oberstes Kriterium dieser Überprüfung ist, ob die Externität der ganzen Schrift als Heilswort in ihnen gewahrt ist. So spricht z.B. einiges gegen die Praxis, einzelne Bibelverse losgelöst von ihrem Kontext zu verwenden und sie z.B. zu Leitversen für einen Tag oder besondere Ereignisse zu erheben. Damit wird die Kontextualität der biblischen Texte, die ja in der Rede von der Einheit der Schrift kulminiert, unterlaufen. Sie werden ihrem textlichen Kontext entrissen und losgelöst von diesem in einen neuen Kontext hinein versetzt. Zwar können sie in ihrem neuen Kontext durchaus eine Heilspragmatik entwickeln, jedoch ist dies problematisch, wenn sie aus dem Gesamtkontext der Schrift herausgelöst wird. Wo also einzelne Bibelverse so verwendet werden (z.B. in den Herrnhuter Losungen, bei Tauf-, Konfirmations- oder Trausprüchen), da ist sehr darauf zu achten, dass der Zusammenhang mit dem biblischen Kontext gewahrt bleibt.357 Dann freilich bieten diese Praktiken auch eine gute Chance, biblische Texte im Leben zur Wirkung zu bringen, gerade wenn diese Verse Menschen in Umbrüchen des Lebens begleiten und auf Gott hin ausrichten.

So bewegt sich eine dogmatische Schriftauslegung zwischen Deskription und Normativität. Darin, dass sie das Wirksamwerden der Schrift in bestimmten Praxisvollzügen analysiert und beschreibt, verweist sie auf das, was eigentlich theologisch normierend ist, nämlich eben das wirksame Wort der Schrift, und kann so die Praxis wiederum korrigieren und kritisch begleiten. Diese Bewegung zwischen Deskription und kritischer Reflexion wäre der hermeneutische Grundzug einer praktischen Hermeneutik, die sich an dem orientiert, was Quenstedt in dem Kapitel De Sacra Scriptura darlegt. Das Problem nur ist, dass Quenstedt selber sich in der Praxis seiner Schriftauslegung nur sehr rudimentär auf diesem Weg bewegt. Dies soll uns nun im folgenden Abschnitt beschäftigen.

2. Beobachtungen zur Praxis der dogmatischen Schriftauslegung Die Praxis der Schriftauslegung bei Quenstedt Das, was im ersten Abschnitt dieses Teils zur Schriftlehre und der darin implizierten hermeneutischen Praxis bei Quenstedt ausgeführt wurde, muss sich nun auch in der Analyse der angewandten Hermeneutik bewähren. Dabei orientiert sich diese Arbeit bewusst an der dogmatischen Gestalt dieser Schriftauslegung und geht nicht auf unmittelbar exegetische Texte Quenstedts ein, wie z.B. seine Disputationen zum Kolosserbrief.358 Ergebnis 357 Vgl. zu dieser Problematik Mildenberger, Biblische Dogmatik I, 64f. 358 Vgl. Quenstedt, Disputationes Exegeticae in Epistolae S. Pauli ad Colossenses.

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Die Praxis der Schriftauslegung bei Quenstedt

der theoretischen Hermeneutik Quenstedts ist ja, dass gerade die dogmatische Reflexion eine Reflexion der Wirksamkeit des Wortes der Heiligen Schrift ist. Insofern ist es von besonderem Interesse, wie denn nun in dieser dogmatischen Reflexion das Schriftwort selber zur Geltung kommt. Bevor wir uns also der Frage nach der dogmatischen Konkretisierung der Wirksamkeit der Schrift in Abschnitt 3 widmen, fragen wir nach den Konsequenzen der theoretischen Hermeneutik und ihres Ausgangs von der efficacia Scripturae für den theologischen Schriftgebrauch. Das Interesse gilt dabei v.a. der kanonischen Dimension dieser Auslegungspraxis, also der Frage nach den innerkanonischen Zusammenhängen verschiedener Texte in der Begründung dogmatischer Thesen.

2.1 Sedes doctrinae und „Textcluster“ Sedes doctrinae Ein erster Überblick über die verwendeten Schriftstellen359 zeigt, dass alle biblischen Bücher recht gleichmäßig verwendet werden. Der Text von Quenstedts Theologia ist mit Bibelstellenangaben reichlich durchsetzt. Ein genauerer Blick jedoch zeigt schnell, dass unter der Vielzahl der verwendeten Bibelstellen jeweils einige eine besondere argumentative Last tragen, teilweise werden sie von Quenstedt gezielt als „sedes doctrinae“ o.ä. bezeichnet. Explizit als sedes doctrinae werden z.B. folgende Texte von Quenstedt benannt: – Jer 31,31f und Hebr 8,8 als altestamentliche und Gal 4,22 als neutestamentliche sedes doctrinae für den Vergleich von Altem und Neuem Testement.360 – Gen 1,26 als sedes doctrinae für die Lehre von der Gottebenbildlichkeit.361 – Ps 51,7 als alttestamentliche und Röm 5 bzw. 7 als neutestamentliche sedes doctrinae für die Lehre von der Erbsünde.362 – Eph 4,1–4 als sedes doctrinae der Prädestinationslehre.363

In diesen Texten hat die jeweils behandelte Lehre (doctrina) ihren bzw. der jeweils behandelte Glaubensartikel (articulus fidei) seinen eigentlichen Sitz (sedes),364 die Schöpfungslehre z.B. in Gen 1f und Joh 1,365 die Rechtferti359 Möglich ist dieser Überblick sowohl aufgrund des Schriftstellenindexes am Schluss jedes Bandes als auch durch einen dem Verfasser zugänglichen Karteikartenkatalog über die Verwendung von Bibelstellen in Quenstedts Theologia, den em. Prof. Dr. Friedrich Mildenberger (Erlangen) angefertigt hat. 360 IV, VII/1, Th LIII und LIV. 361 II, I/2, q VI, Beb. II.(III). 362 II, II/2, Th XXIX, nota I und II (zu Ps 51,7 und Röm 5), sowie aaO., q XII, Beb. I (zu Röm 7). 363 III, II/1, Th I. 364 Vgl. dazu im Abschnitt über die articuli fidei I, V/1, Th I, nota V, sowie oben in Abschnitt 1.2 b). 365 Vgl. I, V/1, Th I, nota V.

Sedes doctrinae

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gungslehre z.B. in Röm 3,24f; 4,5; Gal 2,16 etc.366 Andere Texte, die sich ebenfalls mit dem behandelten Thema befassen, müssen von diesen sedes doctrinae her gelesen werden.367 Dabei kommen die kurzen Textabschnitte, die als sedes doctrinae gelten, jeweils in ihrem textlichen Zusammenhang in den Blick und werden meistens recht ausführlich philologisch, häufig auch unter begrenzter Einbeziehung historischer368 Fragestellungen interpretiert. Die Interpretation geht dabei auch unmittelbar in theologische Fragestellungen über und dehnt den Kontext eines Textes auf das Ganze der Heiligen Schrift hin aus, so dass der Text im Kontext mit anderen biblischen Texten gelesen wird. So stützt sich die Begründung einer dogmatischen These in der Regel nicht auf einen einzelnen Text, sondern auf ein Cluster von verschiedenen Texten.369 Diese Texte spielen ihre zentrale Rolle jeweils dort, wo eine dogmatische These begründet wird, also in der so genannten Bebai/wsij, der probatio. Diese hat ihren Ort in der Regel im polemischen Teil (also der Sectio Secunda eines Kapitels), wird aber häufig auch in den darstellenden, didaktischen Teil (Sectio Prima) gezogen, so dass dann bei der entsprechenden Frage in der Sectio Secunda nur noch auf die Begründung der These im ersten Teil des Kapitels verwiesen wird. In dieser Begründung (man könnte es auch dem griechischen Wort angemessener als „Bekräftigung“ oder „Vergewisserung“ der These übersetzen)370 führt Quenstedt in erster Linie Auslegungen von Bibeltexten an, daneben auch Argumente ex ratione, die aber in der Regel auch auf Bibelstellen aufbauen (denn die Vernunft ist theologisch ja nur als die unter der Schrift stehende Vernunft von Belang)371 oder unterstützt durch traditionelle Autoritäten, meist Kirchenväter. Die argumentative Hauptlast aber trägt die biblische Argumentation, also die Auslegung der sedes doctrinae. 366 Vgl. III, IIX/2, q VII, Beb. II und Dial. XIV. 367 So wird es z.B. besonders deutlich in IV, XIX/2, q II, Ekth. III formuliert: Die Frage nach der endzeitlichen Rettung Israels hat ihren eigentlichen Sitz in Röm 11,25f. Andere Bibelstellen haben gegenüber diesem Text kein eigenes Gewicht, sondern müssen von diesem Text her gelesen werden. Zur Auslegung von Röm 11 durch Quenstedt ließe sich dann freilich einiges Kritische anmerken, allein ist hier dafür nicht der rechte Ort. 368 Das kann natürlich nur im Rahmen dessen geschehen, was zur Zeit Quenstedts als historischer Arbeit überhaupt denkbar war und ist mit dem neuzeitlichen kritisch-(re)konstruktiven Historienbegriff nur bedingt kompatibel. 369 Der Begriff „Cluster“ verweist hier auf eine Gruppe von argumentativ miteinander vernetzten Texten, die sich gegenseitig auslegen. 370 In diesem Sinne wird das Wort bebai/wsij von Quenstedt zur Beschreibung der Glaubensgewissheit durch das innere Zeugnis des Heiligen Geistes (testimonium Spiritus S. internum) verwendet: III, IIX/2, IX, Beb. III. Bebai/wsij wird dort mit „confirmatio“ übersetzt. 371 Vgl. I, III/2, q, P II, Ekth. IX: Theologisch von Belang ist allein die ratio „Verbi divini orbem conclusam & castigatam“ (Hervorhebung im Original). AaO., Ekth X ist die Rede von der „ratio […] refrenata […] per Verbum Dei, & sub obsequium Christi restricta[…]“. In diesem Sinne wird man die Argumentation ex ratione verstehen müssen. Vgl. zum Vernunftbegriff Quenstedts: Baur, Die Vernunft.

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Ein gutes Beispiel dafür, wie Quenstedt unterschiedliche Bibelstellen auf ein Thema hin zusammenordnet und sie sich so gegenseitig auslegen lässt, ist seine Argumentation bezogen auf die Sünden wider den Heiligen Geist.372 Ausgangspunkt der Auslegung ist Mt 12,31f sowie die synoptischen Parallelen, also Jesu Aussage, dass die Sünde wider den Heiligen Geist nicht vergeben werden kann, wohl aber eine Sünde wider den Menschensohn.373 Neben diese Texte aus den Evangelien treten nun aber Hebr 6,4–6 und 10,26–28, sowie 1 Joh 5,16,374 obwohl diese Texte nicht von einer Sünde wider den Heiligen Geist reden. Weil Quenstedt diese Texte mit einbezieht und auf die Rede von der Sünde wider den Heiligen Geist hin deutet, gewinnt er eine ausreichend breite textliche Grundlage, um die Rede von der Sünde wider den Heiligen Geist interpretatorisch zu füllen. Wie aber gewinnt Quenstedt den Zusammenhang zwischen diesen Texten? Nicht einfach durch den Hinweis darauf, dass sie alle in der Heiligen Schrift stehen. Dass ist lediglich die grundlegende Voraussetzung, aber noch keine hinreichende Eingrenzung des Textmaterials. Es kommt zum Heranziehen der übrigen sedes doctrinae neben Mt 12,31f par durch den Vergleich von Sachzusammenhängen. So geht es z.B. in der Rede von der Sünde zum Tode in 1 Joh 5,16 um eine Sünde, die unweigerlich zum Tod führt. Die traditionelle, katholische Unterscheidung von Todsünde und lässlicher Sünde ist nach Quenstedts Auffassung eine Fehlinterpretation, insofern jede Sünde ihrer Natur nach eine Todsünde ist.375 Daher kann dies auch nicht die Pointe des Textes in 1 Joh 5,16 sein. Es geht hier um eine Sünde, die unmittelbar und unausweichlich zum geistlichen Tod führt. D.h. diese Sünde kann nicht vergeben werden und eben dies gilt von der Sünde wider den Heiligen Geist. Daher handelt es sich auch in 1 Joh 5,16 um diese Sünde wider den Heiligen Geist.376 Ähnlich argumentiert Quenstedt für die Rede von der Übertretung in Hebr 6,4–6: Es geht um eine Übertretung, deren Folge die letztendliche Unfähigkeit zu Buße und Umkehr ist. Das macht besonders der Zusammenhang mit Hebr 10,26– 28 deutlich (diese beiden Texte bilden also eine Art Sub-Cluster).377 Der Zusammenhang aller Texte ist also, dass sie alle von einer Sünde handeln, die keine Vergebung und keine Umkehr mehr zulässt. Diese Sünde bezeichnet Quenstedt mit den Evangelientexten als Sünde wider den Heiligen Geist. Durch die Zusammenstellung dieser Texte kann Quenstedt darlegen, dass diese Sünde wider den Heiligen Geist das Zurückweisen des Werkes (officium) des Heiligen Geistes meint, also die Ablehnung der Heilswirksamkeit des Heiligen Geistes in den Mitteln von Wort und Sakrament,378 und zwar durch einen Menschen, der bereits aus der Kraft dieser Mittel geglaubt hat und sich nun von diesen abwendet.379 Wer diese Mittel ablehnt, der hat keinen Zugang mehr zur Vergebung, weil diese nur durch diese Mittel mitgeteilt wird.380 Auffällig ist dabei nun im Vergleich zu den 372 373 374 375 376 377 378 379 380

II, II/1, Th XCI–CII. Vgl. aaO., Th XCV, nota I. Vgl. aaO., Th XCIV und Th XCV. Dazu vgl. auch aaO., Th LXXVI–XL und Sectio 2, q XIII. Vgl. aaO., Th XCIV, nota IV. Vgl. aaO., Th XCV. Vgl. aaO., Th XCVII. Vgl. aaO., Th XCVI. Vgl. aaO., Th XCV, obs. 4f zu Hebr 6,4–6 und obs. 1 zu Hebr. 10,26–28.

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Ausführungen der theoretischen Hermeneutik allerdings, dass der Zusammenhang der verschiedenen Texte nicht pragmatisch oder soteriologisch vermittelt wird, sondern durch inhaltliche Parallelen zwischen den Texten, die interpretatorisch aufeinander bezogen werden.

In einer e>kdikh/sij (am besten wörtlich als „Aussprache“ zu übersetzen) diskutiert Quenstedt dann Einwände der Gegner zu seiner Auslegung der Bibelstellen. Daran schließt sich die Widerlegung von allgemeinen Einwänden an, zu denen häufig auch von den Gegnern angeführte Schriftstellen gehören (Objectionum dialu/sij). Teils von dieser unterschieden, teils mit unter diesem Titel gefasst, fügt Quenstedt gelegentlich auch noch sogenannte Fontes Solutionum an. Darunter versteht er grundlegende Unterscheidungen (distinctiones) oder Begriffsdefinitionen, die Voraussetzungen für die Lösung der dargestellten Probleme sind. Die Unterscheidung von Fontes Solutionem und dialu/sij ist allerdings in der Durchführung bei Quenstedt nicht immer klar, meist wird dies beides unter einer Überschrift (also entweder Fontes Solutionem oder Dialysis) zusammen abgehandelt. Von Interesse für die praktische Hermeneutik ist hier vor allem das Gegenüber von die Auslegung stützenden Bibelstellen und Bibelstellen, die als Gegenargumente angeführt werden. Im äußersten Fall kommt es hier dazu, dass sich zwei unterschiedlich strukturierte Textcluster gegenüberstehen. Der Umgang mit den von den Gegnern angeführten Bibelstellen ist unterschiedlich. Meist versucht Quenstedt darzulegen, dass die Texte von den Gegnern in ihrem Sinn verdreht werden. Das gelingt auch häufig. Gelegentlich bezieht er sich dafür aber auch explizit darauf, dass die von den Gegnern angeführten Texte im Kontext der zuvor von Quenstedt als Grundlage der lutherischen, orthodoxen Position angeführten Bibelstellen interpretiert werden müssen. Als Beispiel für den Umgang mit solchen „Gegentexten“ führe ich hier den Umgang Quenstedts mit einem Einwand der Sozinianer gegen die christologische These, dass Christus selber Subjekt seiner Auferweckung sei, an. Quenstedt vertritt die These, dass Christus sowohl seiner göttlichen als auch seiner menschlichen Natur nach das Subjekt seiner Auferstehung ist. Der menschlichen Natur nach ist er es kraft der persönlichen Einheit der zwei Naturen in der Person des Logos, also nicht die menschliche Natur per se ist Subjekt der Auferstehung Christi, sondern Christi menschliche Natur kraft der Kommunikation mit der göttlichen Natur des Logos.381 Diese These mit ihrem durchaus nicht unproblematischen Gehalt interessiert uns hier nicht weiter, sondern von Interesse ist der Umgang mit Texten, die aussagen, dass Christus von Gott dem Vater von den Toten auferweckt wurde. Die Sozinianer führen hier Apg 3,13.15; Eph 1,17–20; Röm 4,24; 8,11; 2Kor 4,14 und 381 Vgl. Q III, III/III/2, q X, Th.

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Die Praxis der Schriftauslegung bei Quenstedt

Gal 1,1 an382 und kritisieren die von Quenstedt zur Begründung seiner These eingebrachten Schriftstellen. Es ist also eine Verbindung aus negativer und positiver Kritik. Quenstedt reagiert auf beides. Wenn nur aus einer Schriftstelle begründet werden könne, dass Christus selber in seiner Person Subjekt der Auferstehung sei, so sei dies für ein theologisches Argument hinreichend. Quenstedt hat aber gleich mehrere solche Texte angeführt, und diese sind nicht, wie seine Gegner behaupten, unklar, sondern sie sind klar und deutlich in ihrer Aussage.383 In Joh 2,19 wird „Tempel“ unmittelbar auf den Leib Christi hin ausgelegt, also ist die aktive Wiederaufrichtung des Tempels die aktive Auferweckung durch Christus selbst: „Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen will ich ihn aufrichten.“ (Joh 2,19)384 Eine figürliche Rede, aus der man theologisch keine Schlüsse ziehen könnte, ist dies deshalb nicht, weil die Auslegung unmittelbar folgt.385 Wenn Christus in Joh 10,18 sagt, dass er die Vollmacht habe sein Leben zu lassen, so bezieht sich dies auf sein Sterben. Die Vollmacht sich das Leben wieder zu nehmen, sei somit seine Vollmacht sich selber wieder lebendig zu machen, also sich selber aufzuerwecken. Daran, so Quenstedt, sei nichts unklar.386 Der grundlegende Fehler der Sozinianer aber sei es, hier einen Gegensatz zu konstruieren, der keiner ist, denn: „Dass Christus vom Vater auferweckt wurde, und dass Christus sich selber auferweckt, widerspricht sich nicht. Die Schrift nämlich, die sich selber nicht widersprechen kann, behauptet beides.“387 Die von den Gegnern angeführten Schriftstellen werden also in ihrer Bedeutung anerkannt, sie müssen aber mit jenen zusammen gelesen werden, die Christus als das Subjekt seiner eigenen Auferstehung thematisieren. Die Spannung zwischen den verschiedenen Texten wird hier durch mehrere theologische „Regeln“ zu einem Ausgleich gebracht. Die wichtigste ist eine trinitarische Sprachregelung, nämlich diejenige, dass das Wirken der Trinität nach außen unteilbar ist (opera Trinitatis ad extra sunt indivisa). Die Auferstehung Christi ist ein solches opus ad extra und wird so von Vater, Sohn und Hl. Geist vollbracht.388 Es gilt daher beides: Christus wird vom Vater auferweckt und er erweckt sich selber auf, denn die Vollmacht des Vaters, Christus aufzuerwecken, ist von der Vollmacht des Sohnes nicht unterschieden.389 Diese trinitarische Sprachregel verschränkt sich hier mit der christologischen Zweinaturenlehre: Weil Jesus Christus

382 Vgl. aaO., Dial. I. Der Text nennt Eph 1,17.19, von der Auferstehung ist aber erst in V 20 die Rede, daher ist also anzunehmen, dass Eph 1,17–20 gemeint ist. Des Weiteren wird 1 Thess 1,1 genannt, das aber keinen Bezug zur Auferstehung Christi aufweist und daher hier ausgelassen wurde. 383 Vgl. AaO., Ekdik. I: „Satis est, si vel unum locum in ipsis S. Literis invenerimus, sive sententiam unam, ex qua aperte colligatur […] Plurima loca Scripturae pro nostra sententia adduximus in bebaiw/s[ei], eaque non obscura sed clarissima.“ 384 Vgl. aaO., Beb. II.I und Ekdik. I. 385 AaO., Ekdik. I: „Locum Joh II,19. non esse prorsus figuratum (ut Sociniani volunt) quia figurae explicatio illico in eodem contextu statim subjungitur a Spiritu S. unde sensus eruitur quam certissimus.“ 386 Vgl. aaO., Beb. I.III, II.II und Ekdik. I. 387 AaO., Ekdik. I: „A Patre resuscitatum esse Christum, & Christum seipsum suscitasse, non pugnant. Utrumque enim Scriptura, quae sibi ipsi contraria esse nequit, affirmat.“ 388 Vgl. aaO., Beb. I.IV. 389 Vgl. aaO., Dial. I.

Sedes doctrinae

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selber Gott ist, darum ist er als Gott auch Subjekt seiner Auferstehung.390 Problematisch ist dabei nun aber, dass der Ausgleich zwischen den Texten allein durch einen dogmatischen Lehrtopos geschieht, ohne jeden Bezug auf die Pragmatik der Texte im Glauben. Die Rede davon, dass Christus sich selber von den Toten auferweckt hat, bleibt bloße metaphysische Spekulation, die Frage nach der Relevanz für die Glaubenspraxis, also danach, in welche praktischen Kontexte des Glaubens diese Rede und damit die entsprechenden Bibelstellen gehören, wird nicht gestellt. Ein zweites Beispiel ist der Umgang mit dem Verweis auf Ez 18 als Gegenargument zur altprotestantischen Satisfaktionslehre. Der Tod Christi wird von Quenstedt als stellvertretender Tod für unsere Sünden verstanden. Mit seinem Tod leistet er Gott gegenüber Genugtuung (satisfactio) für unsere Sünden und nimmt sowohl unsere Schuld als auch unsere Strafe auf sich.391 Zur Begründung dieser These legt Quenstedt zahlreich biblische Texte aus, die er auch aufeinander bezieht, so dass sie ein Textcluster bilden (Mt 20,28 und 1 Tim 2,6; Jes 53,4f; Ps 69,5; 2 Kor 5,14 etc.). Diesen Texten stellen wiederum die Sozinianer Ez 18 gegenüber: Dieser Text lehrt sehr deutlich, dass Gott nicht die Sünden einer Person auf eine andere übertragen will. Quenstedt stimmt dieser Beobachtung zu, zieht aber vor dem Hintergrund der von ihm als Begründung seiner These angeführten biblischen Texte eine andere Konsequenz als die Sozinianer, die die Satisfaktionslehre u.a. mit Verweis auf diesen Text ablehnen: „Es heißt bei Ezechiel an der zitierten Stelle, dass niemand die Sünde eines anderen tragen soll, und dennoch heißt es auch, dass Gott alle unsere Sünden in Christus zu Fall gebracht hat (irruere fecerit) (Jes 53,6), und dass Christus die Sünde der ganzen Welt trägt (Joh 1,29). Es heißt weiterhin, dass dem Gottlosen seine Gottlosigkeit auferlegt wird (Ez l.c.), es heißt aber auch, dass der Gerechte für den Ungerechten (1 Petr 3,18), einer für alle gestorben ist. Und dies muss man miteinander versöhnen, nicht gegeneinander ausspielen.“392 Der von den Gegnern angeführte Text, wird also in das Textcluster, das Quenstedts These begründet, integriert und von diesem her interpretiert. Um Ez 18 im Kontext dieser Texte verständlich zu machen, wird unterschieden zwischen der gewöhnlichen Ordnung des Gesetzes, um die es Ezechiel geht, und dem außerordentlichen Erlass, den Gott in Christus gewährt. Für diesen gilt jene Regel nicht.393 Auch in diesem Beispiel blendet Quenstedt die Pragmatik der Texte aus. Besonders deutlich wird dabei das Ausblenden des zeitlichen Horizonts: Ez 18 spricht ja in eine bestimmte Zeit hinein, nämlich eine Zeit vor dem Kommen Christi (Zeit ist hier also im gefüllten Sinne und nicht im historisch-linearen Sinne verstanden). Diese zeitliche Dimension ontologisiert Quenstedt, indem er das Gesetz des Alten Bundes als Beschreibung der ontologischen Ordnung der Welt auffasst, so dass die Vergebung nur noch als Ausnahme vom Gesetz gelten kann.

390 Vgl. aaO., Beb. I.I. 391 Vgl. I, III/II/2, q VI, Th und aaO., Sectio 1, Th XXXIII und XXXIV. 392 I, III, III/II/2, q VI, Dial. V: „Dicitur quidem Ezech. l.c. neminem pro altero portaturum peccatum, & tamen etiam dicitur, quod Deus peccata omnium nostrum in Christum irruere fecerit, Esa.. LIII,6. & quod Christus totius mundi peccata portaverit, Joh. I,29. Dicitur quidem, quod impius impietatem suam sit laturus Ezech. l.c. sed & dicitur, quod justus pro injustis I. Petr. III,18. unus pro omnibus mortuus sit. Et haec concilianda sunt, non committenda.“ 393 Vgl. ebd.

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Das hermeneutische Verfahren, das in diesen Beispielen deutlich wird, kann man als dogmatisch-hermeneutischen Ausgleich innertextlicher Spannungen bezeichnen. Die Grundlage für diesen Ausgleich ist von der Schriftlehre und Texttheorie Quenstedts her klar formuliert: Der Literalsinn der biblischen Schriften ist der eine Literalsinn der ganzen Heiligen Schrift. Also müssen Texte, die in einer ersten Betrachtung in Spannung zueinander zu stehen scheinen, dennoch zu einem Sinn zusammengeführt werden können. Dies drückt sich in gelegentlich formulierten Bemerkungen der folgenden Art aus: „Die Schrift behauptet beides, also muss man beides glauben.“394 Dasselbe Argumentationsmuster kann auch dazu verwendet werden, um einen biblischen Text, der Grundlage eines Gegenarguments ist, anders zu deuten als die Gegner, indem der Text im Kontext der übrigen Texte gelesen wird. Da sich dieser einheitliche Literalsinn der ganzen Heiligen Schrift dogmatisch durch die Wirksamkeit des Geistes im Schriftwort zum Heil konstituiert, wäre es nun aber eigentlich zu erwarten, dass die Beziehung unterschiedlicher Texte aufeinander auch durch diese Heilswirksamkeit des Wortes im Geist vermittelt ist. Dies ist aber bezeichnender Weise nicht der Fall. Zwar wird die Schrift immer wieder auf das Heil der Glaubenden hin gelesen, das bedingt schon die ganze Anlage des dogmatischen Systems, das ganz auf das personenbezogene Heilsgeschehen hin konzentriert ist.395 Diese geistgewirkte Konstitution des Schriftganzen wird in der hermeneutischen Praxis jedoch nur noch vorausgesetzt, nicht aber mehr in der Auslegung selber nachvollzogen. Vorausgesetzt wird sie eben im Faktum des einheitlichen Literalsinns der ganzen Schrift, der zu einem Ausgleich von textlichen Spannung führt, vorausgesetzt ist sie auch in der gelegentlich auftauchenden Rede vom Heiligen Geist als dem Autor eines biblischen Textes.396 Der Ausgleich zwischen verschiedenen Textclustern und die Vernetzung unterschiedlicher Texte zu einem Textcluster geschieht bei Quenstedt dann aber auf einen bestimmten Lehrtopos, einen bestimmten Glaubensartikel hin, und nicht, wie es eigentlich zu erwarten ist, auf die Wirksamkeit des biblischen Wortes im Glauben hin. Kurz: Der Begriff der Einheit des biblischen Textes wird gegenüber dem dynamischen Begriff 394 So z.B. in III, III/II/2, q VI, Dial. XIV: „Scriptura utrumque affirmat Rom. V,10. Eph ergo utrumque credendum.“ In diesem Fall geht es um den Ausgleich zwischen Gott als Subjekt der Versöhnung und Christus als demjenigen, der vor Gott für uns Genugtuung (satisfactio) geleistet hat, um uns mit Gott zu versöhnen. Andere Stellen, an denen diese Argumentationsfigur des hermeneutischen Ausgleichs bemüht wird, sind z.B. II, II/1, Th LXI (der Ausgleich zwischen Joh 3,9 und 1 Joh 1,8 [vgl. aaO., Sectio II, q XII, Beb. IIX] – Sündlosigkeit und Sünde des Christen) oder IV, XIX/2, q VII, Dial. I und II. 395 Mehr dazu unten in Abschnitt 3. 396 Vgl. z.B. III, III/II/2, q VI, Ekdik. II. II,4.15.

Sedes doctrinae

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einer Einheit der Schrift in ihrer Wirksamkeit stark verkürzt. Einheit wird hier nur noch als inhaltliche Übereinstimmung begriffen. Damit stellt sich die grundlegende Frage nach der Verhältnisbestimmung und dem faktischen Verhältnis von theologischer Reflexion, Lehre, Glaubensvollzug und biblischem Text. Ein solcher Bezug auf die Wirksamkeit biblischer Texte in ihrem Zusammenhang ließe sich z.B. durch den Bezug auf den pragmatischen Kontext dieser Texte herstellen, also z.B. unter Verweis auf die Verwendung von unterschiedlichen Texten in der gottesdienstlichen Praxis. So würde es z.B. bei der dogmatischen Verwendung von Psalmtexten nahe liegen, die ja Gebetstexte sind. Die Psalmen werden aber ebenso wie andere Texte als dogmatische Aussagen gelesen397 und nicht auf diese pragmatische Gebetsdimension hin interpretiert, durch die sie z.B. in einem Zusammenhang stehen mit dem Gebet des Neuen Testamentes und des neuen Bundes schlechthin, dem Vater unser als Gebet Christi. Stattdessen wird eine christologische Interpretation in den meisten Fällen schlicht vorausgesetzt. Einzige Ausnahme ist hier der gelegentliche Hinweis auf die Verwendung alttestamentlicher Texte im Kontext des Neuen Testaments. Auch hier können wieder Psalmtexte als Beispiel dienen. Weil Ps 2 in Hebr 10,7 auf Christus hin ausgelegt wird, muss er als Gebet Christi gelesen werden.398 Weil der Hebräerbrief Melchisedek als Typus auf Christus hin darstellt, müssen auch die alttestamentlichen Texte in dieser Weise interpretiert werden.399 Doch dies ist allerhöchstens ein rudimentärer Ansatz für eine pneumatologische Interpretation des Literalsinns, denn er verbleibt im Kontext der Text gewordenen Pragmatik, also der Anwendung von biblischen, genauer alttestamentlichen Texten, die selber wieder Text geworden sind. Noch interessanter sind aber von der hermeneutischen Theorie Quenstedts her textpragmatische Bezüge, die über den Text hinaus in die Lebenswelt der Leser des Textes und so in die Wirksamkeit der Texte in dieser Lebenswirklichkeit hinein verweisen. Dieser Ansatz aber fehlt in der Praxis der dogmatischen Schriftauslegung, obwohl er in der hermeneutischen Theorie grundgelegt ist. Dass dieser Ansatz fehlt, ist ein grundlegendes Defizit der altlutherischen Dogmatik Quenstedts, denn ein Ausgleich von innertextlichen Spannungen findet nicht nur auf der Ebene der Begründung 397 So wird z.B. Ps 8 von Hebr 2,5 und 1 Kor 15,25 her als Text über die göttliche Würde der menschlichen Natur Christi gelesen (III, III/I/2, q XV, Beb. I). Ps 2,7 belegt die göttliche Zeugung des Sohnes aus dem Vater (I, IX/2, q VIII, Beb. und Ekdik. I). Insegsamt werden Psalmentexte überaus häufig als Belegtexte herangezogen, wohl auch deshalb, weil der Psalter Texte zu nahezu jedem theologischen Thema enthält. 398 Vgl. III, III/II/1, Th III, obs., Resp. 2. Ähnlich wird Ps 68 seinem Literalsinn nach auf Christus bezogen, weil er in Eph 4,8 so interpretiert wird (vgl. III, III/II/1, Th XII, nota I). 399 Vgl. III, III/II/1, Th XVII.

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chen Spannungen findet nicht nur auf der Ebene der Begründung einzelner Thesen statt, sondern solch ein Ausgleich kann auch durch komplexere dogmatische Lehrstücke geschehen, die sich dadurch biblisch legitimieren. Dies soll im Folgenden an einem prominenten Beispiel deutlich gemacht werden. 2.2 Die Trinitätslehre als dogmatisch-hermeneutischer Ausgleich von innertextlichen Spannungen der Heiligen Schrift Die hermeneutische Funktion der Trinitätslehre Schlussfolgerungen, die nach den Regeln der geltenden Logik korrekt aus biblischen Texten gezogen werden, sind selber Literalsinn der Schrift, auch wenn sie der textlichen Gestalt nach nicht Teil der Heiligen Schrift sind und daher immer von dieser her begründet werden müssen. Diesen Grundsatz, den wir oben400 bereits dargestellt haben, macht sich Quenstedt zunutze um komplexe dogmatische Theorien als schriftgemäß zu begründen, auch wenn sie dem Worte nach nicht in der Schrift vorkommen, wie auch explizit zugestanden wird. Dieses Ausziehen von Schlussfolgerungen aus dem Text verbindet sich dabei mit der Absicht, unterschiedliche Textkomplexe zu einem inhaltlichen Ausgleich miteinander zu bringen. So bauen ganze dogmatische Lehrtopoi auf diesem Prinzip des Ausgleichs von intratextuellen Spannungen in dem einen Text der ganzen Heiligen Schrift auf. Dies will ich hier am Beispiel der Trinitätslehre und ihrer Unterscheidung von Wesen und Person Gottes darstellen.401 Bei diesen Beispielen geht es mir allein um das hermeneutische Verfahren, also darum, wie der Glaubensartikel sich dadurch in der Schrift begründen lässt, dass er einen Ausgleich zwischen Texten der Heiligen Schrift schafft. Dabei ist nun allein die grundlegende Unterscheidung zwischen Wesen und Person Gottes im Blick, die zwar Grundunterscheidung der Trinitätslehre ist, die allein diese aber noch nicht ausmacht. Zu dieser Unterscheidung treten also noch zahlreiche andere hinzu, die teils in ähnlicher Weise einen Ausgleich zwischen Texten schaffen, sich teils aber auch unmittelbar aus diesen Texten ergeben, wenn man sie vor dem Hintergrund dieser Grundunterscheidung liest. Die Trinitätslehre wird also nicht explizit durch die Heilige Schrift gelehrt, aber sie widerspricht ihr auch nicht und fügt ihr sachlich nichts Neues hinzu.402 Der Sache nach (quoad rem) ist sie also in der Schrift enthalten, 400 S.o. Abschnitt 1.3 e). 401 Andere Lehrtopoi, die in ähnlicher Weise auf solch einem Ausgleich aufbauen, sind z.B. die Satisfaktionslehre in der Christologie, die auf dem Ausgleich von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes aufbaut, oder die Zweinaturenlehre in der Christologie. 402 I, IX/2, q I, Ekth. V und Dial. I.

Die hermeneutische Funktion der Trinitätslehre

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muss nur aus ihr gefolgert werden.403 Diese Folgerung geschieht durch das Prinzip des Ausgleiches intratextueller Spannungen. Die Trinitätslehre wird so zu einem Lehrtopos, der die Spannung zwischen biblischen Texten, die die Einheit Gottes betonen, und biblischen Texten, die die Unterscheidungen von Vater, Sohn und Hl. Geist betonen, zu einem Ausgleich bringt: „Die Einheit des göttlichen Wesens darf nicht in einen Gegensatz zur Dreizahl der Personen gesetzt werden, denn die Schrift behauptet beides, so dass man auch beides für heilig halten und glauben muss, ohne sich hier irgendeinen Gegensatz oder Widerspruch einzubilden. Wo es nämlich um verschiedene Bezüge geht, verschwindet der Widerspruch: Gott wird nämlich nicht in derselben Hinsicht (eodem respectu), sondern in unterschiedlichen Bezügen einmal als ein Gott und ein anderes mal als dreifaltig bezeichnet. Einer ist er in Bezug auf sein Wesen, dreifaltig ist er bezogen auf die Personen, einer ist er absolut, dreifaltig ist er in Relationen (relate).“404 Zweierlei kann man an dieser kurzen observatio Quenstedts verdeutlichen. Zum einen versteht Quenstedt die Trinitätslehre, zumindest auch, als den Ausgleich zwischen zwei Gruppen biblischer Texte, zum anderen wird diese Spannung zwischen den beiden Textclustern produktiv genutzt, indem aus ihr eine distinctio, eine Unterscheidung hervorgeht, die grundlegend für die Theologie i.e.S. ist, nämlich die Unterscheidung zwischen dem Wesen Gottes und den Hypostasen bzw. den Personen Gottes. Diese distinctio spiegelt die beiden Textgruppen wieder: Einer Textgruppe geht es um das Wesen Gottes, der anderen um die Personen Gottes. Diese Unterscheidung ist also ein Mittel sich den biblischen Text als einen Text mit einem Literalsinn zu erschließen, sie ist keine Unterscheidung, die von den einzelnen Texten her motiviert ist oder sich aus diesen ableiten ließe. In den Texten ist ja nicht die Rede von der Einheit des Wesens Gottes oder der Vielzahl der Personen bzw. Hypostasen in dem einem Wesen. Diese Begriffe verdanken sich diesen Texten vielmehr in dem Sinne, dass sie es erlauben, diese Texte zusammen als einen Text zu lesen. Deutlich wird hier, wie die Einheit des biblischen Kanons durch ein traditionelles Lehrstück konstituiert wird. Die Trinitätslehre wird hier zu einer traditio hermeneutica.

403 I, IX/2, q II, FS V (4): „Secundum Biblicam litteram & per firmam Verboque Dei prorsus conformem consequentiam confirmari potest, quod Unus Deus sint tres, nempe Pater, Verbum & Spiritus S. i.e. tres hypostases seu personae divinae“ (Hervorhebung im Original). 404 I, IX/2, q I, Dial. III: „Unitas essentiae non est opponenda Trinitati personarum, cum utramque scriptura asserat, utraque itaque sancte credenda, nec ulla hic fingenda a>ntilogi/a vel a>nti/fasij. Ubi enim diversus respectus, ibi exspirat contradictio: Atqui non eodem, sed diverso respectu Deus Unus & Trinus dicitur; Unus respectu ou>si/aj vel essentiae, Trinus respectu uVaH-niM HàWH:J TeAeM V^eAàW TJiR:Pàpotele/smata omnia simul & in instanti; Simul ac enim homo regeneratur & justificatur, eo ipso etiam Deo conjungitur & cum ipso unitur. Est tamen unum altero prius quoad nostrum concipiendi modum, ob diversa

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der Glaubenskonstitution thematisiert und systematisiert.471 Dies entspricht auch der Definition des Ordo-Begriffs in der Methodologia von Quenstedts Wittenberger Kollegen Abraham Calov: Ein ordo ist eine logische und nicht eine historische Abfolge, die als Anordnung verschiedener Themen lediglich einem pädagogischen Zweck dient.472 a) Das Verhältnis von Rechtfertigung und gratia Spiritus Sancti applicatrix Das thematische Zentrum dieses unter dem Titel der gratia applicatrix aufgestellten ordo sieht Johann Anselm Steiger zu Recht in der Kombination von Rechtfertigungsgeschehen und Hermeneutik.473 Dass das Rechtfertigungsgeschehen Zentrum der gratia applicatrix ist, scheint eine Konzentration auf den Artikel de justificatione zu verlangen. Damit jedoch wäre das Verhältnis von gratia Spiritus Sancti applicatrix und Rechtfertigung missverstanden, und die gelegentlich geäußerte Kritik, dass die Rechtfertigungslehre im ordo salutis zu einem Lehrstück neben anderen degradiert würde,474 käme voll zu ihrem Recht.475 Es gilt hier aber auf die inhaltliche Transformation des Rechtfertigungsbegriffs zu achten: Bei Luther beschreibt der Begriff der Rechtfertigung noch umfassend das ganze Geschehen des Übergangs von der Sünde zum Glauben und schließt den prozessualen Aspekt und auch die Erleuchtung als zentrale hermeneutische Kategorie in das Rechtfertigungsgeschehen mit ein.476 Melanchthon fasst dann aber zunächst connotata“ (Hervorhebung im Original). Weber legt dies, durchaus überzeugend, dahingehend aus, dass die mystische Einigung sich im gesamten Prozess der Heilszueignung durch den Heiligen Geist vollzieht: „[G]erade die paradoxe Fixierung des vierfach abgestuften Prozesses in einem Momente veranschaulicht die Energie des Bestrebens, eine Auseinanderreißung des einheitlichen Gnadenwirkens zu verhüten“ (Weber, Einfluß, 91). Vgl. auch Appold, Calov’s Doctrine, 112, Anm. 57. 471 Vgl. Schwöbel, God, 127: „The different concepts in which the doctrine of the ordo salutis is developed should therefore not primarily be interpreted as denoting a temporal sequence, but as signifying the structural elements of the constitution of faith.“ Vgl. auch Wagner, Bekehrung II/2, 463. 472 Vgl. Appold, Calov’s Doctrine, 101f. 473 Vgl. Steiger, ordo salutis, 372. Die These Steigers, dass die Einheit der Lehre von der gratia applicatrix (bzw. des ordo salutis) auch durch die Verwendung von immer wieder denselben Bibelstellen deutlich wird, lässt sich am Text Quenstedts allerdings nicht verifizieren. Im Gegenteil, die zur Begründung der jeweiligen Lehrstücke verwendeten Bibelstellen bilden jeweils eigenständige Textcluster, die sich kaum überschneiden. Lediglich Joh 15,4–7 kommt in mehreren Abschnitten eine konstitutive Rolle zu (nämlich in den Kapiteln „de voactione“, „de poenitentia & confessione“, „de unio mystica“ und „de renovatione“). 474 Vgl. z.B. Koch, ordo salutis, 57: „Denn sie [die Rechtfertigung] wird so nur zum Gliede eines der Heilsprinzipien, des ordo salutis.“ Ders. bezeichnet aaO., 37 die Rechtfertigung als Annex der Heilsordnung, weil ein innerer Zusammenhang fehle. Vgl. auch Ritschl, Dogmengeschichte IV, 230. 475 Bei Buddeus trifft diese Kritik dann auch durchaus: vgl. Baur, Salus Christiana, 113. 476 Vgl. dazu Appold, Calov’s Doctrine, 35.

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in seinen Loci477 und dann maßgeblich, weil lehrbildend in der Confessio Augustana,478 den Rechtfertigungsbegriff anders als Luther rein forensisch als imputatio iustitiae.479 In diesem Sinne nimmt die lutherische Orthodoxie den Rechtfertigungsbegriff auf, und so wird Rechtfertigung auch bei Quenstedt verstanden: Die Gerechtigkeit Christi wird uns angerechnet, unsere Sünde wird im Wechsel dafür Christus angerechnet,480 der mit seinem Tod am Kreuz Genugtuung (satisfactio) für unsere Schuld leistet und unsere Strafe an unser Statt auf sich nimmt.481 Diese geleistete Genugtuung Christi wird durch den Glauben auf den Einzelnen angewendet (applicare).482 Gott schaut uns daher in Christus als gerecht an und damit sind wir auch gerecht. Effektiv ist die Rechtfertigung allein in diesem Sinne.483 Sicher ist dies als eine Aufnahme und Weiterführung der Rede Luthers vom fröhlichen Wechsel zu lesen.484 Wie sehr dieser Rechtfertigungsbegriff sich aber aller dynamischen Elemente entkleidet hat, wird schon deutlich, wenn 477 Vgl. Melanchthon, Loci Communes, 6,1–234. 478 CA IV (BSLK 56,1–10). 479 Zur Einführung der forensischen Deutung der Rechtfertigungeslehre in den Protestantismus durch Melanchthon vgl. Strehle, Imputatio iustitiae. Zur Ablehnung der Imputationsbegrifflichkeit durch Luther vgl. aaO., bes. 205f. 480 Vgl. III, VIII/1, Th XIII.(II).C (zu 2 Kor 5,21): „Quando nostrum peccatum Christo, & Christi justitia nobis imputari dicitur, tunc peccatum nostrum, quod est in nobis & non in Christo, Dei decreto & aestimatione transfertur in Christum, i.e. aestimatur, ac si esset in Christo, & vicissim justitia Christi, quae est in Christo & non in nobis, Dei decreto & aestimatione transfertur ad nos, i.e. aestimatur, ac si esset in nobis.“ Im Blick auf die Frage, ob hier die Gerechtigkeit Christi oder der Glaube uns als Gerechtigkeit angerechnet werden, gilt: „Imputatio […] justitiae Christi, & imputatio fidei in justitiam est unum & idem.“ (aaO., Th XIII.(II).A). Vgl. auch III, IX/1, q V, Th. 481 Vgl. III, III/II/1, Th XXXIII und III, IIX/1, Th VII und aaO., nota. 482 Vgl. III, VIII/2, q V, Dial. XVI: „Satisfactionem Christi ut nostram non habemus, antequam fidem, quae eam nobis in individuo applicat.“ An diesem Beispiel verdeutlicht sich der Hintergrund der Zusammenfassung dieser Artikel unter dem Titel der „Gratia Spiritus Sancti applicatrix“. 483 Der Begriff einer iustificatio efficax wird von Quenstedt und den Altprotestanten abgelehnt, weil er von der katholischen Theologie mit der Vorstellung der gratia infusa belegt wurde: Gott gießt dem Menschen seine Gerechtigkeit ein, die er dann deklaratorisch feststellt. Rechtfertigung ist hier effektive Rechtfertigung, weil sie eine Gerechtmachung ist. Gegen diese Lehre stellt sich das imputative Rechtfertigungsverständnis der Altlutheraner: „Justificamur enim homo a Deo non effective aut subjective, sive per inhaerentem justitiam habitualem, sed imputative, seu quatenus justitia aliena, scil. Christi ipsi imputatur.“ (III, IIX/2, q I, Dial. VIII) Die Gerechtmachung ist aber nach lutherischem Verständnis nicht das Wesen der Rechtfertigung, sondern ihre Folge, in der sich die Wirksamkeit der Rechtfertigung zeigt: Weil Gott den Menschen aufgrund der imputatio als gerecht beurteilt, ist der Mensch auch gerecht: „Inanis itaque quaestio est; An propter illam imputationem revera justi simus, an tantum justi censamur? Dei enim judicium est secundum veritatem. Proinde qui in judicio Dei justus esse censetur, ille revera justus est.“ (III, VIII/1, Th XIX, nota II) Die Grenze zwischen bloß forensischer und effektiver Rechtfertigung wird damit aber fließend. Darin steht Quenstedt dann wieder ganz in der Tradition Luthers. Vgl. zur Wirksamkeit der Rechtfertigung nach Luther: Baur, Salus Christiana, 61f. 484 Zu Luthers der mittelalterlichen Brautmystik entliehenen und sich an Hos 1–3 orientierenden Rede vom fröhlichen Wechsel vgl. WA 7, 55,7–23.

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man Quenstedts Formulierung allein den einleitenden Satz Luthers zu demjenigen Passus, der im Freiheitstrakt den fröhlichen Wechsel beschreibt, gegenüberstellt: „Hier hebt nun an ein überaus erfreuliches Schauspiel nicht allein der Gemeinschaft, sondern eines heilbringenden Krieges, des Sieges, des Heils, der Erlösung.“485 Während Luther anhebt ein Schauspiel, also einen Zusammenhang von Ereignissen und Handlungen zu beschreiben, den er emphatisch in biblischer Metaphorik als heilvollen Krieg und Sieg des Heils und der Erlösung darstellt, fehlt der Rechtfertigungslehre der Altlutheraner alles Prozessuale, beschrieben wird allein der Moment des Umbruchs, nicht aber der Vollzug des Übergangs.486 Das Geschehen der Rechtfertigung („das Schauspiel“, „der Krieg“) wird im Artikel de justificatione weitgehend ausgeblendet,487 ebenso die hermeneutische Relevanz des Rechtfertigungsgeschehens.488 Melanchthon kompensiert diesen Verlust des lebensweltlichen Bezugs der Rechtfertigungslehre in seinen Loci noch dadurch, dass er diesen Artikel mit einer breit angelegten Auslegung exemplarischer biblischer Erzählungen verbindet, die vom Glauben als Geschehen der Rechtfertigung handeln.489 Mit der Frage nach der conversio impii und dem modus regenerationis in der Apologie der Confessio Augustana reißt Melanchthon immerhin die Fragestellung noch an.490 An diese Darstellung knüpft die altlutherische Orthodoxie an, wenn sie nun um den Rechtfertigungsartikel herum weitere Lehrstücke bildet, die diese prozessualen und hermeneutischen Aspekte des Rechtfertigungsgeschehens thematisie485 WA 7,55,7f: „Hic iam dulcissimum spectaculum prodit non solum communionis sed salutaris belli et victoriae et salutis et redemptionis.“ Von dem Ereignis eines heilvollen Kampfes ist bei Quenstedt im Kontext der Rechtfertigungslehre nicht mehr die Rede. Das Bild vom Kampf um das Heil allerdings wird beibehalten, aber es wird charakteristischer Weise in einen anderen Zusammenhang verlegt: Als „christliche Kriegsführung“ (militia Christiana) wird es im Teil über die media salutis im Zusammenhang mit den guten Werken behandelt (IV, IX/1, Th XI–XIX). Zum fröhlichen Wechsel bei Luther vgl. Bayer, Martin Luthers Theologie, 204–207. 486 Am deutlichsten darin, dass eine Bestimmung des terminus a quo und ad quem gerade in diesem Artikel nur indirekt vorkommt, nämlich als Näherbestimmung des Gegenstandes (subjectum) (III, IX/1, Th IV, nota). Die Rechtfertigung bezieht sich auf den Menschen, der im Prozess des Umbruchs steht, ist aber selber nicht als prozessuales Geschehen, als Übergang aufgefasst. 487 Appold, Calov’s Doctrine, 32–34 spricht in Anlehnung an Troeltsch von der mystischen Sprache der Rechtfertigungslehre Luthers, die Melanchthon aufzunehmen nicht bereit war. 488 Zur hermeneutischen Relevanz der Rechtfertigung bei Luther vgl. Coors, Vom Lesen der Bibel als Heiliger Schrift, 340–344. 489 Vgl. Melanchthon, Loci Communes 1521, 6,33–89 (221–243). Diesen Aspekt der Rechtfertigungslehre Melanchthons übersieht Appold, Calov’s Doctrine, 33f, wenn er unterstellt, dass Melanchthons Rechtfertigungslehre nicht mehr erlaube persönliche und erleuchtende Momente der Rechtfertigungslehre zu erfassen, weil er die mystische Sprache Luthers bewusst aufgebe. Melanchthon erfasst zumindest in den Loci diese Momente in der narrativen Struktur seiner Ausführungen zur Rechtfertigung. 490 Vgl. BSLK 173,16.24–54. Melanchthon betont dabei v.a., dass die Rechtfertigung durch das Wort des Evangeliums geschieht, also denjenigen Aspekt, der später im Lehrstück „de vocatione“ behandelt wird. Vgl. Herms, Wirklichkeit des Glaubens, 542f.

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ren. So reiht bereits die Konkordienformel in der Solida Declaratio zur Lehre vom freien Willen die Begriffe vocare, trahere, convertere, regenerare und sanctificare zur Beschreibung des Heilsgeschehens aneinander.491 Unter dem Begriff der Rechtfertigung konnten die Altlutheraner diese Aspekte nun aber nicht mehr fassen, weil dieser durch die inzwischen zum Bekenntnis gewordene Confessio Augustana eindeutig auf die imputatio iustitiae fixiert war.492 In ihrer pneumatologischen Einordnung des Themas orientieren sich die Altlutheraner dabei an Luthers Auslegung des dritten Artikels im Kleinen Katechismus, der bereits die Abfolge von Berufung, Erleuchtung, Heiligung und Erhaltung im Glauben enthält.493 In diesem Sinne tritt die Lehre von der gratia Spiritus Sancti applicatrix als Ganzes an die Stelle, die bei Martin Luther die Rechtfertigungslehre innehatte. Wenn das Rechtfertigungsgeschehen also als Zentrum der Lehre der gratia applicatrix benannt wird, so ist der Begriff hier in der vollen Weite zu verstehen, in der ihn Martin Luther verwendete, nicht im engeren forensischen Sinn der Altprotestanten. Für das Verhältnis von Rechtfertigung und Hermeneutik ist nun aber gerade der prozessuale Aspekt, das Geschehen der Rechtfertigung von Interesse, insbesondere die Frage nach dem Übergang von Passivität zur Aktivität des Menschen, so dass sich die Darstellung hier v.a. auf die Begriffe der vocatio, conversio, poenitentia und renovatio konzentriert, die diesen prozessualen Aspekt in der Lehre von der gratia applicatrix entfalten. b) Die universale Berufung aller zum Heil (vocatio) Die Berufung (vocatio) zum Heil ergeht durch die äußere Predigt des Wortes und ist ihrer Absicht nach immer wirksame Berufung.494 „Denn das gepredigte göttliche Wort hat auf die Anordnung und den Willen Gottes hin eine innere und hinreichende Kraft und Wirksamkeit, um Wiedergeburt, Bekehrung, Erleuchtung etc. hervorzubringen. Daher heißt es auch ‚eine Kraft Gottes zum Heil all denjenigen, die glauben‘ (Röm 1,16). D.h. es ist 491 FC SD 2 (BSLK 891,40–892,2): „Et visum est Deo per hoc medium, et non alio modo, nimirum per sanctum verbum suum, cum id vel praedicari auditur vel legitur, et per sacramentorum legitimum usum homines ad aeternam salutem vocare, ad se trahere, convertere, regenerare et sanctificare.“ Auf diese Stelle weist schon Koch, ordo salutis, 58 hin. Ich konnte allerdings nicht feststellen, dass sie in der jüngeren Literatur noch Erwähnung findet. 492 Vgl. Appold, Calov’s Doctrine, 34f. 493 Vgl. BSLK 512,2–5: „[…] der Heilige Geist hat mich durchs Evangelion berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten“. Vgl. zu diesem Zusammenhang Herms, Wirklichkeit des Glaubens, 543. 494 Vgl. III, V/1, Th IX. Das gilt von der vocatio ordinaria, also dem Regelfall. In außergewöhnlichen Fällen kann Gott durch andere Mittel Menschen berufen (vocatio extraordinaria). Vgl. III, V/1, Th V, nota II.

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das vollmächtigste und wirksamste Mittel, Glauben und Heil zu verbreiten.“495 An diesem kurzen Passus lassen sich mehrere Dinge festmachen: 1. Die vocatio als erste Handlung (actus) der zueignenden Gnade des Heiligen Geistes ist eine Handlung des Heiligen Geistes durch das gepredigte Wort. Die Wirksamkeit dieses Wortes ist identisch mit der Wirksamkeit der Heiligen Schrift, die Grundlage der Verkündigung ist. Thematisierte das Kapitel über die Heilige Schrift die Wirksamkeit der Schrift durch den Heiligen Geist, so geht es hier nun um die Wirkung des Heiligen Geistes durch die Schrift. Die Themengebiete sind also komplementär. 2. Durch das Zitat aus dem Römerbrief wird das Wort der vocatio als Evangelium gekennzeichnet, denn auf eben dieses bezieht sich die Charakterisierung des Paulus: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes zum Heil all denjenigen, die glauben.“ (Röm 1,16) Ausgangspunkt des Werkes des Heiligen Geistes ist also nicht das Wort Gottes im Gesetz, sondern im Evangelium. Dies zu betonen ist deshalb nötig, weil die Reihenfolge Gesetz – Evangelium äußerlich in Quenstedts Theologia fest verankert zu sein scheint. 3. Die Wirksamkeit des Heiligen Geistes durch die vocatio wird durch weitere Begriffe des ordo salutis bestimmt, so dass die Berufung der unhintergehbare Ausgangspunkt des Wirkens des Heiligen Geistes ist. Die Berufung durch das Wort setzt das Werk des Heiligen Geistes in Gang.496 Diese Berufung wird als allgemeine Berufung beschrieben. So wie im ersten Kapitel der Pars Tertia die Universalität des göttlichen Heilswillens betont wurde,497 wird hier nun die Universalität der Berufung betont: Die Berufung zum Heil gilt allen, weil alle unter der Last der Sünde leiden.498 Zu einem Problem kommt es nun, weil auf der einen Seite die stetige Wirksamkeit des Berufungswortes betont wird499 und auf der anderen Seite doch nur eine Partikularität des Glaubens gegeben ist. Die Universalität des göttlichen Heilswillens zu betonen, ist für Quenstedt vor dem Hintergrund des 495 III, V/1, Th IX, nota: „Habet enim Verbum Dei praedicatum ex ipsius Dei ordinatione & voluntate intrinsecam divinam & sufficientem vim & efficaciam ad regenerationem, conversionem, illuminationem, &c. producendam, unde vocatur potentia Dei ad salutem omni credenti, Rom. I,16. i.e. potentissimum & efficacissimum medium propagandae fidei & salutis“ (Hervorhebung im Original). 496 Daher erscheint es mir auch sachgemäß, dass Quenstedt anders als Calov die vocatio deutlich von regeneratio und conversio trennt. Calov thematisiert illuminatio, regeneratio und conversio unter der Gesamtüberschrift „De vocatione“ als verwandte Termini (cognata). Vgl. Appold, Calov’s Doctrine, 100. 497 Vgl. III, I/1, Th IX. 498 Vgl. aaO., Th X, nota I. Vgl. auch Sectio II, q, Th. Dort der explizite Hinweis auf die voluntas antecedens, die in III, I behandelt wurde. 499 Vgl. III, V/1, Th X.

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gesamtbiblischen Zeugnisses eine Notwendigkeit. Wenn es in 1 Tim 2,4 und 2 Petr 3,9 heißt, dass Gott alle Menschen retten will, dann heißt dies auch, dass er die Mittel, die zu diesem Ziel führen, ebenfalls will. Zu diesen Mitteln zählt die Berufung.500 Während die calvinistischen Theologen sich hier mit einer strikten Unterscheidung von äußerer Berufung durch das Wort und innerer Berufung durch den Geist behelfen, wobei jene allen gilt, diese aber nur den von Ewigkeit her Erwählten,501 betont Quenstedt den Zusammenhang von äußerer und innerer Berufung: Die äußere Berufung ist Mittel und Instrument der inneren Berufung.502 Würde man hier eine Differenz aufmachen, so würde Gott lügen, wenn er mit dem äußeren Wort alle beruft, dann aber doch nur einige wirklich durch den Geist unmittelbar beruft. Die Trauer Jesu über das verlorene Jerusalem wäre nur eine scheinbare Trauer, er würde nur „lacrymae crocodilum“, Krokodilstränen weinen.503 Die Lehre von der vocatio steht hier mit zwei Lehrstücken im Zusammenhang: einmal mit der Lehre von der universalen Güte Gottes in der Prädestinationslehre,504 zum anderen mit der Lehre von der Heiligen Schrift. 1.) Die Betonung des Zusammenhangs von Wort und Geist entspricht der Verbindung von Heiliger Schrift und Geist, wie sie uns in der Schriftlehre Quenstedts begegnet.505 Das testimonium Spiritus Sancti internum ist in der Schriftlehre das Wirken des Heiligen Geistes durch das Wort der Schrift, es steht für die Selbstevidenz der Heiligen Schrift. Ebenso verhält es sich mit der Berufung: Die innere Berufung geschieht durch das äußere Wort, durch das der Geist sie wirkt. Ein entscheidendes Problem bei der calvinistischen Unterscheidung von innerer und äußerer Berufung ist, dass es keine Kriterien gibt, durch die die innere Berufung auf die äußere bezogen werden kann und umgekehrt. Fehlt dieser Zusammenhang von innerer und äußerer Berufung, so lässt sich die innere Berufung nicht mehr verstehen, weil sie keine Sprache hat, in der sie verstanden werden kann. Jede Regel, die die innere Berufung auf die Sprache der äußeren Berufung bezöge, wäre doch schon wieder ein äußeres Wort, das mit der inneren Berufung verbunden ist und diese von außen bestimmen würde. So führt die strikte Unterscheidung von innerer und äußerer Berufung in eine absolute Privatheit der inneren Berufung ganz im Sinne des wittgensteinschen Privatsprachenarguments. Damit aber wird der Begriff der inneren Berufung sinnlos. 2.) Die Prädestinationslehre werden wir weiter unten noch ausführlicher in den Blick nehmen. Daher nenne ich hier nur die wesentlichen Unterscheidungen, die 500 Vgl. III, V/2, q, Beb. 1. Dieselben Bibelstellen dienen neben Joh 3,16 zur Begründung der Universalität des göttlichen Heilswillens. Vgl. III, I/1, Th IX (die Angabe 2 Petr 3,19 an dieser Stelle ist ein Druckfehler, zitiert wird 2Petr 3,9) und III, I/2, q I, Ekdik. II und IV. 501 Vgl. III, V/2, q, Ekth. VII. 502 Ebd.: „externa vocatio internae medium est“. 503 III, V/1, Th X, nota I. 504 Vgl. zum schon neutestamentlich gegebenen Zusammenhang von Berufung und Erwählung Wagner, Art. Berufung III, 693. 505 Vgl. Abschnitt 1.

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Quenstedt in der Darstellung der vocatio voraussetzt, gleichwohl ich weiter unten argumentieren werde, dass eigentlich die Lehre von der vocatio das Primäre ist. In den ersten beiden Kapiteln der Pars Tertia behandelt Quenstedt die universale Güte (benevolentia universalis) Gottes506 und die spezielle Güte Gottes (benevolentia specialis) bzw. die Prädestination der Glaubenden (praedestinatio credentium).507 Der ursprüngliche und eigentliche Wille Gottes ist es, alle Menschen zu retten und von der Sünde zu befreien.508 Um diesen Willen umzusetzen, hat Gott bestimmte Heilsmittel eingesetzt, durch die dieses Heil erlangt werden kann. Im Kontext dieses Lehrstückes wird es zunächst als durch die biblischen Schriften und die Erfahrung bezeugtes Faktum hingenommen, dass nicht alle Menschen diese Heilsmittel nutzen und an Gott glauben. Daher wird nun in den Willen Gottes selbst eine Unterscheidung eingezeichnet, nämlich die Unterscheidung von voluntas Dei antecedens und voluntas Dei consequens.509 Zwischen dem vorausgehenden (allgemeinen) und dem nachfolgenden (speziellen) Willen Gottes liegt sein gerechtes Urteil über diejenigen, die die von ihm angebotenen Heilsmittel ablehnen.510 Während die voluntas antecedens für alle das Heil will, kann Gott in der voluntas consequens nur das Heil derer wollen, die glauben. Da er jeden einzelnen, der bis ans Ende glauben wird, voraussieht, erwählt er aufgrund dieses Vorauswissens alle Glaubenden, die bis ans Ende im Glauben bestehen, zum ewigen Leben: Er erwählt „ex praevisa fide.“511 So ergibt sich, dass jeder, der erwählt ist, auch glaubt und errettet wird, aber nicht jeder, der glaubt, auch ein Erwählter ist, denn es gibt die Möglichkeit vom Glauben abzufallen und Gott sieht eben dies voraus.512 Schon im Kontext dieser Erwählungslehre entsteht so die Frage nach dem Grund dafür, dass nicht alle Menschen die von Gott angebotenen Heilsmittel annehmen. Diese Frage wird nun im Kontext der Lehre von der vocatio wieder aufgegriffen.

