Hebräische Sprache und Altes Testament: Festschrift für Georg Warmuth zum 65. Geburtstag 9783883095721, 3883095729

Dr. Georg Warmuth hat an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Christian- Albrechts-Universität in Kiel über Jahrze

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Hebräische Sprache und Altes Testament: Festschrift für Georg Warmuth zum 65. Geburtstag
 9783883095721, 3883095729

Table of contents :
Cover
Titelei
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Ulrich Hübner: Ex oriente lux: Das Alte Testament - die altorientalische Grundlegung der Bibel
Udo Rüterswörden: „Schöpfung“ im Alten Testament - Ein Beitrag zum Darwin-Jahr
Reinhold Liebers: Das Verständnis von Zeit und Lebenszeit im Spiegelder Gegenwart und der biblischen Schriften
Wolfgang Zwickel: Rahmenbedingungen für die Entstehung des Phönizischen und Hebräischen
Christian Rose: Die Gemination des Qoph im Biblischen Hebräisch
Markus Saur: Die literarhistorischen Hintergründe und die theologische Position des Predigerbuches
Martin Metzger: Weinstock und Tierfriede - Erwägungen zu einem Mosaik aus dem Libanon
Rüdiger Bartelmus: Nach dem Mythos vom Fall der Engel – vor dem Lied der (Liebes-) Lieder: philologisch-theologische Existenz heute
Hans-Christoph Goßmann: Theologische Dimensionen des Hebräischunterrichts
Hasko v. Bassi: Hebräische Bibel?
Bischof Dr. Hans Christian Knuth: Predigt zum 2. Advent 2005 in der Frauenkirche zu Dresden
Martin Ohst: Das Gottesurteil am Karmel - Eine Predigt im akademischen Gottesdienst
Wolfgang Nethöfel: Predigt am 13. 3. 2005 (Judika) in der Gutleut-Kirche Frankfurt am Main
Jörn Thiessen: Statt eines Nachwortes

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Hans-Christoph Goßmann Reinhold Liebers (Hrsg.)

Dr. Georg Warmuth hat an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der ChristianAlbrechts-Universität in Kiel über Jahrzehnte hinweg biblisches Hebräisch unterrichtet. Dabei hat er seinen Studentinnen und Studenten nicht nur die notwendigen Sprachkenntnisse vermittelt, um einen biblisch-hebräischen Text mit Hilfe der üblichen Hilfsmittel zu übersetzen, sondern darüber hinaus oft auch Freude an der Beschäftigung mit alttestamentlichen Texten in ihrer hebräischen Sprachgestalt. Viele der Pastorinnen und Pastoren, die bei ihm Hebräisch gelernt haben, greifen nicht nur zu einer Bibelübersetzung in deutscher Sprache, sondern auch zu den Biblia Hebraica, wenn es darum geht, sich einen Text aus dem Alten Testament z.B. für eine Predigt zu erschließen. Somit hat Dr. Georg Warmuth nicht nur als Wissenschaftler gewirkt, sondern als Hochschullehrer bei vielen Studentinnen und Studenten auch tragfähige Grundlagen für ihre spätere pfarramtliche Praxis gelegt. Dies hat in den Beiträgen dieser Festschrift, mit der ihn Freunde, Kollegen und Weggefährten anlässlich seines 65. Geburtstages ehren, seinen Niederschlag gefunden: Neben wissenschaftlichen Beiträgen enthält sie auch Predigten und eine Andacht.

ISBN 978-3-88309-572-1

H.-Chr. Goßmann / R. Liebers (Hrsg.) • Hebräische Sprache und Altes Testament

2

Hebräische Sprache und Altes Testament Festschrift für Georg Warmuth zum 65. Geburtstag

Verlag Traugott Bautz GmbH

Hebräische Sprache und Altes Testament

Jerusalemer Texte Schriften aus der Arbeit der Jerusalem-Akademie

herausgegeben von Hans-Christoph Goßmann

Band 2

Verlag Traugott Bautz

Hans-Christoph Goßmann; Reinhold Liebers (Hrsg.)

Hebräische Sprache und Altes Testament. Festschrift für Georg Warmuth zum 65. Geburtstag

Verlag Traugott Bautz

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Verlag Traugott Bautz GmbH 99734 Nordhausen 2010 ISBN 978-3-88309-572-1

 

Inhaltsverzeichnis

Hans-Christoph Goßmann / Reinhold Liebers Vorwort

11

Ulrich Hübner Ex oriente lux: Das Alte Testament - die altorientalische Grundlegung der Bibel

13

Udo Rüterswörden „Schöpfung“ im Alten Testament. Ein Beitrag zum Darwin-Jahr

31

Reinhold Liebers Das Verständnis von Zeit und Lebenszeit im Spiegel der Gegenwart und der biblischen Schriften

49

Wolfgang Zwickel Rahmenbedingungen für die Entstehung des Phönizischen und Hebräischen

73

Christian Rose Die Gemination des Qoph im Biblischen Hebräisch Zugleich Überlegungen zur Bestimmung auffälliger Formen der Verbalwurzel dqp

83

8 Markus Saur Die literarhistorischen Hintergründe und die theologische Position des Predigerbuches

125

Martin Metzger Weinstock und Tierfriede Erwägungen zu einem Mosaik aus dem Libanon

145

Rüdiger Bartelmus Nach dem Mythos vom Fall der Engel – vor dem Lied der (Liebes-) Lieder: philologisch-theologische Existenz heute

173

Hans-Christoph Goßmann Theologische Dimensionen des Hebräischunterrichts

197

Hasko von Bassi Hebräische Bibel?

207

Hans Christian Knuth Predigt über Jesaja 63,15 – 64,3 am 2. Advent 2005 in der Frauenkirche zu Dresden

211

Martin Ohst Das Gottesurteil am Karmel (1. Könige 18, 21-40) Eine Predigt im akademischen Gottesdienst

219

9

Wolfgang Nethöfel Predigt über 1. Mose 22,1-13 am 13. 3. 2005 (Judika) in der Gutleut-Kirche Frankfurt am Main

229

Jörn Thiessen Statt eines Nachwortes

233

Vorwort Wer sich entschließt, evangelische Theologie zu studieren, tut dies meist nicht aus der Motivation heraus, die hebräische, griechische sowie die lateinische Sprache zu erlernen. Letzteres wird in Kauf genommen, da es die Studienordnungen vorschreiben und der Sinn eines derartigen Spracherwerbs im Allgemeinen nicht in Frage gestellt wird. Daraus folgt jedoch nicht unbedingt, dass ein solches Sprachenlernen immer mit überschäumender Freude praktiziert wird. Diejenigen, die diese Sprachen den Studierenden nahe zu bringen haben, wissen ein Lied davon zu singen. Und so erfordert diese Aufgabe manchmal ein hohes Maß an Frustrationstoleranz. Georg Warmuth hat an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität in Kiel über Jahrzehnte hinweg biblisches Hebräisch unterrichtet. Dabei haben die Studentinnen und Studenten, die an seinen Hebräischkursen teilgenommen haben, nicht nur gelernt, einen biblisch-hebräischen Text mit Hilfe der üblichen Hilfsmittel zu übersetzen. Georg Warmuth hat es darüber hinaus verstanden, ihnen oftmals auch Freude an der Beschäftigung mit alttestamentlichen Texten in ihrer hebräischen Sprachgestalt zu vermitteln. Und so greifen etliche der Pastorinnen und Pastoren, die bei ihm Hebräisch gelernt haben, nicht nur zu einer Bibelübersetzung in deutscher Sprache, sondern auch zu den Biblia Hebraica, wenn es darum geht, sich einen Text aus dem Alten Testament, z.B. für eine Predigt, zu erschließen. Somit hat Georg Warmuth als Hochschullehrer bei vielen Studierenden ebenso tragfähige Grundlagen für ihre spätere pfarramtliche Praxis gelegt. Georg Warmuth hat jedoch nicht nur als Lehrer, sondern auch als Wissenschaftler gewirkt – und zwar sowohl als Theologe wie auch als Altphilologe. Unter seinen Veröffentlichungen sei an dieser Stelle nur auf seine beiden monographischen Abhandlungen hingewiesen: die theologische Studie „Das Mahnwort. Seine Bedeutung für die Verkündigung der vorexilischen Propheten Amos, Hosea, Micha, Jesaja und Jeremia“

12 (Frankfurt am Main / Bern 1976, 259 S.), mit der die von Jürgen Becker und Henning Graf Reventlow herausgegebene Buchreihe „Beiträge zur biblischen Exegese und Theologie“ eröffnet wurde, und die altphilologische Studie „Autobiographische Tierbilder bei Horaz“ (Altertumswissenschaftliche Texte und Studien, Bd. 22, Hildesheim / Zürich / New York 1992, 232 S.) sowie seine Artikel im Theologischen Wörterbuch zum Alten Testament (ThWAT). Beide Wirkungsbereiche von Georg Warmuth haben ihren Niederschlag in dieser Festschrift gefunden, mit der ihn Freunde, Kollegen und Weggefährten anlässlich seines 65. Geburtstages ehren. So enthält sie neben wissenschaftlichen Beiträgen auch Predigten und eine Andacht. Unser Dank gilt Frau Ulla Wieckhorst für ihre Mithilfe beim Korrekturlesen und Herrn Traugott Bautz für die intensive verlegerische Betreuung der Manuskripte. Hans-Christoph Goßmann Hamburg

Reinhold Liebers Neumünster

Ex oriente lux: Das Alte Testament - die altorientalische Grundlegung der Bibel

Ulrich Hübner

Das Alte Testament wird im Abendland vor allem als Teil der christlichen Bibel und damit als ureigene Literatur der jeweiligen Übersetzungssprache wahrgenommen1. Darüber wird manchmal vergessen, dass es sich seinem Ursprung nach um ein literarisches Produkt Asiens handelt, genauer um ein ebenso vorderasiatisches wie altorientalisches Literaturwerk. Als solches ist es nicht nur die am weitesten verbreitete orientalische Literatursammlung, sondern auch - im Verbund mit dem Neuen Testament - das am weitesten verbreitete Buch der Welt - in der ewigen Bestseller- bzw. Longsellerliste weit vor dem Qoran, weit vor den Märchen aus 1001-Nacht, weit vor Cervantes' Don Quijote de La Mancha (1605), weit vor Antoine de Saint-Exupery's „Le petit Prince“ (1943) und weit vor Karl Marx' „Das Kapital“ (1867-1894). Ohne das Alte Testament und seine Traditionen gäbe es weder Judentum noch Christentum

1

Georg Warmuth zum 65. Geburtstag als kleines Zeichen großen Dankes für 15 Jahre kollegialer und zuverlässiger Zusammenarbeit! Der Aufsatz geht auf Vorträge zurück, die ich in recht unterschiedlicher Gestalt am 27. Juni 2005 in der Ringvorlesung „Die andere Bibliothek: Meisterwerke asiatischer Literaturen“ des Zentrums für Asiatische und Afrikanische Studien an der Christian-Albrechts-Universität Kiel und am 26. Januar 2009 an der Evangelischen Akademie der Nordelbischen Ev.-Lutherischen Kirche in der Vortragsreihe „Was Sie schon immer über Theologie wissen wollten. Evangelische Einführungen für Wissbegierige“ in St. Nikolai zu Kiel gehalten habe. Der Vortragscharakter ist beibehalten, auf Anmerkungen und Literaturverzeichnis verzichtet. Die BibelZitate stammen aus der revidierten Fassung der Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers von 1984.

14 noch Islam. Ohne das Alte Testament wären weder der Talmud noch das Neue Testament noch der Qoran entstanden. Unsere Sprache und damit unser Denken und unsere Mentalität sind bis heute - bewusst oder unbewusst - vom Alten Testament mitgeprägt. Einige wenige ausgewählte Beispiele - geflügelte Worte - aus unserer alttestamentlich geprägten Alltagssprache müssen genügen. Nota bene!: Tohuwabohu (Gen. 1,1-3), Adamsapfel und -kostüm (Gen. 2-3), Feigenblätter (Gen. 3,17), im Schweiße deines Angesichts (Gen. 3,19), Kainszeichen (Gen. 4,13-16), alt wie Methusalem (Gen. 5,25), '(nach mir) die Sintflut' (Gen. 6-8), babylonische Türme (Gen. 11), Linsengerichte (Gen. 25,30f), der wahre Jakob (Gen. 27), ein Land voller Milch und Honig (Ex. 3,7f; Num. 13,27 u.ö.), die Fleischtöpfe Ägyptens (Ex. 16,3), Auge um Auge, Zahn um Zahn (Ex. 21,24; Lev. 24,20; Dtn 19,21; vgl. Matth. 5,38), der Tanz ums goldene Kalb (Ex. 32 u.ö.), Sündenböcke (Lev. 4), alle Jubeljahre (Lev. 25,8), die Leviten lesen (nämlich das Buch Leviticus), Denkzettel (Dtn 6,8; 11,20), der Mensch lebt nicht vom Brot allein (Dtn 8,3), im Dunkeln tappen (Dtn 28,28f; Jes. 59,10), wie seinen Augapfel hüten (Dtn 32,10; Psalm 17,8; Prov. 7,2), „Von Bösen kommt Böses“ (1.Sam. 24,14), kein Haar krümmen (1.Sam. 14,45; 2.Sam. 14,11 u.ö.), alt und grau werden (1.Sam. 12,2 u.ö.), salomonische Urteile (1.Kön. 3), „die oberen Zehntausend“ (2.Kön. 24,14.16), Koloss auf tönernen Füßen (Dan. 2), Menetekel (Dan. 5,25-28), gewogen und zu leicht befunden (Dan. 5,27), Steine des Anstoßes (Jes. 8,14), als Lückenbüßer herhalten (Jes. 58,12), Gift und Galle (Hiob 20,14-25), meschugge (2.Kön. 9,11; Hos. 9,7; Jer. 29,26; u.ö.), Hiobsbotschaften (Hiob 1-2) und Jeremiaden (Jer. 9. 15. 20,7ff u.ö.; Threni 1-5), Mohrenwäsche (Jer. 13,23), „Wie die Mutter, so die Tochter“ (Ez. 16,44), in Sack und Asche gehen (Jes. 58,5; Esther 4,1 u.ö.), Schwerter zu Pflugscharen (Micha 4,3), ellenlange Briefe (Sach. 5,2), „die Haare stehen zu Berge“ (Hiob 4,15; Sir. 27,19), sich die Haare raufen (Zusätze zu Esther 3,2), Lästermaul (Prov. 4,24), „unrecht Gut gedeihet nicht“ (Prov. 10,2), „Hochmut kommt vor dem Fall“ (Prov. 16,18), „auf Herz und Nieren prüfen“

15 (Psalm 7,10 u.ö.), an die Nieren gehen (Psalm 72,21; Hiob 16,13; Threni 3,13), das Gesetz der Meder und Perser (Ester 1,19; Dan. 6,9.13.16), „Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein“ (Psalm 7,16; 26,27; Sir. 27,29), „den Seinen gibt es der HERR im Schlaf“ (Psalm 127,2), unter die Fittiche nehmen (Psalm 61,5f; 91,4). Das Alte Testament ist also - zusammen mit dem Neuen Testament - das am häufigsten übersetzte Buch der Welt. Keines ist häufiger abgeschrieben und gedruckt worden. Das Alte Testament nimmt einen zentralen Platz in der Weltliteratur ein, insbesondere in der orientalischen und abendländischen Literaturgeschichte. Statistisch gesehen ist das Alte Testament - wieder im Verbund mit dem Neuen Testament - das Lieblingsbuch der Europäer, auch der Deutschen. Doch daraus ergibt sich eine der vielen Paradoxien, von denen das Alte und seine nachgeborene Halbschwester, das Neue Testament, gekennzeichnet sind: Zumindest in dem sich für säkularisiert und aufgeklärt haltenden Mitteleuropa, dem Kontinent des religiösen Ignoranz-Niveaus, ist das am meisten verbreitete, am meisten gelesene und in die meisten Sprachen der Welt übersetzte Buch ein weithin unbekanntes Buch. Dieses geistige wie geistliche Armutszeugnis mitteleuropäischer Lesekultur hat immerhin etwas Gutes: Falls man zur Lektüre des Alten Testaments greifen sollte, gibt es kaum noch vorgegebene Autorität des Verstehens mehr, muss man beim Lesen selbst reflektieren, das Gelesene eigenständig bedenken; dessen Qualität und Plausibilität sind nicht mehr autoritativ vorgegeben, sondern erweisen sich je und je neu durch die eigene Lektüre - oder auch nicht. Das fortgeschrittene Alter des Alten Testaments erschwert seine Verstehensmöglichkeiten. Obwohl kein anderes Buch der Welt seit so langer Zeit weltweit so intensiv erforscht wurde und wird wie das Alte Testament, sind noch viele Fragen und Probleme ungelöst. Den garstigen historischen Graben zu überwinden, bedarf es darum gelegentlich eines Experten. „Verstehst du auch, was du liest?“, fragte Philippus laut Apg. 8,26-40 den Kämmerer aus dem Morgenland, einen hohen Beamten der äthiopischen Königin Kandake, der sich mit der Lektüre des Propheten

16 Jesaja schwer tat und daraufhin antwortete: „Wie kann ich, wenn mich niemand anleitet?“. Die Hilfe, die Philippus anzubieten hatte, war offenbar erfolgreich, allerdings methodisch hochproblematisch, denn er hatte empfohlen, den vorchristlichen Propheten christologisch zu verstehen. Da ist und bleibt es nützlich und gut, sich ohne sacrificium intellectus um ein Verständnis der Bibeltexte, sei es Alten oder Neuen Testamentes, zu bemühen. Darüber hinaus gilt für alle Texte, so auch und vor allem für die Bibel, nach wie vor die hermeneutische Weisheit des römischen Autors Terentianus Maurus: „pro captu lectoris habent sua fata libelli“ (Terentianus, de syllabis 1286). Wenn ich im Folgenden versuche, einen kurzen Einblick in das orientalische Literaturwerk „Altes Testament“ zu geben, dann gehe ich, wie es für Bibelwissenschaftler selbstverständlich ist, historisch vor und enthalte mich typologischer, tiefenpsychologischer, fundamentalistischer und ähnlicher Zugänge. Andere wichtige Nutzungs- (und Missbrauchs)möglichkeiten kann ich hier nur kurz nennen: den gottesdienstlichliturgischen Gebrauch in Synagoge und Kirche, den privaten, individuellen geistlichen Gebrauch als Gebet- und Trostbuch, die bildungsbürgerlich motivierte Lektüre, die rezeptionsgeschichtliche Aufnahme und Verfremdung wie z.B. im Qoran und im Buch Mormon oder den politischen Missbrauch zur Legitimation von Krieg, Landraub, Okkupation, Annexion und systematischer Unterdrückung. Das Alte Testament ist seiner Herkunft nach ein vor-, außer- bzw. nichtchristliches, deshalb aber kein unchristliches Literaturwerk. Den frühen Christen galt es - vor allem in seiner griechischen Übersetzung, der Septuaginta, aber auch in seinen aramäischen Übersetzungen - als heilige Schrift. Damit wurde es Grundlage und Teil der christlichen Bibel und insofern auch ein christliches Buch. Nimmt man das Alte Testament aber als vorchristliches Literaturwerk ernst, kann und darf man getrost auf dessen christliche Lektüre verzichten und sich auf einen historischalttestamentlichen, diachronen wie synchronen Zugang konzentrieren. Das Alte Testament ist ohne das Neue Testament verstehbar, das Neue

17 nicht ohne das Alte. Würde man aus dem Neuen Testament alle Stellen streichen, die das Alte zitieren, paraphrasieren oder motivlich auf es anspielen, würde es zu einem Torso schrumpfen, dem das Rückgrat fehlt. Im Übrigen umfasst das Alte Testament quantitativ je nach Ausgabe und kanonischem Umfang (mit oder ohne Apokryphen) rund 2/3 - 3/4 der gesamten christlichen Bibel. Weniger ein Lese- als vielmehr ein Vorlesebzw. Hörbuch, hätte auch Scheherazade hunderte von Nächten gebraucht, bis sie das gesamte Alte Testament vorgetragen hätte.

Benennungen, Umfänge und Sprachen des Alten Testaments

Das Alte Testament trägt die Bezeichnung „Altes Testament“, weil es sich dabei um den Komplementärbegriff zum Neuen Testament handelt. Altes und Neues Testament bilden zusammen „die Schrift(en)“, „das Buch der Bücher“, das Buch schlechthin, die Bibel. In Zeiten politischer correctness, meist identisch mit intellektueller Unredlichkeit, spricht man heute gerne und unzutreffend statt vom Alten Testament von der „Hebräischen Bibel“, obwohl das Alte Testament zweisprachig ist, „hebräisch“ (ein standardisiertes Judäisch als Literatursprache) und aramäisch (Dan. 2,4b-7,28; Esra 4,8-6,18; 7,12-26; Jer. 31,37). Wer dem Zeitgeist noch mehr huldigen will, spricht vom Alten Testament als dem „Ersten“ und vom Neuen Testament als dem „Zweiten Testament“, als sei durch diese Bezeichnungen irgendetwas Nennenswertes gewonnen. Der neueste Schrei in meiner Zunft ist die Doppelbenennung „Das Alte, Erste Testament“ oder auch „Älteres“ und „Jüngeres“ Testament. Angesichts solch verquaster Pseudointellektualität lege ich Wert darauf, Alttestamentler und kein „Ersttestamentler“ oder schon gar kein „Alt- und Ersttestamentler“ oder „Älterestestamentler“ zu sein.

18 Eine andere Benennung ist das hebräische Kunstwort TaNaK, das sich aus den Anfangsbuchstaben der drei großen kanonischen Bestandteile des hebräisch-aramäischen Alten Testaments zusammensetzt: T - N - K = Tora (5 Bücher Mose), Nebi'im (Propheten), Ketubim (übrige Schriften). In der Bezeichnung TaNaK sind die Apokryphen, also die deuterokanonischen bzw. zwischentestamentarischen Schriften des Judentums wie z.B. Sirach, Judit, Tobit, 1.-2. Makkabäer oder Sapientia Salomonis nicht eingeschlossen. Sie sind jedoch - jenseits religiöser oder konfessioneller Einteilungen - aus literatur- wie rezeptionsgeschichtlichen Gründen zum Alten Testament zu zählen. So gesehen ist das Alte Testament ein dreisprachiges - hebräisch-aramäisch-griechisches - Buch. Textgeschichtlich gesehen gibt es keine Originalhandschriften im Sinne von Autoren-Autographen. Schon die ältesten erhaltenen Handschriften wie die aus Qumran sind Abschriften der soundsovielsten Abschrift der soundsovielsten Abschrift ... - wie weit entfernt die ersten erhaltenen Manuskripte vom hypothetischen Original bzw. der Erstverschriftung sind, weiß niemand. Die ältesten Handschriften überliefern Fragmente des Alten Testaments in unvokalisierten Texten zumeist in hebräischer Quadratschrift. Die älteste Handschrift, die das Alte Testament vollständig überliefert, ist der Codex Petrogradensis (Leningradensis) aus dem Jahr 1008 n.Chr. - ein masoretischer Text, also ein vokalisierter, akzentuierter und kommentierter Text des frühmittelalterlichen palästinischen Judentums. Erste (Teil-)Drucke des hebräisch-aramäischen Alten Testaments entstanden im 15. Jahrhundert, die erste Gesamtausgabe 1488 in Soncino (Prov. Cremona), die erste vollständig gedruckte Masora als sog. Bombergiana 1524/5 in Venedig.

19 Alter und Herkunft des Alten Testaments

Über das Alter der einzelnen Schriften innerhalb des Alten Testaments gibt es in der Fachwelt erhebliche Datierungsunterschiede. Als weitgehend gesichert kann der maximale Datierungsspielraum gelten: Aus Gründen der Schriftgeschichte und der Staatsentwicklung in den eisenzeitlichen Kleinstaaten Juda und Israel kann man kaum einen Text vor das 10. / 9. Jh. v.Chr. zurückdatieren, allenfalls unter der Hypothese einer mündlichen Vorgeschichte ein noch höheres Alter vermuten. Nach oben steht die Zeit des Hellenismus, genauer des 2. Jh.s v.Chr. bzw. die Zeit der Hasmonäer (Makkabäer) fest, in der z.B. das Daniel-Buch abgeschlossen wurde und Schriften wie z.B. Sirach oder 1.-2. Makkabäer entstanden sind. Insofern ist das Alte Testament ein altorientalisches und in seiner Endgestalt zugleich ein hellenistisches Buch. Die Literaturgeschichte des Alten Testaments spiegelt also die Zeiten staatlicher und provinzialer Existenz der politischen Gebilde Israel und Juda und darüber hinaus die Existenz jüdischer Diaspora-Gemeinden außerhalb Palästina. Das Alte Testament ist ein Literaturwerk, das im 1. Jahrtausend v.Chr. überwiegend unter der Vorherrschaft von Assyrern, Babyloniern, Persern, hellenistischen Diadochen und unter den Hasmonäern verfasst, redigiert und gesammelt worden ist. Die Sammlung einzelner Schriften erfolgte in Etappen, die in der Kanonbildung sichtbar werden: Die Tora (5 Bücher Mose oder der Pentateuch) dürfte um 400 v.Chr. weitgehend abgeschlossen gewesen sein, die Nebi'im („Propheten“) um 200 v.Chr. [unter Aufnahme älterer Sammlungen wie der frühen, vorderen Nebi'im (Josua - 2.Könige) und der späteren hinteren Nebi'im (Jesaja - Maleachi)]. Im 2. Jh. v.Chr. kam - von den deuterokanonischen Schriften abgesehen - die Sammlung der Ketubim (übrigen Schriften) hinzu, also der jüngste Teil, der am längsten umstritten blieb. Vor allem das Hohelied, Qohelet und Ester brauchten Jahrhunderte, bis sie unwiderruflich in den jüdischen wie christlichen Kanon übernommen

20 worden waren (vgl. z.B. mJad 3,5; tJad 2,13f; bMeg 7a). So war laut Origines (GCS 33, 62) bzw. Theodor von Mopsuestia (PG 66, 699f) Juden die Lektüre des Hohenliedes erst ab dem Erwachsenenalter erlaubt bzw. seine öffentliche Lesung bei Juden und Christen nicht üblich. Herkunftsregion der meisten Texte ist Palästina, und das heißt wohl konkret neben Israel vor allem Juda, noch genauer die Stadt Jerusalem. Andere Texte stammen aus der ägyptischen (z.B. Prov. 22,17-23,11; 24,10.12) und der östlichen Diaspora in Mesopotamien und dem Iran (z.B. Daniel, Ester, Ezechiel, Tobit). Dem entspricht in etwa auch der geographische Horizont des Alten Testaments, der über seine Herkunftsregionen hinausgeht: Er reicht im Westen bis auf die Iberische Halbinsel (Tarschisch Jes. 2,16; Jer. 10,9; Ez. 27,12.25; Jona 1,3; 4,2 u.ö.), im Norden nach Kleinasien (Ararat, Sardes, Jawan, Gog / Magog), im Süden bis nach Südarabien (Saba) und über Ägypten hinaus in den heutigen Sudan (Kusch), im Osten nach Mesopotamien und Iran bis nach Indien (Ester 1,1; 8,9). Im hebräisch-aramäischen Alten Testament sind Lehnworte vor allem aus dem Akkadischen, Ägyptischen, Persischen, DravidischTamilischen, Griechischen und Arabischen überliefert. Einige Texte sind mehr oder weniger stark von altorientalischen Texten beeinflusst, so z.B. die Sintfluterzählung vom Gilgamesch-Epos. Ein Text ist seinem Ursprung nach ein ägyptischer Text: Prov. 22,17-23,11; 24,10.12 sind aus der Weisheit des Amenemope übernommen und bearbeitet. Das Alte Testament ist Teil der altorientalischen Literaturgeschichte und als solches gemeinorientalisch und zugleich einzigartig. Die meisten alttestamentlichen Texte wurden in Palästina nicht nur verfasst, sondern auch gesammelt, - in einer Kulturlandschaft, die wenig Bodenschätze hat, - in der sich mit Israeliten und Judäern zwei agrarisch basierte, ökonomisch prekäre, patriarchal orientierte und tribal organisierte Bergvölker

21 kaum mehr als 200 bzw. 300 Jahre in zwei abgelegenen monarchischen Zwergstaaten zusammenfinden konnten, - in der es keine Tempeltürme und hängenden Gärten wie in Mesopotamien, keine Pyramiden wie in Ägypten oder andere Weltwunder und Monumentaldenkmäler wie in Griechenland und Kleinasien gab, - in einer Kulturlandschaft, die niemals ein Weltreich oder Imperium herausgebildet hat und die zum überwiegenden Teil seiner Geschichte Provinz auswärtiger Großmächte war. Und doch hat diese multireligiöse, multikulturelle Region alle die sie beherrschenden Imperien in dem Sinn überdauert und überholt, als aus ihr Literatur stammt, die auch noch Jahrtausende später gelesen, rezitiert und rezipiert wird. Tag für Tag, insbesondere Sabbat für Sabbat und Sonntag für Sonntag kommt das Alte Testament weltweit und millionenfach zur Sprache. In den meisten christlichen Kirchen kommt es aber, gemessen an seiner grundlegenden Bedeutung und seinem Umfang, zu wenig zur Geltung. Wer dagegen liest und kennt heute noch - außer den Fachleuten und einigen Bildungsbeflissenen - das Gilgamesch-Epos oder die Sonnenhymnen Echnatons? Bemerkenswert ist auch der Unterschied zu den Keilschriftliteraturen Mesopotamiens: Dort können kaum mehr als 2-3 % der erhaltenen Texte zur „Literatur“ gezählt werden. In Israel / Juda sind mit dem Alten Testament (und den Qumran-Texten) der absolute Großteil der erhaltenen Texte der „Literatur“ zuzurechnen. Erstaunlich und bemerkenswert ist auch, dass nur ein einziges der zahlreichen Völker Palästinas - nämlich die Judäer / (Israeliten) und nicht z.B. Ammoniter, Aramäer, Edomiter, Moabiter, Philister, Phönizier oder präislamische Araber - die massiven Eingriffe und Einflussnahmen der Großmächte so deuteten, dass sie ihre Identität auch ohne eigenen Staat, ohne Königtum, ohne Tempel und auch in der Diaspora beibehalten konnten. Indem Judäer ihre religiösen und historischen Traditionen sammelten, pflegten und wandelten, überlebten sie als ethnisch(-religiös)es

22 Kollektiv bis heute. Wesentliche Grundlage dafür war das (im Entstehen befindliche) Alte Testament - insbesondere die Tora (5 Bücher Mose), das bzw. die zur mobilen, transportablen und damit allgegenwärtigen und unverlierbaren geistigen Schatzkiste bzw. Heiligtum wurde.

Audiatur et altera pars Das Alte Testament ist kein Buch, jedenfalls nicht im Sinne einer Monographie, sondern eine Auswahlbibliothek, eine Anthologie, d.h. eine Bücher-Sammlung höchst unterschiedlicher Texte verschiedener Verfasser aus unterschiedlichen Epochen und Regionen. Die meist anonymen oder pseudonymen Verfasser und Redaktoren stammten aus der alphabetisierten und literaten Oberschicht, die kaum mehr als 5-10 % der Gesamtgesellschaft ausmachte, und rekrutierten sich hauptsächlich aus Schriftgelehrten, Priestern und anderem Kultpersonal sowie aus Beamten, sei es, dass sie als freie Bürger oder z.B. Deportierte ihr Auskommen hatten. Insofern ist es kein Wunder, dass in ihm differente, gar sich gegenseitig ausschließende Ansichten aufeinander treffen. Da das im Entstehen befindliche Alte Testament verschiedenen redaktionellen Überarbeitungen ausgesetzt gewesen war, wäre es ein leichtes gewesen, seine Pluriformität zu minimieren und eine möglichst weitgehende Uniformität zu erreichen. Der redaktionelle Verzicht auf Uniformität war kein Zufall, sondern Programm, nämlich die Koexistenz differenter und konträrer Meinungen. Dahinter steht ein grundlegendes und charakteristisches Merkmal des Alten Testaments als religiöse Literatursammlung: Das Alte Testament ist eine in sich hochgradig dialogische Textsammlung. Viele Meinungen gelten besser als eine einzige: Audiatur et altera pars. Zugleich besteht das Alte Testament auch aus oppositionellen Texten, die z.B. das jeweilige Königtum, die Priesterschaft oder die Oberschicht massiv kritisieren.