Die Verbindung von Universalität und unbedingter Wirksamkeit der Berufung nötigt die Frage, wieso es Menschen gibt, die nicht glauben, ebenso auf, wie das Nebeneinander von voluntas Dei antecedens und voluntas Dei consequens. Das Auseinandertreten dieser beiden Willensakte Gottes findet seinen Grund also innerhalb der Lehre von der gratia applicatrix. Die Antwort, die Quenstedt in diesem Kapitel gibt, verweist über die Lehre von der vocatio hinaus in die Lehre von der regeneratio und der conversio: Der göttliche Ratschluss, alle zum Heil zu führen, steht von Ewigkeit her fest, aber die Ausführung dieses Beschlusses in der Zeit unterliegt den Bedingungen des subjectum recipiens.513 Es liegt nicht an einem Mangel an Wirk506 III, I. 507 III, II. 508 Vgl. III, I/1, Th VI. 509 Vgl. aaO., nota II und III. 510 Vgl. III, II/1, Th XII. 511 Vgl. aaO., Th XIII, nota I und II, sowie Th XV und Sectio 2, q IV, Th. Vgl. zum Theologumenon der Erwählung ex praevisa fide: Söderlund, Ex praevisa fide. 512 Vgl. III, II/2, q VIII, Th und Ekth. II. 513 III, V/2, q, Ekth. V.

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samkeit des berufenden Wortes, also nicht an Gott, sondern am Menschen, an der Boshaftigkeit seines Willens, wenn nicht alle Berufenen auch auf das Wort der Berufung hin glauben.514 Der Mensch kann also der Berufung widerstehen.515 Wie dies zu verstehen ist und wie es sich zu der Passivität des Menschen in der Glaubensaneignung verhält, das erörtert der Abschnitt über die Bekehrung (conversio). Die Lehre von der vocatio hat eine Schlüsselstellung, indem sie die Vermittlung der anderen beiden Prinzipien des Glaubens (die Güte des Vaters und das Verdienst des Sohnes) in die Gegenwart thematisiert. Diese Vermittlung wirkt Gott im Heiligen Geist durch die Predigt des biblischen Textes. Im Hören auf das biblische Wort sind das ewige Dekret des Vaters und die Erlösung durch den Sohn in der Zeit des Hörers gegenwärtig. Daher ist die Heilige Schrift als verkündigtes Gotteswort das Prinzip der Theologie schlechthin, denn im Moment des Hörens auf das biblische Wort konvergieren diese drei Prinzipien (benevolentia Dei Patris, meritum Christi Redemptoris, gratia Spiritus Sancti applicatrix) des Glaubens.516 c) Der Mensch im Übergang (regeneratio und conversio) Mit den Begriffen Wiedergeburt (regeneratio), Bekehrung (conversio) und Rechtfertigung (justificatio) beschreibt Quenstedt in jeweils unterschiedlichen Aspekten den Moment des Übergangs vom Tod durch die Sünde (terminus a quo regenerationis),517 dem status peccati (terminus a quo conversionis),518 zum geistlichen Leben (terminus ad quem regenerationis),519 dem status fidei (terminus ad quem conversionis).520 Die Unterscheidung zwischen regeneratio und conversio gestaltet sich schwierig, denn verwendet man die Begriffe in ihrem weiteren Sinne, so sind sie Wechselbegriffe. Fasst man die Begriffe im engeren Sinne, so liegt der Unterschied laut Quenstedt im jeweiligen subjectum und medium. Die regeneratio bezieht sich auf Kinder und Erwachsene, die conversio nur auf Erwachsene, jene geschieht durch Wort und Sakrament, diese nur durch das Wort.521 Deutlich wird hier der enge Bezug der Rede von der 514 Vgl. III, V/1, Th X, nota II und Th XIV, nota I. 515 III, V/2, q, Ekth. IX: „[…] omnem vocationem resistibilem esse“. 516 Diesem altprotestantischen Ansatz entspricht der Ansatz von Friedrich Mildenberger das Verstehen der biblischen Texte von der christologischen, pneumatologischen und theologischen Zeitbestimmung her zu erfassen. Vgl. dazu oben Teil I, 2.3 c). 517 III, VI/1, Th XV. 518 III, VII/1, Th XX. 519 III, VI/1, Th XVI. 520 III, VII/1, Th XXI. 521 III, VI/1, Th IX. Mit dieser Bestimmung der differencia specifica geht Quenstedt über Calov hinaus, bei dem die Unterscheidung noch wesentlich undeutlicher ist. Es zeigt sich darin eine

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regeneratio auf die Taufe. Dieser Zusammenhang ist von den biblischen Texten her sicher nicht unbegründet: Die Taufe, so betont es Quenstedt an entsprechender Stelle immer wieder, wird in der Schrift auch „Bad der Wiedergeburt“ (lavacrum regenerationis) genannt.522 Die Bekehrung bezieht sich dagegen auf den erwachsenen, mündigen Menschen, der sich aufgrund des verkündigten Wortes bekehrt. Die Differenzierung zwischen regeneratio und conversio verdankt sich also, soviel ist hier positiv zu vermerken, dem Achten auf die Verwendungssituation der jeweiligen biblischen Texte. Die biblische Rede von der Wiedergeburt wird auf die Praxis der Taufe bezogen, während die Bekehrung einen anderen, hier aber nur sehr ungenau benannten Kontext hat. Passiv ist der Mensch allerdings in beiden Fällen. Und so kann die conversio in gewisser Weise als ein Spezialfall der regeneratio gelten, bis dahin, dass Quenstedt „Wiedergeburt“, insofern sie durch das Wort bei einem Erwachsenen geschieht, auch als Synonym für „Bekehrung“ verwenden kann.523 Wir gehen deshalb in unseren Erörterungen zunächst allein vom Begriff der conversio aus, denn auch die für unsere Abhandlung entscheidende Frage nach der Beschreibung der Passivität in der Heilszueignung wird allein in diesem Kontext ausführlich thematisiert. Im Übrigen ist die begriffliche Abgrenzung von regeneratio und conversio nicht überall konsequent durchgehalten. So gilt als terminus ad quem regenerationis im Bezug auf den Intellekt die geistige Fähigkeit der Vernunft (mens), die Gegenstände des Heils als zum Heil führend zu erkennen.524 Im Kapitel über die Bekehrung wird dann aber ausgeführt, dass zur Wiedergeburt die Bekehrung deswegen nicht zwingend gehöre, weil z.B. bei der Taufe von Kleinstkindern das für die Bekehrung konstitutive Verstehen noch nicht gegeben ist.525 Hier wird also, anders als bei der Definition des terminus ad quem regenerationis, indirekt das Verstehen als Kategorie aus der Wiedergeburt ausgeschlossen: Ein Verstehen ist nicht Teil der Wiedergeburt, deshalb kann sie bei Kleinstkindern in der Taufe stattfinden. Zur Begründung der Passivität des Menschen in der Bekehrung kann Quenstedt zudem darauf verweisen, dass die Bekehrung auch als regeneratio bezeichnet wird. An einer Wiedergeburt hat aber der Geborene ebenso wenig aktiv Teil wie an einer Geburt.526 Hier werden conversio und regeneratio also identifiziert.

Sensibilität für die unzureichende Begründung dieser Unterscheidung, die er – mehr schlecht als recht – zu kompensieren sucht. Ihre Genesis hat diese Unterscheidung sicher schlicht darin, dass beide Begriffe in der Heiligen Schrift als Beschreibungen des Heilsgeschehens vorkommen. Vgl. Apppold, Calov’s Doctrine, 100. 522 Z.B. IV, V/1, Th X unter Bezug auf Eph 5,26 (nota, b) und Tit 3,5 (nota, g), sowie aaO., V/2, q VII, Beb. IV. 523 III, VII/1, Th IX, nota. 524 III, VI/1, Th XIV. 525 III, VII/1, Th XVIII, nota I. 526 III, VII/2, q I, Beb. V.

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Die Wirksamkeit der vocatio durch das Wort wird im Abschnitt über die Bekehrung als causa efficiens agens minus principalis behandelt: Das Wort ist in diesem Sinne causa organica, durch die Gott die Menschen beruft und bekehrt. Diese Kraft, den Menschen zu bekehren, hat das Wort nicht aus sich heraus, sondern sie ist ihm durch den Heiligen Geist mitgeteilt.527 Das Wort wird hier ausdrücklich als mündliches und geschriebenes Wort thematisiert,528 so dass der Zusammenhang dieses Lehrstücks mit der Schriftlehre hier noch einmal augenfällig wird. Betont wird, dass mündliches und schriftliches Wort nicht vom Geist getrennt werden dürfen, denn „Gott handelt mit dem Wort, durch das Wort, und das Wort wirkt mit Gott aus der ihm verliehenen göttlichen Kraft.“529 Der Prediger des Wortes kommt dabei als die causa ministerialis in den Blick, so dass hier auch die Anbindung der Wortverkündigung an das kirchliche Amt nicht aus dem Blick geraten darf. Zu beachten ist allerdings auch, dass Quenstedt ausdrücklich auch den außerordentlichen Prediger erwähnt, also nicht ausschließlich an die kirchlich berufenen Prediger denkt.530 Die forma conversionis ist der Übergang vom Stand des Zornes und der Sünde in den Stand der Gnade und des Glaubens.531 In der Näherbestimmung dieses Übergangs von einem Stand in einen anderen geht Quenstedt, in Orientierung an Königs Theologia positiva-acroamatica und unter Bezug auf Chemnitz und Dannhäuser,532 von einer sukzessiven Vorbereitung auf die conversio aus. Fasst man die conversio im weiteren Sinne, so kann man diese vorbereitenden Schritte auch als Teil der conversio auffassen, die dann aber nicht mehr in einem Augenblick, sondern sukzessiv geschieht. Im engeren, und nach Quenstedt eigentlichen Sinne aber geschieht die Bekehrung in einem Augenblick.533 Zur Begründung des sukzessiven Charakters verweist Quenstedt darauf, dass nicht jede Bekehrung so plötzlich eintritt wie die des Paulus. Er führt die Bibelstelle Mk 4,28 an, einen Vers aus dem Gleichnis vom Wachsen der Saat, in dem das Wachstum der aufgehenden Saat in verschiedenen Stadien beschrieben wird. „Auf dieselbe Weise wirkt auch die Gnade des Heiligen Geistes durch das Wort sukzessive in der

527 III, VII/1, Th XIV und XV. 528 III, VII/1, Th XV, nota. 529 III, VII/1, Th XVI: „[…] Deus agit cum Verbo, per Verbum, & Verbum operatur cum Deo ex vi divinitus indita.“ 530 III, VII/1, Th XVII. 531 III, VII/1, Th XXII. 532 König ist die grundsätzliche Vorlage Quenstedts im didaktischen Teil (vgl. zu Königs Gnadenlehre Ders., Theologia positiva acroamatica, § 502–508 [197–199]). Von Chemnitz und Dannhäuser zitiert Quenstedt die entscheidenden Definitionen der unterschiedlichen gradus gratiae. Zu Chemnitz vgl. den Exkurs unten 187–190. 533 III, VII/1, Th XXII.

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Bekehrung des Menschen.“534 Die Gnade, mit der Gottes Geist im Menschen wirkt, ist eine, aber sie wird den verschiedenen Stufen (gradus) und ihren Wirkungen nach unterschieden.535 Dabei wird grundlegend zwischen der gratia assistens und der gratia inhabitans unterschieden. Als gratia assistens wird die Gnade bezeichnet, insofern sie den Menschen durch das Wort auf die Bekehrung vorbereitet und auch die Bekehrung selber bewirkt. Als gratia inhabitans wird die Gnade bezeichnet, insofern sie ins Herz des Menschen eindringt und in ihm wohnt.536 Die gratia assistens wird nun wiederum in verschiedene Stufen (gradus) unterteilt: 1. Die anfangende oder vorausgehende Gnade (gratia assistens incipiens seu praeveniens) Die gratia praeveniens ist Gottes Gnadenhandeln durch das gelesene oder gehörte Wort, kraft dessen er dem Menschen das Heil darbietet und die natürliche Unfähigkeit (inidoneitas naturalis) und Verblendung des Menschen aufhebt.537 Dabei wirkt der Heilige Geist immer zugleich und mit dem Wort.538 Auf dieser ersten Stufe kann niemand der göttlichen Gnade entkommen, sie wirkt überall, wo das Wort gehört wird. Dadurch wird aber nicht ausgeschlossen, dass ein Mensch nach diesem ersten Bewegtwerden durch die Gnade sich dieser verweigern kann.539 Sinn und Zweck der gratia praeveniens ist es also, den Menschen zu den Heilsmitteln hinzuführen, so dass er das in ihnen angebotene Heil annehmen kann oder ihm widersteht.540 2. Die vorbereitende Gnade (Gratia assistens praeparans) Überwindet die gratia praeveniens die angeborene, natürliche Unfähigkeit des Menschen, Gottes Wort überhaupt zu erkennen, so überwindet nun die gratia praeparans durch die Heilsmittel, zu denen der Mensch durch die 534 III, VII/1, Th XXII, nota II: „Eo modo etiam Spiritus Sancti gratia per Verbum successive in hominis conversione operatur.“ 535 Besonders prägnant wurde dies bereits bei Thomas von Aquin, Summa Theologiae, Pars II/I, q 111, art. 3, Resp. formuliert: „Respondeo dicendum quod, sicut gratia dividitur in operantem et cooperantem secundum diversos effectus, ita etiam in praevenientem et subsequentem, qualitercumque gratia accipiatur.“ 536 III, VII/1, Th XXIV: „Hoc respectu Gratia Dei duplex est; Una assistens, quae extrinsecus circa hominem agit, altera inhabitans, quae ipsum hominis cor ingreditur, illudque spiritualiter immutando inhabitat.“ 537 III, VII/1, Th XXV. 538 AaO., nota II, (3). 539 AaO., nota II, (5): „Licet primum gratiae pulsum nemo possit effugere, potest tamen aliquis, postquam primos motus a Gratia praeveniente excitatos sensit, illam Gratiam malitiose excutere“. 540 AaO., nota III: „Homo itaque ante conversionem prorsus inidoneus est & incapax ad omina spiritualia I Cor. II,14. Praeveniens autem gratia illum ad adaequata conversionis media ducit“.

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gratia praeveniens geführt wurde, den natürlichen und angeborenen Widerstand des Menschen gegen Gottes Heilsangebot.541 Damit ist aber noch nicht die resistentia malitiosa überwunden.542 Quenstedt unterscheidet also zweierlei Qualität und Intensität des Widerstandes gegen die göttliche Gnade: einmal die resistentia naturalis, die durch die gratia praeparans überwunden wird; zum anderen die resistentia malitiosa die erst durch die Bekehrung selbst überwunden wird.543 3. Die erweckende Gnade (Gratia assistens excitans) Die Wirkung der Gnade auf dieser Stufe wird jeweils im Blick auf die oberen (intellectus, voluntas) und das untere (appetitus sensitivus) Seelenvermögen beschrieben. Die Gnade des Heiligen Geistes wirkt auf dieser Stufe durch das Wort – bezogen auf den Intellekt äußere Kenntnis und Anerkenntnis (notitia et assensus) der Geschichte des Evangeliums, – bezogen auf den Willen ein allgemeines Vertrauen (fiducia generalis) auf Gott und – bezogen auf das Begehrvermögen (appetitus sensitivus) durch das Gesetz Zerknirschung und Reue über die begangenen Sünden.544 In Intellekt und Willen werden also durch die gratia excitans die drei Wesensteile des Glaubens hervorgebracht: notitia, assensus und fiducia. Allerdings tritt die Bekehrung im eigentlichen Sinne erst auf der nächsten Stufe der von Quenstedt beschriebenen Entwicklung ein. Daher ist die Einschränkung der fiducia auf eine fiducia generalis wichtig: Der hier beschriebene Glaube ist am ehesten identisch mit dem, was Quenstedt andern Orts als fides historica sive humana beschrieben hat.545 Sie hat ihr Wesen vor allem in notitia und assensus, also in Erkenntnis und Anerkenntnis, ist aber noch kein volles Vertrauen auf Gottes Verheißungen.

541 III, VII/1, Th XXVI. 542 Vgl. III, VII, Th XXVI, nota: „Notanter dicimus, repugnantiam actualem simplicem & vincibilem, neque enim intelligimus repugnantiam eam, quae ex malitia affecta invincibilis est & morosa“ (Hervorhebung im Original). Zur Abfolge von gratia praeveniens und gratia praeparans formuliert treffend Weber, Der Einfluss, 121: „An die Stelle der natürlichen inidoneitas tritt die repugnantia naturalis und actualis, die durch hartnäckige Leugnung und Zurückweisung des dargebotenen Wortes zur repugnantia invincibilis et morosa werden kann; die gratia praeveniens gibt ihre Aufgabe weiter an die gratia praeparans.“ 543 Diese Unterscheidung wurde zuerst von Musaeus eingeführt. Vgl. dazu und zur Rezeption dieser Unterscheidung durch Quenstedt: Söderlund, Ex praevisa fide, 114–118. 544 III, VII/1, Th XXVII. 545 Vgl. I, IV/2, q VIII, Ekth. VIII; aaO., q IX, Ekth. III und III, IX/2, q II, Dial. VIII. Vgl. dazu unten Abschnitt 3.2 c).

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Von besonderer Bedeutung ist diese Stufe des Gnadenwirkens für das Verständnis der Hermeneutik, denn hier ist durch das Wirken des Heiligen Geistes im Wort eine neue Ebene des Verstehens erreicht, die als „äußerliche und buchstäbliche Erkenntnis und Anerkenntnis der Geschichte des Evangeliums“546 beschrieben wird. In den Erläuterungen der These merkt Quenstedt dazu an: „Eine buchstäbliche Erkenntnis (literalis cognitio) des Evangeliums kann man nämlich auf keine Weise ohne die Gnade haben, noch weniger also kann jemand ihm historisch zustimmen (assentiri).“547 Das stufenweise Wirksamwerden der göttlichen Gnade durch das Wort dient Quenstedt also zugleich dazu, zu erläutern, wie es zu einem geistgewirkten Verstehen des Literalsinns der Schrift kommt, und zwar durch das Wort der Schrift selber. Ein Verstehen des Buchstabens des Evangeliums gibt es erst, wenn der Heilige Geist durch das Wort die gratia excitans wirkt, der gratia praeveniens und gratia praeparans vorausgegangen sind. Man hat Quenstedt daher vorgeworfen, dass seine Übernahme des scholastischen Gnadenschemas die Einheit von Wort und Geist gefährde, da er in der Wirksamkeit von gratia praeveniens und gratia praeparans ein übernatürliches Wirken des Heiligen Geistes jenseits des Wortes vor dem Verstehen des Literalsinns des Evangeliums annehme.548 Diese Kritik jedoch ist nicht stichhaltig, denn Quenstedt versteht das Wirken des Heiligen Geistes in gratia praeveniens und gratia praeparans ja gerade als ein Wirken durch das Wort, und zwar, wie wir dargelegt haben, des gelesenen oder gehörten, 546 III, VII/1, Th XXVII: „externam & literalem […] notitiam & assensum historicum Evangelii“. 547 AaO., nota I: „Evangelii enim literalis cognitio nullo modo absque gratia haberi, multo minus ergo eidem historice quis assentiri potest.“ 548 So die zuerst von Koch, Ordo salutis, 22 geäußerte Kritik: „Die Bekehrung soll nun aber doch nicht magisch oder unvermittelt von Gott gewirkt werden, sondern durch sein Wort. Dieses Wort muss, wenn es wirken soll, verstanden werden. Wir sahen aber, dass bei den beiden ersten Stufen der Bekehrung noch nicht einmal buchstäbliche Erkenntnis desselben vorhanden war. Erst in der dritten Stufe werden für diese die notwendigen Kräfte verliehen. Wir sahen weiter, dass diese cognitio literalis die vierte Stufe, die Verleihung der vires credendi, nicht vermittelte. Kann unter diesen Umständen das Wort, das die conversio wirken soll, sich an den Intellekt wenden? Es wird dort keinerlei Verständnis vorfinden, die Fähigkeit zu einem solchen muss es vielmehr erst in der Naturgrundlage des Intellekts durch Einschaffung neuer Kräfte schaffen.“ Obwohl bereits Weber, Der Einfluss, 78–144, bes. 88–92 und 106 diese Auslegung einer gründlichen Kritik unterzogen hat, wird sie auch gegenwärtig noch vertreten: Z.B. bei Appold, Calov’s Doctrine, 112 und Söderlund, Ex praevisa fide, 108. Grundlegend ist dabei immer wieder die Annahme, dass das Wort der Schrift nur wirken kann, wenn man es versteht, wobei Verstehen als propositionales Verstehen des Gehalts der Schrift gedeutet wird. Folgt man der Darstellung von Koch, so geht diese Kritik an den Wittenbergern ursprünglich auf Musaeus zurück (vgl. aaO., 63). Aufschlussreich im Blick auf Koch ist die Anlage seiner Interpretation, die ganz von der Frage nach den metaphyischen Grundlagen der lutherischen Theologie bestimmt ist. Von daher kommt es dann auch in der Auslegung der gratia applicatrix zu einer Überbetonung der metaphysischen Terminologie, die den Blick für die biblisch-hermeneutische Dimension des Lehrstückes völlig übersieht.

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also des verkündigten geschriebenen Wortes der Heiligen Schrift.549 Das aber heißt zunächst, dass es eine Wirksamkeit dieses Wortes in den Lesern und Hörern gibt, die nicht in notitia und assensus aufgeht: Eine Wirksamkeit, die eine Erkenntnis des Literalsinns überhaupt erst ermöglicht, indem sie den Geist mitteilt, der ein Verstehen des Literalsinns der Heiligen Schrift gibt. Quenstedt verweist unmittelbar vor der Ausführung der Gnadenstufen ja noch einmal darauf, dass die Bekehrung durch die wirksame Kraft der Heiligen Schrift geschieht.550 Dasjenige Verstehen der Schrift, das zu ihrer Wirksamkeit in der gratia excitans hinführt und über diese hinaus auf die conversio in der gratia operans, ist ein Verstehen, das sich nicht durch Unterscheidung zwischen notitia, assensus und fiducia fassen lässt, weil es diese erst durch den Heiligen Geist hervorbringt. Es handelt sich dabei um solch ein Verstehenlernen, um ein praktisches Verstehen, das dort an sein Ziel kommt, wo die conversio erfolgt. Die theologische Notwendigkeit, das Verstehen des sensus literalis selber vom Gnadenwirken des Geistes abhängig zu machen, liegt in der Betonung der Passivität des Menschen im Bekehrungsgeschehen: Würde die conversio durch einen Verstehensakt des Menschen eingeleitet, so wäre die Bekehrung des Menschen abhängig 549 Wenn Appold dies mit einem einzigen Quenstedtzitat als einen nicht wirksamen Versuch Quenstedts darstellt, die Einheit von Wort und Geist entgegen seinen eigenen Ausführungen schlicht zu behaupten, verfehlt er den Kern von Quenstedts Argumentation, die die Einheit des Wirkens von Wort und Geist an zahlreichen Stellen voraussetzt. Vgl. Appold, Calov’s Doctrine, 112, Anm. 57. Man möchte Weber, Der Einfluss, 137 zitieren: „Die moderne Kritik richtet ihre Übertreibung selbst, indem sie an diesem Punkt zu offener Vergewaltigung der Orthodoxie ihre Zuflucht nehmen muß.“ Bereits Martin Chemnitz betonte den Zusammenhang von Gnadenwirkung und Wort, gerade um die Problematik der tridentinischen im Unterschied zu der von ihm vertretenen lutherischen Gnadenlehre aufzuzeigen (vgl. dazu den Exkurs unten, 268-271): „Spiritum Sancto vero, naturam corruptam ita sanare & renouare, quod incipit prauitamtem illam mortificare, & loco defectum efficere in mente & voluntate, nouam du/namin, vim, efficaciam aut facultatem, vnde sequantur motus & actiones spirituales, hoc est, operatur velle, posse, & facere. Haec vero dona, Spiritus sanctus operatur per medium seu organon verbi, si legatur, audiatur, & cogitetur: quod homo & debet, & aliquo modo potest facere. Nec infundit illas qualitates, sicut liquor in dolium infunditur: sed ita vt sequantur motus & actiones in mente & voluntate. Quando igitur Spiritus per verbum coepit naturam sanare, accensa aliqua scintilla efficaciae & facultatis spiritualis, licet renouatio non statim sit perfecta & absoluta, sed in magna infirmitate tantum inchoata: tunc tamen nec mens nec voluntas est ociosa, sed aliquos habet nouos motus: quos etiam debent exercere meditando, orando, conando, luctando, &c.“ (Chemnitz, Examen, 121a) Die durchgängige Betonung der Wirksamkeit des Wortes im Gnadenhandeln auf allen Stufen hebt schon Weber, Der Einfluss, 136 hervor, der aaO., Anm. 2 sorgfältig alle Belege dafür bei Quenstedt auflistet. 550 III, VII/1, Th XV und aaO., nota. Dass Quenstedt hier dann von der Schrift auch als medium supernaturalis redet, sollte man nicht überinterpretieren. Es ist nicht mehr als eine gängige, wenn auch unglückliche Wendung zur Beschreibung dessen, dass die Kraft der Schrift nicht aus dem Text selber, sondern allein durch das Wirken des Heiligen Geistes in diesem Text hervorgeht. Quenstedt schreibt hier nichts anderes als das, was er in der Schriftlehre schon ausgeführt hat. Vgl. dazu oben Abschnitt 1 und die Ausführung bei Weber, Der Einfluss, 137–140, sowei die Ausführungen aaO., 142f zum Begriff des Hyperphysischen.

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davon, dass er den biblischen Text auch intellektuell verstehen kann. Zu Recht betont also schon H.E. Weber, dass der eigentliche Sinn des Gnadenschemas das Festhalten am mere passive der Bekehrung ist.551 In dem Kapitel „De sacra Scriptura“ wurde das praktische Verstehen der Schrift noch u.a. durch Begriffe der gratia applicatrix und durch den fiducia-Begriff als Wirken des Heiligen Geistes durch das Wort der Heiligen Schrift beschrieben.552 Bereits dort begegnete in diesem Zusammenhang der Begriff der gratia praeveniens: Allein der durch die „vorangehende Gnade des Heiligen Geistes, durch das Lesen, Hören oder Meditieren des Wortes Gottes begleitete, erleuchtete Intellekt“553 versteht den sensus literalis der Heiligen Schrift. Dies wird hier nun präzisiert: Indem Quenstedt versucht, das Entstehen des Glaubens in der conversio nachzuzeichnen, muss er darstellen, wie diese Wirksamkeit des Heiligen Geistes im Wort sich von einem präpropositionalen, praktischen Verstehen des biblischen Textes zu einem Verständnis des sensus literalis hin entwickelt. Dafür muss er ein Wirken des Geistes durch das Wort darstellen, das dem Verstehen des sensus literalis vorausgeht, aber dennoch allein durch das Wort erfolgt. Müsste er hier auf gegebene Fähigkeiten des menschlichen Verstandes zurückgreifen, wäre der passive Charakter des Glaubens, das mere passive nicht mehr gewahrt. So ist Quenstedt theologisch genötigt ein Verstehenlernen des Glaubens und damit des Schriftverstehens durch das Wort der Schrift selber darzustellen. Dieses Verstehenlernen geht aus von einem passiv-praktischen Verstehen, das sich dann in der gratia excitans mit einem propositionalen Verständnis für den sensus historicus der Schrift verbindet. Ein volles Verstehen des sensus literalis juxtam mentem Spiritus Sancti ist aber erst dort erreicht, wo die Bekehrung (conversio) zum eigentlichen Glauben hin geschieht. Damit wird nicht nur eine Unterbestimmung des Glaubensbegriffs in der Unterteilung von notitia, assensus und fiducia deutlich, sondern auch die Unzulänglichkeit der aristotelischen Seelenlehre, an die Quenstedt den Glaubensbegriff ja gekoppelt hat.554 Die Wirkung des Schriftwortes auf den Ebenen der gratia praeveniens und der gratia praeparans konnte Quenstedt ja nicht in den Termini der aristotelischen Seelenlehre aussagen: Es gibt keine Auswirkungen auf intellectus, voluntas oder appetitus sensitivus. Dennoch verändert sich die Situation des Menschen durch diese Gnadenwirkungen soweit, dass die gratia excitans schließlich intellectus, voluntas und appetitus sensitivus 551 Vgl. Weber, Der Einfluss, 118–122, bes. 120. Zum Zusammenhang von Gnadenlehre und Lehre vom unfreien Willen schon bei Martin Chemnitz vgl. das Zitat in Anm. 549, sowie den Exkurs unten, 269-272. 552 S.o. Abschnitt 1.1 a) (142). 553 I, IV/2, q XII, Ekth. X: „intellectum per praevenientem Spiritus S. gratiam, lectionem, auditionem vel meditationem verbi divini concomitantem, illustratum“ (Hervorhebung im Original). Siehe dazu oben Abschnitt 1.2 a) (162f). 554 Diese Unzulänglichkeit der aristotelischen Seelenlehre stellt in diesem Zusammenhang auch schon Baur, Die Vernunft, 140 fest.

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treffen kann und in diesen die ersten Elemente des Glaubens gewirkt werden können. Diese Veränderung ist aber von Quenstedt v.a. als eine Veränderung der äußeren Situation des Menschen (gratia praeveniens als Begegnung mit dem Wort) bzw. als Veränderung der Kommunikation von Innen und Außen (gratia praeparans als Überwindung der resistentia naturalis) dargestellt, die sich als Veränderung des Menschen in den Kategorien der aristotelischen Seelenlehre nicht ohne weiteres darstellen lässt. Die strikte Trennung von Innen und Außen wird hier zum theologischen Problem.555 Die Bezeichnung der Wirkung der gratia excitans auf den Verstand wird von Quenstedt noch nicht terminologisch fixiert als Erleuchtung (illuminatio) bezeichnet. Zwar findet sich der Begriff im Zusammenhang mit der Darstellung dieser Wirkung – nämlich im Kontext der Auslegung von Joh 6,44, wo von der „Wirksamkeit der erleuchtenden Gnade des Vaters“556 oder auch der „causa illuminationis“557 die Rede ist – jedoch wird das, was spätere Theologen unter dem Begriff der Erleuchtung als eigenen Aspekt der Gratia applicatrix behandeln werden, bei Quenstedt noch ganz in die conversio integriert.

Auch diese Stufe der Gnadenwirkung ist nicht unwiderstehlich. Erläutert wird dies durch Joh 6,44 und Offb 3,20. In Joh 6,44 ist die Rede davon, dass Christus die Menschen zum Vater zieht: „Es kann niemand zu mir kommen, es sei denn, ihn ziehe der Vater, der mich gesandt hat“ (Joh 6,44). Dieses Ziehen des Vaters ist zwar immer wirksam, aber das Ziehen führt nicht immer zum Ziel, denn der Mensch kann sich dem Ziehen des Vaters widersetzen.558 Das Wort „ziehen“ wird hier verwendet um das Fehlen jeglicher eigenen Kräfte im Gezogenen zu betonen und nicht um einen gewaltsamen Akt zu beschreiben, mit dem Gott den Menschen zwingt.559 Betont wird hier also auf der einen Seite die totale Passivität des Menschen schon in der Vorbereitung auf die eigentliche Bekehrung. Zum anderen aber auch, dass es „nicht ein Gewaltakt ist, der durch Zwang oder äußere Notwendigkeit […] geschieht.“560 Das Verhältnis von Aktivität und Passivität des Menschen in der Bekehrung ist hier also zumindest insoweit geklärt, als dass die Bekehrung ganz von Gott ausgeht und der Mensch in ihr passiv ist. Kommt es nicht zur Bekehrung, so liegt dies an der bösartigen Undankbarkeit der verblendeten Vernunft der Menschen,561 nicht an der göttlichen 555 Die Beschäftigung mit der Problematik des Verhältnisses von Innen und Außen ist durchgängiges Thema der Biblischen Dogmatik von Friedrich Mildenberger. Wenn Mildenberger, Biblische Dogmatik Bd. 2, 75–78 betont, dass Gott dem Menschen im Außen begegnet, nimmt er die Ausführungen Quenstedts zur gratia praeveniens und praeparans auf und denkt sie weiter. 556 III, VII/1, Th XXVII, nota II, obs. II (1): „[…] Patris illuminatricis gratiae efficaciam […]“. 557 AaO., obs. II (3). 558 III, VII/1, Th XXVII, nota II, obs. II (1). 559 AaO., nota II, obs. II (2) und obs. IV. 560 AaO., nota II, obs. IV: „non est […] violentia, quae fit per coactionem vel actionem necessitantem […]“ (Hervorhebung im Original). 561 AaO., nota II, obs. III: „Ast non-illuminationis causa est malitiosa ingratitudo rationis vestrae coaecae.“

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Gnade. Im Blick auf den Widerstand gegen Gottes Gnade ist der Mensch aktiv. Ganz analog wird Offb 3,20 („Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an!“) ausgelegt.562 Der Text, der zunächst eine aktive Rolle des Menschen in der Bekehrung nahe zu legen scheint, wird ganz auf die Passivität des Menschen in der Bekehrung hin ausgelegt. Das Anklopfen Christi geschieht durch das Gewissen, das Gesetz, Wunder, das Lesen der Schrift oder die Verkündigung des Wortes. Der geistlich tote Mensch kann aber von sich aus nicht auf die Stimme Christi hören und die Tür öffnen. Daher – dies ist die entscheidende Wendung in der Auslegung des Textes – öffnet Gott unsere Herzen und macht uns auf die Stimme Christi aufmerksam. Dies geschieht aber nicht, wie der Hinweis auf das Gewissen in der vorangegangenen Auflistung vermuten lassen könnte, ohne das Wort, denn dass der anklopfende Christus die Kraft zum Öffnen selber gibt, entspricht der Wirksamkeit des evangelischen Wortes, wie sie in Röm 1,16 beschrieben wird.563 Der anklopfende Christus appelliert also nicht an ein in uns liegendes, natürliches Vermögen des freien Willens auf seine Einladung zu reagieren.564 „Diese Worte: „Öffne!“, „Bekehre Dich!“, sind nicht nur Imperative, sondern auch wirkende und wirksame Mittel Gottes, durch die Gott selber das wirkt, was er befiehlt.“565 Diese göttlichen Befehle sind nicht Gesetz, keine imperativa legalia, sondern Evangelium, imperativa evangelica.566 Hier spielt also die Lehre von der Wirksamkeit des Wortes zum Heil eine entscheidende Rolle in der Auslegung des Textes und erlaubt es, den Zusammenhang von Wort und Gnade des Heiligen Geistes zu beschreiben. Zwar spricht Christus die Menschen auch im Gewissen an, aber wirksam wird dieses Ansprechen im Gewissen nur durch die Wirksamkeit Gottes in seinem Wort. Das Gewissen ist hier gerade nicht der Schlüssel zur Schrift, sondern umgekehrt erlaubt die Wirksamkeit des Geistes im Wort das Anklopfen Christi im Gewissen wahrzunehmen und die Tür zu öffnen.

562 Vgl. zum folgenden aaO., nota III und aaO., VII/2, q I, Dial. XV. 563 III, VII/1, Th XXVII, nota III.: „Pulsando Christus vim largitur aperiendi, quae efficacia Verbo Evangelii propria est. Rom. I. 16.“ 564 Ebd.: „Nec sequitur; Christo pulsanti homo aperire debet, Ergo naturalibus liberi arbitrii viribus aperire potest.“ 565 Ebd.: „Verba haec, Aperi, convertimini, non tantum imperativa sunt, sed & operativa, & efficax Dei medium, quo Deus ipse efficit, quod imperat“ (Hervorhebung im Original). 566 III, VII/2, q I, Dial. IV.

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4. Die tätige Gnade (gratia assistens operans) Auf dieser Stufe der Gnadenwirkung tritt die Bekehrung im eigentlichen Sinne ein: Durch sie wird das Vermögen zum Glauben gewirkt.567 Die Beschreibung dieser Stufe der Gnadenwirkung fällt äußerst kurz aus, zum einen, weil die Bekehrung im engeren Sinne schon durch die verschiedenen causae näher bestimmt wurde, zum anderen, weil das, was in der Bekehrung geschieht, als Anrechnung der Gerechtigkeit Christi Thema der Rechtfertigungslehre ist. 5. Die vervollkommnende Gnade (gratia assistens perficiens) Durch diese Gnadenwirkung wird die Bekehrung vollendet, indem sie die göttlichen Affekte austeilt, durch die der Heilige Geist vermittelst des Wortes die Anerkenntnis der Sünde, die Zerknirschung des Herzens und den eigentlichen Akt des Glaubens bewirkt und vervollkommnet.568 Im Moment der Bekehrung ist sie identisch mit der gratia inhabitans, ist aber von dieser unterschieden, weil die gratia perficiens die Bekehrung bewirkt, während die gratia inhabitans Folge des Glaubens ist.569 Die gratia inhabitans ist dann von entscheidender Bedeutung für die renovatio, nicht für die conversio. Gratia praeveniens, praeparans und excitans sind also die Gnadenwirkungen, die zur Bekehrung i.e.S. hinführen, während gratia operans und perficiens die Bekehrung im eigentlichen Sinne bewirken. Die gratia inhabitans (spezifiziert als gratia cooperans, adjuvans und perficiens im alternativen Sinne) folgen auf die Bekehrung.570 Das Verhältnis von Passivität und Aktivität von Gott und Mensch in dem Geschehen der Bekehrung und der Vorbereitung der Bekehrung wird nun von Quenstedt in zwei Thesen noch einmal zusammengefasst. Zum einen gilt, dass der Übergang vom Unglauben zum Glauben durch übernatürliche und göttliche Kraft geschieht, also nicht durch Überredung oder durch einen unterstellten freien Willen derer, die bekehrt werden sollen.571 „Der Mensch verhält sich in seiner Bekehrung völlig passiv (mere passive)“.572 Zum anderen aber gilt auch, dass dieser Übergang durch ein Handeln geschieht, dem man sich widersetzen kann.573 Für die Klärung dieses Verhältnisses von stets wirksamer göttlicher Gnade und Widerstandskraft des Menschen greift Quenstedt hier wieder auf die Metapher des natürlichen Wachstums zurück, 567 568 569 570 571 572 573

III, VII/1, Th XXVIII. III, VII/1, Th XXIX. AaO., nota II. AaO., nota. I. III, VII/1, Th XXX. III, VII/2, q II, Th: „Homo in sui conversione sese mere passive habet“. III, VII/1, Th XXXI.

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die er in Th XXII zur Begründung eines sukzessiven Verständnisses der conversio i.w.S. eingeführt hat. Zwar kann kein Mensch den ersten Bewegungen der gratia praeveniens entkommen, d.h. jeder, der die Verkündigung des Wortes Gottes hört, wird vom Wort Gottes angerührt, aber jeder kann sich einem Fortwirken dieser Bewegungen der göttlichen Gnade widersetzen, „weil sie unterbunden werden können, damit sie nicht Wurzeln schlagen, ja man kann sie einfach ersticken.“574 „Die ersten Bewegungen der gratia praeveniens sind unausweichlich, d.h. kein Mensch, der nicht wiedergeboren ist und das Wort Gottes hört, kann verhindern, dass in seinem Herzen eine geistliche Bewegung ausgelöst wird, nämlich ein Erkennen der zugelassenen Sünde, der schändlichen Fehler etc., dennoch sind sie [die ersten Bewegungen der Gnade] nicht unwiderstehlich, denn [der Mensch] kann jene Bewegungen, damit sie nicht Wurzeln schlagen und im Herzen ausdauern, unterbinden, sie ersticken, austreiben etc.“575 Auch wenn der Text Mk 4,28 nicht wieder erwähnt wird, steht er doch deutlich im Hintergrund: Die Entstehung des Glaubens in der conversio stellt Quenstedt sich offenbar als Wachstumsprozess vor. Das Wachstum geht kraft der Gnade Gottes vonstatten, ohne dass der Mensch, in dem sich dieser Wachstumsprozess abspielt, aktiv dazu beiträgt. Sobald der Mensch aber aktiv wird, handelt er zum Negativen. Jede actio des Menschen in der conversio ist ein Ersticken der aufkeimenden Pflanze des Glaubens durch den sündigen Willen des Menschen. In diesem Sinne ist der freie Wille des Menschen aus der Bekehrung ausgeschlossen, weil er selber Gegenstand der Bekehrung ist:576 Im Willen soll ja die fiducia erst entstehen, während gerade der Wille des sündigen Menschen ein verderbter Wille ist, der nicht anders kann als sündigen. Gerade der Wille des Menschen verhält sich in der Bekehrung passiv, oder aber es kommt nicht zur Bekehrung. Die Wahl, die bleibt, ist also die zwischen Widerstand leisten oder keinen Widerstand leisten. Diese Wahl ist eine völlig andere Wahl als die zwischen Glauben und NichtGlauben: Quenstedt vergleicht dies mit dem Unterschied zwischen der Wahl ein Zimmer zu beleuchten oder nicht zu beleuchten auf der einen, und der Wahl, sich dem Licht entgegenzustellen oder nicht, auf der anderen Seite.577 Es geht nicht darum, ob wir glauben wollen, sondern darum, ob unser Wille überhaupt an der Bekehrung zum Glauben beteiligt ist, also 574 Ebd.: „[…] quia ne radices agant, impediri, imo plane suffocari possunt.“ 575 AaO., nota III: „Motus primi a Gratia praeveniente excitati, sunt quidem inevitabiles, i.e. non potest homo irregenitus, verbum Dei audiens, impedire, ne oriatur in corde suo motus spiritualis, scil. cogitatio de peccato admisso, de vitandis flagitiis, &c. non tamen irresistibiles sunt, potest enim illos motus, ne radices agant, & in corde perdurent, impedire, eos suffocare, excutere &c“ (Hervorhebung im Original). 576 Vgl. III, VII/2, q I, Dial. III und VI. 577 Vgl. III, VII/2, q III, Dial. VIII.

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darum ob wir „Glauben wollen“ überhaupt können. Eben dieses „Glauben wollen“ ist keine menschliche Möglichkeit, möglich ist nur das Zulassen des Glaubens.578 Jedes Wollen im Bezug auf den Glauben, das nicht durch die Gnade Gottes hervorgebracht wird, unterdrückt den Glauben. Die Passivität ist also als Ausschluss des Willens aus der Bekehrung der Aktivität des Willens selber vorgeordnet, so dass sich Passivität und Aktivität hier nicht einfach als Gegensatzpaar gegenüberstehen. Das Gegensatzpaar von Passivität und Aktivität ist daher nicht einfach identisch mit dem Gegensatz von willentlichem Handeln und nicht willentlicher Widerfahrnis. Die Passivität, die Quenstedt im Blick hat, betont den Widerfahrnischarakter der Lernsituation des Glaubens als einem Geschehen, das auch den menschlichen Willen betrifft und daher den menschlichen Willen als Voraussetzung gänzlich aus der Bekehrung ausschließt. Ein aktiv werden des Willens würde hier ja ein Abbruch der Lernsituation des Glaubens bedeuten, insofern Bekehrung dann gerade nicht geschähe. Allein durch die Widerfahrnis der Gnade Gottes in der Bekehrung wird der Mensch zur Freiheit befreit (Gal 5,1), wird der menschliche Wille zur actio ermächtigt. Weil das Gott entsprechende Wollen des Menschen also nur in Abhängigkeit von Gottes Gnade möglich ist, ist der Wille aus der Bekehrung ausgeschlossen: das Erlernte (freier Wille) kann nicht Voraussetzung des Erlernens sein. Der Gegensatz zwischen Passivität und Aktivität des Menschen in der Heilszueignung gründet in einer kategorialen Unterscheidung.579 578 Besonders deutlich wird dies in IV, VIII/1, Th XII, nota formuliert: „Infideles fide carent ob propriam contumaciam, qua verbum veritatis rejecerunt. Habet enim homo libertatem reluctandi, sed non libertatem assentiendi. Hic ergo credit, non quia voluit credere, (bonum enim non potest ex se velle,) sed quia non repugnavit, gratiae operanti obicem non posuit“ (Hervorhebung von M.C.). 579 Der hier verwendete Begriff der Passivität deckt sich weitgehend mit dem von Reinhard Hütter verwendeten Begriff des Pathos. Vgl. Hütter, Theologie, 47: „[Pathos ist] das, was den Menschen vor allem Handeln, in allem Handeln und gegen alles Handeln bestimmt, das was der Mensch nur empfangen kann“ (Hervorhebung im Original). Ähnlich argumentiert in theologisch-ethischer Hinsicht Fischer, Theologische Ethik, der die modernen Handlungstheorien kritisiert und darlegt, dass jedem Handeln eine Spontaneität vorausliegt, die dem Lebensvollzug eine Gerichtetheit gibt. Eben dies bezeichnet nach Fischer die Rede vom „Geist“. Vgl. z.B. aaO., 119: „So enden die Überlegungen zu der gewöhnlichen Auffassung des Handelns bei der einen Einsicht, die für das christliche Ethos grundlegend ist, nämlich dass Freiheit ein Befreitwerden zur Freiheit voraussetzt (vgl. Gal 5,1). Die Frage, wie es zu einem solchen Befreitwerden kommt, bezeichnet den Punkt, an dem in theologisch-ethischer Perspektive von ‚Geist‘ zu reden ist. ‚Geist‘ meint dabei dasjenige, was dem Lebensvollzug in seiner Spontaneität Gerichtetheit gibt.“ In Fischers Terminologie geredet, geht es Quenstedt in der Rede von der Passivität des Menschen in der Heilszueignung um das Ausgerichtetwerden des Lebensvollzugs auf die von Gott geschenkte Freiheit hin. Ich lehne mich in meiner Darstellung stärker an die Terminologie und Darstellung Wittgensteins an, weil diese m.E. deutlicher zum Ausdruck bringt, dass der Lebensvollzug nicht ein einheitliches Kontinuum, bzw. als solcher lediglich theoretisches Konstrukt ist. Der Umschwung der Befreiung vollzieht sich in konkreten Handlungen und Praktiken, in denen Glaube als Widerfahrnis der Gnade erlernt wird.

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Die Unterscheidung verschiedener Stufen der Gnadenwirkung hat eine lange Tradition in der katholischen Theologie und ist mit dem Rechtfertigungsdekret des Trienter Konzils verbindliche katholische Lehre geworden. Daher ist ein kurzer Vergleich hier angebracht, um das reformatorische Profil der Unterscheidung Quenstedts zu schärfen. Die Ausführungen von Martin Chemnitz in seinem Examen Decretorum Concilii Tridentini,580 die in unmittelbarer Auseinandersetzung mit dem Tridentinum erstmals eine lutherische Gnadenlehre formulieren, werden in diese Überlegungen mit einbezogen. Genau wie Quenstedt betont schon Thomas von Aquin die Einheit der Gnade und erklärt die Unterscheidungen im Gnadenbegriff durch die unterschiedlichen Wirkungen der Gnade.581 Während Thomas die Begriffe der gratia praeveniens und der gratia subsequens allerdings noch allgemein zur Bezeichnung einer Abfolge verschiedener Wirkungen der Gnade im Menschen verwendet,582 wird der Begriff durch das tridentinische Dekret stark eingegrenzt. In ihm bezeichnet die gratia praeveniens die Gnade Christi, durch die er uns beruft. Die gratia praeveniens wird hier also an die vocatio und damit an das Wort gebunden. Anders die darauf folgende Stufe der gratia excitans seu adiuvans, in der „Gott durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes das Herz der Menschen berührt“583 und zwar so, „dass sie […] darauf vorbereitet werden, sich durch freie Zustimmung und Mitwirkung mit dieser Gnade zu ihrer eigenen Rechtfertigung zu bekehren“.584 Zwar wird diese erweckende Gnade auf das Hören des Evangeliums hin ausgerichtet, – die Menschen nehmen aufgrund der erweckenden Gnade den Glauben im Hören an585 – aber sie kommt nicht unbedingt selber durch das Wort, sondern bereitet nur auf dieses vor. Nicht das äußere Wort erlaubt hier also die Stimme im Herzen zu identifizieren, sondern umgekehrt: die Erleuchtung des Herzens erlaubt es, das Heil im Wort anzunehmen. Genau umgekehrt verhält es sich bei Quenstedt.586 Die entscheidende Differenz indes liegt in der Betonung der Aktivität des Menschen in seiner Bekehrung und Rechtfertigung. Durch die gratia excitans wird der Mensch in die Lage versetzt, sich „durch freie Zustimmung und Mitwirkung“ zu 580 Erstmals erschienen 1577. Ich zitiere nach der Ausgabe Frankfurt 1609. 581 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, Pars II/I, q 111, art. 3, Resp.. Zitiert oben in Anm. 535. 582 Ebd.: „Et sicut unus effectus est posterior uno effectu et prior alio, ita gratia potest dici et praeveniens et subsequens secundum eundem effectum, respectu diversorum.“ Thomas unterscheidet dabei fünf verschiedene Stufen der Gnadenwirkung: „Sunt autem quinque effectus gratiae in nobis: quorum primus est ut anima sanetur; secundus est ut bonum velit; tertius est ut bonum quod vult, efficaciter operetur; quartus est ut in bono perseveret; quintus est ut ad gloriam perveniat.“ Diese Unterteilung in fünf gradus kommt der Unterteilung, die Quenstedt in Anlehnung an Chemnitz vornimmt, äußerst nahe. Differenzen liegen allerdings im Detail: Die ersten beiden Stufen bereiten nach Thomas auf die eigentliche Bekehrung vor, auf der dritten Stufe „vollbringt [der Mensch] das Gute, das er will“, bekehrt sich also zu Gott; Stufe vier und fünf beziehen sich auf Bewahrung und Vollendung des Heils im Menschen. 583 DH 1525: „[…] tangente Deo cor hominis per Spiritus Sancti illuminationem […]“. 584 Ebd.: „ut […] ad convertendum se ad suam ipsorum justificationem, eidem gratiam libere assentiendo et cooperando, disponuntur“. 585 DH 1526: „[…] dum excitati divina gratia et adiuti, fidem ex auditu concipientes“. 586 Kochs Kritik an der Gnadenlehre (s.o. 260f, bes. Anm. 548) trifft also Quenstedt zwar nicht, wohl aber die tridentinische Gnadenlehre.

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bekehren. Entsprechend wird die Lehre, dass der Mensch sich in seiner Bekehrung „rein passiv“ (mere passive) verhält, im 4. Kanon des Dekrets anathematisiert.587 Der eigentliche Unterschied zwischen katholischer und altlutherischer Gnadenlehre, wie sie bei Chemnitz und Quenstedt vorliegt, liegt also in der Rede von der cooperatio des freien Willens des Menschen.588 Chemnitz pointiert diesen Unterschied, indem er sich auf die Gnadenlehre Augustins und seine Unterscheidung zwischen gratia operans und cooperans beruft.589 Während das Tridentinum die Rede von der gratia cooperans so auslegt, dass der Mensch mit seinen natürlichen Fähigkeiten an der conversio beteiligt ist, sei dies bei Augustin so zu verstehen, dass Gott beim Menschen durch seine Gnade zunächst eine Wiedergeburt des Willens bewirkt und diejenigen Kräfte verleiht, durch die der erneuerte Mensch mit Gott zusammen wirken kann.590 Strittig ist also nicht, ob es ein Zusammenwirken des Menschen mit Gott gibt, sondern wo dies einsetzt und wie es zu Stande kommt. Die Altlutheraner betonen mit Chemnitz, dass der eigentliche Akt der Rechtfertigung allein von Gott ausgeht. Menschliche Vernunft und menschlicher Wille sind hier Gegenstand des Handelns Gottes und verhalten sich daher mere passive.591 In diesem Geschehen aber wird der Mensch zur cooperatio befähigt. Daher hat Augustin die Gnade entsprechend den verschiedenen Stufen der Bekehrung (gradus conversionis) unterschiedlich benannt, z.B. als gratia praeveniens, gratia praeparans, gratia liberans etc.592 Hier deutet sich bereits das 587 Vgl. DH 1554. Vgl. auch die Beschreibung der dritten Stufe der Gandenwirksamkeit bei Thomas von Aquin, Summa Theologiae, II/I, q 112, art. 2, Resp.: „[…] quaecumque praeparatio in homine esse potest, est ex auxilio Dei moventis animam ad bonum. Et secundum hoc, ipse bonus motus liberi arbitrii quo quis praeparatur ad donum gratiae suscipiendum, est actus liberi arbitrii moti a Deo […]“. 588 Genau hier liegt nach Wagner, Art. Bekehrung III, 479 auch heute noch ein entscheidender Differenzpunkt. 589 Chemnitz, Examen, 121b: „Omnino igitur in Ecclesia retinenda est vera & vtilis Augustini distinctio, inter gratiam operantem & cooperantem.“ Auch Quenstedt arbeitet mit dieser Unterscheidung von gratia operans und cooperans: vgl. Q III, VII/2, q I, Ekth. XII. Sie entspricht im Wesentlichen der Unterscheidung von gratia assistens und gratia inhabitans. 590 Vgl. Chemnitz, Examen, 125b. Bezogen auf die Unterscheidung von gratia operans und cooperans stellt sich die Frage: „An scilicet liberum arbitrium, naturalibus suis viribus cooperetur Deo: ita vt cum Deus operatur in nobis velle & assentiri, naturalis quaedam vis seu efficacia veteris hominis cooperetur, ad producendum illud velle seu assensum illum. Sive quando gratia mouet & excitat voluntatem, quod tunc ex naturalibus viribus voluntatis assensus emergat. Augustinus certe dicit: Vt velimus, Deus operatur sine nobis, sicut super explicatum est. Acceptis vero primitiis donorum spiritualium, voluntatem renatam esse su/nergon Dei, illis facultatibus quas a spiritu regenerationis accepit, nullum est dubium“. 591 Vgl. Chemnitz, Examen, 126b: „Cum enim mens & voluntas sint subiectum, in quo Spiritus sanctus operatur conuersionem seu renovationem: hactenus habet se subiectum illud iuxta Scholasticorum phrases, passive.“ Allerdings kann sich das subjectum nach scholastischer Definition auch partim passive, partim active verhalten. Daher verweist Chemnitz zur Begründung der ausschließlichen Passivität auf das Zeugnis der Schrift und Augustins, die eindeutig lehren, dass diejenige Gnade, die in uns Wollen und Vollbringen ermöglicht, nicht gratia cooperans, sondern gratia operans heißt (ebd.). 592 Vgl. Chemnitz, Examen, 122a: „Eodem modo gratiae varias tribuit Augustinus appellationes, vt rem ipsam illustret, & quasi gradus conuersionis ostendat. Vocat enim gratiam praeuenientem, praeparantem, liberantem, operantem: deinde gratiam subsequentem, cooperantem, adiuuantem donum perseuerantiae, &c.“

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detaillierte Gnadenschema an, das Chemnitz dann in seinen Loci Theologici entwickelt und das Quenstedt aufnimmt. Das lutherische Gnadenschema hat seinen ursprünglichen Ort also in der Auseinandersetzung um die Frage des freien Willens.593 Zwar wird auch im Tridentinum der freie Wille an die erweckende Gnade Gottes zurückgebunden, die den menschlichen Willen zu dieser Entscheidungsmöglichkeit befreit, doch die conversio geschieht in einem Zusammenwirken der natürlichen Freiheit des Menschen mit Gott. Dass der Mensch gerechtfertigt wird, liegt an seinem aktiven Verhalten, das er aufgrund des Gnadenhandelns Gottes einnimmt. Bei Chemnitz und Quenstedt hingegen kommt alles darauf an, dass der Mensch seinen vermeintlich freien Willen und seine Aktivität in Fragen des Heils aufgibt und sich „mere passive“ verhält. Jede Aktivität des menschlichen Willens wäre per se ein Ablehnen der göttlichen Gnade. Das Tridentinum hingegen kann die Möglichkeit der Ablehnung des Menschen nur als eine Option des durch die gratia excitans befreiten menschlichen Willens verstehen.594 Der Vergleich zwischen den Ausführungen von Chemnitz und Quenstedt legt allerdings auch ein Problem im Verhältnis von Gnadenlehre und gratia applicatrix bei Quenstedt offen. Beide Lehrstücke verfolgen dasselbe Ziel, nämlich das Geschehen der Rechtfertigung in seinem prozessualen Aspekt verständlich zu machen. Die Gnadenlehre operiert dabei mit der Vorstellung eindeutig abgrenzbarer Stufen der Wirksamkeit der Gnade, die zunächst auf die Bekehrung hinführen (gratia praeveniens, praeparans und excitans), diese dann bewirken (gratia operans, gratia perficiens) und schließlich in Kooperation mit dem bekehrten und erleuchteten menschlichen Verstand und Willen wirken (gratia inhabitans seu cooperans). Diese Struktur beschreibt das Entstehen des Glaubens als sukzessives Geschehen am Menschen. Die Lehre von der gratia applicatrix geht nicht ohne Weiteres in einem Stufenschema auf, orientiert sich aber in ihrer Struktur dennoch an dem Schema der Gnadenlehre. Daher ist es irreführend, wenn Quenstedt die Gnadenlehre als einen Aspekt der conversio behandelt, so dass „gewissermaßen eine Heilsordnung in der Heilsordnung“595 entsteht. Deutlich wird dies v.a. an der gratia inhabitans, die als gratia cooperans eigentlich gar nicht in die Behandlung der conversio hineingehört, sondern sich auf die Buße, die unio mystica und die Erneuerung (renovatio) bezieht. Der Grund dafür, dass Quenstedt das Gnadenschema gerade im Kontext der conversio aufgreift, dürfte aber schlicht der sein, dass gerade hier die Frage nach der Beteiligung des freien Willens an der Bekehrung virulent wird. Zur Behandlung dieser Frage verwendet Quenstedt in Anlehnung an Chemnitz die lutherische Gnadenlehre. Die Grundunterscheidung zwischen gratia operans und cooperans hält sich nun aber auch in der Lehre von der gratia applicatrix durch: vocatio, regeneratio, conversio und justificatio 593 Chemnitz behandelt die Frage dementsprechend auch in dem Kapitel „De libero arbitrio, Pars I“. Vgl. auch oben, 252 zur Vorstufe der gratia applicatrix in der FC. Schon Weber, Der Einfluß, 111–113 und 118–121 betont den Zusammenhang von Gnadenlehre und Lehre vom unfreien Willen. 594 Vgl. DH 1525. Vgl. zu dieser Einschätzung des tridentinischen Rechtfertigungsdekrets Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung, 160f. Zu Recht verweist Jüngel auf die entsprechende Differenz in der Einschätzung der Schwere der menschlichen Sünde. 595 So treffend Koch, Ordo salutis, 28.

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geschehen durch die gratia operans; poenitentia, unio mystica und renovatio sind Werk der gratia cooperans. Die gratia praeveniens geht der gratia operans, die die Bekehrung i.e.S. wirkt, noch voraus und ist vor allem in der vocatio und der conversio i.w.S. wirksam. Die temporale Struktur gewinnt die Lehre von der gratia applicatrix also im Wesentlichen durch die Verschränkung mit der sich an Augustin anlehnenden Gnadenlehre, die von Chemnitz in die lutherische Theologie eingeführt wurde.596

Man kommt trotz dieser systematischen Schwäche nicht umhin, die Konsistenz der Argumentation Quenstedts zu bewundern. Balanciert sie doch äußerst geschickt zwischen der Scylla einer doppelten Prädestination (Calvinismus) und der Charybdis des Synergismus (Tridentinum). Im Kern lautet die Lösung, dass das Heil des Menschen allein von Gott kommt, der Mensch sich dem aber widersetzen kann. Eine solche Freiheit zum Widerstand gegen Gott impliziert aber eben noch keine Freiheit am Heil mitzuwirken,597 wie sie das Rechtfertigungsdekret des Tridentinums formuliert. Dieser unmittelbare Gegensatz von Aktivität und Passivität des Menschen wird in einer vorausliegenden Passivität des sündigen Menschen im Gegenüber zum Wort Gottes aufgehoben.598 Der Wille des Menschen wird grundsätzlich aus der Bekehrung ausgeschlossen. Etwas zu seiner Bekehrung beitragen kann der Mensch nur durch Passivität gegenüber Gott. Diese Passivität in der Bekehrung liegt der Freiheit des Willens voraus. Ihren ausgezeichneten Ort hat sie im Gegenüber zu den Heilsmitteln von Wort und Sakrament. Unser Interesse gilt dabei vor allem dem Wort, insbesondere in seiner schriftlichen Form.599 Der Passivität in der Heilszueignung durch den Geist entspricht die Wirksamkeit des Geistes im Wort der Schrift. Die Darstellung der conversio durch Quenstedt entspricht also ganz seinen hermeneutischen Vorgaben aus dem Kapitel über die Heilige Schrift. Ein Verstehen der Heiligen Schrift als Wort Gottes geschieht dort, wo sich Menschen über dieses Wort zum Glauben bekehren. Dieses Geschehen wirkt das Wort bzw. der Geist durch das Wort im Menschen. Verstehen der 596 Dies ist v.a. im Blick auf die Entwicklung der Vorstellung eines zeitlich strukturierten ordo salutis aufschlussreich, insbesondere, da bei Johann Fecht die zeitliche Sukzessio der Heilsordnung sich mit den Unterscheidungen der Gnadenlehre Augustins verbindet (vgl. Matthias, Ordo salutis 332). Es erscheint daher wahrscheinlich, dass die Verbindung von augustinischer Gnadenlehre und gratia applicatrix bei König und Quenstedt eine Vorstufe auf dem Weg hin zu einer temporalen Strukturierung des ordo salutis bildet, wie sie dann bei Fecht begegnet. 597 Vgl. III, VII/2, q I, Dial. VI. 598 Ähnlich verhält sich Luthers Rede von der vita passiva zu dem Gegenüber von vita activa und vita contemplativa. Vgl. dazu Bayer, Theologie, 42–49. 599 Ich merke hier nur am Rande an, dass auch die Sakramentenlehre vor diesem Hintergrund in ihrer hermeneutischen Funktion wahrgenommen werden muss. Erste Überlegungen dazu finden sich bei Mildenberger, Biblische Dogmatik Bd. 1, 205–212. Gerade die enge Verbindung von Wort und sakramentaler Praxis wäre hier von Interesse. Die Sakramentenlehre der Altlutheraner allerdings hat bei aller Betonung des medialen Charakters der Sakramente ihre darin implizierte hermeneutische Funktion nicht im Blick. Vgl. Appold, Calov’s Doctrine, 152.