23 Die begrenzte Meinungsvielfalt setzt eine begrenzte Meinungstoleranz voraus. In sich widersprüchlich und heterogen bildet das Alte Testament eine kontrastive Einheit in der Vielfalt, ohne beliebig zu sein. Kern seiner vitalen Religiosität ist die ständige Auseinandersetzung mit den eigenen Traditionen. Die Texte des Alten Testaments zeichnen sich durch ein hohes Maß an Intertextualität und Selbstreferentialität aus. Insofern ist das Alte Testament ein theologischer Diskurs, der seine Leser anregt, sich diesem Dialog zu stellen und ihn weiterzuführen. Das Alte Testament ringt um eine Annäherung dessen, was über Gott und Menschen aussagbar ist. Ob alle alttestamentlichen Autoren glücklich wären, wenn sie wüssten, mit wem sie - ohne von den späteren Sammlern und Redaktoren um Erlaubnis gefragt worden zu sein - zwischen zwei Buchdeckeln gesteckt bzw. in Buchrollen eingerollt worden sind, ist mehr als fraglich. Immer wieder aufs Neue wird im Alten Testament um Fragen wie Partikularismus und Universalismus gerungen, die Notwendigkeit und die Freiräume von Observanz, Orthodoxie und Orthopraxie diskutiert und debattiert. Polyphonie und Pluralität in den Grenzen von Monolatrie und Monotheismus sind für das Alte Testament unverzichtbare Säulen lebbarer, praktizierbarer Frömmigkeit. Die so beschriebene interne Toleranz hat durchaus ihre Grenzen. Nach außen ist die Abgrenzung meist scharf und wenig tolerant. Dazu gehören nicht nur seine stellenweise penetranten Belehrungen und aufdringlichen Paränesen, sondern auch seine dunklen Seiten, vor allem sein gewalttätiger Ethnozentrismus und seine phasenweise erbarmungslose und diffamierende Eiferei und Hetzerei gegen Fremdreligionen und deren Anhänger. Seine weitgehende Humorlosigkeit ist dagegen eher typisch für religiöse kanonische Schriften, weniger sein gelegentlicher schwarze Humor, seine Satiren und Sarkasmen. So bleibt das Alte Testament eine Zumutung, ein ambivalenter, heilsamer wie schwärender Stachel im Fleisch von Juden, Christen und Muslimen, zugleich ein Buch, das notwendig bleibt gegen die Verwahrlosung der

24 Sprache, den faden Schein selbstgerechter Frömmigkeit und die aufgeblasene Hohlheit pseudo-aufklärerischer Intellektualität. Einige subjektive Leseempfehlungen

Da es eher unwahrscheinlich ist, dass jemand, der kein Bibelwissenschaftler ist, das Alte Testament von vorne bis hinten liest, und dies für Nichtbibelwissenschaftler möglicherweise auch un- oder gar kontraproduktiv sein könnte, ist die Lektüre des Alten Testaments in einer gepflegten Textauswahl angebrachter. Das Alte Testament eignet sich für Kinder wie für Erwachsene, auch wenn nicht alles unbedingt als jugendfrei gelten kann. Es eignet sich für die, die schon fromm sind oder sich dafür halten, ebenso wie für Skeptiker und Zweifler, die sich eher mit Qohelet geistesverwandt fühlen dürften: „So geh hin und iss dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dies dein Tun hat Gott schon längst gefallen. Lass deine Kleider immer weiß sein und lass deinem Haupt Salbe nicht mangeln. Genieße das Leben mit deiner Frau, die du lieb hast, solange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat. Denn das ist dein Teil am Leben und bei deiner Mühe, mit der du dich mühst unter der Sonne. Alles, was dir vor die Hände kommt, es zu tun mit deiner Kraft, das tu; denn bei den Toten, zu denen du fahren wirst, gibt es weder Tun noch Denken, weder Erkenntnis noch Weisheit“ (Qoh. 9,7-10). Die Motive, aus welchen man zur Lektüre des Alten Testaments greifen könnte, dürfen verschieden sein: 1. Sofern man Bildung inhaltlich beschreiben kann, muss der, der von sich behaupten will, gebildet zu sein, das Alte Testament auswahlweise gelesen haben. Solange er das nicht getan hat, kann er schlechterdings

25 nicht als Gebildeter bezeichnet werden. Man muss das Alte Testament nicht lieben, aber es wenigstens in seinen wichtigsten Abschnitten kennen. Auch hier gilt: „Denn wo viel Weisheit ist, da ist viel Grämen; und wer viel lernt, der muss viel leiden“ (Qoh. 1,18). 2. Wer den Klassiker orientalische Literatur schlechthin lesen will, ist mit dem Alten Testament an der richtigen Quelle: Namentlich der eurozentrierte Leser kann sich ins Morgenland entführen lassen, und es könnte ihm dabei dämmern, wie orientalisch die abendländische Kultur ist, seit die wichtigste orientalische Literatursammlung zur wichtigsten abendländischen geworden war. Er kann sich von seiner dem Leben zugewandten Sicht, seiner Welthaftigkeit, Erdverbundenheit, Lebensnähe, Lebendigkeit und Konkretheit inspirieren lassen. - Er kann sich den exotischen Reizen des provinziellen Palästinas aussetzen, - er kann trockene Archivtexte voller Historizität versuchen zu genießen (z.B. Josua 14-21), - sich in die Märchenwelt gottesfürchtiger Eselinnen versetzen lassen (Num. 22-24), - sich an einem Mord auf dem Abort (Ri. 3) oder anderen mörderischen Anschlägen gegen Okkupanten und Unterdrücker (Ex. 2,11-15; Judit 13) ergötzen, - sich mittels kleiner Schauergeschichten unterhalten lassen wie jener, nach der 24 Knaben aus Bethel von zwei Bären aufgefressen wurden, nachdem sie den Propheten Elisa als „Glatzkopf“ verspottet hatten (2.Kön. 2,23f), - sich dem Zauber hebräischer Spruchweisheit hingeben (z.B. „Tote Fliegen verderben gute Salben“, Qoh. 10,1), - sich von hebräischer Poesie in den Bann ziehen lassen (z.B. „Eine schöne Frau ohne Zucht ist wie eine Sau mit einem goldenen Ring in der Nase“, Prov. 11,22),

26 - sich über Legitimierung und Beschreibung des Völkermords an den Kanaanäern (v.a. Dtn 7,1ff; Josua 1-12) erregen - oder sich über das drastische archaische Strafrecht wie z.B. die Steinigung Homosexueller echauffieren (Lev. 18,22; 20,13). 3. Wer aus geistlichen Gründen lesen will, findet hier zu allen wesentlichen Lebensphasen wie Geburt, Kindheit, Heirat, Ehe, Kindererziehung, Altwerden, Sterben und Tod grundlegende Einsichten und reiche Nahrung. Vielleicht ist es nützlich, die Lektüre des Alten Testaments mit in ihrer Länge nach überschaubaren Texten zu beginnen. Dazu bieten sich die Simson-Erzählung (Ri. 13-16), das Ruth- und das Jona-Büchlein an. Bei letzterem sei erwachsenen Lesern und solchen, die sich dafür halten, der Rat gegeben, dass es wenig Sinn macht, - zu Recht - an der Existenz eines Menschen verschlingenden Fisches im Mittelmeer zu zweifeln und sich - zu Unrecht - ob solcher Kleinigkeiten über die Erzählung als solcher zu mokieren. Jedes Kind im Kindergottesdienst ist hier weiter als sämtliche verbildeten Erwachsenen, deren Rationalität irrationale Züge hat: Die Wahrheit eines Textes hängt nicht an seiner zoologischen oder historischen Richtigkeit. - Wer sich an längere Texte wagen will, kann z.B. zur Josephsgeschichte (Gen. 37-50) und zu ausgewählten Kapiteln aus dem Hiob-Buch greifen (Hiob 1-3. 38-42); - wer mehr an sex and crime in ancient Palestine interessiert ist, möge zur David-Batseba-Geschichte (2.Sam. 10-12) und ähnlichen stories (z.B. Gen. 34; 2.Sam. 13; 1.Kön. 21) greifen; - wer eine Reise ins sog. Heilige Land macht, sollte das Alte Testament als begleitende Reiselektüre dabei haben und vor Ort gezielt und kritisch nachschlagen; - wer historisch begründet und substantiell ethisch reflektieren will, sollte sich die 10 Gebote und das sog. Doppelgebot der Liebe in Erinnerung rufen: „Du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen,

27 von ganzer Seele und mit ganzer Kraft!“ (Dtn 6,5) und „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“ (Lev. 19,18), am besten im Vergleich zwischen hebräischem Text und griechischer Übersetzung. Und er sollte dabei auch die Goldene Regel nicht vergessen: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“ (Tobit 4,16; vgl. Matth. 7,2). Wer der Liebe und Zärtlichkeit bedürftig ist, erfreue sich insbesondere am Hohenlied. Jüngeren sei dabei ganz praktisch empfohlen, - ich rede aus Erfahrung - , der Frau, der man näher kommen will, doch einfach ein paar Verse aus dem Hohenlied ins Poesie-Album zu schreiben, weil es eigentlich nie missverständlich sein kann, in Poesie-Alben die heilige Schrift zu zitieren: „Wie schön und lieblich bist du, du Liebe voller Wonne! Dein Wuchs ist hoch wie ein Palmbaum, deine Brüste gleichen den Weintrauben ...“ (Hoheslied 7,7f). Für Frauen sei auch - der Gleichberechtigung wegen - das entsprechende Pendant zitiert: „Mein Freund ist weiß und rot, auserkoren unter vielen Tausenden. Sein Haupt ist feines Gold. Seine Locken sind kraus, schwarz wie ein Rabe. Seine Augen sind wie Tauben an den Wasserbächen, sie baden in Milch und sitzen an reichen Wassern. Seine Wangen sind wie Balsambeete, in denen Gewürzkräuter wachsen. Seine Lippen sind wie Lilien, die von fließender Myrrhe triefen. Seine Finger sind wie goldene Stäbe, mit Türkisen. Sein Leib ist reines Elfenbein, mit Saphiren beschmückt. Seine Beine sind Marmorsäulen, gegründet auf goldenen Füßen. Seine Gestalt ist wie der Libanon, auserwählt wie Zedern. Sein Mund ist süß, und alles an ihm ist lieblich. So ist mein Freund, ja, mein Freund ist so, ihr Töchter Jerusalems!“ (Hoheslied 5,14-16). Wer seine Trauer und Verzweiflung gegenüber Gott ausdrücken will, möge zu den entsprechenden Psalmen greifen. Sie sind aus gutem Grund der am häufigsten benutzte Teil des Alten Testaments - schon unter den Handschriften in Qumran bilden die Psalmen-Manuskripte die zahlreichsten alttestamentlichen Manuskripte:

28 „Wie lange, HERR, wie lange willst du mich so ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir? Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele und mich ängstigen in meinem Herzen täglich? Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben? Schaue doch und erhöre mich, HERR, mein Gott! Erleuchte meine Augen, dass ich nicht im Tode entschlafe, dass nicht mein Feind sich rühme, er sei meiner mächtig geworden, und meine Widersacher sich freuen, dass ich wanke. Ich aber traue darauf, dass du so gnädig bist; mein Herz freut sich, dass du so gerne hilfst. Ich will dem HERRN singen, dass er so wohl an mir tut“ (Psalm 13). Oder er mag mit Hiob klagen: „Warum bin ich nicht gestorben bei meiner Geburt? Warum bin ich nicht umgekommen, als ich aus dem Mutterleib kam? Warum hat man mich auf den Schoß genommen? Warum bin ich an den Brüsten gestillt? Dann läge ich da und wäre still, dann schliefe ich und hätte Ruhe mit den Königen und Ratsherren auf Erden, die sich Grüfte erbauten, oder mit den Fürsten, die Gold hatten und deren Häuser voll Silber waren; wie eine Fehlgeburt, die man verscharrt hat, hätte ich nie gelebt, wie Kinder, die das Licht nie gesehen haben“ (Hiob 3,11-16). Wer seine Dankbarkeit für sein Leben und dessen Umstände, wie immer sie sein mögen, gegenüber Gott zum Ausdruck bringen möchte, kann sich von entsprechenden Psalmen leiten lassen: „Ich will den HERRN loben allezeit; sein Lob soll immerdar in meinem Munde sein. Meine Seele soll sich rühmen des HERRN, dass es die Elenden hören und sich freuen. Preiset mit mir den HERRN und lasst uns miteinander seinen Namen erhöhen! Als ich den HERRN suchte, antwortete er mir und errettete mich aus aller meiner Furcht. Die auf ihn sehen, werden strahlen vor Freude, und ihr Angesicht soll nicht schamrot werden. Als einer im Elend schrie, hörte der HERR und half ihm aus allen seinen Nöten. Der Engel des HERRN lagert sich um die, die ihn fürchten, und hilft ihnen heraus. Schmeckt und seht, wie freundlich der HERR ist. Wohl dem, der auf ihn traut!“ (Psalm 34,2-8).

29 Solche Texte vor Augen und Ohren bleibt kaum etwas anderes übrig, als mit Augustin (conf. 8,12,29) zu empfehlen: „Tolle, lege! Tolle, lege!“

„Schöpfung“ im Alten Testament Ein Beitrag zum Darwin-Jahr Udo Rüterswörden, Bonn1 Im Jahr 2009 jährte sich nicht nur der 200. Geburtstag des Bonner Ehrendoktors2 Charles Darwin, sondern es ist mittlerweile 150 Jahre her, dass sein berühmtes Werk „Die Entstehung der Arten“ erschien. Ein Jahr später, 1860, spielte sich das epochale Ereignis ab, dem in seiner Typik Luthers Erscheinen vor dem Reichstag zu Worms oder Galileis Auftritt vor der Inquisition an die Seite zu stellen ist: Der Held tritt vor die Mächte der Finsternis und seine bahnbrechende Wahrheit trägt ihren Sieg davon - vielleicht mit einem kleinen Schlenker wie bei Galilei. Wir schreiben also das Jahr 1860. „Am 30. Juni findet in Oxford eine Sitzung der angesehenen «British Association for the Advancement of Science» statt. Der Saal ist überfüllt, die Situation gespannt. Bischof Samuel Wilberforce (1805-1873), ein konservativer Kirchenfürst, richtet an den Naturforscher Thomas Henry Huxley (1825-1895) ironisch die Frage, ob er einen Affen lieber als seine Großmutter oder seinen Großvater haben wolle. Huxley, um Worte nicht verlegen, erwidert mit gleicher Ironie: Als Großvater jedenfalls würde er einen Affen einem Mann vorziehen, der seine Fähigkeiten und seinen Einfluß nur dazu benutzt, eine ernsthafte wissenschaftliche Diskussion ins Lächerliche zu ziehen. Einige Zuhörer glauben gehört zu haben, Huxley wäre lieber ein Affe als ein Bischof. Es kommt zu einem Tumult. Eine Dame fällt in Ohnmacht und muß hinaus-

1

Mit dem Beitrag, als Vortrag auf dem Bonner dies academicus am 27.5.2009 gehalten, verbindet sich ein herzlicher Gruß an den langjährigen Kieler Weggefährten G. Warmuth. 2

Die Würde wurde 1868 verliehen.

32 getragen werden. Huxley behauptet später, daß er sehr ruhig gesprochen habe, Augenzeugen aber wollen ihn bleich vor Zorn gesehen haben.“3 Mit dieser Schilderung setzt das Buch von Franz Wuketits „Darwin und der Darwinismus“ ein. Die Szene hat sich dem kollektiven Bewusstsein eingeprägt. Die Verdichtung eines langwierigen Prozesses auf eine markante Erzählung, einen Wendepunkt wie bei Luther oder Galilei, ist übrigens ein ganz alter Mechanismus, den wir schon im Alten Testament finden, so bei dem Landtag von Sichem, Jos 24 - was hier als historisches Datum geschildert wird, war in Wirklichkeit ein langfristiger Prozess oder bei der Auffindung des Gesetzbuches zur Zeit des Königs Josia, 2Kön 22-23. So ganz historisch waren diese Ereignisse nicht, auch bei dem berühmten Rededuell gibt es Anfragen.4 Doch kehren wir zu unserer Heldengeschichte zurück, in der der eigentliche Held fehlt. Darwin hatte sich nach Downe zurückgezogen und führte das Leben eines produktiven Privatgelehrten. In seiner Wahlheimat engagierte er sich für das Gemeinwohl und soziale Belange, doch vermied er öffentliche Auftritte - sein empfindlicher Magen revoltierte nicht selten, und die mehrjährige Seefahrt mit der Beagle muss für ihn, was diesen Punkt betrifft, die Hölle gewesen sein. Die Rolle des fundamentalistischen Finsterlings fällt Bischof Wilberforce zu - damit ist das Schlachtfeld betreten, auf dem die Kämpfe noch bis heute toben, denken wir nur an den schulischen Biologieunterricht. So beschloss nach dreitägiger Debatte das preußische Abgeordnetenhaus 1879, die Evolutionslehre aus dem Schulunterricht zu verbannen,5 der berühmte Affenprozess in Tennessee fand 1925 statt, war es doch in diesem Bundesstaat verboten worden, die Evolutionstheorie an Schulen zu lehren, und 2006 und 2007

3

F. M. Wuketits, Darwin und der Darwinismus, München 2005, 9.

4

J. R. Lucas, Wilberforce and Darwin: A Legendary Encounter, The Historical Journal 22 (1979), 313-330.

5

H. Ibs, Mikroskopie in der Schule zwischen 1871 und 1914, Teil 1, Mikrokosmos 96 (2007), 291-300.

33 wurde gegen die seinerzeitige hessische Kultusministerin Karin Wolff eine Kampagne gestartet, weil sie sich nicht deutlich genug von Konzepten distanziert hatte, nach denen das Intelligent Design an einigen Schulen diskutiert werden konnte. Nur: Wo die Helden nicht so heldenhaft sind, sind auch die Finsterlinge nicht so finster. Was macht eigentlich ein anglikanischer Bischof auf einer Versammlung der British Association for the Advancement of Science? Nun, Wilberforce war nicht nur Bischof, sondern auch Fellow der Royal Society of London for the Improvement of Natural Knowledge, einer altehrwürdigen (gegr. 1660) und renommierten naturwissenschaftlichen Vereinigung.6 Sein Vater, William Wilborforce, war evangelikal und zugleich eine der beeindruckenden Persönlichkeiten der englischen Geschichte, führte er doch in seinem Leben als Parlamentarier einen Kampf gegen die Sklaverei, national und international, wobei ihm in Gesetzen aus den Jahren 1807 und 1833 Erfolg beschieden war.7 Ein Erzevangelikaler setzt sich mit äußerster Energie für die Menschenrechte ein - könnte man so jemanden als Fundamentalisten bezeichnen? Der Begriff „Fundamentalismus“ hat im letzten Jahrzehnt einen Bedeutungswandel durchgemacht, sodass mir seine inflationäre Verwendung als unsachgerecht erscheint, vor allem im Kontext des deutschen Protestantismus. „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.“ Dies gilt für Wilberforce junior, unseren Bischof. Im Kampf gegen die Sklaverei stand er seinem Vater in nichts nach.8 Wilberforce repräsentiert, was aus Darwin hätte werden können. Darwin bemerkt in seiner Autobiographie: „An Bord der Beagle war ich ganz 6

M. Schneider, Art.: Wilberforce, Samuel, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 28 (2007), 1578-1581.

7 8

J. Wolffe, Art.: Wilberforce, William, in: RGG4, 8, 1543.

G.W.E Russel, Art.: Samuel Wilberforce, in: A Dictionary of English Church History, London 1912, 633-636.

34 orthodox, und ich weiß noch, wie etliche Schiffsoffiziere (auch wenn sie ihrerseits orthodox waren) laut über mich lachten, weil ich die Bibel als unanfechtbare Autorität in einer Frage der Moral zitierte.“9 Darwin hatte einen Universitätsabschluss in der Theologie, nicht in der Biologie, die es damals eigentlich noch nicht gab. In seinen politischen Überzeugungen stand er der Familie Wilberforce nahe; er war erklärter Gegner der Sklaverei, was ja bekanntermaßen zu Konflikten mit dem Kapitän der Beagle, FitzRoy, führte. Als geeigneter Beruf, um seinen biologischen Neigungen nachzugehen, erschien ihm das Pfarramt, eine für uns Heutige etwas merkwürdige Vorstellung. Doch viele seiner akademischen Lehrer, wie etwa der Botaniker Henslow, waren anglikanische Geistliche. Das liegt daran, dass in England die Physikotheologie noch länger in Blüte stand als auf dem Kontinent. In dieser biologie- und theologiegeschichtlichen Epoche des 17. und 18. Jh. schloss man von einer vollkommenen, sinnvollen und schönen Ordnung des Universums auf einen allmächtigen, allweisen und gütigen Baumeister.10 Das rheinische Gesangbuch hat in einer Gruppe von Liedern diese Idee bewahrt, so etwa in dem schönen Lied „Geh aus mein Herz und suche Freud“ von Paul Gerhardt (503), aber auch knapp und prägnant Lied Nr. 504,2 von Joachim Neander: Seht, wie Gott der Erde Ball hat gezieret überall. Wälder, Felder, jedes Tier, zeigen Gottes Finger hier. Die Verbindung von Theologie und Biologie war durchaus auch für die Biologie fruchtbar; die Entdeckung und Erstbeschreibung mancher Spezies ist Pfarrern zu verdanken, so zum Beispiel die der Bärtierchen. Zu 9

C. Darwin, Mein Leben. 1809-1882. Vollständige Ausgabe der „Autobiographie“. Herausgegeben von seiner Enkelin Nora Barlow. Mit einem Vorwort von Ernst Mayr. Aus dem Englischen von Christa Krüger, Frankfurt am Main 2008, 94.

10

U. Krolzik, Art.: Physikotheologie, in: RGG4, 6, 1328.

35 erinnern ist auch daran, dass einige Gründungsgestalten der Biologie Theologen waren, Charles Darwin als Begründer der Evolutionsbiologie, Hermann Samuel Reimarus als ein Begründer der Verhaltensbiologie, Gregor Mendel als Begründer der Genetik. Bei Darwin ergab sich der Bruch mit dieser Vorstellung an dem Punkt, den unser Lied als „Gottes Finger“ kennzeichnet, der Vorstellung vom göttlichen Baumeister, oder vom „intelligent design“.11 Bei Darwin tritt an diese Stelle die natürliche Auslese. Eine Theorie über die Frage, was zum Werden des Lebens auf unserer Erde geführt hat, bedarf danach keiner göttlichen Einwirkung. In Bezug auf Aussagen, wie sie das erste Kapitel der Bibel, 1Mose 1 formuliert, gibt es noch weitere Kollateralschäden, zu denen ich ein führendes Lehrbuch der Evolutionsbiologie von Storch, Welsch und Wink zitieren möchte: „Die Fundamentalisten forderten, die Aussagen der Bibel wörtlich zu nehmen, und behaupteten zum Beispiel, die Welt sei vor 10000 Jahren in 6 Tagen mit je 24 Stunden von Gott geschaffen worden.“12 In dem positiven Bestreben, auch etwas Nettes über die Bibel zu schreiben, ist wohl der folgende Satz zu verstehen: „Verkannt wird dabei, dass es bei der biblischen Schöpfungsgeschichte gar nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung über die Entstehung der Welt geht, sondern um eine Allegorie, die dem Menschen anbietet, sich auf einen Schöpfer zu beziehen, dem er seine Existenz verdankt.“ Eine ähnlich gutgemeinte Absicht vertritt der Satz, der von einem Theologen, allerdings einem Systematiker, formuliert ist: „So müssen auch die beiden Schöpfungsgeschichten am Anfang der Bibel primär als poetische Artikulation von

11

S. dazu H. Schwarz, Die Intelligent Design-Tradition. Theologische Beiträge 40 (2009), 152-166. 12

V. Storch, U. Welsch, M. Wink, Evolutionsbiologie, Berlin, Heidelberg, New York 2007, 74.

36 Schöpfungs- und Schöpferlob, von Gotteserfahrung in der Welt, verstanden und gelesen werden.“13 Das ist natürlich Unfug - von Poesie kann in 1Mose 1 und 2 keine Rede sein, und man muss nicht evangelikal sein, um festzustellen, dass die Texte eine klare Aussage darüber treffen, wie nach ihrer Ansicht die Welt mitsamt den sie bevölkernden Lebewesen entstanden ist. Nur dass nach heutiger Erkenntnis die damalige Sicht an manchen Punkten nicht zutrifft. Das muss aber nicht peinlich sein, und somit zu dem Versuch einer Wegerklärung führen. Es ist den Physikern ja auch nicht peinlich, dass Isaac Newton ein Vertreter des „intelligent design“ war, und dass William Thomson, der spätere Lord Kelvin, Darwins Evolutionstheorie damit aus den Angeln zu heben versuchte, dass er das Alter der Erde auf 30, vielleicht 10 Millionen Jahre kalkulierte, viel zu kurz für Darwins Theorien.14 Thomson ist kein Vorwurf zu machen, da seinerzeit radioaktive Zerfallsprozesse noch nicht bekannt waren. Das heißt, Weltentstehungstheorien unterliegen einem zeitlichen Wandel. Das gilt auch für das Alte Testament. Neben der Schöpfung in 1Mose 1 gibt es die Vorstellung der Schöpfung als Erhaltung sowie die Schöpfung als Kampfgeschehen. Die erstgenannte Vorstellung hat ihre Vorläufer in Ägypten und ist im Alten Testament in Ps 104 zu finden. Dort steht u.a. (nach der [alten] Zürcher Bibel): Er hat den Mond gemacht, das Jahr danach zu teilen; die Sonne weiß ihren Niedergang. Du schaffst Finsternis, und es wird Nacht; 13

J. Hübner, Schöpfung und Evolution – „Leben“ zwischen Biologie und Theologie, in: Gott oder Darwin? Vernünftiges Reden über Schöpfung und Evolution, hg. v. J. Klose, J. Oehler, Berlin, Heidelberg 2008, 391. 14

D. Quammen, Charles Darwin. Der große Forscher und seine Theorie der Evolution, München 2008, 235f.

37 drin regt sich alles Getier des Waldes. Die jungen Löwen brüllen nach Raub, heischen von Gott ihre Speise. Strahlt die Sonne auf, so ziehen sie sich zurück und lagern sich in ihren Höhlen. Da tritt der Mensch heraus an sein Werk, an seine Arbeit bis zum Abend. Herr, wie sind deiner Werke so viel! Du hast sie alle in Weisheit geschaffen, die Erde ist voll deiner Güter. Gott ernährt Flora und Fauna und sorgt sich aktiv um alle seine Kreaturen. Der Wechsel von sonnenhellem Tag und finsterer, bedrohlicher, Nacht ist von ihm geschaffen. Den Menschen hat er den Tag als Lebensbereich zugewiesen, die Nacht ist das Reich gefährlicher Tiere. Was in Ps 104 formuliert wird, hat Parallelen in Ägypten. O. Keel und S. Schroer bemerken dazu: „Ganz der altorientalischen Sichtweise verbunden, geht die Nacht in Ps l04 dem Tag voran. Diese Sichtweise steht dem modernen Empfinden, dass ein Tag mit dem Morgen beginnt und die Nacht nur eine Pause zwischen zwei Tagen ist, diametral entgegen. Die Nacht ist im ganzen Alten Orient Inbegriff von Chaos und Gefahr. Die geordnete, helle Welt tritt aus dem Chaos erst hervor und ist jeden Morgen wieder eine Überraschung. Das Bewusstsein, dass die Nacht ursprünglicher ist als der Tag, die Welt immer wieder zurückgeht ins Chaos, setzt eine starke Orientierung an den Anfängen voraus, die rhythmisch Zukunft werden. Auch in Gen 1 wird das Licht der Finsternis quasi entrissen und beginnen die Schöpfungstage mit dem Abend („es ward Abend und es ward Morgen“)… Im ägyptischen wie im hebräischen Lobgesang werden Gefahren für die Menschen oder die Schöpfung zwar erwähnt (Finsternis, Verbre-

38 cher, wilde Tiere), aber sie werden an den Rändern angesiedelt. Dominant sind positive Lebensfreude und Geborgenheit unter dem Angesicht einer fürsorglichen Gottheit, verbunden mit der tiefen Überzeugung, dass die Schöpfung sich nicht Zufällen, sondern einer alles verbindenden Weisheit verdankt.“15 Schöpfung in diesem Sinne ist das erste Mal eines „Ein für alle mal“. Es gibt Unterschiede zu der Ägyptischen Vorstellungswelt. Die Gestirne (19-24) sind Objekt und nicht Subjekt der Schöpfung. Nicht der ägyptische Sonnengott Aton, sondern der HERR ist es, der die Rolle des einen Schöpfergottes innehat. Zudem ist der ägyptische Hymnus nicht nur ein Preis der Schöpfung, sondern mit dem Lobpreis wird der Sonnenlauf und damit die Erhaltung der Schöpfung mit ins Werk gesetzt. Ein solcher Synergismus ist dem Alten Testament fremd. Andererseits ist festzuhalten, dass hier Schöpfung im Kontext auf der Höhe der damaligen Vorstellungswelt, und dies kontinentübergreifend, reflektiert wird. Dies gilt auch für die zweite genannte Vorstellung, die Schöpfung durch Kampf. So steht in Ps 74, 13-17 (nach der [alten] Zürcher Bibel): Du hast das Meer zerspalten mit deiner Kraft, die Häupter der Drachen über den Fluten zerschmettert. Du hast zerschlagen die Köpfe des Leviathan, dem Volke der Wüstentiere ihn zum Fraß gegeben. Auch zu diesem Beispiel sei auf O. Keel und S. Schroer hingewiesen: „Die Schöpfung entsteht in altorientalischen Vorstellungen bisweilen aus einem Kampf von Urgewalten oder nach einer Folge von mörderischen

15

O. Keel, S. Schroer, Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer

Religionen, Göttingen 2002, 165.166.

39 Kämpfen zwischen verschiedenen Gottheiten (Theomachie). [In dem Weltentstehungsepos] Enuma elisch (Taf. IV bes. 59-146), das unter Verarbeitung altbabylonischer Stoffe um 1250 vC entstanden sein könnte, zerstückelt Marduk Tiamat, die monsterhafte Salzflut, um dann einen Teil ihres Leichnams zum Bau des Kosmos zu verwenden. Chaoskampf ist auch das Thema der Theogonie des Hesiod (um 700 vC), der die Entwicklung der Welt von ihrem Ursprung bis zu ihrer Vollendung unter Zeus als eine Sukzession von Kämpfen der Göttergenerationen darstellt… Mit der uranfänglichen Erschaffung ist zudem nach altorientalischer Vorstellung die Schöpfung weder abgeschlossen noch gesichert. Vielmehr befindet sich alles Geschaffene vom Moment seiner Entstehung an in ständiger Gefahr, von chaotischen Mächten wieder vernichtet zu werden… Die Vorstellung, dass die bewohnbare Welt erst durch Kampf, besonders den zwischen der Schöpfergottheit und dem alles bedrohenden Chaoswasser, konstituiert wird (z.B. Ijob 38,8-11), war auch in Israel geläufig, ebenso die Idee, diese Welt müsse auf kämpferische Weise vor dem Rückfall ins Chaos bewahrt werden… Die Schöpfung ist in einem fortdauernden Kampf begriffen, dessen positiver Ausgang zu Gunsten des Lebens in biblischer Sicht nur von JHWH garantiert werden kann.“16 Auch an diesem Beispiel wird deutlich, dass alttestamentliches Reden von der Schöpfung auf der Höhe eines Diskurses steht, der in der Antike - vor den Griechen - geführt wurde, aber auch von den Griechen, wie das Beispiel Hesiods zeigt. Innerhalb des Alten Testaments bildet der Bericht in Gen 1 den Schlussstein dieses Diskurses. Das Konzept der Erhaltung kommt in dem Segen zum Ausdruck, der den Lebewesen gegeben wird: „Seid fruchtbar und mehret euch.“ Da der Text konsequent monotheistisch ist, wird einem Götterkampf kein Raum mehr gegeben; es gibt nur noch die großen Seetiere in V.21, die nicht nach Arten geschaffen sind, und damit keine bio16

Nach O. Keel, S. Schroer, aaO., 123f. 131.

40 logischen, sondern mythologische Wesen sind. Sonne und Mond sind keine Götter mehr, sondern Leuchten, physikalische Größen. Damit kündigt sich die Trennung der Astronomie von der Astrologie an. Die Funktion dieser Leuchtkörper liegt in der Einteilung der Zeit. Von daher liegt natürlich auf der Hand, warum die Schöpfung in sieben Tagen erfolgt: es ist der Wochenrhythmus, der an dem Mondzyklus ablesbar ist. Man kann im Alten Testament die Schöpfung recht verschieden beschreiben - hier gibt es durchaus eine Bandbreite -, aber in Bezug auf den Wochenrhythmus gibt es keine Diskussion, ob nicht etwa eine 10-Tage oder 14-Tage Woche sinnvoller wäre. Die Sieben-Tage-Woche liegt unverrückbar fest.17 Sie wird in den Zehn Geboten, Ex 20,8-11, ausdrücklich begründet: „Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was in ihnen ist, und er ruhte am siebenten Tage; darum segnete der Herr den Sabbattag und heiligte ihn.“ Am Sinai, dem Ort der Verkündigung der Zehn Gebote, wird etwas geboten, was sich im Rückblick als eingebunden in die Ordnung der Schöpfung erweist. Damit bezieht sich die Aussage, dass die Welt in sieben Tagen erschaffen wurde, nicht primär auf die Weltentstehung, sondern auf die Rhythmisierung der Zeit in Arbeit und Ruhe. Mit der Rhythmisierung der Zeit stellt sich die Frage, warum das Alte Testament eine viel zu kurze Chronologie seit der Schöpfung aufweist. Darwin führte während seiner Weltreise auf der „Beagle" (1831-1836) eine Bibel mit sich, in der er das Datum der Weltschöpfung eingetragen hatte - „23. Oktober 4004 vor Christus, 9 Uhr vormittags."18 Das war noch der junge, orthodoxe, Darwin. Das Alte Testament hat chronologische Angaben, anhand derer sich das Jahr der Schöpfung errechnen lässt. 17

S.a. Th. Pola, Die Schöpfung auf den ersten Seiten der Bibel (Gen 1,1-2,25) - Bericht oder Darstellung?, Theologische Beiträge 40 (2009), 168. 18

H. Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt 1987, 96 – nach E. P. Fischer, Evolution und Schöpfung – was erklärt die Evolutionstheorie? in: Gott oder Darwin? Vernünftiges Reden über Schöpfung und Evolution, hg. v. J. Klose, J. Oehler, Berlin, Heidelberg 2008, 96.

41 Allerdings differieren die Zahlen in der Textüberlieferung. Ein wichtiges Kapitel für die Kalkulation ist Gen 5. Hier gehen der Text der Religionsgemeinschaft der Samaritaner und der Text des rabbinischen Judentums auseinander. Rechnet man den Text der Samaritaner durch, stirbt die Hälfte der vorsintflutlichen, lange lebenden Menschen, darunter der sprichwörtliche Methusalem, an ein und demselben Tag - und das ist der Tag der Sintflut. Bei der Textversion des rabbinischen Judentums ergibt sich ein derartig interessantes Resultat nicht; dagegen verblüfft dieser Text dadurch, dass das runde Jahr 4000 nach der Schöpfung ein Eckdatum der jüdischen Geschichte darstellt. Das Jahr 4000 ist nach unserer Chronologie das Jahr 164 v.Chr. Nach der Entweihung des Tempels durch Antiochus IV. fand nach den Makkabäerkämpfen am 14. Dezember 164 v. Chr. die Neu-Weihung des Tempels statt. Davon kündet bis heute das Chanukka-Fest, das Tempelweihfest, bei dem an das Wiederanzünden der Leuchter des Tempels gedacht wird. Es geht hier also eher um das Gründungsdatum eines bedeutenden Festes als um die Festlegung des Termins der Schöpfung. Das Alte Mesopotamien nennt Jahreslisten mit Daten sagenhafter und vor allem sehr langlebiger Herrscher. Ein Vertreter, die sogenannte sumerische Königsliste, kommt auf erstaunliche 241200 Jahre vor der großen Sintflut19. Das wahre Alter der Erde mit 4,6 Milliarden Jahren ist nicht nur den antiken Menschen unvorstellbar gewesen, und unter den modernen nicht nur dem genannten Lord Kelvin mit seinen 10 Millionen Jahren. Dem Entdecker der langen Erdchronologie, James Hutton (1726-1797) war zu seinen Lebzeiten so gut wie kein Erfolg beschieden; erst Charles Lyell, ein Weggefährte Darwins, vermochte der richtigen Sicht zum Durchbruch zu verhelfen. Ein wesentliches Element in Darwins Theorien ist der Artbegriff. Die Arten sind nicht unveränderlich. Dies widersprach indes sowohl der Alltagserfahrung als auch der seit der Antike gültigen Theorie, die Ernst 19

Übersetzt bei TUAT 1,328-337; die Zahl findet sich unter I,38.

42 Mayr in seiner Dogmengeschichte der Biologie als Essentialismus bezeichnet: Platons Denken war das eines Gelehrten, der sich mit Geometrie beschäftigt: Ein Dreieck, gleichgültig, welches die Kombination seiner Winkel, hat immer die Form eines Dreiecks und ist somit diskontinuierlich anders als ein Viereck oder ein anderes Vieleck. Analog dazu war die veränderliche Welt der Phänomene für Platon nichts anderes als die Widerspiegelung einer begrenzten Zahl von beständigen und unveränderlichen Formen, eide (wie er sie nannte) oder Wesenheiten (Essenzen), wie sie von den Thomisten im Mittelalter genannt wurden. Diese Wesenheiten sind das, was auf dieser Welt wirklich und wichtig ist. Als Ideen können sie unabhängig von allen Objekten bestehen. Besonderes Gewicht legen die Essentialisten auf Konstanz und Diskontinuität. Variation entsteht für sie durch unvollkommene Manifestation der zugrundeliegenden Essenzen… Darwin, einer der ersten Denker, der den Essentialismus (wenigstens zum Teil) ablehnte, wurde von den zeitgenössischen Philosophen (die alle Essentialisten waren) überhaupt nicht verstanden, und seine These von der Evolution durch natürliche Selektion daher als unannehmbar befunden. In essentialistischer Sicht ist eine echte Veränderung nur durch saltationistische, sprunghafte Entstehung neuer Wesenheiten möglich. Da die Evolution, wie Darwin sie erklärt, zwangsläufig allmählich, in fast unmerklichen Schritten erfolgt, ist sie mit dem Essentialismus absolut unvereinbar.“20 Die Erschaffung der Lebewesen, Pflanzen wie Tiere, nach Arten in Gen 1 scheint in dieses essentialistische Raster zu passen. Damit stellt sich die Frage nach der Funktion dieser Aussage. Der hebräische Ausdruck für „Art“ kommt noch einmal in der Erzählung von der Sintflut vor und konzentriert sich dabei auf die Tierwelt. In Lev 11 und Dtn 14 kommt der Ausdruck gehäuft vor.21 In den beiden Kapiteln geht es um essbare und 20

E. Meyr, Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, Berlin, Heidelberg, New

York 1984, 32. 21

S.a. Th. Pola, aaO., 169.

43 nicht zum Verzehr freigegebene Tiere. Nach einer sehr ansprechenden Vermutung von Jacob Milgrom begrenzen die alttestamentlichen Speisetabus den Zugriff des Menschen auf die Tierwelt.22 Dass das Schwein unrein ist, hat zur Folge, dass die Wildsau unbejagt in Judäas Wäldern umherstreifen kann. Nur: wie kann man reine und unreine Tiere unterscheiden? Das geschieht anhand von Merkmalen wie Schuppen, Flossen, Anzahl der Beine, Wiederkäuen, Form der Hufe. Diese Kennzeichen müssen aber konstant sein, und wer für den praktischen Zweck der Trennung von reinen und unreinen Tieren von Merkmalen ausgeht, die die Tiere unterscheiden, wird notwendig auf die Konstanz der Arten gewiesen. Insofern ist die Konstanz der Arten in Gen 1 nicht essentialistisch im philosophischen Sinn, sondern dient einer Differenzierung, die letztlich zum Tierschutz führt. Wir haben hier wieder dieselbe Bewegung wie bei dem Sabbat: erst im Nachhinein wird deutlich, dass die Voraussetzung eines Gebotes ihren Anhalt in der Schöpfung hat. Es gibt keinen direkten, einfachen, Weg vom Sein zum Sollen; Ordnungen sind nicht dadurch legitimiert, dass Gott sie geschaffen hat. Erst in dem klar artikulierten Willen Gottes, den er Israel am Sinai mitteilt, erschließt sich im Nachhinein, dass sich einige seiner Gebote an Strukturen der Schöpfung festmachen lassen. Das erschließt sich nur für Israel; für Völker, die keine Speisevorschriften oder keinen Sabbat haben, läuft die Erschaffung nach Arten leer. Die Idee der Physikotheologie, in der Schöpfung Gottes Finger zu erkennen, wie es das Lied aus dem Gesangbuch so eindrucksvoll beschreibt, konnte sich mit Ps 104 und anderen Beispielen biblisch begründen. In seiner „Entstehung der Arten“ hat Darwin dagegen Einwände formuliert: „Wir sehen das Antlitz der Natur heiter erstrahlen; wir sehen überall nur Überfluss an Nahrung. Aber wir sehen nicht oder übersehen, daß die Vö22

J. Milgrom, Ethics and Ritual: The Foundations of the Biblical Dietary Laws, in: Religion and Law: Biblical-Judaic and Islamic Perspectives, hg. v. E.B. Firmage, B.G. Weiss, J.W. Welch, Winona Lake 1990,159-191.

44 gel, die sorglos rings um uns singen, von Insekten oder Samen leben und damit ständig Leben vernichten. Oder wir vergessen, daß viele dieser Sänger oder ihre Eier und Nestlinge von Raubvögeln und anderen Feinden vernichtet werden.“23 Die Natur ist keine beschauliche Veranstaltung, in der der Finger des gütigen Schöpfers zu erkennen ist, sondern der Kampfplatz ums Dasein mit dem survival of the fittest, des am besten Angepassten. In richtig biologischer Sicht ist die Natur nicht grausam, und die Anwendung ethischer Kategorien ist unstatthaft. Doch wenn man sich auf die Physikotheologie einlässt, ist man mit Darwins Argument konfrontiert. Dieselbe Quellenschrift, der auch Gen 1 angehört, formuliert in Gen 6,11 und 12: „Aber die Erde war verdorben vor Gott, und voll war die Erde von Gewalt. Da sah Gott auf die Erde, und siehe, sie war verdorben; denn alles Fleisch hatte seinen Wandel verdorben auf Erden.“ Alles Fleisch, das heißt Menschen- und Tierwelt, sind durch Gewalt verdorben. Ursprünglich hatte Gott in Gen 1,29-30 den Lebewesen ausschließlich Pflanzen zur Nahrung bestimmt; an Raubtiere und die Phänomene, die Darwin beschreibt, ist nicht gedacht. Das Problem, das Darwin formuliert hat, ist hier schon erkannt. Gottes Schöpfung nach Gen 1 ist nicht einfach mit der Natur, wie wir sie jetzt betrachten, identisch. Aus der Perspektive eines systematischen Theologen hat dies U. Eibach so formuliert: „Wort und Geist Gottes sind der Schöpfung ‚eingestiftet‘, wirken in ihr innerlich. Aber die von Gott gewollte Schöpfung ist von der Natur zu unterscheiden, in der auch das die Schöpfung zerstörende Chaos und Übel höchst wirksam ist. In der Natur liegen Schöpfung und zerstörerisches Chaos immer miteinander vermischt vor, sodass die Schöpfung von der Natur und das Wirken Gottes in der Schöpfung von den Prozes-

23

C. Darwin, Die Entstehung der Arten. Übersetzung von Carl W. Neumann, Stuttgart

1963, 101.

45 sen in der Natur zu unterscheiden sind. Die „Inkarnation“ des Wortes und Geistes Gottes geschieht in diese „gefallene Welt und Schöpfung“, also auch in die Natur, aber nicht, um das Zerstörerische in der Natur als „gottgewollt“ zu bestätigen, sondern um die Natur vom „Bösen“ zu erlösen und sie zu ihrer Bestimmung zu vollenden. Deshalb vollzieht sich das Handeln und Wirken Gottes im schöpferischen Wort nicht nur in, mit, unter der und durch die Natur, sondern auch gegen die das Leben zerstörenden chaotischen Kräfte in der Natur, ist an und in der Natur auf jeden Fall immer auch in der Weise der Negation dieser zerstörerischen Kräfte wirksam, setzt gegen das Leben zerstörende Chaos die Leben - auch das einzelne Leben - ermöglichende und erhaltende und die Schöpfung auf ein Ziel hin lenkende Ordnung. Da die Naturgesetze ohne Unterschied schöpferisch und zerstörerisch wirken, gibt es theologisch gesehen allen Anlass, sie und die Evolutionsmechanismen nicht mit dem schöpferischen Wirken Gottes gleichzusetzen. Gott kann zwar unter zerstörerisch-chaotischen Kräften der Natur verborgen sein, diese können aber nicht als Ausdruck seines - in Jesus Christus offenbarten - Leben und Heil schaffenden Willens verstanden werden. Gott müsste dann schon zwei einander widersprechende Gesichter haben, müsste auch die Gestalt des Lebenszerstörers, des „Diabolus“ in sich selbst verkörpern und als solcher wirken können, müsste als „Allverursacher“ gedacht werden. Auf das Böse, das Gottes Schöpfung zerstörende und daher letztlich gegen Gott gerichtete „Nichtige“ ist Gott nur in der Weise der Negation und damit als Erlöser vom Bösen (Mt 6,13; Röm 8,18ff) und Schöpfer neuen Lebens zu beziehen (Offb 21,1 ff). Dies macht eine Unterscheidung von Schöpfung und Natur theologisch denknotwendig und eine Identifizierung von Gottes Wirken mit den die Natur bestimmenden Gesetzen und Kräften ebenso unmöglich wie einen Beweis Gottes aus der Natur.“24

24

U. Eibach, Wirkt und handelt Gott in der Natur? Intelligent Design in der Diskussion, Theologische Beiträge 40 (2009), 181f.

46 Nach der Sintflut wird in Gen 9,1-7 die Gewalt eingedämmt; dem Menschen wird tierische Nahrung zugestanden, den Tieren die Scheu vor dem Menschen zu ihrem eigenen Schutz. Blut ist ein ganz besonderer Saft: es gebührt der Gottheit; damit steht zugleich auch jegliches Blutvergießen unter Menschen unter Gottes Strafe. Das Schöpfungskonzept dieser Quelle, die wir in der alttestamentlichen Wissenschaft als „Priesterschrift“ bezeichnen, ist darauf ausgelegt, Blutvergießen zu ächten und den Umgang des Menschen mit der Tierwelt einzugrenzen und zu kanalisieren. Dies ist zurückgebunden an die Ursprungsbedingungen, im Alten Testament an die Schöpfung. Einen vergleichbaren Versuch finden wir in der Diskussion der Bioethik, wenn sie evolutionsbiologische Begründungen unternimmt, so der schon genannte Franz M. Wuketits: „Dass unsere Umwelt gleichzeitig unsere Mitwelt sei, ist ein trivialer Gedanke - jedenfalls aus evolutionstheoretischer Sicht. Wir Menschen sind das Ergebnis einer langen Kette von Prozessen, die sich sozusagen jenseits von Gut und Böse abgespielt haben. Aber wir sind mit allen heute existierenden Arten in abgestufter Form verwandt. Diese Verwandtschaft kann - oder sollte uns jedenfalls - nicht gleichgültig sein… Warum also sollte der Mensch die ihn umgebende Natur als Partner erleben? Allerdings ist er offenbar das einzige der heute existierenden Lebewesen, das seine stammesgeschichtliche Verbundenheit mit den anderen Kreaturen zu erkennen vermag und imstande ist, deren Bedeutung für sich zu reflektieren.“25 Die Rückbindung an die Ursprünge, und die Hervorhebung des Menschen als des Wesens, das zur Reflexion fähig ist, verbindet ein solches Konzept mit dem Schöpfungsbericht in Gen 1. Eine gängige Deutung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, die in Gen 1,26ff. hervorgehoben wird, liegt in der Reflexionsfähigkeit des Menschen. Der Text enthält -

25

Franz M. Wuketits, Bioethik. Eine kritische Einführung, München 2006. 148f.

47 gelesen in seinem Kontext - Gesichtspunkte, die als unumstößlich gelten, darunter den Rhythmus von Arbeit und Ruhe, er legt die Basis für die Ächtung des Blutvergießens und die Begrenzung des menschlichen Zugriffs auf die Tierwelt. Gen 1 in seinem Zusammenhang gelesen führt zu einem Orientierungswissen; geklärt wird, wozu wir Tiere und Ressourcen unserer Umwelt einsetzen sollen. Naturwissenschaftliche Erkenntnis könnte man im Unterschied dazu als Verfügungswissen bezeichnen, mit dem geklärt wird, was ist und wie es zu etwas kommt. Dahinter steckt die sehr alte Unterscheidung der zwei Bücher, des Buchs der Natur und der Heiligen Schrift. Galilei zog durch Aufzeigen nicht nur der unterschiedlichen Inhalte, Sprachen und Leserschaften der beiden Bücher, sondern auch ihrer unterschiedlichen Zielsetzungen die Bilanz: „Die Absicht des Heiligen Geistes ist uns zu lehren, wie man in den Himmel geht, nicht aber wie der Himmel geht.“26 In Reinkultur lässt sich diese Differenz nicht beschreiben: auch die Verfasser der Bibel haben in dem Buch der Natur gelesen, aber gleichsam in einer älteren Auflage. Zudem: nicht nur das naturwissenschaftliche Wissen, das Verfügungswissen, ändert sich im Lauf der Zeit, sondern auch das Orientierungswissen, aber in anderer Weise und mit anderen Mechanismen. So hat die Art und Weise, mit dem das Neue Testament das Alte aufnimmt, bewirkt, dass die alttestamentlichen Speisetabus für das Christentum nicht mehr gelten. Gleichwohl bleibt die Unterscheidung zwischen Orientierungswissen und Verfügungswissen wertvoll. Eine Unterscheidung dieser Art hat auch Darwin vorgeschwebt, so in einem Brief aus dem Jahre 1878. Als ehemaligen Physikotheologen hat ihn die Frage zeitlebens beschäftigt, ob Gott die Welt geschaffen hat; darüber war für ihn als Naturwissenschaftler keine sichere Auskunft möglich: „Das stichhaltigste Argument für die Existenz Gottes, so scheint mir, ist der Instinkt oder die Intuition, durch den wir aIle (wie ich 26

R. Feldhay, Der Fall Galilei. Der damalige Konflikt zwischen Glauben und Wissen

aus heutiger Sicht, Sterne und Weltraum 6/2009, 50.

48 vermute) spüren, daß es einen intelligenten Urheber des Umversums gegeben haben muß; dann aber folgen sofort die Zweifel und die Frage, ob solche Intuitionen vertrauenswürdig sind.“27 Der Schlusssatz des Briefes tröstet mit Orientierungswissen: „Kein Mensch, der seine Pflicht tut, hat irgend etwas zu fürchten, und er kann auf alles hoffen, was er ernsthaft erstrebt.“28 Über das Verfügungswissen, so auch über die Punkte, an denen sich das eingangs genannte Lehrbuch der Evolutionsbiologie aufhängt, die Erschaffung der Welt in sieben Tagen vor einigen Jahrtausenden, lässt sich auch innerhalb des Alten Testaments streiten; so gibt es ja, wie gesagt, neben der Schöpfung durch das Wort in Gen 1 auch die Schöpfung als immerwährenden Prozess und die Schöpfung durch den Kampf. Ein Irrtum in diesen Dingen ist keine Schande, wohl aber, eine Ansicht gegen bessere Erkenntnis mit Macht durchsetzen zu wollen.

27

Brief von C. Darwin an J. Grant, 11. März 1878, nach: Charles Darwin. Das Lesebuch, hg. v. J. Voss, Frankfurt am Main 2008, 356. 28

Ebd. S.a. N. C. Gillespie, Charles Darwin and the Problem of Creation, Chicago 1982.

Das Verständnis von Zeit und Lebenszeit im Spiegel der Gegenwart und der biblischen Schriften1 Reinhold Liebers Unser Verständnis von und unser Verhältnis zur Zeit ist in der Gegenwart gekennzeichnet durch eine tiefgreifende Ambivalenz: Einerseits gab es - zumindest in unseren geographischen Breiten - niemals so viel sog. „Freizeit” wie heute, d.h. Zeit, die nicht durch die Aufgabe der Lebens- und Existenzsicherung determiniert und ausgefüllt ist, und andererseits drängt sich uns immer wieder der Eindruck auf, genau das fehle uns: nämlich Zeit. Dieses Lebensgefühl ist nicht etwa neu, sondern bereits Anfang der 50er Jahre des - so müssen wir ja inzwischen sagen - vergangenen Jahrhunderts ausgeprägt. Bruno Bürgel formuliert es in seinem Buch: „Vom täglichen Ärger”2 folgendermaßen: „Wer von uns hat noch Zeit? Ein Gehaste und Gehudel, Geschiebe und Trara und eine üble Sekundenjägerei. Dem Peter Henlein, dem Erfinder der Taschenuhr, haben sie natürlich ein Denkmal gesetzt, weil er die ganze Gemütlichkeit aus der Welt herauserfunden hat. Vorher gab es nur solche alten Knarren, bei denen es auf eine Viertelstunde nicht ankam, und die Griechen und Römer mit ihren Sonnenuhren waren umgängliche Kerle, die immer Zeit hatten. Bedenken wir, daß erst um 1700 die öffentlichen Uhren den Minutenzeiger erhalten, daß der Sekundenzeiger erst hinzukommt, als Goethe schon ein alter Herr ist. Wer hat

1 Vortrag gehalten am 20.6.2001 an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-

Westfalen-Lippe, Fachbereich Religions- und Gemeindepädagogik in Bochum. Die Diktion des Vortrags wurde beibehalten. 2 Bruno H. Bürgel: Vom täglichen Ärger. Ein Lesebuch für Zornige, Eilige, Huschel-

peter und lächelnde Philosophen. Mit fünf Zeichnungen von Olaf Gulbransson, Minden (Westf.) o.J., S. 14.

50 noch Zeit im Säkulum der Schnellzüge, ..., der Autos und Flugzeuge, da uns an jeder Straßenecke die ´Normalzeit der Sternwarte` zugerufen wird?” Doch diese Erfahrung beschreibt nur die eine Seite unserer heutigen Welt. Auf der anderen Seite sind es nämlich längst nicht mehr Sekunden, die unseren Zeittakt bestimmen, sondern Sekundenbruchteile, die unsere Wirklichkeit prägen: Ein kleines Beispiel aus der Lebens- und Erfahrungswelt unserer Kinder und Jugendlichen mag dies verdeutlichen: Video- wie Computerspiele, die heutzutage viele Jugendliche in ihren Bann schlagen, haben meist eines gemeinsam: Es geht in ihnen um blitzschnelle Reaktionen, die den Spielern kurzzeitig höchste Konzentration abverlangen, wie man den Gesichtern und dem kaum noch mit den Augen zu verfolgenden Handbewegungen der Spieler entnehmen kann: Reflexartiges Reagieren ist oberstes Gebot - wer erst überlegen muss, und sei es auch nur eine Sekunde lang, hat bereits verloren. Vergleicht man hingegen diese Anforderungen mit Situationen, die sich normalerweise in Unterrichtsstunden als typisch erweisen, etwa im Konfirmandenunterricht, so zeigt sich, daß hier diametral entgegengesetzte Bedingungen herrschen: Dort eine relativ kurze Zeiteinheit, in der extrem schnelle Entscheidungen reflexartig zu treffen sind, wobei höchste Konzentration gefordert ist und der Spieler - unter entsprechendem Adrenalinausstoß - von Highlight zu Highlight schreitet, hier eine relativ lange Phase der Vorbereitung bzw. Erarbeitung, bis das gesteckte Ziel und das Erfolgserlebnis endlich erreicht ist. Bei letzterem ist also Ausdauer und Geduld ohne sofort sichtbares Erfolgsergebnis gefragt und gefordert. Die damit verbundenen Probleme, auch und gerade des Konfirmanden-Unterrichts und seiner Didaktik, liegen auf der Hand.

51 Zeit ist eben nicht nur eine objektive, wie wir inzwischen seit Albert Einstein und seiner speziellen Relativitätstheorie wissen, wenn auch nicht etwa unveränderliche, sondern relative physikalische Größe - auch die Feststellung, die Zeit sei nichts weiter als die Krümmung des dreidimensionalen Raumes hilft uns hier nur wenig weiter -, sondern Zeit wird von uns sehr subjektiv wahrgenommen: Eine Stunde wird von alleinstehenden und ans Haus gebundenen Seniorinnen, die man besucht, des öfteren als viel zu kurz beklagt, während sie so manchen Konfirmandinnen und Konfirmanden manchmal endlos erscheint: Eine Erfahrung, die ihnen sicherlich bei anderen Gelegenheiten ebenso geläufig ist, ich erinnere nur an den vielzitierten Zahnarztbesuch und -stuhl. Daß wir in der Tat, einmal abgesehen von bestimmten Biorhythmen die uns allerdings in den seltensten Fällen bewußt sind -, daß wir tatsächlich keinen körpereigenen Zeitmesser kennen, mag ein kleines Experiment veranschaulichen, das wir jetzt gemeinsam durchführen wollen: Ich möchte sie alle bitten, wenn der Sekundenzeiger gleich die Zwölf erreicht, einmal die Augen zu schließen und erst nach 30 Sekunden wieder zu öffnen. Bedingung dabei ist, nicht in Gedanken mitzuzählen. Ich gehe davon aus, daß es kaum jemanden unter uns gelungen sein dürfte, das Zeitintervall von 30 Sekunden exakt richtig ab- und einzuschätzen: Zeit ist eben eine Größe, die wir zwar genau messen und bestimmen können, die sich jedoch unserer subjektiven Wahrnehmung auf andere Weise erschließt. Bereits unsere Sprache verrät die Anthropozentrik unserer Zeiterfahrung, wenn wir etwa von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sprechen: im Begriff „Gegenwart”, so lehrt uns die Etymologie, steckt das aus der altgermanischen Präposition „gegen” abgeleitete mittelhochdeutsche Verb „gegenen”, das „begegnen” bedeutet; Vergangenheit beinhaltet das Verb „vergehen” im Sinne von „dahingehen” und Zukunft das Verbalabstraktum „Kunft” in der Bedeutung

52 „Kommen”, das sich vom mittelhochdeutschen Verb „zuokomen” ableitet und „sich auf etwas zubewegen” bedeutet3. Ausgangspunkt der Betrachtung ist in jedem Fall das subjektive Ich: Gegenwart als Beschreibung dessen, was mir (jetzt) begegnet; Vergangenheit als das, was bereits (von mir) gegangen ist, und Zukunft als eine Größe, die sich (auf mich) zubewegt. Im Mittelpunkt, im Zentrum dieser Betrachtungsweise steht immer der Mensch: Die Zeit ist entweder bei mir oder bewegt sich von mir weg bzw. auf mich zu. Gleichzeitig sehen wir heute Zeit aber als einen linearen Prozeß an, als eine Größe, durch die der Mensch sich stetig voranbewegt: Vergangenheit ist demnach das, was wir hinter uns lassen, während wir der - mehr oder minder ungewissen - Zukunft entgegengehen. Diese abendländische Vorstellung von Zeit als einer linearen Größe ist in Hinblick auf vergangene Zeiten und Kulturen nicht immer unumstritten gewesen: Seit Orellis bahnbrechender Studie von 18714 ist die wissenschaftliche Diskussion über das atl. Zeitverständnis nicht verstummt und ebenso etwa die Auffassung vertreten worden, dem AT läge ein fundamental anderes Zeitverständnis zugrunde5 aufgrund der Tatsache, daß das AT einerseits Offenbarungen JHWS´s ebenso kennt wie die damit zusammenhängenden historischen Heils- wie Gerichtserfahrungen Israels, und Israel sich andererseits zu JHWH als dem Ewigen, über der Welt und ihrer Geschichte Erhabenen bekennt.

3 Vgl. hierzu Duden (Bd.7), Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache,

bearbeitet von G. Drosdowski, P. Grebe u.a. Mitarbeitern der Dudenredaktion, Mannheim/Wien/Zürich 1963, z.St.: gegen, gehen und kommen. 4 C. von Orelli, Die hebräischen Synonyma der Zeit und Ewigkeit genetisch und

sprachvergleichend dargestellt, 1871. 5 Vgl. etwa Thorleif Boman, Das hebräische Denken im Vergleich mit dem Griechischen, Göttingen 19542.

53 Doch zeigten neuere Arbeiten6, daß dem AT die linear- chronologische Vorstellung durchaus nicht so fremd ist, wie ursprünglich angenommen7. Und doch unterscheidet sich die Vorstellung der Relation von Zeit und Mensch trotz gleich geartetem chronologischem Verständnis und gleicher anthropozentrischer Ausrichtung in einem wesentlichen Punkt von unserer heutigen Sicht, wie ebenfalls bereits die Etymologie belegt: Der Begriff für „Zukunft”, im Hebräischen tyrxa, leitet sich vom Adverb rxa: „hinten” ab und bedeutet dementsprechend lokal, z.B. bezogen auf den Menschen, in Am 4,2 folgerichtig dessen hinteres Ende, also dessen „Hinterteil”8. Temporal trägt tyrxa die Bedeutung „Ende, Schluß, Endphase”9, doch jetzt hingegen meint es, beispielsweise in Zusammensetzung mit Tagen: „in künftigen Tagen”10.

6 Vgl. etwa Werner H. Schmidt, Alttestamentlicher Glaube in seiner Geschichte, Neukirchen-Vluyn 19824, S. 91ff. 7 Vgl. hierzu T. Kronholm, Art.

[t, ThWAT VI, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1989,

Sp .463-482, 476f. 8 Anders H. Seebaß, Art.

tyrxa, ThWAT I, Stuttgart/Berlin/Köln /Mainz 1913, Sp. 224-228, 224.226, der für die Wiedergaben mit “Rest” plädiert; vgl. dagegen die Übersetzung in: Wilhelm Gesenius, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, unter verantwortlicher Mitarbeit von Dr. Udo Rüterswörden, bearbeitet und hgg. von D. Rudolf Meyer und Dr. Dr. Herbert Donner, 18.Auflage, 1.Lieferung a - g, Berlin/Heidelberg/New York/London/Paris/ Tokyo1987 z.St.

9 H. Seebaß, Art.

tyrxa, Sp. 224, weist darauf hin, daß es sich hierbei allerdings um abgeleitete Bedeutungen handelt, während das Abstraktnomen ursprünglich wohl am besten mit “das Danach” widerzugeben sei.

10 Etwa in Gen 49,1; Nu 24,14; Dt 4,30; 31,29. Vgl. hierzu Wilhelm Gesenius, Hebrä-

isches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, 18.Auflage, 1.Lieferung a - g, 1987 z.St.

54 Wie ist dieser Sachverhalt nun zu erklären, erst recht angesichts von Texten aus atl. Prophetenbüchern wie etwa Jeremia oder Amos, in denen es heißt: „Siehe, es kommt die Zeit, daß ...”11? Auch im alten Israel herrscht also das Verständnis vor, die Zukunft kommt auf uns Menschen zu. Aber im Gegensatz zu unserer Vorstellung - und bei genauerer Überlegung vielleicht ja wesentlich einleuchtender angesichts des ungewissen Inhalts, den uns die Zukunft bringt liegt diese Zukunft also bildlich gesprochen nicht etwa vor, sondern hinter uns, d.h.: hinter unserem - verlängerten - Rücken, unseren Augen verborgen. Vor uns liegt nur das, was bereits geschehen ist. Von daher ist es folgerichtig die Vergangenheit, die offen vor Augen liegt. Somit könnte man sagen: Nach atl. Verständnis bewegen wir uns rückwärts in die Zukunft. Dabei ist dem hebräischen Denken unsere heutige Abstraktion des Zeitbegriffes unbekannt: So wenig es - einmal abgesehen von dem o.g. Abstraktnomen tyrxa, das zwar in einigen, relativ wenigen Wendungen mit „Zukunft” wiedergegeben werden kann -, so wenig es begriffliche Äquivalente für Gegenwart und Vergangenheit im engeren Sinne im Hebräischen gibt, so wenig entspricht das immerhin 296 mal im AT vorkommende Wort [t genau genommen unserem abstrakten Begriff „Zeit”, wie schon seine mannigfache Verbindung mit Präpositionen, zeitlich fungierenden Adjektiven, genetivischen Näherbestimmungen und anderen Konstruktionen zeigt: So begegnet uns [t etwa in zusammengesetzten Wendungen, in denen von Abend-12- und Mittagszeit13, Zeit des Spätregens14, der Getreide-

11 Jer 7,32; 9,24; 19,6; 23,5.7; 30,3; 31, 27.31.38; 33,14; 48,12; 49,2; 51,47.52; Am

4,2; 9,13 u.ö. 12 Gen 8,11; 24,11; Jos 8,29; 2.Sam 11,2; Jes 17,14; Sach 14,7. 13 Jer 20,16. 14Sach 10,1.

55 ernte15, der Jahreswende16, des Alterns17, ja Zeit des Liebesgenusses18 etc. die Rede ist. Der Begriff „Zeit” an sich ist nach atl. Vorstellung, wie dieser Sprachgebrauch verrät, also eine Leerstelle: Er bedarf der Näher-bestimmung, die sie qualifiziert: als Zeit der Heilung19 oder des Friedens20, der (göttlichen) Vergeltung21 oder der Not22, des Krieges23 - oder auch des Endes24. Dieser Erkenntnis widerspricht auch nicht die bekannte Psalmstelle 31,16 in der Übersetzung Luthers, in der der atl. Beter voll Vertrauen zu Gott bekennt: „Meine Zeit steht in deinen Händen”: Zum einen geht es hier nicht um die Zeit an sich, sondern um meine Zeit, und zum anderen ist der hebräische Wortlaut auch nicht exakt wiedergegeben: Im Text ist eigentlich von „meinen Zeiten” die Rede. Angesprochen ist hier also gerade nicht die abstrakte „Zeit”, sondern meine persönlichen Lebenszeiten, ja Lebenszeit schlechthin: Zeit ist also auch hier inhaltlich qualifiziert. Ein weiterer, ebenso bekannter wie poetischer Text, in dem es explizit um das richtige Verständnis von Zeit, ja von Lebenszeit geht, ist in Koh 3 zu finden, in der Lutherübersetzung mit der Überschrift versehen: „Alles hat seine Zeit”, der wie folgt beginnt: 15 Jer 50,16; 51,33. 16 1.Chr 20,1. 17 Ps 71,9; vgl. 1. Kön 11,4; 15,23. 18 Ez 16,8. 19 Jer 8,15; 14,19. 20 Koh 3,8. 21 Jer 51,6. 22 Jes 33,2; Jer 14,8; 15,11; 30,7; Ps 37,39; Dan 12,1; Ri 10,14; Neh 9,27; Hi 38,23. 23 Koh 3,8. 24 Dan 11,35.40; 12,4.9; 8,17; Ez 21,30.34; 35,5.

56 Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit.25 Der erste Begriff, den Luther hier mit „Zeit” wiedergibt, bezeichnet nicht eine zeitliche Erstreckung, sondern genau genommen den Zeitpunkt, den Termin26, während die dann von ihm genannte „Stunde” wie auch die im folgenden immer wieder genannte „Zeit” - in unserem bereits besprochenem [t ihre Entsprechung findet und von daher ebenso eher auf einen bestimmten Zeit(punkt) für etwas als auf eine Zeiterstreckung hinweist27, zumal sie hier, wie wir sehen, jeweils inhaltlich qualifiziert ist durch eine positive wie negative Bestimmung. In diesem weisheitlichen Abschnitt kommt eine kritische Weltsicht zum Tragen, auch wenn der Verfasser sein Fazit in V.11 mit den Worten einleitet: „Er, Gott, hat alles schön gemacht zu seiner Zeit”, denn in V.10 ist dem die Aussage vorangestellt: „Ich sah die Plage, die Gott den Menschen gegeben hat, daß sie sich damit abplagen.” Das menschliche Bemühen wird summa summarum negativ beurteilt; der Erfolg entspricht nicht dem vorher aufgewendeten Einsatz, weis-

25 Bei einer wörtlichen Wiedergabe des hebräischen Textes wird die Betonung des

Zeitaspektes durch die wiederholte Voranstellung der “Zeit” ([t) deutlicher: „Für alles (gibt es) eine Stunde und eine Zeit für alles Vorhaben unter dem Himmel: eine Zeit zum Geborenwerden und eine Zeit zum Sterben; eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Ausreißen des Gepflanzten; eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen.”

26 Vgl. Wilhelm Gesenius, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das

Alte Testament, 18.Auflage, 2.Lieferung d - y , 1995 z.St. d - y , !mz

27 Vgl. W. Zimmerli, Das Buch des Predigers Salomo, in: ATD16/1, Göttingen 1962,

S.169 z.St.. Ausführlicher hierzu T. Kronholm, Art. [t, ThWAT VI, Sp.463-482, 467f.

57 heitstheologisch gesprochen: Tun und Ergehen entsprechen sich nicht. Damit wird die Zeit, d.h.: meine Lebenszeit und deren Bewältigung, zum Problem. Das hebt zwar das schöpfungstheologisch begründete Urteil in V.11a nicht auf: Gott hat alles schön gemacht zu seiner Zeit aber in V.11c wird das hierin zu Tage tretende Problem dennoch klar benannt: „Nur, daß der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende28.” Dieser mit seinen impliziten kritischen Anfragen an - im wahrsten Sinne des Wortes: - Gott und die Welt, genauer gesagt: meiner Lebenswelt und -zeit, dieser mit seinen skeptischen Fragen angesichts der Undurchschaubarkeit der Welt und ihrer Ordnung sehr modern anmutende Text ist jedoch nicht die erste Antwort, die die atl. Schriften uns bieten. Von hier aus wird auch die Formulierung im Titel verständlicher: „... im Spiegel der Gegenwart und biblischen Schriften” (Plural): Wir dürfen angesichts und trotz des einheitlichen Buchrückens unser heutigen Bibelausgaben nicht aus den Augen verlieren, daß wir es im Alten wie Neuen Testament in Wirklichkeit mit einer recht umfangreichen Bibliothek unterschiedlichster Schriften zu tun haben, und zwar nicht etwa nur in Hinblick auf Literaturgattung wie Inhalt, sondern ebenso in Bezug auf ihre Entstehungszeit. So können wir in etwa davon ausgehen, daß die ersten schriftlich verarbeiteten Traditionen des AT aus dem 10. Jh.v.Chr., die letzten uns im Neuen Testament begegnenden Briefe hingegen aus dem 2. Jh. n.Chr. stammen. Somit begegnen uns in der Bibel Zeugnisse aus einem Zeitraum von ca. 1200 Jahren, wovon allein das AT ca. 800 Jahre abdeckt was es zu berücksichtigen gilt, wenn wir nun etwas genauer nach dem Verständnis von Zeit und Lebenszeit im Alten wie Neuen Testament zurückfragen. 28 Wörtlich: „von Anfang bis Ende nicht ergründen kann”.

58 Denn nicht von vornherein wurde der Umgang mit der Zeit als Problem empfunden, die, wie wir sahen, im Alten Testament konkret als Lebenszeit in den Blick kommt: So heißt es etwa in älteren, wenn auch wohl nicht vorexilischen Schichten des AT, in Gen, also dem 1. Buch Mose, Kap.25,8: „Und Abraham verschied und starb in einem guten Alter29, alt und (lebens)satt, und wurde zu seinen Vätern30 versammelt.” Einmal abgesehen davon, daß im vorangehenden Vers sein Alter mit 175 Jahren angegeben wird, meinte Luther mit seiner kongenialen Übersetzung „lebenssatt” - im Hebräischen steht an dieser Stelle nur „satt” - nicht etwa „lebensmüde”, sondern, daß seine Lebenszeit erfüllt gewesen ist, wie bereits an seinem - biblischen - Alter abgelesen werden kann31: so erfüllt, daß er nach Auffassung der Priesterschrift (P)32, der dieser Abschnitt zuzuschreiben sein dürfte, „satt”, d.h. zufrieden sterben konnte - eine Wendung, die heutzutage selbst alten Menschen, wie man bei Seniorenbesuchen beobachten kann, nur selten über die Lippen kommt: Das Leben hat auch im fortgeschrittenen Alter nicht nur immer noch etwas zu bieten, sondern auch noch offen: an Wünschen, Plänen und

29

hbyf bezeichnet eigentlich das graue Haar des Greises und von daher dann ein hohes Alter, vgl. Gesenius, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, 17.Auflage, z.St.

30 Eigentlich: “Volks-, Stammesgenossen”. 31 Vgl. hierzu die Auführungen von G. Warmuth, Art. [[bf,ThWAT VII, Stutt-

gart/Berlin/Köln/Mainz 1993, Sp. 693-704, Sp.702. Daß dabei nicht etwa das Alter die entscheidende Größe ist, belegt Hi 14,1 (Der Mensch, vom Weib geboren, ist kurzen Lebens und gesättigt mit Unruhe.): „D.h. ´satt` wird der Mensch (hier) nicht durch ein erfülltes und langes Leben, sondern durch die Unruhe im Leben” (ebd.). Kriterium eines gelungenen bzw. nicht gelungenen Lebens ist hier also die Unruhe. 32 Vgl. hierzu W. Zimmerli, 1.Mose 12-25: Abraham, ZBK AT 1.2, Zürich 1976,

S.138 Anm.94.

59 Hoffnungen, die es - aus der Sicht des Betroffenen - ihm noch regelrecht schuldig ist. Ähnliche Aussagen über Menschen, die „lebenssatt” starben, finden wir neben Abraham ebenso noch über Isaak, David, Hiob und den Priester Jojada33, wobei die Beschreibung von David in 1. Chr 29,28: „Und er starb in gutem Alter, satt an Leben (wörtlich: Tagen), Reichtum und Ehre” deutlich macht, daß zu einem erfüllten Leben eben nicht nur dessen Länge, sondern vielmehr dessen gelingender Inhalt gehört, in dem sich also rechtes Verhalten auszahlt, wie die Geschichten der sog. Erzväter Abraham und Isaak ebenso belegen wie die des Königs David bzw. die Rahmengeschichte des exemplarischen Gerechten Hiob: Tun und Ergehen stehen in einem kausalen Zusammenhang, von Gott garantiert, auf den der Mensch sich verlassen kann und darf. Der Tod erscheint hier deshalb nicht als Problem, weil der Mensch genauer gesagt: der Gerechte - auf ein heilvolles, glückliches Leben zurückblicken kann, d.h. ein „Leben, das seine Möglichkeiten ausgelebt hat, indem die ihm zugemessene Zeit der Weise entsprach, wie es geführt wurde. Hier ist das Leben in einer Ordnung gehalten, die man auf den Nenner bringen kann: Die Dauer, d.h. die Quantität entspricht der Qualität.”34 So wenig wir diese Sicht des Lebens heute auch noch teilen mögen, so bekannt dürfte uns dennoch die dem zugrunde liegende Vorstellung sein, wie etwa die - bezeichnenderweise aus dem weisheitlichen Spruchgut des AT stammende - auch uns noch geläufige Formulierung

33 Vgl. Gen 35,29 (ebenfalls P); 1. Chr. 29,28; Hi 42,17; verbal ausgedrückt: 1. Chr

23,1; 2. Chr 24,15, vgl. auch Ps 91,16. 34 U. Luck, Tod, Gericht und ewiges Leben. Herkunft und Hintergründe christlicher

Zukunftserwartung, in. Bethel 9, 1973, S.21-40, S.27.

60 belegt: „Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein”35 oder: „Was der Mensch sät, das wird er auch ernten”36: Vorausgesetzt ist bei diesen oder ähnlichen Aussagen, daß meine Taten im Guten wie im Bösen in meinem Leben ihre zukünftige Entsprechung finden werden - früher oder später. Solange Gott diesen Tun-ErgehenZusammenhang - heilvoll - garantiert, zahlt sich richtiges Verhalten immanent aus - was zur Folge hat, daß mein Leben gelingt. In den späteren Schichten des AT heißt das ganz konkret: Wer sich in seinem Leben an die Tora, an Gottes Weg, an seine Weisungen hält, dem gewährt sie zu Lebzeiten Heil, konkreter gesagt: ein gelingendes Leben, vgl. etwa Ps 1,1-3: Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen, noch tritt auf den Weg der Sünder, noch sitzt, wo die Spötter sitzen, sondern hat Lust am Gesetz (= an der Tora) des HERRN und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht! Der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, ... . Und was er macht, das gerät wohl. Konstitutiv für diese Anschauung ist, daß sich tatsächlich in meinem Leben, in meiner Lebenszeit verifizieren läßt: Meine Treue zu JHWH, mein Festhalten an seiner Tora und ihren lebenspendenden und erhaltenden Weisungen tragen auch sichtbar Frucht: mein Leben gelingt. Problematisch wird diese Anschauung in dem Moment, in dem der atl. Beter erkennen muß, daß seine Welterfahrung sich als Erfahrung von

35 Vgl. Spr 26,27a. 36 Gal 6,7b, in Aufnahme von Prov 22,8a, vgl. auch Hi 4,8 (in malam partem).

61 Leid und Ungerechtigkeit entpuppt37 - im Gegensatz zu der des Gottlosen, also demjenigen, der sich gerade nicht an diese göttliche Weltordnung hält und dennoch sein Leben in vollen Zügen genießt. Ps 73,2-5.12 mag hierfür als Beispiel dienen: Ich aber wäre fast gestrauchelt mit meinen Füßen; mein Tritt wäre beinahe geglitten. Denn ich ereiferte mich ... , als ich sah, daß es den Gottlosen so gut ging. Denn für sie gibt es keine Qualen, gesund und feist ist ihr Leib. Sie sind nicht in Mühsal wie sonst die Leute und werden nicht wie andere Menschen geplagt. Siehe, das sind die Gottlosen; die sind glücklich in der Welt und werden reich. Doch noch wird nach wie vor eine immanente Lösung dieses Problems ins Auge gefaßt/vertreten, wie V.17-19 zeigen: Der Zusammenhang von Tun und Ergehen bleibt weiterhin gewährleistet, wenn auch erst bei Einbeziehung der gesamten Lebenszeit, und zwar bis an dessen Ende. Die Gerechtigkeit wird sich in jedem Fall durchsetzen, und sei es auch erst im Tode: So sann ich nach, ob ich's begreifen könnte, aber es war mir zu schwer, bis ich ging in das Heiligtum Gottes und merkte auf ihr Ende. Ja, du stellst sie auf schlüpfrigen Grund und stürzest sie zu Boden. Wie werden sie so plötzlich zunichte! Sie gehen unter und nehmen ein Ende mit Schrecken.