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Schrift heißt hier aus dem Zustand der Sünde in den Zustand des Glaubens wechseln. Die Passivität des Verstehens ist die Passivität des Menschen in der Heilszueignung. Dabei wird dieser Übergang vom Unglauben zum Glauben als ein Übergang beschrieben, der sich in der Praxis des Lesens und Hörens auf das Wort der Heiligen Schrift vollzieht. Diese Praxis des Lesens der Bibel als Heiliger Schrift kennzeichneten wir als Lernsituation des Glaubens, das heißt, in dieser Praxis bildet sich christlicher Glaube mit seiner Sprache, in der die Bibel als Heilige Schrift gilt. Die Regel, dass der freie Wille des Menschen aus der Bekehrung ausgeschlossen ist, bleibt dabei streng auf die Praktiken bezogen, in denen sich die Bekehrung vollzieht. Sie ist keine spekulative Lehre. Sinn und Zweck der Betonung des unfreien Willens in der Bekehrung ist es, das alleinige Gnadenhandeln Gottes hervorzuheben. Die Ausgestaltung dessen in der mehrstufigen Gnadenlehre zielt wiederum darauf, die Passivität nicht einen bloßen Lehrtopos sein zu lassen, sondern an die Erfahrung des Christen zu binden. Wir begegnen hier also, ganz im Sinne des oben dargestellten wittgensteinschen Verständnisses von Sprache, einem engen Zusammenhang zwischen der Rede vom unfreien Willen und (dem Erlernen) der Lebenspraxis, in die diese Rede eingebunden ist. In dieser engen Anbindung an die erlernte Lebenspraxis und die Erfahrung des Christenmenschen wird der Zusammenhang von Passivität des Menschen in der Bekehrung und der Möglichkeit des Widerstandes gegen die göttliche Gnade einsichtig. Beide Aussagen sind Ausdruck grammatischer Regeln,600 die unsere Aussagen über die Bekehrung als Lernsituation in jeweils bestimmter Hinsicht begrenzen: Die Bekehrung ist nicht im geringsten ein Werk, das wir uns zurechnen dürften, sondern sie ist reine Gnade (Ausschluss des freien Willens aus der Rede von der Bekehrung, unfreier Wille),601 sie ist zugleich aber auch kein Schicksal, wir sind keine leblosen Gegenstände für Gott (Möglichkeit zum Widerstand). Diesem grammatischen Charakter der Rede von der Unfreiheit des Willens entspricht das, was wir oben über den Charakter der Passivität als Ausschluss des Willens aus der Bekehrung ausführten: Es ist eine der Freiheit des befreiten Willens vorgeordnete Passivität des Menschen im Lebensvollzug der Bekehrung als Lernsituation des Glaubens. Als Aussagen über die Lernsituation des Glaubens und der Glaubensrede sagen die Rede von der Unfreiheit des Willens 600 Zur Bedeutung der Unterscheidung von Regel und Ausdruck einer Regel vgl. oben Teil II, Abschnitt 3.2 b): Die Regel an sich ist ein praktischer Vollzug, der durch Gewohnheit bestimmt ist. Sprachlich kann sie als ein bestimmter Regelausdruck gefasst werden. 601 Die Unfreiheit des Willens wird im Kapitel über die Bekehrung nur indirekt thematisch, nämlich als Ausschluss des Willens aus der Bekehrung. Dies zeigt sich u.a. darin, dass der Begriff des servum arbitrium in diesem Kapitel nicht vorkommt, während der freie Wille aber explizit aus der Bekehrung ausgeschlossen wird.

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und die Rede von der Möglichkeit des Menschen, Gott zu widerstehen, aber etwas über die Grammatik der Glaubensrede und damit etwas über die Verankerung dieser Rede in der Lebenspraxis des Glaubens. Als Regeln der Rede von der Bekehrung sind sie zugleich auch Regeln für das Verstehen der Heiligen Schrift als heilvoller Anrede Gottes. Zwischen diesen beiden Regeln sucht Quenstedt in seiner Lehre von der Bekehrung zu vermitteln. Dass diese Rede von der Unfreiheit des menschlichen Willens in Quenstedts Werk nicht auf diese Weise als kritische Regel der Rede von der Bekehrung wahrgenommen wird, liegt wesentlich an den vorausgehenden Kapiteln über die Erwählung und die Anthropologie. d) Verdinglichung der Passivität in der Lehre von der Prädestination und vom unfreien Willen – Grammatische Täuschungen Die enge Anbindung der Rede vom unfreien Willen an das Geschehen der Bekehrung wird von Quenstedt in seiner Prädestinationslehre und in der Anthropologie spekulativ unterlaufen, und das, was in der Lehre von der Bekehrung noch als eine sinnvolle Einheit zusammen erscheint, gerät hier schon vorweg in einen spekulativen Widerspruch. Dabei setze ich voraus, was oben über die Funktion der Lehre von der gratia applicatrix ausgeführt wurde: Sie ist nicht nur ein Lehrstück am Ende der Pars Tertia der Dogmatik Quenstedts, sondern sie ist systematisch grundlegend, weil in ihr hermeneutische Grundbegriffe geklärt werden, die das Ganze der Theologie begründen. Dass die Anthropologie und die Prädestinationslehre im Aufbau der Dogmatik der Lehre von der gratia applicatrix vorangehen, heißt nicht, dass jene diese begründen, kann aber den Blick für diese theo-logische Reihenfolge verstellen. Zu beachten ist dabei eben auch, dass die Lehre von der gratia applicatrix in der Schriftlehre bereits implizit mit Thema war, nämlich dort, wo von der efficacia Scripturae als einer Wirkung des Heiligen Geistes durch den Text die Rede war. Um diese theo-logische Reihenfolge zu verdeutlichen, habe ich hier zunächst die Lehre von der gratia applicatrix im unmittelbaren Anschluss an die Schriftlehre dargestellt und interpretiere nun Teile der Anthropologie und der Prädestinationslehre von diesem theologischen Lehrstück her.

Die Lehre von der Prädestination, deren grundlegenden Unterscheidungen wir bereits in einem kurzen Exkurs skizziert haben, präsentiert sich als ein auf die göttliche Ewigkeit gespiegeltes Pendant der Lehre von der Rechtfertigung. Dies zeigt sich gerade an dem Lehrtopos der Erwählung ex praevisa fide. Mehrfach betont Quenstedt, dass die Gründe der Erwählung der Glaubenden zum Heil dieselben Gründe sind, aus denen Menschen gerechtfertigt werden.602 Auf diese Weise kann Quenstedt eine Erwählung aufgrund unse602 Vgl. III, II/2, q II, Beb. II.III und FS IV, sowie aaO., q III, Beb. I; q IV, Ekth. III und FS VII. Dieser Zusammenhang von Erwählung und Rechtfertigung ist schon bei Johann Gerhard gegeben. Vgl. dazu Söderlund, Ex praevisa fide, 68: „Die Prädestinationslehre gehört für Gerhard

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rer Werke ausschließen,603 denn Gott erwählt allein aus Gnade, aufgrund des vorhergesehenen Glaubens.604 Weil nun aber nicht alle, die Gott in der vocatio generalis als der zeitlichen Ausführung des allgemeinen Erwählungsdekrets605 beruft, den Glauben auch annehmen, sind nicht alle erwählt, sondern einige werden aufgrund ihrer Boshaftigkeit für die ewige Verdammnis vorherbestimmt. Die Erwählung zum ewigen Leben geschieht also aufgrund des vorhergesehenen Glaubens, die Vorherbestimmung zur ewigen Verdammnis aufgrund der vorhergesehenen Sünden der Menschen.606 Zwar wird so gezielt ein Ungleichgewicht zwischen Erwählung zum Heil und Vorherbestimmung zur Verdammnis eingeführt, das das Ungleichgewicht zwischen göttlicher Aktivität und menschlicher Passivität in der Bekehrung widerspiegelt und eine doppelte Prädestination ausschließt.607 Es bleibt aber das Problem, dass aus dem menschlichen Verhalten bzw. Nicht-Verhalten hier nun jeweils ein positiver göttlicher Akt der Prädestination gefolgert wird. So wird nun aus der Passivität des Willens in der Bekehrung ein Akt göttlicher Vorherbestimmung zum Heil, der als solcher zwar anders begründet wird als die Vorherbestimmung zur Verdammnis, in seiner Natur als göttlicher Handlung aufgrund göttlicher Vorsehung aber identisch mit diesem ist. Lässt sich die Unfreiheit des menschlichen Willens in der Bekehrung noch als grammatische Regel interpretieren, so wird sie im Kontext der Lehre von der Erwählung durch das ewige Dekret Gottes bestimmt, so dass die Möglichkeit des Menschen zum Widerstand, der sich in der Lehre von der Bekehrung noch unter Rückgriff auf die Metaphorik des unterdrückten Wachstums plausibilisieren ließ, hier in einen latenten Konflikt mit der Vorstellung der Allmacht Gottes gerät, am deutlichsten dort, wo spekuliert wird, dass Gott die Widerspenstigkeit der Verworfenen in seiner Allmacht überwinden könnte. Doch „es hat Gott gefallen, mit uns wie mit Menschen zu handeln, und nicht wie mit Tieren und Steinen. Daher hat er Mittel gegeben, durch die er in uns wirken will, und durch die derjenige, der sie ablehnt und zurückweist, in seiner Schuld vergeht.“608 Die Möglichunauflöslich mit der Rechtfertigungslehre zusammen. […] Die Erwählung ist als Rechtfertigung gedacht, die vor die Grundlegung der Welt verlegt ist. Die Rechtfertigung in der Zeit spiegelt die ewige Prädestination wieder.“ 603 III, II/2, q II, Beb. II.III und FS IV. 604 III, II/2, q II, Th und aaO., q IV, Ekth. II. 605 Vgl. zum Verhältnis von Erwählung und Berufung: III, V/2, q, Dial. IX. 606 III, II/1, Th XIII, nota und III, II/2, q IX, Th. 607 III, II/2, q IX, Beb. VI, obs. 5: Gott bestimmt nicht in einem absoluten Dekret voraus, wer glauben wird und wer verdammt wird, sondern er erwählt aufgrund des vorhergesehenen Glaubens (der aus Gnade gegeben wird) bzw. verwirft aufgrund des vorhergesehenen Unglaubens entsprechend dem, was der Mensch verdient hat. 608 III, II/2, q IV, FS IX: „Placuit Deo nobiscum agere tanquam cum hominibus, non tanquam cum brutis & lapidibus. Ideo ordinavit media, per quae vult in nobis efficax esse, quae, qui negligit & respuit, sua culpa perit.“

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keit des Menschen, der Gnade Gottes zu widerstehen, wird hier also zu einer Selbsteinschränkung Gottes. Dem entsprechend kennt Quenstedt denn auch die neufranziskanische Unterscheidung von voluntas Dei absoluta und voluntas Dei ordinata.609 Sie dient als Begründung dafür, dass nicht alle Menschen erwählt werden, auch wenn Gott alle beruft. Gott will vieles auf bestimmte Weise geschehen lasse, er will z.B. auch, dass man die Gebote befolgt, und dennoch geschieht es nicht: „Es geschieht nämlich vieles, das Gott nicht will, und er will vieles, das nicht geschieht.“610 Diese Unterscheidung zwischen voluntas Dei absoluta und ordinata deckt sich mit der Unterscheidung von voluntas antecedens und consequens, wobei die Bezeichnung der voluntas antecedens als voluntas absoluta für Quenstedt problematisch ist, weil es sich zwar um den universalen Heilswillen Gottes für alle Menschen handelt, dieser Wille aber von vornherein auf bestimmte Mittel der Heilsvermittlung hin angelegt ist. Aus diesem Grund kann man auch von der voluntas conditionata sprechen.611 In dieser begrifflichen Unschärfe wird freilich auch die Problematik deutlich: Zwischen voluntas antecedens und consequens lässt sich hier ja gar nicht mehr sauber unterscheiden, wenn schon die voluntas antecedens selber ein bedingter Wille (voluntas conditionata) ist, der sich davon abhängig macht, wie sich die Menschen zu den gegebenen Heilsmitteln verhalten. Auf der einen Seite wird diese Unterscheidung nötig, um den Begriff eines transzendenten, allmächtigen, allwissenden etc. göttlichen Wesens, bei aller Verstrickung Gottes in die menschliche Geschichte, aufrechtzuerhalten. Andererseits muss nun dieses transzendente göttliche Wesen doch auch auf die Geschichte des Menschen bezogen werden, gerade da, wo es zum Heil der Menschen handelt. Daher wird die Unterscheidung hier wieder ein Stück weit zurückgenommen.612 Die Problematik dieses Lehrstücks reicht dann bis in die Heilslehre hinein, weil die für die lutherische Soteriologie zentrale Rede von der Heilsgewissheit von der Erwählungslehre her bestimmt wird. Nicht alle, die glauben, sind auch erwählt, weil man vom Glauben abfallen kann. Gott aber hat nur diejenigen erwählt, bei denen er vorausgesehen hat, dass sie bis zum Ende im Glauben verharren. Daher kann man aus dem Faktum des gegenwärtigen Glaubens nicht auf die Erwählung schließen. Ordnet man nun die 609 III, I/2, q I, Dial. XI. 610 Ebd.: „Multa enim fiunt, quae Deus non vult, & multa vult, quae non fiunt.“ 611 III, I/2, q I, Dial. XIIX. 612 Vgl. zum Zusammenhang von transzendentem Gottesbegriff und Prädestinationslehre bei den Altlutheranern Baur, Salus Christiana, 72f, bes. 72: „Der Gott, dessen schöpferische Kraft in der Rechtfertigung alleiniger Ursprungsort und tragendes Vollzugsmoment sein soll, wird durch die an Aristoteles angelehnte Ontologisierung ‚in die ruhende Ferne‘ eines zumindest analogice beschreibbaren Überweltlichen abgedrängt. Die von den Lutheranern im antiprädestinatianischen Affekt verfochtene Praevisionslehre dürfte in bedenklichem Zusammenhang mit dieser Tendenz stehen.“

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Lehre von der Heilsgewissheit in diesen Kontext ein, so folgt daraus konsequent, dass es Glaubensgewissheit nur in der Gegenwart geben kann, nämlich als Gewissheit darüber, dass ich gerechtfertigt bin. Eine absolute Gewissheit darüber, dass ich auch in Zukunft glauben werde, kann ich aber nicht erlangen, weil ich nicht wissen kann, ob ich vom Glauben abfallen werde.613 Insofern gibt es bezogen auf die Zukunft nur eine certitudo hypothetica:614 Die Gewissheit unterliegt der Bedingung, dass man sich auch in Zukunft zu den Heilsmitteln hält.615 Das Problem ist hier, dass Quenstedt Glaubensgewissheit als Erwählungsgewissheit bestimmt.616 Luther verortete die Glaubensgewissheit ganz im Kommunikationsgeschehen zwischen Gott und Mensch: Allein im Blick weg von sich selbst hin auf Gott und seine Verheißung kann sich der Mensch seines Glaubens gewiss sein.617 Bei Quenstedt wird dieser Blick auf Gott nun aber durch seine Erwählungslehre wieder auf den erwählten Menschen zurückgelenkt, weil Gott aufgrund des vorhergesehenen Glaubens des Menschen erwählt. So wird die Glaubensgewissheit auf die Frage nach der Perseveranz des Glaubens zurückgeworfen und die Gewissheit kann nur durch einen syllogismus practicus herbeigeführt werden: „Alle, die glauben, sind gerechtfertigt; Ich bin einer, der glaubt, Also bin ich gerechtfertigt.“ Der major dieses Syllogismus ist gewiss aufgrund der göttlichen Verheißung.618 Die Probleme werden hingegen im Blick auf den minor deutlich: Woher weiß ich denn, dass ich zu denjenigen gehöre, die unter die Klasse der Glaubenden fallen? Hier setzt die Kritik der katholischen Gegenposition ein. Weil ich nicht sicher wissen kann, ob ich zu denjenigen gehöre, die glauben, gibt es nur eine allgemeine, konjekturale Glaubensgewissheit:619 Unter der Bedingung, dass ich glaube, bin ich gerechtfertigt. Die Möglichkeit des Zweifels, die es bei Quenstedt nur bezogen auf die Zukunft gibt, trifft hier auch die Gegenwart. Quenstedt beruft sich demgegenüber nun aber auf eine Gewissheit des Glaubens, die gerade nicht durch den dargestellten Syllogismus herbeige613 Der Rechtfertigungsglaube kann durch eine Todsünde verloren gehen: III, IIX/1, Th XXIII, nota VII. 614 III, II/1, Th XXI, nota III. Sehr deutlich, wird hier die Gewissheit über die Erwählung durch einen syllogistischen Schluss gewonnen. Die Unterscheidung wird im Rechtfertigungskapitel wieder aufgegriffen: III, IIX/1, Th XXIII, nota IV. 615 III, IIX/2, q IX, Ekth. IV. 616 Besonders deutlich in III, II/1, Th XXI, nota III (certitudo electionis). 617 Vgl. dazu Bayer, Martin Luthers Theologie, 41–53. 618 III, IIX/2, q IX, Beb. I. 619 III, IIX/2, q IX, Ekdik. I: „Ad I. nostram probationem regerunt oi< >Antile/gontej: Promissiones illas non esse particulares, sed generales“ (Hervorhebung im Original). Vgl. aaO., Antith. I. In IV, VIII/2, q IV, Dial. IX greift Quenstedt die Frage nach der Glaubensgewissheit noch einmal auf, diesmal als Frage nach der Gewissheit der Sündenvergebung. Quenstedt führt diese Frage auf die Frage nach der Glaubensgewissheit zurück: Gewissheit über die Vergebung der Sünden habe ich aufgrund des Glaubens.

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führt werden kann, weil sie diesen erst ermöglicht: Es gibt über diese syllogistisch erschlossene Erwählungsgewissheit hinaus eine Gewissheit des Glaubens sowohl aufgrund der Ursachen des Glaubens (causa fidei) als auch aufgrund der Kennzeichen des Glaubens (nota fidei). Die Ursachen des Glaubens, nämlich Gottes Gnade, das Verdienst Christi, Wort und Sakrament, haben eine Wirkung, unabhängig davon, auf welche Weise sie aufgenommen werden. Der Blick wird hier also wieder vom Menschen weg hin auf das Handeln Gottes gelenkt. Darüber hinaus erkennt man den Glauben an seinen Kennzeichen, also u.a. an dem Verlangen nach göttlicher Gnade, an der geschehenden Erneuerung und dem innerem Licht, am inneren Zeugnis des Heiligen Geistes oder am Studium der guten Werke.620 „Wo aber die Wirkungen wahrhaft vorhanden sind, folgen sie auf den Glauben, dort können wahrer Glaube und Buße nicht fehlen.“621 Der Glaubende vergewissert sich seines Glaubens also im Vollzug der Glaubenspraxis und unter Ausrichtung auf die äußeren Heilsmittel, durch die er entsteht, und nicht durch einen Syllogismus. Es erscheint daher angeraten anders als Quenstedt zwischen Glaubensgewissheit und Erwählungsgewissheit zu unterscheiden. Die Glaubensgewissheit ist jene individuelle Gewissheit, die sich ganz im Sinne Luthers an den äußeren Heilsmitteln festmacht und sich ihrer selbst, wo nötig, in der Erfahrung des Glaubens vergewissert. Sie ist unmittelbar im Wortgeschehen (Verkündigung des Schriftwortes) verankert. Weil sie der Wirksamkeit des Wortes entspricht, ist sie eine fundamentale Gewissheit des Glaubens, die nicht hintergangen werden kann.622 Die Erwählungsgewissheit hingegen ergibt sich durch syllogistischen Schluss aus der Glaubensgewissheit, vorausgesetzt, man formuliert die Lehre von der Erwählung so wie Quenstedt und die Altlutheraner. Entscheidend ist im Blick auf diese letzte Frage, dass diese Lehre von der Erwählung aus der Lehre von der Bekehrung und Rechtfertigung abgeleitet ist. Denn die Unterscheidung zwischen universalem Heilswillen Gottes und der Prädestination nur einiger zum Heil gründet darin, dass sich 620 III, IIX/1, q IX, Ekdik. I: „Potest quis de fide & poenitentia sua certus esse, tum a priori, ratione causarum, tum a posteriori; ratione notarum: v.g. fidei causae sunt, Gratia Dei, meritum Christi, Verbum & Sacramenta; Causa autem in actu posita, ponitur effectus, modo ipsi autem non impediamus. Notae vero verae fidei ac poenitentiae sunt, Gratiae divinae desiderium, Renovatio & lucta interior, interna Spiritus S. testificatio, bonorum operum studium &c“ (Hervorhebung im Original). 621 Ebd.: „Ubi vero sunt effectus, veram fidem consequentes, ibi vera fides & poenitentia nequequam abest.“ 622 Im Blick ist damit ein Gewissheitsbegriff, der dem wittgensteinschen ähnelt. Gewissheit in diesem sprachphilosophisch fundamentalen Sinn ist Grundlage unserer Sprache und unseres Lebens. Es geht dabei um grundlegende Gewissheiten, die wir nicht ohne weiteres hinterfragen können, ohne unsere eigenen Voraussetzungen gänzlich in Frage zu stellen. Im Blick auf diese Gewissheiten lässt sich sinnvoll von Zweifel gar nicht reden. Vgl. dazu ÜG, z.B. §§ 10, 93ff, 114– 119.

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nicht alle aufgrund der Berufung bekehren. Ist die Erwählungslehre als ewiges Pendant zur Rechtfertigungslehre gebildet, so ist die Rechtfertigungslehre (der Begriff wird hier von Quenstedt im weiteren Sinne verwendet)623 zumindest der theologischen Erkenntnis nach das Primäre. Ob man aber aus der Lehre der Heilszueignung in Berufung, Bekehrung und Rechtfertigung auf eine vorausgehende ewige Erwählung Gottes schließen sollte, wie es bei Quenstedt geschieht, darf man aufgrund der dargestellten Probleme durchaus in Frage stellen. Mit Wittgenstein kann man dies als ein gegenständliches Missverstehen eines Regelsatzes, als grammatische Täuschung, deuten. Die Rede vom unfreien Willen, in der Lehre von der Bekehrung Audruck einer Regel, die unser Sprechen über die Bekehrung kritisch begrenzt, und als solche allein in diesen Kontext gehörend, wird als ein Satz über das ewige Sein und Wollen Gottes missverstanden und ihrem ursprünglichen Kontext entrissen. Ein grammatischer Satz wird als Aussage interpretiert, die auf einen Gegenstand bezogen sein soll, hier den Willen Gottes. Dies gilt zumindest, wenn man die Prädestinationslehre wie Quenstedt von den Praxisvollzügen des Glaubens loslöst, weil man in ihr über das Verhältnis von voluntas Dei absoluta und ordinata spekuliert. Die Möglichkeit einer grammatischen Reinterpretation der Prädestinationslehre deute ich hier nur an: Es käme darauf an nach den praktischen Kontexten der Rede von der Vorherbestimmung zum Glauben zu fragen. Sie wären dann nicht ontologisch als Sätze über das Wesen Gottes und seinen Willen zu vergegenständlichen, sondern aus ihren pragmatischen Kontexten heraus zu interpretieren.624 Noch weitgehender wird die Rede von der Unfreiheit des menschlichen Willens in der Anthropologie vergegenständlicht. Sie wird hier im Kontext der Lehre vom verbliebenen natürlichen Vermögen des Menschen nach 623 Dies ergibt sich aus dem freien Sprachgebrauch Quenstedts an den oben angegebenen Stellen. So ist in III, II/2, q II, Beb. II.III die Rede von „salvatio“ und „justificatio“, aaO., q III, Beb. I ist allgemein die Rede von der Segnung (benedictio) durch Gott in der Zeit, aaO., q IV, Ekth. III geht es um die Identität von causae electionis und causae salutis, aaO., FS VII werden dann allein Rechtfertigung und Erwählung aufeinander bezogen. Offensichtlich steht „Rechtfertigung“ hier umfassend für das Ganze des Heilsgeschehens. Dies zeigt, dass sich der weitere Begriff neben dem engen forensischen außerhalb des Artikels „de justificatione“ durchaus auch in der lutherischen Orthodoxie gehalten hat. 624 Dies hat Wittgenstein auf seine Weise gemacht: „Gnadenwahl: So darf man nur schreiben unter den fürchterlichsten Leiden – und dann heißt es etwas ganz anderes. […] Eher als eine Theorie, ist es ein Seufzer, oder ein Schrei.“ (VB 491) Wittgenstein sieht also den Ort der Rede von der Erwählung (Wittgenstein spricht, vermutlich in Anlehnung an Barth, von Gnadenwahl) in erster Linie in der Situation der Anfechtung. So sehr man dies theologisch in Zweifel ziehen mag, ist es doch ein methodisches Beispiel für eine grammatische Interpretation der Rede von der Erwählung. Sinnvoller scheint mir eine Verortung der Rede von der Erwählung im Zusammenhang mit der Gewissheit des Glaubens einerseits und mit dem Auftrag der Christen in der Welt andererseits. Diese Überlegungen weiter auszuführen ist hier freilich nicht der Ort.

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dem Sündenfall behandelt. Thema ist zunächst die verbliebene Freiheit des Menschen.625 Die Unfähigkeit des Menschen sich zu bekehren wird so zu einer Eigenschaft des gefallenen Menschen, die sich im Gegenüber zur unendlichen Freiheit Gottes begründet. Der unfreie Wille des Menschen im Zustand nach dem Sündenfall wird mit der Boshaftigkeit und der Verderbnis des menschlichen Willens identifiziert und ist somit lediglich eine Einschränkung seiner ihm von Gott in der Schöpfung ursprünglich verliehenen Freiheit. Grundlegend dafür sind zahlreiche Distinktionen im Begriff des freien Willens. So gibt es in allen Menschen eine Freiheit von äußerem Zwang (libertas a vi & coactione) als innere Freiheit des Subjekts626 und eine Wahlfreiheit (libertas specificationis), eigentlich definiert als die Freiheit der Wahl zwischen Gut und Böse,627 bezogen auf geistliche Gegenstände nun aber eingeschränkt als die Wahlfreiheit zwischen diesem oder jenem spirituellen Bösen.628 Die Möglichkeit etwas Gutes zu wählen hat der Mensch hier nur bezogen auf das natürliche Gute im politischen und gesellschaftlichen Bereich.629 Darin zeigt sich bereits die Schwäche dieses Lehrstückes: Die entscheidende Einschränkung des Willens ist eine Einschränkung der libertas specificationis und kann nicht einfach nur als eine Einschränkung auf diesen oder jenen Aspekt der Freiheit durchgeführt werden, auch wenn dies hinzutritt.630 Die Distinktionen im Freiheitsbegriff helfen also an der entscheidenden Stelle gar nicht weiter, und es bleibt die Feststellung, dass die libertas specificationis eigentlich die Wahlfreiheit zwischen Gutem und Bösem ist, für den Menschen im status corruptionis bezogen auf die spiritualia aber nur die Wahlfreiheit zwischen diesem oder jenem Bösen, und für den Menschen im status glorificationis nur die Wahlfreiheit zwischen diesem oder jenem Guten.631 Quenstedt ist sich der Schieflage der Argumentation hier offensichtlich bewusst und präzisiert so im Blick auf den status glorificationis den Begriff der Wahlfreiheit: Dass der Mensch hier nur die Wahl zwischen diesem und jenem Guten hat, ist keine Einschränkung der Wahlfreiheit, weil das Gute der eigentliche Gegenstand des freien Willens ist. Daher ist diejenige Freiheit, die nur zwischen diesem und jenem Guten wählt, vollkommene Freiheit, schließlich ist auch Gott gerade 625 II, III: „De viribus Naturalibus post lapsum in homine residuis, & Libero Arbitrio.“ Der weitere Kontext ist die Behandlung des subjectum theologiae in der Pars Secunda, die „de Homine scil. Peccatore ad Deum reducendo“ (Titel der Pars Secunda) handelt. 626 II, II/1, Th XII, nota I und V. Vgl. zu den Begriffen äußerer und innerer Freiheit auch Fischer, Theologische Ethik, 138–141. 627 II, II/1, Th XII, nota III. 628 II, II/1, Th XXVI. 629 II, III/1, Th XXVI, nota. 630 So fehlt dem Menschen im status corruptionis z.B. die Freiheit von der Macht der Sünde, die er inchoative mit der Bekehrung, vollständig aber erst im status glorificationis erlangt. 631 II, II/1, Th XXXVII, nota.

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darin frei, dass er nicht das Böse wählen kann.632 Damit ist die ursprüngliche Definition der libertas specificationis allerdings faktisch aufgegeben, denn Wahlfreiheit im eigentlichen Sinne ist nun als Wahl des Guten definiert, eine freie Wahl zwischen Gut und Böse gibt es weder im Zustand nach dem Sündenfall noch im Zustand der Verherrlichung. Es bliebe noch der status reparationis per conversionem als Ort der ursprünglichen Definition der libertas specificationis. Allerdings ist dieser Zustand von vornherein als Übergangsstadium zwischen Sünde und Herrlichkeit definiert, er ist Anfang der Wiederherstellung der Herrlichkeit des Menschen: Die freie Wahl des (geistlich) Guten geschieht hier nur „durch den Beistand und die Mitwirkung der Gnade des Heiligen Geistes (bzw. durch die übernatürlichen Kräfte, die in der Bekehrung als göttliche empfangen wurden)“, während die Wahl des geistlich Bösen „durch das bis dahin in ihm verbleibende Fleisch“ geschieht.633 Die Wahlfreiheit, so wie sie eingangs von Quenstedt definiert wurde, wäre dann also lediglich ein Zwischenphänomen, der Mensch selber nur in eingeschränktem Maße Subjekt der Wahl. Quenstedt verwendet den Begriff der libertas specificationis denn auch nicht im Kontext seiner Ausführungen über die Freiheit des Menschen nach der Bekehrung. Die traditionellen metaphysischen Distinktionen liegen hier also offensichtlich im Konflikt mit dem soteriologischen Interesse, die Passivität des Menschen in der Bekehrung zu betonen. Daher wird nun innerhalb des Begriffes der Wahlfreiheit noch einmal eine Unterscheidung eingeführt, die den Gegenstand der Wahl betrifft, nämlich die Unterscheidung zwischen hemispheria inferius und hemispheria superius.634 Zur unteren Sphäre, also den Dingen, im Bezug auf die der gefallene Mensch frei ist zwischen Gutem und Bösem zu wählen, zählen auch diejenigen res sacrae, die auf natürliche Weise erkannt bzw. vollzogen werden können, sowie die äußeren Handlung des Ganges zum Tempel oder der physische Vorgang des Hörens.635 Die obere Sphäre bezieht sich auf die 632 Ebd. Im Hintergrund steht hier die Vorstellung von der Sünde und dem Bösen als privatio boni, die in der Schöpfungslehre verankert ist: Das Gute ist das ursprüngliche, von Gott geschaffene Sein, das Böse ist Abwesenheit des Guten und wird daher ontologisch als privatio boni bestimmt. Dass Böse hat kein eigenes Sein, sondern ist nur Abwesenheit vom Guten als ursprünglichem Sein. Vgl. dazu II, II/2, q V. 633 II, II/1, Th XXXV: „[…] potest libere eligere bonum (spirituale) per assistentem & cooperantem Spiritus S. gratiam, (sive per vires supernaturales in conversione divinitas acceptas), potest etiam eligere malum spirituale per carnis reliquias adhuc in ipso haerentes“. Im Hintergrund steht dabei deutlich die Vorstellung vom bekehrten Menschen als simul justus et peccator. 634 Diese Unterscheidung beruht auf CA XVIII (BSLK 73,1–8). Noch deutlicher ist dies bei Chemnitz, Examen decretorum Concilii Tridentini, 121a. Er unterscheidet zwischen „den Dingen, die den Sinnen und dem Verstand unterworfen sind“ („iis quae sensibus & rationi subiecta sunt“) und „dem, was die anfangenden und wirksam werdenden geistlichen Bewegungen bzw. Handlungen betrifft“ („quoad attinet ad spirituales motus seu actiones inchoanda & efficiendas“). 635 II, III/1, Th XXVIII.

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rein geistlichen Angelegenheiten wie die wahre Anerkennung Gottes, Gottesfurcht und Glaube an Christus.636 Bezogen auf diesen Gegenstandsbereich ist der Mensch in seiner Wahl nicht frei zwischen Gut und Böse zu wählen, sondern er kann von sich aus nur zwischen Böse und Böse wählen. Dementsprechend sind auch die äußeren Vollzüge, wie der Gang zum Tempel, das Hören und Lesen des Wortes Gottes, die in diesen Gegenstandsbereich des menschlichen Willens gehören, als etwas geistlich Gutes bereits Werk der gratia praeveniens.637 Dieses Unvermögen des Menschen bezogen auf die geistlichen Dinge der hemisphaeria superius betrifft nicht nur den Willen, sondern auch den Verstand.638 Wille (voluntas) und Verstand (intellectus) sind ja beide Gegenstand der Lehre von den natürlichen Vermögen, die dem Menschen nach dem Sündenfall bleiben.639 Unter dem Titel des freien Willens werden sowohl Wille als auch Verstand behandelt.640 In der Behandlung des freien Willens tritt der Verstand als Gegenstand dann aber in den Hintergrund, weil er ausdrücklich aus der Definition des freien Willens ausgeschlossen wird.641 Der intellectus trägt zur Willensfreiheit nur indirekt bei, weil der Wille nichts entscheiden kann, ohne dass der Verstand ihm etwas zu entscheiden vorgibt.642 Er ist lediglich principium directivum.643 In den Blick kommt der Verstand erst dort wieder, wo Quenstedt relativ unvermittelt von der Frage nach den Möglichkeiten des menschlichen Wollens zur Frage nach dem Verstehen der Heiligen Schrift übergeht.644 In der Lehre von der conversio ergibt sich der Zusammenhang von Unfreiheit des Willens (bzw. Ausschluss des freien Willens) und Unverständnis der Heiligen Schrift zwanglos, weil das Verstehen der Schrift dort als Übergang zum Glauben sowohl im Verstand (notitia, assensus) als auch im menschlichen Willen (fiducia) beschrieben wird. Wo aber die Lehre von der Unfreiheit des menschlichen Willens in den Konflikt zwischen metaphysischer und theologischer Anthropologie hineingezogen wird, entstehen offensichtlich Schwierigkeiten in der Darstellung dieses Zusammenhangs. Sowohl Wille 636 Vgl. II, III/1, Th XXX, nota I. 637 II, III/1, Th XXXI. 638 II, III/1, Th XXXII. 639 II, III/1, Th III. 640 II, III/1, Th IX. 641 II, III/1, Th XXI, nota: „In definitione Liberi arbitrii nullam fieri mentionem intellectus, ejusque virium, quia formaliter in libero arbitrio stricte dicto non includuntur, sed saltem praesupponuntur.“ 642 II, III/2, q I, Beb. 643 II, II/1, Th XVII, nota. Zum Verhältnis von Wille und Vernunft bei Quenstedt vgl. Baur, Die Vernunft, 58f, zum Verhältnis von freiem Willen und Vernunft aaO., 70–72. 644 II, III/1, Th XXXI: „Huc etiam pertinet externa & historica cognitio sensus veri propositionum Biblicarum, mysteria fidei tradentium“.

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als auch Verstand werden unter dem Titel des freien Willens behandelt, gleichwohl der Verstand aus der metaphysischen Definition des Willens645 ausgeschlossen ist. Auch dies ist ein Hinweis auf die Problematik der Vergegenständlichung der Rede von der Unfreiheit des Willens. Dass das Verstehen der Heiligen Schrift auch einen voluntativen Aspekt hat, weil es eben das Entstehen von fiducia im Willen ist, gerät mit der metaphysischen Definition des Willens in Konflikt, die nicht zulässt, dass Verstehen im Willen geschieht. Dass Quenstedt hier dennoch unmittelbar von der Aussage der Unfreiheit des Willens zur Aussage über die Unmöglichkeit eines vollen Verstehens der Heiligen Schrift übergeht, zeigt allerdings, dass Quenstedt den Zusammenhang des Verstehens der Heiligen Schrift mit dem menschlichen Willen auch hier nicht aus dem Blick verliert. Aufschlussreich ist nun allerdings, was Quenstedt hier zum Verstehen der Heiligen Schrift anführt, denn er unterscheidet hier zweierlei Arten des Verstehens. Es gibt ein allgemeines, klares Verstehen der Worte des Textes durch alle Menschen. Aufgrund der Verblendung des menschlichen Verstandes kommt es jedoch bei den nicht wiedergeborenen Menschen nicht zum Verstehen des wahren Textsinns, „d.h. sie können nicht begreifen, auf welche Weise Subjekte und Prädikate zusammenpassen, und was die Worte in diesem Zusammenhang und dieser Verbindung verlangen oder vermögen, viel weniger noch können sie jenen Worten voll zustimmen.“646 Das wahre Verstehen charakterisiert Quenstedt als das Verstehen des geistlichen Sinns (sensus spiritualis) der Schrift.647 Zu diesem Verstehen, so wurde es im Kapitel über die Bekehrung ausgeführt, verhilft erst die gratia operans, gleichwohl die vorangehenden Wirkungen der Gnade, also auch schon die gratia praeveniens, die den Menschen bewegt, das Wort Gottes im Gottesdienst zu hören und es zu lesen, auch durch das Wort wirken. Man kann hier nur spekulieren, wie Quenstedt sich diese Wirksamkeit durch das Wort vorstellt, die den Menschen überhaupt erst zum Lesen der Schrift bewegt. Es bleibt eigentlich nur die Verkündigung des Wortes im weitesten Sinne: Ein Mensch kommt, um das Wort der Schrift zu hören, weil er durch andere davon gehört hat. Sein Kommen, um das Wort zu hören ist dann bereits Wirkung der Gnade Gottes durch dieses Wort, und das Kommen ist praktisches Verstehen dieses Wortes, das den Raum für ein weitergehendes (praktisches) Verstehen eröffnet. Erst dieses weitergehende praktische Verstehen 645 Sie lautet: „Est ergo Liberum arbitirum nihil aliud, quam Facultas activa voluntatis, qua illa circa objectum agibile, positis omnibus ad agendum requisitis, indifferenter se habet, tum quoad speciem, tum quoad exercitium actus.“ (II, III/1, Th XXI, Hervorhebung im Original). 646 II, III/1, Th XXXI, nota: „[…] h.e. non possunt capere, quomodo subjecta & praedicata cohaerent, & quid in hac connexione & copulatione verba velint aut valeant, adeoque multo minus verbis illis possint assensum praebere firmum“. 647 II, III/2, q II, Ekdik. I.

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der Schrift in Bekehrung und Glaube ist das Verstehen des sensus spiritualis der Heiligen Schrift. Diese Ausführungen über das Verstehen der Schrift im Kontext der Lehre über den (un)freien Willen des Menschen, stehen darin, dass sie die Unfreiheit des Willens unmittelbar auf das Verstehen als eines Vorgangs des Verstandes beziehen, in einer gewissen Spannung zum metaphysischen Willensbegriff. Sie verweisen über den gegebenen Kontext hinaus auf die pragmatische Dimension der Rede vom „unfreien Willen“, wie er in der Lehre von der conversio deutlich wird. e) Das Heil als Gabe (donum, habitus, virtus) – Übergang von Passivität zur Aktivität in Buße (poenitentia) und Erneuerung (renovatio) Bereits im Kapitel über die Rechtfertigung des Sünders werden die grundlegenden Entscheidungen getroffen, die es erlauben, der Passivität des Menschen in der Bekehrung überzugehen zu einer Mitwirkung des Menschen als aktives Subjekt in der Erneuerung. Es ist dies der Übergang von der gratia operans hin zur gratia cooperans bzw. inhabitans. Zwar wird die Rechtfertigung selber nicht als Eingießung der Glaubensgerechtigkeit bzw. der Tugenden von Glaube, Hoffnung, Liebe verstanden,648 sondern als imputatio iustitiae Christi, kraft derer wir von Gott als gerecht beurteilt werden und es daher auch sind.649 Die Gnade Gottes ist also kein eingegossener habitus, sondern Gottes Gunst (favor).650 Jedoch folgt aus der Anrechnung der Gerechtigkeit Christi eine Eingießung übernatürlicher Tugenden (virtutes), durch die der Heilige Geist den Menschen befähigt an seiner Erneuerung mitzuwirken. So unterscheidet Quenstedt zwischen der Rechtfertigungsgnade (gratia justificationis), die kein habitus, sondern Gunst ist, und der Gnade der Erneuerung bzw. Heiligung (gratia renovationis ac sanctificationis), die ein dem Menschen eingegossener Tugendhabitus (habitus virtutum) ist.651 Die explizite Bezeichnung der Gnade der Erneuerung als Habitus ist allerdings selten – es scheint, Quenstedt vermeidet sie, weil sie begrifflich nahe an die katholische Lehre von der gratia infusa heranführt. Stattdessen spricht Quenstedt meist von den übernatürlichen Kräften (vires supernaturales), die als Folge der Rechtfertigung dem Menschen mitgeteilt 648 Vgl. III, IIX/2, q II, Th. 649 Vgl. III, IIX/1, Th XIX, nota. 650 Vgl. III, IIX/1, Th VI, nota und III, IIX/2, q II, Th und Ekth. II. 651 III, IIX/2, q II, Ekth. V: „Disting. inter Gratiam justificationis, quae nihil aliud est, quam misericordia & favor Dei gratuitus, & Gratiam renovationis ac sanctificationis, quae praecedentem consequitur, & consisitit in habitus virtutum, quos Spiritus S. in renatis & justificatis operatur“ (Hervorhebung im Original). Die Rede vom habitus begegnet außerdem aaO., Ekth. IV und Dial. II (dona gratiae) und III, IIX/2, q VI, Ekth. VIII (s. Zitat unten in Anm. 707).

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werden. Allerdings wird man diese vor dem Hintergrund des soeben Ausgeführten wohl als Tugendhabitus im Sinne der theologischen Tradition auffassen müssen. Diese dem Menschen verliehenen übernatürlichen Kräfte sind aber nicht – hier liegt der entscheidende Unterschied zur tridentinischen Rechtfertigungslehre – die Gnade Gottes, die er uns eingießt (gratia infusa), und durch die er uns rechtfertigt, sondern sie sind als Gnadengaben (dona gratiae) Wirkung der göttlichen Gunst (favor Dei), die uns die Gerechtigkeit Christi anrechnet.652 Die Rechtfertigung wird so von ihrer Fortsetzung, nämlich der täglichen Bekehrung und Abtötung des Fleisches des Menschen, insofern er wieder gesündigt hat, unterschieden.653 Dem entspricht, dass das Geschehen der täglichen Neuanrechnung der Gerechtigkeit Christi im Glauben als tägliche Erneuerung (renovatio) bezeichnet wird654 und so Werk der gratia renovationis und nicht der gratia justificationis ist, wie es dem Wort und der Sache nach zu erwarten wäre. Zwischen dem Anfang im Glauben und dem Sein und Wachsen im Glauben gibt es also eine deutliche Zäsur, die zugleich der Übergang aus der passiven Widerfahrnis der Gnade Gottes hin zur aktiven Gestaltung des Glaubens ist. So taucht der Mensch in dem Kapitel über die Erneuerung (renovatio) als Mitwirkender seiner eigenen Erneuerung auf.655 Die Passivität des Menschen wird hier auf das Anfangsgeschehen der renovatio, des Empfangs der übernatürlichen Tugenden in der Bekehrung bzw. Rechtfertigung reduziert.656 Die Entwicklung des Habitus-Begriffs ist zu komplex, um hier in ihrer ganzen Reichweite dargestellt werden zu können. Da der Begriff jedoch für das Verständnis sowohl der gratia applicatrix als auch des Theologieverständnisses von Quenstedt zentral ist, müssen hier wenigstens einige Grundlinien der Begriffsgeschichte nachgezeichnet werden.657 Grundlegend ist die aristotelische Tugendlehre, in der die Tugend als ein 652 III, IIX/2, q II, Ekth. II: „Disting. inter gratiam & donum gratiae; inter ipsum favorem & effectum favoris. Gratia, per quam justificamur, non notat donum vel effectum quoddam gratiae in nobis, sed affectum benevolentissimum in Deo, seu gratuitum Dei favorem“. 653 III, IIX/2, q V, Ekth. V: „Disting. inter ipsam justificationem, cum scil. homo primo ex injusto fit justus & Deo reconciliatur […], & inter ejusdem continuationem, seu quotidianam hominis in peccata prolabentis conversionem, & carnis mortificationem“ (Hervorhebung im Original). 654 III, IIX/1, Th XXIII, nota VI. 655 In III, XI/1, Th II, nota werden regeneratio, justificatio und renovatio ihren causae nach verglichen. Einzig bei der renovatio tritt der Mensch als causa efficiens zu Gott hinzu. In regeneratio und justificatio ist Gott alleine causa efficiens. In der renovatio ist der Mensch causa efficiens subordinata, der, von Gott bewegt, sich durch die angenommenen übernatürlichen Kräfte von Tag zu Tag erneuert (vgl. aaO., Th III, nota). 656 In diesem Sinne stimmt die Aussage von Falk Wagner: „Wenn auch die anfängliche Passivität des Menschen in Selbsttätigkeit überführt wird, so behält diese gleichwohl den Charakter des Verdanktseins.“ (Wagner, Bekehrung II/2, 464) 657 Die Darstellung orientiert sich dabei im wesentlichen an Funke, Gewohnheit.

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Habitus (e[qij) begriffen wird. Der Habitus ist kein natürlich Gegebenes, sondern ergibt sich aufgrund von regelmäßiger einübender Tätigkeit. Er wird so zu einer erworbenen „zweiten Natur“, wie Funke es in Anlehnung an Augustin formuliert,658 die „eine aktive, wenn auch nicht ursprüngliche Seelenkraft“659 ist. Seinem Ursprung nach ist die Rede von habitus und virtus also auf diejenigen Tätigkeiten des Menschen gerichtet, die durch Gewohnheit gleichsam zu seiner „zweiten Natur“ werden. Die christliche Tradition wandte in der Gestalt des Kirchenvaters Augustin diesen Habitus-Begriff zunächst vor allem auf den Sündenbegriff an: Die negativen Tugenden des bösen Willens werden uns zur zweiten Natur, sind aber nicht primäres Vermögen des Menschen. Überwunden werden können diese bösen Tugenden aber nur durch von Gott eingegossene Tugenden. Die Kraft zur Überwindung der bösen Tugenden kann nur aus einem neuen Willen entstehen, aus dessen Wirksamkeit heraus sich neue Tugenden bilden.660 Es zeichnen sich also schon bei Augustin die durch Thomas von Aquin zur Prominenz gelangte Unterscheidung von habitus acquisitus und habitus infusus ab.661 Bei Thomas wird dann der durch übernatürliche Eingießung der Gnade verliehene Habitus zum eigentlichen Tugendhabitus. Weil dieser aber nicht mehr durch Gewohnheit erworben wird, sondern von Gott verliehen ist, wird der Begriff des Habitus bei Thomas nicht mehr durch Gewohnheit definiert. Gewohnheit charakterisiert nur noch den natürlich erworbenen Habitus des Menschen. Der mit den übernatürlichen Tugenden beschenkte Mensch kann sich dann allerdings dieser Tugenden wiederum durch Gewohnheit vergewissern, so dass sich auch hier eine zweite Natur ausbilden kann.662 Grundlegend bleibt dabei aber die Unterscheidung zwischen dem Wesen und der Entstehung der Tugend.663

Bei Quenstedt findet sich nun der Sache nach die thomistische Unterscheidung zwischen dem Wesen und der Entstehung des Tugendhabitus. Sie bringt nun aber die Gefahr mit sich, dass sich die dem Menschen einmal als Habitus mitgeteilte Gabe von ihrem Geber löst. Ist der Mensch an der Bekehrung lediglich passiv beteiligt, so werden doch der in der Bekehrung geschenkte Glaube und die mit ihm verliehenen übernatürlichen Tugenden in der Erneuerung (renovatio) zum vorausgesetzten Besitz des Menschen.664 Die eingegossenen Habitus bleiben ihrem Wesen nach aktives Prinzip des menschlichen Handelns. Passiv ist der Habitus lediglich seiner Entstehung nach, seinem Wesen nach bleibt er durch willentliche Tätigkeit bestimmt. Der Übergang vom Unglauben zum Glauben wird so als eine Veränderung 658 Vgl. Funke, Gewohnheit, 19: „In der Gewohnheit steckt mehr als bloß die Natur […] quae non frustra dicta est a quibusdam secunda natura [Augustin, Contra Julianum 4,103]“. Im Bezug auf Aristoteles vgl. aaO., 49. 659 Funke, Gewohnheit, 50. 660 Vgl. Funke, Gewohnheit, 140. 661 Vgl. Funke, Gewohnheit, 143. 662 Funke, Gewohnheit, 168 spricht von „Sicherung durch Gewöhnung“. 663 Vgl. Funke, Gewohnheit, 156. 664 Vgl. die Kritik von Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung, 163 an der Gnadenlehre des Tridentinums.

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der Fähigkeiten des Menschen dargestellt, die renovatio ist entsprechend eine „geistliche Verwandlung“ (mutatio spiritualis) des Menschen.665 Auch die Eingießung der neuen Fähigkeiten des Menschen geschieht nicht unmittelbar, sondern sie geschieht mittels der Heilsmittel von Wort und Sakrament, durch die der Heilige Geist mitgeteilt wird, der heiligender Geist ist (Röm 1,4), und durch den rechtfertigenden Glauben, durch welchen Gott das Herz des Menschen reinigt.666 Unklar bleibt allerdings, wie sich die renovatio als Wirkung der Schrift und des Wortes zur conversio verhält. Ist es ein über die Bekehrung hinausgehendes Verstehen der Schrift? In welchen Praktiken vollzieht es sich? Kurz: Es fehlt an Konkretionen der Behauptung, dass die Verleihung der übernatürlichen Kräfte eine Wirkung des Wortes sei. Es erscheint hier so, dass diese Kräfte dem Menschen einmal verliehen werden und dass sich die Wirksamkeit des Wortes auf diesen Moment reduziert. Diese anfängliche Verleihung neuer Fähigkeiten durch das Wort ist dann die Voraussetzung dafür, dass der Mensch dann an seiner Erneuerung mitwirken kann (cooperatio). Die Problematik dieser Konstruktion wird nun dort deutlich, wo sie bei Quenstedt mit genuin reformatorischen Einsichten in Konflikt gerät. Dies geschieht zunächst darin, dass der Begriff der Bekehrung (conversio) unscharf wird, insofern Quenstedt die tägliche Erneuerung, die er als Akt der gratia renovationis kennzeichnet, ebenfalls Bekehrung nennt.667 Dies hängt zusammen mit der Unterscheidung von Bekehrung und Buße (poenitentia). Zwar kennt Quenstedt auch einen weiteren Begriff der Buße, der diese unmittelbar mit der conversio identifiziert, schränkt den Begriff dann aber explizit ein auf die Buße als Wirkung der Bekehrung, insofern der Begriff transitiv verwendet wird.668 Die transitive oder auch aktive Verwendung des Begriffs Bekehrung bezieht sich auf den Heiligen Geist als das handelnde Subjekt der Bekehrung des Menschen, die intransitive bzw. passive Verwendung des Begriffs bezieht sich auf die Veränderung am Menschen als einer unmittelbaren Wirkung der Handlung des Heiligen Geistes.669 Daher scheint hier die Buße zunächst mit der Bekehrung identifiziert zu werden, insofern sie sich am Menschen ereignet.670 Jedoch wird dann ausgeführt,

665 III, XI/1, Th I, nota. 666 Insofern hat Koch, Ordo salutis, 30 unrecht, wenn er behauptet, der Glaube spiele bei Quenstedt in der renovatio keine Rolle mehr. 667 III, IIX/2, q V, Ekth. IX. 668 III, IX/1, Th III: „Homini tributa vox Poenitentiae sumitur apud Theologos vel pro conversione transitive accepta, vel de conversionis transitive seu active sumtae, effectu, & haec significatio est hujus loci“ (Hervorhebung im Original). 669 III, VII/1, Th V. 670 In III, IX/1, Th III, nota wird dementsprechend präzisiert: „Homini tributa vox poenitentiae sumitur […] pro conversione passive accepta, seu quatenus est Conversionis transitive &

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dass der Mensch die Fähigkeit zur Buße durch den Heiligen Geist als eine übernatürliche Gabe empfängt. So wird er neben der Trinität671 selber als causa efficiens der Buße behandelt.672 Wenn der Mensch in der Bekehrung Mitwirkender ist, heißt dies aber, dass die Buße Wirkung der gratia cooperans bzw. renovationis ist und als solche auf Bekehrung und Rechtfertigung, die Wirkungen der gratia operans sind, folgt. Dementsprechend wird sie im Kapitel über die Bekehrung auch zu den Wirkungen (effectus) der Bekehrung ganz allgemein, jenseits der Unterscheidung von transitiver oder passiver Verwendung des Begriffs, gezählt.673 So unterscheidet Quenstedt denn auch zwischen der Buße derer, die noch nicht wiedergeboren sind, und der täglichen Buße der Glaubenden. Dabei allerdings betont er nun wieder, dass es hier allein um die Buße derer gehe, die noch nicht wiedergeboren sind.674 Offensichtlich sind die Begriffe der Buße und das Verhältnis von Buße und Bekehrung bei Quenstedt nicht eindeutig geklärt. Auf der einen Seite unterscheidet er zweierlei Bußbegriffe, nämlich die Buße derer, die noch nicht wiedergeboren sind, und die tägliche Buße der Wiedergeborenen. Diese Unterscheidung wirkt dann offensichtlich auf den Begriff der Bekehrung zurück, so dass Quenstedt auch zwischen der Bekehrung als Anfangsgeschehen des Glaubens und der Bekehrung als sich fortsetzender Erneuerung des Glaubens unterscheidet. Zum anderen werden dadurch die Begriffe der Bekehrung und der Buße ambivalent, bezeichnen einmal ein Werk der gratia justificationis und einmal ein Werk der gratia renovationis, führen einmal auf den Moment des Umbruchs von der Sünde zum Heil hin und kommen einmal von dort her, sind einmal allein Werk Gottes und einmal Werk Gottes und des Menschen. Die Unterscheidung zwischen conversio und poenitentia ist also faktisch nur eine graduelle: Während der Begriff conversio in erster Linie auf den Anfang des Glaubens bezogen wird, bezieht sich der Begriff poenitentia in erster Linie auf die tägliche Buße und Umkehr der Gläubigen. Diese graduelle Unterscheidung wird so undeutlich, dass dann im Kapitel über die Buße der theologische Gegenstand nicht mehr eindeutig definiert wird: Ist es die Buße derer, die noch nicht wiedergeboren sind, die identisch ist mit der Bekehrung (passive accepta), oder ist active acceptae effectus“ (Hervorhebung im Original). So ist es bei König, Theologia, noch verstanden. Vgl. dazu unten, 292f. 671 III, IX/1, Th VII. 672 III, IX/1, Th VIII und aaO., nota. 673 III, VII/1, Th XXXII. 674 III, IX/2, q II, Ekth. V: „Disting[uendum] inter poenitentiam renatorum & stantium, sive quotidianam illam carnis mortificationem, qua renati quotidie cruxifigunt carnem cum concupiscentiis, Gal. V,24. Et poenitentiam nondum renatorum & in peccata mortalia prolapsorum, qui vel salvificam in Christum fidem nunquam habuerunt, vel per peccata contra conscientiam eandem amiserunt, non de illa, sed de hac hic potissimum quaeritur“ (Hervorhebung im Original).

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es die tägliche Buße der Wiedergeborenen als effectus conversionis? Quenstedt behauptet, wie gezeigt, an unterschiedlichen Stellen jeweils das eine oder das andere.675 Dieses Spannungsverhältnis durchzieht die Darstellung auch inhaltlich. Auf der einen Seite ist der Mensch als Wiedergeborener Mitwirkender an der Buße. In der Bestimmung der Wirkursache (causa efficiens) tritt der Mensch aufgrund der ihm verliehenen übernatürlichen Tugenden als causa subordinata neben den Heiligen Geist.676 Im Blick auf den Gegenstand (subjectum) wird dann jedoch betont, dass der Mensch nicht selber Ursache der Buße ist, sondern lediglich die ihm verliehenen übernatürlichen Fähigkeiten verwendet.677 Damit steuert Quenstedt der Gefahr entgegen, dass die Fähigkeit zur Buße sich vom Geber der neuen Fähigkeiten lösen könnte. Überzeugen freilich kann dieses Argument nicht so recht: Sind die verliehene Kräfte (vires) dem Menschen gegeben, so ist es der Mensch, der diese Kräfte verwendet. Noch deutlicher wird das Problem dieser Spannung von Passivität und Aktivität im Geschehen von (zweiter) Buße und Bekehrung im Blick auf die Näherbestimmung der materia poenitentiae. Dass zur materia poenitentiae Zerknirschung (contritio) und Glaube gehören, wird mit dem Wesen der Buße (natura poenitentiae) begründet. Sie ist bestimmt durch einen terminus a quo und einen terminus ad quem. Aufgrund von Apg 26,18 wird dargelegt, dass die Buße Bekehrung (conversio) vom Schatten der Sünde hin zum Licht Gottes ist, ein Übergang, der durch das Mittel (medium) des Wortes geschieht und die Annahme der Gerechtigkeit Christi im Glauben bedeutet.678 Aus dem sündigen Leben geht durch das Gesetz die Zerknirschung (contritio) hervor, zu dem Licht Gottes werden wir durch die göttliche Gnade im Glauben, der aus dem Evangelium entsteht, hingeführt.679 Schon die Verwendung des Begriffs conversio zeigt die Unschärfe, denn der Begriff der Bekehrung wird hier genauso verwendet, wie er zuvor in Kapitel VII dargelegt wurde, also als Bezeichnung des Anfangsgeschehen des Glaubens.680 Dem entspricht auch 675 Schon Koch, Ordo salutis, 31f registriert das Schwanken Quenstedts in der Verhältnisbestimmung von Buße und Glaube. Weber, Der Einfluss, 112 weist auf die Problematik der Unterscheidung zweier Bekehrungen hin. Vgl. auch Baur, Die Vernunft, 145. 676 III, IX/1, Th VIII. 677 III, IX/1, Th VI, nota I (Quenstedt zitiert Hülsemann). 678 III, IX/1, Th XI, nota I: „Terminus itaque conversionis a quo est peccatum & tenebrae spirituales, ad quem, Deus & lux; per quem, fides in Deum, sive meritum Christi apprehendens; Forma, seria a peccatis aversio, & salutaris ad Deum per fidem conversio“ (Hervorhebung im Original). Vgl. aaO., Th XII, nota: terminus poenitentiae a quo ist das böse Leben, terminus ad quem ist Gott. 679 III, IX/1, Th IX, nota. 680 In III, VII/1, Th XX wird als terminus a quo conversionis der status peccati und in Th XXI als terminus ad quem der status fidei bestimmt. Causa minus principalis organica dieses Übergangs ist das Wort, das im Glauben angenommen wird (aaO., Th XIV).

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die inhaltliche Darstellung des Geschehens der Buße als Übergang von der Sünde zum Leben. In der Buße geschieht Anrechnung der Gerechtigkeit Christi, also Rechtfertigung vor Gott. Also ist sie offenbar auf die Bekehrung als Anfangsgeschehen des Glaubens zu beziehen. Vor allem aber unterstreicht dies der zitierte biblische Text aus Apg 26,18: Es handelt sich um den Auftrag Christi an Paulus, zu den Heidenvölkern zu gehen, um sie zu Christus zu bekehren. Die unterschiedlichen Begriffe von Buße und Bekehrung sind also offensichtlich durchlässig für einander. In der sachlichen Darstellung wird die Buße von dem Begriff der ersten Bekehrung her entfaltet. Anders ließe sich auch nicht erklären, dass Quenstedt so großen Wert darauf legt, dass der Vorsatz sein Leben zu verbessern (propositum emendandi vitam), nicht zu den Wesensteilen der Buße gehört, sondern Frucht der Buße ist.681 Dieser Ausschluss verweist doch vor allem auf die Passivität des Menschen in der Buße. Der Vorsatz sein Leben zu verbessern wird aus der Buße ausgeschlossen, so wie die Erneuerung des Menschen aus Rechtfertigung und Bekehrung. Er wird der Buße genau so zugeordnet, wie die Erneuerung der Rechtfertigung und Bekehrung zugeordnet wird, nämlich als Frucht der Rechtfertigung. Dann aber ist Buße hier eher als die (äußere) Praxis der Bekehrung und Rechtfertigung im Blick. So wird die Rede von der Buße in der Quaestio, die sich mit der materia poenitentiae auseinandersetzt, denn auch explizit auf die Bekehrung zum Glauben hin bezogen.682 Deutlich wird in diesen Ausführungen die Unentschiedenheit darüber, wie die Buße zu verstehen ist, ob als die äußere Praxis, in der sich Bekehrung und Rechtfertigung ereignen, oder ob als ein Handeln des erneuerten Menschen aufgrund der ihm von Gott in der Bekehrung verliehenen übernatürlichen Tugenden. Zwar ist dieser Unterschied in der causa efficiens klar ausgedrückt. In den Ausführungen über die materia poenitentiae (contritio et fides) rückt aber sehr deutlich ein Verständnis von Buße in den Blick, das Buße als Bekehrung zum Glauben versteht. Auch wenn hier noch einmal auf die Unterscheidung hingewiesen wird: In der Buße der bisher Ungläubigen entsteht erst eine fides historica, dann kommt es zur Zerknirschung (contritio) und dann erst entsteht der heilvolle Glaube (fides salvifica). Bei der Buße der Wiedergeborenen verhält es sich umgekehrt, die fides salvifica geht der contritio voraus.683 Setzt die Buße der Wiedergeborenen allerdings den Heilsglauben schon voraus, so ist die Zuordnung von Zerknirschung und Glaube ebenso wie der Ausschluss des Vorsatzes sein Leben zu verbessern nicht schlüssig. 681 III, IX/1, Th XI, nota I: „Propositum autem emendandi vitam non est pars, sed fructus poenitentiae.“ 682 III, IX/2, q II, Ekth. V. Zitiert oben in Anm. 674. 683 III, IX/2, q II, Dial. VIII.