37 Vgl. hierzu und zum folgenden U. Luck, Das Weltverständnis in der jüdischen

Apokalyptik. Dargestellt am äthiopischen Henoch und am 4.Esra, in: ZThK 73, 1976, S. 283-305, hier: S. 297.

62 Unser Ausgangstext aus Koh 3, der wohl dem 3. Jh.v.Chr38 entstammt und häufig einer sog. skeptischen Weisheit zugeschrieben wird39, bricht radikal mit diesem Weltverständnis, indem er scheinbar diesen TunErgehen-Zusammenhang generell bestreitet40, wie 2,14-16 belegen: „Der Weise hat seine Augen im Kopf, aber der Tor geht im Finstern. Da erkannte auch ich, daß einerlei Geschick sie alle trifft. Und ich sagte in meinem Herzen: Was den Toren trifft, trifft auch mich. Warum bin ich dann aber so überaus weise gewesen? Und ich sagte in meinem Herzen: Also ist auch dieses eitel. Denn an den Weisen bleibt so wenig ein dauerndes Andenken als an den Toren, weil doch in den Tagen, die kommen, alles vergessen sein wird. Wie stirbt doch der Weise gleich dem Toren!” Das Geschick des Weisen - d.h. des Gerechten - und des Toren - der in den weisheitlichen Schriften nicht etwa nur Synonym für die Dummheit, sondern für die Gottesferne, ja Gottesverachtung und somit ein Äquivalent für den anderenorts genannten „Frevler” ist41 das Geschick des Weisen und des Toren erweist sich als gleich, was nichts anderes bedeutet, als daß die Befolgung der Tora in Hinblick auf das eigene Ergehen selbst bei Einbeziehung des Todes keinen sichtbaren Unterschied zu machen scheint. Diese gnadenlose Überprüfung an der Realität wird in 3,19f nochmals verschärft: „Denn das Geschick der Menschensöhne und das Geschick des Viehs

38 Vgl. W. H. Schmidt, Einführung in das Alte Testament, Berlin, New York 1985,

3.Aufl., S.329; G. Fohrer, Einleitung in das Alte Testament, Heidelberg 1979, 12.Aufl., S.370. 39 Vgl. dazu aber G. Fohrer, Einleitung, S.371ff, hier: S.373. 40 Vgl. W. H. Schmidt, Einführung, S.330. 41 Vgl. 3,17; siehe dazu im Folgenden.

63 - einerlei Geschick erfahren sie. Wie dieses stirbt, so stirbt jener, und alle haben einerlei Atem. Und der Mensch hat keinerlei Vorzug vor dem Vieh, denn alles ist eitel. Alles geht an einerlei Ort. Alles ist aus Staub gemacht, und alles kehrt zum Staub zurück.” Von hier aus könnte nun der Eindruck entstehen, Kohelet rede als Konsequenz aus dieser Erkenntnis einem Hedonismus, einem „Carpe diem” das Wort, wenn es zu Beginn von V.22 heißt: „Da sah ich, daß es nichts Besseres gibt, als daß der Mensch fröhlich sei bei seinem Tun, denn das ist sein Los.” Doch der Verfasser fährt dann in V.22b fort: „Denn wer könnte ihn (= den Menschen) dahin bringen, daß er sähe42, was nach ihm (wyrxa) sein wird?” Das Problem führt Kohelet also nicht etwa zur generellen Aufgabe des Tun-Ergehen-Zusammenhangs, wie mancherorts angenommen, sondern lediglich erneut zur Feststellung wie in V.11c, daß dieser Zusammenhang dem Blick des Menschen entzogen ist. Neu und überschießend gegenüber V.11 ist hier jedoch der Hinweis auf die Zukunft, genauer gesagt: das, was - nach hebräischer Vorstellung: hinter, also: im Rücken - des Menschen liegt, m.a.W.: was nach dem Tode des Menschen folgt. Für diese Interpretation spricht ebenso der unserem Abschnitt vorangehende V.17, der - aufgrund seiner scheinbaren Unverbundenheit bzw. inhaltlich mit V.18ff unvereinbaren Aussage - oftmals als orthodoxer Zusatz ausgeschieden wird43 und in dem es heißt: 42 Zimmerli, 1.Mose, 175 Anm.7 macht bezeichnenderweise darauf aufmerksam, daß

b har hier das “Sich=Satt=Sehen” bezeichnet. 43 Vgl. dazu Zimmerli, 1.Mose, 176; hier auch Vertreter der o.g. Position.

64 „Ich sagte in meinem Herzen: Den Gerechten und den Frevler wird Gott richten, denn (es gibt) eine Zeit dort44 für jedes Ding und über alles Tun.” Der Hinweis auf Gottes Gericht bei gleichzeitiger Aufnahme der Terminologie aus V.1ff macht das Festhalten an der postulierten, von Gott garantierten (Heils-)Ordnung und damit das Weiterbestehen des TunErgehen-Zusammenhangs deutlich. Gleichzeitig aber bleibt das Problem offen, wie damit die fehlende Verifikation angesichts der eigenen Zeitund Lebenserfahrung in Einklang zu bringen ist. Eine explizite Lösung dieses Problems hat Kohelet nicht zu bieten, da das Aufzeigen und Verstehen der gerechten Weltordnung immanent nicht mehr geleistet werden kann. Die Zeiten richtig erkennen und interpretieren könnte nämlich nur derjenige, der Zeuge von Gottes Richten wäre, der also die Geschehnisse der Endzeit mit im Blick hat. Diese Aufgabe leistet - in späterer Zeit - die Apokalyptik. So wird etwa dem atl. Gerechten Henoch45 die zukünftige Durchsetzung der Gerechtigkeit in der Welt offenbart (äthHen 38,3-546): „Wenn die Geheimnisse der Gerechten offenbar werden, dann werden die Sünder gestraft und die Bösen vor den auserwählten Gerechten hinweggetrieben werden. Von nun an werden die, welche die Erde besitzen, nicht mehr mächtig, noch erhaben sein ... .

44 Zimmerli, 1.Mose, 175 Anm.2, macht darauf aufmerksam, daß mit ´dort` das Ge-

richt, d.h. der Ort des Rechts, gemeint ist. 45 Vgl. Gen 5,22; die gleiche Formulierung begegnet ebenso zur Charakterisierung

Noahs in 6,9. 46 Diese in äthiopischer Übersetzung vorliegende, wahrscheinlich ursprünglich aramä-

isch bzw. hebräisch verfaßte Apokalypse dürfte im 2. bzw. 1. Jh.v.Chr. entstanden sein, vgl. hierzu L.Rost, Einleitung in die alttestamentlichen Apokryphen und Pseudepigraphen einschließlich der großen Qumran-Handschriften, Heidelberg 1971, S.101ff, besonders S.104; U. Luck, Gerechtigkeit in der Welt - Gerechtigkeit Gottes, in. WuD 12, 1973, S.71-89, S.77.

65 Die Könige und Machthaber werden in jener Zeit vernichtet und in die Hand der Gerechten und Heiligen übergeben werden.”47 Wenn aber erst in Zukunft, im neuen Äon die Gerechtigkeit offenbar wird, dann ist es nur konsequent, auch erst zukünftig Lebende glücklich zu preisen: „Selig sind, die in jenen Tagen leben werden, zu sehen die Wohltaten, die Gott tun wird an Israel in der Zusammenführung der Stämme.” (PsalSal 17,44)48 Denn für sie gilt ja: „Aber in jenen Tagen werden selig alle die sein, die die Worte der Weisheit annehmen und kennen, die Wege des Höchsten beobachten, auf dem Wege seiner Gerechtigkeit wandeln und mit den Gottlosen nicht sündigen, denn sie werden gerettet werden.” (äthHen 99,10) Doch was wird aus denen, die „in jenen Tagen” dann nicht mehr leben werden? Die Antwort hierauf ist die Vorstellung von der Auferstehung der Toten49. Sie ist daher „nicht die Sonderform oder das Relikt eines allgemeinen Unsterblichkeitsglaubens, sondern die Konsequenz der Gerechtigkeit Gottes”50, die sich über die dem Menschen zur Verfügung stehenden Lebenszeit hinaus durchsetzt, denn Gottes Gerechtigkeit, so wird das Judentum aller Zeiten nicht müde zu betonen, Gottes Gerechtigkeit kommt in jedem Fall zum Ziel - die Frage ist eben nur: wann.

47 Übersetzung hier und im Folgenden nach: G. Beer, Das Buch Henoch, in: E.

Kautzsch (Hg.), Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments, 2.Bd., S.217-310. 48 Diese nicht apokalyptische, sondern auch anschauungsmäßig eher den atl. Psalmen

verwandte Schrift dürfte der Mitte des 1.Jh.v.Chr. zuzuweisen sein, vgl. hierzu Rost, Einleitung, S.89ff. 49 Vgl. etwa äthHen 51. 50 U. Luck, Gerechtigkeit, S.83; vgl. ebenso im Folgenden.

66 Auf diesem Hintergrund ist daher auch die Aussage in Sap 1,1551 zu verstehen: „Denn Gerechtigkeit ist unsterblich.” Da diese sich erst in der Endzeit, „in jenen Tagen” durchsetzende Gerechtigkeit jedoch jetzt lediglich einigen wenigen exemplarischen Gerechten, etwa Henoch oder Esra, offenbart ist, bedeutet dies für die an und in der durch Ungerechtigkeit charakterisierten gegenwärtigen Welt Leidenden und Bedrängten, die Verborgenheit der gerechten Weltordnung weiterhin aushalten zu müssen. Von daher wird für sie die Frage nach der Zeit, und zwar nach der Dauer der noch zu ertragenden Leidens-Zeit, laut: „Wie lange noch, wann soll das geschehen? Unser Leben ist ja so kurz und elend.” (4. Esr 4,33)52 - eine Fragestellung, die uns ebenso - in vergleichbar bedrängter Situation gleichfalls im ausgehenden 1. Jh.n.Chr.53 - im NT, nämlich in Offb 6,10, begegnet: „Wie lange (soll es noch dauern), Herr, Heiliger und Wahrhaftiger, daß du nicht richtest und rächst unser Blut an den Bewohnern der Erde?” Die Antwort besteht in der Zusage, daß Gott selbst die Länge dieser so schwer zu ertragenden Zeit der Bedrängnis um seiner Gemeinde willen begrenzt:

51 Zur Datierung dieser Schrift vgl. Rost, Einleitung, S.43 (1.Jh.v.Chr.); J. Roloff, Art.

Weisheit Salomos, in: Reclams Bibellexikon, hg. v. K. Koch, E .Otto u.a., 4. Aufl., Stuttgart 1987, S.544f, hier: S.544 (um 150 v.Chr.). 52 Übersetzung hier und im Folgenden nach: H. Gunkel, Das 4. Buch Esra, in: E.

Kautzsch (Hg.), Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments, 2.Bd., S.331-401. 53 Zur zeitlichen Ansetzung dieser Schriften gegen Ende der Regierungszeit Domiti-

ans (81-96 n.Chr), vgl. zu 4.Esr: Rost, Einleitung, S.93f; zur Offb: U. B. Müller, Die Offenbarung des Johannes (ÖTK 19), 1984, S.40ff.

67 „Und wenn der Herr nicht die (Anzahl der) Tage verkürzt hätte, würde kein Fleisch gerettet werden; aber um seiner Auserwählten willen, die er auserwählte, hat er die (Anzahl der) Tage verkürzt.” (Mk 13,20) Von daher gilt für die so als Endzeit54 qualifizierte Gegenwart: „Seht nun genau zu, wie ihr wandelt: nicht wie Unweise, sondern wie Weise, auskaufend die Zeit55, denn die Tage sind böse.” (Eph 5,15f) Wenn an dieser Stelle von „Zeit” die Rede ist, die es auszukaufen, also deren Möglichkeiten es so gut es eben geht zu nutzen gilt, steht auch hier nicht etwa die endlos - und unbestimmt - weiterlaufende Zeit, sondern - wie bereits im AT - der „Kairos”, d.h. „eine bestimmte Zeitperiode, ... die von Gott gegebene, von ihm für sein Wirken offengehaltene Zeitspanne”56 vor Augen. Daß diese deuteropaulinische, d.h. aus der Paulusschule stammende Position aus dem Ende des 1. Jh.n.Chr.57, die sich der paulinischen Tradition verbunden wußte, sich - zumindest zum Teil - durchaus auf Paulus berufen konnte, zeigt 1.Kor 7,29a: „Dieses aber sage ich, Brüder: Die Zeit (Kairos) ist zusammengedrängt.”58

54 Vgl. dazu F. Mußner, Der Brief an die Epheser (ÖTK 10), Würzburg 1982, S.147. 55 Dieselbe Wendung begegnet bereits in Kol 4,5, auch hier im apokalyptischen Vor-

stellungsrahmen, vgl. E. Schweizer, Der Brief an die Kolosser (EKK), NeukirchenVluyn 1976, 173. Zum Abhängigkeitsverhältnis von Kol und Eph vgl. Mußner, Epheser, S.18. 56 Schweizer, Kolosser, S.173. 57 Vgl. hierzu Mußner, Epheser, S.33f.36. 58 H. Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther, (KEK V), 11.Aufl., Göttingen

1969, S.158 Anm. 22, sieht an dieser Stelle nicht das spezielle Motiv der Verkürzung der Leiden durch Gott zugunsten der leidenden Gerechten (Mk 13,20) vorliegen; er verweist auf V.31, in dem lediglich mit der Kürze der verbleibenden Zeit argumentiert wird. Ihm ist zumindest insofern zuzustimmen, als Paulus - anders als in der jüdischen Apokalyptik - mit diesem Satz keinen apokalyptischen Trost spenden will.

68 Und ähnlich wie bereits in den jüdisch-apokalyptischen Schriften kann auch Paulus seine Gemeinde zum Durchhalten und Tun des Rechten in Hinblick auf die zukünftige Zeit und die sie bringende Einlösung ihres jetzigen Wirkens auffordern: „Aber das Gute zu tun laßt uns nicht müde werden, denn zur rechten Zeit (Kairos) werden wir ernten, wenn wir nicht ermatten.” (Gal 6,9) Dieser an Koh 3,1.11 („Alles hat seine Zeit”, „Er, Gott hat alles schön gemacht zu seiner Zeit”) erinnernde Verweis an die „rechte” bzw. „bestimmte Zeit” ist aber noch aus einem anderen Grund bemerkenswert. Denn für Paulus führt diese - auf dem apokalyptischen Hintergrund verständliche - Einsicht in die nur noch begrenzt verbleibende eigene Zeit, die sog. „Naherwartung”, nicht etwa zur Weltflucht59 oder zur Aufforderung, diese - böse - Welt-Zeit noch eine - begrenzte - Zeit lang durchbzw. auszuhalten, sondern ganz im Gegenteil zu der Aufforderung: „Darum, weil/solange60 wir jetzt Zeit (Kairos) haben, laßt uns allen gegenüber das Gute tun, ... (V.10a) Der Apostel kommt also - trotz gleicher Beurteilung der Gegenwart wie in der jüdisch-apokalyptischen Bewegung61 - im Gegensatz dazu zu einer gänzlich entgegengesetzten Schlußfolgerung; für ihn ist die jetzige Zeit deshalb unter diesem Aspekt sogar positiv besetzt: „Siehe, jetzt (ist) hochangenehme Zeit (Kairos); siehe, jetzt (ist) der Tag der Rettung!” (2.Kor 6,2b62)

59 Darauf macht mit Recht J .Becker, Der Brief an die Galater, in: J. Becker, H. Con-

zelmann, G. Friedrich, Die Briefe an die Galater, Epheser, Philipper, Kolosser, Thesssalonicher und Philemon (NTD 8), 14.Aufl., Göttingen 1976, S.1-85, S.78, aufmerksam. 60 Vgl. hierzu A. Oepke, bearb. v. J. Rohde, Der Brief des Paulus an die Galater,

(ThHK 9), 5.Aufl., Berlin 1984, S.196. 61 Vgl etwa Röm 1,18ff. 62 In Aufnahme von Jes 49,8 LXX, vgl. V.2a.

69 Denn für ihn „wendet der Glaube an Jesus Christus ... den Vergewisserung suchenden Menschen zurück in diese Welt”63 und Zeit. Von daher kann Paulus in Bezug auf einen christlichen Umgang mit Zeit, ja mit seiner eigenen Lebens-Zeit formulieren: „Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: Wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.” (Röm 14,8) Natürlich beantwortet das in diesem kurzen - und damit auch nur exemplarisch gehaltenen - Abriß skizzierte Verständnis und Verhältnis der Menschen im AT, Frühjudentum und NT zur Zeit - und damit, wie wir sahen, zur eigenen Lebens-Zeit - nicht alle Fragen zu dieser Thematik und liefert uns ebensowenig eine Patentlösung für die eingangs dargestellte Problematik von einerseits sich scheinbar verkürzender und andererseits sich dehnender Zeit: Sich verkürzende Zeit, wenn z.B. nicht nur in der Arbeit mit Seniorinnen bzw. Senioren, sondern ebenso mit Jugendlichen wie jungen Erwachsenen der Zeitdruck in Schule wie Berufsleben zunehmend als bedrängend empfunden wird und sich die Frage nach dem noch Ausstehenden, dem noch als fragmentarisch und nicht abgeschlossen empfundenen eigenen Leben stellt - im Gegensatz zu der atl. Aussage, Abraham starb lebens-satt; und andererseits sich dehnender Zeit - wenn auch aus ganz anderen Gründen als in der Apokalyptik -, wenn nicht mehr Sekunden, sondern bereits Bruchteile von Sekunden zählen und eben nicht mehr ‚alles seine Zeit hat’, wie Koh es formulierte, sondern unsere Zeit und unser ZeitGeschehen für manche einfach nur noch als schwer bzw. sogar als nicht mehr durchschaubar erfahren wird. Vielleicht hat insofern ja die paulinische Sichtweise, die das „Heute”, das „Jetzt” als „hochangenehme Zeit” verstehen, annehmen und ent-

63 U. Luck, Weltverständnis, S.305.

70 sprechend auch im eigenen Alltag umsetzen kann - ohne entweder nur dem Vergangenen nachtrauern oder dem Kommenden nach- bzw. entgegenjagen zu müssen -, vielleicht bietet diese Einstellung im Wissen darum, daß meine Zeit, meine Lebens-Zeit in Gottes Händen liegt und ich bei einem dem entsprechenden ruhigen und gelassenen Umgang mit der Zeit, die mir gegeben und zur Verfügung ist, eben nicht „des Teufels”, sondern: „des Herrn” bin und bleibe; bietet mir diese Einstellung dann ja auch immer wieder neu die Chance, mich - je und zu seiner Zeit - auf all das einlassen zu können, was mir in dieser einerseits hektischen und andererseits vielen Jugendlichen, die nichts rechtes mit ihrer Zeit anzufangen wissen, oftmals so lang vorkommenden Zeit begegnet und so besonnen und sinnvoll mit der Zeit, mit meiner Lebens-Zeit umzugehen, wie es uns der kleine Prinz in der gleichnamigen Geschichte von Antoine de St. Exupery vormacht: „Guten Tag”, sagte der kleine Prinz. „Guten Tag”, sagte der Händler. Er handelte mit höchst wirksamen, durststillenden Pillen. Man schluckt jede Woche eine und spürt überhaupt kein Bedürfnis mehr, zu trinken. „Warum verkaufst du das?” sagte der kleine Prinz. „Das ist eine große Zeitersparnis”, sagte der Händler. „Die Sachverständigen haben Berechnungen angestellt. Man erspart dreiundfünfzig Minuten in der Woche.” „Und was macht man mit diesen dreiundfünfzig Minuten?”

71 „Man macht damit, was man will ...” „Wenn ich dreiundfünfzig Minuten übrig hätte”, sagte der kleine Prinz, „würde ich ganz gemächlich zu einem Brunnen laufen ...”64

64 Antoine de Saint-Exupéry: Der kleine Prinz. Mit Zeichnungen des Verfassers (Titel der französichen Origiginalausgabe: Le petit prince, Paris 1946), ins Deutsche übertragen von Grete und Josef Leitgeb, 1963 Düsseldorf, S.74, XXIII.

Rahmenbedingungen für die Entstehung des Phönizischen und Hebräischen Wolfgang Zwickel, Mainz „Hebräisch ist eine einfache Sprache!“ Dieser Satz gilt auf jeden Fall, wenn man das Hebräische mit dem Ägyptischen oder dem Akkadischen vergleicht. Die Schriftsysteme in Ägypten und Mesopotamien waren viel komplizierter, wiesen viel mehr Zeichen auf und waren viel schwieriger zu erlernen. Nicht verwunderlich ist es daher, dass in beiden Regionen die Schreiber hoch angesehene Personen waren, denn die Ausbildung war aufwändig. Beide Schriftsysteme bestanden aber trotz ihrer Kompliziertheit über mehrere Jahrtausende hinweg und entwickelten sich teilweise weiter. Warum also wurde das Phönizische und – davon abhängig – das Hebräische „erfunden“, noch dazu abseits der hoch entwickelten Kulturblöcke der Antike in einer Region, die eigentlich als rückständig gelten kann?

1. Schreibkenntnisse im spätbronzezeitlichen Palästina In der 2. Hälfte des 2. Jahrtausends stellte das Akkadische die allgemein anerkannte Sprache in der internationalen Korrespondenz Palästinas dar. Deutlich zeigen dies die Amarnabriefe, die zwar an den ägyptischen Hof geschrieben, aber in akkadischer Schrift abgefasst waren. 1 Bemerkenswert sind allerdings die Ergebnisse, die eine Untersuchung des Tones der Amarnabriefe erbrachte.2 Nicht alle Texte wurden offenbar in den Orten geschrieben, deren Absender angegeben sind. Manche Texte stammen offenbar auf Grund der Tonuntersuchungen aus benachbarten Orten. Dies lässt nur den Schluss zu, dass nicht an allen Orten auch Schreiber saßen, die des Akkadischen mächtig waren. Wollte man von einem kleineren

1

Vgl. W.L. Moran, The Amarna Letters (Baltimore/London 1992). Y. Goren/I. Finkelstein/N. Na’aman, Inscribed in Clay. Provenance Study of the Amarna Tablets and Other Ancient Near Eastern Texts (Tel Aviv 2004).

2

74

Ort aus einen Brief an den ägyptischen Pharao schicken, so musste man sich u.U. an einen Schreiber eines Nachbarortes wenden, der dann aus für ihn einheimischem Ton eine Keilschrifttafel formte und nach Ägypten sandte. Die Ergebnisse der Tonuntersuchungen lassen sich für den palästinischen Raum folgendermaßen darstellen: Ortschaft 1 2 3 4

Hazor Achschaf Schimon Akko

5 6

Anaharath Megiddo

7 8

Rehob xxx-mate

9 10 11 12

Ginti-Kirmel Pihilum Sichem Jerusalem

EANummer 227, 228 223 224 232, 234, 235 237-239 242,243, 245, 246, 248, 365 249, 263 221, 222, 257-259 264-266 255, 256 252-254 285-291

13 Gezer

268-273, 292, 297300, 378

14 Gat

63-65, 229, 278, 279, 281-284, 335, 366 311, 329,

15 Lachisch

Herkunft des Tones Hazor Achschaf Ebene von Bet-Schean Ebene von Bet-Schean Anaharath Megiddo

Ebene von Bet-Schean Südliches Karmelgebiet (Tel Yokneam?) Karmel-Gebiet Pihilum Sichem 5 der 7 Briefe sind aus Jerusalem, EA 285 wurde in oder bei Bet-Schean verfasst, EA 291 in oder bei Gezer EA 268-271, 292, 297 aus Gezer, EA 298-300, 378 wurden dagegen in oder bei Gaza verfasst, EA 272 in oder bei Anaharat, EA 273 in oder bei Bet-Schemesch EA 64 und 229 wurden außerhalb von Gat, aber innerhalb des Territoriums verfasst, die übrigen Briefe stammen aus Gat EA 311, 330 und 332 stammen aus

75

16 17 18

19 20 21 22 23 24 25 26

330, 332 (Briefe aus 275-277 der Schefela) Aschdod 294, 296 Ashkelon 302-304, 306, 321, 323-326 Yurza 315, 316 Damaskus 194, 196, 197 Ziribaschan 201 Shashimi 203 Qanu 204 Tob 205 Aschtarot 364 Zuhra 334, 336, 337

Lachisch, EA 329 aus Gaza Schefela Südliche Küstenebene (Aschdod?) Südliche Küstenebene (Gaza?, Aschkelon?) Yurza Damaskus

Südlicher Baschan/Yarmuktal Südlicher Baschan/Yarmuktal Südlicher Baschan/Yarmuktal Südlicher Baschan/Yarmuktal Aschtarot EA 334 und 336 wurden bei Zuhra verfasst, EA 337 in oder bei Aschtarot 27 Scharuna 241 Südlicher Baschan/Yarmuktal 28 (Briefe aus 200, 202, EA 200 und 202 stammt aus dem dem Ba- 207-210 südlichen Baschan/Yarmuktal, EA schan) 207 aus Aschtarot, EA 208-210 aus Damaskus Deutlich erkennbar ist, dass die Zahl der Schreiber in Palästina begrenzt war. Nicht jeder Fürstensitz konnte sich einen Schreiber leisten, denn die Ausbildung im Akkadischen war aufwändig. Da das Akkadische die zentrale Schrift in der Spätbronzezeit war, wird man davon ausgehen dürfen, dass kaum mehr als zwanzig Leute sowie deren Söhne, die das Amt des Schreibers von ihrem Vater übernommen haben dürften, im gesamten Raum Palästinas in der Lage waren, lesen und schreiben zu können. Vielleicht verringert sich die Zahl sogar noch mehr, wenn der

76 Schreiber von Gezer im Südwesten Palästinas herumreiste 3 , dort die Texte mehrerer Ortslagen verfasste und vielleicht sogar das GilgameschFragment aus Megiddo in Gezer verfasst wurde4. Unter diesen Schreibkundigen wird man auch jene Leute suchen dürfen, die sich ab der Mitte des 2. Jahrtausends v.Chr. um eine Vereinfachung der Schrift verdient machten.

2. Sinai-Inschriften und Inschriften aus Palästina Erste Anfänge für ein eigenes einfacheres Schriftsystem finden sich im Wadi el-Hol in Ägypten. Eine Datierung um 1800 v.Chr. scheint bisher für diese Inschriften am wahrscheinlichsten, auch wenn hierüber noch keine völlige Klarheit erzielt wurde.5 Die schon seit langem bekannten Sinaiinschriften stammen – je nach Forschungsansatz – aus der Zeit zwischen 1800 und 1500 v.Chr. 6 Beide Schriften wurden wohl nicht von Ägyptern entwickelt, sondern von Semiten, die mit den Ägyptern in Kon-

3

Vgl. dazu J.-P. Vita, The Gezer-Corpus of El-Amarna: Umfang und Schreiber, Zeitschrift für Assyriologie 90 (2000), 70-77; ders., Der biblische Ortsname Zaphon und die Amarnabriefe EA 273 und 274, Ugarit-Forschung 37 (2005), 673-677. 4 Y. Goren u.a., A Provenance Study of the Gilgamesh Fragment from Megiddo, Archaeometrie 51:5 (2009), 763-773. 5 J.C. Darnell, Two Early Alphabetic Inscriptions from the Wadi el-Hol, AASOR 49 (2005), 63-124. 6 B. Sass, The Genesis of the Alphabet and its Development in the Second Millenium B.C. (ÄAT 13; Wiesbaden 1988), 8-50. Eine neuentdeckte Inschrift aus Timna, die möglicherweise ebenfalls als proto-sinaitisch anzusehen ist, dürfte die Diskussion um die Datierung der Inschriften wieder neu beleben. Ich danke Herrn J. Otto von der Organisation stonwatch für die Mitteilung des Fundes und Herrn St. Wimmer für eine allererste Information über die noch unveröffentlichte Lesung der Inschrift. Die Frage nach der Datierung der protosinaitischen Inschriften sollte durch surveyarchäologische Untersuchungen weiter abgesichert werden. Wenn Inschriften in einer bestimmten Gegend gefunden wurden, dann sollten auch entsprechende archäologische Befunde aus jener Zeit in der Region nachweisbar sein.

77 takt traten. 7 Der intensive Kontakt, der seit der Hyksoszeit zwischen Ägypten und Palästina bestand, machte scheinbar ein einfacheres Schriftsystem erforderlich, auch wenn letztendlich die Ägypter mit ihrem alteingeführten Schriftsystem offenbar noch immer dominant waren und gegen Ende der Spätbronzezeit erstmals mehrere hieratische Inschriften im Süden Palästinas belegt sind.8 Dass aber die Entwicklung einer neuen nichtägyptischen Schrift in der 1. Hälfte des 2. Jt.s v.Chr vorangetrieben wurde, belegen auch entsprechende proto-kanaanäische Inschriften aus Sichem, Gezer, Tel Nagila und Lachisch,9 die aus dem 17. oder 16. Jh. v.Chr. stammen und damit möglicherweise älter als die Sinaiinschriften sind. Die Kontakte der Hyksos mit Ägypten, die über reine Handelskontakte hinausgingen und auch intensive politische Beziehungen und Abhängigkeiten umfassten, führten wohl zu ersten Experimenten mit einer einfacheren Schrift. Der wirtschaftliche Druck war aber offenbar noch nicht groß genug für eine Vereinfachung der Schrift. Die Ägypter waren zu dominant, und auch die Hyksos übernahmen die ägyptische Schrift, da sie schon weit entwickelt war. Ein so entwickeltes politisches und wirtschaftliches System wie das Alte Ägypten vertrug schlichtweg keine völlig neue und einfachere Schrift. Es bot sich schon aus praktischen Gründen an, am Wohlbewährten festzuhalten. Andererseits war für den internationalen Verkehr das Akkadische einfacher zu erlernen, so dass diese beiden jeweils relativ komplizierten Schriftsysteme in der Spätbronzezeit noch immer die führenden Schriften waren.

3. Das Schriftsystem von Ugarit

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G.J. Hamilton, The Origin of the West Semitic Alphabet in Egyptian Scripts, The Catholic Biblical Quarterly Monograph Series 40, Washington 2006. 8 St. Wimmer, Palästinisches Hieratisch. Die Zahl- und Sonderzeichen in der althebräischen Schrift (ÄAT 75; Wiesbaden 2008),11f. 9 Sass, Genesis, 53-58.

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Diese Situation änderte sich mit einer ersten Blüte des Mittelmeerhandels erheblich. Das Schiff von Ulu Burun, das gegen Ende des 14. Jh. v.Chr. sank, enthielt Waren aus dem gesamten östlichen Mittelmeerraum.10 Der Handel bei der damals praktizierten Küstenschifffahrt reichte von Griechenland bis nach Ägypten. Wer an diesem Handel partizipieren und Handelsabschlüsse schriftlich fixieren wollte, musste ein einfaches Schriftsystem benutzen. Die schwer zu erlernenden ägyptischen und akkadischen Schriftzeichen waren für den nun aufkommenden internationalen Handel mit Mykene, Kreta, Kleinasien und Zypern einfach zu kompliziert. Die Händler waren keine erfahrenen Schreiber, so dass sie ohnehin überfordert gewesen wären, ein solches Schriftsystem zu erlernen. Der wichtigste Handelsplatz dieser Zeit war Ugarit – ideal gegenüber von Zypern an der Küste gelegen und gleichzeitig an einer Straße, die zum Eufrat führte. Es ist nicht verwunderlich, dass an solch einem Ort ein vereinfachtes Schriftsystem entwickelt wurde. Der Handel machte es erforderlich, einfache Wirtschaftskontakte festzuhalten, aber auch innerhalb der multikulturellen Gesellschaft der Stadt Ugarit Sachverhalte schriftlich zu fixieren. Dass man hier weiterhin die Keilschrift als Grundlage für das neue Schriftsystem benutzte, ist angesichts des dominanten Einflusses des Akkadischen in dieser Stadt nicht verwunderlich – neben den ugaritischen Keilschrifttexten wurden auch zahlreiche in akkadischer Keilschrift gefunden.

4. Erste phönizische Inschriften mit dem Aufkommen des Mittelmeerhandels Das Aufkommen der phönizischen Schrift war eine logische Konsequenz dieser Entwicklung. Der Zusammenbruch des internationalen Handels um 1175 v.Chr., bedingt letztendlich durch die Ansiedlung der Philister an der südlichen Küstenebene Palästinas, führte zu einer Staatenbildung in ganz Palästina. Im Verlauf der folgenden 200 Jahre bildeten sich all-

10

Ünsal Yalcin, Cemal Pulak, Rainer Slotta (Hrsg.), Das Schiff von Uluburun – Welthandel vor 3000 Jahren. Katalog zur Ausstellung (Bochum 2005).

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mählich stabile Nationalstrukturen heraus (Israel, Juda, Edom, Moab, Ammon, Aram), die ihre ersten Anfänge schon im 13. Jh. hatten. Bis wirklich funktionierende Strukturen mit einer eigenen Verwaltung entstanden, vergingen jedoch noch Jahrhunderte. Die neue politische Situation war vor allem für den südpalästinischen Raum wichtig. Dort zogen sich nun die Ägypter, die hier noch mit ihrer hieratischen Schrift bis kurz nach 1175 v.Chr. wichtige Dokumente verfassten, zurück, weil sie ihre Oberhoheit nicht halten konnten. Die Philister mögen ein eigenes Schriftsystem gehabt haben,11 das sich aber in dem fremden Land nicht durchsetzen ließ. Das Land der Philister war zu klein, um dieses Schriftsystem zu einer weiteren Blüte zu verhelfen. Die Philister übernahmen im Laufe der Zeit das phönizische bzw. hebräische Schriftsystem, denn für die sich schon in der Eisenzeit I entwickelnden Kontakte mit den Judäern benötigte man ein kompatibles Schriftsystem.12 Es mag kein Zufall sein, dass gerade im Grenzbereich Juda-Philistäa im 12. Jh. die wichtigsten neuen Inschriften finden (in Lachisch, Bet Schemesch, Izbet Sarta, Qubur al-Walaida).13 Die Phönizier brachten relativ schnell nach der Krisenzeit um 1200 v.Chr. den Mittelmeerhandel unter ihre Kontrolle. Spätestens im 9. Jh. kontrollierten sie bereits weitgehend den gesamten Mittelmeerhandel; die – wenn auch schwer greifbaren, weil noch sehr spärlichen – Anfänge werden schon früher liegen. Das Anliegen, die wirtschaftliche Macht im Mittelmeerraum zu übernehmen, wird spätestens im 10. Jh. begonnen worden sein und wurde dann allmählich ausgebaut. Der Reisebericht des Wen-Amun aus dem späten 11. Jh. v.Chr. erwähnt die „Tagesrollen der

11

Vgl. vor allem F.M. Cross/L.E. Stager, Cypro-Minoan Inscriptions Found in Ashkelon, IEJ 56 (2006), 129-159; F.M. Cross, A Philistine Ostracon From Ashkelon, BAR 22/1 (1996), 64f.; J. Naveh, Writing and Scripts in 7th Century B.C.E. Philistia: The New Evidence from Tell Jemmeh, IEJ 35 (1985), 8-21 sowie zu möglichen philistäischen Worten im AT M. Ellenbogen, Foreign Words in the Old Testament. Their Origin and Etymology (London 1962), 82.126. 12 W. Zwickel, Die Landnahme in Juda, UF 25 (1993; 1994 erschienen), 473-491. 13 Zu den Inschriften vgl. z.B. die Zusammenstellung von Sass, Genesis und die dortige Karte 294.

80

Väter“ (II/8), auf denen wichtige administrative Dinge für die Hafenstadt Dor, die wichtigste Stadt der Seevölkergruppe der Tschekker, verzeichnet waren. Zwar wissen wir nicht, in welcher Schrift diese Texte verfasst waren. Es wäre aber nicht verwunderlich, wenn solche Archive auch bereits in der neuen phönizischen Schrift verfasst worden wären, denn Dor lag am Meer, lebte vom Handel und stand sicherlich in einem engen Austausch mit den Phöniziern. Wer überregionalen Handel treiben will, muss ein einfaches Schriftsystem haben. Das hatten die Erfahrungen im nordsyrischen Ugarit gezeigt. Da im phönizischen Raum der Einfluss der Keilschrift nicht mehr so stark war – auch in den phönizischen Städten wird es allenfalls einen Keilschriftkundigen gegeben haben –, bot es sich an, die Schriftentwicklungen im philistäisch-judäischen Raum aufzunehmen, weiter auszubilden und zu entwickeln. So entstand eine Schrift, die dann dank der wirtschaftlichen Potenz der Phönizier auch im gesamten europäischen Raum übernommen wurde.