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Die Auffassung, dass die Erneuerung des Menschen im Wesentlichen durch ihm verliehene neue Kräfte bzw. einen verliehenen Tugendhabitus bestimmt ist, macht den Kern des Problems aus. Durch den Begriff des Kraft (vis) bzw. des Habitus soll ja die neue Fähigkeit des Menschen mit der Gnade Gottes zusammenzuwirken selber wiederum auf die göttliche Gnade zurückgeführt werden. Das Problem entsteht nun dort, wo diese Rückbindung der Gnadengaben an die Passivität des Menschen im Empfang dieser Gnadengaben nur als anfängliche Passivität gedacht werden kann, weil ein einmal verliehener Habitus nicht mehr vom Geber abhängig ist. Lediglich die Entstehung des Tugendhabitus wird hier gegenüber der aristotelischen Tradition passivisch umgedeutet, seinem Wesen nach bleibt der Habitus aber das, was er schon bei Aristoteles war und auch in der thomistischen Rede vom habitus infusus noch ist, nämlich aktives Prinzip, das sich in Handlungen verwirklicht. Deswegen wird der Mensch vom Empfänger zum Akteur: Er verwendet die ihm verliehene übernatürliche Fähigkeit, z.B. in der Buße. Die Wirksamkeit Gottes besteht hier, wenn man näher hinsieht, nur noch darin, dass er dem Menschen zum Handeln befähigt hat.684 Nun zeigt aber die Darstellung der Buße, dass diese strikte Trennung zwischen Passivität und Aktivität des Menschen so nicht haltbar ist, weil die Buße inhaltlich nur als Handeln Gottes am Menschen dargestellt werden kann, in dem der Mensch von der Sünde zum Licht Gottes geführt wird. Inhaltlich ist das Geschehen identisch mit dem anfänglichen Geschehen der Buße, nur dass die Situation des Menschen eine andere ist. Der von Quenstedt suggerierte Bruch von der Passivität des Menschen in der Bekehrung hin zur (Ko-)Aktivität in Buße und Erneuerung lässt sich also nicht ohne Weiteres durchhalten. Ist gerade diese Trennung zwischen erster und zweiter Bekehrung bzw. Buße fraglich, so wird man auch die Vermittlung der Aktivität des Menschen durch den Habitus-Begriff in Frage stellen müssen. Zwar ist darin ein Bewusstsein für die kategoriale Differenz von Passivität des Menschen in der Bekehrung als Ausschluss des Willens aus der Bekehrung und Aktivität des erneuerten Willens angedeutet, aber eben doch in problematischer Weise, weil die Rückbindung der menschlichen Aktivität an die göttliche Gnade auf das Anfangsmoment der Eingießung dieser Gnadengaben reduziert wird und nicht als eine permanente Abhängigkeit menschlichen Handelns vom göttlichen Handeln im Blick ist. „Dass die Passivität des Menschen in der Widerfahrnis von Gesetz und Evangelium zugleich seine höchste Aktivität ist, diese hohe Erkenntnis Luthers ist auseinandergebrochen in das Bild von Ermöglichung und Vollzug.“685 684 So besonders deutlich in dem Hülsemann-Zitat in Q III, V, IX/1, Th VI, nota I. 685 Baur, Die Vernunft, 147.

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Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch, dass König die poenitentia anders als Quenstedt zwischen den Kapiteln de conversione und de justificatione behandelt.686 Die Bekehrung als Handeln des Geistes bewirkt die Bekehrung als passives Ereignis am Menschen und eben mit dieser conversio passiva verbindet sich das Geschehen der Buße.687 Dabei kennt auch König eine doppelte Verwendung des Begriffs: Buße kann neben dieser skizzierten Bedeutung auch für die Bekehrung transitive accepta stehen, über die das Kapitel de conversione handelt, in diesem Sinne will aber auch König den Begriff nicht verwenden.688 Die Buße selber zeitigt dann als unmittelbare Wirkung die Rechtfertigung.689 Bei König wird also die Buße im Zusammenhang mit der Bekehrung begriffen. Sie ist Teil der conversio passiva, der Bekehrung, insofern sie am Menschen geschieht, im Unterschied zur conversio transitiva als Handeln Gottes am Menschen. Buße wird bei König also eindeutig als Übergang hin zu Gott in den Glauben begriffen690 und nicht als Buße der bereits Wiedergeborenen. Nichtsdestotrotz kann auch König den Menschen mit den ihm in der Bekehrung verliehenen übernatürlichen Kräften als Subjekt und untergeordnete Wirkursache der Buße fassen, um so das mere passive, das für die transitive Bekehrung, in der die Kräfte zur Buße empfangen wurden, galt, aufzuheben.691 Deutlicher als bei Quenstedt wird hier allerdings Sinn und Zweck dieser Konstruktion: Es geht König darum, dass es auf der einen Seite der Mensch selber ist, der Buße tut und glaubt (actu ipso poenitet & credit) und nicht Gott an seiner Stelle,692 er dies aber auf der anderen Seite nicht aus eigenem Vermögen vollbringen kann, sondern darin von Gott abhängig bleibt. Dies vermittelt König über den Begriff der vires supernaturales, die der Mensch nicht aus eigenem Vermögen erwirbt, deren Subjekt er aber in actu ist. Keine Rede ist bei König davon, dass die Buße durch eine von der gratia justificationis zu unterscheidende gratia renovationis geschehe. Dies schließt König schon durch die Positionierung der Lehre von der Buße vor dem Kapitel über die Rechtfertigung aus.

686 Vgl. König, Theologia, §§ 515–539 (De Poenitentia). 687 Vgl. König, Theologia, § 515. 688 Vgl. König. Theologia, § 518. 689 Vgl. König, Theologia, § 538 und § 540. 690 Vgl. König, Theologia, § 553. 691 Vgl. König, Theologia, § 522: „Subjectum Qvod est Homo viribus superanturalibus ad poenitentiam eliciendam sufficientibus per conversionis gratiam instructus.“ Außerdem aaO., § 527: „Causalitas Spiritus Sancti hic ita comparata est, ut homo, quatenus vires supernaturales in conversione acceptas exercet, illi subordinetur: non enim is amplius se mere passive habet, ut in receptione virium poenitendi; sed actu ipso poenitet & credit; hoc tamen non praestat ex propriis & naturalibus viribus, sed superanturalibus in regeneratione collatis.“ 692 Vgl. Baur, Die Vernunft, 146.

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Der Übergang von König zu Quenstedt zeigt dann aber die Problematik und die Gefahr dieser Konstruktion, dass sich nämlich die einmal dem Menschen gegebenen Kräfte verselbständigen. Die Buße, bei König noch deutlich in der Bekehrung verankert, löst sich als Handeln des Menschen aus diesem Kontext, so dass sie zwischen Bekehrung und Erneuerung nicht mehr eindeutig verortet werden kann. Den Zusammenhang zwischen Buße als Anfangsgeschehen des Glaubens und Buße als Rückkehr zur Taufe im Glauben kann man dort, wo man Passivität und Aktivität des Menschen in der Zueignung des Heils durch das Konstrukt übernatürlich verliehener Tugenden bzw. Kräfte vermittelt hat, nicht mehr herstellen, eben weil die Passivität sich auf die Genese der virtus bzw. des habitus beschränkt. Quenstedts Ausführungen zeigen, dass dieser Versuch nur zu einem Changieren zwischen zwei Anschauungen führt, die nicht auf einen Nenner zu bringen sind. So legen die inhaltlichen Darstellung der materia poenitentiae bei Quenstedt und die Einordnung der Buße bei König es nahe, die Buße ihrem Inhalt nach nicht vom Geschehen der Bekehrung zu unterscheiden, sondern sie im Sinne Luthers als Rückkehr zur Taufe (reditus ad baptismum) zu verstehen.693 In der Terminologie Quenstedts gesprochen: Auch der Wiedergeborene bedarf immer wieder neu der Rechtfertigung, erlebt immer wieder neu Bekehrung und Wiedergeburt (die wesentlich auf die Taufe bezogen ist) im Geschehen der Buße und wird gerade darin zum Ebenbild Gottes hin erneuert (renovatio).694 Wiedergeburt, Bekehrung und Rechtfertigung sind nicht bloßes Anfangsgeschehen des Glaubens und der Erneuerung des Menschen durch Gott, sondern sie sind bleibende, sich immer wieder ereignende Grundlage auch der Erneuerung (renovatio) des Menschen. Sie können in dieser Funktion nicht durch einen verliehenen Tugendhabitus bzw. eine übernatürliche Kraft substituiert werden. Die Lernsituation des Glaubens kann man nicht hinter sich lassen, sondern Glaube muss wegen der bleibenden Sünde auch nach der Bekehrung immer wieder neu erlernt werden. Gerade darin, dass dieser Übergang aus der Sünde zum Leben nicht zu einem habitus, zur zweiten Natur des Menschen wird, sondern außerhalb der menschlichen Natur bleibt, drückt sich am deutlichsten aus, dass das 693 Vgl. WA 6,572,16f (De captivitate): Die Buße ist „via ac reditus ad baptismum“. Vgl. die Ausführungen in BSLK 706,31–707,10 (Der Große Katechismus). Auch Quenstedt kennt die Rede von der Buße als reditus ad baptismum (III, VI/2, q III, Ekth. III), versteht sie aber als das Wiedererwerben eines verlorenen habitus. Gerade darin zeigt sich die Differenz zu Luther, dem es nicht um das Wiedererwerben eines verlorenen Besitzes (habitus) ging, sondern um die Wiedergewinnung eines Verhältnisses, das von Gott her nie aufgegeben wurde, sondern allein durch die Sünde des Menschen verstellt wurde. 694 Die renovatio gilt Quenstedt als Erneuerung zum Ebenbild Gottes, das im Sündenfall verloren ging. Vgl. III, XI/1, Th IX, nota und Th XII.

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neue Leben des Menschen im Glauben sich nicht nur seinem Ursprung nach, sondern bleibend der göttlichen Gnade verdankt. Aufgabe theologischer Reflexion wäre es dann, die Verschränkung von Passivität und Aktivität des Menschen in der Erneuerung konkret aufzuweisen. Im steten Hören auf das Wort der Schrift als das Wort, in dem wir glauben lernen, werden wir durch Gottes Gnade erneuert. So ließe sich auch darstellen, wie Erneuerung durch das Wort der Schrift geschieht und ein praktisches Verstehen derselben ist. Gerade darin bleibt dann die kategoriale Differenz von Passivität und Aktivität im Heilsgeschehen gewahrt, ist das freie Wollen des Menschen vor Gott immer in der Passivität der Heilszueignung begründet. f) Gratia applicatrix und Schriftverständnis Die Ausführungen der gratia applicatrix sind eng auf Schriftlehre und Hermeneutik bezogen, weil der Umbruch, den die Lehre von der gratia applicatrix thematisiert, eben jener Umbruch ist, in dem sich die Texte der Bibel als Heilige Schrift erweisen und als solche verstanden werden. Die Passivität des Menschen in vocatio, regeneratio und conversio ist die Passivität des Verstehens der Bibel als Heiliger Schrift. Dementsprechend werden immer wieder auch hermeneutische Fragen mit verhandelt. Nicht mehr ausdrücklich Thema ist der Zusammenhang mit der Hermeneutik allerdings in den Kapiteln, die sich mit der Wirkung der gratia cooperans beschäftigen, also den Kapiteln über die Buße, die unio mystica und die Erneuerung bzw. Heiligung. Andererseits wurden Erneuerung, Heiligung und Bewahrung im Glauben als Wirkungen der Schrift benannt.695 Das heißt, dass praktisches Verstehen der Schrift im Heiligen Geist auch in der Erneuerung des gläubigen Menschen geschieht. Folgt man hier den Überlegungen Quenstedts, so wäre hier ein Verstehen biblischer Texte im Blick, das entweder selber unmittelbar als habitus animae (Seelenzustand) zu identifizieren wäre oder aber zumindest in einem habitus gründet. Dieses Verstehen ist nicht in erster Linie reflektiv, sondern es besteht vor allem darin, dass der Mensch als Ebenbild Gottes handelt und lebt. Darin zeigt sich aber schon die Problematik einer Identifikation von habitus und Verstehen. Sie führt zurück auf die bei Wittgenstein behandelte Problematik der Identifikation des Verstehens mit einem Seelenzustand (habitus animae):696 Das Verstehen der Schrift, das in der renovatio geschieht, als habitus zu fassen, hieße die Wirksamkeit der Schrift in das Innen des Lesers zu verlegen. Für die Frage, ob jemand den Text verstanden hat, ist aber nicht der innere Zustand (habi695 I, IV/2, q XVI, Beb. VII. Siehe dazu oben Abschnitt 1.1 a), 140. 696 Vgl. oben Teil II, 2.1 a).

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tus) entscheidend, sondern die Anwendung, das Tätigwerden aufgrund des postulierten Zustandes. Denn nur aufgrund der Anwendung können wir beurteilen, ob jemand den Text verstanden hat. Entscheidend ist also das geheiligte Leben. Dieses wird hier dann auf eine Veränderung des Seelenzustandes (habitus animae) zurückgeführt, der in der Praxis zur Anwendung kommt. Die Annahme dieses veränderten Seelenzustandes ist aber grammatisch nicht notwendig, sondern nur eine Konstruktion, die zwischen Passivität und Aktivität in der Heilszueignung vermitteln soll. Die Gefahr dieser Konstruktion ist aber, dass sie den Blick von der Vermittlung zwischen Passivität und Aktivität in der Praxis des Glaubens ablenkt.697 Dabei geschieht dieser Übergang in Sprache und Leben auch ohne diese vermittelnde Instanz eines habitus animae, indem der Mensch im Hören auf das Wort der Schrift gerechtfertigt und eben darin erneuert wird. So scheint gerade die Einführung der übernatürlichen Kräfte als vermittelnder ontologischer Instanz zwischen Passivität und Aktivität der Grund dafür zu sein, dass die Wirksamkeit der Schrift in der Lehre von der Erneuerung nicht mehr im Blick ist. Sie wird zur Voraussetzung der Erneuerung reduziert: Sind die Kräfte des Geistes einmal durch die Schrift dem Menschen verliehen, so ist die Erneuerung nicht mehr an das Wort der Schrift gebunden. Die Erneuerung ist Verstehen der Schrift nur, insofern sie mit dem Wort der Schrift beginnt, mehr nicht. Positiv jedoch bleibt, dass Verstehen der Schrift hier als praktisches Verstehen dogmatisch beschrieben wird. Die Bibel als Heilige Schrift verstehen lernen heißt demnach durch den Heiligen Geist zum Glauben geführt zu werden. Diesen Übergang stellt Quenstedt in unterschiedlichen Aspekten dar, in denen sich teils praktisches und propositionales Verstehen verschränken, so dass die Entwicklung des glaubenden Verstehens als Widerfahrnis im praktischen Vollzug allen Problemen zum Trotz plausibel wird. 3.2 Glaube als Mittel und Ziel des Evangeliums Der Glaubensbegriff Auf die Problematik einer Unschärfe im Glaubensbegriff stießen wir bereits bei dem Versuch, das Verhältnis der Lehre von den media salutis zur Lehre von der gratia applicatrix zu bestimmen. Dabei zeigte sich, dass der Glaube sowohl als Zielpunkt wie auch als annehmendes Mittel der Heilszueignung gilt. Entsprechend gilt der Glaube im Kapitel über das Evangelium sowohl als Mittel bzw. Instrument (instrumentum sive organon) zur Aneignung des 697 Darin liegt die particula veri der Kritik von Weber, Der Einfluss, 108: „[U]nter dem Einfluß der Bilder, der Anschauungswirklichkeit, die in diesen Begriffen verarbeitet ist, erstarrt unwillkürlich der Lebensprozeß, er scheint fixiert in den vires dativae et motivae, die ‚da sein‘ müssen, wenn er zustande kommen soll, und der moderne Beurteiler gelangt zur Doppelsicht einer halb ruhenden, passiven, halb lebendigen, aktiven Wirklichkeit“ (Hervorhebung im Original).

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Evangeliums als auch als eine Wirkung (effectus) des Evangeliums.698 In hermeneutischer Hinsicht besteht daneben noch eine weitere Unklarheit: Auf der einen Seite gilt der Glaube als eine Wirkung der Schrift unter anderen und wird neben den übrigen Begriffen der gratia applicatrix genannt, zum anderen aber ist der Begriff Glaube auch Oberbegriff für das gesamte Geschehen des Verstehens der Heiligen Schrift. Will man den Glaubensbegriff der altlutherischen Theologie in seiner Problematik näher untersuchen, so empfiehlt es sich, zunächst einen Überblick über die zahlreichen Distinktionen und Begriffsbestimmungen zu gewinnen. Die Darstellung wird allerdings dadurch verkompliziert, dass die verschiedenen Unterscheidungen miteinander verflochten sind und dass die Darstellung des Glaubensbegriffs nicht nur im Kapitel über den Rechtfertigungsglauben (de fide justificante) im Kontext der Lehre von den Heilsmitteln im vierten Teil der Theologia Quenstedts erfolgt, sondern wesentlich auch schon im Kapitel über die Rechtfertigung im Zusammenhang der Darstellung der gratia applicatrix.

a) Glaube als notitia, assensus und fiducia Grundlegend ist die Darstellung der materia ex qua fidei als notitia, assensus und fiducia im Kapitel über den Rechtfertigungsglauben als Heilsmittel im vierten Teil der Theologia.699 Notitia und assensus werden dabei dem Verstand, die fiducia dem Willen zugeordnet.700 Mit notitia wird das Erkennen des Erlösers Christi und der im Evangelium verheißenen Gnade bezeichnet.701 Diese Erkenntnis ist Voraussetzung für die Anerkenntnis (assensus), das zustimmende Urteil (judicium approbans) des Verstandes, durch das wir das, was uns in der Schrift über Christus, sein Verdienst, die von ihm geleistete Genugtuung für unsere Sünden sowie die Gnade und Verheißung Gottes über die Vergebung unserer Sünden überliefert ist, für wahr halten und in diesem Sinne glauben.702 Sowohl notitia als auch assensus sind also ganz auf Christi Heilshandeln an uns und damit ganz auf die fiducia, den eigentlich rechtfertigenden „Teil“ des Glaubens,703 ausgerichtet. Die fiducia setzt notitia und assensus voraus, die Rechtfertigung jedoch geschieht allein durch das Vertrauen (fiducia) und nicht durch Kenntnis und Anerkenntnis der Heilswahrheiten.704 Deutlich wird damit eine Abstufung, 698 699 700 701 702 703 704

IV, II/1, Th V, nota. Ausgeführt in IV, VIII/1, Th V–XI. IV, VIII/1, Th V, nota und Th XII. IV, VIII/1, Th VI. IV, VIII/1, Th VII. IV, VIII/1, Th VIII. IV, VIII/1, Th IX

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die der fiducia einen Vorrang vor notitia und assensus gibt. Notitia, assensus und fiducia bilden zwar alle zusammen die materia des Rechtfertigungsglaubens, seine forma hat er aber allein im Vertrauen auf Gottes Verheißung (fiducia)705 – und es gilt auch hier „forma dat esse rei“. So kann das Wort „Glaube“ für beides stehen, für den Glauben, der notitia, assensus und fiducia umfasst, und für den reinen Fiduzialglauben. Im Zusammenhang mit der Darstellung der Schriftlehre, in der der Glaube als passives Verstehen der Heiligen Schrift dargestellt wurde, lässt sich also sagen, dass das Verstehen der Heiligen Schrift hier in drei Aspekten gesehen wird. Zum Verstehen der Schrift gehört zum einen ein propositionales Verstehen des Schriftgehalts (notitia), es gehört dazu das Anerkennen dieses Gehalts als wahr (assensus) und es gehört dazu der eigentliche Akt des Glaubens als Vertrauen (fiducia). Als zentrales Problem wird sich dabei die Verhältnisbestimmung von propositionalem Verstehen (notitia) und praktischem Verstehen (assensus, fiducia) erweisen.

b) Glaube als Verhältnis und Werk Die fiducia bezeichnet den Glauben als das vertrauensvolle Annehmen des Verdienstes Christi durch den Einzelnen, insofern er von notitia und assensus unterschieden ist.706 Im Fiduzialglauben wird die von Christus geleistete Genugtuung für den einzelnen wirksam. Dieses Annehmen des Glaubens (fiducia) ist aber nicht als ein Handeln bzw. als ein Werk des Menschen misszuverstehen, noch ist der Glaube eine Qualität des Menschen, ähnlich den ihm mit der Bekehrung eingegossenen übernatürlichen Tugenden, sondern er ist ein Verhältnis (relatio), das in der passiven Annahme des Verdienstes Christi besteht.707 Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben, 705 III, IIX/2, q VI, Ekth. VII. 706 So wird es besonders in der Auslegung biblischer Texte deutlich, die von Quenstedts Gegnern angeführt werden. Vgl. z.B. IV, VIII/2, q II, Dial. I: Die Heilige Schrift kann auch dort von Glauben reden, wo nur notitia und/oder assensus gemeint sind. Solche Texte widerlegen aber nicht, dass der Glaube wesentlich fiducia ist, sondern sie zeigen nur, dass er immer auch notitia und assensus ist. „Notus est canon Theologicus: Quaedam de fide dicuntur magis ratione assensus, quaedam magis respectu fiduciae, ideoque ea, quae probant, fidem esse assensum, non statim negant, eam esse fiduciam“ (ebd., Hervorhebung im Original). So wird auch aaO., q4, Dial. I argumentiert, dass die von den Gegnern angeführten Schriftstellen nicht vom Glauben qua fiducia, sondern nur vom Glauben qua assensus handeln. 707 III, IIX/2, q VI, Ekth. VIII: „Non consideratur hic fides [relate spectata], ut est (1) qualitas aliqua homini inhaerens, prouti est charitas, spes, pietas & reliquae similes virtutes, quae in corde hominis producuntur, per hominem autem exercentur, sic enim non est causa justificationis, nec tantum prout est (2) actio, seu quatenus notat actualem cognitionem & promissionis de remissione peccatorum approbationem ejusdemque actualem applicationem, hinc & nunc mihi factam, sed praecipue ut est (3) in Praedicamento Relationis, quatenus videl. dicit internam sxe/sin seu habitudinem fidei ad objectum suum, quod applicatur & appropriatur cum a Deo hominem justifi-

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aber nicht so, dass der Glaube die Rechtfertigung durch die Relation verursacht, sondern so, dass die Rechtfertigung in dem Verhältnis, das der Glaube ist, geschieht.708 Ursache des Glaubensverhältnisses ist dabei allein Gottes Gnade. Aktivität und Passivität sind so eindeutig auf die Relate verteilt: Allein Gott ist aktiv und stellt das Verhältnis her, der Mensch lässt das Entstehen dieses Verhältnisses zu. „Der Glaube […], insofern er rechtfertigt (fides qua justificat), ist rein passive Annahme bzw. vertrauensvolles Gutheißen der Bundesgüter und der Segnungen des Messias“.709 Hergestellt wird dieses Verhältnis durch das Wort des Evangeliums, das sowohl den Glauben wirkt als auch durch den Glauben angenommen wird. Die Doppelfunktion des Glaubens als Mittel und Ziel des Evangeliums wird hier nicht zu einem Widerspruch, weil der Glaube hier als dasjenige Verhältnis aufgefasst wird, in dem das Evangelium seine Wirkung entfaltet. Der Glaube als Mittel ist identisch mit dem Glauben als Ziel und Zweck des Evangeliums. Diesen relationalen Glaubensbegriff nun gleich in eine so genannte relationale Ontologie zu überführen, wie es in der gegenwärtigen Diskussion gelegentlich geschieht,710 würde die Position Quenstedts überstrapazieren. Sinnvoller ließe es sich als grammatische Anmerkung zur Verwendung des Begriffs „Glaube“ lesen. Wer sagt „Ich glaube“, der positioniert sich in einem passiven Verhältnis im Gegenüber zu Gott und seinem Heilshandeln im Wort. In diesem Sinne markiert die Rede vom Glauben als Verhältnis eine Bedeutung des Wortes Glaube, eine Bedeutung die zunächst jenseits aller metaphysisch-ontologisch Spekulationen ganz auf die Pragmatik der Rede vom Glauben zielt. Quenstedts Rede vom Glauben als Relation zielt ja gerade darauf, den Glauben der metaphysischen Begrifflichkeit zu entreißen, die den Glauben als habitus infusus definieren zu können meint. Ob sich das Problem einer metaphysisch-ontologischen Definition des Glaubens dadurch lösen lässt, dass man an die Stelle der aristotelischen Metaphysik und Ontologie eine andere, so genannte relationale Ontologie setzt, ercante, tum ab homine recipiente & acceptante remissionem peccatorum. Hoc enim modo meritum Christi apprehendit sibique applicat & causa quoque justificationis dicitur“ (Hervorhebung im Original). Vgl. auch III, IIX/1, Th XII.(II).A. 708 III, IIX/2, q VI, Ekth. IX: „Quamvis dicant nostri Theologi, Fidem, quatenus respicit Christi meritum, adeoque ut est relatio, justificare & esse causam justificationis; Recte tamen eorum mens est explicanda; Scil. non dicunt, Fidem causare per Relationem, sed in relatione, prout meritum Christi apprehendit, h.e. fidem non ex dignitate operis actionis aut qualitatis justificare, sed quatenus sibi applicat & appropriat meritum Christi, cui unice dignitas illa competit“ (Hervorhebung von M.C.). 709 III, IIX/2, q VI, Ekth. X: „Fides […] Qua justificat, est nuda apprehensio seu fiducialis acceptatio bonorum foederalium & beneficiorum Messiae passiva“ (Hervorhebung im Original). 710 So bestimmt z.B. auch Härle, Dogmatik, 57f Vertrauen als Relation des Sich-BestimmenLassens. Das kommt der altlutherischen Dogmatik grundsätzlich sicher weit entgegen. Problematisch ist aber der Zusammenhang mit der Aussage, „daß die Wirklichkeit grundsätzlich relationalen Charakter hat“ (aaO., 205), der Begriff der Relation also ein ontologischer Grundbegriff sei. Härle spricht dementsprechend auch von einer Relationsontologie (z.B. aaO., 286). Der relationale Charakter des Glaubens erklärt sich hier dann aus der vorausgesetzten Ontologie und nicht aus theologischer Erörterung heraus.

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scheint mir mehr als fraglich. Denn damit würde die theologische Frage nach dem Wesen des Glaubens allein durch den Widerstreit unterschiedlichen philosophischer Weltsichten entschieden. Sinnvoller scheint es mir da, dem Diktum Wittgensteins zu folgen: „Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen.“711

Dieser relationale Glaubensbegriff ist zunächst nur auf die fiducia als den eigentlich rechtfertigenden „Teil“ des Glaubens bezogen, betrifft aber auch notitia und assensus, insofern sie im Zusammenhang mit diesem Fiduzialglauben die materia fidei ausmachen. Dies wird daran deutlich, dass die Darstellung von notitia und assensus im Zusammenhang mit der fiducia ganz auf diese ausgerichtet ist. Ihr Gegenstand ist das Verdienst Christi, das in der fiducia dem einzelnen Menschen zugeeignet wird. Dementsprechend werden notitia und assensus auch von einem natürlichen Verstehen und Anerkennen unterschieden und gelten beide als Wirkungen des Heiligen Geistes. Dies kann sogar so weit gehen, dass der Unterschied zwischen notitia und fiducia undeutlich wird. So muss man Joh 17,3, das vom Erkennen Christi als dem Gesandten Gottes redet, nach Quenstedt so verstehen, dass es hier nicht um eine bloß theoretische Erkenntnis geht, sondern um ein Verstehen, das das vertrauensvolle (fiducialem) Annehmen Christi im Herzen mit einschließt.712 Hier wird der Akt der Erkenntnis mit dem Entstehen eines Vertrauensverhältnisses zwischen Gott und Mensch aufgrund des Verdienstes Christi in eins gesetzt. Gerade weil gilt „forma dat esse rei“, bestimmt die fiducia als forma des Glaubens auch die partes materiales des Glaubens, also auch notitia und assensus. Von diesem relationalen Glaubensbegriff unterscheidet Quenstedt den Glauben, insofern er Werk des Menschen ist, also nicht relational und in diesem Sinne absolut (fides absolute spectata). Grundlegend für diesen Glaubensbegriff ist die Verbindung von assensus und fiducia generalis, von Zustimmung und allgemeinem Vertrauen. Beide richten sich auf das erste Gebot und darin auf den einen Gott. Der Glaube als Werk folgt als solcher auf den Rechtfertigungsglauben und bezeichnet den Glauben, insofern er Akt des wiedergeborenen Menschen ist.713 Dieser Glaubensbegriff scheint daher im Hintergrund zu stehen, wenn der Glaube auch als habitus aufgefasst wird. Explizit wird dies nur an wenigen Stellen, z.B. dort, wo durch den Begriff des habitus infusus der Glaube vom Handeln des Menschen 711 PU 371. 712 IV, VIII/1, Th VI, nota. 713 IV, VIII/2, q III, Ekth. I: „Dist. inter fidem consideratam absolute, ut opus quoddam primo praecepto Decalogi congruum, & totum assensum & fiduciam generalem complectens, qua uni Deo & supra omnia confidimus, quo sensu tamen non justificat, sed justificationem ut caetera opera moraliter bona sequitur, & fidem spectatam relate, prout Christi meritum speciali fiducia apprehendit, ac fiduciali apprehensione recipit, & sibi unit & appropriat“ (Hervorhebung im Original).

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abgegrenzt werden soll.714 Damit wird er freilich auch nicht mehr als Verhältnis begriffen, sondern als etwas, das durch ein Verhältnis mitgeteilt wurde. Dieses Verständnis des Glaubens als habitus hängt also mit der oben skizzierten Problematik des Umbruchs von der Passivität in der Heilszueignung hin zur Koaktivität des Menschen im Glauben zusammen. Dass dem Menschen in der Rechtfertigung übernatürliche Kräfte eingegossen werden, aufgrund derer er dann als erneuerter Mensch handeln kann, wird so auch auf den Glauben bezogen. Er wird, ganz traditionell, neben Liebe und Hoffnung als erste theologische Tugend aufgezählt, ist also virtus und damit im Rahmen der aristotelischen Tugendlehre habitus. Der passiv-relationale Glaubensbegriff kommt neben einem habitualen Glaubensbegriff zu stehen, der gerade das, was Quenstedt an der angegebenen Stelle damit begründen will, nicht leistet: Glaube als habitus ist dann nämlich zumindest teilweise immer auch Werk des Menschen.715 Daher liest man diese Ausführung wohl am besten im Blick auf den absoluten Glaubensbegriff. Gegen den Werkcharakter lässt sich lediglich der in diesem Zusammenhang ebenfalls erwähnte Charakter des Glaubens als Gabe Gottes (donum Dei) geltend machen. Wird jedoch die Gabe Gottes als habitus verstanden, so ist der Akt der Gabe ein einmaliges Anfangsgeschehen, in dem der Glaube dem Menschen übergeben wird. Die Passivität des Glaubens ist dann also eine bloß anfängliche Passivität, so wie wir es schon im Artikel über die Erneuerung (renovatio) beobachtet haben.

c) Historisch-menschlicher Glaube und Rechtfertigungsglaube (fides humana sive historica und fides justificans sive salvifica) Die Vorstellung eines Glaubens, der aus notitia, assensus und fiducia generalis besteht, begegnete auch schon im Kontext der Gnadenlehre. Dort ist dieser Glaube Wirkung der gratia excitans des Heiligen Geistes. Notitia und assensus richten sich auf den Text der Heiligen Schrift, die fiducia generalis auf Gott. Allerdings geht dieser Glaube dem Geschehen der Bekehrung und damit der Rechtfertigung voraus, während der Glaube als Werk (absolute spectata) als Folge des rechtfertigenden Glaubens gilt. Daher wird man diese beiden Formen des Glaubens und die jeweilige Rede von der fiducia generalis voneinander unterscheiden müssen. Die Erkenntnis der Schrift, die durch die gratia excitans in der Gnadenlehre bewirkt wird, bezeichnet Quenstedt als notitia (et assensus) historica Evangelii. Dies lenkt den Blick auf den Begriff der fides historica, der sich 714 IV, VIII/2, q III, Beb. I. Weber, Der Einfluss, 145 konstatiert im Blick auf die lutherische Orthodoxie als Ganze, dass der Begriff vom Glauben als habitus infusus nur vereinzelt auftauche und weitestgehend gemieden werde, der Sache nach aber durchaus präsent sei. Zum Beleg verweist er auf zahlreiche Belege in den philosophischen Schriften der Lutheraner. 715 Die radikale Kritik Luthers am Verständnis von Glaube als habitus ist offensichtlich nicht mehr im Blick. Vgl. WA 6, 206,24–28 (Sermon von den guten Werken): „Ja sie haben den glauben nit ein werck bleiben lassen, sundern, wie sie sagen, ein habitum darauß gemacht, szo doch die gantz schrifft keinem nit gibet den namen gotlichs gutes wercks, dan dem einigen glauben. Darumb ist es nit wunder, das sie blind und blinden lyter worden seinn.“

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mit dem Begriff einer fides humana deckt.716 Die fides humana et historica rechtfertigt den Menschen nicht, sondern ist Glaube an den Text als historisches Zeugnis. Dieser Glaube ist abhängig vom Zeugnis der Kirche, das ihm bestätigt, dass diese Texte die Wahrheit reden.717 Die fides divina et salvifica hingegen bedarf dieses Zeugnisses nicht, denn sie weiß um die Wahrheit und göttliche Autorität der Schrift aufgrund des inneren Zeugnisses des Heiligen Geistes, das durch das Wort der Schrift im Glauben wirkt.718 Die fides humana sive historica richtet sich also lediglich auf den biblischen Text und ist ein Glaube, der sich in Meinungen und Möglichkeiten ausdrückt, nicht aber unerschütterliche Gewissheit ist.719 In dieser Form erscheint die fides humana sive historica als allgemeine Möglichkeit des Menschen. Als Anerkenntnis der Gebote Gottes kann die fides historica allerdings auch eine Vorstufe der contritio sein.720 In diesem Sinne ist in Jon 3,5 vom Glauben der Menschen in Ninive die Rede. Sie glauben mit einer fides historica, dass Gott die Unbußfertigen strafen wird, und kehren daher in der Buße um. Auf diese Buße folgt dann der Heilsglaube als Wirkung der Buße.721 In diesem Sinne kann die fides historica sive humana zu einer Vorstufe des Heilsglaubens werden und in diesem Sinne wird man auch die Ausführungen Quenstedts zur Wirksamkeit der gratia excitans verstehen müssen. Die fides historica sive humana ist dann eben nicht einfach Möglichkeit des Menschen, sondern immer schon Wirksamkeit der Gnade Gottes im Heiligen Geist und als solche Wirksamkeit der Heiligen Schrift, die es dem Menschen ermöglicht, die Weisungen und Verheißungen Gottes zumindest ihrem äußerem Wortsinn nach zu verstehen und als wahr anzuerkennen, so dass durch dieses Verstehen des Wortsinnes Gottes Gnade Bekehrung und Rechtfertigung und damit den Heilsglauben wirken kann. Dieser Heilsglaube hat dann zwar begrifflich notitia und assensus mit der fides humana gemeinsam, jedoch unterscheiden diese sich von der Erkenntnis und Anerkenntnis des historischen Glaubens, weil sie nun nicht mehr einfach mit einer fiducia generalis, sondern mit der fiducia im eigentlichen Sinne verbunden sind. Sie richten sich daher kraft des Vertrauensverhältnisses zwischen Gott und Mensch in den biblischen Texten auf das Verdienst 716 Vgl. I, IV/2, q VIII, Dial. III: „Disting. inter fidem humanam & historicam, & inter fidem divinam & salvificam“ (Hervorhebung im Original). 717 Vgl. I, IV/2, q VIII, Dial. III. 718 Vgl. I, IV/2, q IX, Ekth. IV. 719 I, IV/2, q IX, Ekth. III: „Motiva illa tam interna quam externa […] non gignunt fidem divinam, sed tantum humanam, non certitudinem immotam, sed credibilitatem saltim vel opinionem admodum probabilem.“ Zur Unterscheidung von motiva interna und externa vgl. oben Abschnitt 1.1 e) (158). 720 Vgl. III, VII, Th XXVII: Die contritio ist Wirkung der gratia excitans durch das Wort des Gesetzes im appetitus sensitivus des Menschen. 721 III, IX/2, q II, Dial. VIII.

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Christi als Zentrum der Heiligen Schrift. So gilt als Gegenstand (materia circa quam sive objectum) des Glaubens, insofern er notitia und assensus als Akt des Verstandes ist, alles, was in der Schrift offenbart ist, insbesondere aber das Wort des Evangeliums. Als Gegenstand des Glaubens, insofern er fiducia ist, gilt ebenfalls das Wort des Evangeliums und in dieses Wort „eingehüllt“ das Verdienst Christi.722 Andererseits wird sowohl in der Beschreibung der materia ex qua als auch in der Beschreibung der forma fidei der Bezug von notitia und assensus auf das Verdienst Christi bzw. das Ganze des Heilsgeschehens deutlich.723 Entscheidend ist dabei, dass nicht jeweils eine forma notitiae, eine forma assensus und eine forma fiduciae bestimmt wird, sondern dass es sich um die Bestimmung der forma fidei handelt. Daher haben notitia und assensus als materia ex qua fidei an der Formbestimmung der fiducia, die selber forma fidei ist, teil und sind so auf das Verdienst Christi bezogen, das in der fiducia individuell angeeignet wird.724 Die fides historica sive humana umfasst daher zwar ebenfalls notitia und assensus, jedoch sind diese anders bestimmt, da ihnen der Zusammenhang mit der rechtfertigenden fiducia fehlt und sie nur im Kontext einer fiducia generalis stehen. Der Begriff der fiducia generalis wird so zu einem Problem, denn er markiert nicht nur den Unterschied zwischen fides humana sive historica und fides justificans, sondern auch den Unterscheid zwischen fides relate spectata (also fides justificans) und fides absolute spectata. Die fiducia generalis geht also einmal dem Rechtfertigungsglauben voraus, ein anderes Mal folgt sie auf ihn. Der gemeinsame Nenner dürfte in beiden Fällen die Ausrichtung auf das Gesetz Gottes sein: Im Zusammenhang mit der fides historica ist sie Erkenntnis und Anerkenntnis der Gesetzesrede Gottes und ist dadurch Grundlage für Reue und Zerknirschung des Herzens durch das Wort des Gesetzes, im Rahmen des absolut betrachten Glaubens, der auf den Rechtfertigungsglauben folgt, richtet sie das erneuerte menschliche Herz auf das göttliche Gebot aus. Damit allerdings ergibt sich das Problem, dass die fides justificans zu einem Übergangsphänomen reduziert wird: Sie ist der Übergang von einer allgemeinen fides humana hin zu einem habituellen Glauben, der sich am göttlichen Gebot ausrichtet. Der Rechtfertigungsglaube wird ebenso wie das Geschehen der Rechtfertigung insgesamt zu einem bloßen Anfangsgeschehen, das den Menschen in ein neues Verhältnis zum göttlichen Gesetz versetzt.

722 IV, VIII/1, Th XIII, nota. 723 Zur Beschreibung der materia ex qua als notitia, assensus und fiducia vgl. Abschnitt a). Zur Bestimmung der forma fidei vgl. IV, VIII/1, Th XIV. 724 IV, VIII/1, Th XIV.

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d) Akt und Gegenstand des Glaubens (fides qua und fides quae creditur) Eher beiläufig wird die Unterscheidung zwischen fides qua und fides quae creditur verwendet. Der Glaube, durch den wir glauben und gerechtfertigt werden (fides qua creditur), ist es, der uns zur Gerechtigkeit angerechnet wird. Er ist also identisch mit der Relation der fiducia, dem Vertrauensverhältnis zwischen Gott und Mensch. Der Glaube, den wir glauben (fides quae creditur) – von Quenstedt als Gegenstandsbestimmung des Glaubens verwendet, also zur Bezeichnung dessen, worauf sich der Glaube richtet – ist das Verdienst Christi.725 Auf das Verdienst Christi als Gegenstand des Glaubens richten sich in diesem Sinne aber notitia und assensus als Akte des Verstandes im Zusammenhang mit der fiducia, also im Kontext der fides justificans. Dementsprechend gilt, dass der Glaube, durch den wir gerechtfertigt werden (fides qua als fiducia), dem Glauben, durch den wir unsere Rechtfertigung glauben (fides quae, die durch notitia erkannt wird), vorausgeht. Der Glaube an die Rechtfertigung eignet sich die Wohltaten Christi nicht an, sondern allein der Fiduzialglaube, durch den wir gerechtfertigt werden.726 Insofern sind notitia und assensus also Folge des rechtfertigenden Glaubens, während sie als Teil der fides humana diesem vorausgehen. e) Glaube und Schriftverstehen In der Auslegung des Kapitels über die Heilige Schrift wurde deutlich, dass das Entstehen des Glaubens (conversio, justificatio) und das Wachstum im Glauben (renovatio), aber auch der Glaube selber Verstehen der Heiligen Schrift in ihrer Wirksamkeit sind. Die Ausführungen über die Entstehung des Glaubens in der Lehre über die gratia applicatrix haben gezeigt, dass dieses Entstehen des Glaubens im Hören auf das Wort der Schrift durch eine Verbindung aus praktischem, präpropositionalem Verstehen und propositionalem Verstehen (notitia historica) geschieht. Die praktische Dimension des Verstehenlernens bringt Quenstedt auf keinen Begriff, beschreibt sie aber in den Wirkungen der gratia praeveniens und der gratia praeparans als Veränderung der Situation des Menschen. In der gratia excitans kommt mit der notitia historica ein propositionaler Aspekt des Verstehens hinzu. Der assensus geht dabei bereits wieder in ein praktisches Verstehen über, insofern Anerkennung des Gelesenen in Verbindung mit einer fiducia generalis auch zu Zerknirschung und Reue führen kann, die in der Buße ihren pragmatischen Kontext finden. Wenn Quenstedt in der Schriftlehre also den Glauben als eine der Wirkungen der Schrift aufzählt, so ist hier sowohl der 725 III, IIX/2, q V, Ekth. IX. 726 III, IIX/2, q VI, st.c. IV und Ekth. VI.

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Glaube als fiducia im Blick, als auch der Glaube als Ganzes aus notitia, assensus und fiducia. Glaube kann in beiderlei Hinsicht als Wirkung des Schriftwortes gelten. Es zeigt sich auch, dass Quenstedt zumindest zwei Arten des Verstehens der Heiligen Schrift voneinander unterscheidet, ein äußeres Verstehen des (historischen) Textsinns und ein Verstehen des geistlichen Sinns des Textes, der sein sensus literalis ist. Das Verstehen der Schrift in der fides historica sive humana wird dabei von Quenstedt deutlich als ein Verstehen des äußeren Textsinns markiert, weil es nur zu einer externa et historica notitia des biblischen Textes kommt. Dieses äußere Verstehen des Textsinnes erscheint dann aber als eine Voraussetzung (neben dem assensus, der zur contritio führen kann), die zu einem Verstehen des geistlichen Textsinns im Rechtfertigungsglauben und der Erneuerung führt. Diese Vorordnung eines propositionalen Verstehens des Textsinns gegenüber assensus und fiducia als praktischen Verstehensvollzügen wird besonders deutlich in der Begründung dessen, dass die notitia Teil des Glaubens ist.727 Quenstedt argumentiert hier, dass man dasjenige, dem man im assensus zustimmt, zuvor auch erkannt haben muss.728 Das aber hieße z.B. bezogen auf einen Befehl oder ein Gebot, dass man zunächst den Gehalt des Gebotes verstehen muss, um ihn zu befolgen. Genau diese scheinbar nahe liegende Vorstellung haben wir auf der Grundlage der wittgensteinschen Sprachphilosophie aber in Frage gestellt: Das Verstehen eines Befehls (oder eines Gebotes) besteht zunächst in der Praxis der Befolgung oder des Verweigerns der Befolgung des Befehls bzw. im Gehorsam oder Ungehorsam gegen das Gebot. Es ist praktisches Verstehen. Ob z.B. jemand das Gebot „Du sollst nicht töten!“ versteht, erweist sich nicht daran, dass er den Inhalt des Gebotes erklären kann, sondern daran, dass er nach diesem Gebot handelt. Erst die Frage, was es heißt, nach diesem Gebot zu handeln, führt auf die Frage nach dem propositionalen Gehalt des Gebotes. Diese Frage aber stellt sich nur unter bestimmten Umständen und ist keineswegs Voraussetzung für ein Verstehen des Gebotes.729 Ein propositionales Verstehen kann also auf das praktische Verstehen folgen, ist aber nicht Voraussetzung für dieses. Genau dies zeigt sich auch in den Ausführungen Quenstedts zum Rechtfertigungsglau727 IV, VIII/2, q I. In der Begründung wird auf die Ausführungen in der Sectio Prima verwiesen. 728 IV, VIII/1, Th VI, nota III. 729 Vgl. zu dieser Problematik der Unterscheidung von Begründungsdiskurs und unmittelbarem Befolgen eines Gebots Fischer, Theologische Ethik, 107–109: Die Frage nach den Gründen eines bestimmten Handelns ergibt sich erst in der Beobachterperspektive, in der aufgrund der kommunikativen Struktur des Verstehens die Frage nach dem Warum des Handelns gestellt wird. Das Handeln im Augenblick des Vollzugs geschieht nicht aus Gründen. Spontanes Handeln wird nachträglich als absichtliches Handeln aus Gründen konzeptionalisiert. Fischer nimmt hier, zumindest implizit, zentrale Einsichten der Sprachphilosophie Wittgensteins auf.

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ben, in denen notitia und assensus durch den Begriff der fiducia bestimmt werden bzw. die fides quae creditur auf der fides qua creditur beruht. Dass die notitia des Rechtfertigungsglaubens ein geistgewirktes Erkennen des Glaubensgehaltes ist, das als theologisches Erkennen vom allgemeinen Erkennen unterschieden wird,730 und das von Quenstedt sogar als ein fiduziales Erkennen charakterisiert wird, zeigt, dass die Erkenntnis als Teil des Rechtfertigungsglaubens von der Wirkung des Geistes im Glauben her gedacht wird. Das propositionale Verstehen des Gegenstandes des Rechtfertigungsglaubens (das Verdienst Christi) wird hier also in Abhängigkeit vom Akt des Rechtfertigungsglaubens gedacht. Das praktische Verstehen der fiducia geht dem propositionalen Verstehen der notitia also voraus. Das Verstehenlernen der Heiligen Schrift geschieht in dem Geschehen der Rechtfertigung (i.w.S.). Selbst die fides historica, die dem eigentlichen Rechtfertigungsglauben vorausgeht, versteht Quenstedt ja als Wirkung des Geistes in der gratia excitans. Damit behauptet Quenstedt also entweder einen geistgewirkten allgemeinen Glauben, der dem Rechtfertigungsglauben vorausgeht, oder aber diese fides historica ist bei Quenstedt selber vom Rechtfertigungsglauben her gedacht und daher implizit durch diesen mitbestimmt. Dann aber kann man sie nicht als eine dem Rechtfertigungsglauben vorangehende Stufe verstehen, die zum Glauben hinführt. Quenstedt freilich scheint hier eine klare Reihenfolge vor Augen zu haben: Der Leser der Schrift versteht durch den Heiligen Geist den sensus historicus der Schrift in der notitia und erkennt ihn als historisch wahr an (assensus). Dieses Verstehen führt dann, aufgrund des Verstehens und Anerkennens des Gesetzes, zur Zerknirschung und damit zur Buße und in dieser durch das Hinzukommen des Evangeliums zur Bekehrung und damit zum geistlichen Verstehen der Schrift im Rechtfertigungsglauben. Insofern ist also die Abfolge von fides historica und fides justificans durchaus von der problematisierten Vorordnung eines propositionalen Verstehens vor das praktischen Verstehen bestimmt, gleichwohl die pneumatologischen Bestimmungen dem entgegenstehen. Dem Verstehen als notitia geht ja schon ein ganz anderes Verstehen der Schrift voraus, das Quenstedt aber eben charakteristischer Weise nicht begrifflich zu fassen bekommt, das aber dennoch konstitutiv ist, weil es das Verstehen in der gratia excitans als passives Vertehen erst ermöglicht. Diese Vorstufen der Gnadenwirkung sind aber nichts anderes als Wirkungen des Heiligen Geistes durch das Wort der Schrift und insofern auch Dimensionen eines praktischen Schriftverstehens, das in der notitia fidei humanae schon vorausgesetzt ist.

730 IV, VIII/2, q I, Ekth. IIX.

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Trotz der Tatsache, dass sich der intellektualistische Zug im Glaubensverständnis, der assensus und fiducia von der notitia abhängig sieht, durchsetzt und dazu führt, dass das Erkennen des Glaubensgegenstandes für den Akt des Glaubens von zentraler Bedeutung wird, gilt bei Quenstedt aber eben auch, dass das heilvolle, praktische Verstehen der Schrift im Rechtfertigungsglauben Voraussetzung eines propositionalen Verstehens der Heiligen Schrift ist. 3.3 Zusammenfassung Das Verstehen der Schrift im Glauben durch den Geist Die Ausführungen Quenstedts zur Lernsituation des Glaubens und zum Begriff des Glaubens selber sind also ambivalent. Auf der einen Seite ordnet Quenstedt in der Lehre von der gratia applicatrix das Verstehenlernen der Heiligen Schrift in den Zusammenhang der Entstehung des Glaubens durch das Werk des Heiligen Geistes ein. Glaube entsteht hier im Hören und Lesen des Schriftwortes, durch das der Heilige Geist selber ein Verstehen dieses Wortes in seinem geistlichen, literalen Sinn bewirkt. Verstehen der Heiligen Schrift wird so als passives Verstehen entfaltet, das in der Wirksamkeit des Schriftwortes sein Gegenstück hat. Dieses passive Verstehen wird eingeordnet in den Lebensvollzug des Menschen, in die Situation des Umbruchs von Unglauben zum Glauben, vom Unheil zum Heil, und vollzieht sich in bestimmten Praktiken. Diese Verankerung in der Lebenspraxis wird angedeutet, z.B. in der Rede von der Wirksamkeit der gratia praeveniens im Lesen, Hören und Meditieren des Schriftwortes oder in der Erörterung von Fragen, die die Lesepraxis der Christen betreffen.731 Die Einbettung des Geschehens von Wiedergeburt, Bekehrung, Rechtfertigung und Erneuerung in die konkreten Glaubenspraktiken wird aber von Quenstedt nicht besonders betont. Der Bezug zur Lebenspraxis wird vor allem durch die bereits in hohem Maße theologisch reflektierten Begriffe der Lehre von der gratia applicatrix hergestellt. Die vereinzelten Erwähnungen von Zusammenhängen mit konkreten Praktiken lassen freilich vermuten, dass diese Zusammenhänge selber viel zu selbstverständlich waren, um überhaupt der Erwähnung zu bedürfen.732 Erst die Entselbstverständlichung dieses Zusammenhangs durch die Moderne macht es nötig, auf diesen Zusammenhang aufmerksam zu machen und ihn theologisch zu reflek731 Vgl. z.B. I, IV/2, q XXI: „An laicis etiam permissa Scripturae lectio?“ (Hervorhebung im Original). 732 Für eine detailliertere Darstellung wäre hier eine frömmigkeitesgeschichtliche Studie erforderlich, die im Kontext dieser Arbeit aber nicht geleistet werden kann. Die Erforschung der Frömmigkeit in der lutherischen Orthodoxie steht erst an ihrem Anfang. Ich verweise hier lediglich auf Wallmann, Theologie und Frömmigkeit.

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tieren, wenn die Rede von Wiedergeburt, Bekehrung, Rechtfertigung etc. nicht ortlos werden soll. Bei Quenstedt wird vor allem die Rede von der Bekehrung in einer konkreten Praxis verankert, nämlich in der Praxis der Buße als äußerem praktischen Vollzug von Umkehr.733 Die Darstellung der Buße selber allerdings ist von dem grundlegenden Problem der Heilslehre Quenstedts gekennzeichnet: Der Umbruch zum Heil hin wird so verstanden, dass das Heil des Menschen zu einem Besitz des Menschen wird. Die Lernsituation des Glaubens in Bekehrung und Rechtfertigung wird so zum bloßen Anfangsgeschehen reduziert, die Passivität der Lernsituation geht verloren, der wiedergeborene Mensch wird zum Mitwirkenden, ohne dass der bleibende Bezug zu der kategorial von der Aktivität des Willens zu unterscheidenden Passivität im Blick ist. Dass renovatio auch Verstehen der Heiligen Schrift ist, gerät dabei aus dem Blick. Passives Verstehen der Schrift im Glauben und aktives Mitwirken des Menschen in der Erneuerung finden nicht zusammen. Deutlich wurde soweit also, dass die Bibel als Heilige Schrift gelesen wird, weil sie sich durch den Geist selber im Geschehen von Wiedergeburt, Bekehrung, Rechtfertigung und Erneuerung als göttliches Heilswort erweist. Die Widerfahrnis des Heilshandelns Gottes im Geist durch das Wort der Schrift ist die Lernsituation christlichen Glaubens und christlicher Glaubensrede und damit auch die Lernsituation, in der wir die Bibel als Heilige Schrift verstehen lernen. Dieses Verstehenlernen der Schrift ist ein praktisches, präpropositionales und passives Verstehen, in dem das Heil widerfährt und den Menschen zum Handeln nach Gottes Geboten befreit. Die Ausführungen Quenstedts werfen aber zwei Probleme auf. 1. Zunächst ist eine Problematik der Soteriologie und Pneumatologie Quenstedts zu benennen: Der Übergang von der Passivität in das selbsttätige Handeln des erneuerten Menschen wird als ein Ablösen der Passivität durch die Koaktivität des Menschen gedacht. Die kategoriale Differenz zwischen einer Passivität als Ausschluss des Willens aus dem Geschehen der Bekehrung und dem aktiven Handeln aufgrund eines Willensentschlusses wird damit übergangen, Rechtfertigung und Bekehrung werden zu einem bloßem Anfangs- und Durchgangsgeschehen. Es bedarf hier also einer anders gearteten Beschreibung des Übergangs zur Koaktivität des erneuerten Menschen, so dass der Mensch auch in seinem Handeln nach Gottes Gebot noch als passiv Empfangender der gött733 Dem entspricht dogmen- und frömmigkeitsgeschichtlich, dass die Bußpraxis der Kontext ist, in dem Luther die grundlegenden Einsichten seiner worttheologischen Rechtfertigungslehre gewonnen hat. Vgl. dazu Bayer, Promissio.

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lichen Gnade beschrieben werden kann. Ansätze dazu finden sich in Quenstedts Bußlehre, die Elemente von Luthers Vorstellung der Buße als Rückkehr zur Taufe (reditus ad baptismum) aufnimmt. 2. Das zweite Problem ist ein im engeren Sinne hermeneutisches und soll uns im Folgenden beschäftigen: Beschrieben wird von Quenstedt ein Verstehen der Heiligen Schrift, das selber ein Glaubenlernen ist. Die gratia applicatrix ist ja principium fidei. Nun gilt die Heilige Schrift aber wegen ihrer Wirksamkeit zum Heil und der darin implizierten Wirksamkeit zum Glauben auch als principium theologiae und wird so zur Norm theologischen Denkens und zum Gegenstand theologischer Schriftauslegung. Die in Abschnitt 2 erörterten Beispiele haben nun aber gezeigt, dass ein theologisches Verstehen der Heiligen Schrift nicht passive Widerfahrnis des Schriftwortes ist und auch nicht sein kann. Die Theologie bewegt sich ja als Form der Reflexion in Begriffen und kann daher nicht in einem präpropositionalen, praktischen Verstehen der Schrift aufgehen. Es bleibt aber nach dem Verhältnis von theologischem Schriftverstehen und Auslegen zum passiven Verstehen der Schrift im Glauben zu fragen. Neben die Analyse des Verstehens der Schrift im Glauben als einer passiven Widerfahrnis muss eine Hermeneutik der theologischen Anwendung der so verstandenen biblischen Texte treten.

4. Schriftverstehen in Theologie und Glaube Theologie und Glaube Damit schlagen wir nun, nach einem Exkurs in die materiale Dogmatik, wieder den Bogen zurück in die Prolegomena und nehmen das Verhältnis von Theologie und Glaube in den Blick. Dafür gehen wir hier nun zunächst vom Theologiebegriff und seinen Bestimmungen aus und fragen dann vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen nach dem Verhältnis von theologischem Schriftverstehen und Verstehen der Heiligen Schrift im Glauben. 4.1 Theologie als praktische Wissenschaft Praktisches Wissenschaft und analytischer ordo a) Methode, Ordnung und System – Zabarellas Methodenlehre und die Ausbildung des Systembegriffs Das theologische System Quenstedts setzt den Übergang von der lokalen Methode hin zum analytischen ordo bereits voraus. Dieser Übergang vollzog sich im Kontext einer Veränderung der Auffassung wissenschaftlicher Methoden, der sich als Übergang von der humanistischen Topik zu einer metaphysisch-aristotelisch begründeten Logik und Methodik charakterisie-

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ren lässt.734 Maßgeblich für diesen Umbruch hin zu einer neuen Methodik und damit auch maßgeblich für die Methodik der altlutherischen Theologie ist die Methodenlehre des aristotelischen Logikers Jakobus Zabarella aus Padua (1533–1589). Insbesondere sein Werk über die Methoden (De methodis)735 gewann mit der Unterscheidung von ordo compositivus (syntheticus) und ordo resolutivus (analyticus) weit reichenden Einfluss, nicht nur für die lutherische Theologie in der Hochorthodoxie, sondern für die gesamte barocke Wissenschaftslehre. Grundlegend für die Methodenlehre Zabarellas ist dabei, dass der Begriff der Methode in einem weiteren Sinne (methodus late accepta) sowohl die Anordnung des Stoffes einer Wissenschaft zu Lehrzwecken (ordo) als auch die Methode im engeren Sinne als syllogistisches Fortschreiten in der Erkenntnis umfasst.736 Die Notwendigkeit, einen Gegenstand vor dem anderen zu behandeln (ordo), muss von dem Fortschreiten von einer Erkenntnis zur nächsten (methodus) unterschieden werden.737 Dabei richtet sich die Ordnung des Wissensstoffes nicht einfach nach der Ordnung der Dinge an sich, wohl aber nach der Ordnung der Dinge, wie sie für unsere Erkenntnis da sind. Allerdings können sich die Ordnung der Dinge und die Anordnung des Wissens über die Dinge voneinander unterscheiden, ja sie können sogar einander gegenläufig sein.738 Die Anordnung des Wissens ist Werkzeug der Erkenntnis und ist als solche durch ihren Zweck, und das heißt eben auch nicht in erster Linie durch die natürliche Ordnung bestimmt. Die natürliche Ordnung ist nur noch eine Dispositionsmöglichkeit.739 So kommt Zabarella zur folgenden Definition des ordo: „Wir sagen also: Die Ordnung der Lehre ist eine werkzeughafte Haltung (habitus), durch die man in der Lage ist, die Teile eines jeden Lehrfaches so anzuordnen, dass das betreffende Fach bestund leichtestmöglich erlernt wird.“740 Der Zweck jeder Ordnung wird also 734 Vgl. zum wissenschaftsgeschichtlichen Kontext und zu den folgenden Ausführungen im Ganzen: Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, insb. 15–21 (zur lokalen Methode), 31–66 (Ramismus), 67–81 (Zabarella) und 81–100 (Systembegriff). Zur (theologischen) Rezeptionsgeschichte vgl. außerdem: Appold, Calov’s Doctrine, 25–28; Sparn, Die Krise, 76–78; Hägglund, Die Heilige Schrift, 47–54 und Weber, Der Einfluss, 19–74, sowie Alexander, Hermeneutica generalis, 57–62. 735 In: Ders., Opera Logica, hg. v. W. Risse, Hildesheim 1966, Nachdruck der Ausgabe Köln 1597, 133–334. Die folgenden Übersetzungen orientieren sich an der Übersetzung von R. Schicker: Zabarella, Über die Methoden. 736 Der Begriff des „ordo“ bei Zabarella deckt sich dabei mit dem ramistischen Begriff der „Methode“ (vgl. Schmitdt-Biggemann, Topica Universalis, 73). 737 Vgl. Zabarella, De Methodis, lib. I, Cap. III (138f). Während die Methode i.e.S. also ihrem Wesen nach immer syllogistisch verfährt, gilt dies für die Ordnung nicht, gleichwohl auch die Anordnung des Wissens syllogistisch verfahren kann (aaO., lib. II, Cap. 18 [217A–B]). 738 Vgl. Zabarella, De Methodis, lib. I, Cap. X (153D–F). 739 Vgl. Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, 73. 740 Zabarella, De Methodis, lib. I, Cap. XI (154C): „Nos igitur dicimus, ordinem doctrinae esse instrumentalem habitum, per quem apti sumus cuiusque discipline partes ita disponere, ut

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pädagogisch definiert. Sie zielt auf das Erlangen von Erkenntnis. Daher erfolgt die Unterscheidung der verschiedenen ordines ausgehend von den unterschiedlichen Zweckbestimmungen der Erkenntnis: Entweder die Erkenntnis soll um ihrer selbst willen erlangt werden, so in den theoretischen Wissenschaften, oder aber die Erkenntnis soll erlangt werden, um damit eine bestimmte Tätigkeit zu verrichten, so in den nicht-theoretischen, praktischen Wissenschaften wie der Ethik oder den Künsten.741 Die Anordnung zum Zweck der Erkenntnis um ihrer selbst willen geht von den ersten Prinzipien aus und schreitet von diesen zu den späteren Prinzipien fort. Zielt die Erkenntnis aber auf den Zweck einer bestimmten Tätigkeit, so muss zunächst der Zweck dieser Tätigkeit bestimmt werden, um von diesem Zweck ausgehend nach den Prinzipien und Mitteln zu fragen, durch die dieser Zweck erreicht werden kann. Diese beiden Anordnungsweisen des Stoffes bezeichnet Zabarella als ordo compositivus (synthetischer Ordo, zusammensetzende Ordnung) und als ordo resolutivus742 (analytischer Ordo, rückführend-auflösende Ordnung).743 Die theologische Rezeption bei Quenstedt im Blick weise ich darauf hin, dass in diesem Zweischritt von Zweck (finis) und Prinzipien bzw. Mitteln (principia, media) des analytischen Ordo der Gegenstand, der zu einem bestimmten Zweck bearbeitet werden soll, mit unter die Zweckbestimmung fällt. So wird es z.B. bei der Darstellung der medizinischen Kunst (ars) als Beispiel für eine nach dem ordo analyticus verfahrenden Wissenschaft deutlich:744 Die Medizin muss, weil sie den menschlichen Körper heilen will, um den menschlichen Körper als ihren Gegenstand wissen und genaueste Kenntnis von diesem Gegenstand haben. Daher ist es angemessen, wenn die Heilkunst nach der Bestimmung des Ziels mit der Vermittlung anatomischen quantum fieri possit, optime ac facillime illa disciplina discatur.“ Mit der Rede vom „habitus instrumentalis“ weist Zabarella der Logik innerhalb des aristotelischen Wissenschaftskanons eine Sonderstellung zu. Alle Wissenschaft ist habituelle Erkenntnis. Vgl. Zabarella, De natura logica, lib. I, cap. II (3F–4A): „[…] ut in memorato loco 6. libri de Moribus, asserit Aristoteles, vbi eam definit esse habitum demonstratiuum“. Innerhalb der von Aristoteles angeführten habitus aber lässt sich die Logik nicht als Wissenschaft verorten, weil sie in allen Wissenschaften vorausgesetztes Instrument ist. Daher bestimmt Zabarella die Logik insgesamt als einen habitus instrumentalis. Vgl. Zabarella, De natura logica, lib. I, cap. III (5E–8E). 741 Zabarella, De Methodis, lib. II, Cap. 6 (180B–C). 742 Die Definition lautet: „Ordo autem resolutiuus est instrumentum logicum disponens, quo a notione finis, qui ab homine libere operante produci, & generati queat, progredimur ad inuenienda, & cognoscenda principia, ex quibus operatione postea inchoantes, producere, & generare fine illum possimus.“ (Zabarella, De Methodis, lib. II, Cap. 17 [216E–F]) 743 Die Übersetzung mit synthetisch bzw. analytisch orientiert sich an den, den lateinischen Vokabeln compositivus und resolutivus zugrunde liegenden, griechischen Ausdrücken der su/ncesij (Zusammensetzung) und a«>na/lusij (Auflösung). Zabarella selber spricht durchgehend von ordo compositivus bzw. resolutivus. Die Wendung ordo analyticus und syntheticus begegnet aber z.B. bei Scharf, Institutiones Logicae, lib. 7, Cap. 2 (694f). Die deutsche Übersetzung entnehme ich Schicker. 744 Vgl. zum Folgenden Zabarella, De Methodis, lib. II, Cap. XI (194E–F).

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Wissens einsetzt. Ebenso muss der Moralphilosoph Wissen über die menschliche Seele als Gegenstand der Moralphilosophie vermitteln.

Neben die Unterscheidung zweier Weisen der Anordnung des Wissensstoffes tritt die Unterscheidung zweier methodischer Vorgehensweisen im engeren Sinne, also von zwei unterschiedlichen Formen des syllogistischen Fortschreitens in der Erkenntnis. Auch diese beiden Methoden i.e.S. nennt Zabarella synthetische und analytische Methode. Während die synthetische Methode (methodus compositivus) dazu dient, akzidentelle Eigenschaften aus Prinzipien herzuleiten, dient die analytische Methode (methodus resolutivus) dem Auffinden unbekannter Prinzipien aufgrund bekannter Eigenschaften.745 Geht in der synthetischen Methode der Syllogismus von nicht herzuleitenden Prinzipien im Vordersatz aus und führt auf ein neues Wissen, so geht der Syllogismus in der analytischen Methode vom Späterem als dem Bekannteren im Vordersatz hin zu den Ursachen.746 Die analytische Methode ihrerseits besteht aus zwei Beweisarten, nämlich zum einen dem Beweis von der Wirkung aus (demonstratio ab effectu), zum anderen der Induktion.747 Für uns von Interesse sind nun nicht so sehr die weiteren Ausführungen zu den Methoden, sondern die Verhältnisbestimmung der beiden Methoden zu den beiden ordines. Zabarella thematisiert diese Verhältnisbestimmung im Blick auf das Verhältnis von analytischer Ordnung und analytischer Methode: „Insofern nämlich zuerst über den Zweck und dann über das, was dem Zweck vorausgeht, gehandelt wird, spricht man von der Befolgung der rückführend-auflösenden (analytischen) Ordnung; insofern jedoch das, was zu dem betreffenden Zweck hinführt, aus diesem vorab gekannten Zweck mittels notwendiger und syllogistischer Erschließung gefolgert wird, liegt eine Methode vor.“748 Fragt man nun aber, welcher Methode die Ordnung dabei folgt, ob also das Ausgehen vom Zweck im analytischen Ordo methodisch ein Ausgehen von einem Prinzip ist oder ein Ausgehen vom Späteren, aus dem auf die Ursachen geschlossen wird, so gilt es zu beachten, dass Zabarella die Methoden i.e.S. nur als Methoden der theoretischen Wissenschaften behandelt wissen will, weil ihr Sinn und Zweck ist Wissen von zuvor Unbekanntem hervorzubringen. Dies aber ist der Sinn und Zweck der 745 Vgl. Zabarella, De Methodis, lib. III, Cap. 18 (266E). 746 Vgl. aaO. (268D). 747 Vgl. Zabarella, De Methodis, lib. III, Cap. 19 (268F–269A). 748 Zabarella, De Methodis, lib. III, Cap. 20 (271D–E): „[…] quatenus enim prius de fine agitur, postea de ijs, quae sunt ante finem, ordo seruari dicitur resolutiuus, quatenus autem ex fine praecognito colliguntur per necessariam, & syllogisticam illationem ea, quae ad finem ducunt, eatenus methodus quaedam est“. Übersetzung nach Schicker. Vgl. dazu Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, 76: „In der einleuchtenden Unterscheidung von ordo und methodus bekam der ordo auch ‚methodische‘ Aufgaben, wurde Ordnung auch als Verfahren beschrieben.“

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theoretischen Wissenschaften, die nach dem ordo syntheticus organisiert sind.749 „Im Bereich des Praktischen gibt es also nicht die Methode im eigentlichen Sinne, wie es auch nicht das Wissen im eigentlichen Sinne oder wahre Notwendigkeit gibt.“750 Werden in einer praktischen Wissenschaft bestimmte Mittel (media) angewandt, um zu einem bestimmten Ziel (finis) zu gelangen, so sind diese Mittel nicht absolut notwendig, sondern sie sind nur notwendig im Blick auf das zu erreichende Ziel. Dieses Ziel jedoch ist allein vom freien Willen des Menschen abhängig und daher nicht absolut notwendig. Man kann die Begriffe der analytischen und synthetischen Methode allerdings gleichnishaft (per similitudinem) auf die praktischen Wissenschaften anwenden, weil es auch in diesen Syllogismen gibt, die im Kontext der praktischen Wissenschaft den Status von Beweisen haben, auch wenn sie im eigentlichen Sinne keine Beweise sind.751 Aus dieser analogischen Rede vom Beweis in den praktischen Wissenschaften erklärt sich für Zabarella die Unklarheit der methodischen Einordnung des Aufbaus dieser Wissenschaften: Man kann das Ausgehen vom Zweck einer Kunst hin zur Bestimmung der zum Erreichen dieses Zweckes notwendigen Prinzipien und Mittel teils als synthetischen Beweis, teils als analytischen Beweis von der Wirkung aus bezeichnen.752 Synthetisch kann diese Methode deshalb heißen, weil man sich vorab einen Begriff vom Zweck bildet und dieser Zweck im Blickwinkel einer theoretischen Wissenschaft als Zweckursache Prinzip einer syllogistischen Ableitung sein kann.753 Da nun aber der analytische Ordo ganz auf die Praxis hin orientiert ist, wird der zu erreichende Zweck (z.B. die Gesundheit eines Menschen) nicht als Ursache, sondern als Wirkung in den Blick genommen. Der analytische Ordo geht vom Späteren zum Früheren, die Zweckursache aber ist, insofern sie Ursache ist, früher als das, was ihr vorausgeht. Daher ist der analytische Ordo eher mit der analytischen Methode denn mit der synthetischen in Verbindung zu bringen.754 Die Stärke der Methodenlehre Zabarellas lag darin, dass er gegenüber dem Ramismus das gesamte Gebiet der Wissenschaft methodisch erfassen konnte, während der Ramismus mit seinem Systembegriff sich auf die artes hatte beschränken müssen und die kontemplativen, theoretischen Wissenschaften ausklammerte.755 Die eigentliche Neuerung bestand also zunächst 749 Vgl. Zabarella, De Methodis, lib. III, Cap. 20 (272B). 750 AaO. (272C): „In artibus […] igitur proprie dicta methodus non datur, sicuti neque proprie dicta scientia, neque vera necessitas“. Übersetzung nach Schicker. 751 Vgl. aaO. (272D–F). 752 Vgl. aaO. (273A). 753 Vgl. aaO. (274A). 754 Vgl. aaO. (274C). 755 Vgl. Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, 80f.

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im ordo compositivus. Rezeptionsgeschichtlich stand jedoch bald der ordo resolutivus im Vordergrund, weil dieser bei den reformierten Theologen und Philosophen Timpler und Keckermann in einer Synthese mit dem ramistischen Denken zum Systembegriff weitergebildet wurde. Der Systembegriff wurde schon bei Ramus in Anlehnung an eine Stelle aus Lukians peri/ parasi/tou als Begriff zur Strukturierung der artes begriffen: „Kunst [war] ein System von Begriffen und Übungen.“756 Während nun Timpler den Systembegriff sowohl auf die theoretischen als auch die praktischen Wissenschaften ausdehnte und damit wieder deutlich einen Schritt in Richtung des ramistischen Systembegriffs machte,757 verwendete Bartholomäus Keckermann den Begriff zunächst allein für ein Teilgebiet der artes und hielt gegen seinen Zeitgenossen Timpler an der zabarellianischen Unterscheidung von theoretischer, praktischer und instrumentell-direktiver Wissenschaft (Logik, Rhetorik etc.) fest.758 So verbindet sich bei Keckermann der Systembegriff mit der zabarellianischen, pädagogischen Auffassung des ordo analyticus der praktischen Wissenschaften. Der zabarellianische, analytische Ordo wird dabei an zwei für die theologische Rezeption bedeutenden Stellen fortgebildet. Zum einen führt Keckermann in Anlehnung an die loci communes des Ramismus die Behandlung der jeweiligen Loci in Lehrsätzen (praecepta) ein, die dann kommentiert werden. Dieses Verfahren, das „im Anschluß an das Systema Logicae [Keckermanns] […] als Lehrbuchform fast kanonisch“759 wurde, begegnet uns auch in Quenstedts Theologia und den anderen großen Werken der lutherischen Orthodoxie. Zum anderen stellt Keckermann an den Anfang des Systems die Praecognita, die dem Begriff nach auch am Anfang von Quenstedts theologischem System stehen. Anders als bei Quenstedt werden die Praecognita bei Keckermann allerdings noch zur Darstellung der Fachhistorie einer Wissenschaft, aus der dann die wissenschaftlichen Leitbegriffe entwickelt werden.760 Bei Quenstedt, wie auch schon bei seinem Vorgänger König, ist dieser Vorgang im Wesentlichen enthistorisiert: Dargelegt werden in den Praecognita der Theologiebegriff, der Religionsbegriff und das Prinzip der Theologie. Dies ist eine konsequente lutherisch-theologische Umbildung der Praecognita, denn die theologischen Leitbegriffe werden nicht aus Tradition oder Historie gewonnen, sondern allein aus der Heiligen Schrift als dem Prinzip des Glaubens.

756 Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, 82. Zum ramistischen Systembegriff vgl. aaO., 44f. 757 Vgl. Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, 83–84. 758 Vgl. Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, 89f. 759 Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, 92. Vgl. zur Einführung der Lehrsätze und der Kommentierung durch Keckermann aaO., 90–92. 760 Vgl. Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, 92f.

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In die lutherische Theologie drang der analytische ordo in der Form des Systemgedankens dann bei Balthasar Meisner und Georg Calixt, dem umstrittenen Grenzgänger der lutherischen Orthodoxie, ein. Beide rezipierten den analytischen ordo aber nur partiell, strukturierten nicht das Ganze der Theologie als System.761 Umfassend zur Anwendung kommt der ordo analyticus dann erstmals bei Abraham Calov in seinem Systema locorum theologicorum und dann bei Johann Friedrich König und Quenstedt. Rezipiert wird der ordo analyticus in der lutherischen Theologie dabei nicht unmittelbar im Anschluss an Zabarella, sondern vermittelt durch Keckermanns Systembegriff. Dies zeigt sich schon daran, dass die entsprechenden Werke sich durchgängig als Systeme der Theologie vorstellen.762 Dieser systemische Charakter der Theologie ist als Anordnung der Theologie zu Lehrzwecken zu verstehen, denn der analytische ordo ist ja nichts anderes als die Anordnung des Stoffes zum Zweck der Lehre. Gerade dieser pragmatische Charakter des ordo analyticus wird bei Keckermann ja die Grundlage der Verbindung von ordo analyticus und antikem Systembegriff.763 Im Blick auf die hermeneutische Fragestellung eröffnet gerade dieser Systembegriff eine entscheidend neue Perspektive, weil das theologische System nun nicht mehr einer außerhalb ihrer selbst liegenden vorgegebenen Ordnung, z.B. derjenigen der biblischen Schriften, zu folgen hat, sondern seine Ordnung vom praktischen Zweck der Theologie her bestimmt.764 Erst die Ablösung der Theologie von einer vorgegebenen Ordnung ermöglicht eine präzise Bestimmung des Verhältnisses von Theologie und Schrift, die wir hier nun am theologischen System Quenstedts untersuchen wollen. Zu diesem Zweck müssen wir uns nun zunächst vergegenwärtigen, auf welche Weise Quenstedt den analytischen ordo rezipiert und anwendet.

761 Vgl. zur eingeschränkten Rezeption des analytischen ordo bei Calixt: Wallmann, Der Theologiebegriff, 93. Zu Meisner vgl. Weber, Der Einfluß, 26. 762 König trägt die Bezeichnung Systema zwar nicht im Titel, spricht aber gleich in der ersten These von der Unterscheidung von „praecognita & systema ipsum“ (König, Theologia positiva, § 1). 763 Sehr treffend dazu Sparn, Die Krise, 77: „Kurz, es handelt sich hier keineswegs um eine Theoretisierung der Theologie; in seiner ganzen pädagogischen Harmlosigkeit ist dieser Systembegriff weit entfernt von dem, den das neuzeitliche (die apriorische Einheit alles Wißbaren in der Einheit der Vernunft behauptende) Denken entwickelt hat.“ Fast jeder gegenwärtige Entwurf systematischer Theologie ist in diesem Sinne systematischer als die Systemata Theologiae der Altlutheraner. 764 Vgl. die Ausführungen bei Appold, Calov’s Doctrine, 28: „Following Keckermann, the notion of systema is inherent to the didactic discipline of theology, and not a natural characteristic of Scripture and the Creeds.“

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b) Das theologische System Quenstedts im Spannungsfeld von analytischem und synthetischem ordo Quenstedt setzt es als selbstverständlich voraus, dass die Theologie765 gemäß dem analytischen ordo vorzugehen hat. Dieser Aufbau zeigt sich sowohl in der Bezeichnung des Gesamtwerkes als System der Theologie als auch in den Überschriften der einzelnen Teile. Für Quenstedts theologisches System ergibt sich so die Vierteilung von finis theologiae (Pars Prima), subjectum theologiae (Pars Secunda), principia salutis (Pars Teritia) und media salutis (Pars Quarta). Die Selbstverständlichkeit, die der analytische Aufbau für Quenstedt gewonnen hat, ergibt sich sehr deutlich aus einem Vergleich zwischen König und Quenstedt. Während König den analytischen Aufbau der Theologie als praktischer Wissenschaft noch als These benennt,766 führt Quenstedt ihn bereits als Begründung für den praktischen Charakter der Theologie an.767 Folgt also bei König aus dem Charakter der Theologie als praktischer Wissenschaft der analytische Aufbau, so folgert Quenstedt aus dem analytischen Aufbau den praktischen Charakter der Theologie. Freilich bleibt der Charakter der Begründung bei Quenstedt unscharf, insofern er einerseits den analytischen Aufbau der Theologie im begründenden Abschnitt (Bebai/wsij) anführt, andererseits in den Ausführungen der Begründung selber aus dem praktischen Charakter der Theologie wieder auf den analytischen ordo schließt.768 Die Ausführungen unter der Überschrift „Begründung des praktischen Charakters der Theologie durch den analytischen Aufbau“ zeigen also in sich noch, dass die Begründungsrichtung ursprünglich umgekehrt lief, so wie noch bei Quenstedts unmittelbarer Vorlage, der Theologia positiva von Johann David Friedrich König. Die angeführten Zitate von König und Quenstedt bieten nun bereits ein erstes wichtiges Indiz dafür, dass die grundlegende Unterscheidung zwischen Methode i.e.S. und ordo, die für Zabarellas Methodenlehre grundlegend ist, nicht durchgehalten wird. Sowohl König als auch Quenstedt reden 765 Der Begriff Theologie steht bei Quenstedt für wissenschaftliche Theologie, im Kontext der altprotestantischen Distinktionen des Theologiebegriffs als theologia acroamatica im Unterschied zur theologia catechetica bezeichnet (vgl. I, I/1, Th XVI–Th XVIII). Die theologia didactica und die theologia polemica, also diejenigen Aspekte der Theologie, die Quenstedt in seinem System behandelt, fasst er beide unter die theologia acroamatica (aaO., Th XVIII, XXI und XXII). Vgl. zur Onomatologie des Theologiebegriffs unten Abschnitt e). 766 König, Theologia positiva, § 55 (7): „Methodus tractandi Theologiam, cum haec e numero habituum practicorum sit, analytica est, a cognitione finis & subjecti ad principia, a quibus, & media per quae finis introducitur, procedens“ (Hervorhebung im Original). 767 I, I/2, q III, Beb. VI : „[Probamus nostram thesin] A processu Theologiae Analytico“ (Hervorhebung im Original). 768 Ebd.: „Sicut alias disciplinae practicae omnes methodo non Synthetica, sed Analytica tractantur, quae incipit a cognitione finis, & ab hoc ad subjectum, atque inde tandem ad media ad finem facientia progreditur; ita quoque Theologiae, cum habitus practicus sit, idem ordo convenit.“

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vom „methodus analytica“, um den Aufbau des theologischen Systems zu beschreiben. In der Terminologie Zabarellas wäre korrekter vom „ordo analyticus“ zu reden, ein Begriff, der bei Quenstedt als Wechselbegriff neben den Begriff des „methodus analytica“ tritt. Eine explizite Identifikation von Ordo und Methode vollzieht schon Quenstedts Schwiegervater, der Metaphysiker und Logiker Johannes Scharf in seinen Institutiones Logicae im Kapitel de Methodo, et ordine: „Die Methode (methodus) ist die geschickte Anordnung der zu behandelnden Sachverhalte, zum Zweck der einfacheren Erkenntnis. Man spricht auch von der Anordnung (ordo).“769 Dabei weiß Scharf noch darum, dass man zwischen methodus und ordo auch unterscheiden kann,770 betont aber explizit, dass er beide miteinander verbunden wissen will.771

Nun wiesen wir bereits im Abschnitt über die gratia applicatrix darauf hin, dass es aufgrund der Rezeptionsgeschichte der zabarellianischen Methodenlehre zu einer Dopplung des Prinzipienbegriffs kommt. Diese Dopplung ergibt sich aus der von Bengt Hägglund aufgewiesenen Abhängigkeit der frühen Hochorthodoxie bei Johann Gerhard vom ordo syntheticus, wie er bei Zabarella definiert ist. Die Heilige Schrift wird als Prinzip der Theologie an erster Stelle behandelt, die dem folgenden Kapitel haben den Status aus der Schrift abgeleiteter Prinzipien. Dieser Status der Schriftlehre als Prinzip der Theologie bleibt auch unter den Bedingungen der Anwendung des analytischen ordo erhalten, so dass es nun zu einer Überkreuzung von ordo syntheticus und ordo analyticus kommt. Die Persistenz des synthetischen ordo zeigt sich auch in den Aussagen über die konkreten methodischen Schritte. So werden theologische Sätze „per bonam consequentiam“ aus der Heiligen Schrift abgeleitet,772 und die Theologie gilt als „habitus conclusionum ex Scripturae S. deductum“.773 Rezipiert wird hier also offensichtlich nicht nur der synthetische Ordo, sondern auch die synthetische Methode Zabarellas: Theologischer Erkenntnisfortschritt geschieht in Syllogismen, die, von der Heiligen Schrift als Prinzip ausgehend zu neuen Erkenntnissen in der conclusio führen. Die analytische Methode Zabarellas, die dazu dient, aufgrund von Wirkungen auf das diesen Wirkungen vorausliegende Prinzip zu schließen, kann in der Theologie der Altprotestanten 769 Scharf, Institutiones Logicae, lib. 7, Cap. III (909): „Methodus est elegans rerum tractandarum dispositio ad meliorum cognitionem facta. Vocatur etiam ordo“ (Hervorhebung im Original). 770 Ebd.: „Alias methodus ita distingui solet ab ordine, ut ordo tantum sit series seu dispositio rerum tractandaum: Methodus vero sit instrumentum illationis infernes unum ex altero“ (Hervorhebung im Original). Scharf referiert hier also die zabarellianische Unterscheidung von methodus und ordo. 771 Ebd.: „Sed hoc loco methodum & ordinem conjungimus“ (Hervorhebung im Original). 772 Vgl. z.B. I, IV/2, q V, st.c. V, sowie q X, Ekth. VI und q XI, Beb. XVIII. Siehe dazu oben Abschnitt 1.3 e (208f). 773 I, I/2, q II, Ekth. II.

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allerhöchstens einen sehr begrenzten Platz haben: Die Heilige Schrift ist ja offenbartes Prinzip der Theologie und als solches gegeben, muss also nicht mehr in einem analytischen Rückgang als Prinzip der Theologie aufgefunden werden. Zur Anwendung kann die analytische Methode also nur dort kommen, wo dies strittig wird und es darum geht, den Charakter der Heiligen Schrift als Grundlage des Glaubens und der Theologie aufzuweisen. Dies geschieht vor allem im Kapitel über die Heilige Schrift, das wir im ersten Abschnitt interpretiert haben. Dass die Heilige Schrift Prinzip der Theologie und Grundlage des Glaubens ist, wird analytisch von der Wirksamkeit der Schrift ausgehend begründet. Ein Vorgehen gemäß der analytischen Methode ist dies aber nur im weiteren Sinne, da in dieser die Prinzipien ja überhaupt erst entdeckt werden, während es hier darum geht, ein vorausgesetztes Prinzip nachträglich zu begründen. Quenstedt verbindet also nicht nur den synthetischen ordo, sondern auch die synthetische Methode mit dem analytischen ordo. Allerdings sind nun sowohl die analytische als auch die synthetische Methode im eigentlichen Sinne nach Zabarella nur Methoden der theoretischen Wissenschaften und nur im übertragenen Sinne Methoden auch der praktischen Wissenschaften. In diesem übertragenen Sinne aber ist nach Zabarella vor allem die analytische Methode eine Methode der praktischen Wissenschaften. Dass die synthetische Methode in einer praktischen Wissenschaft zur Anwendung kommt, ist nach Zabarella zwar denkbar, aber doch äußerst unwahrscheinlich. So weist auch die Anwendung der syllogistischen Methoden, die in Entsprechung zu den Reminiszenzen des synthetischen ordo in einem synthetischen Schlussverfahren von der Heiligen Schrift als dem Prinzip der Theologie ausgehen, darauf, dass die Theologie bei Quenstedt aller gegenteiligen Betonung zum Trotz nicht nur praktische Wissenschaft ist, sondern im Wesentlichen auch theoretische Wissenschaft bleibt. Der praktische Charakter der Theologie setzt sich im systematischen Aufbau der Theologie als ganzer und in ihren einzelnen methodischen Schritten nicht konsequent durch.774 Auch dadurch erklärt sich die Dissonanz zwischen Schriftlehre und praktischer Schriftverwendung in der durchgeführten Dogmatik.775 Während einerseits der Status der Heiligen Schrift als Prinzip der Theologie in der 774 Vgl. Sparn, Die Krise, 77: „Problematisch an der Darstellung der Dogmatik als analytisches System ist jedoch das Verhältnis des so gesicherten praktischen Gebrauchs des dogmatischen Wissens zu dem nach wie vor theoretischen Charakter der Begründung dieses dogmatischen Wissens mittels des demonstrativen Beweises aus der Heiligen Schrift (die analytische Methode im genausten Sinn des Wortes).“ Sparn ist hier lediglich dahingehend zu korrigieren, dass der theoretische Beweis aus der Schrift nicht der analytischen Methode i.e.S., sondern der synthetischen Methode i.e.S. entspricht. 775 Vgl. Sparn, Die Krise, 77 (in unmittelbarem Anschluss an das Zitat in Anm. 774): „Anders gesagt: Problematisch blieb das Verhältnis von Theologiebegriff und Schriftprinzip.“

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materialen Dogmatik, insofern sie nach der synthetischen Methode verfährt, vorausgesetzt wird, führt die theologische Reflexion auf der anderen Seite, nämlich insofern sie nach dem analytischen ordo strukturiert ist, erst darauf, dass die Schrift Prinzip und Mittel der Heilsvermittlung ist. Die Schriftlehre vollzieht diese analytische Argumentation vorweg im kleineren Rahmen, indem sie den Prinzipiencharakter der Schrift aus ihrer Heilswirksamkeit begründet. So kommt es zu einer Dopplung im systematischen Aufbau. Grundlegende Entscheidungen des dritten Teils über die principia salutis und des vierten Teils über die media salutis müssen schon in dem Kapitel über die Heilige Schrift vorweggenommen werden, die Lehre von der efficacia Scripturae ist eine Kurzfassung dieser Lehrstücke. Insofern das theologische System dem synthetischen ordo folgt, also von der Schrift als Prinzip ausgeht, werden aus biblischen Texten theologische Lehrsätze ohne Berücksichtigung des pragmatischen Charakters dieser Texte deduziert. Insofern das System aber analytisch angelegt ist, führt es auf die Praxis des Verstehens der biblischen Texte hin, also darauf, sie als heilvolle Texte zu lesen. Diese Lesepraxis, in der die biblischen Texte als Heilstexte gelesen werden, ist nun aber nicht in erster Linie die theologische Lesepraxis, sondern die Lesepraxis des Glaubens. So kann man mit der Heilswirksamkeit der Schrift zwar ihren Charakter als Prinzip der Theologie begründen, jedoch ist fraglich, ob man damit auch begründen kann, dass man theologische Sätze aus der Schrift mit der synthetischen Methode ableitet, ohne zu berücksichtigen, dass diese Texte auf Glauben und nicht primär auf theologisches Wissen abzielen. Dies ist umso problematischer, als diese Ausrichtung auf das Heil auch der Grund für den praktischen Charakter der Theologie insgesamt ist, der aber gerade durch diesen synthetischen Ansatz in Aufbau und Methode unterlaufen wird. Die vermittelte, eklektische Rezeption der zabarellianischen Methodenlehre und des Systembegriffs führt so auf das zentrale Problem der Theologie Quenstedts, die unzureichende Verhältnisbestimmung von Theologie und Glaubenspraxis. c) Der Praxisbezug der Theologie und der finis Theologiae Der Begriff des analytischen ordo impliziert bei Zabarella einen bestimmten Begriff von Praxis sowie eine klare Verhältnisbestimmung von Praxis und praktischer Wissenschaft. Die Bestimmung des Praxisbegriffs erfolgt im Zusammenhang mit der Definition des Zweckbegriffes: Der Zweck als Ausgangspunkt des analytischen Ordo ist ein solcher, der „von einem frei tätigen Menschen hervorgebracht und erzeugt werden kann“,776 also ist die 776 Zabarella, Opera Logica, lib. II, cap. 17 (216E): „[…] finis, qui ab homine libere operati produci, & generati queat“.

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Praxis ein freies Handeln des Menschen, z.B. das Bauen eines Hauses oder das Heilen eines Kranken. Die Theologie wird ihren Praxisbegriff schon allein deshalb anders bestimmen müssen, weil das Ziel der theologischen Praxis anders als in der Philosophie nicht einfach zu den Möglichkeiten menschlichen Handelns zählt.777 Anders läge theologisch der Verdacht nahe, dass der Begriff der Praxis hier im Sinne von durch den Menschen vollbrachten (guten) Werken zu verstehen ist. Darum grenzt Quenstedt die Praxis des Glaubens betont von der praxis pietatis als dem Vollbringen der guten Werke ab. Nicht die praxis pietatis, sondern die Glaubenspraxis, näherbestimmt als das „vertrauensvolle Annehmen des Verdienstes Christi und der Verheißungen des Evangeliums“,778 orientiert die Theologie auf die Praxis hin. Sie ist aber nicht diejenige Praxis, deren Prinzipien und Mittel die Theologie im analytischen ordo reflektiert.779 Will man diejenige Praxis, nach deren Prinzipien und Mitteln die Theologie fragt, beschreiben, so empfiehlt es sich, von der Zweckbestimmung der Theologie auszugehen. Im Zusammenhang des Zweckbegriffs wird ja auch bei Zabarella der entsprechende Praxisbegriff deutlich. Bei Quenstedt zeigt sich so zunächst, dass der Glaube bzw. die Glaubenspraxis selber in den Zweckbegriff der Theologie hineingehört. Weil die Theologie darauf hin ausgerichtet ist, Glauben hervorzubringen, gibt der Glaube der Theologie ihren Endzweck. Indem die Theologie auf den Glauben als finis intermedius zielt, zielt sie auf den finis ultimus, nämlich das Heil (finis ultimus secundum quid) und die Ehre Gottes (finis ultimus absolute).780 Dabei setzt diese Bestimmung des finis theologiae die Verschränkung von synthetischem und analytischem ordo voraus und geht von der Heiligen Schrift als Erkenntnisprinzip der Theologie aus: „Die göttliche Offenbarung nämlich, die im Wort geschehen ist, ist das Prinzip der Theologie. Jene [die göttliche Offenbarung] jedoch ist auf die Praxis hin ausgerichtet und zielt, weil es der eigentümliche Zweck der Hl. Schrift ist, von sich aus darauf, dass wir glauben und durch den Glauben das ewige Leben erlangen; vgl. Joh 20,31.“781 Im Kontext der Begründung des praktischen Charakters der Theologie 777 Vgl. I, I/2, q III, FS IX. Dies bemerkte schon Weber, Der Einfluss, 66. 778 I, I/2, q III, Ekth. XII: „Illa, scil. vera & viva fidei praxis, est fiducialis meriti Christi & promissionum Evangelicarum apprehensio“. 779 So die problematische Behauptung bei Weber, Der Einfluss, 46f, der sich dabei auf die Unterscheidung von praxis fidei und praxis pietatis bezieht. Nach Weber sind die Amtshandlungen, darunter auch die Wortverkündigungen, von diesem weiten Praxisbegriff her mit eingeschlossen. Nach Sparn, Die Krise, 72 entspricht dieser Praxisbegriff eher demjenigen der frühen Hochorthodoxie. 780 I, I/1, Th XXXVIII. Zur Ausrichtung der Theologie auf das Heil vgl. auch I, I/2, q I, Ekth. II und I, I/2, q II, Beb. III. 781 I, I/2, q III, FS XVI: „[…] divina videl. revelatio in Verbo facta, est Theologiae principium; Illa autem ad praxin directa est, eamque per se intendit, cum finis Scripturae S. proprius sit, ut credamus, & per fidem vitam aeternam consequamur; juxta illud Joh. XX,31.“

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verweist Quenstedt so auf die praktische Ausrichtung des Wortes Gottes und deutet diese von Joh 20,31 her als Ausrichtung des Wortes auf den Glauben und durch den Glauben auf das ewige Leben. Neben die Verschränkung von Glaubenspraxis und finis theologiae tritt nun also eine Parallelität zwischen finis scripturae und finis theologiae. Sowohl die Heilige Schrift als auch die Theologie sind auf das Heil des Menschen und die Ehre Gottes hin ausgerichtet. Als finis ultimus Scripturae wurde ja das ewige Heil des Menschen, als finis intermedius Scripturae die Vorbereitung darauf in der Annahme des Glaubens, die durch die Terminologie der gratia applicatrix beschrieben wurde, bestimmt.782 Die Parallelität von finis scripturae und finis theologiae wird auch darin deutlich, dass beide unter Verweis auf Joh 20,31 begründet werden: „Dies steht geschrieben, damit ihr glaubt.“783 Die Glaubenspraxis gehört hier also in die Zweckbestimmung der Theologie wie auch der Offenbarung Gottes im Wort hinein und kann damit nicht selber jene zielgerichtete Praxis sein, die in der Theologie als praktischer Wissenschaft reflektiert wird. Theologie ist damit nicht einfach eine höhere Reflexionsform des Glaubens. Auffällig ist im Zusammenhang der Bestimmung des finis Theologiae allerdings die Inkongruenz zu den Bestimmungen der Pars Prima, die ja – dem analytischen ordo entsprechend – de fine Theologiae handelt. Es gibt zwar eine grundsätzliche Übereinstimmung mit der Bestimmung des finis Theologiae, insofern dort von Gott, dessen Ehre der finis ultimus theologiae absolute ist, und der fruitio Dei als Inbegriff des Heils und des ewigen Lebens (finis ultimus theologiae secundum quid) gehandelt wird. Doch ist diese Kongruenz mehr äußerlich: Die Gotteslehre handelt dann nämlich ganz traditionell zunächst von natürlicher (Caput VI) und offenbarter Gotteserkenntnis (VII) vom Wesen Gottes an sich (VIII) und Gott in den drei Personen der Trinität (IX). An die Gotteslehre schließen sich die breit angelegten Loci über das Handeln Gottes, also Schöpfung der Welt (X), der Engel (XI) und der Menschen (XII), sowie die göttliche Vorsehung an (XIII). Das Kapitel über die fruitio Dei (XIV) als dem eigentlichen Heilsbegriff in der Bestimmung des finis Theologiae nimmt sich dann im Vergleich zu den breiten Ausführungen der Gotteslehre, deren Bezug auf den finis Theologiae mitunter alles andere als deutlich ist,784 recht schmal aus. Hinzu kommt, dass der Hauptteil der Eschatologie die verbleibenden Eschata, nämlich Tod, Auferstehung, Gericht und Ende der Welt am Ende der Pars Quarta behandelt werden, wo sie ebenfalls eher deplatziert erscheinen, insofern sie sich nur schwer unter die media salutis verrechnen lassen.785 Auch die jeweilige Behandlung der Gegenbeg782 Vgl. dazu oben Abschnitt 1.1 f). 783 „tau~ta de\ ge/graptai i[na pisteu/shte“. 784 Dies gilt trotz der gegenteiligen Beteuerung Quenstedts in I, I/2, q III, Ekth. XIII, dass Gotteslehre, Angelologie etc. eine praktische Abzweckung haben. 785 Die Zusammengehörigkeit dieser Kapitel mit dem Kapitel „De fruitione Dei“ wird durch den Querverweis Quenstedts auf das Kapitel XIV der Pars Prima im Anschluss an das Kapitel über das Ende der Welt deutlich: „DE VITA ET MORTE AETERNA actum est Parte I. Capite XIV.“

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riffe zum Heil, also die breit angelegte Behandlung der bösen Engel786 und der ewigen Verdammnis,787 ist im Kontext der Bestimmung des finis theologiae eigentlich deplatziert. Alles in allem kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich hier die traditionelle Anordnung des Stoffes, wie sie in der lokalen Methode vorgenommen wurde, nach wie vor durchsetzt. Dass innerhalb der Gotteslehre nun auch von der notitia Dei naturalis gehandelt wird,788 ließe sich demgegenüber nun allerdings aus der Anlage des analytischen Ordo bei Zabarella erklären. Bei Zabarella nimmt die jeweilige Praxis ihren Ausgang vom Begriff oder der Vorstellung des Ziels, der dann in der Praxis verwirklicht wird. Plastisches Beispiel Zabarellas ist der Architekt, der mit einer Vorstellung vom Haus (domus mentalis) beginnt und dann nach den Mitteln fragt, die nötig sind, um ein wirkliches Haus (domus materialis) zu bauen.789 Wenn sich die Theologie nun diesem Praxisbegriff annähert, so muss sie einen Vorbegriff vom Ziel entwickeln. Dies erweist sich angesichts des Ausgehens von einem Offenbarungsgeschehen aber als schwierig. Um hier einen Begriff vom Ziel der Theologie entwickeln zu können, bedarf es einer der Offenbarung vorausgehenden Kenntnis des Zwecks der Theologie. Wird Gott selber als Zweck der Theologie begriffen, so muss es also eine natürliche Erkenntnis dieses Zwecks vor der Offenbarung Gottes im Wort geben. Dabei ergibt sich dann allerdings das Problem, dass das Heilshandeln Gottes aus der natürlichen Erkenntnis Gottes weitestgehend ausgeschlossen werden muss, damit sein Offenbarungshandeln nicht überflüssig wird.790

Die Bestimmungen Quenstedts lassen nun aber darauf schließen, dass die Praxis, deren Prinzipien und Mittel die Theologie untersucht, die Kommunikation des Evangeliums durch das Wort der Heiligen Schrift ist. Die Theologie führt zum Glauben, der durch das Wort der Schrift in der Verkündigung gewirkt wird. Dies wird auch deutlich, wenn man die übrigen Kausalbestimmungen der Theologie betrachtet: Causa efficiens principalis ist Gott,791 causa media das geschriebene Gotteswort,792 also die Heilige Schrift. Damit ist der Kommunikationsrahmen zwischen Gott und Mensch abgesteckt, der auf den Zweck, das Heil des Menschen und die Ehre Gottes, ausgerichtet ist. Die causa ministerialis, die Diener, die diesen Kommunika786 I, IX/1, Th XXIX–XLII. Hierzu gehören auch noch die sich anschließenden Ausführungen über die Besessenheit in Th XLIII–LVI. Insgesamt beschäftigen sich also mehr als die Hälfte der Thesen der Pars Prima (38 von 56 Thesen) mit den bösen Engeln und ihrem Handeln. 787 I, XIV/1, Th XVII–XXVII. 788 I, VI: „De Deo, ejusque naturali notitia“. Zur Problematik dieses Lehrstücks bei Quenstedt vgl. auch schon BAUR, Die Vernunft, 74–81. 789 Vgl. Zabarella, De methodis, lib. II, Cap. 10 (192B–C). 790 Ich formuliere dies hier bewusst als These. Zur Verifikation wäre eine nähere Untersuchung notwendig, die sich nicht nur auf Quenstedt beschränkt, sondern das Verhältnis von analytischem ordo und dem zunehmenden Hervortreten der Lehre von der notitia Dei naturalis anhand verschiedener Theologen der späten Hoch- und der Spätorthodoxie untersucht. 791 I, I/1, Th XXXI. 792 I, I/1, Th XXXIII. Begründet mit Röm 1,16, also einem der zentralen Texte zur Begründung der efficacia Scripturae.

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tionsprozess tragen, sind zum einen die Verfasser der Heiligen Schriften und zum anderen die Gelehrten und Diener der Kirche,793 also die Theologen.794 Im Blick ist hier also die Praxis der Wortverkündigung und zwar in erster Linie die Verkündigung durch die Kirche.795 In diesem Sinne könnte man von der altlutherischen Theologie durchaus auch als von einer kirchlichen Dogmatik sprechen. Dem kirchlichen Aspekt vorgeordnet bleibt aber der Bezug auf die Kommunikation des Wortes Gottes in der Schrift. Deshalb ist die altlutherische Dogmatik als Ganze ihrem Anspruch nach eine hermeneutische, biblische Dogmatik. Daran, dass finis Scripturae und finis Theologiae in eines fallen, wird nun aber auch die Problematik der altlutherischen Dogmatik deutlich: Die Theologie rückt in eine der Schrift analoge Funktion, indem auch sie der Vermittlung des Heils dient. Letztlich wird der finis Scripturae so der Theologie untergeordnet. Die Theologie als wissenschaftliche Reflexion wird selber zu einem Teil der Praxis der Verkündigung. Dies entspricht nun wiederum ganz der Verhältnisbestimmung von praktischer Wissenschaft und Praxis, wie sie auch bei Zabarella impliziert ist. Die praktische Wissenschaft ist selber Teil der Praxis, insofern sie selber unmittelbar zur Erreichung des Ziels beiträgt, indem sie Prinzipien und Mittel aufdeckt. Gerade das Beispiel der Medizin zeigt dies: Die Kenntnis der Medizin ist selber Bestandteil des Arztberufes. Ohne medizinische Kenntnisse könnte der Arzt nicht heilen. Die Funktion der Theologie im Bezug auf die Verkündigung denkt Quenstedt sich offenbar ganz analog: Die Theologie als praktische Wissenschaft ist Voraussetzung der Verkündigung des Schriftwortes und wird so auch zur Voraussetzung, das Heil zu erlangen. Sie wird so zur „offenbarten Theologie“ (theologia revelata), wird also selber Teil von Gottes offenbarendem Handeln.796 Es geht zwar in der Theologie nicht mehr unmittelbar darum, zum Heil zu kommen, noch wird Theologie hier selber als eine Form des Glaubens begriffen, aber die Vorordnung der Theologie vor die Heilige Schrift macht die Theologie selber zur Heilsmittlerin. Mit der Unterscheidung von habitus theologiae und habitus fidei ist also noch lange nicht eine Annäherung an die Verhältnisbestimmung von Theologie und Glaube in der Aufklärungstheologie eines Johann Salomo Semler 793 I, I/1, Th XXXIV. 794 Vgl. I, I/2, q II, Beb. I. 795 Ähnlich Appold, Calov’s Doctrine, 53 im Blick auf Calov. Die Anbindung an die kirchliche Verkündigung findet sich auch schon bei Gerhard (vgl. Wallmann, Der Theologiebegriff, 41). 796 So explizit in I, I/2, q I, Beb. II: „Ad hunc autem finem, (nempe vitam aeternam) nemo perduci aut adspirare potest, absque peculiari revelatione, quae in Theologia proponitur. Aut itaque finem hunc a Deo ordinatum nemo assequitur, aut si assequi homo debet, Theologiam revelatam, utpote medium ad illum finem obtinendum idoneum & necessarium, dari necesse est“ (Hervorhebung durch M.C.).

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erreicht,797 in der die Glaubenspraxis kritisch gegen die Theologie gewendet wird. Die Pointe der Unterscheidung bei Quenstedt liegt vielmehr darin, dass der Glaube von der Theologie abhängig wird. Weil die Theologie aber als Theologie der jeweiligen konfessionellen Kirche im Blick ist, führt dies auf eine Konfessionalisierung von Theologie und Schriftverstehen. Der Theologe ist dann aber in diesem Theologieverständnis vor allem als derjenige im Blick, der andere zum Heil führt, und nicht mehr als der selber auf das Heilswort Hörende.798 Diese Problematik wird sich durch die Darstellung des Begriffs eines habitus theologiae noch präziser fassen lassen.

d) Theologie als habitus intellectus ceo/sdotoj practicus und das Verhältnis von habitus theologiae und habitus fidei Dass Theologie als habitus intellectus begriffen wird, liegt zunächst schlicht daran, dass der aristotelische Wissenschaftsbegriff jegliche Wissenschaft als habitus intellectus auffasst.799 Der aristotelische habitus-Begriff muss nun aber, um theologisch rezipiert werden zu können, umgeformt werden. Während man sich nach Aristoteles einen (ethischen) habitus durch regelmäßige Tätigkeit angewöhnt,800 ist die Theologie ein durch die Schrift unter Beistand des Heiligen Geistes vermittelter habitus801 und so vom aristotelischen Begriff zu unterscheiden.802 Der habitus ceo/sdotoj ist also Widerfahrnis und nicht aktiv erworbener habitus (habitus acquisitus). Diesen Begriff eines habitus ceo/sdotoj practicus nimmt Quenstedt von seinem Wittenberger Kollegen Balthasar Meisner auf, auf dessen Philosophia Sobria er ausdrücklich verweist.803 Meisner geht von den aristotelischen 797 Gegenüber Wallmann, Der Theologiebegriff, 2 wird man daher betonen müssen, dass die Unterscheidung von Theologie und Glaube, die Wallmann der Linie Melanchthon-Calixt-Semler zuordnet, sich auch in der späten Wittenberger Orthodoxie findet. Vor allem aber ist die Unterscheidung allein noch nicht aussagekräftig im Blick auf den neuzeitlichen Umbruch, der sich in der Aufklärung vollzieht. Entscheidend ist, wie das Verhältnis bestimmt wird. Semler stellt gegenüber den lutherischen Vorgängern insofern einen Bruch dar, als bei ihm das Verhältnis umgekehrt wird: Die Theologie ist als Reflexionsform gegenüber dem Glauben bzw. der Religion sekundär. 798 Vgl. Sparn, Die Krise, 73. 799 Vgl. z.B. die Zitation der aristotelischen Definitionen bei Zabarella, De natura logica, lib. I, cap. 2 (3F–4A). Vgl. zum habituellen Wissenschaftsbegriff der Aristoteliker Wallmann, Der Theologiebegriff, 26f. 800 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1103a15–18 und bes. 1103b23f: „e>k tw~n onergeiw~n ai< e[qeij gi/nonta.“ Von Quenstedt referiert in I, I/2, q III, Ekth. IX. Vgl. zum habitus-Begriff den Exkurs oben 285f. 801 I, I/2, q III, Ekth. III und FS I. 802 So explizit in I, I/2, q III, Ekth. IX. 803 Vgl. I, I/2, q III, FS I und aaO., Autores. Erstmals begegnet der Begriff bei Johann Gerhard. Vgl. zu Gerhard Wallmann, Der Theologiebegriff, 72. Wallmann verweist aaO., Anm. 1 darauf, dass Gerhard den Begriff eines habitus ceo/sdotoj aus der Nikomachischen Ethik

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Bestimmungen zum habitus-Begriff in der Nikomachischen Ethik aus, in der zwischen zwei Arten von habitus intellectuales unterschieden wird, den habitus speculativi (dianoethische Tugenden), die sich auf das Notwendige beziehen, und den habitus operativi (ethische Tugenden), die sich auf Kontingentes beziehen.804 Zu den spekulativen habitus gehören sapientia, intelligentia und scientia, zu den praktischen habitus prudentia und ars.805 Die Theologie fällt nach Meisner unter keinen dieser habitus,806 denn sie beschäftigt sich anders als die aristotelischen habitus sowohl mit Kontingentem als auch mit Notwendigem und geht nicht von menschlichen Prinzipien, sondern von der göttlichen Offenbarung aus und hat das Wirken des Heiligen Geistes und nicht die Vernunft zur Ursache.807 Um die Art des theologischen habitus zu bestimmen, greift Meisner die Unterscheidung zwischen habitus connatus, acquisitus und divinitus datus auf. Dem Menschen vor dem Fall war die Theologie angeboren (habitus connatus), nach dem Fall jedoch kann kein Mensch sie mehr von sich aus erwerben (habitus acquisitus), sie kann nur von Gott gegeben werden (habitus divinitus datus).808 Dies zeigt sich daran, dass das Prinzip der Theologie die Heilige Schrift ist.809 Anders als Quenstedt sieht Meisner die Theologie nicht als bloß praktischen Habitus, sondern sie ist sowohl praktisch als auch theoretisch, weil sie sowohl kontingente als auch notwendige Gegenstände hat. Sie ist nicht nur darauf ausgerichtet, menschliche Handlungen zu lenken, sondern auch darauf, die Geheimnisse des Glaubens darzulegen.810 Der theologische habitus bezieht sich sowohl auf den Intellekt als auch auf den Willen, ohne dass dadurch die Einheit des theologischen habitus verloren ginge. Vorbild dafür ist der Glaube, der ebenfalls Verstand (als notitia und assensus) und Willen (als fiducia) betrifft.811 Die Rede von der Theologie als einem habitus practi(1099b12) entnommen haben könnte. Aristoteles stellt an dieser Stelle die eu£>daimoni/a ceo/sdotoj gegen die von ihm dargestellte erworbene Glückseligkeit. 804 In Klammern jeweils die Referenzbegriffe bei Aristoteles. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1102a5–1103a11 (Buch I, Kapitel 13), insb. das Fazit in 1103a4–6. Dass Meisner die Tugendbegriffe unmittelbar in Habitusbegriffe übersetzt, zeigt deutlich, wie eng virtus und habitus in der theologischen Tradition miteinander verbunden wurden. 805 Vgl. Meisner, Philosophia Sobria, 452f. 806 Vgl. Meisner, Philosophia Sobria, 452. Anders dagegen Scharf, Metaphysica exemplaris, lib. II, Cap. 3 (256), der die Theologie im Sinne der älteren lutherischen Orthodoxie sapientiell versteht: „De omnis istis [habitibus] distinctae agunt disciplinae, ut sapientiam profitetur Metaph. itemque Theologia“ (Hervorhebung im Original). 807 Vgl. Meisner, Philosophia Sobria, 454. 808 Vgl. Meisner, Philosophia Sobria, 457f. 809 Vgl. Meisner, Philosophia Sobria, 459. 810 Meisner, Philosophia Sobria, 462: „Quia ergo Theologiae finis est non tantum informare actiones hominis, sed etiam mysteria fidei patefacere, ideo mere practicus habitus non erit.“ Sparn, Die Krise, 72 charakterisiert dieses Theologieverständnis als ein Übergangsphänomen zwischen dem theoretisch-sapientiellen Theologieverständnis der alten und dem praktischen der jüngeren Orthodoxie. 811 Vgl. Meisner, Philosophia Sobria, 463.

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cus will Meisner nur im weiteren Sinne gelten lassen, so dass sie nicht wie bei Aristoteles jeglichen theoretischen Aspekt ausklammere. Quenstedt hingegen fasst den aristotelischen Begriff so auf, dass der habitus dadurch praktisch ist, dass in ihm alles auf die Praxis hin ausgerichtet ist.812 Nicht notwendig hingegen ist, dass alle Erkenntnis des habitus unmittelbar auf die Praxis zielt. Insofern kann allerdings auch eine praktische Wissenschaft theoretische Elemente integrieren, insofern sie diese auf die Praxis ausrichtet.

Inhaltlich scheint sich der Begriff des habitus divinitus datus (ceo/sdotoj) weitgehend mit dem thomistischen Begriff des habitus infusus zu decken.813 Dafür spricht zumindest das Gegenüber von habitus ceo/sdotoj und habitus acquisitus. Die Ausbildung des Begriffs eines habitus ceo/sdotoj im Unterschied zum habitus infusus ist auf die Unterscheidung des habitus theologiae von den durch die Wiedergeburt vermittelten virtutes supernaturales zurückzuführen. Der Begriff des habitus infusus ist reserviert für die Eingießung der übernatürlichen Tugenden, unabhängig davon, ob diese wie in der scholastischen Theologie auch den Glauben umfassen, oder ob diese Eingießung wie bei Quenstedt als Folge des relational gefassten Glaubens begriffen wird. Würde die Theologie also als habitus infusus begriffen, wäre damit der Weg zu einer theologia regenitorum geebnet, den aber sowohl Meisner als auch Quenstedt vermeiden wollen.814 So dürfte das Ausgehen vom Begriff eines habitus ceo/sdotoj bei Meisner auch vor dem Hintergrund seiner deutlichen Unterscheidung zwischen habitus theologiae und regeneratio zu verstehen sein.815 So betont auch Quenstedt, dass der habitus theologiae nicht durch die gratia Spiritus Sancti inhabitantis verliehen wird, also nicht ans Ende der Gnadenwirkungen in der gratia applicatrix gehört, sondern durch die gratia Spiritus Sancti assistentis, die „in gewisser Weise“ (certo modo) auch diejenigen haben, die nicht wiedergeboren sind.816 Der theologische habitus hat daher auch keine heiligende oder rechtfertigende Wirkung, sondern er hat lediglich eine (der Rechtfertigung und der Heiligung) dienende Funktion.817 Dementsprechend unterscheidet Quenstedt dann auch explizit zwischen einem habitus ceo/sdotoj immedia812 Vgl. I, I/2, q III, FS VIII. 813 In diesem Sinne findet sich der Gegensatz z.B. bei Scharf, Metaphysica Exemplaris, lib. II, Cap. 3 (255), der allerdings in der Bestimmung des habitus theologiae grundsätzlich eine andere Position einnimmt (vgl. Anm. 806). 814 Gleiches gilt für Calov. Vgl. dazu Appold, Calov’s Doctrine, 66. 815 Vgl. Meisner, Philosophia Sobria, 458f. Anders liegen die Dinge wohl im Blick auf Johann Gerhard. Bei ihm bleibt das Verhältnis von Frömmigkeit des Theologen und habitus theologiae noch ungeklärt (vgl. dazu Sparn, Die Krise, 75). 816 Vgl. I, I/2, q III, Ekth. V: „Est enim haec informatio divina, qua fiunt Theologi, operatio gratiae Spiritus S. non praecise inhabitantis, sed potius assistentis, quam gratiam assistentem certo modo etiam habent irregeniti & impii“ (Hervorhebung im Original). 817 Vgl. I, I/2, q III, Ekth. VI.

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ta infusionis und einem habitus ceo/sdotoj ratione inventionis, principii & objecti. In diesen Bezeichnungen ist der Unterschied zwischen habitus infusus und habitus ceo/sdotoj deutlich ausgedrückt: Der theologische habitus gilt als von Gott gegeben, nicht weil er unmittelbar von Gott eingegossen wird wie die theologischen Tugenden, sondern weil das Prinzip, von dem dieser habitus ausgeht, die göttliche Offenbarung im Wort der Heiligen Schrift ist, weil er von der Erleuchtung durch den Heiligen Geist ausgeht und einen göttlichen Gegenstand hat.818 Der theologische habitus ist ein durch das Wort vermittelter habitus,819 der allein um des göttlichen Wirkens in den jeweiligen Mitteln willen als von Gott gegebener habitus bezeichnet wird. So soll auf der einen Seite betont werden, dass die Theologie auch dem möglich ist, der nicht wiedergeboren wurde. Darin reflektiert sich der Zwang zur wissenschaftlichen Professionalisierung. Andererseits soll die Theologie sich dennoch von den aristotelischen habitus acquisiti unterscheiden, weil sie nicht allein durch das Wirken und Studieren des Menschen erworben wird, sondern eine Gabe Gottes ist.820 Darin grenzen sich die Wittenberger Theologen bewusst gegen die Auffassung von Calixt und der späten Jenenser wie Musaeus ab.821 Der Theologe ist zwar auch Glaubender, Gegenstand der Theologie wird er dabei aber jeweils in unterschiedlicher Form. Er ist als Glaubender nicht unmittelbar im Blick. Subjectum inhaesionis und subjectum operationis Theologiae werden strikt unterschieden. Als Glaubender fällt der Theologe unter das subjectum operationis und gehört zu den Sündern, die „man über das ewige Leben unterrichten und zu ihm zu führen muss“,822 als Theologe ist er subjectum inhaesionis, ausgestattet mit dem habitus theologiae.823 Theologe und Glaubender ist man in einer äußerlichen Personalunion,824 nicht aber ist beides wesentlich miteinander verbunden. Nun muss aber bei der strikten Trennung der Theologie von der Wiedergeburt und damit vom Heilsglauben dennoch eine positive Verhältnisbestimmung von Theologie 818 Vgl. I, I/2, q III, Ekth. VII: „Disting. inter habitum ceo/sdoton, ratione immediata infusionis […] & habitum ceo/sdoton ratione inventionis, principii & objecti, sive cujus principium non est humana ratio; sed divina revelatio in Verbo facta, cujus causa prima non est hominis informatio, aut solers indagatio & ratiocinatio, sed Spiritus S. illuminatio; cujusque objectum non humanum est, sed divinum“ (Hervorhebung im Original). Vgl. auch aaO., FS I. 819 Vgl. I, I/2, q III, Ekth. VIII. 820 Vgl. I, I/2, q III, FS I. 821 Zur Abgrenzung Gerhards gegenüber Calixt im Begriff des habitus ceo/sdotoj vgl. Wallmann, Der Theologiebegriff, 73f und 115–117 zum Streit der Wittenberger mit Musaeus vgl. Koch, Der ordo salutis, 60–63, der allerdings in seiner Darstellung tendenziös ist und recht deutlich auf der Seite von Musaeus steht. 822 I, I/1, Th XXXVII: „Subjectum Operationis est homo post lapsum, seu homo peccator, qua beabilis, sive ad vitam aeternam informandus & perducendus“ (Hervorhebung im Original). 823 Ebd. 824 Vgl. Sparn, Die Krise, 73.

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und Glaube in einer Person vorgenommen werden können, denn Glaube und Theologie kommen ja gerade in der Person des gläubigen Theologen gemeinsam vor, auch jenseits der finalen Verhältnisbestimmung, die den Glauben als finis intermedius theologiae begreift. Neben die finale Verhältnisbestimmung muss also eine synchrone Verhältnisbestimmung treten. Dies geschieht in der Unterscheidung von habitus theologiae und habitus fidei. Diese Unterscheidung bezieht sich dann aber auch auf das synchrone Verhältnis von Glaube und Theologie allgemein, also nicht nur in der Person des Theologen. Der Begriff des habitus fidei wird als reduzierter Glaubensbegriff zu einem Mittelbegriff zwischen Theologie und Glaube. Es ist Glaube an die heilsnotwendigen Glaubensartikel, dies aber vor allem im Sinne eines Für-Wahr-Haltens der Glaubensartikel, also als notitia und assensus, nicht aber fiducia.825 Dies ergibt sich schon aus der habituellen Auffassung des Glaubens in diesem Begriff, die sich auf die fiducia nicht anwenden lässt, weil sie von Quenstedt in praedicamento relationis verstanden wird.826 Dieser habituell aufgefasste Glaube an die Wahrheit der Glaubensartikel kann nun in einem weiteren Sinne auch habitus theologiae genannt werden. In diesem Sinne nämlich sind alle, die glauben, Theologen. Damit verwendet man dann allerdings andererseits einen reduzierten Theologiebegriff, denn eigentlich ist Theologie nicht nur ein Für-Wahr-Halten, sondern die Fähigkeit, das, was zum Heil nötig ist, aus dem offenbarten Gotteswort herzuleiten, darzulegen, zu begründen und gegen Feinde zu verteidigen.827 In diesem Sinne wird der Begriff der wissenschaftlichen Theologie im Gegenüber zu einem auf seine objektiven Momente reduzierten Glaubensbegriff profiliert. Dieser reduzierte Glaubensbegriff im Zusammenhang der Darstellung des Theologiebegriffs ist allerdings auch Problemanzeige, zeigt er doch, dass Glaube im Verhältnis zur Theologie nur noch als notitia und assensus greifbar ist. Das fiduziale Moment des Rechtfertigungsglaubens entzieht sich einer synchronen Verhältnisbestimmung von Theologie und Glaube. Theologie hat es dann dementsprechend in erster Linie mit der Begründung und Darstellung des Glaubensgehalts und seines Wahrheitsgehaltes zu tun. Die finale Verhältnisbestimmung von Theologie und Glaube (Glaube als finis intermedius theologiae), die neben dem Verhältnis von habitus theologiae und habitus fidei besteht, führt auf dasselbe Phänomen einer intellektu825 Darin stimmt Quenstedt mit Calixt überein. Vgl. zu Calixt: Wallmann, Der Theologiebegriff, 112f. 826 Vgl. dazu oben Abschnitt 3.2 b). 827 I, I/2, q II, Ekth. II: „Qui Deum Unitrinum recte, ut in Verbo suo se revelavit, agnoscunt & colunt, fideles dicuntur, Theologi non item, nisi etiam, quae ad salutarem Dei agnitionem & cultum pertinent, ex verbo Dei revelato deducere, explicare, confirmare, & contra hostes defendere possint“ (Hervorhebung im Original).

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alistischen Verengung des Glaubensbegriffs. Grundsätzlich gilt, dass ein habitus practicus seinen Zweck (finis) außerhalb seiner selbst hat.828 In diesem Sinn zielt der theologische habitus auf den Glauben und die Vermittlung des Heils,829 und zwar nicht der eigenen Person, sondern anderer. Die Theologie ist die Fähigkeit andere zum Heil zu führen und kommt als solche insbesondere den gelehrten Theologen zu.830 Dies geschieht dadurch, dass Schlussfolgerungen aus der Schrift gezogen werden (habitus conclusionum ex Scripturae Sacrae deductum), um so den Glauben und den Kult aus dem offenbarten Wort Gottes zu begründen und gegen Anfeindungen zu verteidigen.831 Die Theologie wird also unmittelbar in das Verkündigungsgeschehen aus der Schrift hineingestellt und zur Voraussetzung der Verkündigung der Schrift. Im Kontext der Frage nach der Notwendigkeit der Theologie für die Kirche wird diese Verhältnisbestimmung dann noch einmal ekklesiologisch zugespitzt. Die Notwendigkeit der Theologie für die Kirche begründet Quenstedt mit Röm 10,14: „Der Glaube kommt aus dem Hören“.832 Eine absolute Notwendigkeit zur Theologie gibt es nicht, aber insofern Gott sich durch das Wort der Verkündigung offenbart, bedarf es einer Theologie, die auf diese Verkündigung hinarbeitet und die Verkündigung reflektiert. Durch den Text aus Röm 10,14 „werden wir belehrt, dass das Mittel zur Erkenntnis der Ordnung des Glaubens und der Heiligen Schriften das Predigtamt ist, welches aus Theologen besteht.“833 Das Wort der Schrift muss verkündigt werden, damit es Glauben wirkt, so sahen wir es in der Auslegung der Schriftlehre Quenstedts. Diese Verkündigung geschieht durch das ordentliche Predigtamt (ministerium ecclesiasticum), das aus Theologen besteht,834 deren Aufgabe damit eben die Auslegung der Schrift als des heilswirksamen Gotteswortes ist. Erst dieses Predigtamt führt zur Erkenntnis der Ordnung der Heiligen Schrift, ist also Voraussetzung für ein Verstehen der Bibel als Heiliger Schrift. Deshalb sind der Zweck der Theologie und der Heiligen Schrift ein und derselbe: Der Theologe soll den Zweck der Schrift in der Verkündigung zur Geltung bringen, bzw. er soll dem Verkündiger in diesem Sinn zuarbeiten. Die Theologie ist 828 I, I/2, q III, Ekth. XI. 829 I, I/2, q II, Ekth. XII. Dabei grenzt Quenstedt explizit die guten Werke als unmittelbares Ziel der Theologie aus. Die guten Werke ergeben sich aus der Erlangung des Heils. 830 I, I/2, q III, Ekth. XV: „Theologia ut sic, non est habitus perveniendi ad salutem, qui auditorum est, sed perducendi & promovendi alios ad salutem, qui Doctoribus competit, quae perductio ad salutem vera praxis est & operatio.“ 831 I, I/2, q II, Ekth. II. 832 I, I/2, q II, Ekth. V und VI, sowie Beb. I. 833 I, I/2, q II, Beb. I: „Quibus verbis docemur, ordinarium fidei & S. Literarum pernoscendarum medium esse Ministerium Ecclesiasticum, quod ex Theologis constat.“ 834 Quenstedt setzt hier also voraus, dass das ministerium ecclesiasticum von CA V das ordinierte Amt von CA XIV mit einschließt.