5. Fazit Die Frage nach Entwicklung des Alphabets wurde in der Vergangenheit häufig einseitig auf dem Hintergrund paläographischer Argumente geführt. Viel zu wenig beachtet wurde die Frage, warum man denn neue Schriftsysteme entwickeln musste. Die hier gebotene Darstellung berücksichtigt die Frage der wirtschaftlichen und dann um 1175 v.Chr. auch der politischen Verhältnisse viel mehr als dies bisher geschehen ist. Die Frage nach der Bedeutung des Handels für die Entwicklung der Schrift ließe sich auch an Hand der Entstehung weiterer Schriftsysteme des 1. Jt.s v.Chr. darstellen.14

14

Vgl. dazu überblicksartig W. Zwickel, Von der Keilschrift zum Codex, in: J. Schefzyk (Hrsg.), Alles echt. Älteste Belege zur Bibel aus Ägypten (Mainz 2006), 17-30.

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„Hebräisch ist eine einfache Sprache“, das können zumindest all jene sagen, die in den letzten Jahrzehnten bei Schorsch Warmuth diese Sprache erlernt haben und seine österreichische Geduld selbst bei mangelhaften Kenntnissen erleben durften. Diese kleinen Zeilen möchten dem alten Freund für all die Geduld und Mühe mit manch schlechten Hebräischkenntnissen bei den Studierenden danken. Von dieser nahezu grenzenlosen Geduld konnte ich dann in meiner Kieler Zeit in den Proseminaren profitieren, denn die Studierenden hatten letztendlich doch noch die „einfache“ Sprache ausreichend gut erlernt.

Die Gemination des Qoph im Biblischen Hebräisch Zugleich Überlegungen zur Bestimmung auffälliger Formen der 1 Verbalwurzel dqp Christian Rose, Kiel Im Richterbuch fallen im letzten Kapitel vier ungewöhnliche Verbformen auf: Ri 20,15a Wdq.P'(t.YIw: , Ri 20,15b Wdq.P't.h,i Ri 20,17 Wdq.P'(t.hi und Ri 21,9 dqeP't.YIw.: Alle vier Formen sind von der Wurzel dqp gebildet: 20,15a ist eine 3. Person maskulin Plural wayyiqtol,2 20,15b wie 20,17 eine 3. Person maskulin Plural qatal,3 21,9 eine 3. Person maskulin Singular wayyiqtol. Alle Formen sind im Blick auf ihre Beleglage eindeutig und textkritisch unstrittig.4 Die Formen in 20,15a und 21,9 werden in der Masora parva als hapax legomena verzeichnet. Die Form 20,17 ist mit einem bO als nochmals (nämlich in 20,19) belegt angezeigt; in dieser Ausprägung hat sie einen Rԥbiac über dem d. Die Form in Ri 20,15b weist im Codex B19A (Codex Leningradensis bzw. Petropolitanus) zwei Akzente auf, nämlich MûnäH (statt Mætæg wie in 20,17) und Zäqëp qäôôn; auch bei dieser Form weist die Masora parva durch das bO auf einen

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Dr. Georg Warmuth in bester Erinnerung an die Jahre 2002-2010 mit herzlichen Glückwünschen zum 65. Geburtstag gewidmet. Was hier mit „wayyiqtol“ bezeichnet ist, heißt in anderer Terminologie „Imperfectum consecutivum“, „PK (= Präformativkonjugation) consecutivum“ oder „Narrativ“. Was hier mit „qatal“ bezeichnet ist, heißt in anderer Terminologie „Perfekt“, „AK (= Afformativ-)“ oder „SK (= Suffixkonjugation)“. Belegt sind die Formen in gleicher Weise im Codex Aleppo, der ältesten erhaltenen, das ganze Alte Testament umfassenden Handschrift aus der Schule Ben Ascher, vgl. den den Stellen die Ausgabe von Goshen-Gottstein, M.H. (ed.), The Aleppo Codex. Provided with massoretic notes and pointed by Aaron ben Asher. The codex considered authoritative by Maimonides, Part One, Plates, Jerusalem 1976.

84 nochmaligen Beleg hin (nämlich in 20,17).5 Die Septuaginta gibt die Formen in allen Fällen als Formen im Aorist Passiv wieder, in Ri 20,15a.b.17 mit evpeske,phsan, in 21,9 mit evpeske,ph. Die Formen sehen im hebräischen Text zunächst wie Hitpacel-Formen aus, bei denen anstelle der Verdoppelung des zweiten Radikals Ersatzdehnung des vorausgehenden Vokals stattgefunden hat, vgl. als Beispiele Wqr>P't.hi (Ez 19,12) und Wqr>P")t.YIw: (Ex 32,3). Ersatzdehnung ist jedoch lediglich vor Laryngalen und r üblich, vor Lauten also, die nach den masoretischen Regeln nicht verdoppelt werden können. Wenn in Ri 20,15.17; 21,9 das q wie ein Laryngal behandelt sein sollte, wäre das ein ungewöhnlicher Umgang mit einem q; gleiches gilt für die Form Wdq.P't.h' in Num 1,47; 2,33; 26,62; 1Kön 20,27, die zudem durch die ungewöhnliche Vokalisation der Präformativsilbe -t.h' auffällt. Um die Formen im Richterbuch zu bestimmen, soll zunächst geklärt werden, ob q wie ein Laryngal verstanden und artikuliert werden konnte. Sodann sollen eine Reihe von Formen überprüft werden, die bei der Verdoppelung des q ähnliche Effekte zeigen wie die Formen in Ri 20f.

1. Grundlegendes zu Qoph als Konsonant Das q ist der 19. Buchstabe des hebräischen Alphabets. Wird es als Zahl verwendet, trägt es den Wert 100. q begegnet neben dem Bibeltext vor allem als Signalbuchstabe, den die Masoreten zum Hinweis auf eine in ihren Augen auffällige Lesart des hebräischen Textes verwendet haben, für das also, was als „Ketib-Qere-Problem“ bezeichnet wird. E. Jenni charakterisiert – ähnlich wie R. Bartelmus6 – q mit j und c als

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Auf das Problem der „Mp sub loco“-Verweise soll hier nicht näher eingegangen werden. Bartelmus, R., Einführung in das Biblische Hebräisch – ausgehend von der grammatischen und (text-)syntaktischen Interpretation des althebräischen Konsonantentextes des Alten Testaments durch die tiberische Masoretenschule des Ben Ascher – mit ei-

85 „emphatische Laute, mit besonderer Anspannung und velarisiert (weiter hinten) ausgesprochene stimmlose t-, s- und k-Laute [..].“7 Jenni unterscheidet somit einerseits zwischen g, k und q als velarisierten und y und v als palatalen Gaumenlauten und hebt andererseits die Gruppe der Gaumenlaute von der Gruppe der Kehllaute ab, der er die laryngalen Kehllaute x und [ sowie die glottalen Kehllaute a und h zuweist.8 R. Meyer beschreibt q als „zwischen Zungenwurzel und Gaumensegel gesprochenes stimmloses k [...].“9 Die Gesenius-Grammatik in der Bearbeitung von E. Kautzsch beschreibt q als „starkes am Hintergaumen gebild. k“,10 weist g, k und q aber – anders als Jenni – pauschal der Gruppe der emphatischen „Gaumenlaute (Palatale)“ zu und unterscheidet diese nicht weiter.11 Ähnliches geschieht in Gesenius17; dort ist q beschrieben als „ein emphat. Laut, der sich dadurch von k unterscheidet, daß er am hinteren Gaumen n. d. Kehle zu m. starker Artikulation gesprochen w.“12 Präziser und mit einem Beispiel definiert Gesenius18 nem Anhang: Biblisches Aramäisch für Kenner und Könner des Biblischen Hebräisch, Zürich 22009, 28. Rüdiger Bartelmus danke ich herzlich für seine kritische Lektüre und die Gelegenheit, die hier erarbeiteten Ergebnisse weiterführend zu diskutieren; ihm verdanke ich auch den Impuls, das Thema „glottal stop“ in Abschnitt 7 noch mit aufzunehmen. 7 Jenni, E., Lehrbuch der hebräischen Sprache des Alten Testaments. Neubearbeitung des „Hebräischen Schulbuchs“ von Hollenberg-Budde, Frankfurt 21981, 28. 8 Vgl. die Tabelle bei Jenni, Lehrbuch, 29. 9 Meyer, R., Hebräische Grammatik. Mit einem bibliographischen Nachwort von U. Rüterswörden, Berlin, New York 1992, §8,12, 47. 10 Wilhelm Gesenius’ Hebräische Grammatik. Völlig umgearbeitet von E. Kautzsch, Facsimile der Siloah-Inschrift beigefügt von J. Euting, Schrifttafel von M. Lidzbarski, Leipzig 281909 (= Hildesheim, Zürich, New York 1985), §5b, 27. Im folgenden zitiert als Ges-K28. 11 Ebd. §6o, 36. Martin, J.D., Hebräische Elementargrammatik. Übersetzt von A.C. Hagedorn, Tübingen 1998, 10, bezeichnet die „Gaumensegellaute“ mit q als einzigem Vertreter als „Uvulare“ im Unterschied zu den „Velaren“ g / G und k / K. 12 Wilhelm Gesenius’ Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament. In Verbindung mit H. Zimmern, M. Müller u. O. Weber bearbeitet von F. Buhl, unveränderter Neudruck der 1915 erschienenen 17. Auflage, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1962, 697. Im folgenden zitiert als Gesenius17.

86 das q als „emph. Konsonant: eine velare, stimmlose Explosiva, ein zw. Zungenwurzel u. Gaumensegel gesprochenes aspirationsloses k, entspr. alemannisch k i. i denk dra [...].“13 Das Beispiel „i denk dra“ vermag die Härte in der Aussprache des q gut zu zeigen. In dieser Lautgestaltung gibt es etwa im Deutschen heute keinen unmittelbar vergleichbaren Laut; zwar wird zur Artikulation des q häufig auf den uns vertrauten q-Laut verwiesen, doch ist q im Vergleich dazu lautlich härter und wird am Gaumen noch weiter hinten gebildet. Zudem: Im Deutschen erscheint q immer nur als Digraph qu. Im Hebräischen dagegen ist q nicht auf einen bestimmten Vokal festgelegt; hier können alle Modifikationen der drei Grundvokale a, i und u folgen und vorausgehen.

2. Forschungsgeschichtlicher Überblick Die Bestimmung der Formen in Ri 20,15.17; 21,9 ist strittig; die Klassifikation als Hitp. war in der Vergangenheit immer nur eine Möglichkeit unter anderen. Neben den Formen war immer auch die Semantik der Wurzel dqp Gegenstand von Untersuchungen. Es lassen sich entsprechend Studien unterscheiden, die mit vor allem semantischem Interesse erarbeitet wurden, und Studien, die den Fokus auf die Fragen der

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Gesenius, W., Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament. Begonnen von R. Meyer, bearbeitet und herausgegeben von H. Donner, 18. Auflage, Berlin, Heidelberg, 1. Lieferung a-g 1987, 2. Lieferung d-y 1995, 3. Lieferung k-m 2005, 4. Lieferung n-p 2007, 5. Lieferung c-f 2009, 1142. Im folgenden zitiert als Gesenius18. Ähnlich auch Bartelmus, Einführung, 28, und – ohne das Beispiel – Köhler, L. / Baumgartner, W., Hebräisches und Aramäisches Lexikon zum Alten Testament (HALAT). Dritte Auflage, neu bearbeitet von W. Baumgartner, J.J. Stamm und B. Hartmann unter Mitarbeit von Z. Ben-"ayyim, E.Y. Kutscher und P. Reymond, Leiden, New York, Köln 1995, 991, sowie Joüon, P. / Muraoka, T., A Grammar of Biblical Hebrew. Volume I, Part One: Orthography and Phonetics, Part Two: Morphology, SubBi 14/I, Rom 1993, §5i, 25.

87 konkreten Formbestimmung gelegt haben.14 Zur ersten Gruppe gehören die Arbeiten von R.K. Holler,15 E.A. Speiser,16 P. Middelkoop,17 H.S. Gehman,18 B. Grossfeld,19 T.E. McComiskey,20 J.R. Spencer21 und S.A. Creason.22 Es ist denkbar, daß auch die Arbeit J.B. van Hooser23 in diese Reihe zu stellen ist; sie war mir jedoch im Zuge der Vorbereitung dieser Studie unzugänglich. Einen guten Überblick über das Ganze ermöglichen die Lexikonartikel von W. Schottroff24 und G. André25 sowie dessen 14

Einen dritten Zugang wählte Lübbe, J.C., Hebrew Lexicography: A New Approach, in: Journal for Semitics 2 (1990), 1-15. Hier wird die Wurzel dqp mit dem Ziel untersucht, ein neues lexikographisches System zu entwickeln. Die Stellen im Richterbuch werden zwar benannt, jedoch nicht in bezug auf die Formbestimmung problematisiert, vgl. ebd. 11. 15 Holler, R.K., The Meaning of PQD, Chicago 1957. Mein herzlicher Dank gilt KlausPeter Adam, der mir die – ungedruckte – Master-Arbeit von Holler zugänglich gemacht hat. 16 Speiser, E.A., Census and Ritual Expiation in Mari and Israel, in: BASOR 149 (1958), 17-25. 17 Middelkoop, P., A Word Study. The Sense of PAQAD in the second Commandment and its general background in the O.T. in regard to the translation into the Indonesian and Timorese Languages, in: SEAJT 4 (1963), 33-47.56-65. Für die Beschaffung dieses selten nachgewiesenen und schwer erhältlichen Aufsatzes danke ich Rolf Langfeldt, dem Leiter der Fachbibliothek der Theologischen Fakultät Kiel, herzlich. 18 Gehmann, H.S., VEpiske,p[t]omai, evpi,skeyij, evpi,skopoj, and evpiskoph, in the Septuagint in Relation to dqp and other Hebrew Roots – a Case of Semantic Development Similar to that of Hebrew, in: VT 22 (1972), 197-207. 19 Grossfeld, B., The Translation of Biblical Hebrew dqp in the Targum, Peshitta, Vulgate and Septuagint, in: ZAW 96 (1984), 83-101. 20 McComiskey, T.E., Prophetic Irony in Hosea 1.4: A Study of the Collocation l[ dqp and its Implications for the Fall of Jehu’s Dynasty, in: JSOT 58 (1993), 93-101. 21 Spencer, J.R., PQD, the Levites, and Numbers 1-4, in: ZAW 110 (1998), 535-546. 22 Creason, S.A., Semantic Classes of Hebrew Verbs: A Study of Aktionsart in the Hebrew Verbal Stem. Volume One, Chicago / IL 1995, und Ders., PQD Revisited, in: Miller, C.L. (ed.), Studies in Semitic and Afroasiatic Linguistics Presented to Gene B. Gragg (SAOC 60), Chicago / IL 2007, 27-42. Auch für die Beschaffung der nicht im Druck erschienenen Dissertation von Creason danke ich Klaus-Peter Adam. 23 Van Hooser, J.B., The Meaning of the Hebrew Root PQD in the Old Testament, Harvard 1962. 24 Schottroff, W., Art. dqp pqd heimsuchen, in: THAT II (62004), 466-486.

88 Dissertation.26 Im Blick auf die zweite Gruppe und also für die Frage nach der eigentlichen Formbestimmung sind drei Lösungsansätze zu unterscheiden, wie bereits E. König aufgezeigt hat: „[D]ie Formen [...] sind auf 3fache Weise aufgefasst worden: a) Sie sind zu Hithqa.[27] ohne Begründung gestellt worden von Qimchi [...]. – b) Aber Olshausen hat es [...] für möglich erklärt, dass das Qames auch ein ursprüngliches â sei, obgleich [...] sonst überall sich für â nur ô hinter dem 1. Stammcons. zeige. – c) Nöldeke [...] hat die Form zu einem Reflexivstamm vom Qaôal gemacht; ebenso Kautzsch [...];[28] Stade [...].“29 Nur zwei davon – der erste und der letzte – spielen in der aktuellen Diskussion noch eine Rolle. König selbst favorisierte die erste Lösung: „Für die erste Ansicht fällt entscheidend ins Gewicht, dass gerade aus dem vocallosen q wegen dessen gutturalartiger Schwierigkeit die Verdoppelung oft ausgefallen ist. Und wenn nun dabei auch immer im Qi. die Verdoppelung virtuell blieb, also keine Ersatzdehnung eintrat, so kann doch in der längeren Wortgestalt des Hithqa. Ersatzdehnung in der drittletzten Silbe eingetreten sein, damit ein kräftigerer Gegenton gewonnen werde. Von diesem Falle aus, wo das q vocallos geworden war, kann sich dann die Ersatzdehnung auch in die Fälle hineingezogen haben, wo q einen Vocal hinter sich hatte. – Die 1. Ansicht erscheint mir also näher liegend als die 2. [...], weil das Qi. und Qu. von dqp die gewöhnliche Intensivbildung

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André, G., Art. dq"P' pƗqaD, in: ThWAT VI (1989), 708-723. Ders., Determining the Destiny. PQD in the Old Testament (CB.OT 16), Uppsala 1980. 27 König ging von ljq als Musterverb aus und bildete die Namen der Stämme entsprechend. Was er als „Qaôal“ bezeichnet, heißt heute in der Regel Qal (manchmal kal), „Qiôôel“ Piccel, „Quôôal“ Puccal, „Hithqaôôel“ Hitpaccel etc. 28 Gemeint ist Ges-K28. 29 König, E., Historisch-kritisches Lehrgebäude der hebräischen Sprache, mit steter Beziehung auf Qimchi und die anderen Auctoritäten. Erste Hälfte: Lehre von der Schrift, der Aussprache, dem Pronomen und dem Verbum, Leipzig 1881, §25,7, 198. 26

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dQePi [...] Jes. 13,4 und dQ;Pu [...] 2 M 38,21[30] zeigen.“31 Nach Königs Ansicht hat an den vier Stellen im Richterbuch also Ersatzdehnung vor q stattgefunden.32 Für diesen Effekt verweist König auf die „Ersatzdehnung vor Gutturalen, r u. q“ und stellt qzE (Pl. ~yQiz)I und hq"yzI (Pl. tAqyzI) als analoge Beispiele vor.33 Seine Formbestimmung hat eine Reihe von Anhängern gefunden. Bereits die Grammatik von Gesenius bezieht sich explizit auf König und sieht die Formen im Richterbuch als „Hitpacelformen mit abnormer Aufhebung der Verstärkung des q.“34 Gleiches geschieht in der 17. Auflage des Wörterbuchs von Gesenius.35 Dieser Analyse folgen Scharbert,36 Fredrick,37 André38 und Williams.39 Daneben diskutierte König die Möglichkeit, ob es sich bei den vier Formen im Richterbuch um t- bzw. ta-Reflexivbildungen vom Qal 30

Gemeint ist Ex 38,21. König, Lehrgebäude I, §25,7, 198f. 32 Ähnlich äußert er sich auch in Ders., Hebräisches und aramäisches Wörterbuch zum Alten Testament mit Einschaltung und Analyse aller schwer erkennbaren Formen, Deutung der Eigennamen sowie der massoretischen Randbemerkungen und einem deutsch-hebräischen Wortregister, Wiesbaden 71969, 371. In dieser Linie ist wohl auch Keil, C.F., Biblischer Commentar über die prophetischen Geschichtsbücher des Alten Testaments. Erster Band: Josua, Richter und Ruth (BC 2,1), Leipzig 1874, 365, zu verstehen, der von „aufgehobener Verdoppelung“ spricht. 33 Ders., Historisch-kritisches Lehrgebäude des Hebräischen. Zweite Hälfte: Historischkritisches Lehrgebäude der hebräischen Sprache mit comparativer Berücksichtigung des Semitischen überhaupt, 1. Teil: Abschluß der speziellen Formenlehre und generelle Formenlehre, Leipzig 1895, §130,2b, 496. Ähnlich auf Ges-K28, §20n, 78. 34 Ges-K28, §54l, 158. 35 Gesenius17, 655. 36 Scharbert, J., Das Verbum PQD in der Theologie des Alten Testaments, in: Koch, K. (Hrsg.), Um das Prinzip der Vergeltung in Religion und Recht des Alten Testaments (WdF 125), Darmstadt 1972, 278-299, hier 285; der Aufsatz wurde zuerst veröffentlicht in BZ.NF 4 (1960), 209-226. 37 Fredrick, B.A., A Phenomenological Study of the Hithpa’el Verbal Stem in the Hebrew Old Testament, Ann Arbor / MI 1976, 9.189; unklar ist die Bestimmung ebd. 17. 38 André, Destiny, 33.53.155.226, und Ders., dq"P,' 711. 31

39

Williams, T.F., Art. 7212 dqp, in: NIDOTTE 3 (1997), 657-663.

90 handeln könnte. Er bezieht sich hier vor allem auf Nöldeke als ersten Vertreter dieser Formbestimmung. Nöldeke leitete die Form aus dem Äthiopischen und dem Arabischen ab und erklärte, daß die Form über das Aramäische „notwendig im Hebräischen zu dqeP't.hi werden“ mußte;40 es sei „auffallend, dass diese einfache Erklärung bis in die jüngste Zeit immer verkannt ist, indem man hier überall einen Ausfall der Verdoppelung mit Dehnung des a annahm.“41 Nach König hat aber diese Ansicht Nöldekes „das Missliche, dass sie nur diese [e]ine Spur von äthiopisch-aramäischem Reflexiv-Passiv zu Qal im Hebr. anzeigen könnte [...].“42 Dennoch hat sie in der Diskussion eine immer größer werdende Rolle gespielt, seit C. Brockelmann das nur bei dqp erhaltene Reflexiv des Grundstammes mit „sie stellten sich zur Musterung“ übersetzte.43 Der Analyse und Übersetzung Brockelmanns folgten G. Bergsträsser,44 I. Eitan,45 H. Yalon,46 J. Blau,47 H. Fürst,48 H. Bauer und P.

40

Nöldeke, T., Kleine Beiträge zur hebräischen Grammatik, in: AWEAT 1 (1869), 456460, hier 458. 41 Ebd. 459. Vgl. auch ders., Inkonsequenzen in der hebräischen Punktation, in: ZA 26 (1912), 1-15; Nöldeke stellt hier erst die Formen aus Num 1,47; 2,33; 26,62; 1Kön 20,27 vor und sieht Ri 20,15.17; 21,9 „in derselben Bedeutung“, vgl. ebd. 1. 42 König, Lehrgebäude I, §25,7, 199. 43 Brockelmann, C., Grundriss der vergleichenden Grammatik der semitischen Sprachen. In zwei Bänden, I. Band: Laut- und Formenlehre, Berlin 1908 (= Hildesheim 1961), §257H.a.d, 529f. 44 Bergsträsser, G., Hebräische Grammatik. Mit Benutzung der von E. Kautzsch bearbeiteten 28. Auflage von Wilhelm Gesenius’ hebräischer Grammatik, II. Teil: Verbum, Leipzig 1929 (= Hildesheim, Zürich, New York 1985), §18i, 100; Bergsträsser zieht die Form aFen:t.hi (Ez 17,14) als Vergleich hinzu. Wichtig ist seiner Ansicht nach, daß die Formen im Richterbuch „jetzt als Hitp.“ vokalisiert sind, vgl. ebd. 45 Eitan, I., Light on the History of the Hebrew Verb (l[eP;nI or intensive l[;p.n)I , in: JQR.NS 12 (1921), 25-32, hier 26. 46 Yalon, H., HithpƗcelformen im Hebräischen, in: ZAW 50 (1932), 217-220, hier 217. 47 Blau, J., Über die t-Form des Hifcil im Bibelhebräisch, in: VT 7 (1957), 385-388, hier 386. 48 Fürst, H., Die göttliche Heimsuchung. Semasiologische Untersuchung eines biblischen Begriffes (TL.T 173), Rom 1965, 25.

91 Leander49 sowie R. Meyer,50 und auch in der 18. Auflage des Gesenius findet sie sich.51 Trotz einer teilweise anderen Terminologie sind auch die Arbeiten von W. Chomsky und L. Köhler und W. Baumgartner in diese Gruppe einzuordnen. Chomsky stellt drei Kategoriereihen auf: „1. Kal [...], Nif‘al, Hif‘il, Hof‘al, HitpƗ‘el [...]; 2. Pi‘el, Nipa‘el [...], Hafa‘al [...], Hofa‘al [...], Hithpa‘el; 3. Po‘el, Nipo‘el [...], Hithpo‘el [...].“52 Die Formen des Richterbuches gehören seiner Analyse nach zur ersten Gruppe, also zu HitpƗ‘el im Unterschied zu Hithpa‘el. Analog zeigt sich der Eintrag im Lexikon von Köhler und Baumgartner; die Formen werden hier als „hitpƗel (qal mit praefigiertem t in pass. Bedeutung [...])“ bestimmt.53 Im Detail schwierig ist die Analyse bei W. Schottroff, wie die folgende Äußerung zeigt: „Eine Besonderheit bieten [...] das Hitp. und das mit ihm bedeutungsgleiche Hotp. ‚gemustert werden‘, die wegen der fehlenden Verdopplung des mittleren Radikals nicht als Reflexivstämme zum Pi., sondern als solche zum Qal mit infigiertem -t- aufzufassen sind [...].“54 An anderen Stellen spricht er jedoch von Hitp.-Formen und dem „auf die beiden Schlußkapitel des Ri-Buches beschränkte[n] Hitp. [...] ‚gemustert werden‘ [...].“55 P. Joüon und T. Muraoka halten es für möglich, daß die Formen im 49

Bauer, H. / Leander, P., Historische Grammatik der hebräischen Sprache des Alten Testaments, Hildesheim, Zürich, New York 31991, §38f, 281. Im folgenden zitiert als Hist. Grammatik. 50 Meyer, Grammatik, §72,1, 245f. 51 Gesenius18, 1071. 52 Chomsky, W., Some Irregular Formations in Hebrew, in: JQR.NS 38 (1948), 409-418, hier 413f. 53 HALAT, 902. Kursive im Original fett. Im Unterschied zu „hitpƗel“ wird im HALAT sonst die Abkürzung „hitp“ verwendet. Eine ähnliche Veränderung in der Abkürzung zeigt auch Gesenius18, 1072: „HitpƗ.: ĺ t-Reflexiv Qal.“ Kursive im Original fett. 54 Schottroff, W., Art. dqp pqd heimsuchen, in: THAT II (62004), 466-486, hier 468. 55 Ebd. 472.

92 Richterbuch Hitp.-Formen sind; da aber eine Pi.-Form nur in Jes 13,4 (dQep;m). belegt ist, könne es sich auch um reflexive Qal-Formen handeln.56 Eigene Wege der Formbestimmung gingen D. ÖimHi und H. Ewald. ÖimHi wies zunächst im Blick auf die Formen im Richterbuch auf die Ersatzdehnung vor dem Laryngal hin; dann aber nahm er Bezug auf die oben benannten Formen in Num 1,47; 2,33; 26,62 sowie 1Kön 20,27 und bestimmte Num 1,47 als Hitp. von dqp, 1Kön 20,27 jedoch als „mixed form“ aus „Hof‘al and Hithpa‘el“, obwohl die Formen identisch sind.57 Ewald sah im Hitp. „die Verdoppelung [...] aufgegeben, wo im begriffe die Steigerung nicht mehr lebendig genug ist“ und bezog sich konkret auf die Stellen im Richterbuch.58 Diese Forschungslage und die Stellen im Numeri-, Richter- und 1. Königebuch geben Anlaß, allen Formen mit q im hebräischen Alten Testament nachzugehen und sie auf Unregelmäßigkeiten bei der Verdoppelung zu prüfen – zum einen allen Verbformen mit q an erster, zweiter oder dritter Stelle, zum anderen Adjektiven und Substantiven mit q an erster und letzter Stelle sowie weiteren bemerkenswerten Formen. Dabei wird es im Durchgang aus Platzgründen nicht möglich sein, jeweils alle Formen mit Stellen anzuführen. Besonderheiten oder schwierige bzw. seltene Formen können und sollen jedoch wiedergegeben werden.

3. Verben mit q 3.1 Verben mit q als erstem Radikal Im Biblischen Hebräisch haben 77 Verben q als ersten Radikal: bbq, lbq,

56

Joüon / Muraoka, Grammar, §53g, 159. Chomsky, W., David ÖimHi’s Hebrew Grammer (Mikhlol), New York 1952, §27, 93. 58 Ewald, H., Ausführliches Lehrbuch der hebräischen Sprache des Alten Bundes, Göttingen 71863, §132d, 346. 57

93

[bq, #bq, rbq, ddq, xdq, ~dq, rdq, vdq, hhq, lhq, hwq1, hwq2, jwq,59 ~wq, #wq, rwq, vwq, ljq, !jq, @jq, rjq, ayq, !yq, #yq1, #yq2, hlq1, hlq2, jlq, llq, slq1, slq2, [lq1, [lq2, lqlq1, lqlq2, jmq, lmq, #mq, anq, hnq1, hnq2, !nq, ~sq, ssq, apq, dpq, #pq1, #pq2, #pq3, bcq, hcq, [cq1, [cq2, @cq, #cq, rcq1, rcq2, arq1, arq2, brq, hrq1, hrq2, xrq, ~rq, !rq, srq, [rq, #rq, rqrq, rrq, bvq, hvq, xvq, rvq und vvq.60 Nicht gezählt ist die Wurzel Hlq, die nur in 2Sam 20,14 belegt zu sein scheint (Whl]Q'YIw:), die aber – wie schon die Masoreten bemerkt haben – auf einer fehlerhaften Metathese beruht und als Wlh]Q'YIw: zu lesen ist. Ebenfalls nicht gezählt ist die Wurzel zpq, von der kein Verb gebildet ist, sondern die unter Umständen die Wurzel zum Substantiv zAPqi ist. Zu dieser Gruppe von 77 Verben gehören drei, die in Gesenius17 als dreiradikalige Verben verzeichnet sind, die in Gesenius18 aber als zweiradikalige Verben mit vollständiger Wurzelverdoppelung angegeben werden. Die Rede ist – in der Diktion von Gesenius18 – von lqlq1 (Gesenius17: llq) in Ez 21,26; Jer 4,24, lqlq2 (Gesenius17: llq) in Qoh 10,10 und rqrq (Gesenius17: rrq II) in Jes 22,5; Num 24,17. Sie können unberücksichtigt bleiben, weil lqlq1, lqlq2, rqrq nur im Pilp. belegt sind und lqlq1 nur im Hitpalp. belegt ist, so daß q nie als Radikal verdoppelt wird, sondern statt dessen durchgehend Wurzelverdoppelung eintritt. Ich konzentriere mich deswegen von jetzt an auf die dreiradikaligen Verben mit q als erstem Radikal. Nach dem Regelsystem der Schule des Ben Ascher kann der erste Radikal in fünf Fällen verdoppelt werden: (a) bei der Bildung von Partizipien im Qal mit Artikel ·h; (< *!h;)61 bzw. den Präpositionen B., K. und l. mit elidiertem Artikel oder mit !mi, (b) im Impf., Imp., Inf. abs. und Inf. cons. Ni., wenn das n des Ni. in einer geschlossenen Silbe an den 59

Auffällige Formen dieser Wurzel, die allerdings nicht das q betreffen, weisen Ges-K28, §72dd, 209, und Nöldeke, Inkonsequenzen, 13, nach. 60 Diese und die folgenden Analysen orientieren sich – soweit erschienen – an Gesenius18. 61 Bartelmus, Einführung, 39f.

94 ersten Radikal assimiliert wird (klassisches, wenngleich nicht belegtes Beispiel: *ljeq"n>yI > ljeQ"yI), (c) bei der Bildung aramaisierender Formen, (d) in Verbindung mit der Relativpartikel ·v, und schließlich (e) in Formen des Inf. cons. mit der Präposition !mi, die das n an den ersten Radikal assimiliert.62 (a) Die Durchsicht aller 34 aktiven und 6 passiven Partizipien im Qal mit Artikel oder der Kombination aus Artikel und Präposition oder mit !mi zeigt, daß q als erster Radikal mit einer Ausnahme immer verdoppelt wird. In Ps 18,49 (ym;q'-!mi) findet keine Assimilation des n an das folgende q statt, weil !mi und ym;q' durch Maqqep getrennt sind. An der inhaltlichen Parallelstelle 2Sam 22,49 hingegen findet sich die Form ym;Q'mi ohne Maqqep und mit Assimilation.63 Laut Bauer / Leander behält !mi seine Form „sonst verhältnismäßig selten“.64 Ein solcher Effekt ist jedoch nicht nur für q belegt; er taucht auch vor anderen Konsonanten auf.65 (b) Nur 20 der 77 Verben mit q als erstem Radikal bilden Formen im Ni. Davon weisen 5 Verben keine Formen auf, bei denen q verdoppelt würde: jwq (nur Formen im Perf.), hlq1 (nur ein Partizip), hlq2 (nur Formen im Perf. und zwei Partizipien), brq (nur zwei Formen im Perf.) und hvq (nur ein Partizip). Diese Verben entziehen sich mithin einer Überprüfung. 5 weitere Verben weisen genau eine Form auf, bei der q als erster Radikal regulär verdoppelt werden müßte: llq, hnq1, #pq3, xrq und rvq. Bei allen diesen Formen findet die Verdoppelung auch tatsächlich statt. 62

Eine sechste Möglichkeit ist denkbar, nämlich die Verdoppelung bei Kontaktstellung der Stammesmodifikation -thi mit dem ersten Dental der Wurzel (Beispiele: *rBeD:t.mi > rBeD:m;i *aM'j;t.yI > aM'J;yI; *~M'T;t.Ti > ~M'T;T)i . Weil q aber kein Dental ist, bleibt diese Möglichkeit theoretisch; eine Überprüfung bei den 13 Verben #bq, rdq, vdq, jwq, ~wq, slq1, lqlq1, #pq1, @cq, rcq2, brq, rvq und vvq, die Hitp.- und entsprechende D-StammErsatzformen bilden, zeigt, daß tatsächlich nirgends eine Assimilation von q mit der Stammesmodifikation -thi belegt ist. 63 Vgl. zur Stelle auch Delitzsch, F., Biblischer Kommentar über die Psalmen (BC 4,1), Leipzig 51894, 189. 64 Bauer / Leander, Hist. Grammatik, §81pǯ, 642; vgl. dazu auch 4.1 (b). 65 Für Beispiele vgl. ebd.

95 Die verbleibenden 10 Verben sind #bq, rbq, vdq, lhq, hwq2, @jq, arq1, arq2, hrq1 und [rq.66 Bei ihnen allen finden sich ausschließlich Ni.Formen mit regelmäßiger Verdopplung des q. (c) Aramaisierende Formen treten in zwei Gruppen auf: bei den Verben y/wƎ[ im Hi. und bei den Verben [Ǝ[ im Impf. Qal, Hi. und Ho. Für die Überprüfung der Verben y/wƎ[ mit q als erstem Radikal sind die Verben ~wq, #wq, rwq, ayq und #yq2 relevant, weil nur für sie Hi.-Formen belegt sind; keines dieser Verben bildet jedoch aramaisierende Formen. Zur Überprüfung bei den Verben [Ǝ[ stehen bbq, ddq, llq, !nq, ssq, #cq, rrq und vvq im Qal, Hi. und Ho. an; hhq geht bei der Formenbildung wie hƎl (hn"yh,q.Ti, vgl. hn"yyQ;nU (Jes 51,1), lq[ als `lQ")[um. (Hab 1,4), xqr als ~yxiQ'rUm. (2Chr 16,4), ~qr als yTim.Q;rU (Ps 139,15), [qr als [Q'rUm. (Jer 10,9) und hqv als hQ (Hi 21,24). Herauszuheben ist in dieser Gruppe das Verb vqy. Es bildet als hapax legomenon die Form ~yviq'Wy* (Qoh 9,12) – offenbar ein Part. mask. Pl. st. abs. im Pu., bei dem das m fehlt. Delitzsch sieht in dieser Form q „ganz wie ein[en] Guttural behandelt, dessen unthunliche Verdoppelung durch Dehnung des Vocals compensirt wird.“80 Auch König hält hier W vor q für Ersatzdehnung statt der zu erwartenden Verdoppelung des q.81 Bei Ersatzdehnung müßte jedoch regelkonform ǎ zu ǀ (statt nj) dehnen, wie etwa die Form %r"bom. (Num 22,6 u.ö.) zeigt. Die Form in Qoh 9,12 sticht also durch zwei Unregelmäßigkeiten aus der ansonsten regelkonform gebildeten Gruppe von Verben heraus. (c) Für die Analyse des Hitp. fallen hier die eingangs diskutierten Formen von dqp in Ri 20,15.17; 21,9 vorerst heraus, um sie von den anderen Hitp.-Formen unterscheidbar zu halten; sie spielen erst in Abschnitt 6 wieder eine Rolle. Bei den Formen des Typs Wdq.P't.h' (Num 1,47; 2,33; 26,62 und 1Kön 20,27) handelt es sich laut Gesenius17 um Formen im „Hothpa.“ von dqp,82 laut Gesenius18 um Formen im t-Pass. Qal von

78

Gesenius17, 390. 79 Gesenius18, 615. 80 Delitzsch, F., Biblischer Commentar über die poetischen Bücher des Alten Testaments. Vierter Band: Hoheslied und Koheleth (BC 4,4), Leipzig 1875, 357. 81 König, Lehrgebäude II,1, §130,2b, 496. Ähnlich Ges-K28, §52s, 150. 82 Vgl. Gesenius17, 655.