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entsprechend Reflexion auf die Verkündigung der Schrift als Heilswort und zielt auf den Glauben, von dem sie daher auch zu unterscheiden ist. Die Theologie ist nicht einfach eine Fortführung des Glaubens im Denken,835 sondern sie ist verortet in dem Wortgeschehen der Verkündigung, durch das Gott Glauben hervorbringt. So ist der Theologiebegriff Quenstedts und der Altprotestanten eng verbunden mit dem Verständnis des Wortes der Schrift als geisterfülltem Heilswort (promissio), auf das der Mensch mit Glauben (fides) antwortet. Dem entspricht, dass in der Antithese v.a. die Schwärmer genannt werden, „die behaupten, dass eine Theologie, die auf das äußere Wort gegründet ist, nicht notwendig sei.“836 Entfällt der Bezug des Glaubens auf das äußere Wort, weil der Geist auch unabhängig und ohne das Wort wirkt, so entfällt auch die Notwendigkeit zur Theologie. Die Kehrseite dessen ist bei Quenstedt allerdings, dass das Wort der Verkündigung und das Verstehen der Heiligen Schrift von der Theologie abhängig wird. Die externe Autorität der Schrift, die durch die Lehre von der Wirksamkeit der Schrift gerade so pointiert herausgestellt wird, wird so intellektualistisch unterlaufen, weil die theologische Erkenntnis (notitia, assensus) dem praktischen, fiduzialen Verstehen der Schrift vorgeordnet wird.837 Verstehen der Heiligen Schrift und Glaube geraten so vom Theologiebegriff her unter ein intellektualistisches Vorzeichen. Weil Theologie bei Quenstedt aber in beschriebener Weise auf die kirchliche Verkündigung hin konzentriert ist und Theologie kirchlicher Amtsträger ist, gerät das Verstehen der Heiligen Schrift und die Auffassung des Glaubens in der Theologie unter den Bedingungen konfessionalistischer Polarisierung nahezu zwangsläufig selber in den Sog des Konfessionalismus. Das Verstehen der Heiligen Schrift wird selber konfessionalisiert. Damit aber ist die Heilige Schrift, zumindest in der Art und Weise, wie sie in der Theologie gelesen wird, doch wieder implizit einer ihr externen Norm untergeordnet. Was positiv bleibt, ist aber die theologische Darstellung einer Lesepraxis der Heiligen Schrift, die auf ihre Wirksamkeit zum Glauben zielt und gerade in der Unverfügbarkeit dieses Wirksamwerdens des Wortes im Geist die Externität der Heiligen Schrift bewahrt. Die Probleme treten an der Stelle auf, an der aus dieser Lesepraxis auf die Verwendung der Schrift in der 835 So noch der Theologiebegriff der frühen Hochorthodoxie, z.B. bei Johann Gerhard, für den die Theologie ihrem Wesen nach identisch mit Glaube und Verkündigung ist. Sie ist cognitio accuratior des Glaubens. Vgl. dazu Wallmann, Der Theologiebegriff, 44f und 52. 836 I, I/2, q II, Antith.: „[…] qui statuunt, non esse necessarium Theologiam Verbo externo superstructam“. 837 Zu Recht betont Baur, Die Vernunft, 166, dass das Prae der Schrift Voraussetzung dafür ist, dass die theologische Lehre (niedergelegt in den articuli fidei) zum „Inbegriff einer der Kirche allgemein verfügbaren Wahrheit“ wird. Falsch liegt er aber darin, anzunehmen, dass dieses Prae der Schrift durch die Inspirationslehre verstellt würde. Problematisch ist vielmehr der Theologiebegriff.

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Theologie gefolgert wird. Problematisch ist dabei nicht dieser Schluss an sich, sondern der dabei vorausgesetzte Theologiebegriff. Zwar ist der Versuch deutlich den Theologiebegriff vom praktischen Charakter des Schriftverstehens her selber praktisch umzuformen, jedoch gelingt dies nicht konsequent. Theologie bleibt wesentlich theoretisches Schlussfolgern in Syllogismen, das sich nun zwischen die Heilige Schrift und das praktische Verstehen der Schrift im Glauben schiebt und es intellektualistisch verfremdet. e) Die theologia acroamatica und die Onomatologie des Theologiebegriffs Dem steht nun aber auch eine deutliche Eingrenzung des Theologiebegriffs gegenüber, die Quenstedt im onomatologischen Teil des ersten Kapitels vornimmt. Die Theologie, die Quenstedt in seinem System behandelt, die didaktische und polemische Theologie, ist Teil der theologia acroamatica, was sich sinngemäß als wissenschaftliche Theologie übersetzen lässt.838 Die theologia acroamatica ist nun aber nur ein kleiner Ausschnitt aus dem weiten Bereich dessen, was Theologie alles ist. Im weitesten Sinne versteht Quenstedt unter dem Wort „Theologie“ nämlich zunächst die Rede über Gott und die göttlichen Dinge,839 die als solche von der Schrift als dem Wort Gottes unterschieden ist.840 Theologie in diesem Sinne ist ursprünglich Rede Gottes selbst: Gott ist selber Subjekt und Objekt der theologia a>rxe/tupoj (der urbildlichen Theologie).841 Dieser theozentrische Theologiebegriff, der von Gott als Subjekt (im modernen Sinn des Wortes) der Theologie ausgeht, wirkt darin weiter, dass der dreieine Gott auch als causa principalis der Theologia acroamatica (und catechetica) gilt.842 Von der Theologia a>rxe/tupoj ist die theologia e]ktupoj, das Abbild jenes göttlichen Urbilds der Rede über Gott, zu unterscheiden.843 Diese wiederum tritt 838 Vgl. die Darstellung des Unterschieds zwischen theologia catechetica und acroamatica in I, I/2, q II, Ekth. IV: „Illa [Theologia Catechetica seu rudior] in omnibus Verbi Ministris requiritur […]. Haec [Theologia acroamatica seu accuratior] vero Episcoporum & Presbyterorum, ac inprimis Doctorum Academicorum, qui perfectiores informant, propria est.“ Dem Personenkreis nach wird die Theologia acroamatica also in erster Linie den akademischen Gelehrten zugewiesen und wäre daher im gegenwärtigen Sprachkontext als wissenschaftliche Theologie zu bezeichnen. 839 I, I/1, Th. I: „Theologia, si vim usumque vocis spectis, nihil aliud est, quam lo/goj peri\ tou~ ceou~, kai\ peri\ tw~n cei/wn, sermo de Deo & rebus divinis“ (Hervorhebung im Original). 840 I, I/1, Th. I, nota 2 und 3 (4). 841 I, I/1, Th. IV und I, I/1, Th. I, nota 4. 842 I, I/1, Th XXXI. Die causae-Bestimmungen beziehen sich auf die Theologie, „quae e verbo revelato hauritur“. Dies trifft aber nur auf die theologia revelata mediate manifestationis zu, unter die allein die theologia catechetica und die theologia acroamatica fallen. Insofern die onomatologischen Distinktionen des Theologiebegriffs zielstrebig auf den Begriff der theologia acroamatica zulaufen, darf man wohl davon ausgehen, dass allein diese hier im Blick ist. 843 I, I/1, Th VI.

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auf in Christus, nämlicher seiner menschlichen Natur nach,844 in den Engeln845 und bei den Menschen.846 Die menschliche Theologie wird nun widerum durch zahlreiche Distinktionen beschrieben.847 Bei den jeweiligen Distinktionen wird immer je nur eine Seite weiter verfolgt und erneut unterteilt. Einzige Ausnahme ist die Unterscheidung zwischen theologia ante lapsum und post lapsum. Hier wird in der theologia ante lapsum noch einmal zwischen theologia concreata und revelata unterschieden.848 Allerdings ist diese Unterscheidung schon im Blick auf die theologia naturalis getroffen, die zum Teil an die theologia ante lapsum revelata anknüpft.849 So laufen die von Quenstedt getroffenen Distinktionen zielstrebig auf die theologia acroamatica zu, die gemeinsam mit der von ihr unterschiedenen theologia catechetica seu rudior unter die Kategorie der theologia manifestationis fällt, die ihrerseits theologia revelata post lapsum hominum ist. Innerhalb der theologia acroamatica werden die theologia exegetica, didactica, polemica, homiletica, casualis und historica unterschieden. Damit ist die Theologia didactica-polemica Quenstedts klar in das Distinktionsschema als Teilgebiet der Theologia acroamatica eingeordnet. Zugleich wird aber der durchaus eingeschränkte Geltungsbereich der theologia acroamatica deutlich. Ein Blick auf die schematische Darstellung der Dinstinktionen mag dies verdeutlichen: Die theologia acroamatica, und innerhalb dieser die theologia didactica und polemica, steht als eine unter vielen Arten der Theologie ganz unten im begrifflichen Stammbaum. Als Untergattung der Theologia e]ktupoj steht sie der theologia a>rxe/tupoj, also der Rede Gottes von sich selbst, gegenüber. In dieser findet jene ihre Grenze: Menschliche, wissenschaftliche Theologie kann und darf nicht von sich behaupten, der Rede Gottes von sich selbst, also der theologia a>rxe/tupoj, gleich zu sein, denn damit würde eben dieser Unterschied aufgehoben. Über das Repräsentationsverhältnis ist damit freilich noch nichts gesagt. Im Raum bleibt also die Frage, wie die theologia e]ktupoj die theologia a>rxe/tupoj abbildet. Entscheidend dabei ist nun, dass noch vor der Unterscheidung von theologia a>rxe/tupoj und theologia e]ktupoj die Unterscheidung von theologia vera und theologia falsa steht. Dabei fallen nun unter die theologia falsa nicht nur die anderen Religionen, sondern auch die konfessionell abweichenden Theologien innerhalb des Christentums.850 844 I, I/1, Th VII. 845 I, I/1, Th VIII. 846 I, I/1, Th IX. 847 Vgl. die graphische Darstellung dieser Dinstinktionen im Anhang. 848 I, I/1, Th XI. 849 I, I/1, Th XIII, nota 3 unter Verweis auf Augustin. 850 I, I/1, Th II, nota X–XIII. Genannt werden u.a. Scholastiker, Wiedertäufer, Sozinianer, Quäker, Calvinisten, Synkretisten.

Die articuli fidei

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Durch die Positionierung dieser Unterscheidung am Anfang der Distinktionen ist jegliche theologia e]ktupoj von vorn herein darauf festgelegt, wahre Theologie zu sein, bzw. nur die wahre Theologie ist auch ektypische Theologie. Jede Theologie, die mit dem Verdikt belegt wird, falsch zu sein, steht damit außerhalb jeglichen Bezugs zur theologia a>rxe/tupoj. Deshalb wird die Unterscheidung von wahrer und falscher Theologie noch oberhalb dieser Unterscheidung von ursprünglicher und abbildender Theologie angesetzt. Setzt man die Unterscheidung unterhalb an, also als eine Unterscheidung innerhalb der theologia e]ktupoj, so wäre Wahrheit oder Falschheit einer Theologie vor dem Horizont der Endlichkeit und Beschränktheit jeglicher menschlicher Theologie im Gegenüber zur urbildlichen Theologie Gottes zu diskutieren. Welche Theologie wahres Abbild der ursprünglichen Theologie Gottes ist, wäre nicht mehr so leicht zu entscheiden. Die Position der Altlutheraner ist nun aber eben eine andere, nämlich konfessionalistisch bestimmte: Allein die lutherische Theologie ist wahres Abbild der göttlichen Theologie. Daher ist jede andere Theologie falsche Theologie und nicht Abbild der theologia a>rxe/tupoj.

4.2 Die Glaubensartikel als System der himmlischen Lehre Die articuli fidei Diese Spannung von zunächst scheinbarer Selbstbeschränkung der Theologie im Begriff eines weiteren göttlichen Horizonts und der konfessionellen Vereinnahmung dieses weiteren Horizonts in den Theologiebegriff hinein kennzeichnet auch und gerade die Lehre von den Glaubensartikeln. Auf der einen Seite wird von Quenstedt festgehalten: „Seinsgrund (principium essendi) der Glaubensartikel ist allein Gott, ihr Erkenntnisprinzip (principium cognoscendi) ist nicht die Autorität der Kirche, noch die menschliche Vernunft, sondern allein die göttliche Offenbarung, die im Wort geschehen ist.“851 Schon in der These heißt es: „Ein Glaubensartikel ist im Allgemeinen ein Teil der himmlischen Lehre, göttlich offenbart und den Menschen zu glauben in den Schriften vorgelegt“.852 Die Glaubensartikel werden also unmittelbar an Gott selber und seine Lehre gebunden. Der Begriff „articulus“ wird dabei in Anlehnung an Thomas von Aquin vom griechischen Begriff a]]rcron, der für artus membrum, also die Gelenke zwischen den Gliedern, steht, her erläutert: So wie die Gelenke des Körpers 851 I, V/1, Th I, nota V: „Articulorum fidei principium essendi est solus Deus, principium cognoscendi, non autoritas Ecclesiae, non humana ratio, sed divina Revelatio, in Verbo facta“ (Hervorhebung im Original). Ganz analog wird Gott auch als principium essendi Theologiae definiert (vgl. I, III/1, Th, nota II). 852 I, V/1, Th I: „Articulus Fidei in genere est, pars doctrinae coelestis, divinitus revelata & ad credendum hominibus in Scripturis proposita“.

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sind auch die Glaubensartikel, die um unseres Heils willen von Gott offenbart wurden, allesamt untereinander und mit dem Ganzen verbunden.853 „Daher sind sie [die Glaubensartikel] so eng miteinander verbunden, dass es nicht möglich ist, einen aufzugeben und die anderen heil und unbeschädigt zu lassen.“854 Die Glaubensartikel bilden also ein in sich geschlossenes System. Dabei ist der Begriff System nun nicht in seinem praktischen, zabarellianischen Sinn genommen, sondern er entspricht einem Systemdenken, das alles auf eine höhere Einheit hin zusammenhängend darstellt. Dabei kommt der systematischen Kohärenz ein äußerst hoher Stellenwert zu, denn der Zusammenhang der Artikel untereinander und mit dem ganzen Lehrsystem bildet die forma generica, die nicht einfach, wie betont wird, in der Übereinstimmung der Glaubensartikel mit der Schrift besteht.855 Die Glaubensartikel erscheinen so nach dem bisher Gesagten als ein System himmlischer Lehre, die in der Offenbarung aus dem himmlischen Bereich in den menschlichen übergeht und als solche in der Schrift enthalten ist. Als diese himmlische Lehre bleibt sie auch als offenbarte jenseits der menschlichen Verfügbarkeit: Nicht die Theologie definiert die Glaubensartikel, sondern sie sind ihr von Gott vorgegeben. Schwierig erscheint dabei allerdings die konstruierte Einheit der Glaubensartikel, die sich nun nicht mehr aus der Wirksamkeit des Wortes im Ganzen der Schrift begründet, sondern durch den Anspruch der systematischen Kohärenz des Systems der Glaubensartikel. So werden jedem Artikel bestimmte Schriftstellen als feste sedes doctrinae zugeschrieben, aus denen heraus der Glaubensartikel theologisch zu beurteilen und darzustellen ist.856 Damit aber werden mit den Glaubensartikeln auch die biblischen Texte dem systematischen Einheitszwang unterworfen. Das, was also zunächst nach einer Anwendung des Prinzips der Konstitution der Einheit des biblischen Kanons durch die Wirksamkeit der Schrift aussieht, erweist sich nun, bei näherem Hinsehen, als durch eine systematisch verfremdete Darstellung der Einheit des Kanons begründet. So erklärt sich die bereits oben diagnostizierte Reduktion des Begriffs textlicher und kanonischer Einheit in der Praxis der dogmatischen Schriftauslegung Quenstedts. In einem nächsten Schritt werden nun die geoffenbarten Glaubensartikel mit dem Gegenstand des Glaubens, der fides quae creditur, identifiziert. Dabei betont Quenstedt allerdings, dass die Bezeichnung des Glaubensge853 I, V/1, Th I, nota I. 854 I, V/1, Th I, nota I: „Suntque ita arcte inter se connexae, ut una demta, caeterae salvae & incolumes esse non possunt.“ 855 I, V/1, Th I, nota VII. 856 Q I, V/1, Th I, nota V: „Ubi observandum, quemlibet articulum fidei in S. Scriptura habere propria suam ac nativam sedem, ex qua etiam debet judicari“. Zur praktischen Anwendung dieses Verfahrens vgl. oben Abschnitt 2.1.

Die articuli fidei

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genstandes durch den Begriff „Glaube“ in der Wendung „Glaubensartikel“ eine ungenaue, umgangssprachliche Redewendung ist, weil sie die Bezeichnung des Glaubensaktes auf den Gegenstand des Glaubens überträgt. „Angemessener ist es daher, von Artikeln der Glaubenslehre zu reden als von Glaubensartikeln.“857 Der Glaube richtet sich hier also auf ein himmlisches Lehrsystem, das in der Schrift offenbart wurde. Glaube wird damit primär als das Für-Wahr-Halten eines Systems von Sätzen genommen und damit auf notitia und assensus, den Verstandesaspekt des Glaubens, reduziert.858 Dem entspricht es, dass das fundamentum fidei dogmaticum vom fundamentum fidei substantiale unterschieden wird. Während dieses eigentlicher Gegenstand des Glaubens ist, nämlich der den Menschen seine heilvolle Gnade verheißende Gott, auf den der Mensch sein Vertrauen (fiducia) richten kann, ist jenes derjenige Teil der himmlischen Lehre, der selber von keinem anderen Lehrsatz (dogma) abhängt, auf den aber alle anderen Lehrsätze sich beziehen müssen.859 Von diesem Zentrum aus gibt es dann weitere Abstufungen der Glaubensartikel: Einige Lehrsätze sind enger darauf bezogen, andere weniger. Damit ist die Grundlage für die Unterscheidung von articuli fidei fundamentales primarii et secundarii,860 sowie den articuli non fundamentales gegeben.861 Dabei werden dann die articuli fidei primarii noch einmal unterteilt in diejenigen Glaubensartikel, die der Entstehung des Glaubens vorausgehen (antecedentia), diejenigen Artikel, die den Glauben hervorbringen (constituentia), und diejenigen Artikel, die sich aus dem Glauben ergeben (consequentia).862 In der Notwendigkeit, eine dem Glauben vorausgehende Kenntnis bestimmter Glaubensartikel anzunehmen, zeigt sich nun besonders deutlich die Problematik des intellektualistischen Zuges, den das Theologieverständnis in den Glaubensbegriff hineinbringt. Wird doch der Glaube damit von menschlicher Kenntnis über die Glaubensgegenstände geradezu abhängig gemacht. Die Betonung dessen, dass schon das Verstehen des sensus literalis scripturae Wirken des Heiligen Geistes ist, tritt hier völlig zurück. Statt dessen wird nach den Bedingungen für ein Verstehen der Schrift und des Glaubens im Menschen gefragt. Genannt werden dabei nicht nur klassische Topoi der cognitio Dei naturalis wie die Kenntnis von der Existenz, Allmacht, Allwissenheit etc. Gottes, 857 Q I, V/1, Th I, nota II: „Rectius proinde articuli doctrinae fidei, quam articuli fidei dicuntur“ (Hervorhebung im Original). 858 Besonders zugespitzt wird dies ausgerechnet im Zusammenhang der Rechtfertigungslehre, genauer im Kontext der Begründung der Glaubensgewissheit: „Qui credit articulos fidei, illum habere veram fidem, hoc omnino est revelatum.“ (Q III, IIX/2, q IX, Dial. X) 859 Q I, V/1, Th II, nota III. 860 Q I, V/1, Th III und IV. 861 Q I, V/1, Th II. 862 Q I, V/1, Th V.

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sondern auch soteriologische Topoi wie die Erkenntnis der Gottheit Christi (weil sie Voraussetzung für das Verstehen der Satisfaktion ist) oder die Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit. Grundlegend wird die Kenntnis des Dogmas der Offenbarung der göttlichen Existenz vorausgesetzt.863 Die so genannten constituentia gelten als diejenigen Glaubensartikel, „die unmittelbar und am nächsten mit dem Heil verbunden sind und den Glauben seinem Wesen nach (intrinsece) hervorbringen und bewirken“.864 Das Entstehen des Glaubens wird hier also den Glaubensartikeln bzw. der Kenntnis derselben zugeschrieben und nicht mehr dem Wirken des Geistes durch die Heilige Schrift. Dabei handelt es sich um die Dogmen von der Menschenliebe Gottes, das Verdienst und die universale Satisfaktion Christi und ihre Zueignung im Individuum.865 Diese Dogmen machen zugleich das eigentliche fudamentum fidei dogmaticum aus.866 Begründet wird die Notwendigkeit der Kenntnis dieser Glaubensartikel bzw. Dogmen mit dem Argument, mit dem auch schon die Vorordnung der notitia vor assensus und fiducia in der Darstellung des Glaubensbegriffs begründet wurde: Es bedarf einer Kenntnis des Gegenstandes, auf den sich der Glaube, hier als fiducia verstanden, richten kann. Dass es auch ein anderes Verstehen gibt als das Verstehen in notitia und assensus, ist eine Einsicht, die sich zwar in Quenstedts Ausführungen zur efficacia Scripturae und teilweise in den Ausführungen zur gratia applicatrix deutlich ausgesprochen findet, die aber schon in der gratia applicatrix und der Darstellung des Glaubensbegriffs, vollkommen aber hier im Verständnis der Ausrichtung des Glaubens auf die Glaubensartikel, unterlaufen wird. Auffällig ist dabei vor allem, dass der Inhalt der fundamentalen Glaubensartikel sich weitestgehend mit dem Inhalt des gesamten theologischen Systems deckt.867 Dem entspricht es, dass nur ganz 863 Q I, V/1, Th VI, nota I. 864 I, V/1, Th VII: „[…] qui immediate & proxime salutem attingunt, & fidem intrinsece constituunt, & causantur“. 865 I, V/1, Th VII. 866 I, V/1, Th VII, nota: „Hi [constituentia] itaque sunt primarii fidei articuli, qui fidem intrinsece constituunt, & immediate ac proxime vitam aeternam inferunt, ac impetrant, ignorari vero ab eadem excludunt.“ 867 Fasst man die antecedentia, constituentia und consequentia zusammen, die ja insgesamt die articuli fidei fundamentales ausmachen, so ergibt sich die folgende ansehnliche Liste von fundamentalen Dogmen bzw. Glaubensartikeln: Zunächst als antecendentia die Lehre von der Offenbarung der Existenz Gottes, seiner Unfehlbarkeit, seiner Allmacht, Allwissenheit, Wahrheit, Ewigkeit, Heiligkeit, Gerechtigkeit und von seinem Willen; die Lehre vom Erlöser, insbesondere von der Gemeinschaft der Naturen in ihm, die Lehre von der Sündhaftigkeit des Menschen. Dann als constituentia die Lehre von der barmherzigen Güte Gottes und seiner Absicht alle Menschen zu erlösen, die Lehre vom universalen Verdienst und Opfer Christi, die Lehre von der individuellen Anwendung des Verdienstes Christi in der Rechtfertigung. Als consequentia die Lehre von der ausführenden Gerechtigkeit Gottes, von der wirksamen Heiligung, der Idiomenkommunikation, dem königlichen Amt Christi, der Existenz der Kirche, der Bekehrung des Menschen durch die Buße und seiner Rechtfertigung etc.

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gelegentlich eine Quaestio von Quenstedt explizit als weniger bedeutsamer Glaubensartikel gekennzeichent wird.868 Es ist also die Theologie, die die Glaubensartikel auf ihre Schriftgemäßheit hin beurteilt und sie aus der Schrift ableitet. Die Theologie formuliert und begründet damit den Gegenstand des Glaubens und tritt so in die alleinige Mittlerschaft zwischen der himmlischen Wahrheit der articuli fidei und dem menschlichen Glauben, der sich auf diese Glaubensartikel richtet. Das in diesem Theologieverständnis vorausgesetzte Verständnis des Glaubens freilich ist ein gänzlich anderes als das im Begriff der Wirksamkeit der Schrift und in der Lehre von der gratia applicatrix entwickelte Verständnis des Glaubens als eines passiv-praktischen Verstehens der Heiligen Schrift.

4.3 Das Verstehen der Heiligen Schrift in Glaube und Theologie Aporie der Verstehensbegriffe In Quenstedts theologischem System liegen also zwei unterschiedliche Auffassungen von Schriftverstehen und Glaube miteinander in Konflikt. Auf der einen Seite steht die im engen Sinne fiduzial-relationale Auffassung des Glaubens, die in sich selber Schriftverstehen ist und von einem präpropositional-praktischen Verstehen ausgeht, das Widerfahrnis der Gnade Gottes ist. In diesem praktischen Verstehen konstituiert sich auch die Schrift selber als Quelle und Norm des Glaubens und damit auch als einheitlicher heiliger Text. Dem gegenüber steht der im Theologiebegriff implizierte, intellektualistische Glaubensbegriff, der den Akzent auf notitia und assensus legt und die fiducia von dort her deutet. Verstehen der Schrift wird dann das Vorrecht des Theologen, der die Glaubensartikel als Gegenstand des Glaubens aus der Heiligen Schrift deduktiv ableitet. In der Vorstellung, dass dieses Verstehen des Theologen ausgerichtet ist auf die Verkündigung des Wortes der Schrift, in der das Heil gewirkt wird, findet dann bereits wieder eine Vermittlung mit der Vorstellung von der Wirksamkeit der Schrift statt, die dadurch aber intellektualistisch unterlaufen und verfremdet wird. Die Schwierigkeit der Interpretation von Quenstedts Theologie liegt im Wesentlichen darin, dass sich beide Begriffe vom Verstehen der Heiligen Schrift miteinander verschränken, auch deshalb, weil das praktische Verstehen der Schrift zunächst einmal durchaus plausibel die Stellung der Heiligen Schrift als theologischer Norm begründet. Das ist aber nur so lange 868 Vgl. z.B. IV, XX/2, q II, Ekth. III: Die Lehre von der annihilatio mundi ist kein Glaubensartikel, sondern lediglich eine Frage der Wahrscheinlichkeit. In III, III/III/2, q IX, Ekth. XI wird die Höllenfahrt Christi lediglich als ein articulus fundamentalis secundarius charakterisiert. Ebenso die Taufe in IV, V/2, q I, Th und Ekth. I.

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plausibel, wie diese Stellung als theologische Norm nicht in einen Widerspruch zu dem praktischen Glaubensverstehen der Schrift gerät, in dem die Autorität der Heiligen Schrift ja überhaupt gründet. Genau dies aber geschieht aufgrund des problematischen Theologiebegriffs, nicht jedoch liegt es an der eigentlichen Schriftlehre Quenstedts, die auf den glaubenden Leser zielt. Die Schriftlehre findet ihre Entsprechung in der Anlage des theologischen Systems, das so zu zumindest in Teilen zu einer dogmatischen Darstellung der Wirksamkeit des Schriftwortes gerinnt. Darin liegt der biblisch-dogmatische Charakter des theologischen Systems Quenstedts im positiven Sinne. Problematisch aber bleibt in diesem theologischen System das methodische Deduzieren aus biblischen Texten, das eben gerade nicht vom praktischen Charakter dieser Texte ausgeht, sondern sie zur Grundlage einer theoretischen Wissenschaft macht. Der Übergang von der Schrift als Heilsmittel und Heilsquelle hin zur Schrift als principium Theologiae im streng methodischen und logischen Sinn ist dabei vermittelt durch einen Theologiebegriff, der Glaube hochgradig intellektualisiert und auf das Für-Wahr-Halten von Sätzen reduziert. Geht es um ein Für-Wahr-Halten von Sätzen, dann ist es nur konsequent, diese Sätze aus einem einheitlichen logischen Prinzip zu deduzieren. Die Annahme freilich, dass die Heilige Schrift aufgrund ihrer Heilswirksamkeit sich als solches Prinzip verwenden lasse, ist ein Fehlschluss, der sich allein aus der Dopplung des Prinzipienbegriffs in der Folge der Rezeption beider zabarellianischen ordines erklären lässt. Dem Aufbau des analytischen Ordos bzw. des keckermannschen Systembegriffs zufolge ist die Schrift Prinzip, weil sich in ihrem Verstehen die principia salutis bündeln, sie also Gegenwart dieser Prinzipien ist. Diese Prinzipien sind die Grundlagen des Heils, also Voraussetzungen, ohne die es Heil nicht gäbe. Sie sind als solches höchst aktive Prinzipien (Gottes ewige Güte, die Erlösung durch Christus, die Heilsvermittlung durch den Heiligen Geist), denen der Mensch passiv gegenübersteht: Die Heilige Schrift ist in diesem Sinne principium operationis. Die Vorordnung der Schrift als Prinzip im Sinne des synthetischen Ordo macht sie hingegen zum principium cognoscendi, also zur Grundlage der aktiven Erkenntnis des Menschen. So entsteht in Quenstedts biblisch-dogmatisch angelegtem System eine Spannung zwischen der Heiligen Schrift als praktischem und als theoretischem Prinzip. Während die Vorstellung von der Wirksamkeit der Schrift als Grundlage ihrer Heiligkeit und Autorität grundlegende reformatorische Einsichten aufnimmt und systematisch weiterbildet, stellt sich dem ein Theologiebegriff entgegen, der stark von der konfessionalistischen Frontstellung der Zeit geprägt ist. Der darin implizierte, problematische Begriff von der Schrift als theoretischem Prinzip erweist sich nun im Rückgang durch die bearbeiteten Themengebiete als ein zentrales Problem der gesamten theologischen Darstellung Quenstedts. Die meisten

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dargestellten Aporien, freilich nicht alle, lassen sich auf diese Problematik zurückführen. Dies gilt zunächst für die Lehre von der gratia applicatrix, die einerseits den praktischen Charakter des Schriftverstehens stark hervorhebt und als Widerfahrnis des Glaubens interpretiert, die aber andererseits bereits geprägt ist von einem Glaubensbegriff, der notitia und assensus als Voraussetzung für die fiducia begreift und daher bereits auf der Ebene der gratia assistens excitans vor der eigentlichen Bekehrung das geistgewirkte Entstehen einer fides historica annehmen muss, die aus notitia, assensus und fiducia generalis besteht. Hier geraten die beiden Ansätze unmittelbar in Konflikt: Auf der einen Seite die Überzeugung, dass Glaube als Verstehen der Schrift nur aus der Wirksamkeit des Geistes entsteht – daher die fides historica als Wirkung der gratia assistens. Auf der anderen Seite ein Verständnis von Theologie, das impliziert, dass dieser Glaube ein propositionales Verstehen des Menschen und ein Für-Wahr-Halten theologischer Sätze ist – daher überhaupt die Notwendigkeit von einer fides historica vor der fides salvifica zu reden. Charakteristisch ist dabei nun, dass, um die Passivität der Entstehung der fides historica festzuhalten, Quenstedt der Entstehung der fides historica durch die gratia excitans noch zwei weitere Gnadenstufen voranstellen muss, die ihrerseits durch das Wort der Schrift wirken. So bleibt die Passivität des Verstehens in der fides historica vor allem dadurch gewahrt, dass sie von einem ihr vorangehenden praktisch-präpropositionalen Verstehen abhängig ist, das nicht einfach in der Verfügung des Menschen liegt. So kommt es bei Quenstedt auch über die gratia applicatrix hinaus zu einer Theoretisierung des Glaubensbegriffs, der aber im Kontext der gratia applicatrix die rechtfertigungstheologische Bestimmung des Glaubens entgegensteht, in deren Kontext notitia und assensus dann wiederum von der geschehenen Rechtfertigung abhängig gemacht werden. Über die Auswirkungen auf die materiale Dogmatik hinaus betrifft die sich aus dem Theologiebegriff ergebende Intellektualisierung des Glaubensbegriffs dann auch die Schriftlehre an sich. Zumindest kann von hier aus die Problematik der Inspirationslehre bei Quenstedt einsichtig werden. Wenn die biblischen Texte zum logischen Prinzip der Deduktion von Glaubensartikeln werden, kommen sie primär als Ansammlung von theologischen Sätzen in den Blick. Aus dieser Perspektive scheint es nur konsequent, wenn der Primat der Schrift in der Theologie nicht aus der Wirksamkeit dieser Sätze begründet wird, sondern aus ihrem theogonen Ursprung in einer als Ursprungsgeschehen interpretierten Inspiration. Die Wirksamkeit der Schrift kann die Theologie als aus der Schrift deduzierende Wissenschaft, die die Schrift damit erst zur Verkündigung und zur Wirkung bringt, ja eigentlich gar nicht voraussetzen. Daher bedarf es nun noch einer anderen Begründung der Schriftautorität, die sich nur im Rückgang hinter den

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gegebenen Text der Schrift auf ihren Ursprung finden lässt. Der spannungsreiche Charakter der Inspirationslehre Quenstedts, der uns im ersten Abschnitt beschäftigte, ließe sich so also aus einer theoretischen Überfrachtung des Begriffs der Heiligen Schrift erklären. Das heißt auf der anderen Seite aber auch, dass nicht die Inspirationslehre das zentrale Problem der altlutherischen Schriftlehre ist, sondern die Problematik, die sich in der Inspirationslehre zeigt, ist lediglich Symptom einer problematischen Verhältnisbestimmung von Theologie und Glaubenspraxis. Gerade in der Begründung der Inspiration aus der Wirksamkeit der Schrift liegt wichtiges theologisches Potenzial der altlutherischen Theologie und Schriftlehre. Am deutlichsten und konsequentesten allerdings manifestiert sich das skizzierte Problem in der dogmatischen Praxis der Schriftauslegung in Quenstedts theologischem System. Zwar bietet gerade die Zuordnung der verschiedenen Texte zu bestimmten Textclustern und dogmatischen Themen oft höchst Aufschlussreiches, zwar ist die Auslegung oft philologisch durchaus subtil und präzise, jedoch bleibt der problematische Grundzug eines Deduzierens aus den biblischen Texten als Prinzip im Sinne einer theoretischen Wissenschaft. Dadurch geht der Auslegung die Anbindung an die Glaubenspraxis verloren und die postulierte Einheit der Schrift erinnert eher an die systemische Einheit des himmlischen Systems der Glaubensartikel, denn an eine dynamische, sich in der Wirksamkeit der Schrift konstituierende Einheit. So gerät die hermeneutische Praxis in Widerspruch zur theoretischen Hermeneutik der Schriftlehre.

Teil IV Biblische Theologie und dogmatische Deskription

Biblische Theologie Dieser vierte und abschließende Teil der Arbeit hat eine in doppelter Hinsicht bilanzierende Funktion. Zunächst wird es darum gehen, noch einmal die Ergebnisse der Interpretation der biblisch-theologischen Grundlegung des theologischen Systems Quenstedts zusammenfassend darzustellen. Die wesentliche Aufgabe wird dann darin bestehen, diese Ergebnisse mit den dogmatischen Fragestellungen aus Teil I zusammenzuführen und von Quenstedt aus noch einmal die Frage nach der Konstitution des biblischen Kanons als Kanon autoritativ gültiger Schriften für die Kirche und ihrer angemessenen Auslegung zu stellen. Abschließend werde ich die systematisch-theologischen Ergebnisse in einer Thesenreihe zusammenfassen.

1. Altlutherische Dogmatik als Rekonstruktion des biblischen Kanons Die Rekonstruktion des biblischen Kanons Die Interpretation von Quenstedts theologischem System zeigt, dass dieses von einer Grundspannung durchzogen ist. Auf der einen Seite steht die biblisch-theologische Überlegung, dass die Schrift dort recht verstanden ist, wo sie zum Glauben wirksam wird und sich gerade darin als alleinige Autorität in Glaubensfragen erweist. Weil der Glaube an den dreieinigen Gott allein durch das Wort der Schrift bewirkt wird, ist die Schrift alleinige Norm und Richtschnur dieses Glaubens. Wo dies nun aber auf der anderen Seite in eine theologische Auslegung der Schrift überführt werden soll, kommt es zu einem Konflikt aufgrund eines problematischen Theologiebegriffs. Zwar werden Theologie und Glaube unterschieden, ebenso das Verstehen der Schrift im Glauben und das theologische Verstehen der Schrift, jedoch werden diese Unterscheidungen so getroffen, dass ein Gefälle von der Theologie hin zum Glauben entsteht: Die Theologie kommt als Auslegerin der Schrift zwischen der Wirksamkeit der Schrift und dem Glauben des auf die Schrift Hörenden zu stehen. So ist dann der Glaube nicht mehr nur Wirkung und Ziel der Heiligen Schrift, sondern ebenso der Theologie. Die Theologie tritt in eine Mittlerstellung zwischen Gottes wirksamen Wort in der Schrift und dem Glauben, der aus diesem Wort lebt.

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Dass die altlutherische Dogmatik hier in einem Konflikt steht, ist als solches keine neue Erkenntnis. Neu ist jedoch die Einsicht, dass die problematischen Tendenzen innerhalb der Schriftlehre der altlutherischen Dogmatik nicht in erster Linie Ursache, sondern vor allem Symptom dieses Konflikts sind. Gerade innerhalb der Schriftlehre liegt bei Quenstedt theologisches Potenzial, diese problematische Verhältnisbestimmung von Theologie und Glaube in Frage zu stellen. Das theologisch größte Potenzial für eine solchen Kritik der altlutherischen Theologie aus ihrem eigenen Ansatz liegt dabei gerade in dem wohl am meisten gescholtenen, aber wohl auch am meisten missverstandenen Lehrstück der Schriftlehre, nämlich in der Lehre von der Inspiration der Heiligen Schrift. Dieses Lehrstück interpretierten wir als eine theologische Texttheorie, die die autonome Stellung des biblischen Textes zwischen menschlichen Verfassern und Lesern hervorhebt, indem sie den Text im Gegenüber zu beiden als Ort der Wirksamkeit des göttlichen Heilswortes charakterisiert. Der Text wird somit zum Mitteilungsmedium Gottes an den Menschen. Vorausgesetzt ist dabei, dass Gottes Wort Text werden musste, um in der Zeit unter den Bedingungen menschlicher Fehlbarkeit Bestand zu haben und verlässliche Grundlage des Glaubens sein zu können. Dort, wo dieser Text wieder zum mündlichen Wort wird, entsteht Glaube. Da Glaube aus dem Wirken des Geistes entsteht, sind die Rede vom Wirken des Geistes und vom Verstehen dieses Textes der Heiligen Schrift durch diese Lernsituation des Glaubens grammatisch miteinander unauflöslich verbunden: Gottes Geist wirkt durch diesen Text Glauben – das ist der Sinn der Rede von der Inspiration des Textes der Heiligen Schrift. Von der Inspiration in diesem Sinne kann aber nur sinnvoll im Kontext der Kirche als derjenigen Lesegemeinschaft geredet werden, die sich dem Wirksamwerden des Wortes der Heiligen Schrift (auch außerhalb der Kirche) verdankt. Die Rede von der Inspiration ist in diesem Sinne also nicht Begründung von Schriftautorität. Vielmehr ist sie Bekenntnis der Kirche zu der ihr externen Wirksamkeit des Heiligen Geistes im Wort der Schrift. Die Kontinuität des inspirierten Textes aber liegt in der Verbindung von forma und materia, von Textgehalt und Textgestalt, die daher beide gemeinsam den inspirierten Text konstituieren. Deshalb kann auch keine Interpretation des Textes an die Stelle desselben treten, da in dieser nur die forma, nicht aber die materia des Textes gewahrt bleibt. Das aber hieße dann gerade auch im Blick auf das theologische System, dass es nicht in die Funktion eintreten darf, die Wirksamkeit der Schrift durch die Verkündigung zu ihrer Wirkung zu bringen. Denn damit würde das, was die biblischen Texte zur Heiligen Schrift des Glaubens macht, von der theologischen Reflexion ausgesagt und so träte die Theologie in die Funktion ein, die eigentlich nur der Heiligen Schrift zukommt. Begrifflich wurde dies bei Quenstedt daran deutlich, dass die Theologie selber zum Offenbarungsge-

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schehen wird (theologia revelata). Diese Problematik haben wir am Schluss des dritten Teils bereits dargestellt. Hier gilt es nun, noch einmal den Akzent auf die positiven Aspekte und die in ihnen enthaltenen Möglichkeiten zu legen. Das Verstehen der biblischen Texte als Heiliger Schrift wird von Quenstedt in der Situation des Entstehens von Glauben als passiver Widerfahrnis von Wiedergeburt, Bekehrung und Buße verortet. Es gründet also in Praktiken des Schriftlesens, die eine solche Passivität gegenüber dem Text und der in ihm laut werdenden göttlichen Anrede einüben. Während Quenstedt dies in der ihm in seiner Zeit zur Verfügung stehenden Begrifflichkeit der aristotelischen Metaphysik auszudrücken sucht, ist unsere Interpretation dadurch gekennzeichnet, dass sie diese Vorstellung in Anlehnung an die Spätphilosophie Wittgensteins als einen Lernprozess begreift, indem die Sprache und das Sprechen des christlichen Glaubens im Zusammenhang konkreter Glaubenspraktiken erlernt werden. Weil wir aus dem wirksamen Wort der Schrift heraus unseren Glauben lernen, ist es Teil der Grammatik der christlichen Glaubensrede, von diesen Texten als Heiliger Schrift, d.h. als unhintergehbarer Grundlage unseres Glaubens zu reden. Dass wir glauben, wird nun aber von Quenstedt dogmatisch als Wirken des Heiligen Geistes, genauer als Wirksamkeit der Gnade, durch die der Heilige Geist uns das Heil zuwendet (gratia Spiritus Sancti applicatrix), gefasst. Der Mensch, der in der Bekehrung durch die Gnadenwirkung des Heiligen Geistes Glauben lernt, verhält sich darin passiv gegenüber dem Wirken Gottes im Heilswort. Wenn nun aber der Heilige Geist Glauben wirkt, muss die Wirksamkeit der Heiligen Schrift zum Glauben als Wirksamkeit des Geistes im Wort der Schrift gefasst werden. Das aber heißt dann auch, dass das Verstehen der Bibel als Heiliger Schrift eben passive Widerfahrnis des Glaubens ist. Die Heilige Schrift verstehen heißt glauben. „Glauben“ und „Verstehen“ werden in dieser konkreten Situation gleich verwendet, Verstehen ist hier durch den Geist gewirktes Verstehen. Daraus folgt dann bei Quenstedt die pneumatologische Ausrichtung der Schriftlehre: Der Literalsinn der ganzen Heiligen Schrift ist der senus literalis iuxta mentem Spiritus Sancti. Der Heilige Geist ist es, durch den sich die Schrift selber auslegt, die Suffizienz der Schrift ist begriffen als die Vollständigkeit der Heilszueignung durch den Text. Nicht derjenige also, der den Inhalt der biblischen Schriften vollständig wiedergeben kann, oder derjenige, der sie in ihrem historischen Kontext und ihrer Wirkungsgeschichte auslegen kann, hat die biblischen Texte als Heilige Schrift des Glaubens verstanden, sondern derjenige, der ihre Worte hört und auf dieses Hören hin an Gott und seine Vergebung glaubt, ihn dafür lobt und anbetet. Ein intellektuelles Verstehen des Inhaltes ist damit nicht ausgeschlossen, aber klar muss sein, dass dieses nur dann ein Verstehen der Bibel als Heiliger Schrift ist, wenn es solch ein

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praktisches Verstehen des Glaubens voraussetzt. Sonst ist es nur das Verstehen einiger Texte, deren Zusammenhang der historischen Kontingenz unterliegt. In dieser Widerfahrnis des Glaubens im Lesen der Schrift konstituiert sich die Schrift als Heilige Schrift. Dabei ist aber immer auch schon eine Tradition vorausgesetzt, die von der Wirksamkeit dieser Schriftsammlung Zeugnis abgelegt hat und diesen Kanon als formalen, äußeren Kanon überliefert. Dies ist die positive Funktion, die der Kirche und der Tradition bei Quenstedt zukommt. Kirche und Tradition konstituieren den Kanon durch ihre Rezeption nicht, wohl aber legen sie Zeugnis davon ab, in welchen Schriften Gottes Geist wirksam wird und heben diese besonders hervor. Der Kanon verifiziert sich als solcher fortwährend selbst in der Tradition der Kirche bis in die Gegenwart, nämlich dort, wo er Glauben weckt und so die Kirche wachsen lässt. In diesem Sinne ist das Wirksamwerden der Schrift im Glauben die Konstitution der Einheit des Kanons als externer Autorität für den Glaubenden und für die Kirche. Quenstedts theologisches System lässt sich als eine theologische Rekonstruktion der Konstitution der Einheit und Autorität der Schrift lesen. Es ist seiner Anlage nach und in den materialen Ausführungen der Soteriologie ganz darauf abgestellt, das Zum-Heil-Kommen des Menschen, der auf das Wort Gottes in der Schrift hört, beschreibend zu rekonstruieren. Die theologische Deskription des Wirksamwerdens der Gnade des Heiligen Geistes im Menschen zum Glauben ist zugleich theologische Rekonstruktion der Konstitution des biblischen Kanons für den Glauben. Dies schlägt sich dann insbesondere darin nieder, dass grundlegende Fragen der Pneumatologie und der Soteriologie bereits in dem Kapitel über die Heilige Schrift vorweggenommen werden müssen. Das Kapitel über die Heilige Schrift setzt eigentlich die dogmatischen Ausführungen der materialen Dogmatik schon voraus. Dass Quenstedt auf der anderen Seite die Heilige Schrift als Prinzip der theologischen Deduktion einführt, das in der theologischen Argumentation vorauszusetzen ist, ist ein Problem, auf das wir bereits ausführlich hingewiesen haben. Der Übergang von der dogmatischen Begründung des Kanons hin zur theologischen Argumentation aufgrund des biblischen Kanons ist also bei Quenstedt ein ungelöstes Problem. Die dogmatische Beschreibung der Begründung des Kanons in seiner autoritativen Funktion für den Glauben jedoch ist bei ihm exemplarisch durchgeführt. Im Folgenden haben wir nun zu fragen, ob und inwieweit diese dogmatische Kanontheorie in der gegenwärtigen Diskussion um eine biblische Theologie zur Anwendung kommen kann.

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2. Biblische Dogmatik und die Auslegung der Heiligen Schrift Biblische Dogmatik 2.1 Konstitution der Einheit und der Autorität des Kanons in der Glaubenspraxis Einheit und Autorität des Kanons Im ersten Teil dieser Arbeit kamen wir zu dem Ergebnis, dass eine biblische Theologie, die Auslegung der biblischen Schriften in ihrer Einheit sein will, nicht ohne eine dogmatische Reflexion auf die Konstitution der Einheit des biblischen Kanons und seiner autoritativen Geltung für den Glauben auskommen kann. Daher kann eine biblische Theologie nicht allein Aufgabe der exegetischen Disziplinen sein, denn diese Einheit ist als empirischhistorische Einheit nicht in den Blick zu bekommen. Dies stellt die Theologie vor das Problem, eine Theorie der Konstitution des Kanons zu finden, ohne dabei zu einer Auslegung zu kommen, die den biblischen Text dogmatisch oder kirchlich vereinnahmt. Der im anglo-amerikanischen Diskurs verbreitete Ansatz, die Einheit des biblischen Kanons allein in der kirchlichen Rezeption zu begründen, scheitert daran, weil dann die biblischen Texte der Kirche nicht mehr als externe Autorität gegenüber stehen können. Aber auch die Fiktion eines innerlichen Verstehens des geistlichen Gehalts der biblischen Texte jenseits des äußeren Kriterien unterliegenden, objektiven Verstehens der historischen Wissenschaft kann nicht der Weg sein, zu einem rechten Verständnis der Bibel als Heiliger Schrift zu kommen, weil dabei die äußere Instanz der Kirche lediglich durch die innere Subjektivität des Lesers ersetzt wird. Die Untersuchungen Wittgensteins zum Verstehensbegriff haben deutlich werden lassen, dass es keinen Sinn macht, Verstehen auf diese Weise als einen inneren Vorgang o.ä. zu deuten, weil Verstehen immer Nachvollziehbarkeit, und das heißt auch äußere Kriterien, verlangt. Verstehen geschieht, so ein zentrales Ergebnis der Untersuchungen Wittgensteins, immer in praktischen Zusammenhängen, in denen es auch erlernt wird. Das Verstehen von Sprache ist immer eingebettet in konkrete Lebenspraktiken und ist zuerst praktisches Verstehen, also einfaches Handeln aufgrund von Sprache. Darin, dass jedem Verstehen von Sprache ein praktisches Schon-Verstanden-Haben vorausliegt, treffen sich die Beobachtungen Wittgensteins mit den theologischen Voraussetzungen der altlutherischen Schriftlehre: Die Grundlage ist jeweils eine schon gegebene Gewissheit und nicht der Zweifel. Um die Bibel als Heilige Schrift zu verstehen, muss ich sie in einer anderen Weise schon verstanden haben – ich muss den Satz „Dies ist die Heilige Schrift des Glaubens“ gelernt haben, im Zusammenhang bestimmter Praktiken. Erst wenn ich gelernt habe als Christ zu leben, lese ich die Bibel als Heilige Schrift. Am Anfang steht also nicht die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Inhalt der biblischen Texte, sondern der Um-

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gang mit dem Text im Glauben, das Beten von Psalmen, der Umgang mit biblischen Texten im Gottesdienst oder der täglichen Andacht, das Zitieren von Bibelversen, die Erfahrung der therapeutischen Hilfe, die biblische Texte in der Seelsorge bieten können,1 etc. In diesen Praktiken wird die Bibel als Heilige Schrift wahrgenommen, d.h. sie wird als Heil bringendes Wort gelesen und gehört. So lerne ich zunächst innerhalb dieser Praktiken ein Verstehen der Bibel als Heiliger Schrift, durch das das inhaltliche Verstehen von vornherein auf die Heilzusage als Mitte der Schrift konzentriert ist. Dieses Verstehen der Bibel als göttliches Heilswort, als Evangelium, wird damit zum Kriterium eines jeden Verstehens der Bibel als Heiliger Schrift. Das Evangelium ist das Zentrum der Schrift, nicht im Sinne eines Satzes, auf den hin sich alles formulieren lässt, sondern weil die biblischen Texte nur dort als Heilige Schrift gelesen werden, wo sie als Heilszusage Gottes, sprich als Evangelium, den Leser erneuern. Das heißt, dass alles in der Schrift auf diese Heilszusage Gottes zu beziehen ist, auch wenn nicht alles in der Schrift unmittelbar als Evangelium gelesen werden muss und kann. Als Heilige Schrift, als einheitlicher Kanon werden die biblischen Texte also zunächst allein in der Praxis des Glaubens gelesen und gehört. Diese Einheit ist weder ein theologisches noch ein kirchliches Konstrukt, sondern sie liegt beidem voraus. Insofern allerdings ein Verstehen der Bibel als Heiliger Schrift unmittelbar hineinführt in die Gemeinschaft derer, die glauben, ist es immer ein Verstehen, das in die Kirche hineinführt und sich im Gespräch der Kirche über die Auslegung des Wortes der Schrift weiter entwickelt. So legt dann auch die Kirche Zeugnis davon ab, dass in dieser Sammlung von Texten Gott durch seinen Geist Heil wirkt. Damit konstituiert die Kirche einen äußeren, formalen Kanon, der interne Autorität der Kirche ist, der dies aber nur dadurch geworden ist und bleibt, dass er sich als Ort der Widerfahrnis des Glaubens immer wieder bewährt. Daher muss innerhalb von Kirche und Theologie die Tatsache, dass dieses Verstehen der Bibel als Heiliger Schrift sich zunächst einem Heilshandeln Gottes verdankt, im Blick bleiben. Dies geschieht z.B. durch die Rede von der Inspiration der Heiligen Schrift, die diese immer auch außerhalb des kirchlichen Auslegungsdiskurses verortet, nämlich im Zusammenhang mit dem der Kirche gegenüberstehenden, sie hervorrufenden Handeln des Heiligen Geistes im Wort, so dass zwar gilt: Dort, wo die Bibel als Heilige Schrift gelesen wird, ist Kirche. Zugleich gilt aber auch: Das Verstehen der Heiligen Schrift geht nicht im Verstehen der Kirche auf. 1 Vgl. dazu Bukowski, Die Bibel ins Gespräch bringen. Die therapeutische Wirkung biblischer Texte im Seelsorgegespräch ist eine mögliche praktisch-theologische Konkretisierung der Rede von der Wirksamkeit der Schrift.

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Diese Rede von Inspiration wird freilich nur dort nicht zu einer hohlen und abstrakten Lehrformel, wo sie konsequent im Bezug auf die Praxis der Schriftlesung im Kontext des christlichen Lebens aus der Kraft des Geistes wahrgenommen wird. Dies geschieht z.B. auch durch die berühmte Rede Luthers von „meditatio, oratio und tentatio“,2 die für Luther die wahren Kennzeichen eines rechten Theologen sind. Meditatio bezeichnet dabei die sorgfältige Lektüre der Schrift, während mit oratio (bei Luther als Gebet um den Beistand des Geistes verstanden) und tentatio die Breite christlicher Lebenserfahrung im Geist angedeutet wird. Für die theologische Reflexion heißt dies, dass sie die Rede von der Inspiration einbinden muss in die Pneumatologie. Sie darf als eigentlich pneumatologischer Lehrtopos nicht einfach neben der explizierten Pneumatologie stehen, wie es doch häufig der Fall ist.

Die Kirche selber ist als Gemeinschaft der Glaubenden Lesende und Hörende des Wortes, das ihr in der Schrift gesagt wird. Diese ekklesiologische Dimension der Schriftlehre ist in der altlutherischen Schriftlehre und besonders in ihrer dogmatischen Grundlegung in der Pneumatologie sicher zu wenig bedacht. Die pneumatologische Grundlegung der Schriftlehre wäre hier gerade auch in ihrer ekklesiologischen Dimension zu entfalten. Die Kirche als durch den Heiligen Geist gestiftete, gottesdienstliche Gemeinschaft müsste stärker in den Blick kommen. Diese Dimension der Pneumatologie jedoch fehlt in den Ausführungen zur gratia Spiritus Sancti applicatrix völlig. Allein im Blick auf die Kirche als Leserin der Schrift macht es dann aber auch Sinn, von der Inspiration allein des biblischen Urtextes zu reden. Dieser Urtext bleibt der Kirche gegenüber extern und wird von ihr ausgelegt und übersetzt, während jede Übersetzung bereits selber Werk der Kirche ist, so dass sie der Kirche nicht als externe Norm gegenüber stehen kann. In der Arbeit der Übersetzung der Heiligen Schrift aber nimmt die Kirche als Gemeinschaft der durch das Wort Gottes Berufenen ihren Auftrag wahr, das Evangelium an alle Welt zu verkünden. Kontinuität und vergewissernde Grundlage bleibt dabei der Urtext. 2.2 Biblische Theologie als theologische Grammatik der Glaubensrede Theologische Grammatik Noch einmal eine andere Frage ist die Frage nach der Auslegung der biblischen Schriften durch die Theologie. In der Interpretation von Quenstedts theologischem System wurde deutlich, dass hier Entscheidendes davon abhängt, wie das Verhältnis von Theologie und Glaube bestimmt wird. Quenstedt sieht die Theologie als Mittlerin des Wortes Gottes, die so selber Glauben wirkt. In dieser Mittlerstellung wird die Theologie zum einen im Gegenüber zu den Glaubenden zur eigentlichen externen Autorität in Glau2 Vgl. WA 50, 658,29–659,4. Vgl. dazu auch Bayer, Theologie, 55–106 und Ders., Martin Luthers Theologie, 28–34.

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bensfragen mit der Konsequenz einer Intellektualisierung des Glaubensbegriffes und der Konfessionalisierung der Theologie. Zum anderen kann die Theologie die Schrift als ihr eigenes Gegenüber nur noch im Begriff eines abstrakten Schriftprinzips begreifen. So wird die Schrift zum Prinzip der Deduktion theologischer Sätze nach den Regeln der aristotelischen Logik. Die Problematik dieser Entwicklung haben wir bereits skizziert. Wird Theologie im Gegensatz zu diesem Modell nicht weiter vom Glauben unterschieden, so kann dies zweierlei bedeuten: Entweder die Theologie nimmt die Sprachform des Glaubens an und verliert ihren wissenschaftlichen Charakter oder aber die Theologie anverwandelt sich den Glauben, der so intellektualisiert wird. Die dritte Möglichkeit, die bleibt, ist, Glaube und Theologie so zu unterscheiden, dass die Theologie sich auf den Glauben bloß deskriptiv und nicht normativ bezieht. Normative Kraft gewinnt die theologische Reflexion dann allein dadurch, dass sie das, was für den Glauben selber normativ ist, durch ihre Deskription zur Geltung bringt, nämlich die Bibel als Heilige Schrift des Glaubens.3 Das aber heißt, dass Theologie zunächst vor die Aufgabe gestellt ist, diese Funktion der Bibel als Heilige Schrift des Glaubens deskriptiv zu rekonstruieren. Diesen Weg sind wir in dieser Arbeit gegangen und es zeigt sich, dass bereits diese Beschreibung tief in die materialen Fragen der Dogmatik hineinführt. Ein zentraler Begriff der theologischen Deskription war dabei Wittgensteins Begriff der Grammatik. Die Grammatik ist das, was die Verwendung unserer Sprache regelt. Diese Grammatik unserer Sprache, so stellten wir bei unserer Interpretation von Wittgenstein fest, ist ambivalent. Daher kommt es auf eine übersichtliche Darstellung der Verwendung unserer Sprache (der Grammatik) an. Dem dient bei Wittgenstein die Beschreibung der Verwendung von Sprache an der Grenze von Sprache und Nichtsprachlichem. In eben dieser Weise kann die Theologie die Grammatik christlicher Rede beschreibend darstellen und übersichtlich ordnen, indem sie nach der Verwendung von Sprache im Kontext christlicher Glaubenspraxis fragt. Dazu gehört dann grundlegend auch die hier behandelte Frage nach der Funktion der Heiligen Schrift für die christliche Rede und Glaubenspraxis. So stießen wir in unserer Interpretation immer wieder auf grammatische Sätze, d.h. Ausdrücke von Regeln über die Verwendung von Sprache im Kontext christlicher Lebenspraxis. Der Satz „Ich verstehe die Bibel als heilige, von Gott inspirierte Schrift“ ist solch ein grammatischer Satz, der etwas darüber aussagt, wie wir glauben und aus dem Glauben zu reden gelernt haben. 3 Der Sache nach deckt sich dies mit dem Vorschlag von van der Koi, Kirche als Lesegemeinschaft, 72: „Was in der Frage von Einheit und Vielfalt [der Schrift] zur Debatte steht, kann letztlich nicht auf dogmatischer Ebene entschieden werden. Lehre und Reflexion ersetzen nicht das Leben und den Umgang, sondern versuchen Anweisungen zum Glauben geben.“

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Welche Form kann eine Theologie annehmen, die sich in diesem Sinne als theologische Grammatik versteht? Quenstedt baute sein theologisches System nach dem analytischen Ordo auf: Die Theologie soll die Prinzipien aufzeigen, aus denen der Glaube lebt. Problematisch war dabei aber, dass Quenstedt nach wie vor an Elementen des synthetischen Ordo und der synthetischen Methode festhielt, so dass die Theologie zugleich aus der Schrift als dem Prinzip des Glaubens deduziert und so nicht nur beschreibend auf die Prinzipien des Glaubens hinführt, sondern zugleich selber Glaubensmittlerin wird. Das Grundanliegen der Orientierung am analytischen Ordo, nämlich die Orientierung an der Praxis der Glaubensaneignung, eröffnete uns aber dennoch den Weg zu einer grammatischen Reinterpretation seines Werkes als Analyse der Funktion der Rede von der Bibel als Heiliger Schrift. Eine konsequente Durchführung der Orientierung der theologischen Reflexion an der Glaubenspraxis jedoch würde auf eine radikalere Umstrukturierung der Anordnung des theologischen Stoffes drängen. Die Anordnung des theologischen Stoffes bleibt bei Quenstedt ja erstaunlicher Weise, trotz der Orientierung an der Methodenlehre Zabarellas, weitgehend traditionell. Die klassische Reihenfolge von Gotteslehre, Schöpfung, Sündenfall, Soteriologie, Eschatologie wird nur an wenigen Stellen durchbrochen. Die Pars Prima behandelt überwiegend Gotteslehre und Schöpfung, die Pars Secunda breitet unter dem Titel der Anthropologie v.a. die Sündenlehre aus, die Pars Tertia und Quarta haben ihr Hauptgewicht auf der Soteriologie (inklusive Christologie), während die Eschatologie überwiegend am Schluss der Pars Quarta verhandelt wird, auch wenn sie dort dem analytischen ordo folgend eigentlich nicht recht hinpassen will. Eine Dogmatik, die sich als theologische Grammatik beschreibend auf das Wirksamwerden der Heiligen Schrift im Glauben bezieht, wird, mit einer Beschreibung des durch die Schrift gewirkten Heils (finis fidei) beginnend, danach fragen, wie dieses Heil auf welcher Grundlage (Prinzipien) in welchen konkreten Lebensvollzügen und Glaubenspraktiken vermittelt wird. Ausgangspunkt der theologischen Reflexion sind hier also, in der Terminologie Mildenbergers gesprochen, die Themen der Ökonomie. Von diesen her und im Zusammenhang mit diesen erschließen sich dann die Themen der Theologie i.e.S. Die Heilige Schrift ist dabei insofern die Norm der theologischen Reflexion, als diese darauf zu achten hat, ob und wie in den unterschiedlichen Glaubenspraktiken die Schrift als externe Autorität des Glaubens mitgeht und Glauben hervorbringt. Gleichwohl eine so angelegte biblische Theologie äußerlich wenig mit den theologischen Systemen der Altlutheraner gemein hätte, wäre darin doch der zentrale Gedanke, der auch diese theologischen Systeme strukturiert, gewahrt, nämlich, dass Theologie auf die Praxis der Verkündigung ausgerichtet ist und dass Glaube allein aus dem Wort Gottes, das in der Schrift vermittelt wird, lebt.