99

dqp.83 Bei den sechs belegten und untersuchten Verben mit sicherer Hitp.Bildung finden sich keine Auffälligkeiten: Die Verben [qb und xql sind je zweimal belegt, ~qn fünfmal; drei Hapax-Legomenon-Bildungen liegen vor mit hqx als hQBi (1Sam 11,2); wie viele analoge Formen, vgl. [:son>Bi (Num 4,5) und lponB > i (Hi 4,13), ist diese Form aus *rAqn>B. (mit zwei šewa mobile in Folge) entstanden: Dort hat keine Assimilation mehr stattgefunden, weil das šewa unter dem n ursprünglich kein šewa quiescens war, sondern dies erst sekundär geworden ist. Von bqn sind regelhaft gebildete Formen belegt; belegt ist aber auch die Form `@a")-bq'n>yI (Hi 40,24), bei der keine Assimilation des n an das q stattgefunden hat. Bauer und Leander bieten für diese Form zwei Erklärungsmodelle: Entweder seien „[d]ie ursprünglichen Formen [...] vielfach durch Systemzwang erhalten oder wiederhergestellt worden“84 oder es seien „Neubildungen [...] in der Pausa [...], wo sie durch die deutlichere Aussprache leicht hervorgerufen werden konnten.“85 Die zweite Erklärung trifft nicht, weil @a' in pausa steht – nicht das Verb. Die erste Erklärung könnte passen: In Hi 40,26 ist die von der gleichen Wurzel gebildete Form bAQTi belegt, die vor dem langen Vokal A das n an das q assimiliert. Fraglich bleibt aber, ob damit die Verdoppelung in V.26 83

Vgl. Gesenius18, 1071. 84 Bauer / Leander, Hist. Grammatik, §15l, 198. 85 Ebd. 199.

100 besser artikulierbar ist als in V.24. Die Wurzel @qn2 hat einen Qal-Beleg: `Wpqo)n>yI (Jes 29,1). Auch hier ist das n nicht an das q assimiliert,86 doch liegt hier zweifelsfrei eine Pausalform vor, wie sie auch andernorts belegt ist, vgl. `Wrco*n>yI (Dtn 33,9).87 Nach Bergsträsser handelt es sich um „Pausalformen, die kaum der lebenden Sprache angehörten.“88 Diese Aussage mag die Formen erklären; strittig bleibt jedoch, wie die lebende Sprache überhaupt artikuliert wurde und ob mit Pausalformen mehr erreicht werden sollte, als Einfluß auf die Aussprache beim Vortrag des Textes zu nehmen. Ein mögliches Erklärungsmodell findet sich in der Grammatik zum Biblischen Aramäisch von Bauer und Leander. Sie zeigen hier, daß Gemination im Biblischen Aramäisch „oft durch einen Einschub eines n aufgelöst“ wird.89 Denkbar ist demnach hier, daß in Jes 29,1 unter aramäischem Einfluß keine Gemination des q stattgefunden hat und das schon vorhandene n der Wurzel einfach stehengelassen wurde. Festzuhalten bleibt in jedem Fall, daß mit Hi 40,24 und Jes 29,1 zwei Formen vorliegen, bei denen das q als zweiter Radikal nicht so verdoppelt wurde, wie es dem Regelwerk entsprochen hätte. (b) Von den nƎp-Verben bildet nur das Verb @qn2 Hi.-Formen. Sie alle weisen die regelkonforme Verdoppelung des q auf. (g) Zwei der nƎp-Verben bilden Formen im Ho. Für xql gelten die Überlegungen, die bereits oben zu 3.2 (b) angestellt wurden. Ähnlich zeigt sich die Situation im Blick auf die Wurzel ~qn. Mit ~Q'yU (Gen 4,15) und ~Q;yU (Gen 4,24; Ex 21,21) sind nur zwei passive Formen dreimal

86

Vgl. auch Delitzsch, F., Commentar über das Buch Jesaia (BC 3,1), Leipzig 41889, 323. Nach Delitzsch steht `Wpqo)n>yI anstelle von WpQ.y.I 87 Belegt bei Bergsträsser, Grammatik II, §25a, 121, und Bauer / Leander, Hist. Grammatik, §15l, 199. 88 Bergsträsser, Grammatik II, §25a, 122. 89 Bauer, H. / Leander, P., Kurzgefaßte Biblisch-Aramäische Grammatik, Halle 1929 (= Hildesheim 1965), §3f, 3.

101 belegt. Gesenius17 analysiert sie als „Hoph. (od. Öal pass. [...])“,90 Gesenius18 als Formen im Pass. Qal.91 BibleWorks V.8.0.005s.1 – sonst in aller Regel mit Gesenius17 identisch – kodiert die Formen in Gen 4,15.24 als Ho., die in Ex 21,21 als Pass. Qal. Die Annahme, es handele sich um Pass.-Qal-Formen, hat eine hohe Wahrscheinlichkeit, weil keine Hi.Formen belegt sind. Für die Frage nach der Verdoppelung des q ist damit auch hier klar, daß keine Auffälligkeiten festzustellen sind: Ho.-Formen von nƎp-Verben mit q als zweitem Radikal sind nicht belegt. (d) Vier Wurzeln bilden Formen im Ni.:. Bei den drei Wurzeln bqn, hqn und ~qn sind keine Unregelmäßigkeiten festzustellen, vqn zeigt nur eine Impf.-Form, bei der keine Assimilation des n an den mittleren Radikal stattfindet. Soweit belegt, wird also auch hier q als zweiter Radikal überall regelkonform verdoppelt. (e) Zur Verbgruppe [Ǝ[ gehören acht Verben. In den Abschnitten 3.2 (a) und (b) sind die Pi.- und Pu.-Formen bereits besprochen. Hitp.-Bildungen liegen nicht vor. Relevant sind hier also noch Formen im Qal, Hi., Ho. bzw. Pass. Qal und Ni. Die Wurzel qqr2 ist als Hapax legomenon nur mit einer afformativlosen Impf.-Qal-Form belegt; sie kann als solche keine Verdoppelung zeigen. Formen mit normaler Verdoppelung des zweiten Radikals zeigen die Wurzeln qqb mit der Form ytiQob;W (Jer 19,7), qqd mit WNQ (Jes 28,28), ~QedIa] (2Sam 22,43) und tAQdIh]w: (Mi 4,13), qqz mit WQzOy" (Hi 28,1; 36,27), qql mit WQl{Y"w: (1Kön 22,38) und qqv mit WQvoy" (Joel 2,9). Die Wurzel qqm ist an zehn Stellen belegt, davon an sieben Stellen mit regulärer Verdoppelung des q vor Afformativ (Beispiel: WQM;yI in Lev 26,39) und an zwei Stellen ohne Afformativ, also regelhaft ohne Verdoppelung (qmeh' und qM;Ti in Sach 14,12). Ein Beleg ist auffällig: Bei hn"q.M;Ti in Sach 14,12 müßte das q vor Afformativ regelhaft verdoppelt sein und zwischen q und dem Afformativ der Infixvokal y stehen – so jedenfalls bei der in den Grammatiken üblicherweise genannten Form 90

Gesenius17, 521. 91 Gesenius18, 845.

102

hn"yB,S;Ti;92 damit ändert sich auch die Betonung, vgl. hn"q.Mñ;Ti und hn"yBñ,S;T,i weil der Infixvokal den Ton auf sich zieht. Für das Fehlen der Verdoppelung in Sach 14,12 gibt Kautzsch in der Gesenius-Grammatik die „Vernachlässigung der Verstärkung in aramaisierenden Formen“ an und verweist etwa auf die Form hbñ's.n" in Ez 41,7, die regelkonform hB's;ñn" lauten müßte.93 Dieses Beispiel scheint nur bedingt geeignet, denn in Ez 41,7 wird vor vokalisch anlautendem Afformativ – anders als in Sach 14,12 – kein Infixvokal benötigt.94 Auch ohne ihn könnte das q in Sach 14,12 jedoch verdoppelt sein, doch wäre diese Verdoppelung dann unter Umständen über šewa mobile nicht sichtbar, vgl. oben. Die Form bleibt mithin zweifelhaft: Ohne den Infixvokal ist die Betonung regelkonform; sein Fehlen jedoch ist nur dann erklärbar, wenn die Wurzel an dieser Stelle eine starke Verbbildung aufweist, vgl. hn"l.C;ñTi (2Kön 21,12; Jer 19,3) neben hn"yL,ñciT. (1Sam 3,11).95 Die Wurzel qqx bietet unzweifelhafte Besonderheiten. Sie bildet reguläre Formen im Qal mit HQ"+xu (Jes 30,8), %ytiQox; (Jes 49,16) und t'AQx;w> (Ez 4,1). Sie bildet aber auch zwei Formen, bei denen q für Unregelmäßigkeiten sorgt. In Hi 19,23 findet sich die Form `Wqx'(yUw,> die wahrscheinlich als Pass.-Qal-Form zu interpretieren ist.96 Die Form steht in pausa und weist in Hi 4,20 eine analoge Bildung mit der Form in WTK;_yU auf.97 Bei qqx kann der erste Radikal nicht aramaisierend verdoppelt werden; q hingegen könnte es schon. Die Form in Hi 4,20 zeigt, daß das auch die übliche Formbildung bei Formen in pausa wäre. Statt dessen könnte bei `Wqx'(yUw> vor 92

Vgl. Jenni, Lehrbuch, 313, und Bartelmus, Einführung, 188. Ges-K28, §67dd, 191. 94 Vgl. zur Form in Ez 41,7 auch Nöldeke, Inkonsequenzen, 13. 95 Vgl. ebd. §67g, 185f. 96 Vgl. die Diskussion in Gesenius17, 255, und Gesenius18, 389. Delitzsch, F., Biblischer Commentar über die poetischen Bücher des Alten Testaments. Zweiter Band: Iob (BC 4,2), Leipzig 21876, 247, sieht die Form als „Hofalform [...] mit Verdoppelung des inlautenden ersten Stammbuchstaben (hier Dag. forte implicitum) nach chaldäischer Weise gebildet [...].“ 97 Vgl. Ges-K28, §67y, 190. 93

103

q Ersatzdehnung stattgefunden haben; das q wäre dann wie ein Laryngal behandelt worden. Die zweite auffällige Form ist der Inf. cons. Qal AqWxB. in Prov 8,27.29. Diese Form steht entsprechend der Gesenius-Grammatik für die Form AQxuB. „mit Dehnung dieses ǎ zu û (statt ǀ) [...].“98 Auch hier könnte also vor q Ersatzdehnung stattgefunden haben.99 Zusammenfassend läßt sich nach der Überprüfung aller Verben in den beschriebenen Formen feststellen, daß die acht Formen hj'q\l;a]w: (Ruth 2,2), aN"-hj'q\l;a] (Ruth 2,7), ~yviq'Wy* (Qoh 9,12), `@a")-bq'n>yI (Hi 40,24), `Wpqo)n>yI (Jes 29,1), hn"q.M;Ti (Sach 14,12), `Wqx'(yUw> (Hi 19,23) und AqWxB. (Prov 8,27.29) von den Verbalwurzeln mit q als zweitem Radikal auffällige Formen bilden.

3.3 Verben mit q als drittem Radikal Die Verben [Ǝ[ sind Verben mit Verdopplung des zweiten Radikals und also bereits in Abschnitt 3.2 behandelt; sie kommen hier nicht nochmals vor. Unter dieser Voraussetzung haben 74 Wurzeln q als dritten Radikal: qba, qna, qpa, qdb, qlb, qcb, qrb, qtb, qbd, qwd, qxd, qld, qpd, qnz1, qnz2, q[z, qrz, qbx, qzx, qlx1, qlx2, qmx, qnx, qrx, qvx, qny, qcy, qry1, qry2, qwm, qxm, qlm, qrm, qtm, qan, qhn, qfn, qvn1, qvn2, qtn, qls, qps1, qps2, qps3, qw[ / qy[, qz[, qm[, qn[, qr[, qf[, qv[, qt[, qwp1, qwp2, qnp, qrp, qfp, qdc, qwc1, qwc2, qxc, qmc, q[c, qxr, qyr, qpr, qtr, qxf, qpf1, qpf2, qwv, qxv, qrv und qtv. Zwei davon bilden keine Verbformen: qnz2 und qry2 sind erschlossene Wurzeln als Basis für Nominalbildungen. Ob zudem qwd belegt ist, ist strittig: In Gen 14,14 findet sich das Verb qr n; " bekanntesten Beispiele bildet die Wurzel !tn, wie beispielsweise (*yTint >) yTit;n" (insgesamt 118 Belege, vgl. Gen 1,29) zeigt, während andere Wurzeln, wie beispielsweise yTin>q;z" (insgesamt 6 Belege, vgl. Gen 18,13) das n an dritter Stelle behalten. Ähnliche, regressiv assimilierende Formen erscheinen aber auch dann, wenn der letzte Radikal auf einen gleichen etwa als Afformativ verwendeten Konsonanten trifft, so bei (*yTit.r:K' >) yTir:K' (insgesamt 15 Belege, vgl. Ex 34,27).100 Dieser Effekt ist für q nicht belegt. Eine Durchsicht aller Verben in allen Formen – gleichsam als Gegenprobe – ergibt, daß nirgends q als dritter Radikal verdoppelt wird. Auch sonstige Hinweise auf die Verwendung von q als Laryngalis, etwa das Vorhandenseins eines pataH furtivums begegnen nicht. q ist überall als normaler Konsonant verwendet worden.

4. Adjektive und Substantive mit q 4.1 Adjektive und Substantive mit q als erstem Radikal Insgesamt 233 Adjektive, Substantive, Orts- und Personennamen im hebräischen Alten Testament haben q als ersten Radikal: aqe, ta'q' / ta;q,' bq;, hb'q,e hB'q,u #WBqi, hr'Wbq., lboq. / lb,q,o t[;B;q,u laec.b.q,; hc'buq,. ~yIc;b.q,i rb,q,, hw"a]T;h; tArb.qi, hD'qi, ~ymiWdq., vAdq / vdoq,' tx;D;q;, ~ydIq,' ~d,q,, ~d,q,e hm'd>q;, hm'd>qi, hm'd>qe1,101 hm'd>qe2, !Amd>q,; ynIAmd>q; / ynImod>q;1, tAmdeq. / tmodeq., laeymid>q,;

100

Auf ähnliche, jedoch nicht auf den dritten Radikal bezogene regressive Assimilationsfälle muß hier nicht eingegangen werden; vgl. dazu etwa Abschnitt 3.1 und Bauer / Leander, Hist. Grammatik, §15e-q, 198f. 101 Formen und Belege siehe bei ~d,q.e

105

ynImod>q;2, dqod>q', rd'q,e !Ard>qi, tWrd>q,; tyNIr:doq,. vd,q,, vd,qo / vd,Aq, vdeq1' , vdeq2' / [:nEr>B; vdeq,' lh'q', hL'hiq,. tl,h,q,o ht'l'heq., th'q,. ytih'q,. wq'1, wq'2 / wq;, [b;Aq, hwq' / !b'r>q,' !B'r>q,u ~Dor>q,; hr'q', hr,q', bArq' / broq', xr;q,, x:req,' x:req,e xr;q,o hx'r>q' / ax'r>q', yxir>q,' tx;r;q,' yrIq., ayrIq,' 107 ha'yrIq,. hy"r>q,i [B;r>a; ty:r>qi, l[;B;-ty:r>q,i tAcxu ty:r>qi, ~yrI['y> ty:r>q,i hN"s; ty:r>qi, rp,se-ty:r>q,i ~yrI[' ty:r>q,i tAYrIq,. !Arc.x, tAYrIq., ~yIt;y"r>q,i !r,q,, %WPh; !r,q,, ~yIn:r>q,; sr,q,, lsor>q,; ~y[ir'q,. #r,q,, [q;r>q1; , [q;r>q*; 2, rqor>q,; vr,q,, tr,q,, hT'r>q;, !T'r>q,; hw"f.q,; hj'yfiq,. tf,q,f.q,; vq;, ~yaiVuq,i bv,q,, bV'q,; bVuq,; hv,q', j.v.q,o jv,qo, yviq., !Ayv.q,i rv,q,, ~yrIVuq,i tv,q, und tV'q.; Als erster Radikal kann q verdoppelt werden (a) infolge des Artikels bzw. infolge der Kombination aus Artikel und den proklitischen Präposition B., K. und l., (b) infolge der Präposition !mi, (c) infolge der Relativpartikel ·v, sowie (d) bei Einfügung eines dageš euphonicum bzw. dageš forte conjunctivum. Für die Analyse scheiden folgende 130 Adjektive, 102

Alle drei Belege weisen ein Ketib-Qere-Problem auf: Statt hw das Qere rq;y> zu lesen.

107

Zwei der drei Belege weisen ein Ketib-Qere-Problem auf: Num 1,16 (K yaeYrq., Q yaeWrq.); 26,9 (K yaewrIq,. Q yaeyrIq). .

106 Substantive, Orts- und Personennamen aus, weil sie keine Formen mit Verdoppelung nach (a), (b), (c) oder (d) bilden: aqe, #WBqi, lboq. / lb,q,o t[;B;q,u hc'buq,. ~yIc;b.q,i hD'qi, ~ymiWdq., ~d,q,e hm'd>qi, hm'd>qe2, tAmdeq. / tmodeq,. laeymid>q,; dqod>q', rd'q,e !Ard>qi, tWrd>q,; tyNIr:doq,. hL'hiq,. th'q,. wq'2 / wq;, [b;Aq, hy"l'Aq, tWYmim.Aq, [:Aq, @Aq, #Aq1, tACwUq,. rWq, Why"v'Wq, jq', hr'Ajq., hr'Wjq., !j,qo, !Arj.qi, tArjuq,. tJ'q,; ayqi, rAjyqi, ~yqi, hm'yqi, !yIq;1, hn"yqi2, !n"yqe, !Alq'yqi, fr,x,-ryqi, ba'Amryqi, sroyqe / sroq,e vyqi, !Avyqi, yviyqi, !Alq', yL'q,; hy"l'q,e aj'yliq,. ll'q,' sl,q,, hs'L'q,; [l;q2, , !AvL.q,i laeWmq., !Amq', fAMqi, #m,qo, aN"q;, hn"q', aANq;, zn:q,. !y"n>qi1, !y"n>qi2, !AmN"qi, #nqi, rp,se-ty:r>q,i ~yrI[' ty:r>q,i !Arc.x, tAYrIq., ~yIt;y"r>q,i %WPh; !r,q,, ~yIn:r>q,; lsor>q,; ~y[ir'q,. #r,q,, tr,q,, hT'r>q;, !T'r>q,; hj'yfiq,. tf,q,f.q,; bv,q,, bV'q,; bVuq,; j.v.q,o jv,qo, yviq., !Ayv.qi und tV'q.; 108 (a) 84 nominale Formen weisen bei einem oder mehr Belegen Determination nach dem Artikel bzw. nach der Kombination aus Artikel und den proklitischen Präpositionen B., K. und l. auf.109 Die Verdoppelung des q als erstem Radikal findet hierbei durchgehend statt. Es sind keine Sonderformen auffindbar; nirgends findet Ersatzdehnung vor q wie vor einem Laryngal statt. (b) Daneben wird bei 35 Formen der erste Radikal durch die Präposition !mi beeinflußt. Dies geschieht in fast allen Fällen durch die Assimilation des n an das q als erstem Radikal.110 Lediglich drei Abweichungen lassen sich finden; sie alle verdanken sich der Schreibung mit Maqqep. Zum einen: Der Ortsname laec.b.q; ist dreimal belegt (Jos 15,21; 2Sam 23,20 und 1Chr 11,22). In 2Sam 23,20 steht der Name mit der Präposition in 108

53 dieser Belege sind zudem Hapax-Legomenon-Bildungen. Nicht gezählt ist hierbei hw"a]T;h; tArb.qi, weil die Determination hier durch den Artikel am zweiten Substantiv erzeugt wird. 110 Viele Formen, bei denen diese Assimilation unterbleibt, finden sich im aramäischen Teil des Dan. 109

107 Verbindung, so daß die Form laec.b.Q;mi( entsteht; obwohl sich in 1Chr 11,22 inhaltlich die gleiche Aussage findet, wird hier die Präposition nicht an den Namen assimiliert, sondern bleibt nach Maqqep stehen: laec.b.q;-!mI). Dann: Für lAq / lqo2 gibt es zahlreiche Belege für die Assimilation des !mi an das q; die einzige Ausnahme liegt mit der Form lAq-!mi mit Maqqep in Ps 104,7 vor. Schließlich: In Prov 27,8 findet sich die Form HN"qi-!mi, bei der die Präposition ebenfalls nach Maqqep nicht an das folgende Wort assimiliert. Dieser Effekt könnte wie bei den anderen Fällen mit q als erstem Radikal zusammenhängen; vielleicht sollte in Prov 27,8 aber auch lediglich die Form HN"Qimi mit zwei aufeinanderfolgenden verdoppelten Konsonanten und dem Suffix der 3. Person feminin, dem durch mappiq als hörbar angezeigten h-Laut, vermieden werden. (c) In nur einem Fall steht die Relativpartikel ·v, in Verbindung mit einem Nomen mit q als erstem Radikal, nämlich in der Form tm;d>Q;v, in Ps 129,6. Die Verdoppelung ist hier regelmäßig. (d) Formen mit q und dageš euphonicum bzw. dageš forte conjunctivum111 sind ebenfalls mehrfach belegt. Ich zitiere den unmittelbaren Kontext mit; vgl. etwa folgende Stellen: wyt'ro['Q. t'yfi['w> (Ex 25,29), ^nm,, qr;m,' qx'f.m,i qv,m,, qV'm;, qAtm', qt,m, / qtem,' qt,m,o qz / qyqin", qv,n< / qv,n,E qt,n[;, qAm[', qlem'[], qm,[,e #yciq. qm,[,e qm,[,o qme[,' qmo[,' qn"[]1, qn"[]2 / qAn[], qf,[e, qAv[', ~yqivu[] / ~yqiWv[], qv,[,e qv,[,o qyti[', qyTi[;, qt'[', qte[', qyPi, qr'P,' 116 qr,P,, qAdc' / qdoc,' qyDIc,; qd,c,, qAc, qxoc,. qnOyci, ql,c,, qAxr' / qxor,' qxer,' qyrI, qyre / qre, qr;1,117 qr;2, qro, qyqir', qATr;, qxof. / qAxf., qp,f, / qp,f,e 118 qf;, qyrIf,' qrof,' qref1o , qref2o , qbeAv, qAv, qWv, qx;v,; qv;yvi,119 qv'v,' qWrm.T120 ; und qT'r>T;. Veränderungen des q als letztem Radikal sind im Regelsystem des Biblischen Hebräisch nur bei den Nomina [Ǝ[ möglich, wenn ein vokalisch anlautendes Afformativ angehängt wird. Daneben gibt es aber eine Reihe von Wörtern, bei denen sich eine Veränderung dadurch ergibt, 112

Das Wort qWTa; (Ez 41,15) wird im Rahmen eines Ketib-Qere-Kommentars geändert und ist demnach als qyTia; zu lesen.

113

Unter Umständen muß es statt qz"B'h; in Ez 1,14 mit n (s´o) qr"B'h; heißen.

114

Evtl. ist dieses Wort im Ausdruck fr die neben dieser Erscheinungsform noch zweimal endungslos belegt ist (Lev 13,49; Ps 68,14). Sollte sie von der Wurzel qry2 kommen,129 so unterliegt sie dem gleichen Effekt wie in (c). 123

Vgl. Gesenius18, 31.309. 124 Vgl. zur Stelle auch Delitzsch, Jesaia, 497. 125 Bauer / Leander, Hist. Grammatik, §24f, 219. 126 So Gesenius18, 361. 127 Vgl. Meyer, Grammatik, §39,2, 151. 128 Vgl. Meyer, Grammatik, §35,3, 146. 129 Gesenius18, 500.

111 (f) Das Nomen tyQin:m. ist viermal im Plural belegt. An drei Stellen ist das q verdoppelt: wyt'YOQin:m. (Ex 25,29), wyt'YOQin:m. (37,16) und tYOQin:M.h; (Num 4,7); lediglich bei tAyqin:M.h; (Jer 52,19) fehlt das dageš forte, doch scheint es sich hier um einen Punktationsfehler im Codex Leningradensis bzw. Petropolitanus zu handeln, vgl. die BHS zur Stelle.130 (g) Die Verdoppelung des q vor der nominalen Endung zeigt sich auch bei ~yQim;[]m; im st. abs. (Ps 130,1) und st. cons. (Jes 51,10; Ez 27,34; Ps 69,3.15), das von der Wurzel qm[ gebildet wurde.131 Es ist nicht endungslos belegt. (h) Zweimal belegt ist die Form tAQv;[]m; (Jes 33,15; Prov 28,16) von der Wurzel qv[. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich hierbei um eine „maqtal“-Bildung mit sekundär verdoppeltem Endkonsonanten.132 (i) Das Wort qx'r>m, ist 14mal endungslos belegt, erscheint aber auch viermal mit vokalisch anlautender Endung und zeigt dann die Verdoppelung des q: #ry,I Jes 29,1; hn"q.M;Ti, Sach 14,12; `Wqx'(yUw,> Hi 19,23; `@a")-bq'n>y,I Hi 40,24; AqWxB., Prov 8,27.29; hj'q\l;a]w,: Ruth 2,2; aN"-hj'q\l;a,] Ruth 2,7; ~yviq'Wy*, Qoh 9,12) und einem Nomen (tAqyzI, Jes 50,11). (b) Unter dem Einfluß eines Maqqep hat keine Verdoppelung des q stattgefunden bei einem Verb (ym;q'-!mi, Ps 18,49) und drei Nomina (lAq!mi, Ps 104,7; HN"qi-!mi, Prov 27,8; laec.b.q;-!mi, 1Chr 11,22). Nicht gezählt sind hierbei die Form tAyqin:M.h; (Jer 52,19), bei der eine Verschreibung wahrscheinlich ist, und die Form tAqmu[] (Hi 12,22), bei der eine analoge Form mit Verdoppelung im Kontext erscheint.

6. Ein Versuch der Deutung des Befundes Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildeten die Verbformen der Wurzel dqp in Ri 20,15a.b.17; 21,9 und – damit zusammenhängend – in der Form Wdq.P't.h' in Num 1,47; 2,33; 26,62; 1Kön 20,27. Die vier Formen im Richterbuch wurden Anfang des 20. Jahrhunderts als Hitp.Formen verstanden, bei denen q als Laryngalis interpretiert und der vorausgehende Vokal ersatzgedehnt worden war, statt q zu verdoppeln. Ges-K28 verwies zur Erklärung dieses Effekts an diesen Stellen auf König und gab für die folgenden Jahre eine von zwei weiter verfolgten

114 Interpretationslinien vor.142 Die von König für diese Stellen vermutete Ersatzdehnung vor q „wegen dessen gutturalartiger Schwierigkeit“143 wäre damit jedoch ein Effekt, der lediglich bei 13 weiteren Formen an 14 Stellen im Alten Testament belegt ist.144 Es scheint deswegen insgesamt schwierig, ausschließlich an dieser Erklärung festzuhalten. Im ganzen entsteht nach der auch inhaltlichen Durchsicht der benannten Stellen eher der Eindruck, daß es sich um überwiegend zeitlich später anzusetzende, also jüngere Texte handelt. Auf der Basis der sprachlichen Phänomene ist diese Vermutung bereits von Kautzsch in Ges-K28 ausgesprochen worden.145 Der nächste Schritt, der nun zu gehen ist, ist also die Überprüfung, ob es sich auch aus exegetischer Sicht um spätere Stellen handeln könnte. Mir scheint, daß sich diese Annahme bei der Mehrzahl der Belege als verifizierbar erweist, auch wenn hier die Überprüfung lediglich stichprobenartig erfolgen kann. Diese Überprüfung soll für die Formen (a) ohne und (b) mit Maqqep getrennt geschehen. Zwar verdankt sich die Maqqep-Setzung wie die Vokalisation der Arbeit der Masoreten; bei Maqqep-Setzung jedoch haben die Masoreten eine Schreibung ohne Verbindung von q und n vorgefunden, 142

Vgl. König, Lehrgebäude I, §25,7, 198f., und Ges-K28, §54l, 158. König, Lehrgebäude I, §25,7, 198. 144 An Stellen, an denen die übrigen Laryngale verdoppelt werden müßten, treten unterschiedliche Effekte ein. Vor a ist sowohl Ersatzdehnung als auch virtuelle Verdoppelung belegt, vgl. Ges-K28, §64e, 178. Vor h, x und [ wird in der Mehrzahl der Fälle nicht ersatzgedehnt, sondern virtuell verdoppelt, vgl. Ges-K28, §64d, 177. Vor r schließlich tritt in den meisten Fällen Ersatzdehnung ein; nur an ganz wenigen Stellen wird r tatsächlich mit dageš forte geschrieben, vgl. Ges-K28, §64e, 178, sowie Nöldeke, Inkonsequenzen, 5, und Formen wie tR:k' und %REv' (beide in Ez 16,4) oder yviaRov, (Cant 5,2), vgl. Ges-K28, §22s, 83. Eine Diskussion, die an dieser Stelle auf sich beruhen muß, aber kurz benannt werden soll, ist folgende: Gesenius17, 756, und Gesenius18, 1237, beurteilen die Form yTic.x;r"t.hi (Hi 9,30) als Hitp.-Form; Creason, Classes, 346, ist dagegen der Meinung, daß es sich um einen tG-Stamm handelt, nicht um einen tD-Stamm. In bezug auf die Form ~T,r>K;m;t.hiw> (Dtn 28,68) geht Creason, Classes, 347, davon aus, daß es sich ursprünglich um einen tG-Stamm handelte, der jetzt aber als tD-Stamm erscheint. 145 Ges-K28, §20n, 78. 143

115 die erst sie dann durch Maqqep zu einer Laut- und Toneinheit verbunden haben. Am Schluß (c) soll diese Überprüfung für die Stellen im Numeri-, Könige- und Richterbuch erfolgen; diese Reihenfolge ist bewußt gewählt, um durch die Bewertung dieser Stellen die Analyse der anderen Formen nicht zu beeinflussen. (a) H. Donner unterscheidet in Jes 29,1-8 die zwei Teile V.1-4 und V.5-8. Er hält es für „allenfalls möglich, wenn auch keineswegs außer Zweifel, daß der Grundstock des Spruches V.1-4 von Jesaja stammt.“146 V.5-8 dagegen seien „Zusätze [...], die vielleicht als vaticinia ex eventu unter dem Eindruck der Ereignisse von 701 stehen.“147 Nach O. Kaiser ist der Grundbestand der Sammlung Jes 28-32 in der Zeit 703-701 zu verorten, doch sei es ausgeschlossen, Jes 29,1-8 neben anderen Teilen der Sammlung in diese Zeit und als jesajanisch zu datieren.148 Fraglich sei aber, „ob man das kleine [...] aus 1.2aa.3 bestehende Drohwort [...] als ein ursprünglich selbständiges Wort des Propheten Jesaja ansehen darf.“149 H. Wildberger versteht Jes 29,1-7 als ursprüngliche Einheit; V.8 dagegen sei sekundär. Den historischen Kontext sieht er in der assyrischen Bedrohung. Seiner Meinung nach spricht alle Wahrscheinlichkeit „dafür, daß das Wort nicht lange vor 701 gesprochen worden ist und in große zeitliche Nähe zu 28,23-29 gehört.“150 C. Westermann bringt den Text im Übergang von Jes 50 zu Jes 51 in eine andere Reihenfolge, als ihn die hebräische Bibel bietet und liest Jes 51,1a; 50,10f.; 51,4-7a; 1b-2; 7b-8. Jes 50,11 sei „in der Sprache schwierig und dunkel“, und es sei sicher, „daß diese Worte [scil. Jes 146

Donner, H., Israel unter den Völkern. Die Stellung der klassischen Propheten des 8. Jahrhunderts v. Chr. zur Außenpolitik der Könige von Israel und Juda (VT.S XI), Leiden 1964, 155. 147 Ebd. 148 Kaiser, O., Der Prophet Jesaja. Kapitel 13-39 (ATD 18), Göttingen 31983, 187f. 149 Ebd. 211. 150 Wildberger, H., Jesaja. 3. Teilband. Jesaja 28-39. Das Buch, der Prophet und seine Botschaft (BK.AT 10,3), Neukirchen-Vluyn 1982, 1103. Kursive im Original gesperrt.

116 50,10f.] in der nachexilischen Zeit gesprochen sind.“151 H.-J. Hermisson sieht Jes 50,4-9 als einheitlich und um V.10 und V.11 in zwei Schritten ergänzt.152 Speziell in V.11 empfindet er die „Einheit Israels, die im Deuterojesajabuch so lange festgehalten wurde“ als „aufgegeben“, so daß der Text in die Nähe des späteren Tritojesaja rücken könnte.153 Die Stelle Sach 14,12 gehört in das letzte Kapitel des Sacharjabuches, das entweder mit Sach 9-14 zu Deuterosacharja gehört oder im Rahmen der Kapitel 12-14 einen eigenen Tritosacharja-Teil bildet. Die Vermutung, daß Sach 14,12 damit zu den jüngeren Teilen gehört, ist also naheliegend. H. Graf Reventlow sieht in V.12 den Anfang einer am Stichwort „Schlag“ interessierten Bearbeitungsschicht und diskutiert, ob diese sich bereits am Übergang zur Apokalyptik befinden könnte, hält diese Annahme aber für zweifelhaft.154 Nach I. Willi-Plein trat Sach 14 „[v]ielleicht erst in einem späteren Stadium“ zum bisherigen Prophetenbuch hinzu.155 Konkret in V.12 (und V.15) sieht sie einen „außerbiblischen Topos, der in der hellenistischen und davon abhängigen Literatur vorkommt“ – in jedem Fall also einen der jüngsten Teile des Alten Testaments.156 Die beiden Stellen Hi 19,23; 40,24 gehören zum poetischen Teil des Hiobbuches, der bislang noch von der Mehrheit der Exegeten für jünger als der Rahmen gehalten wird. Nach Delitzsch verdankt sich die Form `Wqx'(yUw> in Hi 19,23 chaldäischem, also neuaramäischem Einfluß.157 Nach H. Strauß liegt dem Dialog zwischen Gott und Hiob in Hi 40,24 eine Schöpfungsvorstellung zugrunde, die einen „überlegenen Schöpfer151

Westermann, C., Das Buch Jesaja. Kapitel 40-66 (ATD 19), Göttingen 21970, 190. 152 Hermisson, H.-J., Deuterojesaja (BK.AT XI,13), Neukirchen-Vluyn 2008, 103-113. 153 Ebd. 140. 154 Reventlow, H. Graf, Die Propheten Haggai, Sacharja und Maleachi (ATD 25,2), Göttingen 91993, 124.127. 155 Willi-Plein, I., Haggai, Sacharja, Maleachi (ZBK.AT 24,4), Zürich 2007, 214. 156 Ebd. 222. 157 Delitzsch, Iob, 247.