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Solch eine grammatische Theologie kann sich dabei stärker an den konkreten Einzelpraktiken christlichen Glaubens orientieren und diese auf ihre theologischen Fundamente hin analysieren. Dies sei kurz an zwei Beispielen verdeutlicht: 1. Eine theologische Grammatik könnte nach der theologischen Struktur des Gebets fragen: Hier spielen z.B. Fragen der Gotteslehre (An wen richtet sich das Gebet?), der Christologie (Wir bitten in Jesu Namen), der Trinitätslehre (trinitarische Gebetsformeln) oder der Soteriologie (Verheißung der Gebetserhörung) eine zentrale Rolle und ließen sich in ihrer Bedeutung für die konkrete Praxis des Gebetes Einzelner und der Gemeinde explizieren. Theologische Sätze würden dann die Grammatik des Gebets als einer sprachlichen Handlung beschreibend darstellen. Traditionelle theologische Lehrstücke ließen sich als grammatische Beschreibungen der Gebetspraxis reinterpretieren. Dabei wäre zu zeigen, wie sich die Sprache des Gebets in der Anrede durch das biblische Wort konstituiert und an biblischen Texten formuliert.4 Die Frage nach den Psalmen als Gebetstexten Israels und der Christenheit sowie die Frage nach dem Herrengebet und dem Verhältnis von Jesu Gebet und unserem Gebet wären hier biblisch-theologische Schlüsselfragen, die zu einer präzisen Beschreibung der theologischen Grammatik des Gebetes nötig wären. 2. Die vorliegende Arbeit zur Frage der biblischen Theologie ist selber Beispiel für ein solches Vorgehen. Sie stellt die Frage nach der theologischen Grammatik der Rede vom Verstehen der Heiligen Schrift. In diesem Sinne haben wir Quenstedts theologisches System als theologische Beschreibung der Praxis der Schriftlektüre interpretiert und sind dabei in der grammatischen Rede von der Wirksamkeit der Schrift zugleich auf die biblisch-theologische Begründung dieser Lesepraxis gestoßen – eine Begründung wohlgemerkt, die nicht in ihr selbst oder in der theologischen Reflexion liegt, sondern die der Lesepraxis insofern vorausliegt, als dass sie diese Praxis des Lesens der Bibel als Heiliger Schrift überhaupt erst hervorbringt. Die theologische Grammatik dieser Lesepraxis haben wir anhand von Quenstedts Ausführungen pneumatologisch entfaltet. Dabei wurde auch deutlich, dass Quenstedts Ausführungen im Blick auf den Glaubensbegriff unzureichend sind, weil in ihnen eine in4 Als Beispiel verweise ich auf H. Assel, Der Name Gottes bei Martin Luther, der exemplarisch ausgehend von Luthers Auslegung des 5. Psalms der namenstheologischen und trinitarischen Grammatik des Gebets nachgeht. Vgl. zu Grammatik des Gebets außerdem Ders., Nach dem Aufbruch, bes. 73–82, sowie Hermann, Rechtfertigung und Gebet. Hermanns Aufsatz lässt sich als grammatische Reinterpretation der Rechtfertigungslehre im Bezug auf die Gebetspraxis lesen. Vgl. außerdem als Beispiel einer grammatisch-theologischen Beschreibung christlicher Glaubenspraxis am Beispiel der Sakramententheologie: Assel, Geheimnis und Sakrament.

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tellektualistische Tendenz erkennbar ist, die ihren Ursprung im Theologiebegriff hat und in Spannung zu den pneumatologischen Ausführungen der Schriftlehre steht. Es wurde auch deutlich, dass die Reflexion der Passivität der Heilszueignung durch den Geist in den Begrifflichkeiten der aristotelischen Metaphysik im Kontext der Prädestinationslehre theologisch problematische Ergebnisse hervorbrachte, die wir als grammatische Täuschung deuteten. Theologische Grammatik erschöpft sich also nicht in Deskription, sondern sie deckt, indem sie auf eine übersichtliche Darstellung der Grammatik der Glaubensrede zielt, auch grammatische Irritationen der theologischen Tradition auf. Kriterium war dabei die pneumatologisch beschriebene Heilswirksamkeit der Schrift. Indem Theologie auf diese Weise deskriptiv die theologische Grammatik der Glaubensrede nachzeichnet, rekonstruiert sie zugleich die Konstitution der Einheit und der Autorität des Kanons in der Glaubenspraxis. 2.3 Theologische Grammatik und theologische Schriftauslegung Theologische Schriftauslegung Offen geblieben ist bisher die Frage nach der Verwendung biblischer Texte in der theologischen Reflexion. Quenstedts theologisches System scheiterte genau an dieser Frage, weil hier die Funktion der Schrift als Quelle des Glaubens übersetzt wurde in die Funktion eines theologischen Prinzips der Deduktion. Will man diesen Weg nicht gehen, so kann man biblische Texte zumindest nicht unmittelbar als Begründung oder als Legitimation theologischer Sätze heranziehen. Die Aufgabe biblischer Theologie besteht dann vielmehr darin, die eigene, normative Geltungskraft der Schrift für Glauben und Glaubenspraxis des Einzelnen und der kirchlichen Gemeinschaft zur Geltung zu bringen. Dabei orientiert sich dogmatische Theologie an dreierlei, nämlich 1. an der gelebten Glaubenspraxis und der in ihr vollzogenen praktischen, präpropositionalen Auslegung der Schrift, 2. an dem, was die biblischen Texte an theologischen Inhalten vorgeben, 3. an der kirchlichen Lehre (Dogma) und ihrer Tradition (verstanden als traditiones hermeneuticae), die in ihrer Zeit dafür Sorge zu tragen hat, dass die Wirksamkeit des Schriftwortes in der Glaubenspraxis der Kirche zur Geltung kommt. Dass sich die theologische Reflexion an diesen drei Begebenheiten orientiert, heißt nicht, dass eine dieser Größen allein Regel und Richtschnur theologischer Entscheidung ist. Die Heilige Schrift ist Regel und Richtschnur des Glaubens, nicht unmittelbar der Theologie. Daher ist die Theo-

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logie deskriptiv auf den Glauben bezogen und fragt danach, wie die Heilige Schrift den Glauben normiert und in ihm ausgelegt wird. So tritt die Theologie nicht als unmittelbare Auslegerin der Schrift auf, sondern sie untersucht die Kongruenz und Stimmigkeit gegebener Auslegungen durch die Praxis des Glaubens (1). Richtschnur ist dabei die Frage, ob die Schrift jeweils als Heilswort zur Geltung kommt, denn allein darin ist ihre Externität als Heilige Schrift gewahrt, und allein darin konstituiert sich der sensus literalis der ganzen Heiligen Schrift, der Grundlage der Auslegung der Schrift sein muss. Aus dieser grammatischen Deskription des Wirksamwerdens der Schrift im Glauben leitet sich dann aber auch die Aufgabe einer Auslegung der Schrift auf inhaltlicher Ebene ab: Das, was im Glauben präpropositional zur Geltung kommt, wird von der Theologie in inhaltliche Aussagen überführt (2). Die Theologie wird so zur indirekten Auslegerin der Schrift, die die in der Praxis des Glaubens sich vollziehende Auslegung bereits voraussetzt. Grundregeln der theologischen Auslegung sind die Bezogenheit der Auslegung auf die Mitte der Schrift, nämlich die Heilszueignung in Christus, der Rückbezug auf das praktisch-passive Verstehen der Schrift im Glauben als Handeln des Geistes Gottes und der Einbezug des darin konstituierten gesamtbiblischen Kontextes. Maßgabe für das Heranziehen von innerbiblischen Parallelen ist dabei die Glaubenspraxis der Gemeinde: Einzubeziehen sind zunächst diejenigen Texte, die in einer konkreten Praxis aufeinander bezogen werden. Inhaltlich wird die Einheit durch das Werk Jesu Christi und das Wirken des Heiligen Geistes konstituiert, so dass der Bezug der Texte untereinander christologisch und pneumatologisch zu entfalten ist. Diese Auslegung der Theologie hat nur einen indirekt normativen Anspruch. Es geht hier nicht darum, dass die Theologie Anwältin des biblischen Textes ist, sondern um eine kritische Begleitung und Reflexion der Auslegung der Schrift im Glauben. Die Auslegungen der Theologie sind also Explikationen dessen, was in der Glaubenspraxis geschieht, und können deshalb auch von dorther kritisch hinterfragt werden. Sie können aber auch kritische Gegenentwürfe sein, nämlich dort, wo die Glaubenspraxis inkongruent ist und die Wirksamkeit der Schrift zum Heil in ihr nicht angemessen zur Geltung kommt. Extremes Beispiel einer solchen kritischen Bezugnahme ist Luthers Auslegung des Gerechtigkeitsbegriffs in Röm 1,16f vor dem Hintergrund des gesamtbiblischen Kontextes als der Gerechtigkeit, die Gott uns zuteil werden lässt. Diese Auslegung wendet sich, verkürzt gesagt, gegen eine Glaubenspraxis, in der die Schrift nicht mehr als Ort der Heilswiderfahrnis wahrgenommen, sondern aus dem Evangelium ein Gesetz gemacht wurde. So scheinen sich zunächst praktisches Verstehen der Schrift im Glauben und die kritische Begleitung und Deskription dieser Auslegung durch die

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Theologie ständig im Fluss zu befinden. Jedoch bilden sich im Laufe der Zeit bewährte Auslegungsregeln, die zu traditionellen Auslegungspraktiken und damit wiederum auch zu praktischen Auslegungen im Glaubensvollzug führen. Diese etablierten Auslegungen werden im kirchlichen Dogma formuliert und formalisiert. Es bildet sich insbesondere dort aus, wo klare Grenzziehungen notwendig werden, als komprimierte Rechenschaft einer Kirche zu einem bestimmten Zeitpunkt.5 Auf dieses Dogma bezieht sich die theologische Reflexion, zum einen, indem sie es als etablierte Auslegungspraxis einer bestimmten Glaubensgemeinschaft voraussetzt, zum anderen aber auch, in dem sie es kritisch mit der gelebten Glaubenspraxis vergleicht und gegebenenfalls korrigiert. Die Dogmatik bindet sich dabei nicht exklusiv an ein bestimmtes kirchlich-konfessionelles Dogma, sondern ist in ökumenischer Offenheit kritisch auf ein solches bezogen. Die Dynamik der Einflussnahme von Dogma, Theologie und Glaubenspraxis der Kirche kann hier nicht in ihrer Breite entfaltet werden,6 zu betonen ist aber, dass das Verstehen der Heiligen Schrift sich nicht einseitig auf der Seite von Theologie, Dogma oder Glaubenspraxis vollzieht. Vielmehr kommt es im kritischen Dialog dieser drei Größen miteinander zu einem glaubenden Verstehen der Schrift. Dabei hat die Glaubenspraxis insofern eine Sonderstellung, als das primäre Verstehen der Bibel als Heiliger Schrift sich nur in ihr vollzieht.7 Ohne Theologie jedoch laufen Glaubensrede und Dogma in Gefahr, sich in grammatischen Irrtümern zu verfangen. Ohne Dogma aber fänden Glaube und Theologie keine verlässliche Form der Darstellung ihres Gehaltes für eine bestimmte Zeit, sondern befänden sich ständig im Fluss. Blicken wir noch einmal auf Quenstedt zurück, so stellen wir fest, dass an die Stelle des problematischen Begriffs der Glaubensartikel, die die Theologie aus der Schrift ableitet, hier eine Differenzierung von Dogma und theologischer Reflexion auf das Dogma und die Glaubensrede tritt. Damit ist Theologie nicht mehr unmittelbar lehrbildend, sondern sie begleitet den Lehrbildungsprozess, der sich aus der Glaubenspraxis kirchlicher Gemeinschaft ergibt, und hat dabei als biblische Theologie die Aufgabe, darauf zu achten, dass die kirchliche Lehre Räume eröffnet, in denen das biblische Wort als Heilige Schrift gehört werden kann, um so Glauben neu zu wirken.

5 Vgl. Sauter, Zugänge zur Dogmatik, 96. 6 Ich verweise stattdessen auf Sauter, Zugänge zur Dogmatik, sowie Hütter, Theologie als kirchliche Praktik. 7 Das muss auf jeden Fall kritisch gegen Hütter, Theologie als kirchliche Praktik, 124f eingewendet werden, der hier eine ähnliche ekklesiologische Verengung vornimmt, wie sie in Teil I am Beispiel der anglo-amerikanischen Diskussion dargestellt wurde.

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2.4 Exegetische und dogmatische Zugänge zur Biblischen Theologie Exegese und Dogmatik Abschließend will ich nun im Rückblick auf die in Teil I vorgestellten biblisch-theologischen Entwürfe noch einmal nach dem Verhältnis von Exegese und Dogmatik fragen. Dabei sollen die besprochenen Entwürfe selber noch einmal aus der an Quenstedt gewonnen Perspektive einer dogmatischen Kanontheorie gewürdigt werden. a) Die exegetischen Ansätze (Childs und die Tübinger Schule) Den exegetischen Ansätzen von Childs und der Tübinger Schule ist zunächst dies gemeinsam, dass beide den Weg von der Intention des menschlichen Autors der jeweiligen Texte in ihrer historischen Situation hin zu einer diese Intention übersteigenden Einheit, die den biblischen Kanon konstituiert, gehen. Während Childs diese Einheit in der Wirklichkeit Gottes sucht, von der die Texte Zeugnis ablegen, sehen Gese und Stuhlmacher diese Einheit durch die hinter dem Text liegende Traditionsgeschichte konstituiert. Dabei bleibt der Tübinger Ansatz stärker an den geschichtlichen Gegebenheiten orientiert, während Childs diese auf die Wirklichkeit Gottes und der darin sich konstituierenden Einheit des biblischen Kanons zu übersteigen sucht. Beide Positionen setzen dabei auf ihre Weise eine Einheit des Kanons schon voraus, die dogmatisch zu begründen wir als Desiderat ihrer Positionen festhielten. Blicken wir nun von der Warte einer solchen dogmatischen Begründung der Einheit des biblischen Kanons auf diese Positionen, so treten Stärken und Defizite der jeweiligen Position noch einmal neu in den Blick. Wenn Childs die Einheit des biblischen Kanons in der Wirklichkeit Gottes begründet sieht, von der die Texte des Kanons zeugen, so ist dies zwar eine sehr weite Bestimmung, jedoch trifft sie sich mit unseren Überlegungen insofern, als sie die Einheit nicht im propositionalen Gehalt der Texte verankert, sondern in ihrem Bezug zu Gott, der durch diese Texte redet. Um von dort her zu hermeneutisch weiterführenden Aussagen zu kommen, müsste dieser Bezug von Text und Gott aber präzisiert werden, nämlich als Heilshandeln Gottes durch den Text im Geist. Childs verbleibt mit dem Begriff des Zeugnisses eher auf einer noologischen Ebene: Der Text teilt uns etwas über die Wirklichkeit Gottes mit. Was aber die Einheit des Textes in der christlichen Glaubensrede konstituiert, ist nicht ein bloßer Akt der Mitteilung, sondern ist Handeln Gottes durch den Text am Menschen zu seinem Heil. Als zentrales Problem stellte sich bei Childs außerdem die Unklarheit im Begriff des sensus literalis heraus. Childs kann sich nicht zu einem Begriff der Einheit des sensus literalis der ganzen Schrift durchringen und will den

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Literalsinn der einzelnen biblischen Schriften auf die biblische Einheit hin im Begriff eines figuralen Textsinns (der Typologie und Allegorie umfasst) übersteigen. Die Texttheorie Quenstedts hat gezeigt, dass der Ansatz bei der Wirksamkeit des Schriftwortes es erlaubt, die Einheit der unterschiedlichen Texte in ihrer Heilswirkung und dem darin konstituierten,, einen Literalsinn zu finden. Die Grundlagen dafür legt die Inspirationslehre, deren Fehlen damit zu einem wesentlichen Desiderat der Biblischen Theologie von Childs wird, weil sich in der Lehre von der Inspiration der Schrift die Vorstellung vom Handeln Gottes im Text mit der Vorstellung eines einheitlichen Textes, durch den der Geist Gottes Heil wirkt, verbinden. Die Tübinger Exegeten stellen anders als Childs das Heilshandeln Gottes ins Zentrum der biblischen Texte, allerdings nicht so, dass sie von einem Heilshandeln Gottes durch den Text reden, sondern so, dass sie Gottes Heilshandeln, bei Stuhlmacher unter dem Stichwort „Versöhnung“ zusammengefasst, als den zentralen Inhalt der biblischen Texte deuten. Dies ist eine durchaus angemessene Umsetzung der Rede von der Heilswirksamkeit der Schrift in eine Auslegungsregel, die sich analog auch bei Quenstedt findet. In diesem Zusammenhang ist besonders zu würdigen, dass Stuhlmacher die Einbindung historisch-kritischer Auslegung in den Kontext einer spirituellen Schriftlektüre betont und auch darum weiß, dass die Mitte der Schrift nicht einfach in Aussagesätzen aufgeht. Insofern zeigt sich hier gerade bei Stuhlmacher eine hohe Sensibilität für die Einbindung der theologischen Auslegung in die Glaubenspraxis. Die Einheit des biblischen Kanons begründen nun aber weder Stuhlmacher noch Gese mit der Wirksamkeit der Schrift, die sich in einer spirituellen Schriftlektüre zeigt, sondern sie greifen hier auf die problematische Konstruktion einer Einheit durch die Traditionsgeschichte zurück. So kommt hier der Text der Schrift als eigene Größe noch weniger zum Tragen als bei Childs, der immerhin auf die Frage nach dem sensus literalis der ganzen Schrift eingeht. Daher verwundert es denn auch nicht, dass die Inspirationslehre aller Betonung ihrer Wichtigkeit zum Trotz sich in die Argumentation Stuhlmachers insgesamt nur schwer einfügt. b) Texttheoretische Beobachtungen zum Verhältnis von exegetischhistorischer und biblisch-dogmatischer Theologie Als exegetische Ansätze legen sowohl Stuhlmacher als auch Childs ihren Schwerpunkt auf das Verstehen des Inhaltes der biblischen Texte. Dabei gehen beide zunächst vom historischen Kontext und damit von der Autorintention und der Situation des Autors aus und beziehen den kanonischen Kontext in unterschiedlicher Weise ein. Bei Childs liegt eine eindeutig, wenn auch defizitär theologisch begründete Einheit des biblischen Kanons

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zugrunde, während die Tübinger die Einzeltexte in einen einheitlichen Traditionsprozess einzeichnen wollen, in dessen inhaltlichem Zentrum die Versöhnung in Christus steht. Was jedoch bei beiden dieser Ansätze fehlt, für eine biblische Theologie aber unabdingbar ist, ist der Bezug auf die in der Glaubensrede ausgelegte, in der Glaubenspraxis verstandene Heilige Schrift. Denn dies ist die von beiden nicht erkannte Voraussetzung für ein begründetes Ausgehen von einem einheitlichen biblischen Kanon. Zwar verweist Stuhlmacher immer wieder auf die Notwendigkeit der Einbettung historischer Exegese in den Kontext einer spirituellen Schriftlektüre, weiter gehende methodische Konsequenzen zieht er daraus aber nicht. Bei Childs findet sich immerhin die Andeutung, dass biblische Texte, die in einem Widerspruch zueinander stehen, durch ihren Bezug auf unterschiedliche Situationen in der kirchlichen Praxis zu einem Ausgleich gebracht werden können. Jedoch bezieht sich keine der beiden Positionen methodisch auf die in der Praxis vollzogene Schriftauslegung als Referenzrahmen einer Kanontheorie zurück. Alles in allem zeigt sich hier wohl die Grenze eines exegetischen Ansatzes einer biblischen Theologie. Dass hier nicht mehr geleistet wird, liegt auch an dem Selbstverständnis historischer Exegese, die sich vor allem im Dialog mit der Praxis historischer Wissenschaft und ihren Verstehenshorizonten definiert und weniger im Bezug auf die Praxis des Glaubens, wie er in der Gemeinschaft der Kirche als Praxis des Verstehens der Heiligen Schrift gelebt wird. So sehr die beiden dargestellten Ansätze auch versuchen, Exegese auf diese Fragestellung hin zu öffnen, können sie dies doch nur tun, indem sie darauf verweisen, dass ihre Arbeiten, indem sie auf den biblischen Kanon Bezug nehmen, von Voraussetzungen leben, die sich mit exegetischen Methoden nicht fassen lassen, nämlich von der nur dogmatisch-theologisch zu rekonstruierenden Konstitution des Kanons in der Praxis des Glaubens. Als Auslegungen, die bewusst von einer solchen Voraussetzung ausgehen, sind exegetische Ansätze, die biblische Texte im Kontext des biblischen Kanons lesen, legitim und hilfreich. Sie bleiben jedoch Grenzbewegungen auf dem Gebiet zwischen Exegese und Dogmatik sowie zwischen wissenschaftlicher Theologie und glaubendem Verstehen der Schrift. Auf der anderen Seite ist auch eine historische Exegese, die sich nicht auf diese Voraussetzungen einlässt, und man wird sie einer wissenschaftlich orientierten historischen Exegese nicht aufnötigen können, ein Verstehen der biblischen Texte, das legitim und auch theologisch hilfreich ist. Zwar werden diese Texte dann nicht mehr als Heilige Schrift gelesen, sondern sie werden als Äußerungen historischer Persönlichkeiten gelesen. Aber auch ein solches Textverstehen ist theologisch von Interesse. Denn dadurch lernen wir zunächst etwas über das Wirksamwerden des Wortes des Evangeliums in der Zeit der Entstehung der biblischen Texte.

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Dem kommt ein exegetischer Ansatz, der sich mit der kommunikativen Funktion der biblischen Texte in ihrem historischen Kontext befasst, sehr entgegen. In diesem Sinne ist das Programm einer text- und kommunikationstheoretisch fundierten empirischen Exegese, wie es Christof Hardmeier in die Diskussion eingebracht hat,8 gewissermaßen das historisch orientierte Pendant zu der hier vertretenen theologischen Texttheorie. Hardmeiers Programm einer „performativen Theologie der Bibel“9 orientiert sich dabei an einem texttheoretischen Model, das vom Text als einem Kommnunikationsangebot des Autors ausgeht.10 Der Text ist Substrat bzw. Spur eines vergangenen kommunikativen Handlungsspiels zwischen einem Autor und den von ihm intendierten Adressaten.11 Die Bedeutung des Textes erschließt sich von dieser kommunikativ-pragmatischen Funktion her, die mit linguistischen Methoden zu erarbeiten Aufgabe der Exegese ist. Daher zielt die Exegese auf eine Analyse der Textur als einem Netzwerk von Sprachsignalen.12 Ein Verstehen dieser Sprachsignale ist aber nur vor dem soziohistorisch zu erforschenden kulturellen Hintergrund des jeweiligen kommunikativen Handlungsspiels möglich.13 Dabei besteht zwischen dem Text als kommunikativer Handlung und den Verhältnissen, die ihn hervorgebracht haben, ein Wechselverhältnis: Der Text wirkt auf seinen Kontext zurück. Daher verschränkt sich hier der literaturwissenschaftliche Ansatz mit der Literatursoziologie und der Literaturgeschichte.14 Von daher kann man sagen, dass dieser Ansatz „in radikalisierter Weise historisch kritisch ausgerichtet“15 ist. So legt Hardmeier zwar den Akzent sehr deutlich auf die Funktion des Textes als Text, sieht dabei aber im Unterschied zu dem hier entwickelten Ansatz den Text primär als Kommunikationsangebot eines Autors. Hierin mag in der Tat das Spezifikum historischer Exegese im Gegenüber zum 8 Vgl. Hardmeier, Texttheorie und Ders., Prophetie. Die grundlegenden Texte aus diesen beiden Arbeiten wurden neu veröffentlicht und weitergeführt in Ders., Textwelten 1 und 2. 9 Hardmeier, Erzähldiskurs und Redepragmatik im Alten Testament. Unterwegs zu einer performativen Theologie der Bibel. Vgl. zum Begriff z.B. aaO., 376. 10 Vgl. Hardmeier, Textwelten 1, 15 und 49f, sowie Ders., Textwelten 2, 37. AaO, 39–42 spricht Hardmeier von der kommunikativen Intention als zentralem Steuerungsprinzip der Texterzeugung. AaO, 184 gilt ihm die Texterzeugungssituation als der archimedische Punkt der Exegese. 11 Zum Begriff „Kommunikatives Handlungsspiel“ vgl. Hardmeier, Textwelten 1, 49–56 und Ders., Textwelten 2, 43–75. Zum Text als Substrat bzw. Spur desselben vgl. Ders. Textwelten 1, 25 und 47. Zur Rede von den „intendierten Adressaten“ vgl. Ders., Textwelten 2, 47. 12 Vgl. Hardmeier, Textwelten 1, 80. 13 Vgl. Hardmeier, Textwelten 1, 6 und 18f, sowie Ders., Textwelten 2, 45. Durch den gesellschaftlichen Kontext vorgegeben sind dabei auch bestimmte Kommunikationstypen (vgl. aaO., 73). 14 Vgl. Hardmeier, Textwelten 1, 51. Hier steht Hardmeier der Strömung des New Historicism nahe: vgl. Montrose, Die Renaissance behaupten, 301. 15 Hardmeier, Textwelten 1, 38f.

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dogmatisch-theologischen Umgang mit biblischen Texten liegen. Dies ist aber nicht zwingend als Gegensatz zu werten, denn die biblischen Texte sind ja in der Tat beides: Sie sind von menschlichen Autoren verfasste Texte mit einer in ihrer historisch zu untersuchenden Situation bestimmten kommunikativen Handlungsabsicht, aber sie sind als Texte des Kanons der Heiligen Schrift auch mehr als das und haben sich in ihrer kommunikativen Funktion zum Teil vom historischen Ursprung gelöst.16 Diese Texte sind mehr als das, was ihre Autoren ursprünglich mit ihnen intendierten. Dieses „mehr“ an kommunikativen Sinn bestimmt Quenstedt theologisch als Heilswirksamkeit des Geistes im Kanon der Heiligen Schrift. Um die Frage nach dem theologischen Interesse an der historischen Fragestellung zu klären, empfiehlt es sich, noch einmal die grundlegenden texttheoretischen Entscheidungen in den Blick zu nehmen. Der Sinn eines Textes kann grundsätzlich in zwei Perspektiven entschlüsselt werden, nämlich 1. von seiner Entstehung, z.B. von der Autorintention her, oder 2. von seinen Rezeptionsmöglichkeiten her. Texttheoretisch liegt in dem ersten Ansatz die Tendenz den Text zugunsten des Autors (oder aber des Entstehungsprozesses) aufzulösen,17 während der zweite Ansatz auf den „Tod des Autors“ hinausläuft.18 Für eine biblische Theologie führt der erste Ansatz auf das Problem, dass damit die Einheit des Kanons zerfällt, während der zweite Ansatz zu einer Auflösung der normativen Funktion des Kanons führt.19 Das Modell, das in dieser Arbeit anhand der Schriftlehre Quenstedts entwickelt wurde, geht darum einen dritten Weg, der die Autonomie des Textes zwischen Autor und Leser betont. Die Funktion des Autors für das Verstehen des Textes wird relativiert, der biblische Kanon wird als auf das Heilswirken Gottes hin instrumentalisierter Text gelesen und damit auf ein bestimmtes Rezeptionsangebot fokussiert. Als einheitlicher Text ist er nur in dieser Rezeption gegeben. Der Text wird also in der von Hardmeier verwendeten Terminologie zur tragen16 Ein Gegensatz entsteht hier erst dann, wenn der Eigensinn der Texte einseitig an der Autorintention und der historischen Urpsrungssituation des Textes festgemacht wird. So deutet es sich bei Hardmeier, Textwelten 1, 7 und 26f allerdings an. 17 So geschieht es z.T. im Kontext der critique génetique. Hay, „Den Text gibt es nicht“ dekonstruiert mit dem Begriff des Textes zugleich den Autorbegriff, den Cerquiglini, Textuäre Modernität, als neuzeitliches Konstrukt nachweist. Bei Martens, Was ist ein Text? gewinnt hingegen der Autor und sein Schaffensprozess stärkeres Gewicht. 18 Vgl. z.B. Barthes, Das Rauschen der Sprache, 57–63. 19 Auch Hardmeier hat diese beiden Aspekte im Blick, wenn er betont, dass Textproduktion und Textrezeption zwei grundsätzlich zu unterscheidende kommunikative Handlungsspiele sind (vgl. Ders., Textwelten 1, 52).

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den Größe eines kommunikativen Handlungsspiels der Textrezeption ohne selber in der Rezeption aufzugehen. Fragt man von dieser theologisch-hermeneutischen Vorgabe ausgehend zurück nach der historischen Funktion der Texte, also nach den Intentionen der historischen Autoren, so liegt das theologische Interesse primär auf der Frage nach den Wirkungen der Texte in ihren soziohistorischen Kontexten. Daher ist es theologisch interessant, diese Texte historisch als Spuren konkreter kommunikativer Handlungsspiele wahrzunehmen. Denn das, was der Text einmal in einer bestimmten historischen Situation durch seine kommunikative Funktion an Sinn gewonnen und vermittelt hat, verweist immer auch auf Sinndimension des Textes außerhalb dieser konkreten Situation.20 Die historische kommunikative Funktion des Textes im Kontext seiner Entstehung kommt damit als eine Konkretisierung des Wirksamwerdens des biblischen Textes in den Blick und ist daher auch für ein biblischdogmatisches Verstehen des Textes von Bedeutung. Biblische Dogmatik wird dann allerdings im Blick haben müssen, dass es den Text im weiteren Zusammenhang des Textes des biblischen Kanons als Heiliger Schrift des christlichen Glaubens liest und deutet. Darüber hinaus hat eine nach wissenschaftlichen Maßstäben vorgenommene historische Exegese auch eine wichtige kritische Funktion, indem sie vor falschen Historisierungen des biblischen Textes bewahrt. Man wird es kaum noch wagen, die Erzählungen des Alten Testamentes für historische Darstellungen der Geschichte des Volkes Israel zu halten, wenn man die Ergebnisse der historischen Forschung zum Alten Testament zur Kenntnis genommen hat. Noch wird man versuchen, die vier Evangelien zu einer Darstellung des Lebens Jesu zu harmonisieren, da man nun ihren eigentlichen theologischen Wert gerade in der Unterschiedlichkeit der Darstellung und den damit verbundenen unterschiedlichen Weisen, das Evangelium zur Wirkung zu bringen, sehen kann.

20 Dies zeigt sich dann auch daran, dass grundlegende Einsichten der in dieser Arbeit entwickelten theologischen Texttheorie sich mit Einsichten decken, die Hardmeier aufgrund seiner exegetischen Studien zu den kommunikativen Absichten der biblischen Texte in ihrem soziohistorischen Kontext formuliert. So stößt auch Hardmeier darauf, dass ein Verstehen biblischer Texte nicht in erster Linie propositionales Verstehen, sondern praktisches Verstehen ist. Dabei geht es diesen Texten wesentlich um die heilvolle Begegnung zwischen Mensch und Gott. Vgl. Ders., Erzähldiskurs, 376f: „Because of the special pragmatic and performative alignement of the texts, what is up for debate in them is not the facticity of the historical material, or the being of God. It is primarily the life-furthering mode of relation to him.“ Vgl. Ders., Textwelten 1,22. Deutlich wird dies auch in Ders., Erzähldiskurs, 348–350: Zentrum alttestamentlicher Theologie ist der Lobdank, in dem sich die Reaktualisierung und Rekonstitution der Gottesbeziehung in und durch den Text (vgl. aaO, 352) vollzieht.

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Biblische Dogmatik

c) Der dogmatische Ansatz (Mildenberger) Einen explizit dogmatischen Zugang zur biblischen Theologie sucht Friedrich Mildenberger in seiner Biblischen Dogmatik. Die Ergebnisse der vorgelegten Arbeit decken sich in vielerlei Hinsicht mit der Position von Mildenberger. Er unterscheidet grundlegend Theologie und Glaubensrede (einfache Gottesrede) und sieht die Theologie v.a. in einer deskriptiven, aber auch kritisch begleitenden Aufgabe. Dabei betont er, dass die Einheit und Autorität des biblischen Kanons allein in der einfachen Gottesrede gegeben sei, geht allerdings nicht so weit, die Konstitution dieser Einheit zu rekonstruieren. Diese Lücke haben wir mit dieser Arbeit zu schließen versucht. Dabei zeigt sich, dass der Begriff des Textes für die Bearbeitung dieser Frage theologisch geklärt werden muss. Weil Mildenberger die Einheit des biblischen Kanons in seinem Ansatz durch die Geschichte Gottes mit dem Menschen „inter“dem Text konstituiert sieht, kommt der Text als eigenständige theologische Größe nicht in den Blick. Darum ist bei ihm die Einheit des Kanons in unbestimmter Weise in der einfachen Gottesrede vorgegeben. Die hermeneutische Dimension des Textes in seiner vermittelnden Funktion zwischen Gottesgeschichte und Gegenwart des Lesers kommt bei Mildenberger nicht in den Blick. Über Mildenberger hinaus lässt sich nun präzisieren: Die Einheit des Kanons ist in der einfachen Gottesdrede als praktisches Verstehen der Schrift als Ort der Widerfahrnis des Heils gegeben. Damit wird die Art und Weise des Verstehens der Heiligen Schrift in der Glaubensrede als praktisches Verstehen präzisiert und ein Ansatz gewonnen, um die Konstitution des Kanons in seiner Wirksamkeit auch bezogen auf den Begriff des Verstehens zu präzisieren. Dogmatik wird so nicht mehr nur allgemein auf die „einfache Gottesrede“ bezogen, sondern als biblische Dogmatik auf das praktische Verstehen der Schrift im Glauben und der Glaubensrede. Damit erschließen sich aber neue Zugänge zum theologischen Themenfeld von der Glaubenspraxis her. Eine Biblische Theologie, die von der vorgestellten Kanontheorie ausgeht, wird die theologische Bearbeitung biblischer Themen noch stärker in der Analyse der christlichen Glaubenspraxis verankern und diese in Bezug setzen zur Tradition der kirchlichen Lehre. Mildenbergers Arbeit bleibt dabei wegweisend, zum einen darin, dass sie die Vorordnung der Themen der Ökonomie vor denen der Theologie i.e.S. im Aufbau exemplarisch durchführt, zum andern aber gerade auch dort, wo sie Bibeltexte im Gespräch mit der Exegese auslegt. Mit seiner Theorie der metaphorischen Prädikation weist Mildenberger eine Möglichkeit auf, das Wirksamwerden der Schrift in der Glaubensrede zu konkretisieren: Biblische Texte werden zu metaphorischen Prädikaten der gegenwärtigen Situation, so dass durch das biblische Wort die Gegenwart auf Gottes Wirken hin zur Sprache kommt. So kann auch die Dogmatik ihrer-

Thesen

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seits in der Darstellung der Grammatik christlicher Rede mit solchen metaphorischen Prädikationen arbeiten, um christliche Glaubensrede zu verstehen und auf ihre Kongruenz zu prüfen. Thesen

3. Thesen zum Verstehen der Heiligen Schrift Thesen 1. Die biblischen Texte sind Heilige Schrift des Glaubens, weil durch sie Gott im Heiligen Geist Glauben wirkt. Das macht ihre externe Autorität gegenüber Glauben und Kirche aus. 1.1 Dem Wirksamwerden der Schrift zum Glauben entspricht ein praktisches Verstehen der Schrift als Widerfahrnis des Wirkens des Heiligen Geistes. 1.1.1 Als praktisches Verstehen bezeichnen wir ein Verstehen, das nicht in der Fähigkeit zur Wiedergabe des Inhaltes eines Satzes (propositionales Verstehen) besteht, sondern ein Handeln oder Sich-Verhalten aufgrund von Sprache ist. Beispiele: Ich verstehe einen Befehl, indem ich danach handle; ich verstehe die Einsetzungsworte des Abendmahls, indem ich aufstehe, hingehe und das Mahl empfange. 1.1.2 Praktisches Verstehen dieser Art ist einem instinktiven Reagieren ähnlich und ist grundlegend für das Erlernen von Sprache. 1.1.3 Sprache wird in solchem praktischen Verstehen als „Technik“ (PU 199) im Kontext von gegebenen Institutionen und Gepflogenheiten, als Teil einer Lebensform erlernt. Die Sprache wird gemeinsam mit der Lebensform erlernt. 1.1.4 Christliche Glaubensrede wird so in der Situation des praktischen Verstehens der Heiligen Schrift als Teil der christlichen Glaubenspraxis erlernt. Durch das Wirksamwerden der Schrift lernen wir die Sprache des Glaubens und den Glauben gemeinsam. Verstehen der Schrift ist in dieser Situation identisch mit glauben. 1.2 Das Entstehen von Glauben ist Werk Gottes durch den Heiligen Geist. Der Mensch ist daran nur passiv beteiligt. Daher ist das Verstehen der Bibel als Heiliger Schrift ein passiv-praktisches Verstehen. 1.2.1 Die Passivität des Menschen in der Heilszueignung durch die Gnade des Heiligen Geistes ist der Ausschluss des sündigen Willens des Menschen aus dem Geschehen der Bekehrung. Gerade der menschliche Wille wird in der Bekehrung erneuert, daher kann er nicht aktiv zur Erneuerung beitragen. 1.2.2 Dem entspricht die Passivität des Verstehens der Heiligen Schrift, die sich gerade dadurch denken lässt, dass man dieses passive

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Verstehen als praktisches Verstehen erklärt. Denn jedes propositionale Verstehen des Textinhaltes setzt bereits ein intellektuelles Handeln von Seiten des Menschen voraus. Das praktische Verstehen der Schrift hingegen kann sich passiv in bestimmten Handlungen des Umgangs mit der Schrift vollziehen, wie z.B. im Hören auf die Schriftlesung, dem Besuch des Gottesdienstes etc. Als passiv-praktisches Verstehen bleibt es ein Verstehen unter der Schrift, d.h. es ist kein Verstehen, dass sich das Schriftwort aneignet, sondern ein Verstehen, das durch das Schriftwort hervorgerufen wird. So bleibt hier die verstandene Schrift externe Autorität des Glaubens und so verweist der passive Charakter des Glaubens auf die externe Konstitution des Glaubens im Wort Gottes. Die Passivität des Menschen in der Bekehrung und im Verstehen der Schrift ist pneumatologisch zu entfalten. In ihren Grundzügen bietet die altlutherische Lehre von der gratia applicatrix sowie die altlutherische Gnadenlehre hierbei eine gelungene Vorlage. Problematisch ist allerdings die in diesen Lehrstücken vollzogenen Habitualisierung des Glaubensbegriffes. Die pneumatologische Entfaltung dieser Passivität orientiert sich dabei an Praktiken des Schriftlesens, in denen die Schrift passivpraktisch verstanden wird (z.B. Textmeditation, Liturgie, Sakramente, Psalmodie). Die Kirche und die kirchliche Tradition begreifen die Bibel als ihren Kanon und machen sie somit zur internen Autorität. Dort, wo die Kirche ihre Schriftlektüre in Lehre und Glaubenspraxis für das Wirksamwerden der Schrift zum Heil auch jenseits der Grenzen der Kirche offen hält, ist sie somit als Gemeinschaft aus der Kraft des Heiligen Geistes der Ort, an dem wir lernen die Bibel als Heilige Schrift zu lesen. Die Wirksamkeit der Schrift zeigt sich nur „ubi et quando visum est Deo“ (CA V). Daher erlebt ein Mensch in einem Moment nie alle Texte der Schrift (das quantitative Ganze der Schrift) als heilswirksames Wort, sondern nur bestimmte Texte. In den Texten, die im und für den Leser wirksam werden ist die Schrift jedoch qualitativ als Ganze präsent. Die Kirche als Gemeinschaft derer, die aus dem Wort der Schrift glauben, überliefert den biblischen Kanon und legt Zeugnis von seiner Heilswirksamkeit ab. Auf diese Weise überliefert sie den nachfolgenden Generationen einen äußeren Kanon, dessen Anerkenntnis zunächst ein formaler Akt ist. Dieser Kanon wird durch die Kirche als autoritativ aner-

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kannt. Es handelt sich bei diesem Kanon um eine Autorität, die die Kirche sich selber gibt, also um eine interne Autorität. Die Anerkennung dieses formalen Kanons ist zugleich die Anerkenntnis, dass der christliche Glaube älter und weiter ist als nur jeweils mein eigener Glaube. Dieser formale Kanon erweist sich dadurch, dass er zum Heil wirksam wird, immer wieder als der der Kirche gegenüber stehende Kanon, also als externe Autorität. Daher legt die Kirche mit der Bildung dieses formalen Kanons Zeugnis von seiner göttlichen Autorität ab, die ihr selber extern ist. Die Kirche, die sich unter dem Wort der Schrift begreift, wird Praktiken tradieren, in denen ein passiv-praktisches Verstehen der Schrift in Gottesdienst und Alltag eingeübt wird. Daher haben Auslegungstraditionen der Kirche auch innerhalb der theologischen Reflexion ihr Recht. Zu bemessen sind sie wie jede Auslegung der Schrift daran, ob sie die Wirksamkeit der Schrift zum Heil zur Geltung bringen oder aber verstellen. Durch das passiv-praktische Verstehen der Heiligen Schrift im wahrgenommen. Diese Einheit des Textes konstituiert sich durch das Wirksamwerden des Heiligen Geistes in diesem Text. Daher gilt dieser Text in seiner Einheit im Glauben als inspirierter Text. Die Inspiration kann nicht die externe Autorität der Schrift begründen, sondern sie leitet sich von dieser, also von der Wirksamkeit der Schrift zum Heil, ab. Die Heilige Schrift als inspirierte Schrift zu lesen, setzt den Glauben und die Gemeinschaft derer, die im Glauben diese Schrift lesen (die Kirche), voraus. Daher ist die Rede von der Inspiration der Schrift ekklesiologisch zu präzisieren. Wenn wir von Inspiration reden, ist in erster Linie die Kirche als Leserin der Schrift im Blick. Dies gilt für die Rede von der externen Autorität der Schrift gerade nicht. Ein Text kann in seiner Textgestalt und seinem Textgehalt betrachtet werden. Der Text ist bestimmt durch die Einheit von Textgehalt und Textgestalt. Allein dieser eine biblische Text, mit dieser Textgestalt und diesem Textgehalt ist die Heilige Schrift des Glaubens. Der Textgehalt eines Textes (der Sinn) kann von der ursprünglichen Textgestalt abgelöst werden, z.B. in einer angemessenen Auslegung eines Textes. Da sich dabei aber die Textgestalt ändert, handelt es sich nicht mehr um denselben Text. Die Auslegung der Heiligen Schrift kann daher nicht die Autorität der Heiligen Schrift selbst für sich beanspruchen, da in ihr (im besten Fall) nur

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Thesen

der Textgehalt, nicht aber die Textgestalt gewahrt ist (Autonomie des biblischen Textes gegenüber den Rezipienten). Die Rede von der Inspiration hält den grammatischen Zusammenhang zwischen Wort der Schrift und Heiligem Geist fest, der sich durch das Erlernen des Glaubens in der Bekehrung aus dem Wort der Schrift ergibt. Weil Glaube aus der Kraft des Heiligen Geistes sich an diesem Text entzündet, sind Geist und Text in der Rede dieses Glaubens grammatisch unaufhebbar miteinander verbunden. Das gilt gerade auch für die Textgestalt. Schwierigkeiten entstehen bei dieser Betrachtungsweise im Blick auf die sprachliche Textgestalt, insofern in der kirchlichen Tradition allein der Urtext als inspiriert gilt, die vorgeschlagene Herleitung von Inspiration aber auch die Übersetzungen, aus denen die meisten Menschen ihren Glauben lernen, als inspiriert in den Blick nehmen muss. Der Vorrang des Urtextes ergibt sich aber aus dem primären Bezug der Rede von der Inspiration auf die lesende Kirche (siehe These 3.1 und 3.5.2) und aus der theologischen Notwendigkeit einer konstanten Textgestalt (siehe These 3.5.1). Dadurch, dass der Text der Heiligen Schrift als durch den Heiligen Geist inspiriert gilt, wird er gegenüber den menschlichen Verfassern autonom und ganz von seiner Funktion für die Heilsverkündigung her begriffen. Deshalb können unterschiedliche Texte aus unterschiedlichen historischen Situationen heraus als ein einheitlicher Text mit einem gemeinsamen Literalsinn begriffen werden, der als der vom Heiligen Geist intendierte Literalsinn des Textes gilt (siehe Thesen 2.2–2.3). Damit wird der Literalsinn als geistlicher Sinn der Schrift gefasst und inhaltlich ganz auf die Heilswirksamkeit der Schrift hin orientiert. Der Literalsinn der Heiligen Schrift ist also nicht der Sinn, den die menschlichen Verfasser zu ihrer Zeit als Sinn ihrer Schriften intendierten (Autonomie des biblischen Textes gegenüber seinen Verfassern). So wird in einer theologischen Texttheorie die autonome Stellung des Textes der Heiligen Schrift zwischen Verfassern und Lesern formuliert, indem der biblische Text als auf das Heilshandeln Gottes hin instrumentalisierter Text begriffen wird. Der Text geht weder in der Intention der historischen Verfasser noch in der Beliebigkeit der Rezeptionen auf. In der Heiligen Schrift ist das verkündigte Wort Gottes Text geworden, weil es in dieser äußeren Gestalt des Textes in den Zeiten und Wechseln von Generationen Kontinuität als Grundlage des

Thesen

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Glaubens verspricht. Das Wort bleibt in seiner Heilswirksamkeit auch als schriftliches dasselbe wie als mündliches. Die Gestalt jedoch findet eine feste Form in den hebräischen, aramäischen und griechischen Urtexten der Bibel. So sichert die Rede von der Inspiration des Textes auch in seiner Textgestalt die theologische Autonomie des Textes gegenüber seinen Tradenten und Auslegern. „Verba volant – Scripta manent“: Die Verschriftlichung des Wortes ermöglicht wiederholte Bezugnahme auf den Text und auf die Auslegungstraditionen zu diesem Text. Die Worte und Teile des Textes und seine Auslegungen verhalten sich zueinander synchron und ermöglichen so diachrone Kommunikation (zerdehnte Sprechsituation). So erzeugt erst die Verschriftlichung des Wortes die Möglichkeit und die Notwendigkeit von Auslegung als Modus der kulturellen Pflege textuäre Kohärenz. Für den Kanon der Heiligen Schrift ist es charakteristisch, dass sich Aspekte ritueller und textuärer Kohärenz miteinander verbinden. Die Kontinuität des Textes und von Deutungstraditionen wird rituell in liturgischem Handeln vergewissert (die Bibel als Heilige Schrift). Zugleich bildet sich auf der Grundlage der gegebenen textuären Kohärenz eine komplexe Tradition der Text- und Sinnpflege, in der der Anspruch des Textes an das Leben der Leser deutlich wird (die Bibel als Kanon). Die Konstanz der Textgestalt, die als Ort des Wirkens des Heiligen Geistes gilt, ist äußere Grundlage der Gewissheit des Glaubens. Der Glaube kann sich, wenn er zweifelt, immer wieder an diesen Text wenden, in dem er der Gegenwart des Geistes gewiss sein darf. Die kirchliche Tradition gibt mit der Überlieferung des formalen Kanons Zeugnis von der Wirksamkeit des Geistes in diesen Texten (siehe These 2.2.1). Jede Übersetzung des Urtextes ist bereits Auslegung und Verkündigung der Heiligen Schrift. Der Kirche steht allein der Urtext als externe Autorität gegenüber. Daher gilt ihr allein der Urtext auch seiner Gestalt nach als von Gott inspiriert, denn an dieser Textgestalt orientiert sich die lesende Kirche in Lehre und Verkündigung. Dem Textgehalt nach ist auch eine Übersetzung oder eine Auslegung als inspiriert zu betrachten, insofern sie den Textgehalt richtig wiedergibt. Daher entsteht christlicher Glaube nicht nur aus dem Urtext, sondern auch aus Übersetzungen oder aufgrund der Verkündigung der Schrift. Das Wort Gottes, das in der Heiligen Schrift Text geworden ist, ist darauf angelegt, wieder zum mündlichen Wort zu werden. In der

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Verkündigung der Schrift erweist diese sich als vom Heiligen Geist erfülltes, zum Heil wirksames, Wort. Darin, dass die Heilige Schrift in ihrer Gestalt nicht einfach durch eine Auslegung ersetzt werden kann, gleicht sie einem Kunstwerk, einem musikalischen Werk oder einem Gedicht, die ebenfalls nicht durch ihre Auslegung oder eine andere Textgestalt ersetzt werden können. Ein solches Werk verstehen lernen, heißt zu lernen, dass einen Satz verstehen hier nicht heißt, ihn durch einen anderen ersetzen zu können, sondern dass man ihn nur dadurch verstehen lernt, dass man eine bestimmte Weise zu leben lernt. So lernt man die Heilige Schrift zu verstehen, indem man die Lebensweise des christlichen Glaubens lernt, et vice versa. Die Aufgabe der Theologie ist es, das Verstehen der Heiligen Schrift im Glauben beschreibend zu rekonstruieren (Theologie als Grammatik der Glaubensrede), das praktische, präpropositionale Verstehen der Schrift im Glauben in ein inhaltliches, propositionales Verstehen zu überführen und dieses kritisch an dem Maßstab der Heilswirksamkeit der ganzen Schrift im Geist zu überprüfen (Theologie als kritische Begleitung). Theologie rekonstruiert und beschreibt die Grammatik der Glaubensrede, d.h. sie untersucht die Verwendung von christlicher Rede im Kontext des christlichen Lebens. Die Grammatik einer Sprache sind die Regeln ihrer Verwendung. Diese Regeln sind nicht in Satzform gegeben, sondern sind selber Praktiken und Gewohnheiten des Lebens, die unsere Sprache regeln und durch die wir Sprache gelernt haben. Sprachlich fassbar ist allein der Ausdruck einer Regel. In der Grammatik einer Sprache kann es zu Verwirrungen kommen, grammatische Sätze können als auf Gegenstände bezogene missverstanden werden. Es kommt zu grammatischen Täuschungen. Die Aufgabe der Theologie ist es, eine Übersicht über die Verwendung christlicher Rede im Kontext christlichen Glaubens herzustellen und dadurch grammatische Täuschungen aufzudecken. Dazu gehört wesentlich auch die Beschreibung der Rede von der Heiligen Schrift und die Frage danach, wie die Heilige Schrift Glaubensrede normiert und reguliert. Theologie beschreibt also zunächst die praktische Auslegung der Schrift in der Glaubenspraxis. Die Theologie entfaltet die inhaltlichen Aspekte des praktischen Verstehens der Schrift in der Glaubenspraxis.

Thesen

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4.5.1 4.5.2

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Dort, wo es im Schriftverstehen des Glaubens zu Unstimmigkeiten kommt, kann die Theologie alternative Auslegungen der Schrift entwerfen, die als solche aber im Bezug zur Praxis des Glaubens stehen müssen. Die Kriterien der Schriftauslegung sind dabei aus der Wirksamkeit der Schrift zum Heil abzuleiten, die diese ja erst zur Heiligen Schrift macht. Daraus ergeben sich z.B. die folgenden Kriterien. Das Heilshandeln Gottes des Schöpfers an seinem Volk Israel und an der ganzen Menschheit in Jesus Christus und durch den Heiligen Geist ist das Zentrum der Heiligen Schrift. Dieses Heilshandeln Gottes ist trinitarisch zu entfalten. Die trinitarische Strukturierung der Pars Tertia von Quenstedts Systema Theologicum bietet dabei wichtige Hinweise. Alle Texte sind auf dieses Zentrum zu beziehen, auch dann, wenn sie nicht selber unmittelbar zum Heilshandeln Gottes beitragen, sondern z.B. Gericht verkünden. Die biblischen Texte sind im Kontext des gesamten biblischen Kanons zu lesen. Werden unterschiedliche Texte des Kanons aufeinander bezogen, so hat dies unter Berücksichtigung der praktischen Anwendung der Texte zu geschehen, d.h. auch, dass diese Bezugnahme im Blick auf das soteriologische Zentrum der Schrift (4.4.1) und unter Bezug auf das Wirken des Geistes im Text (4.4.4) zu geschehen hat. Ziel jeder Auslegung der Heiligen Schrift ist, dass der Text seine Heilswirksamkeit in der Gegenwart entfalten kann. Auch wenn die Auslegung strukturierend in die Wahrnehmung des Textes eingreift, ist ihr Ziel, dass durch den Text Gottes Geist Menschen zum Glauben ruft oder in ihrem Glauben erneuert. Darum gehört auch eine theologische Auslegung in den Kontext von Gebet (oratio), Textmeditation (meditatio) und der Bewährung des Theologen im Glaubensleben (Anfechtung, tentatio). Theologie bewegt sich dort, wo sie selber die Heilige Schrift auslegt, immer auf der Grenze zwischen wissenschaftlicher Rede und Glaubensrede. Die theologische Auslegung der Heiligen Schrift wird so als dogmatische Aufgabe begriffen. Der exegetische Umgang mit den Texten des biblischen Kanons bleibt neben dem dogmatischen Zugang zu der im Glauben verstandenen Heiligen Schrift eine eigene Form der Schriftauslegung. In welcher Art und Weise die Exegese mit diesen Texten umzugehen hat, ergibt sich aus den Kriterien historischer und philologischer Wissenschaft. Insofern sich Exegese auf die Texte des biblischen Kanons beschränkt, erst recht, wenn sie diese im kanonischen Zusammen-

366

4.5.3

4.5.3.1

4.5.3.2 4.5.3.3

5. 5.1 5.2 5.3 5.3.1

Thesen

hang auslegt, geht sie von Voraussetzungen aus, die nur dogmatisch zu beschreiben sind. Das ist legitim, kann aber nicht eingefordert werden. Die Dogmatik nimmt die exegetischen Auslegungen als eigene Form der Auslegung des Textes der Heiligen Schrift auf und tritt mit ihnen ins Gespräch. Die Kriterien des Umgangs mit den Ergebnissen der Exegese sind der Dogmatik durch die genannten Auslegungsregeln (siehe Thesen 4.4.1–4.4.4) gegeben. Für eine biblische Dogmatik ist eine Exegese, die die biblischen Texte als Spuren kommunikativen Handelns untersucht von besonderem Interesse, weil hierbei in den Blick kommt, wie sich einzelne biblischen Texte in der Situation ihrer Entstehung als wirksam erwiesen haben. Die Dogmatik nimmt die Ergebnisse der Exegese, dort wo sie historisch arbeitet, auch als Kritik falscher Historisierungen dogmatischer Aussagen auf. Aussagen der Exegese über die Theologie einzelner biblischer Schriften, die Intentionen der Autoren biblischer Texte etc. sind von der Dogmatik in Bezug zu setzen auf das Ganze der Heiligen Schrift und ihrer Wirksamkeit zum Glauben hin. Aus dieser Perspektive können sich wieder kritische Anfragen an die Ergebnisse der Exegese ergeben. Im kirchlichen Dogma formuliert die Kirche für die jeweilige Zeit den christlichen Glauben, den sie als durch die Heilige Schrift gegebenen bekennt. Das Dogma entwickelt sich in der Auseinandersetzung der Theologie mit der Glaubenspraxis. Es hat die Aufgabe für das Leben der Kirche einen Rahmen zu geben, in dem Gottes Geist durch das Wort der Schrift Glauben schaffen und gestalten kann. Nicht die Theologie, sondern die Kirche entscheidet über ihr Dogma. Dies geschieht in der evangelischen Kirche nicht durch ein von Gott gesetztes Lehramt, sondern im nach menschlichen Regeln geordneten Prozess der Auseinandersetzung über die Auslegung der Heiligen Schrift gemäß den dargestellten Regeln.

Anhang Anhang

Schematische Darstellung der Onomatologie des Theologiebegriffs

Onomatologie des Theologiebegriffs

Liste der Sigel Sigel Wittgenstein TLP PU PG ÜG Z VB LA LRB BFGB BB

Tractatus Logico Philosophicus Philosophische Untersuchungen Philosophische Grammatik Über Gewissheit Zettel Vermischte Bemerkungen Lectures on Aesthetics Lectures on Religious Belief Bemerkungen über Frazers Golden Bough The Blue and Brown Book

Sonstige BSLK DH WA

Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche Denzinger/Hühnermann, Enchiridion Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers

Literaturverzeichnis Literatur Die Abkürzungen folgen dem „Internationalen Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete“ (IATG) von Siegfried Schwertner. Bei mehreren Titeln eines Autors bzw. einer Autorin sind die verwendeten Kurztiteln durch Kursive hervorgehoben.