117 willen“ voraussetzt.158 Sollte diese Schöpfungsvorstellung zeitlich in die Nähe eines – wie auch immer genau umrissenen – priesterschriftlichen Werkes gehören, so würde auch das recht klar auf die spätere Zeit der Entstehung des Alten Testaments hindeuten, sich beide Stellen mithin als jünger erweisen. O. Plöger rühmt die Verse Prov 8,27.29 als „Höhepunkt der ganzen Sammlung 1-9“.159 Von Interesse für die Frage nach der Sprachstufe ist hier zunächst der Verweis Plögers auf Ps 104, den er von Prov 8 aus vornimmt;160 auch hier war ein q aufgetaucht, vgl. oben, bei dem es zu Auffälligkeiten in der Formenbildung gekommen war. Inhaltlich geht es dann erneut um die Artikulation von Schöpfungsmotiven, zunächst um eine Annäherung an Gen 1, dann aber um den Ausdruck der Zwischenstellung der Weisheit zwischen Gott und seiner Schöpfung. Nach Plöger fließen hier andere Schöpfungsvorstellungen in den Text ein, die wahrscheinlich kanaanäischen, ägyptischen und mesopotamischen Ursprungs sind.161 (b) Ps 18 umfaßt einen Text, der zweimal im Alten Testament steht, nämlich nochmals in 2Sam 22. A. Weiser hält 2Sam 22 für die etwas jüngere Gestalt, „die aber auf eine ältere Handschrift zurückzugehen scheint [...].“162 Seiner Analyse nach ist eine Abfassung von Ps 18 zur Zeit Davids durchaus denkbar. Nach H.-J. Kraus steht Ps 18 dem „textkritisch zu erarbeitenden Urbild näher“ als 2Sam 22.163 Allerdings trage Ps 18 als Ganzes „Züge späterer Neuformulierung“ und sei mithin nach 2Sam 22 anzusetzen, wenngleich es unmöglich sei, präzise Angaben

158

Strauß, H., Hiob 19,1-42,17 (BK.AT 16,2), Neukirchen-Vluyn 2000, 377. Plöger, O., Sprüche Salomos (Proverbia) (BK.AT 17), Neukirchen-Vluyn 1984, 87. 160 Ebd. 92. 161 Ebd. 93. 162 Weiser, A., Die Psalmen. Erster Teil: Psalm 1-60 (ATD 14), Göttingen 81973, 155. 163 Kraus, H.-J., Psalmen. 1. Teilband, Psalmen 1-59 (BK.AT 15,1), Neukirchen-Vluyn 5 1978, 284. 159

118 zur zeitlichen Ansetzung zu machen.164 Ps 104 geht nach Weiser mit Gen 1 auf eine „gemeinsame kultische Überlieferung“ zurück.165 Konkret in V.7 werde „ein Nachklang des alten Mythus vom Chaosgötterkampf“ hörbar.166 Ähnlich zeigt sich die Auslegung von Kraus. Er sieht keine unmittelbare Abhängigkeit zu Gen 1, wohl aber Beziehungen zur „priesterlichen Schöpfungslehre“ und alte „Traditionsthemen [...], die auch in Gn 1 ihren Niederschlag finden.“167 Die Entstehungszeit des Textes hält er für unbestimmbar; ein vorexilisches Datum sei nicht ausgeschlossen. Für Prov 27,8 konstatiert Plöger den seltenen Gebrauch der Vergleichspartikel.168 Gemeint ist aller Wahrscheinlichkeit nach die Konstruktion !Ke ... K.. Das allein kann noch nicht zu einer definitiven Aussage über das Alter der Stelle führen, doch könnte die Verwendungshäufigkeit ein Indiz dafür sein, daß diese Konstruktion erst in späterer Zeit und also nur selten zur Anwendung kam. Ob das Qoheletbuch auf einen einzigen Autor oder auf verschiedene Autoren zurückgeht, ist umstritten. Auch wenn sich das Buch auf nur einen Autor zurückführen lassen sollte, ist gut denkbar, daß sich die Entstehung über einen längeren Zeitraum hingezogen hat. T. Krüger nimmt wegen möglicher historischer Anspielungen im Text an, daß Qoh in den letzten Jahren des dritten Jahrhunderts, wahrscheinlich nach dem Regierungsantritt des Ptolemaios V. 204 v. Chr. entstanden ist.169 L. Schwienhorst-Schönberger datiert die Entstehung des Buches ähnlich,

164

Vgl. ebd. 286f. Weiser, A., Die Psalmen. Zweiter Teil: Psalm 61-150 (ATD 15), Göttingen 81973, 456. 166 Ebd. 457. 167 Kraus, H.-J., Psalmen. 2. Teilband, 60-150 (BK.AT 15,2), Neukirchen-Vluyn 51978, 880. Kursive im Original gesperrt. 168 Ebd. 319. 169 Krüger, T., Kohelet (Prediger) (BK.AT Sonderband 19), Neukirchen-Vluyn 2000, 39. 165

119 setzt aber mit dem Zeitraum von 250 bis 190 v. Chr. etwas früher an.170 Sprachlich steht Qoh damit in jedem Fall unter aramäischem Einfluß. Die Chronikbücher basieren auf einer Vielzahl von inner- und außerbiblischen Quellen und sind also in der jetzigen Anordnung jünger als diese. Dem Bereich 1Chr 11-12 liegen nach der Analyse von S. Japhet Teile des 2Sam zugrunde; konkret zu dem Namen laec.b.q; in 1Chr 11,22 paßt die Stelle 2Sam 23,20.171 Daß hier zwei unterschiedliche Formen auftauchen, in denen der Name mit dem vorausgehenden !mi verbunden wird, läßt sowohl Königs Annahme der gutturalartigen Schwierigkeit des q als auch Kautzschs Vermutung einer jüngeren Sprachstufe als richtig erscheinen. Denkbar ist also, daß die Autoren der Chronikbücher hier bereits unter aramäischem Spracheinfluß gestanden haben. (c) Für M. Noth gehört Num 1,1-2,34 zur priesterschriftlichen Pentateuchquelle, „soweit überhaupt die ‚Quellenscheidung‘ akzeptiert wird [...].“172 Die Zuweisung der Stellen Num 1,47; 2,33 zu P nimmt auch T. Staubli vor.173 Nach Noth und Staubli liegen diese beiden Verse also zeitlich in der Nähe der Schöpfungserzählung von Gen 1. Num 26,62 gehört nach Noth zum Volkszählungsbericht Num 25,1926,65 und als dieser ganze Komplex in die „Spätzeit, in der das literarische Ganze von 4.Mos. 26 fixiert worden ist [...].“174 Da der Bezug zu Num 1f. klar erkennbar ist, muß auch hier eine Nähe zu P vorliegen. Diesen Bezug zeigt auch Staubli auf.175 V. Fritz weist in seinem Kommentar zum 1. Königebuch auf den Kontext des Deuteronomistischen Geschichtswerks hin. Nach dem Stufenmodell,

170

Schwienhorst-Schönberger, L., Kohelet (HThK.AT), Freiburg, Basel, Wien 2004, 103. 171 Japhet, S., 1 Chronik (HThK.AT), Freiburg, Basel, Wien 2002, 241. 172 Noth, M., Das vierte Buch Mose. Numeri (ATD 7), Göttingen 1966, 19. 173 Staubli, T., Die Bücher Levitikus, Numeri (NSK.AT 3), Stuttgart 1996, 207. 174 Noth, Numeri, 177. 175 Staubli, Numeri, 309.

120 so Fritz, sei mit einer ersten Fassung des Textes am Ende der Königszeit und einer Erweiterung in exilischer Zeit zu rechnen; nach dem Schichtenmodell sei von einer Grundschicht mit mindestens zweimaliger Erweiterung auszugehen.176 J. Werlitz nimmt als terminus ab quo das Jahr 561 v. Chr. an, das 37. Jahr Jojachins von Juda. Die Annahme, das Werk müsse noch im Exil abgefaßt worden sein, weil das Ende des Exils darin nicht mehr erwähnt ist, beurteilt Werlitz zurückhaltend; dieser Tatbestand allein könne die Datierung nicht tragen.177 Klar ist nach diesen Untersuchungen mindestens, daß der zeitliche terminus ante quem non für das ganze Werk in jedem Fall der Untergang des Südreichs ist, wenngleich einzelne Teile durchaus höheres Alter für sich beanspruchen können. Schließlich: Die Stellen im Richterbuch zeigen sich nach der jüngsten Analyse von W. Groß als relativ gesehen jünger als die anderen Texte des Buches und setzen inhaltlich viel davon voraus. Groß sieht in Ri 19-21 einen theoretisierenden, nachexilischen Autor am Werk, der „auf schriftgelehrte Art [...] auf ein durch einen ganzen Stamm gedecktes Sexualverbrechen toragemäß durch innerisraelitische Vernichtungsweihe reagiert und am Ende diesen Stamm durch doppelte kasuistische Umgehung eines Eides dennoch vor seiner Auslöschung bewahrt.“178 Diese Übersicht über alttestamentliche Kommentarliteratur ist alles andere als vollständig und beansprucht auch keine Vollständigkeit; zudem bewegt sie sich in einem Zirkel, der aufgrund sprachlicher Beobachtungen ein niedriges Alter der Texte vermutet und dieses Alter mit einer Exegese nachzuweisen versucht, die selbst von der hebräischsprachigen Basis auszugehen hat. Dennoch läßt sich jetzt meines Erachtens die Vermutung von etwas sichererem Grund aus

176

Fritz, V., Das erste Buch der Könige (ZBK.AT 10,1), Zürich 1996, 8. Werlitz, J., Die Bücher der Könige (NSK.AT 8), Stuttgart 2002, 22. 178 Groß, W., Richter. Mit Karten von Erasmus Gaß (HThK.AT), Freiburg, Basel, Wien 2009, 92. 177

121 artikulieren, daß die Mehrzahl der Stellen, die Auffälligkeiten bei der Gemination des q aufweist, jüngere Stellen sind.

7. Weiterführende Überlegungen Mehrfach wurde im Zuge des vorausgegangenen Abschnitts die Annahme geäußert, daß die aufgezeigten ungewöhnlichen Formen einer späteren Stufe des Biblischen Hebräisch zuzuordnen sein könnten, einer Stufe, bei der sich bereits Auffälligkeiten einzustellen beginnen, die sich in ausgeprägterer Form erst im Biblischen und späteren Aramäisch nachweisen lassen. Sollte q an den besprochenen Stellen als Laryngal verstanden und behandelt worden sein, so würde hier ein Effekt sichtbar, der später im Aramäischen weiter ausgeprägt wird. Dort findet sich der Lautwechsel von q und [ – ein Lautwechsel also, der zu einem Konsonanten hin stattfindet, der als Laryngalis unbestritten ist. Das Wort #r,a, beispielsweise erscheint dann in den Formen [r;a] und qra,179 konkret in Jer 10,11 im status determinatus bzw. emphaticus (mit angehängtem a-") in den Formen a['ra > ; und aq"r>a.; 180 [ und q zeigen sich hier als austauschbar. Damit beginnt sich eine Entwicklung abzuzeichnen, von der ein entfernter Exponent heute im Arabischen in Teilen Syriens zu beobachten, besser: zu belauschen ist. Konkret im Bereich des Jebel Ansariye im nördlichen Syrien etwa sind die oAlawis oder Nusairier /

179

Bartelmus, Einführung, 215. Vgl. zu diesem Effekt in der Aussprache auch ausführlich Dalman, G. Grammatik des jüdisch-palästinischen Aramäisch. Nach den Idiomen des palästinischen Talmud, des Onkelostargum und Prophetentargum und der jerusalemischen Targume, Leipzig 21905, 56-68; vgl. zur Schreibweise ebd., 96-106, zum Wechsel von q mit g, k, j, a, [ und r besonders 99. 180 Darauf weisen auch Bauer / Leander, Grammatik, §3j, 4, hin.

122 NuÕairier (Տኌኑቌኒቚኅ) „qâf-speakers“;181 in der Region von Damaskus dagegen ist „[a]ltarab. q [...] ohne Ausnahme zu A verschoben [...].“182 Das arabischeՋ zeigt also in der Entwicklung zu einem der modernen syrisch-arabischen Dialekte eine Lautverschiebung zu einem Glottalstop (A), die der des q vom Hebräischen zum [ im Aramäischen ähnelt. Beide vermeiden den Ջ- bzw. q-Laut und schlagen dafür den Weg zur Laryngalis ein. Wie ist nun aber abschließend die Frage zu beantworten, die den Auslöser der bisherigen Überlegungen gebildet hat? Als welcher Stamm können oder müssen die Formen in Ri 20,15a.b.17; 21,9 bestimmt werden? Wenn das q in der späteren Sprachstufe die gezeigten Effekte bei der Formenbildung aufweist, spricht aus meiner Sicht nichts dagegen, auf dieser Basis mit André daran festzuhalten, die Formen im jüngsten Teil des Richterbuchs als Hitp.-Formen von dqp zu bestimmen.183 Sie wären dann am besten mit „einander mustern“ zu übersetzen. Daß mit dieser Wiedergabe das reziproke Moment der Verbform betont wird, scheint besonders deswegen angemessen, weil das Subjekt eine Gruppe ist184 und nirgends ein Anführer dieser Gruppe genannt wird.185 Und die Formen mit der Vorsilbe -t.h?' Nach Creason sind die Hotp.Formen in der Folge der Formen im Richterbuch „more clearly passive, though the example found in 1 Kings 20:26-27 could possibly be reflexive.“186 Die erste Teilaussage ist zutreffend, die zweite kann es sein, doch läßt sich auch 1Kön 20,27 sinnvoll als passive Formulierung 181

Lewin, B., Notes on Cabali. The Arabic dialect spoken by the Alawis of „Jebel Ansariye“ (Orientalia Gothoburgensia 1), Göteborg 1969, 8. 182 Grotzfeld, H., Syrisch-arabische Grammatik (Dialekt von Damaskus) (PLO.NS 8), Wiesbaden 1965, 8. 183 Vgl. André, Destiny, 33.53.155.226, und Ders., dq"P,' 711. 184 Vgl. Ders., Destiny, 46. 185 Vgl. Ders., dq"P,' 711. Ähnlich Holler, Meaning, 4, der von „men who had no authority“ spricht. 186 Creason, PQD, 40; vgl. ebd. 41.

123 verstehen. Wenn die Formen tatsächlich in der Folge der Hitp.-Formen von dqp gebildet wurden, so könnte darin der Wunsch ausgedrückt sein, ein noch stärker distanziertes „Gemustertwerden“ zu artikulieren, geradezu eine Passivbildung des reziprok-reflexiven Sinns, die ja im Hebräischen (wie im Deutschen) formal und inhaltlich nicht vorgesehen ist, weil das, was damit intendiert ist, letztlich nicht denkbar ist. Eine letzte, gleichsam unterwegs gemachte Beobachtung, die mit q zusammenhängt, sei abschließend erwähnt. Bei dem Namen laet.q.y" in Jos 15,38; 2Kön 14,7 fehlt jeweils nach q mit sewa quiescens das dageš lene, das im folgenden Begadkephat-Laut zu erwarten wäre. Die Überprüfung aller Wörter mit der Konsonantenfolge bq, gq, dq, kq, pq und tq mit šewa quiescens unter dem q im hebräischen Alten Testament ergibt lediglich zwei weitere Treffer, die das gleiche Phänomen zeigen, nämlich bei der Form ^b,q.yI (Dtn 15,14; 16,13).187 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß die Konsonantenfolge gq im ganzen hebräischen Alten Testament nicht belegt ist. Von der Folge dq existieren lediglich die diskutierten Belege der Wurzel dqp. Die Folge kq schließlich existiert zwar, jedoch nicht in einem Zusammenhang der Radikale innerhalb einer Wurzel, sondern lediglich durch die Kombination aus Wurzel-q an letzter Stelle und folgendem k als Teil oder ganzes des Suffixes der 2. Person – einem Suffix, das in der Pluralform mit ~k,- oder !k,- offenbar nie ein dageš lene im k aufweist. Die Formen des Namens in Jos 15,38; 2Kön 14,7 sind die beiden einzigen, die diesen Effekt mit dem Dental t zeigen. Laut Ges-K28 läßt sich diese Schreibweise „höchstens aus der Natur des q begreifen.“188 Die Form ^b,q.yI (Dtn 15,14; 16,13) ist die einzige, die sich beim Labial b 187

Daß bei Wörtern etwa in der Form ~t'r"buq.Bi (Gen 47,30) oder vAdq.Bi (Jes 29,19) kein dageš lene im Begadkephat steht, liegt daran, daß die erste Silbe ursprünglich nicht geschlossen war, sondern am Anfang zwei Silben mit šewa mobile hintereinanderstanden, von denen das erste dann zum kurzen vollen Vokal, das zweite zum šewa quiescens geworden ist. 188 Ges-K28, §21e, 79.

124 so verhält. Sie verdankt sich laut Ges-K28 „offenbar“ der „Einwirkung der Palatalis in der Mitte des Stammes.“189 Vielleicht ist es unter Berücksichtigung dieser Formen angemessen, in der Perspektive auf die vorausgegangenen Überlegungen das q als einen Radikal zu bezeichnen, der Effekte sui generis aufweisen kann – einen Radikal, der von Zeit zu Zeit und je nach Klangfarbe und Betonung im jeweiligen Wort Phänome zeigt, die er an anderen Stellen nicht zeigt und die nach dem BiblischHebräischen Regelsystem weder unbedingt zu erwarten noch nach derzeitigem Wissensstand überall eindeutig zu erklären sind.

189

Ebd. §93k, 277. Vgl. auch Nöldeke, Inkonsequenzen, 14.

Die literarhistorischen Hintergründe und die theologische Position des Predigerbuches Markus Saur 1. Die literarhistorischen Hintergründe des Predigerbuches in der aktuellen Forschungsdebatte Jeder Versuch, das Predigerbuch zu gliedern, trifft bereits Vorentscheidungen, die Konsequenzen für die Rekonstruktion der Entstehung des Textes haben. Mehr als bei jedem anderen Buch der Hebräischen Bibel bleibt daher der Versuch einer Strukturierung problematisch. Es ist unumstritten, dass in Pred 1,1 eine Überschrift vorliegt, die den folgenden Text dem Jerusalemer Königssohn zuordnet, der Qohelet genannt wird. Doch schon mit den folgenden Versen beginnen die Schwierigkeiten: Ist innerhalb des ersten Kapitels v2 – lRbDh lO;kAh MyIlDbSh lEbSh tRlRhOq rAmDa MyIlDbSh lEbSh – als eine allgemeine Themenangabe, die das Buchganze einleiten soll, zu deuten? Dass alles lRbRh sei1, wird im Predigerbuch an vielen Stellen wieder aufgegriffen, so dass v2 häufig als Fortsetzung der Überschrift aus v1 gedeutet wird. Wie steht es dann aber mit v3? Liegt hier eine weitere Akzentuierung zu v2 vor – oder beginnt an dieser Stelle eine erste Einheit innerhalb des Buches, die dann bis v11 reichen würde2? Weitere literarische Einheiten könnten die sogenannte Königstravestie in Pred 1,12-2,26 und das Gedicht über die Zeit in Pred 3,1-8 bilden, das möglicherweise mit v9-15 fortgesetzt wird. In Pred 3,16-12,8 folgen dann zahl-

1

Zu den philologischen Details vgl. K. Seybold, Art. lRbRh hæœæl, in: ThWAT II (1977), 334-343. 2 Vgl. dazu T. Krüger, Kohelet (Prediger) (BKAT XIX Sonderband), Neukirchen-Vluyn 2000, 108-122, aber auch A. A. Fischer, Skepsis oder Furcht Gottes? Studien zur Komposition und Theologie des Buches Kohelet (BZAW 247), Berlin/New York 1997, 186192.

126 reiche Reflexionen, die untereinander Bezüge, vor allem Stichwortassoziationen, aufweisen, so dass der Text als ein zusammenhängendes Ganzes erscheint, wie vor allem die Inklusion zwischen Pred 1,2 und Pred 12,8 zeigt. Die Spannungen und Widersprüche zwischen einzelnen Aussagen des Predigers stellen die Exegese des Buches allerdings vor große Probleme, vor allem dann, wenn man den Text als eine literarische Einheit interpretieren möchte. Ein Beispiel ist hier etwa die Einschätzung der Frau als einer Gefahr in Pred 7,26 und der Frau als einer Begleiterin beim Genießen des Lebens in Pred 9,9; ähnliche Spannungen finden sich in Pred 7,3.9; 8,15, wo etwa Kummer und Freude ganz verschieden beurteilt werden, oder Pred 7,12; 9,11, wo die Weisheit und ihr ökonomischer Nutzen sehr unterschiedlich eingeschätzt werden. Während der Hauptteil des Buches aus der Perspektive Qohelets in der 1. Person abgefasst ist und gelegentlich in die Anrede des Lesers in der 2. Person wechselt, wird diese Grundstruktur Pred 12,9-11 durchbrochen: Es wird nun über Qohelet in der 3. Person gesprochen, der ein Weiser gewesen sei, der das Volk Erkenntnis lehrte. Nach Pred 12,12 ist des Büchermachens kein Ende und Studieren ermüdet den Leib, v13 bringt in gewissermaßen ‚orthodoxer’ Weise die Gottesfurcht und das Halten der Gebote ins Spiel, v14 spricht sogar von einem Ratschluss, zu dem Gott alles, ob gut oder böse, bringen werde – von Qohelet ist hier keine Rede mehr. Offensichtlich liegen mit Pred 12,9-11.12-14 zwei Anhänge vor, die voneinander unterschieden werden müssen, so dass man im Blick auf diese beiden Passagen von einem 1. Epilogisten und einem 2. Epilogisten des Predigerbuches spricht: Der 1. Epilogist will in v9-11 die Ehrenhaftigkeit Qohelets unterstreichen, indem dieser als Weisheitslehrer und Spruchdichter dargestellt wird; der 2. Epilogist stellt in v12-14 alle Lehre

127 unter den Vorbehalt der Gottesfurcht und in das Licht des Rechtsspruches, der am Ende zu stehen scheint3. Wie steht es aber mit dem Hauptteil des Predigerbuches? Insgesamt werden für das Predigerbuch drei Entstehungsmodelle vertreten4. 1. Nach dem ersten Modell ist das Buch als eine lose Aneinanderreihung von einzelnen Reflexionen und Sprüchen zu deuten, die keinem bestimmten Plan folgen5. Es lässt sich kein fortschreitender Argumentationsgang erkennen, auch wenn von den meisten Vertretern dieses Modells zugestanden wird, dass das Buch eine „in seinem Inhalt begründete Einheitlichkeit“6 hat. Häufig werden die Aneinanderreihungen von Reflexionen mit einer Entwicklung des Predigers erklärt, der sich in dem vorliegenden Text als ein Suchender zu erkennen gebe; wer hier keine Entwicklung erkennen kann, verweist auf Qohelets denkerische Eigenarten, innerhalb derer Spannungen und Widersprüche einen Platz hatten7. So hat etwa James A. Loader bereits 1979 auf polar structures innerhalb des Buches aufmerksam gemacht und zu zeigen versucht, dass die Widersprüche innerhalb des Predigerbuches ‚polar’ zu deuten sind: Das Predigerbuch sei als ein Text zu verstehen, der Problemkonstellationen umkreise und von ihren Endpunkten, ihren Polen, die in diesem Fall auch

3

Zu den Problemen der Schlussworte des Predigerbuches vgl. vor allem J.-M. Auwers, Problèmes d’interprétation de l’épilogue de Qohèlèt, in: A. Schoors (Hg.), Qohelet in the Context of Wisdom (BEThL CXXXVI), Leuven 1998, 267-282. 4 Die Gliederung folgt dem Vorschlag D. Michels, Qohelet (Erträge der Forschung 258), Darmstadt 1988, 9f. 5 Dieses sogenannte ‚Sentenzenmodell’ geht auf K. Galling, Kohelet-Studien, in: ZAW 50 (1932), 276-299, zurück. 6 Michel, a. a. O., 16. 7 Vgl. dazu L. Schwienhorst-Schönberger, Kohelet: Stand und Perspektiven der Forschung, in: Ders. (Hg.), Das Buch Kohelet. Studien zur Struktur, Geschichte, Rezeption und Theologie (BZAW 254), Berlin/New York 1997, 5-38, 16.

128 Gegensätzliches zum Ausdruck bringen könnten, her zu beschreiben versuche8. 2. Dem zweiten Modell zufolge ist die undurchsichtige Disposition des Predigerbuches das Ergebnis einer wie auch immer entstandenen Verwirrung, die aus einem strukturierten Text ein Durcheinander gemacht hat, das mit Hilfe literarkritischer Eingriffe wieder in Ordnung zu bringen ist. Dass dieses Modell in den Hochphasen der Pentateuchkritik Konjunktur hatte, kann man leicht erahnen. In der gegenwärtigen Forschungsdebatte werden literarkritische Modelle, die mit erheblichen Umstellungen, Streichungen etc. rechnen, kaum noch vertreten. An einigen Stellen lassen sich im Blick auf die literarische Entwicklung des Predigerbuches allerdings Konsense der Forschung erkennen; ganz sicher gilt das hinsichtlich der beiden später hinzugefügten Epiloge in Pred 12,9-11.12-14, aber wohl auch im Blick auf Pred 11,9b; dieser Vers wird aufgrund der Gerichtsthematik von vielen Exegeten mit dem 2. Epilogisten in Verbindung gebracht, der damit seine Sicht der Dinge nicht nur am Ende des Buches, sondern auch an einer markanten Stelle innerhalb des Textes eingebracht hätte9. Sollte das richtig sein, ist es zumindest nicht vollkommen abwegig, auch an anderen Stellen mit kommentierenden Zusätzen und Fortschreibungen zu rechnen – und das Buch dann in seiner vorliegenden Form als das Ergebnis eines Redaktionsprozesses zu deuten. So meint etwa Alexander A. Fischer, der Pred 1,3-3,15 als die ‚Grundschrift’ des Predigers versteht, dass auf diese Grundschrift thematisch gruppierte Abschnitte folgten, die keine Disposition erkennen lassen, aber durch Stil und Inhalt miteinander verbunden seien. Qohelet könne daher nicht als ein literarisches Gesamtkunstwerk betrachtet werden: „Vielmehr setzt es sich aus verschiedenen Stücken zusammen, die ur8

Vgl. J. A. Loader, Polar Structures in the Book of Qohelet (BZAW 152), Berlin/New York 1979. 9 Vgl. dazu M. Witte, Das Koheletbuch (Der Prediger Salomo), in: J. Chr. Gertz (Hg.), Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments, Göttingen 22007, 457-464, 461f.

129 sprünglich einmal selbständige Darlegungen bildeten und auf ihre Verwendung in der Schule hindeuten. [...] Das Buch Kohelet ist ein Sammelwerk, das auf ihm vorgegebenen Einzeltexten unterschiedlichen Umfangs beruht.“10 Aufgrund dieser Einschätzung des Textes arbeitet Fischer bei seiner Analyse des Predigerbuches vor allem redaktionsgeschichtlich und sucht nach der ipsissima vox Qohelets, den er letztlich nicht als einen Skeptiker, sondern als einen jüdischen Weisen deutet, der „die Ambivalenz der Welt ausgehalten und der verborgenen Weisheit Gottes anheimgestellt“11 hat. Ebenfalls redaktionsgeschichtlich arbeitet Martin Rose, der im Predigerbuch eine perserzeitliche Grundschrift (‚le sage’) erkennt, die in der Ptolemäerzeit zunächst von einem Schüler (‚le disciple’) und dann von einem Herausgeber (le théologien-rédacteur) fortgeschrieben worden sei; insgesamt spiegele Qohelet eine theologische Auseinandersetzung zwischen dem Verfasser der Grundschrift, deren erstem Bearbeiter und einem zwischen beiden vermittelnden Herausgeber des Buches12. 3. Nach dem dritten Modell erweist sich das vorliegende Buch als ein planvoll strukturierter Text, dessen Disposition sich aufgrund einer sachgemäßen Analyse erschließt. Dabei sind vor allem die Besonderheiten der Sprache Qohelets und seine Stileigentümlichkeiten sorgfältig herauszuarbeiten; von daher könnte sich die Frage nach einer stringenten Logik und einer klaren Argumentationsführung als unsachgemäß erweisen13.

10 11

Fischer, a. a. O., 20f.

Fischer, a. a. O., 249f. Vgl. M. Rose, Rien de nouveau. Nouvelles approches du livre de Qohélét (OBO 168), Göttingen/Fribourg 1999. 13 Vgl. dazu Krüger, a. a. O., 37f: „Die nächstliegende Möglichkeit der Erklärung von Spannungen und Widersprüchen bleibt jedenfalls der Versuch, diese als intendierte und sinnvolle Elemente größerer [...] Reflexions- und Argumentations-Zusammenhänge zu interpretieren [...] Bei der Kommentierung der Texte des Koheletbuchs ist deshalb mit der Möglichkeit zu rechnen, dass sie in ihrer Argumentation ein hohes Maß an interpretierender Mitarbeit der Leser voraussetzen.“ 12

130 Ausgehend von diesen Fragestellungen zeichnet sich in den neueren Arbeiten zur Entstehung des Predigerbuches vor allem im Blick auf den ersten Teil in Pred 1-3*14 ein Konsens der Forschung ab, demzufolge sich hier ein zusammenhängender Traktat erkennen lasse, der Grundpositionen Qohelets darlege. Insbesondere Diethelm Michel hat ausgehend von diesem ersten Textbereich in einer methodisch bestechenden Analyse für die weiteren Kapitel des Predigerbuches zwischen Positionen Qohelets und Zitaten zu unterscheiden versucht; in Pred 4-12* erkennt er vor allem eine Auseinandersetzung des Predigers mit klassischen Weisheitspositionen und der aufkommenden Apokalyptik, die in Form des Zitats zu Wort komme. Die Annahme, dass innerhalb des Predigerbuches Positionen referiert und zitiert werden, die nicht mit der Meinung Qohelets übereinstimmen, hat eine hohe Erschließungskraft für den vorliegenden Text, dessen inhaltlich häufig weit auseinanderliegende Positionen damit erklärt werden können. Dennoch ist bei der Annahme eines Nebeneinanders von Zitaten und eigener Meinung Qohelets sehr subjektiven Einschätzungen Tor und Tür geöffnet und ein breiter Forschungskonsens hinsichtlich der einzelnen Texte und ihrer Interpretation wohl nur schwer zu erzielen. Von diesem Ansatz ausgehend lassen sich in jüngster Zeit allerdings bemerkenswerte Entwicklungen verfolgen und Konvergenzen innerhalb der Forschung erkennen; Ludger Schwienhorst-Schönberger spricht hier – mit Verweis auf Arbeiten von Norbert Lohfink und Thomas Krüger – von einem ‚rezeptionsorientierten Interpretationsansatz’: „Im Hinblick auf die Spannungen und Widersprüche des Buches ist dieses Modell im Grunde eine differenzierende Weiterführung des Zitatenmodells. Der rezeptionsorientierte Ansatz hält die Uneindeutigkeit der Unterscheidung von Zitat und Kommentar für beabsichtigt. Sie ist eine spe-

14

Über den genauen Umfang dieses Traktats gehen die Meinungen auseinander. Wie Michel, a. a. O., 32, setzt auch A. Fischer, Beobachtungen zur Komposition von Kohelet 1,3-3,15, in: ZAW 103 (1991), 72-86, Pred 1,3-3,15 als zusammenhängenden Traktat an; Koh 3,16-22 bleibt dagegen umstritten (vgl. etwa Schwienhorst-Schönberger, a. a. O., 9).

131 zifische Form der Argumentationsstrategie, die den Leser in besonderer Weise an der Konstitution des Textverständnisses beteiligen soll. Die Uneindeutigkeit des Textes ist also nicht durch Exegese zu beseitigen, sondern zu beschreiben als eine spezifische Form der Offenheit des Textes, die zunächst einmal verschiedene Möglichkeiten des Verständnisses zuläßt, welches erst im weiteren Verlauf der Lektüre schärfere Konturen gewinnt und in eine spezifische Richtung gelenkt wird.“15 Dieser Ansatz scheint – bei allen methodischen Problemen, die sich stellen, wenn man von einem per se offenen Text ausgeht – dem Textbefund am nächsten zu kommen; das Ziel der Exegese des Predigerbuches läge diesem Ansatz zufolge nicht mehr in der kaum zu leistenden Arbeit, einen kohärenten literarischen und theologischen Ansatz des Qohelets zu rekonstruieren, sondern das Buch als Anleitung zur Problembearbeitung zu lesen und in dieser Absicht seine Eigenart zu erkennen. Will man den gegenwärtigen Forschungsstand zusammenfassen, so lässt sich vielleicht folgendes sagen: Das Predigerbuch stellt in weiten Teilen eine literarische Einheit dar, deren Kern in Pred 1-3* zu suchen ist; dieser thematische Kern wird in Pred 4-12* in kreisenden Bewegungen um die zu Beginn gesetzten Themen entfaltet, wobei Überschneidungen und Doppelungen, aber auch Widersprüche und Gegensatzformulierungen eher den Eigentümlichkeiten des Stils des Predigerbuches als literarhistorischen Prozessen geschuldet sein dürften. Das Buch wurde redaktionell überarbeitet; möglicherweise sind Spuren dieser Redaktionsprozesse in Pred 11,9b und in Pred 3,17; 11,10b; 12,7 zu greifen16; ganz sicher ist damit bei den beiden Epilogen in Pred 12,9-11.12-14 zu rechnen. Die Überschrift in Pred 1,1 könnte durchaus schon zur ersten Fassung des Buches gehört haben, sie wäre dann zwar in formaler, nicht aber in literarhistorischer Hinsicht vom Buchkorpus abzuheben; die offensichtlich beabsichtigte Identifikation des Predigers mit Salomo, dem Sohn Davids, 15 16

Schwienhorst-Schönberger, a. a. O., 19. Zur Begründung vgl. die Hinweise von Witte, a. a. O., 461f.

132 könnte allerdings auch auf eine spätere Hinzufügung hindeuten, denn dass der Prediger gerade kein König war, macht der 1. Epilogist deutlich, der Qohelet als einen Weisen und Lehrer des Volkes beschreibt. Zur Beantwortung der Frage nach dem Entstehungsort und der Entstehungszeit des Predigerbuches soll hier in aller Kürze die wichtige Frage nach den außerisraelitischen Einflüssen, die auf das Buch eingewirkt haben könnten, diskutiert werden. Dabei sei gleich vorweg gesagt, dass sich direkte und deutlich rekonstruierbare Einflüsse nicht nachweisen lassen; es kann lediglich an einigen wenigen Stellen auf punktuelle Analogien aus der Umwelt des antiken Juda verwiesen werden17. Ein erster Bereich, in dem man Einflüsse auf das Predigerbuch gesucht hat, ist Ägypten. Insbesondere die ägyptischen Lehren und Weisheitsbücher wurden dafür herangezogen18, doch lassen sich direkte literarische Bezüge nicht erkennen. Inhaltliche Parallelen und Entsprechungen weisen allerdings darauf hin, dass es auch in Ägypten skeptische oder pessimistische Denkansätze gegeben hat, was sich am ehesten damit erklären lässt, dass bestimmte Krisensituationen zu allen Zeiten kritisches Denken provozieren können19. Auch aus dem mesopotamischen Bereich sind kritische Weisheitstexte bekannt wie etwa die sogenannte ‚Babylonische Theodizee’20 oder der ‚Pessimistische Dialog’21. Beachtenswert ist hier vor allem die Form des Dialogs, die sich zwar nicht direkt mit dem Predigerbuch vergleichen lässt, aber dennoch zeigt, dass die heterogenen oder sogar polaren Aussagen des Predigers durchaus mit einem dialogischen Stil zu tun haben 17

Vgl. dazu O. Kaiser, Beiträge zur Kohelet-Forschung. Eine Nachlese, in: ThR 60 (1995), 1-31.233-253, 21-31, und C. Uehlinger, Qohelet im Horizont mesopotamischer, levantinischer und ägyptischer Weisheitsliteratur der persischen und hellenistischen Zeit, in: Schwienhorst-Schönberger (Hg.), a. a. O., 155-247. 18 Vgl. dazu die entsprechenden Texte in TUAT III, 191-319. 19 Vgl. Michel, a. a. O., 54, und Uehlinger, a. a. O., 207-228. 20 Vgl. TUAT III, 143-157. 21 Vgl. TUAT III, 158-163.

133 könnten, der seine Analogien in entsprechenden Weisheitsdichtungen aus dem mesopotamischen Kulturraum hätte. Eine Parallele soll hier exemplarisch erwähnt werden; in Pred 9,7-9 heißt es: :ÔKyRcSoAm_tRa MyIhølTaDh hDx˜r rDbVk yI;k ÔKRny´y bwøf_bRlVb hEtSv…w ÔKRmVjAl hDjVmIcV;b lOkTa JKEl :rDsVj‰y_lAa ÔKVvaør_lAo NRmRv¸w MyInDbVl ÔKy®dÎgVb …wyVhˆy tEo_lDkV;b Myˆ¥yAj hEa¥r Myˆ¥yAjA;b ÔKVqVlRj a…wh yI;k ÔKRlVbRh yEm¸y lO;k vRmRÚvAh tAjA;t ÔKVl_NAtDn rRvSa ÔKRlVbRh yE¥yAj yEm¸y_lD;k D;tVbAhDa_rRvSa hDÚvIa_MIo :vRmDÚvAh tAjA;t lEmDo hD;tAa_rRvSa ÔKVlDmSoAb…w Neben diese eindeutige Aufforderung, das Leben zu genießen, sei das Wort der Wirtin aus dem Gilgamesch-Epos gestellt, das einem altbabylonischen Fragment aus der Zeit um 1800 v. Chr. entstammt22; die Wirtin gibt Gilgamesch nach dem Tod seines Freundes Enkidu folgenden Rat: Gilgamesch, wohin läufst du? Das Leben, das du suchst, wirst du sicher nicht finden! Als die Götter die Menschheit erschufen, wiesen sie der Menschheit den Tod zu, nahmen das Leben in ihre eigene Hand. Du, Gilgamesch, voll sei dein Bauch, Tag und Nacht sei andauernd froh, du! Täglich mache ein Freudenfest, Tag und Nacht tanze und spiele! Gereinigt seien deine Kleider, dein Haupt sei gewaschen (und) du mit Wasser gebadet! Sieh auf das Kind, das deine Hand gefaßt hält, die Frau/Gattin freue sich auf deinem Schoß!23 Aus den Gemeinsamkeiten – Aufforderung zu Essen und Trinken, zum Feiern, zur Reinheit und Körperpflege und zur Freude mit der Frau – lässt sich wegen der komplizierten Überlieferungsgeschichte des akkadischen Textes sicherlich keine literarische Abhängigkeit ermitteln; den22 23

Vgl. Uehlinger, a. a. O., 183f. Übersetzung nach Uehlinger, a. a. O., 184.