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Personenregister

Ins Personenregister aufgenommen sind nur die Namen von Personen, die auch im Haupttext des Buches vorkommen. Appold, Kenneth 22, 24, 83, 242, 248, 250, 251, 252, 260, 261, 271, 308, 313, 321, 324 Alexander, Werner 26, 200, 308 Aquin, Thomas von 53, 258, 268, 269, 285, 331 Aristoteles 153, 187, 188f, 200, 235, 275, 285, 290, 309, 322, 323, 324 Assmann, Jan 179f, 184 Augustin 91f, 118, 269, 271, 285, 330 Austin, John Langshaw 83, 123

Gerhard, Johann 24, 139, 178, 200, 211, 242, 273, 315, 321, 322, 324, 325, 328 Gese, Hartmut 32, 45, 56, 57, 58, 59, 61, 62f, 70, 352, 353

Barr, James 15, 27, 33–39, 44, 48, 49, 51, 54, 65 Barthes, Roland 17f, 20, 180, 199, 356 Barton, John 30, 32, 34, 35, 36, 41, 44, 49, 50f, 140, 183–186 Baur, Jörg 11, 138, 197, 225, 246, 248, 249, 262, 275, 281, 288, 290, 291, 320, 328, 371 Buddeus, Johann Franz 244–246, 247 Bullinger, Heinrich 146, 245, 246 Bultmann, Rudolf 15f, 28, 150

Janowski, Bernd 48, 57–59, 61, 63 Jenson, Robert 34, 40, 41f, 45, 56 Jung, Volker 24, 25, 133, 136, 145, 197, 200, 205, 208, 209

Calixt, Georg 313, 322, 325f Calov, Abraham 22, 24, 83, 145, 200, 209, 242, 245, 248, 250, 251, 252, 255, 256, 260, 261, 271, 308, 313, 321, 324 Carpov, Jakob 246 Chemnitz, Martin 257, 261, 262, 268–271, 280 Childs, Brevard S. 32, 34, 43–56, 58, 59, 66, 68, 77, 78–80, 222, 352f, 354 Ebeling, Gerhard 15, 27, 28–33, 34, 35, 37, 39, 68 Elert, Werner 23 Fecht, Johann 246, 271 Funke, Gerhard 284f

Hardmeier, Christof 183, 201, 355–357 Hase, Karl August von 247 Hägglund, Bengt 24, 133, 178, 242, 308, 315 Heidegger, Martin 16 Hofmann, Carl Gottlob 247

Käsemann, Ernst 16, 31, 32, 35, 36, 57 Keckermann, Bartholomäus 312f, 336 Kirste, Reinhard 24, 49, 150 Koch, Max 22, 23, 248, 251, 260, 268, 270, 286, 288, 325 Koch, Klaus 59 König, Johann David Friedrich 21f, 110, 242, 245, 257, 271, 287, 291f, 312f, 314 Lash, Nicholas 35, 39, 140 Luther, Martin 36, 70, 169, 170, 215, 248– 251, 271, 276, 277, 290, 292, 299, 306, 307, 345, 348, 350 Matthias, Markus 245f, 247, 271 McGrath, Alister E. 42 Meisner, Balthasar 22, 313, 322–324 Mildenberger, Friedrich 27, 35, 59, 66–78, 80, 104, 181, 215, 223, 224, 255, 263, 271, 347, 358 Moberly, Walter 11, 35, 40, 45, 56 Musaeus, Johannes 259, 260, 325 Oeming, Manfred 58, 59, 62, 78

384

Register

Origenes 52

Sundberg, Albert Carl 49

Quenstedt, Johann Andreas 11, 13, 15, 17– 26, 53, 56, 81f, 131f, 133–345, 347–349, 351–353, 356, 365

Tholuck, August 23 Timpler, Clemens 312

Reinhard, Franz Volkmar 247 Ricoeur, Paul 41, 90, 180, 199, 200f Ritschl, Otto 23, 244, 245, 246, 248 Scharf, Johannes 22, 162, 164, 188, 189, 191, 309, 315, 323, 324 Schleiermacher, Friedrich 15, 20, 26, 54, 72, 74, 76, 80, 82, 96 Semler, Johann Salomo 321, 322 Sparn, Walter 12, 22, 24, 161, 308, 313, 316, 318, 322, 323, 324, 325 Steiger, Johann Anselm 24, 141, 243, 248 Stendahl, Krister 15, 34, 35, 39 Stuhlmacher, Peter 32, 36, 45, 56–66, 70, 352–354

Wallmann, Johannes 24, 133, 305, 313, 321, 322, 325, 326, 328 Weber, Hans Emil 22, 23, 24, 248, 259, 260, 261, 262, 270, 288, 294, 299, 308, 313, 318, Webster, John 40, 41, 43 Williams, Rowan 39f Wittgenstein, Ludwig 11f, 13, 17–19, 25, 39, 40, 48, 81, 82–132, 140, 145, 154, 161, 171, 189f, 194, 197, 201, 213, 253, 267, 272, 277, 278, 293, 298, 303, 341, 343, 346 Wundt, Max 22, 23, 187, 188, 189 Zabarella, Jakobus 242, 307–317, 318, 320, 321, 322, 347

Sachregister

Abendmahl 126, 359, 378 Abrichtung, abrichten 91, 117f, 119 affectiones Scripturae 137 Akkomodation 198 Aktivität 251, 263, 265, 267f, 270f, 274, 283, 288, 290, 292–294, 297 – Koaktivität 299, 306 Alltagssprache 48, 87f Altes Testament 32, 46f, 59, 61f, 63, 67f, 152f, 183, 212, 222, 235, 237f, 355, 357 Altprotestantismus, Altprotestanten 19, 29, 53, 56, 75, 77, 83, 133f, 136, 140, 149, 152, 153, 154, 162, 183, 186f, 190, 196, 198, 202, 205, 209, 229, 234, 249, 251, 255, 314, 315, 328 Anrechnung, s.a. imputatio 265, 283f, 289 Anthropologie 70, 75, 179, 273, 278, 281, 347 Apographen 216f Aporie 15, 17, 19, 20, 34, 37, 41, 70, 90, 113, 134, 154, 167, 335–338 appetitus sensitivus 259, 262, 300 articuli fidei, s.a. Glaubensartikel 224, 245, 328, 331–335 assensus 139, 259, 261, 262, 269, 281, 295–305, 323, 326, 328, 333–337 autoritas Scripturae, s.a. Autorität der Schrift 33, 138, 139, 147, 158 Auferstehung 227–229, 319 Aufklärung 17, 28, 44, 52, 53, 75f, 321f Ausleger 14, 41, 68, 170, 172, 174f, 202, 209, 339, 350, 363 Auslegung, s.a. Schriftauslegung 14–16, 28, 36, 37, 38, 39, 42, 44, 51, 52, 53, 54, 57, 63, 65, 67, 68, 78, 80, 132, 149, 151, 153, 160, 161, 163, 167, 168, 171, 172– 178, 182, 183, 185, 197, 198, 203, 204, 208–213, 217, 218, 222, 225, 226, 227, 228, 230, 234–240, 250, 251, 260, 263, 264, 296, 302, 327, 338, 339, 343, 344, 345, 348, 349, 350, 361, 363–366 – allegorische 52 – christologische 222 – deskreptive 51 – dogmatische 222

– figürlich, figurativ 211 – historisch(-kritische) 31, 63, 68, 353 – kanonische 16, 51, 52 – kirchliche 60, 173 – mystische 213 – pneumatologische 68 – präpropositionale 349 – spirituelle 65 – theologische 16, 39, 43, 51, 52, 54, 80, 171, 350, 353, 365 – typologische 52, 212 – wörtliche 52 Auslegungspraxis 164, 224, 351 Auslegungsregel 26, 36, 48, 351, 353, 366 Auslegungstradition, s.a. traditio hermeneutica 57, 61, 151, 182, 183, 186, 219, 238, 361, 363 Aussprache 105, 106, 118, 184, 227 Außen 72–74, 80, 82, 263 Autographen 216f Autonomie 34, 53, 199, 202–205, 209, 213, 356, 362f Autor 18f, 41, 53, 147, 159, 197–201, 207, 213, 219, 230, 355f Autorintention 20, 48, 53, 199, 205, 209, 353, 356 Autorität 14, 16, 33, 35, 37, 38, 41, 43, 50, 65, 79, 135, 136, 148, 150, 155, 156f, 158f, 161, 164, 167, 199, 203, 216, 220, 336, 339, 361 – externe 33, 34, 37, 38, 39, 40, 42, 45, 137, 148–150, 168, 219–221, 328, 342, 343, 345, 347, 359, 360, 361, 363 – interne 38, 40, 42, 149, 150, 219– 221, 344, 360, 361 – der (Heiligen) Schrift 14, 15, 36, 39, 65, 77, 79, 137–139, 147–149, 155, 157, 158–161, 168, 170, 219, 221, 300, 328, 336, 342, 361 – der Kirche 79, 138, 147, 331 – des Christusereignisses 45 – des Glaubens 155, 216, 347 – des Lehramtes 137 – des Kanons 39, 78, 343, 349, 358 – Gottes 139, 148

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Register

Bedeutung 13, 16, 20, 24, 27, 34, 44, 46, 47, 48, 49, 51, 52, 53, 55, 57, 66, 67, 70, 73, 74, 77, 78, 84–88, 89, 90, 91, 94, 96– 99, 102, 103, 105, 107, 108, 109, 110, 114f, 118, 120f, 122, 123, 125, 126, 129, 130, 132, 137, 140, 161, 175, 182, 184, 185, 186, 190–192, 194, 199, 200, 206, 210, 213, 215, 220, 221, 228, 240, 243, 245, 246, 260, 265, 272, 291, 297, 305, 348, 355, 357 Begriff 16, 18, 19, 20, 33, 38, 40 43, 44, 48, 49, 52, 53, 55, 61, 72, 80, 83, 84, 85, 87, 88, 90–97, 101, 105, 109, 110, 111, 112, 114, 123, 137, 144, 150, 162, 166, 170, 171, 182, 185, 190, 191, 192f, 196, 199, 203, 208, 209, 211, 214, 218, 225, 230, 241, 242, 244, 245–247, 248, 249, 251, 253, 256, 261, 262, 263, 267, 268, 272, 275, 278, 279, 280, 284f, 286f, 288f, 290, 291, 295, 297, 298, 299, 300, 301, 302, 304, 305, 308, 311, 312, 314, 315, 317, 318, 320, 322–326, 329, 331, 332, 333, 335, 336, 338, 346, 351, 352, 353, 355, 356, 358 Bekehrung, s.a. conversio 141f, 162, 240, 246, 247, 248, 251, 255–273, 274, 277– 280, 282, 283–292, 296, 299, 300, 304, 305f, 334, 337, 341, 359, 360, 362 Berufung, s.a. vocatio 37, 83, 138, 245, 247, 251–255, 274, 278 – äußere 253 – innere 253 Bibel 11, 13, 14, 16, 17, 19, 27, 28, 31, 32, 34, 35, 37, 39, 40, 42, 43, 47, 50, 51, 54, 56, 57, 58, 60, 61, 69, 79, 82, 131, 134, 145, 146, 148, 149, 156, 158, 160, 161, 162, 164, 165, 166, 169, 177, 178, 183, 184, 185, 186, 194, 195, 204, 208, 213, 214, 215, 219, 220, 221, 240, 241, 250, 272, 293, 294, 306, 327, 341, 343, 344, 346–348, 351, 355, 359, 360, 363 Bibelinterpretation 57 Bibelstellen 135, 141, 142, 153, 159, 173, 176, 177, 207, 211, 224–227, 229, 238, 248, 253, 257 Biblische Theologie 15, 19, 25, 27, 31–33, 43f, 55, 56, 63, 64, 66, 339–342, 343, 345, 347, 351, 354, 356, 358 Bild 13, 89, 91f, 98, 99,100, 104, 118, 124, 130, 201, 216, 250, 290, 294 – im Geiste 98 – mentales Bild 124

Buch 11, 12, 14, 16, 23, 35, 37, 40, 45, 49, 50, 55, 59, 60, 89, 91, 121, 124, 146, 148, 150, 152, 158, 163, 180, 183, 205, 207, 219, 224, 323 Buße, s.a. poenitentia 146, 226, 270, 277, 283, 286–293, 300, 302, 304, 306, 307, 334, 341 canonical approach 43, 77, 78 causa 136, 146, 157, 161, 163, 188, 191, 263, 265, 277, 278, 284, 288, 289, 296, 297, 325, 329, 367 – efficiens, s.a. causa, Wirkursache 147, 162, 188, 189, 193, 196, 200, 207, 216, 246, 257, 284, 287, 288, 320 – finalis, s.a. finis, Zweckursache 162, 188 – formalis, s.a. forma, Formursache 162, 189, 205 – instrumentalis 197, 216 – materialis, s.a. materia, Stoffursache 162, 189 – media 320 – ministerialis 188, 257, 320 – movens 243 – organica 257 – principalis 188, 193, 197, 207, 216, 329 – subordinate 288 – causae-Schema 162, 187, 188, 196, 207 – causae externae 188 – causae internae 188, 189 Christologie 45, 48, 52, 70, 75, 76, 232, 241, 245, 347, 348 Christus 29, 30, 47, 61, 62, 63, 70, 72, 74, 146, 149, 150, 159, 163, 170, 173, 182, 201, 202, 212, 227–231, 234, 239, 245, 249, 263, 264, 281, 289, 295, 296, 330, 336, 350, 354, 365 Christusereignis 28, 37, 39, 45, 47 Christusgeschehen 30, 72 Christuszeugnis 72 claritas Scripturae, s.a. Klarheit der Schrift, perspicuitas Scripturae 167, 169 Confessio Augustana 249–251 conversio, s.a. Bekehrung 140, 141, 142, 143, 148, 162, 170, 171, 188, 241, 244, 246, 247, 250, 251, 252, 254, 255–273, 280, 281, 283, 284, 286–288, 291, 293, 302 – passiva 286, 291 – transitiva 286, 291

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Sachregister Deduktion 35, 335, 342, 346, 349 Definition 36, 75, 84, 86f, 95–97, 101, 106, 107, 110, 227, 248, 256, 257, 269, 280, 281, 282, 297, 308, 309, 317, 322 Dekanonisierung 43 Denkungsart 18, 83, 132 Denotat 97–99 Deskription 35, 52f, 55, 90, 91, 223, 339, 342, 346, 349, 350 Diskurs 18, 25, 32, 70, 156, 158, 160, 184, 200, 205, 303, 343, 344 Disputation 21, 22, 24, 157, 195, 196, 222, 223 Dogma 55, 133, 169, 176, 182, 213, 333, 334, 349, 351, 366 Dogmatik 11, 15, 23, 24, 25, 27, 31, 33, 42, 47, 54, 55, 61, 63, 64, 66, 69, 72, 75, 76, 77, 78, 81, 82, 83, 131, 132, 133, 134, 146, 186, 210, 222, 231, 242, 243, 247, 273, 297, 307, 316, 317, 321, 337, 339, 340, 342, 346, 347, 351, 352, 358, 366 – Biblische 71, 74, 77,321, 343–359, 366 – kirchliche 321 Dualismus 15, 27, 31 einfache Gottesrede 69–71, 73, 75, 76, 77f, 80, 81, 358 Einheit 20, 31, 32, 36, 40, 44, 47, 53, 58, 59, 60, 65, 66, 68, 69, 71, 76, 79, 203, 211, 222, 227, 230, 231, 233, 234, 235, 236, 237, 239, 240, 244, 248, 260f, 268, 273, 313, 323, 332, 338, 343, 350, 352, 353, 361 – historische 58, 59 – kanonische 39 – der Gottesgeschichte 67, 71, 76, 77 – der Kirche 31 – der (Heiligen) Schrift 15, 32, 38, 67, 69–71, 75–80, 198, 223, 231, 237, 240, 338, 342, 346 – des Kanons 33, 37, 38, 40, 46, 47, 48, 54, 58, 59, 61, 62, 64, 78, 80, 177, 233, 332, 342, 343–345, 349, 352, 353, 356, 358 – des Literalsinns 168, 204–206, 352 – des Traditionsprozesses, der Tradition 60, 64, 353 Einsetzungsworte 126, 359 Effectus, s.a. Effekte, Wirkung 141, 161, 247, 258, 268, 277,277, 287, 288, 295 – spiritualis 141

Effekt(e), s.a.Wirkung, effectus 138, 142 – geistliche 141f efficacia 137, 141, 142, 144, 148, 159, 162, 163, 192, 213, 252, 261, 263, 264, 269 – Scripturae, s.a. Wirksamkeit der Schrift 131, 136, 137, 140, 143, 145, 148, 155, 185, 194, 206, 224, 273, 317,320, 334 Empfindung 101, 104, 122 Endgestalt 39, 235, 238 – kanonische 46, 49, 50, 52, 63, 68, 77, 79 Engel 146, 179, 319, 320, 330 Erfahrung 17, 74, 78, 86, 95f, 100, 101,124, 254, 272, 277, 344 Erfahrungssatz 95, 113, 145 Erklärung 13, 45, 110, 113f, 117–119, 121, 126, 127 Erklärungsmodell 103f, 237 Erlebnis 48, 106, 107 Erleuchtung, s.a. illuminatio 146, 171, 176, 248, 251, 263, 268, 325 Erneuerung, s.a. renovatio 136, 140, 142, 166, 207, 240, 246, 270, 277, 283–287, 289, 290, 292–294, 299, 303, 305, 306, 359 Erwählung 241, 245, 253, 254, 273–278 Erwählungsdekret 274, Erwählungsgewissheit 276f Erwählungslehre 254, 275–278 Eschatologie, eschatologisch 74, 164,

171, 197, 235, 319, 347

Ekklesiologie, ekklesiologisch 31, 38f, 40, 42, 45, 52, 59, 74, 77, 173, 174, 327, 345, 351, 361 Evangelium 30, 36, 50, 51, 143, 156, 163, 191, 193, 199, 202, 250, 252, 259, 260, 264, 268, 288, 290, 294, 295, 297, 301, 304, 318, 320, 344, 345, 350, 354, 357 Evangeliumsverkündigung 36, 50 Exegese 11, 15, 16, 27, 28–43, 52, 55, 61, 62, 66, 78–80, 83, 150, 175, 352–359, 365, 366 – historisch(-kritische) 11, 16, 28–33, 34, 35, 38, 39, 40, 43, 44, 61, 65, 67, 153, 198, 354–355 – pneumatische 30 Externität 33, 34, 38, 42, 44, 45, 60, 61, 64, 65, 79, 150, 223, 328, 350 Familienähnlichkeit 85, 106, 111f, 127 Faktum 45, 161, 230, 254, 275

388

Register

fides, s.a. Glaube 134, 142, 245, 246, 277, 288, 289, 328, – absolute spectata 298, 301, – divina (sive salvifica) 149, 150, 153, 289, 299–302, 337, – humana (sive historica) 150, 151, 259, 289, 299–302, 303, 304, 337, – justificans, qua justificat 297, 299, 301, 302, 304, – qua creditur 302, – quae creditur 302, 304, 332, – relate spectata 296, 301, fiducia, s.a. Vertrauen 141, 153, 163, 166, 186, 193, 259, 261, 262, 266, 281, 282, 295– 298, 300–305, 323, 326, 333, 334, 335, 337 – generalis 259, 298, 299, 300, 301 Fiduzialglaube 296, 298, 302 finis 162, 163, 165, 180, 188, 242, 245, 309, 310, 311, 314, 321, 327, – fidei 153, 163, 347, – intermedius 162, 164, 188, 318, 319, 326, 367 – Scripturae 143, 161–164, 169, 181, 192, 207, 318, 319, 321, – theologiae 314, 317–321, 323, – ultimus 162, 164, 165, 188, 193, 202, 318, 319, 367 Form, s.a forma 13, 15, 19, 30, 38, 41, 46, 55, 71, 84, 86, 87, 88, 89, 91, 94, 101, 104, 118, 119, 125, 140, 183, 186, 189, 191, 192, 198, 202, 217, 218, 243, 271, 300, 307, 313, 321, 325, 347, 351, 363, 365, 366 forma, s.a. Form, causa formalis 188f, 189–193, 203, 204, 205, 207, 214, 257, 288, 296, 298, 301, 332, 340, 367 – interna 191 – externa 191, 202, 214 formale Scripturae 189, 195, 200 Formursache 189, 205 Formel 101f, 107f, 238 Frömmigkeit 24, 42, 305, 324 fruitio Die 319 Fundament 88, 137, 154, 203 Gabe 251, 283, 285, 287, 299, 325 Gebärdensprache 118 Gebot 139, 140, 210, 275, 298, 300, 301, 303, 306 Gebrauch, Gebräuche 14, 77, 86, 87, 90, 91, 93, 94, 97–99, 101, 109, 113, 119– 121, 128, 129, 143, 144, 145, 151, 176, 215, 221, 316, 367

Gedächtnis 110, 154, 179 – kulturelles 184 Gedicht 124, 125, 126, 195, 364 Gemeinde 32, 39, 40, 46, 197, 222, 348, 350 Gemeinschaft 35, 41, 46, 50, 59, 74, 149, 150, 160, 219, 220, 221, 235, 250, 334, 344, 345, 349, 351, 354, 360, 361 Gepflogenheiten 119f, 129, 359 Gerechtigkeit 232, 302, 334, 350 – Christi 249, 265, 283, 284, 288, 289 Geschichte 18, 23, 25, 28, 62, 66–68, 70, 74, 79, 132, 149, 245, 259, 260, 275, 358 – Israels 66, 257, Gesetz 100, 143, 151, 156, 229, 259, 264, 288, 300, 301, 304, 350 – Gesetz und Evangelium 156, 191, 252, 290 Gestalt 31, 58, 130, 170, 173, 180, 183, 189, 190, 194, 199, 202, 203, 209, 213f, 216–218, 220, 223, 232, 238, 285, 362, 363, 364 Gewissen 67, 264 Gewissheit 96, 108, 109, 117, 154, 168, 200, 203, 206, 207, 276f, 278, 300, 343, 363, 368 Gewohnheit 190, 272, 284, 285, 364 Glaube, s.a. fides 13, 19, 24, 27, 30, 35, 55, 69, 70, 72, 73, 74, 79, 82f, 93, 122, 131–134, 135, 136, 138, 141, 142, 145– 149, 150, 152–157, 159–168, 169, 171, 172, 174, 176, 177, 179, 180, 181, 185, 186, 187, 188, 194, 199, 203, 205–209, 213–217, 221, 222, 229, 230, 234, 235, 237, 239, 240, 241–251, 252, 254, 255, 257, 259, 262, 263, 265–267, 268, 270– 278, 281, 283, 284, 285, 286, 287, 288, 289, 291, 292, 293, 294–305, 306, 307, 312, 316, 317–329, 332, 333, 334–337, 339–342, 343–351, 354, 357, 358, 359, 360, 361–366 Glaubensartikel, s.a. articuli fidei 145f, 151, 210f, 224, 230, 232, 326, 331–335, 337f, 351 Glaubensbegriff 244, 262, 294f, 297–299, 326f, 333, 334, 335, 337, 346, 348, 360 Glaubensfrage 36, 135, 139 146, 154, 155–158, 165, 220, 339 Glaubensgewissheit, s.a. Gewissheit 225, 276f, 333 Glaubenspraxis, s.a. Praxis 166, 229, 277, 317, 318f, 322, 338, 343, 346f, 348, 349– 351, 353, 354, 358, 359, 360, 364, 366

Sachregister Glaubensrede 69, 71, 74, 82f, 145, 158, 161, 165, 166, 186f, 194, 196, 207, 272f, 306, 341, 345, 349, 351, 352, 354, 358f, 360, 364, 365 Gnade, s.a. gratia 142, 171, 201, 241, 252, 257, 258–270, 272, 274, 275, 277, 280, 282–285, 288, 290, 293, 295, 297, 300, 307, 333, 335, 341, 342, 359 Gnadenlehre 257, 261, 262, 268–272, 285, 299, 360 Gnadenschema 260, 262, 270 Gottesdienst, gottesdienstlich 14, 171, 213, 222, 231, 282, 360, 361 Gotteserkenntnis – natürliche 158, 235 – offenbarte 319 Gottesgeschichte 66–68, 70, 71, 76f, 80, 358 Gotteslehre 52, 70, 75f, 319f, 347, 348 Gotteswort 136, 141, 152, 154, 159, 165, 166, 178–182, 185f, 202, 204, 207, 209, 239, 326, 327 – anredendes 139f, 160, 163, 181f, 187, – mündliches 178f, 180, 204, 255 – schriftliches, geschriebenes 152, 181, 320 Grammatik 84, 93–96, 97–100, 103, 104f, 112, 113, 114, 115, 117, 119, 120, 121, 123, 129, 131, 132, 145, 149, 161, 166, 186f, 190, 197, 206, 273, 298, 341, 359, 364 – theologische 345–349 grammatischer Zusammenhang 177, 194– 196, 196, 362 grammatische Notwendigkeit 94, 132, 145, 166, 186f, 190 grammatische Täuschung 106, 107, 187, 197, 273, 178, 349, 364 gratia 141, 142, 171, 202, 257f, 260, 262, 263, 267, 268, 269, 271, 273, 277, 280, 283, 291 – applicatrix (Spiritus Sancti) 134, 142, 146, 219, 240–255, 260, 262, 263, 270, 284, 293f, 295, 302, 305, 307, 315, 319, 324, 334f, 337, 341, 345, 360 – assistens 258, 324, 337 – (assistens) excitans 259–261, 262f, 265, 268, 270, 299f, 302, 337 – (assistens) operans 261, 265, 269– 271, 282, 283, 287 – (assistens) perficiens 265, 270 – (assistens) praeveniens 171, 258f, 260, 262f, 265, 266, 268–271, 281, 282, 302, 305

389 – (assistens) praeparans 258f, 260, 262f, 265, 269, 302 – cooperans 265, 269–271, 283, 287, 293 – infusa 249, 283 – inhabitans 258, 265, 269f, 324 – justificationis 283f, 287, 291 – renovationis 283f, 286, 287, 291 – subsequens 268

habitus 283–285, 290, 292, 293f, 298, 299, 309, 315, 322–327 – acquisitus 285, 322f, 324 – conatus 323 – fidei 321f, 326 – infuses 285, 290, 297, 298, 299, 324f – instrumentalis 309 – intellectus 322f – practicus 314, 323, 327 – theologiae 321–327 – ceo/sdotoj, divinitus datus 322–327 Handeln 13, 19, 42, 74, 113, 139, 145, 165, 177, 179, 180, 265, 267, 285, 289, 290, 291, 292, 296, 298, 303, 306, 318, 320, 321, 343, 344, 350, 359, 360, 363, 366 – Gottes 42, 48, 66, 67, 139, 145, 177, 217, 220, 246, 247, 269, 277, 290, 291, 306, 319, 352f Heiliger Geist 45, 56, 68, 72, 73, 74, 135, 142, 144, 146, 148, 150, 154, 155f, 157, 159, 160f, 164, 166, 169, 170f, 172, 173, 174–177, 178, 181, 193–195, 198–208, 219, 225, 226, 230, 238, 240, 241–243, 246, 248, 252, 253, 255, 257, 259, 260– 262, 264, 268, 273, 277, 280, 286f, 288, 293, 294, 298, 299, 300, 304, 305, 322f, 325, 333, 336, 340, 341, 342, 344, 345, 350, 359, 360, 361, 362, 363, 364, 365 Heiligung, s.a. sanctificatio 142, 162, 251, 283, 293, 324, 334 Heilsgewissheit 275f Heilshandeln 47, 73f, 166, 186, 220, 240, 241, 295, 297, 306, 320, 344, 352, 353, 362, 365 Heilsmittel (s.a. medium salutis) 134, 141, 162, 187, 207, 210, 243, 254, 258, 271, 275f, 277, 286, 295, 336 Heilswillen 67, 193, 252, 253, 275, 277 Heilswirksamkeit 77, 136, 143, 150, 162f, 165, 169, 188, 200, 208, 217, 226, 230, 239, 317, 336, 349, 353, 356, 360, 362, 363, 364, 365 Heilswort 29, 143, 193, 194, 223, 306, 322, 328, 340, 341, 344, 350

390

Register

Heimatsprache 86 Hermeneutik 15f, 19, 20, 24–27, 30, 52, 57, 61, 64, 65, 66, 68, 80f, 82f, 90, 92, 96, 131, 133f, 136, 137, 161, 163, 171, 172, 175, 196, 248, 251, 260, 293, 307 – dogmatische 43 – frühaufklärerische 26 – praktische 222f, 227, 240 – theologische 25, 37f, 71, 82, 139, 185f – theoretische 224, 338 – des Einverständnisses 57 – Universalhermeneutik 25, 26 – Schrifthermeneutik 18, 19 – Spezialhermeneutik 26 hermeneutica sacra 30 Herzensrichter 155, 166 Hören 72, 73, 128, 129, 130, 145, 161, 166, 171, 181, 186, 194, 243, 255, 262, 268, 272, 280f, 293, 294, 302, 305, 322, 327, 339, 341, 345, 360 Hoffnung 11, 20, 74, 171, 283, 299 Hypothese 13, 86, 87 Ideal 87, 104, 112, 114 Idealbild 104 Idealsprache 87 illuminatio, s.a. Erleuchtung 177, 252, 263, 268, 325 imputatio, s.a. Anrechnung 249, 251, 283 Innen 72–73, 74, 80, 82, 87, 263, 293 Inspiration 57, 65, 73, 187, 189, 194–204, 209, 213, 216, 218, 221f, 337f, 340, 344f, 353, 361f, 363 – Verbalinspiration 29, 133, 194, 195, 197, 198, 201f, 203, 204, 216, 221f – Realinspiration 195 Inspirationslehre 15, 19, 57, 65f, 69, 73, 130, 194, 195, 196, 197, 200, 202, 203, 213, 218, 222, 328, 337f, 353 Instinkt, instinktiv 117f, 212f, 156, 359 Institutionen 119f, 129, 164, 221, 359 Instrument 63, 142, 144, 151, 253, 294, 309 intellectus, s.a. Verstand, Intellekt 139, 171, 192, 196, 259, 262, 281, 322f Intellekt, s.a. Verstand, intellectus 145, 171, 193, 256, 259, 260, 262, 323 Intellektualisierung 337, 346 Interpretation, s.a. Auslegung 18f, 21, 22, 23, 26, 27, 28, 35, 40, 46, 50, 52, 55, 57, 63, 64, 65, 69, 75, 80, 81, 82f, 84, 88, 92, 93, 95, 96, 99, 105, 115f, 119, 123, 129,

130, 132f, 134, 137, 139, 160, 163, 166, 167, 174, 176, 180, 181, 184, 195, 200, 203, 205, 209, 215, 225, 231, 235, 244, 260, 335, 339, 340, 341, 345, 346 – existentiale 16 – grammatische 186; 278, 347, 348 – historisch(-kristische) 28, 57 – kanonische 53 – pneumatische, pneumatologische 73, 231 – psychologische 16 – theologische 51, 134 Interpretationsgemeinschaft 219 Interpretationsprozess 154 Interpretationsregeln 40 Interpretationstheorie 27, 79, Interpretationsthese 82 Intentio 54, 180, 206, 211, – auctoris 19, 27, 40, 52, 54, 162, 206, 207 – Spiritus Sancti 207 Intention – kommunikative 355 – pneumatische 68 – des Textes 67 – des Verfassers, Autors 18, 20, 41, 48, 52f, 199, 200f, 205, 209, 352, 353, 356, 357, 362, 366 – des Sprechers 68 intratextuelle Spannungen 232f iustificatio, s. justificatio, Jesus 47f, 62, 67, 74, 149, 163, 170, 173, 181, 226, 228, 238, 241, 245, 253, 348, 350, 357, 365 Judentum 58, 63, 67, 148 – rabbinisches 59 justificatio, s.a. Rechtfertigung 142, 244, 246, 247, 248, 250, 255, 268, 270, 278, 283, 284, 287, 291, 296, 297, 298, 302 Kalkül 112 Kalkulusmodell 130 Kanon 15, 16, 31–33, 35–38, 43–63, 77, 78f, 150, 184f, 208f, 219f, 269, 339, 342, 343, 344, 349, 352, 356, 360, 361, 363, 365 – äußerer 36, 150, 342, 360 – biblischer 28, 32, 33, 34, 35, 36, 38, 39, 40, 42–49, 57–61, 64, 65, 66, 78, 79f, 153, 184, 210, 212, 216, 219, 222, 223, 332, 339, 342, 343, 352, 353f, 356, 357, 358, 360, 365

Sachregister – formaler 36, 37, 62, 65, 219–221, 344, 361, 363 – innerer 36 – Einheit des Kanons 46–49, 54, 58, 59, 62, 64, 65, 177, 332, 342, 343, 352, 356, 358 – Empfangen des Kanons – Konstitution des Kanons 38, 42, 55, 56, 133, 343, 354, 358 – Kanon der Wahrheit 60 – Kanon im Kanon 36–38 Kanonbegriff 36–38, 44f, 49f, 55, 58, 78, 183, 184, 185, 219 Kanonbildung 44 kanonische Endgestalt 46, 49, 50, 52, 63, 68, 77, 79 Kanonisierung 44, 58f Kanonproblem 77, 140 Kanontheorie 354, 358 – dogmatische 342, 352 – soziologische 40 Katechese, katechetisch 42, 151, 219 Kirche 11, 13, 14, 16f, 27, 31f, 33, 35, 36, 37, 38–43, 44, 45f, 50f, 53, 55f, 57, 59f, 61, 63, 64, 65, 68, 77, 79, 136f, 137, 138, 146–151, 155, 156–158, 160, 164, 167, 168, 171, 173f, 178, 179, 197, 202, 204, 218–222, 300, 321, 322, 327, 328, 331, 334, 339, 340, 342, 343, 344f, 349, 351, 354, 359, 360f, 362, 363, 366 – evangelische 14, 215, 366 – (römisch) katholische 14, 147, 218 Klarheit der Schrift, s.a. claritas bzw. perspicuitas Scripturae 137, 158, 167– 172, 206 Kohärenz 180, 184, 332 – rituelle 180, 184 – textuäre 180, 184, 363 Kommunikation 99, 118, 134, 157, 160, 180, 186, 188f, 204, 208, 210, 227, 263, 320, 321, 363 Kommunikationsgeschehen 187f, 192, 276 Kommunikationsprozess 41, 185, 188 Kommunikationsrahmen 320 Kommunikationszusammenhang 144, 165, 178, 197 kommunikative Handlungsspiele 355–357 Konfessionalisierung 322, 346 Konkordanzmethode 172, 177 Konkordienformel (s.a. Formula Concordia) 251 Kraft, s.a. vis/vires 45, 75, 141, 142, 144f, 146, 148, 159, 162, 175, 197, 226, 240,

391

251, 252, 257, 260, 261, 263, 264, 265, 269, 275, 280, 283–286, 288, 290, 291, 294, 299, 345, 346, 360, 362 Kriterium, Kriterien 14, 47, 77, 89, 95, 99– 103, 104, 106f, 109, 120f, 129, 138, 146, 158–160, 199, 223, 253, 343, 344, 349, 365f Kultur, kulturell 18, 119, 121, 127–130, 183f, 190, 363 Kunstwerk 89, 132, 364 Laien 172f Landschaft 89 Landschaftsskizze 89, 91f Leben 16, 45, 46, 47, 68, 72f, 96, 116, 121, 127f, 139, 140, 141f, 146, 153, 154, 157, 158–161, 162, 164, 165, 171, 173, 179, 184, 197, 207, 223, 228, 246, 254, 255, 274, 277, 288f, 292f, 294, 318f, 325, 345, 346, 357, 363, 364, 366 Lebensform 83, 84, 92, 96, 166, 359 Lebenspraxis 82f, 132, 166, 190, 207, 272f, 305, 343, 346 Lebenswelt 127, 231, 250 Lehramt 14, 38, 137, 147, 154, 164, 172, 176, 218, 366 Lehrbildungsprozess 351 Lehre 25, 29, 38, 39, 57, 66, 73, 81, 134, 136, 137, 138, 143, 144, 145, 149, 151, 154, 160, 167, 169, 170, 171, 172, 182, 187, 193, 194, 198, 201, 202, 203, 204, 206, 209, 220f, 224, 231, 240, 242, 243f, 246, 248, 249, 251, 253f, 255, 262, 264, 268–274, 276–278, 281, 283, 291, 293, 294, 295, 302, 305, 308, 313, 317, 320, 328, 331–335, 337, 340, 346, 349, 351, 353, 358, 360, 363 Lehrtopos 229, 230, 232f, 272, 273, 345 Lernen 83f, 91, 93, 99, 105, 121, 130f, 166, 190, 221 Lerngeschehen 186f, 195 Lernsituation 84, 90, 93, 121, 131, 132, 166, 186f, 194, 221, 243, 272, 306 – des Glaubens, der Glaubensrede 82f, 131, 161, 166, 186, 208, 213, 215, 221, 267, 272, 292, 305f, 340 Lernprozess 119, 190, 221, 341 Lesen 18, 42, 55, 62, 82, 103–107, 140, 145, 149, 161, 164f, 166, 169, 171, 173, 175, 177, 181, 184, 194, 197, 219, 221, 250, 262, 264, 272, 281, 282, 305, 342, 345, 348

392

Register

Leser 16, 18, 20, 29, 41, 49, 50, 53, 84, 103, 138, 139, 140, 141, 143, 144, 150, 157, 160, 170, 182, 184, 186, 188, 200, 202, 203f, 217, 218, 231, 241, 261, 293, 304, 336, 340, 343, 344, 345, 356, 358, 360, 361, 362, 363 Lesegemeinschaft 16, 17, 39–41, 150, 221, 340, 346 Letztbegründung 113, 132 Literalsinn, s.a. sensus literalis 29, 53f, 68, 168, 204–213, 230, 231, 232, 233, 239, 260f, 341, 353, 362 Literaturtheorie 49 Liturgie 14, 42, 50, 139, 184f, 360 Logik 87, 112, 114, 175, 188, 232, 242, 307f, 309, 312, 346 Logiklehre 26 lutherische Orthodoxie 21–25, 33, 83, 131, 133f, 141, 204, 242, 249, 250, 278, 299, 305, 312f, 323

– der Philosophie 85, 97 – des Vergleichs 91 Methodendualismus 27 Methodenlehre 307f, 311, 314f, 317, 347 Mischna 59 Missverständnis 99, 113, 116, 127, 144 Mitte 23, 32, 60, 62, 65, 101 – soteriologische 61 – der Schrift, des Kanons 36–38, 39, 45, 60, 61, 62, 64, 65, 70, 344, 350, 353 – des Neuen Testaments 32, 37, 60f – des Alten Testaments 32, 37, 61, 62 Motive 158–160 Mündlichkeit 30, 50f, 140, 183 Musik 89, 108, 121, 124–130, 214 musikalischer Charakter 122, musikalisches Element 121f, 124, 129 musikalisches Thema 102, 121f, 124–132, 195, 213

Maschine 98, 103f materia 143, 188, 189, 191, 205, 209, 214, 288f, 292, 296, 298, 340 – ex qua 191, 194, 214, 295, 301 – circa quam 191, 301 materiale Scripturae 189, 191, 194, 195, 200, 202, 203 meditatio 57, 64, 171, 176, 262, 345, 365 Meditieren 171, 173, 262, 305 medium salutis, s.a. Heilsmittel 142, 207, 243, 250, 252, 294, 314, 317, 319 Medizin 309, 321 Melodie 102, 124 mentaler Mechanismus 98f, 101, 104, 107 mentales Paradigma 124 mentales Phänomen 98, 101, 106, 107f, 115, 117, 120, 124, 127 Metasprache 84–90 Metaphysik 22–25, 28, 85, 87f, 187–189, 205, 235, 297, 341, 349 Methode 15, 19, 27, 28, 70, 78, 84, 89, 90, 92, 93, 94, 96, 177, 307f, 310f, 314–317 – analytische 242, 310f, 315f – hermeneutische 175, 177 – historisch(-kritische) 27, 29, 52 – lokale 307f, 320 – philologische 29, 174, 175 – synthetische 310f, 315–317, 347 – theologische 30 – therapeutische 89f – der Exegese, exegetische 37, 174, 354

Neues Testament 31–33, 36, 37, 46, 47f, 51, 57, 58–63, 67, 74, 79, 153, 181, 195, 207, 212f, 215, 220, 231, 234, 235, 237, 238 Norm 31, 32, 33f, 35, 56, 57, 132, 133, 155, 176, 215, 307, 328, 335f, 339, 345, 347 Normativität 78, 223 notitia, s.a. Erkenntnis 201, 259, 260, 261, 262, 281, 295f, 298–305, 320, 323, 326, 328, 333, 334, 335, 337 – Dei naturalis 320 Notwendigkeit 30, 65, 66, 80, 94, 96, 132, 145, 166, 178–180, 186, 190, 192, 216, 218, 253, 263, 308, 311, 327f, 333, 334, 337, 354, 363 – grammatische 132, 145, 166, 186f, 190 – ontologische 145, 187, 190 – theologische 34f, 261, 362 Oberflächengrammatik 197 Objektivismus 78 Objektivität, objektiv 16, 17, 30, 34, 38, 65, 80, 101, 108, 141, 174, 175, 208, 326, 343 Ökonomie 70f, 73–76, 347, 358 Offenbarung 29f, 31, 62f, 75, 135, 138, 192, 193, 194, 195, 198, 318f, 320, 323, 331f, 334, Offenbarungscharakter 28 Offenbarungsereignis 31

Sachregister Offenbarungsgeschichte 62f Onomatologie 244, 314, 329, 367 Ontologie, ontologisch 29, 130, 133, 145, 147, 148, 187, 188, 190, 222, 236, 278, 280, 294, 297 Orakel von Delphi 168 oratio, s.a. Gebet 57, 64, 174, 345, 365 ordo, s.a. Ordnung 242, 248, 308, 310, 314f, – analyticus 242, 309, 312, 313, 315 – analytischer 242, 307–320, 336, 347 – compositivus 242, 308, 309, 312 – resolutivus 242, 308, 309, 310, 312 – syntheticus 311, 315 – synthetischer 309, 314–317, 336, 347 – salutis, s.a. gratia applicatrix 22f, 243, 244–248, 252, 271 Ordnung, s.a. ordo 52, 86, 87, 113, 177, 229, 247, 307–310, 313, 327 Originaltext 175, 215, 217, 221 Papst 137, 156, 167f, 172 Parallelstellen 174, 177 Passivität 157, 197, 244, 251, 255, 256, 261, 263f, 265, 267, 269, 271–274, 280, 283, 284, 288, 289, 290, 292–294, 297, 299, 306, 337, 341, 349, 359, 360 peccatum, s.a. Sünde 229, 249, 255, 266, 284, 287, 288, 296, 297, 325 Person 61, 62, 72, 74, 101, 102, 103, 108, 191, 199, 227f, 229, 232f, 235, 237f, 319, 326f perspicuitas (Scripturae), s.a. Klarheit der Schrift, claritas Scripturae 167, 206 Philosophie 11, 12, 17, 25, 82, 85–90, 97, 318 Phrase 126f, 174 Physiognomie 123, 190, 195, 213, 214, 217f, 221 Pietismus 246f Pneumatologie 33, 39, 48, 66, 75, 76, 134, 306, 342, 345 poenitentia (s.a. Buße) 244, 248, 251, 271, 277, 283, 286–289, 291, 292 Prädestination 254, 271, 273f, 277, Prädestinationslehre 224, 247, 253, 273, 275, 278, 349 Pragmatik 222, 229, 231, 238, 297 Praktiken 42, 83, 185, 223, 267, 272, 286, 305, 341, 343, 344, 360, 361, 364 Praxis 39, 42, 94, 115, 119–121, 134, 138, 140, 161, 164, 166, 171f, 221, 222f, 230, 231, 239, 247, 256, 271, 272, 289, 294,

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303, 306, 311, 317–321, 324, 338, 347, 348, 350, 354 – kirchliche 42, 218, 354 – kulturelle 124f, 127 – des Glaubens, s.a. Glaubenspraxis 19, 161, 294, 318, 344, 350, 354, 365 – des Lesens 164, 171, 272, 348 – des Regelfolgens 119f – der Schriftauslegung 19, 134, 222f, 332, 338, 345 Praxisbegriff 317f, 320 Predigt 29, 42, 140, 143, 163, 181, 185, 251, 255, Predigtamt 327 principium, s.a. Prinzip 137, 148, 241, 281, 325, 336 – cognoscendi 78, 136, 162, 331, 336 – essendi 136, 331 – fidei 242, 307, 331 – operandi 136, 162 – theologiae 135, 178, 241f, 307, 318, 331, 336 Prinzip, s.a. principium 27, 35, 36f, 57, 79, 135, 137f, 142, 157, 164, 232f, 241f, 255, 285, 290, 309–311, 315–318, 321, 323, 325, 332, 336, 337, 338, 342, 346, 347, 349 – protestantisches 35 – der Theologie 135, 138, 146, 198, 203, 209, 242, 255, 312, 315–318, 320 Psalm 185, 222, 231, 238, 344, 348 Psalmodie, Psalmgebet 214, 222, 360 Quelle 21, 23, 24, 44, 93, 174, 175, 215, 242, 335, 349 Ramismus 308, 311f reader response 53 Reaktion 104, 111, 117–119, 125, 128 Realinspiration, s. Inspiration Rechtfertigung, s.a. justificatio 142, 246, 247, 248–251, 255, 268f, 270, 273–275, 277f, 283, 284, 287, 289, 291, 292, 295, 296f, 299, 300, 301, 302, 304, 305f, 324, 334, 337 Rechtfertigungsgeschehen 248, 250f Rechtfertigungsglaube 276, 295f, 298f, 301, 303–305, 326 Rechtfertigungslehre 30, 239, 248–251, 265, 274, 278, 284, 333, 348 Redaktionskritik 49 Reflexionssprache 85f Reformation 17, 29, 30, 33, 34, 174

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Register

Regel 36, 37, 38, 84, 95, 104f, 109–121, 130, 132, 161, 177, 190, 203, 208, 210, 221, 225, 228, 229, 232, 236, 237, 239, 253, 272f, 274, 278, 346, 349, 364, 366 – eines Sprachspiels 110–112 – des Spiels 110, 113, 115 – der Sprache 110f – Ausdruck der Regel 119f, 272 – einer Regel folgen 96f, 99, 105, 109– 111, 114–121, 123, 129, 130, 131, 161, 190 Regelbegriff 109, 113, 118 Regelfolgenargument 97, 99, 109, 113f, 120 Regelverzeichnis 115 Regelmäßigkeit 95, 119 regeneratio, s.a. Wiedergeburt 136, 140, 141, 142, 162, 166, 193, 241, 244, 246f, 250, 252, 254, 255f, 269, 270, 284, 291, 293, 324 Regress 99, 113, 115, 116, 154, 160 regula fidei 44, 53, 60, 65, 209 Rekonstruktion 64, 66f, 220, 247, 339, 342 relatio, s.a. Verhältnis 139, 296f, 326 Relation 147, 170, 233, 234, 235, 240, 297, 302, Religionsgeschichte 32 renovatio, s.a. Erneuerung 142, 241, 244, 246, 247, 248, 251, 265, 269, 270f, 277, 283–287, 291f, 293, 299, 302, 306 Rettung, s.a. salvation 142, 225 Rezeption 18, 24, 25, 40f, 53, 60, 63, 90, 205, 219, 221, 259, 309, 312, 313, 317, 336, 342, 343, 356f, 362, Rezeptionsangebot 356, Rezeptionsgeschichte 308, 312, 315, Rezipient 202, 203, 220, 362 Rhetorik 82, 175, 312, 373 Richter 138, 147, 155–158, 159, 166 Richterfunktion 137, 155–158, 165 Richtschnur 132, 176, 215, 339, 349f Sache 38, 48, 52, 55, 65, 69, 86, 147, 153, 169f, 175, 196, 200, 201f, 205, 212, 232, 236, 246, 284, 285, 299, 346 – der (Heiligen) Schrift 33, 36, 38, 47f Sachkritik 29, 36f, 47, 210 salvatio, s.a. Rettung 142, 278 sanctificatio, s.a. Heiligung Satisfaktionslehre 229, 232 Satz 19, 32, 61, 84–87, 89, 94f, 97, 103, 112, 114, 115, 116, 120–126, 128, 129,

131, 135, 139, 145, 146, 154, 164, 173, 175, 190, 196, 197, 198, 199, 239, 240, 250, 278, 315, 317, 333, 336, 337, 343f, 346, 348, 349, 359, 364, – gramamtischer 94–96, 145, 197, 278, 346, 364 – metasprachlicher 84 – a priori 95 – Erfahrungssatz 95f, 113, 145 – Wesen des Satzes 84, 97 Satzmelodie 124 Schöpfungsmittler 74, 76 Schreiben 181, 195, 202 Schriftauslegung, s.a. Auslegung 17, 19, 24, 27, 55, 61, 79, 134, 173, 174, 222f, 338, 354, 365 – dogmatische 17, 223, 231, 332 – figürliche 55 – historische 31 – kirchliche 39 – pneumatische 71f – praktischer 134 – spirituelle 57, 65 – theologische 31, 41, 307 – vorkritische 17, 82 Schriftbild 105, 190 Schrifthermeneutik 18f Schriftlehre 18f, 25, 27, 132, 133f, 138, 162, 167, 172, 178, 188, 195, 197, 222, 223, 230, 239, 240–243, 253, 257, 261, 273, 293, 296, 302, 315, 316f, 327, 336, 337, 338, 340, 341, 345, 349, 356 – altlutherische, altprotestantische 14f, 29, 81, 82, 133, 136, 154, 187, 202, 338, 343, 345 – theoretische 176 Schriftlichkeit 30, 50f, 140, 179f, 183f Schriftprinzip 316, 346 Schriftreligion 34 Schriftsinn 52, 63, 206, 212 Schriftverständnis 24, 83, 131, 293 – reformatorisches 34, 41 – theologisches 28 Schriftverstehen 72f, 134, 186, 203, 262, 302, 304, 307, 322, 329, 335, 337, 365 sedes doctrinae 176f, 224–226, 240, 332 Seele 99, 100, 123, 139, 159, 196, 310 – der Worte 123, 191f Seelenapparat 100 Seelenzustand 100, 293f Selbstauslegung 137, 167–169, 172, 174, 208 Selbstlegitimation 161

Sachregister Semantik – pragmatische 200f – realistische 194, 200f sensus 143, 172, 175, 189, 191f, 198, 203, 205f, 211f, 216, 217, 228, 281 – divinus 154, 179, 189, 191–193 – figuratus 210f – grammaticus 192, 211 – historicus 52f, 153, 208, 262 – literalis, s.a. Literalsinn 44, 52–56, 79f, 153, 155, 168, 177, 193, 203–206, 208–213, 239, 261f, 333, 350, 352f – mysticus 205, 211–213 – proprius 210f – spiritualis 282f Septuaginta 58f, 215 simplicitas Dei 235f Sinneseindrücke 95 Spannungen 15, 19, 46, 50, 222, 232, 234 – innertextliche 230–233 Spezialhermeneutik, s. Hermeneutik 26 Sprachbild 118, 201 Sprache 14, 18, 73, 82–96, 99, 107, 109– 112, 114, 116–125, 127–132, 140, 161, 166, 175, 177, 186, 190f, 200f, 214, 220f, 250, 253, 272, 277, 294, 341, 343, 346, 348, 358f, 364 – ideale 112, 114 – primitive 91f Sprachgebrauch 70, 85, 87f, 90, 94, 109, 190, 198, 278 Sprachphilosophie 18, 25, 39, 81, 90, 131, 132, 189, 194, 303 Sprachspiel 84, 90–93, 96, 98, 103, 108, 109–112, 113, 114, 119, 125, 166, 214 Sprachtheorie 87, 89, 90 Sprechakt 83, 121, 123 Sprechakttheorie 83, 123 sola fide 29 sola Scriptura 30, 60, 152, 172 solus Christus 29 Soteriologie 52, 60, 70, 73, 75, 275, 306, 342, 347, 348 Stoffursache, s.a. causa materialis 189 subjectum 242, 250, 254, 255, 269, 279, 288, 291, 314, 325, 367 – theologiae 314, 325 Sünde, s.a. peccatum 143, 156, 171, 226, 229, 230, 248f, 252, 254, 255, 257, 259, 265, 266, 270, 272, 274, 276, 279f, 287, 288f, 290, 292, 295, 325, – Sünde wider den Heiligen Geist 226 Sündenfall 179, 279–281, 292, 347

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sufficientia Scripturae, s.a. Vollständigkeit der Schrift 137, 151f, 178, 202, 208 Syllogismus 276f, 310f, 315, 329 Symptom 19, 95, 100, 338, 340 Synchronität 180 Synergismus 271 System 15, 19f, 23, 41, 92, 99, 110, 137, 210f, 230, 241f, 247, 307, 312–315, 316, 317, 329, 331, 332f, 334, 335f, 338, 339, 340, 342, 345, 347, 348, 349 Systembegriff 307f, 311–313, 317, 336 Tabelle 98f, 104f, 110, 113, 118 Taufe 238f, 247, 256, 292, 307, 335 tentatio 57, 64, 345, 365 testimonium Spiritus Sancti internum, s.a. Zeugnis 24, 33, 150, 159, 225, 253 Textbegriff 18, 137, 175, 178, 182, 205, 208 Textcluster 224, 227, 229f, 233f, 238, 239, 240, 248, 338 Textgehalt 187, 189, 194f, 198, 200, 201, 209, 210, 216, 340, 361f, 363 Textgestalt 184, 186, 187, 189, 190f, 194f, 198, 200, 201f, 203, 204, 209f, 213–218, 220f, 340, 361f, 363, 364 Textkultur 183 Textphysiognomie 214 Textsammlung 146, 208 Textsinn 35, 38, 54, 80, 143, 167, 177, 193, 200f, 203, 205–213, 282, 303, 353 – historischer 153, 303 – mystischer, s.a. sensus mysticus 211f – pneumatologischer 204 – theologischer 53f Texttheorie 18, 178, 185, 186f, 190, 192, 193f, 200, 204, 205, 230, 353, – theologische 18, 187, 200, 340, 355, 357, 362 Textualität 18, 30 Textur 355 Textwerdung 185, 189 theologia 135, 136, 178, 195, 314, 323f, 327, 328–331 – acroamatica 314, 329 – revelata 321, 329, 341 theologischer Begründungszusammenhang 19, 42, 60 Therapie 88, 92 Todsünde 226, 276 Ton 23, 121–123 Tradierung 44, 184

396

Register

traditio hermeneutica, s.a. Auslegungstradition 151, 219, 233, 349 Tradition 15, 16, 17, 20, 26, 29–31, 33, 35f, 37, 40, 41, 45, 48, 49, 59, 62–64, 70, 71, 74, 80, 82, 96, 135, 136, 138, 151f, 154, 179, 183, 187, 218, 238, 247, 268, 284, 285, 290, 312, 323, 342, 349, 358, 360, 362, 363 – hermeneutische, s.a. traditio hermeneutica 15 – katechetische 151, 219 – mündliche 30, 152, 179f, 182, 183 Traditionsprinzip 30, 35 Traditionsprozess 58–60, 63f, 354 Trinität 228, 233, 235, 237–239, 287, 319 Trintätslehre 70, 232–234, 237, 239, 241, 348 Tugend, s.a. virtus 35, 283–285, 288, 289, 292, 296, 299, 323–325 Tugendhabitus 283–285, 290, 292 Übersetzung 14f, 22, 85, 88, 175, 202, 214–218, 220f, 308, 309, 345, 362, 363 übersichtliche Darstellung 93f, 129, 346, 349 Übersichtlichkeit 92, 94 Unersetzbarkeit 124, 130 Unglaube 154, 179, 243f, 265, 272, 274, 285, 305 Universalität 252–254 unio mystica 244, 247f, 270f, 293 Urteil 23, 33, 101, 126, 155–157, 167, 183, 254, 295 – ästhetisches 126, 128 Urteilsinstanz 138, 155–158, 165, Urtext 14, 29, 218, 221, 345, 362f Verbalinspiration, s. Inspiration 29, 133, 194f, 197f, 201f, 203f, 216, 221f, Verdienst 163, 241, 243, 255, 277, 295, 296, 298, 300–302, 304, 318, 334 Verfasser, s.a. Autor 21, 37, 52, 188, 195f, 197–204, 205, 206, 216, 224, 321, 340, 362 Vergleich 37, 90f, 93, 96, 97, 102, 103, 104, 109, 110, 111f, 114f, 117, 120, 122f, 124, 126, 127–130, 131, 145, 161, 180, 195, 214, 224, 226, 236, 268, 270, 314, 319 Vergleichscharakter 109, 111, 120 Verhältnis, s.a. relatio 14f, 23f, 26, 28f, 31f, 36f, 38, 45f, 47, 48, 49, 54, 56, 58, 63, 66, 71, 72, 73, 74, 75f, 80, 83, 92f,

95, 97, 98, 100, 113, 135, 136, 138, 139, 140, 141, 147, 149, 151f, 155, 165, 170, 178, 180, 194, 197, 204, 207, 209, 210, 219, 231, 234, 243, 248, 251, 263, 265, 270, 274, 278, 281, 287, 292, 294, 296f, 299, 301, 307, 310, 313, 316, 320, 322, 324, 326, 345, 348, 352, 353, 355 Verhältnisbestimmung 19, 80, 134, 178, 183, 197, 216, 221, 231, 243, 246, 288, 296, 310, 317, 321, 325–327, 338, 340 Verhalten 102, 104, 111, 270, 274, 359 Verkündigung 37 67f, 69, 72, 73, 122, 173, 180, 181f, 187, 220f, 252, 264, 266, 277, 282, 320f, 327f, 335, 337, 340, 347, 363f Vernunft 14, 95, 117, 138, 155, 156, 167, 192, 197, 219, 225, 235, 256, 263, 269, 281, 313, 323, 331 Vertrautheit 105, 125, 130, 190, 221 Verschriftlichung 154f, 165, 178–182, 185, 186f, 363 Versöhnung 61, 230, 245, 353, 354 Verstand, s.a. intellectus 98, 141, 171, 196, 211, 262, 263, 270, 280, 281–283, 295, 301, 302, 323 – Verhexung des Verstandes 93 Verstehen 11, 15, 16, 17, 19, 24, 25, 30, 39f, 41, 42, 48, 49, 51, 54f, 66, 68, 71, 72f, 74, 75, 79f, 80, 82, 85, 89, 93, 96– 104, 106–109, 111, 112, 113, 114–118, 120–122, 124, 126f, 129–132, 134, 136, 140–142, 145, 151, 154, 156, 158, 163– 166, 169, 171, 174f, 177f, 181, 185–187, 194f, 197, 198, 201, 205, 208, 211, 213f, 219, 221, 240, 255, 256, 260–262, 271f, 273, 281–283, 286, 293–296, 298, 300, 302–307, 317, 327f, 333–335, 336, 337, 339–344, 348, 351, 353f, 355, 356f, 358, 359, 360, 364 – applikatives 17 – dogmatisches 175 – existentielles 16 – geistiges 80 – geistliches 65f, 304 – historisches 16f, 33, 38, 54, 65, 80 – objektives 16, 30, 208 – passives 172, 240, 296, 305–307, 350, 359f – praktisches 131, 140, 142, 164, 165, 171, 184–186, 194f, 214, 240f, 261f, 282, 293f, 302–305, 307, 329, 335, 337, 342f, 350, 357–358, 359, 360, 361, 364

Sachregister – präpropositionales, vorreflexives 166, 302, 337 – propositionales 260, 294, 296, 302– 304, 337, 357, 359, 360, 365 – theologisches 174, 214, 240, 307, 339 – widerfahrendes 71, 163f, 165 Verstehensbegriff 16, 18, 19, 25, 27, 41, 54, 65, 68, 80, 120, 121, 131, 343 Verstehenstheorie 17 Vertrauen, s.a. fiducia 61, 163, 180, 186, 240, 259, 295–298, 333 Verwendungssituationen 90f, 97, 102, 105, 256 virtus, s.a. Tugend 283, 285, 292, 299, 323 vis/vires, s.a. Kraft 142, 159, 260, 269, 280, 283, 288, 290, 291, 294 vocatio, s.a. Berufung 24, 173, 243f, 246, 247, 251–255, 257, 268, 270f, 274, 293 Vollmacht 141, 228 Vollständigkeit der Schrift, s.a. sufficientia Scripturae 135, 137, 152, 154, 341 voluntas Dei 254, 275, 278 Vorgang 14, 73, 82, 86, 101, 103, 104, 105, 106, 120, 131, 165, 179, 199, 208, 219f, 280, 283, 312 – äußerer 105 – innerer 17, 105, 343 – mechanischer 103 – mentaler 104, 108 Vorherbestimmung 274, 278 Vorverständnis 42 Wachstum 50, 257, 265f, 274, 302 Weisheit 153, 163, 201f Welt 70, 72, 73, 80, 86, 87, 88, 125, 146, 149f, 180, 200, 229, 239, 274, 278, 319, 345, 374 Werk 12, 15, 17f, 20–24, 26, 40, 48, 54, 69, 73, 95, 122, 141, 161, 170, 178, 181, 198, 215, 226, 245, 250, 252, 271, 272f, 274, 277, 281, 284, 287, 296, 298f, 305, 308, 312f, 318, 327, 345, 347, 350, 359, 364 Widerfahrnis 68, 142, 145, 267, 284, 290, 294, 306f, 322, 335, 337, 341f, 344, 358, 359 Wiedergeburt, s.a. regeneratio 141f, 162, 246, 251, 255f, 269, 292, 305f, 324, 325, 341 Wille 139, 141, 241, 259, 266f, 269, 272, 275, 279, 281f, 285, 290, 295, 306, 323, 334, 359

397

– freier 251, 264f, 266f, 269f, 272, 279, 281, 283, 311 – unfreier 262, 270, 272–274, 278f, 283 – Gottes 141, 171, 210, 251, 254f – des Menschen, menschlicher 219, 266–271, 273f, 278f, 281f, 359 Wirklichkeit 25, 45f, 47f, 51, 67, 70, 87, 97, 121, 124, 184, 200, 242, 294, 297 – Gottes 47f, 51, 52, 55f, 352f Wirksamkeit 69, 71, 80, 83, 83, 148, 153f, 155, 165, 168, 170, 182, 184f, 201, 205, 206, 217, 219, 221, 231, 239f, 249, 251, 254, 257, 260f, 263, 264, 270, 282, 285, 290, 300, 302, 305, 307, 328, 341, 358 – extra usum 143–145 – der (Heiligen) Schrift, s.a. efficacia Scripturae 25, 45, 70f, 81, 131, 133, 135–139, 143–149, 151–153, 155–169, 172, 176–178, 185, 188f, 193, 194, 197, 202, 206, 213, 218, 220, 222, 224, 239, 241, 242f, 252, 293f, 300, 305, 316, 328, 332, 335f, 337f, 339–342, 344, 348, 349, 350, 353, 360f, 363, 366 – des (Heiligen) Geistes 56, 65, 143, 155, 166, 174, 200f, 230, 242, 246, 252, 262, 264, 271, 337, 340, 341, 363 – des Wortes 71, 155, 159, 161, 178, 181, 185f, 217, 223, 224, 230, 252, 261, 264, 277, 286, 332, 340 Wirkung 38, 45, 48, 61, 70, 79, 100, 117, 141, 143, 147, 148, 161, 182f, 200, 209, 219, 223, 246, 252, 258, 259, 262, 263, 268, 273, 277, 282, 284, 286f, 291, 293, 295, 297, 298, 299, 300, 302f, 304, 310, 311, 315, 324, 337, 339f, 344, 357 Wirkursache, s.a. causa (efficiens) 188, 193, 288, 291 Wissenschaft 12, 25, 30, 135, 308f, 312, 322, 343, 354, 365 – theoretische 242, 309f, 316, 336, 337, 338 – praktische 242, 307, 309, 311f, 314, 316, 317, 319, 321, 324 Wissenschaftsbegriff 17, 30, 322 Wittenberg 21, 22, 24, 247, 248, 260, 322, 325 Wittgensteininterpretation 40, 48, 83, 84 Wort Gottes 38, 59, 72, 133, 135, 139, 152, 154f, 159f, 173f, 177, 178–182, 185, 187, 191f, 193, 194f, 205f, 210, 217, 219f, 252, 266, 271, 282, 327, 329, 342, 345, 347, 360, 362, 363

398 Wortbedeutung 97, 107 Wortgestalt 123, 143, 185, 190, 194, 198, 202, 203, 221 Wortsprache 122, 131 Zahlenreihe 98–100, 102f, 107–109, 114, 117 Zeichengestalt 185 Zeit 11, 12, 14, 15, 21, 22, 23, 25, 34, 36, 46, 58, 67f, 70, 72–74, 80, 97, 101, 128, 134, 151, 178, 179, 180f, 182, 187, 189, 198, 200, 201, 204, 214, 215, 217, 220, 225, 229, 236f, 254f, 274, 278, 336, 340, 341, 349, 351, 354, 362, 366, Zeitbestimmung 71f, 74f, 76, 255, – christologische 72, 181, – pneumatologische 72–74, 76, 181, – theologische 73–75, 76, zerdehnte Sprechsituation 180, 363

Register Zeugin 148f, 219 Zeugnis 45–48, 51, 55, 60, 68, 72, 147– 150, 158f, 161, 219f, 253, 269, 300, 342, 344, 352, 360, 361, 363 – das innere Z. des Heiligen Geistes, s.a. testimonium Spiritus Sancti internum 150, 160, 199, 225, 277, 300 Zustand 99–101, 272, 279, 280, 293f – der Seele 99f, 106 Zweck, s.a. finis 15, 88, 92, 107, 113, 119, 163, 165, 179, 188, 197, 200, 201f, 207, 217, 242, 245, 248, 258, 272, 291, 297, 308–311, 313, 315, 317f, 320, 327, – der (Heiligen) Schrift, s.a. finis Scripturae 162, 189, 197, 206, 327 Zweckbegriff 317f Zweckbestimmung, s.a. finis 162, 309, 318f Zweckursache, s.a. finis 188, 311

Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Band 121: Thorsten Waap

Band 116: Jun-Hyung Jhi

Gottebenbildlichkeit und Identität

Das Heil in Jesus Christus bei Karl Rahner und in der Theologie der Befreiung

Zum Verhältnis von theologischer Anthropologie und Humanwissenschaft bei Karl Barth und Wolfhart Pannenberg 2008. 575 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56949-8

Band 120: Gunther Wenz

Hegels Freund und Schillers Beistand Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848) 2008. 235 Seiten mit 1 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-56348-9

Band 119: Kirsten Busch Nielsen / Ulrik Nissen / Christiane Tietz (Hg.)

Mysteries in the Theology of Dietrich Bonhoeffer A Copenhagen Bonhoeffer Symposium 2007. 186 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56347-2

Band 118: Stefan Holtmann

Karl Barth als Theologe der Neuzeit Studien zur kritischen Deutung seiner Theologie 2007. 444 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56346-5

2006. 245 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56341-0

Band 115: Alexander Heit

Versöhnte Vernunft Eine Studie zur systematischen Bedeutung des Rechtfertigungsgedankens für Kants Religionsphilosophie 2006. 288 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56343-4

Band 114: Johannes Hund

Das Wort ward Fleisch Eine systematisch-theologische Untersuchung zur Debatte um die Wittenberger Christologie und Abendmahlslehre in den Jahren 1567 bis 1574 2006. 745 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56344-1

Band 113: Jennifer Wasmuth

Der Protestantismus und die russische Theologie Zur Rezeption und Kritik des Protestantismus in den Zeitschriften der Geistlichen Akademien an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert

Band 117: Wieland Kastning

2007. 387 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56340-3

Morgenröte künftigen Lebens

Band 112: Miriam Rose

Das reformatorische Evangelium als Neubestimmung der Geschichte. Untersuchungen zu Martin Luthers Geschichts- und Wirklichkeitsverständnis 2008. 458 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56345-8

Fides caritate formata Das Verhältnis von Glaube und Liebe in der Summa Theologiae des Thomas von Aquin 2007. 303 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56342-7

Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Band 111: Christiane Tietz

Band 105:Christoph Klein

Freiheit zu sich selbst

Das grenzüberschreitende Gebet

Entfaltung eines christlichen Begriffs von Selbstannahme

Zugänge zum Beten in unserer Zeit

2005. 234 Seiten, gebunden SBN 978-3-525-56339-7

Mit einem Geleitwort von Christian Zippert 2004. 222 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56334-2

Band 110: Matthias Haudel

Band 104: Karsten Lehmkühler

Die Selbsterschließung des dreieinigen Gottes

Inhabitatio

Grundlage eines ökumenischen Offenbarungs-, Gottes- und Kirchenverständnisses

2004. 365 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56331-1

2006. 640 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56338-0

Band 103: Henning Theißen

Band 109: Martin Hailer

Gott und die Götzen Über Gottes Macht angesichts der lebensbestimmenden Mächte 2005. 430 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56336-6

Band 108: Max J. Suda

Die Ethik Martin Luthers 2006. 221 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56337-3

Bad 107: Markus Mühling

Versöhnendes Handeln – Handeln in Versöhnung Gottes Opfer an die Menschen 2005. 382 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56335-9

Band 106: Magnus Schlette

Die Selbst(er)findung des Neuen Menschen Zur Entstehung narrativer Identitätsmuster im Pietismus 2005. 384 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56333-5

Die Einwohnung Gottes im Menschen

Die evangelische Eschatologie und das Judentum Strukturprobleme der Konzeptionen seit Schleiermacher 2004. 328 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56256-7

Band 102: Dorette Seibert

Glaube, Erfahrung und Gemeinschaft Der junge Schleiermacher und Herrnhut 2003. 367 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56242-0

Band 101: Claus Schwambach

Rechtfertigungsgeschehen und Befreiungsprozess Die Eschatologien von Martin Luther und Leonardo Boff im kritischen Gespräch 2004. 397 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56239-0