134 noch sind beide Texte durch eine sehr ähnliche Grundstimmung geprägt, die man wohl als einen altorientalischen Topos gegenüber menschlichen Grenzsituationen beschreiben muss. Auf die Frage nach phönizischem bzw. kanaanäischem Einfluss auf das Predigerbuch ist mehrfach eingegangen worden; für das Phönizische wie auch im Blick auf Syrien-Palästina insgesamt lassen sich aber keine belastbaren Quellen weisheitlicher Literatur beibringen, so dass hier mehr Fragezeichen als Antworten stehen bleiben24. Ob gerade im Blick auf das erst spät entstandene Predigerbuch der Einfluss griechischen Denkens eine bedeutende Rolle gespielt hat, wird in der Forschung sehr kontrovers diskutiert. Insbesondere die Gattung der Diatribe, die in hellenistischer Zeit aufkam, wird immer wieder angeführt: Auf eine These folgte in dieser popularphilosophischen Gattung deren Widerlegung, die dann eine Diskussion eröffnete; diese Gattung lässt das Interesse erkennen, „dem Leser die Kompetenz zur selbständigen Auseinandersetzung mit Gegenpositionen zu vermitteln. Eben dies scheint auch das Koheletbuch zu beabsichtigen: Die Leser sollen nicht vorgefertigte ‚Weisheiten’ (auswendig) lernen, sondern zur selbständigen Urteilsbildung befähigt werden.“25 Sollten die Trägergruppen des Predigerbuches eine hellenistische Ausbildung durchlaufen haben, was in Syrien-Palästina seit dem 4. Jh. v. Chr. durchaus denkbar ist, könnten sie auch mit bestimmten Formen der Bearbeitung philosophischer Probleme vertraut gewesen sein, so dass die Frage nach formalen Einflüssen hellenistischer Bildung nicht einfach von der Hand gewiesen werden kann. Hinsichtlich inhaltlicher Prägungen muss man angesichts der Verwurze-

24

Vgl. Michel, a. a. O., 58, und Uehlinger, a. a. O., 198-207, der vor allem auf die Achiqar-Sprüche verweist (vgl. dazu TUAT III, 320-347). 25 Krüger, a. a. O., 31. N. Lohfink, Das Koheletbuch: Strukturen und Struktur, in: Schwienhorst-Schönberger (Hg.), a. a. O., 39-121, 58, denkt bei einer Diatribe an „literarische Idealentwürfe eines Lehrvortrags eines Philosophen“ und folgert: „Das Koheletbuch ist zwar nicht eine Diatribe, aber es enthält so etwas wie eine Diatribe.“ (a. a. O., 59).

135 lung des Predigers in der jüdischen Tradition zurückhaltender urteilen: Qohelet war trotz seiner gelegentlichen Betonung der Lebensfreude kein Epikureer, er war trotz seines gelegentlich anklingenden Fatalismus auch kein Stoiker, und der Prediger war wohl auch nicht einfach ein Skeptiker oder ein Pessimist26 – man muss wohl eher „mit einer primär atmosphärischen Beeinflussung Kohelets durch die hellenistische Kultur“27 rechnen. Im Blick auf die Entstehungszeit und den Entstehungsort des Predigerbuches lässt sich vor dem Hintergrund seiner Beziehungen zum hellenistischen Denken und ‚Lebensgefühl’ ein weitreichender Konsens erkennen: „In der neueren Forschung wird fast allgemein angenommen, dass das Koheletbuch in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Chr. [...] in Jerusalem verfasst wurde.“28 Gegen eine Lokalisierung der Trägergruppen in Ägypten, vor allem in Alexandria, wofür der Kontakt zu griechischem Denken und einige Anspielungen sprechen könnten, kann man auf die Hellenisierung Syrien-Palästinas seit dem 4. Jh. v. Chr. verweisen, die es auch in Jerusalem ansässigen Gelehrten ermöglicht haben dürfte, mit griechischem Denken in Kontakt zu kommen; zudem lassen sich innerhalb des Buches deutliche Hinweise auf palästinische Verhältnisse erkennen, wie Hans Wilhelm Hertzberg gezeigt hat29. Eines der gewichtigen Argumente für die Datierung des Buches sind die sprachlichen Ei26

Vgl. Kaiser, Grundriß der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen Schriften des Alten Testament. Band 3: Die poetischen und weisheitlichen Werke, Gütersloh 1994, 93f, der meint, man sollte „Kohelet am Ende besser mit solchen Rubrizierungen verschonen.“ 27 Schwienhorst-Schönberger, a. a. O., 27, der an dieser Stelle referiert und selber noch weiter gehen würde, was die Beziehungen zwischen Qohelet und hellenistischem Denken angeht; dagegen wendet sich allerdings Michel, a. a. O., 58-65.66-75, der Qohelet in einem innerjüdischen Diskurs verankert. 28 Krüger, a. a. O., 39. 29 Vgl. H. W. Hertzberg, Palästinische Bezüge im Buche Kohelet, in: ZDPV (1957), 1324, und ders., Der Prediger (KAT XVII/4), Gütersloh 21963, 42-46. Hertzberg verweist in seiner Argumentation u. a. auf Pred 4,17 (Tempel), Pred 9,7f (Brot, Wein und Öl), Pred 10,8f (Handwerk), Pred 10,18 (Bauweise) und Pred 11,4 (Klima) (Hertzberg, a. a. O., 44f).

136 genarten des Hebräischen, das hier in einer Sprachstufe vorliegt, die bereits eine große Nähe zu dem späteren Mittelhebräischen aufweist und in der vorexilischen Zeit, aber auch im 5. Jh. v. Chr. in dieser Form wohl noch nicht denkbar ist30. Der Gattung nach wird das Predigerbuch häufig in Anlehnung an die ägyptischen Weisheitslehren und mit Verweis auf Pred 11f, wo offensichtlich ein älterer Lehrer einen jüngeren Schüler unterweist, als eine Lehre bezeichnet31; daneben wird ausgehend von den Beziehungen Qohelets zur griechischen Kultur von einer Diatribe32 gesprochen oder auf das Symposion als möglichen Sitz im Leben des Buches verwiesen33. 2. Die theologische Position des Predigerbuches im nachexilischen Weisheitsdiskurs Sollten die literarischen Analysen, die Pred 1-3* als den Kerntext des Predigerbuches bestimmen, dem sich Pred 4-12* kommentierend anschließen würden, sachgemäß sein, so müssten sich die zentralen Themen des Buches bereits in den Anfangskapiteln auffinden lassen34. Der Bereich von Essen, Trinken und Freude als den höchsten Gütern steht in vielen Texten des Predigerbuches im Zentrum (vgl. Pred 3,12f.22; 5,17-19; 7,14f; 8,15; 9,7-10; 11,7-10); dass es dabei nicht um eine egoistisch-hedonistische Grundhaltung geht, sondern Lebensfreude als eine Gabe Gottes verstanden wird, zeigt Pred 3,13b: ayIh MyIhølTa tA;tAm. Wenn innerhalb des Predigerbuches von Gottesgaben die Rede ist, kann man das Buch kaum als gottesfern einstufen; von hwhy ist zwar im Predigerbuch an keiner Stelle die Rede, von Myhla 30

Vgl. zu den Details Krüger, a. a. O., 62-64. Vgl. dazu etwa Kaiser, a. a. O., 88, und Krüger, a. a. O., 27. 32 Vgl. Lohfink, a. a. O., 58f. 33 Vgl. dazu Uehlinger, a. a. O., 234f, der Qohelet in diesem Kontext als einen Symposiarchen verstehen möchte. 34 Zu den folgenden Themen vgl. Krüger, a. a. O., 11-18. 31

137 dagegen mehrfach. Der Gottesbezug Qohelets zeigt sich besonders deutlich an den Texten, in denen Gott als derjenige dargestellt wird, der den Menschen und die Welt ‚gemacht’ hat (vgl. 3,11.14f; 7,13f.29; 8,17; 11,5; 12,7); im Hebräischen werden hier vor allem Formen der Wurzel hvo verwendet, eine von dem klassischen Terminus für Gottes Schöpfungshandeln arb abgeleitete Form findet sich nur in Pred 12,1. Das Motiv der Unergründbarkeit des göttlichen Handelns spielt trotz dieser Schöpfungsaussagen eine bedeutende Rolle35, so dass der Abstand zwischen Gott und Mensch nicht übersehen werden kann (vgl. Pred 5,1) und aus diesem Abstand heraus der Aufruf zur Gottesfurcht innerhalb des Predigerbuches verstanden werden muss (Pred 3,14; 5,6; 7,18; 8,12; 12,13), wobei mindestens Pred 12,13 auf den 2. Epilogisten zurückgeht und auf einer Ebene mit den Gottesfurcht-Vorstellungen des Sprüchebuches, des Hiobbuches oder des Psalters liegen dürfte36. Grenzen des Menschen stellen innerhalb des Predigerbuches die Zeit (vgl. Pred 1,4.10; 3,11.14; 9,5f) und das Schicksal (Pred 2,14f; 3,19; 9,2f) dar. Diesen beiden nach dem Predigerbuch vollkommen kontingenten Größen sind alle Menschen unterworfen. Ob damit griechische Vorstellungen einer tÚch anklingen, lässt sich zumindest fragen; die letztlich grundlegende Theonomie des Predigerbuches läuft allerdings einer willkürlichen tÚch-Konzeption entgegen, denn der Weltlauf ist dem Predigerbuch zufolge als ein von Gott bestimmter zu begreifen, auch wenn sich diese Bestimmung dem Menschen nicht erschließt. Ähnliches gilt für die griechische Vorstellung einer mo‹ra als dem ‚Anteil’ (am Los des 35

Zur Funktion der Schöpfungstheologie am Ende des Predigerbuches vgl. die Bemerkungen von H.-P. Müller, Der unheimliche Gast. Zum Denken Kohelets, in: ZThK 84 (1987), 440-464, 452: „Daß Lebensfreude nicht mehr als Alternative einer der Skepsis verfallenen Weisheit, sondern positiv als ein Verhalten legitimiert wird, durch das man seines Schöpfers gedenkt, geht über das bisher Gesagte hinaus. Die Rückorientierung an einer genuin israelitischen Schöpfungstheologie ist Kohelets Problemlösung – freilich auch eine Problemverkürzung: Daß derselbe Schöpfer die Mittel der Lebensfreude nach weisheitlichen Kriterien willkürlich zumißt, scheint vergessen.“ 36 Vgl. Spr 1,7; Hi 28,28; Ps 111,10.

138 Lebens), die sich deutlich mit dem hebräischen Konzept eines qRlEj (vgl. Pred 2,10; 3,22; 5,17f; 9,9) berührt37; denn auch mit diesem Lexem wird im Predigerbuch keine willkürliche Größe beschrieben, sondern „die Unverfügbarkeit des Lebensgenusses als Geschenk Gottes für den Menschen unterstrichen“38 und damit die theonome Dimension des qRlEj deutlich gemacht. Anders steht es mit dem menschlichen Gewinn, nach dem bereits in Pred 1,3 gefragt wird: vRmDÚvAh tAjA;t lOmSoÅ¥yRv wølDmSo_lDkV;b M˜dDaDl NwørVtˆ¥y_hAm (vgl. Pred 2,11.13; 3,9; 5,8.15; 7,12; 10,10.11). Gewinn als ein vom Menschen selbst erarbeitetes Gut kann es nicht geben, da das menschliche Tun der Vergänglichkeit allen Seins unterliegt. Genau aus dieser Einsicht ergibt sich die Warnung des Predigers vor allzu verbissenem Gewinnstreben, vor allzu übertriebener Mühsal und vor allzu selbstausbeuterischer Arbeit: Der Mensch kann durch sein eigenes Tun sein Glück nicht produzieren – er kann sich nach Pred 8,15 aber sehr wohl das Leben durch Essen, Trinken und Freude erleichtern. Wie alles andere ist nach dem Predigerbuch allerdings der Reichtum, der den Lebensgenuss überhaupt erst ermöglicht, für den Menschen unverfügbar und ein Geschenk Gottes (vgl. Pred 5,18; 6,2). Gibt es nun ein verbindendes Moment zwischen diesen sehr verschiedenen Bereichen? Lässt sich eine grundlegende Haltung Qohelets erkennen, die die Position zu den unterschiedlichen Themen prägt? Bei der Suche nach einem Zentralbegriff des Predigerbuches stößt man sehr schnell auf das hebräische Lexem lRbRh, das im Predigerbuch insgesamt 38 Mal39 verwendet wird und durch seine Verwendung in Pred 1,2; 12,8 mit der Formulierung MyIlDbSh lEbSh tRlRhOq rAmDa MyIlDbSh 37

Vgl. dazu H.-P. Müller, Kohelet im Lichte der frühgriechischen Philosophie, in: David J. A. Clines u. a. (Hg.), Weisheit in Israel (ATM 12), Münster u. a. 2003, 67-80, 72. 38 Krüger, a. a. O., 15. 39 Vgl. Lohfink, a. a. O., 114, und R. Bartelmus, Haben oder Sein – Anmerkungen zur Anthropologie des Buches Kohelet, in: BN 53 (1990), 38-67, 46.

139 lEbSh lRbDh lO;kAh bzw. lRbDh lO;kAh tRlRhwø;qAh rAmDa MyIlDbSh lEbSh als rahmende Über- und Unterschrift des Buches gebraucht wird. Diese Inklusion zwischen Anfang und Ende des Predigerbuches ist kein Zufall, sondern hebt dessen theologische Grundkonzeption hervor. Was ist mit lRbRh gemeint? Die Grundbedeutung von lRbRh lässt sich etwa an Jes 57,13 erkennen, wo lRbRh in Parallele zu Aj…wr steht: Man kann lRbRh daher zunächst einmal mit ‚Wind’ oder ‚Windhauch’ übersetzen. Im übertragenen Sinn bringt es aber auch die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit eines Windhauchs zum Ausdruck und wird dann als Nichtigkeit oder auch Vergänglichkeit begriffen; in Jes 30,7 steht lRbRh neben dem Vergeblichen, in Jes 49,4 neben der Leere bzw. Ödnis, in Jer 16,19 neben der Lüge – es handelt sich bei lRbRh also um einen tendenziell negativ konnotierten Begriff40. Auf den ersten Blick ist es vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich, dass Qohelet ausgehend von seinem Leitwort lRbRh häufig als ein Nihilist bezeichnet wird, denn lRbRh kann im Lateinischen mit nihil wiedergegeben werden; die Vulgata übersetzt lRbRh im Predigerbuch allerdings mit vanitas, was man am ehesten mit ‚Eitelkeit’ wiedergeben muss41. Die hebräische Grundbedeutung von lRbRh weist in eine andere Richtung als die des Nihilismus oder der Eitelkeit: Qohelet hat ja nicht das Nichts im Blick, wenn er seine Einsichten bündelt, sondern er betont durchweg die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit von allem, das wie ein Windhauch vergeht42.

40

Zu den alttestamentlichen Belegen vgl. Seybold, a. a. O., 337-342. Vgl. dazu Bartelmus, a. a. O., 47f. 42 Bartelmus, a. a. O., 48, weist darauf hin, welche Folgen die Übersetzung von lbh mit vanitas für die Grundaussage des Predigerbuches hatte: „An die Stelle der nüchternen empirischen Feststellung, daß alles, mit dem der Mensch zu tun hat, dem Winde gleich nicht festzuhalten, also vergänglich ist, ist die larmoyante Klage über die Eitelkeit alles Irdischen getreten.“ 41

140 Dass es schwierig ist, die beiden im Predigerbuch maßgeblichen Aspekte ‚Lebensfreude’ und ‚Vergänglichkeit’ auf einen theologischen Nenner zu bringen, zeigt sehr deutlich die Forschungsgeschichte, innerhalb derer das Predigerbuch häufig zu einer Negativfolie für eine dann davon abzuhebende positivere Sicht auf Gott, Welt und Mensch stilisiert wurde. So meint etwa Hans Wilhelm Hertzberg am Ende seines Kommentars zum Predigerbuch hinsichtlich der theologischen Bedeutung von lRbRh: „Hier war das Alte Testament im Begriff, sich totzulaufen. Hinter diesem völligen Nichts auf der Menschenseite war nur noch die ‚neue Kreatur’ des NT als Hilfe möglich. Das Buch Qoh, am Ende des AT stehend, ist die erschütterndste messianische Weissagung, die das AT aufzuweisen hat.“43 Das ist natürlich eine zugespitzte und in dieser Pointierung auch unsachgemäße Sicht auf das Predigerbuch, denn die Wahrnehmung des Buches als einer messianischen Weissagung entspringt dem christlichen Blick auf das Alte Testament als etwas Vorletztem, das erst noch der Vollendung durch das Letzte bedürfe. Worin liegt nun aber der theologische Mehrwert des Predigerbuches als eines Zeugnisses des nachexilischen Weisheitsdiskurses? Verglichen mit den Weisheitsreden des Sprüchebuches, die voller Selbstbewusstsein die Weisheit zu dem hermeneutischen Generalschlüssel für die Deutung von Welt und Wirklichkeit erklären, nimmt das Predigerbuch eine weitaus zurückhaltendere Position ein und erklärt, dass am Ende aller Deutungsarbeit doch alles lRbRh sei, weil Gott sich nicht zu erkennen gebe. Die große Distanz zwischen Gott und Mensch, die innerhalb des Hiobbuches in existentieller Weise am Beispiel des Ringens Hiobs mit der göttlichen Souveränität problematisiert wird und die auf den Weisheitsoptimismus der Trägergruppen des Sprüchebuches in einer dramatischen Weise reagiert – diese Distanz zwischen Gott und Mensch wird im Predigerbuch in einer beispiellos abgeklärten Weise als eine Grundgegebenheit hingenommen. 43

Hertzberg, a. a. O., 237f.

141 Das Predigerbuch erscheint bei genauerem Hinsehen daher ganz und gar nicht als ein pessimistischer oder skeptischer Text; es hält vielmehr eine gewisse Distanz zu einer Weisheit, die meint, alles erklären zu können, und die ernsthaft glaubt, die Ordnungen der Welt seien zu durchschauen. Qohelet ist an diesem Punkt sehr zurückhaltend und verweist in vielfacher Weise auf den Abstand zwischen Gott und Mensch: Aufgrund dieser Distanz zwischen Gott und Mensch erschließt sich das Handeln Gottes dem Menschen nicht. Während genau das allerdings für Hiob zu einem sein Weltbild erschütternden Problem wird, liegen die Dinge hinsichtlich des Predigerbuches anders: Qohelet gibt sich vor allem als ein realistischer und zugleich nüchterner Denker zu erkennen, der in erstaunlich unaufgeregter Weise44 einsieht, dass alles Streben des Menschen flüchtig ist und der Mensch letztlich keinen bleibenden Gewinn davon trägt; daraus zieht Qohelet in einer gelassenen Weise den Schluss, dass man das Leben genießen müsse, wenn man es ertragen wolle – trotz aller Widersprüche und Spannungen, die diese Welt bestimmen. Während also im Sprüchebuch die Dogmatiker der Weisheit am Werk sind, die Gottes Handeln grundsätzlich für gerecht und auch für erkennbar halten, und während Hiob als der tragische Rebell gegen diese Dogmatik aufbegehrt, am Ende aber doch gescheitert im Staub liegt, steht Qohelet letztlich mit einer gewissen Gelassenheit vor seinen sehr ernüchternden Einsichten zu Gott, Welt und Mensch, die ihn aber dennoch nicht in den Nihilismus hineinführen, sondern ihm das Leben neu erschließen: Wenn alles flüchtig ist, dann zählt allein das Jetzt, dem das Beste abgewonnen werden muss, ohne dass davon irgendetwas Bleibendes zu erwarten wäre.

44

Vgl. dagegen aber auch Texte wie Pred 2,17, wo Qohelet seinen Hass auf das Leben zum Ausdruck bringt. Dennoch lässt sich innerhalb des Predigerbuches ein Gefälle hin zur Gelassenheit erkennen; zur inneren Dynamik Qohelets vgl. T. Zimmer, Zwischen Tod und Lebensglück. Eine Untersuchung zur Anthropologie Kohelets (BZAW 286), Berlin/New York 1999, 222: „Wo anfangs der Haß auf den Tod und daraus folgend der Haß auf das Leben stand, steht nun die Freude an den von Gott geschenkten Momenten des Glücks und das Bekenntnis, daß dieses Leben von Gott kommt, in seiner Hand liegt und schließlich zu ihm zurückkehrt.“

142 Qohelet erscheint damit als ein antiker Dekonstruktivist avant la lettre – denjenigen, die meinen, mit großen erklärenden Systematiken die Welt in den Griff bekommen zu müssen, hält er seine Beobachtung entgegen: Es ist alles flüchtig und nichts hat Bestand. Die paradoxe Antwort Qohelets auf diese Einsicht ist ein konsequentes Ja zur Welt und zum Leben in seiner ganzen Widersprüchlichkeit. Diese Lebensbejahung angesichts aller Vergänglichkeiten, diese letztlich nur im Vertrauen auf die Gaben Gottes begründete Freude angesichts der Fragilität des Seins macht Qohelet zu einem der eigenständigsten Theologen der jüdisch-christlichen Tradition45: Obwohl er der Meinung ist, auch nicht das Geringste von Gott wissen zu können, bindet sich Qohelet zurück an Gott, von dem er weiß, dass er im Himmel ist. Der Flüchtigkeit des Selbst- und Weltbewusstseins steht hier eine Festigkeit des Gottesbewusstseins gegenüber, die aus der Erfahrung und ihrer intellektuellen Durchdringung erwächst46; aus der Erfahrung werden hier aber keine Ordnungen und Sicherheiten in der Welt konstruiert, sondern die Flüchtigkeit der Wirklichkeit wird produktiv angenommen und positiv gewendet – und damit wird im freien Fall das Leben in seiner Fülle gewonnen47. Es fällt anfangs vielleicht schwer, sich auf diesen abenteuerlichen Weg des Predigerbuches einzulassen, denn die Spannungen und Paradoxien, 45

Zur Lebensfreude Qohelets vgl. auch Bartelmus, a. a. O., 49-52. Vgl. dazu – freilich von einem anderen Grundverständnis Qohelets her – H.-P. Müller, Neige der althebräischen ‚Weisheit’. Zum Denken Qohäläts, in: ZAW 90 (1978), 238-264, 263: „Gerade weil Gott in majestätischer Distanz bleibt, gibt er dem Menschen Anlaß, das Nächstliegende, die Lebensfreude, zu ergreifen. Qohäläts Gottesbewußtsein stellt insofern seinem Wirklichkeitsbewußtsein ein ironisierendes Motiv gegenüber: Es weist den Dingen die ihnen zukommenden Proportionen zu, damit der Mensch unter ihnen leben kann.“ 47 Diese Absage an letzte Sicherungen und mit Gott zu verrechnende Leistungen des Menschen lässt eine deutliche Nähe zum Menschenverständnis der Rechtfertigungslehre erkennen, die ja ebenfalls davon ausgeht, dass durch eigene Werke keine, schon gar keine letzten Sicherheiten gewonnen werden können – vielmehr sind diese Sicherungen in letzter Konsequenz Götzen, oder – mit Qohelet gesprochen – lbh (vgl. dazu auch die Überlegungen von W. Zimmerli, Das Buch des Predigers Salomo [ATD 16], Göttingen 1962, 140-142). 46

143 die es seinen Lesern zumutet, sind nur schwer auszuhalten und scheinen notwendigerweise in die Krise zu führen. Beim Lesen und Durchdenken der Reflexionen Qohelets kann man sich der Faszination dieses Ansatzes aber kaum entziehen – vor allem dann nicht, wenn man die postmodernen Ansätze gegenwärtigen Denkens mit im Blick hat48. Qohelet erscheint fast als ein zeitgenössischer Gesprächspartner, der wie kaum ein anderer im Stande ist, eine Brücke in das antike Juda zu schlagen – auch wenn er dort am Rand gestanden haben dürfte.

48

Vgl. dazu J.-F. Lyotard, Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?, in: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Mit einer Einführung herausgegeben von Peter Engelmann, Stuttgart 1990, 33-48, 47f: „Die Postmoderne wäre dasjenige, das im Modernen in der Darstellung selbst auf ein NichtDarstellbares anspielt; das sich dem Trost der guten Formen verweigert, dem Konsensus eines Geschmacks, der ermöglicht, die Sehnsucht nach dem Unmöglichen gemeinsam zu empfinden und zu teilen; das sich auf die Suche nach neuen Darstellungen begibt, jedoch nicht, um sich an deren Genuß zu verzehren, sondern um das Gefühl dafür zu schärfen, daß es ein Undarstellbares gibt. Ein postmoderner Künstler oder Schriftsteller ist in derselben Situation wie ein Philosoph: Der Text, den er schreibt, das Werk, das er schafft, sind grundsätzlich nicht durch bereits feststehende Regeln geleitet und können nicht nach Maßgabe eines bestimmenden Urteils beurteilt werden, indem auf einen Text oder auf ein Werk nur bekannte Kategorien angewandt würden. Diese Regeln und Kategorien sind vielmehr das, was der Text oder das Werk suchten. Künstler und Schriftsteller arbeiten also ohne Regeln; sie arbeiten, um die Regel dessen zu erstellen, was gemacht worden sein wird. Daher rührt, daß Werk und Text den Charakter eines Ereignisses haben. Daher rührt auch, daß sie für ihren Autor immer zu spät kommen, oder, was auf dasselbe führt, daß die Arbeit an ihnen immer zu früh beginnt. Postmodern wäre also als das Paradox der Vorzukunft (post-modo) zu denken.“

Weinstock und Tierfriede Erwägungen zu einem Mosaik aus dem Libanon Martin Metzger 1) Hinführung Auf einem Mosaik aus dem Libanon (Abb. 1, 2)1 sind in spiegelbildlicher Anordnung zwei Amphoren dargestellt, denen jeweils ein Weinstock entwächst. Dessen Ranken bilden Medaillons, die Tiere umschließen: auf der einen Seite eine Gazelle (Abb.1), auf der anderen Seite Schaf, Hase, Wildschwein und Löwe (Abb. 2). Es handelt sich um Tiere verschiedener Lebensräume und verschiedener Gattungen: ein Raubtier (Löwe), ein zahmes Tier (Schaf), drei wilde Tiere (Wildschwein, Gazelle, Hase), zwei Wiederkäuer (Schaf, Gazelle), ein Nagetier (Hase). In welcher Beziehung stehen diese Tiere zueinander sowie zum Weinstock und seinen Früchten? Es fällt sogleich ins Auge, dass es sich bei diesem Mosaik nicht um eine naturalistische Wiedergabe eines in der Natur real vorkommenden Weinstocks handelt. Die beiden Weinstöcke wachsen aus Gefäßen hervor - ein Bildmotiv, das auf byzantinischen Bildwerken häufig belegt ist (z.B. Abb. 7, 8)2, aber nicht der Realität entspricht. Kein in der Natur vorkommender Weinstock umrankt eine Gruppe von Tieren, schon gar nicht von Tieren verschiedener Lebensräume. Der Hase auf dem Mosaik

1

Im Kellergeschoss des Palastes von Bet ed-Din, Libanon, sind eine Reihe von Mosaiken, zumeist aus byzantinischen Kirchen des südlichen libanesischen Küstengebiets, ausgestellt. Zu dem hier zur Besprechung stehenden Mosaik (Abb. 1, 2) fehlen jegliche Angaben zum Fundort und zur Datierung. Da fast alle Mosaiken dieser Sammlung aus dem südlichen Libanon stammen, hat das sehr wahrscheinlich auch für das Mosaik Abb. 1, 2 zu gelten. 2 Daneben gibt es auch byzantinische Mosaiken, auf denen der Weinstock aus dem Erdboden wächst, z. B. Abb. 10.

146 frisst Weintrauben, ganz im Gegensatz zu den biologischen Gegebenheiten in der Realität. Um den Sinngehalt des Bildes zu erschließen, ist es notwendig, dem Motiv von Weinstock und Tieren in der byzantinischen Ikonographie nachzugehen. Da byzantinische Bildtradition in der Regel auf biblischen Traditionen basiert, und da byzantinische Ikonographie häufig auf altorientalische Bildtradition zurückzuführen ist, ist es geraten, nach der Bedeutung von Weinstock und Wein in der Bibel und nach dem Bildmotiv von Weinstock und Tieren in der Ikonographie des alten vorderen Orients zu fragen. 2) Charakteristika von Wein und Weinstock in der Bibel und in vorderorientalischer Ikonographie Ölbaum, Feigenbaum und Weinstock zählen zu den wichtigsten Kulturpflanzen Palästinas (Ri 9,7-13), Korn, Wein und Öl (Hos 2,8; s.a. Dt 8,8) zu den Segensgütern des Kulturlandes. Der Wein, „der des Menschen Herz erfreut“ (Ps 104,15), „der Götter und Menschen erfreut“ (Ri 7,13), ist Inbegriff der Freude. Weinstock und Feigenbaum sind die charakteristischen Kulturpflanzen des Judäischen Gebirges und der Schefela. Die Friedensherrschaft Salomos wird charakterisiert mit der Wendung: „Und Juda und Israel wohnten in Sicherheit, ein jeder unter seinem Weinstock und seinem Feigenbaum“ (1Kö 5,5). In gleicher Weise gipfelt die Ankündigung des künftigen Friedensreiches (Mi 4,3) in der Zusage: „Ein jeder wird unter seinem Weinstock und seinem Feigenbaum sitzen, und keiner ist da, der ihn aufschreckt“ (Mi 4,4). So ist mit dem Weinstock auch der Inbegriff des Friedens verbunden. Der Weinstock ist zudem Sinnbild der Fülle und der Fruchtbarkeit: „Deine Frau ist wie ein fruchtbarer Weinstock“ (Ps 128,3). Im Aufriss des Johannesevangeliums haben Wein und Weinstock strukturbildende Funktion. Das öffentliche Wirken Jesu beginnt mit dem ersten „Zeichen“, das Jesus tut, in die Abschiedsreden Jesu ist das letzte

147 „Ich-Bin-Wort“ Jesu eingeschlossen, und in beiden spielt der Wein eine Rolle. Das erste Zeichen Jesu ist das Weinwunder auf der Hochzeit zu Kana (Joh. 2,1-12), wobei der Wein Inbegriff der Freude und der Fülle ist. Das letzte Ich-Bin-Wort Jesu lautet: „Ich bin der wahre Weinstock“ (Joh 15,1.3; Näheres unten, Abschn. 6). Auf Malereien in ägyptischen Gräbern sowie auf byzantinischen Sarkophagen ist häufig der Weinstock abgebildet, offenbar als Inbegriff des Lebens und der Freude, als Gegenbild zu Tod und Trauer. Als Beispiel sei das Grab des Sennefer3 in Theben-West genannt: Hinter dem Verstorbenen, der vor Osiris zum Totengericht erscheint, wächst ein Weinstock auf4, dessen Zweige sich wie eine Weinlaube über die gesamte Decke der Grabkammer ausbreiten5 und somit den Verstorbenen in den Bereich des Lebens einbeziehen. Der Aspekt des Lebens wird verstärkt durch eine Ranke, die am oberen Rand der Südwand als Girlande geführt wird.6 Der Ranke entwachsen alternierend Weintrauben und geöffnete Blüten des Lotos, der in Ägypten als Urpflanze und als Sinnbild des Lebens gilt. Auch auf byzantinischen Sarkophagen erscheint häufig der Weinstock als Sinnbild des Lebens und der Überwindung des Todes, so z.B. auf einem Sarkophag aus Kanawat in Syrien (Abb. 3), auf dem Weintrauben und Weinblätter mit dem Kreuz alternieren. So ist der Weinstock der Inbegriff von Freude, Fülle, Friede und Leben.

3

R. Gundlach u.a., Sennefer. Die Grabkammer des Bürgermeisters von Theben, Mainz 1988. Zeit Amenophis’ II. (1428-1402). 4 A.a.O., Abb. 39. 5 A.a.O., Abb. 29, 33, 41, 42, hintere Umschlagseite. 6 A.a.O., Abb. 43.

148 3) Weinstock und Weltenbaum In zwei alttestamentlichen Texten (PS 80,11f; Ez 19,10f) werden vom Weinstock Aussagen gemacht, die über das hinausgehen, was sich von einem realen, in der Natur vorkommenden Weinstock sagen lässt: Der Weinstock breitet sich aus, bedeckt das ganze Land vom Mittelmeer bis zum Euphrat. Er wächst in die Höhe bis hinauf in den Libanon und übertrifft selbst die Zedern an Höhe (Ps 80,11f). „Er wuchs hoch empor, über die Wolken hinaus“ (Ez 19,11). Diese Dimensionen übersteigen und transzendieren in der Horizontalen und in der Vertikalen alle Ausmaße von Bäumen, die in der realen Welt vorfindlich sind. Hier werden offensichtlich die Dimensionen des Weltenbaumes auf den Weinstock übertragen, der Weinstock wird mit dem Weltenbaum, dem Lebensbaum identifiziert. Dessen Wesensmerkmale kommen in Dan 4,7-9 und in Ez 31,1-9 zur Sprache: „Seine Höhe reicht bis in den Himmel“, er ist „sichtbar bis an das Ende der Erde“ (Dan 4,8b). „Unter ihm finden die Tiere des Feldes Schatten. In seinen Zweigen wohnen die Vögel des Himmels.“ „Seine Frucht ist üppig. Er bietet Nahrung für alle...und von ihm nähren sich alle Lebewesen“ (Dan 4,9).7 Der Welten- und Lebensbaum ist das am häufigsten belegte Motiv in der Bildwelt des alten vorderen Orients.8 Es kommt in mannigfaltigen Variationen in allen Epochen vom Beginn des 3. Jahrtausends bis in die persische Zeit vor und wird in byzantinischer Zeit wieder aufgenommen. Das sei am Beispiel eines syrischen Rollsiegelbildes veranschaulicht (Abb. 4). In den Zweigen des Baumes wohnen Vögel, unter den 7

Näheres hierzu: M. Metzger, Zeder, Weinstock und Weltenbaum. In: D. R. Daniels, Ernten, was man sät. Festschrift für Klaus Koch, Neukirchen-Vluyn 1991, 197-229. Jetzt in: M. Metzger Vorderorientalische Ikonographie und Altes Testament. Gesammelte Aufsätze, Münster 2004, 51-76. 8 Nähers hierzu (mit zahlreichen Bildbeispielen): M. Metzger, Der Weltenbaum in vorderorientalischer Bildtradition, in: W. Härle u.a. (Hrsg.), Unsere Welt – Gottes Schöpfung, Festschrift für Eberhard Wölfel (Marburger theologische Studien 32), Marburg 1992, 1-34; jetzt in: M. Metzger Vorderorientalische Ikonographie und Altes Testament. Gesammelte Aufsätze, Münster 2004, 77-89.

149 Zweigen bäumen „Tiere des Feldes“, in diesem Falle Steinböcke, auf. Die ägyptische Hieroglyphe `nk , „Leben“, kennzeichnet den Baum als Lebensbaum, der allen Lebewesen Leben verleiht. Auch die Beziehung zwischen Weltenbaum (Lebensbaum) und Weinstock findet in der Ikonographie des Vorderen Orients Ausdruck. Auf assyrischen Reliefs und Rollsiegeln ist der Lebens- und Weltenbaum ein Kompositbaum, der aus Elementen mehrerer Pflanzen zusammengesetzt ist. Hierfür seien zwei Beispiele genannt. Den Stamm des Lebensbaumes auf einem mittelassyrischen Gefäßfragment (Abb. 5) bildet eine stilisierte Palme, die von einer Girlande eingefasst wird. Die Zweige, die vom Stamm abgehen, sind eindeutig Weinranken. - Auch der Stamm des Lebensbaumes auf einer Dekoration aus farbigen Glasurziegeln über einem Tor im Fort Salmanassars III. (Abb. 6) besteht aus einer stilisierten Palme. Sie wird von zwei Girlanden eingefasst. An der inneren Girlande alternieren Palmetten und geschlossene Lotosblüten, an der äußeren Girlande Palmetten und Granatäpfel. Die Girlanden bestehen aus Weinranken, Weinranken zweigen vom Stamm ab und stellen die Verbindung zwischen dem Stamm und den Girlanden her. Der Granatapfel ist Sinnbild der Fruchtbarkeit, der Lotos Sinnbild des Lebens, der Weinstock Inbegriff des Lebens, der Freude und der Fruchtbarkeit. In der assyrischen Ikonographie ist der Weinstock Bestandteil des Lebens- und Weltenbaums – auf byzantinischen Mosaiken tritt der Weinstock zumeist ganz an die Stelle des Lebens- und Weltenbaums, Weltenbaum und Weinstock werden, wie in Ps 80,9f und Ez. 19,10f, identifiziert, Aspekte des Lebensbaumes auf den Weinstock übertragen. An die Stelle der weit ausgebreiteten Zweige des Weltenbaumes treten die zu Voluten gebildeten Ranken des Weinstocks, wie z.B. auf einem Mosaik aus Madeba (Abb. 7). Hier wachsen Weinranken aus einer Amphore und beschirmen zwei Vögel – Pfauen – und zwei Quadrupeden – Schafe. Das entspricht den Vögeln, die in den Zweigen des Weltenbaumes wohnen, und den „Tieren des Feldes“, die darunter Schatten finden (Dan 4,9; Ez 31,6; vgl. auch Abb. 7 mit Abb. 4.

150 Auf beiden Darstellungen sind die Tiergattungen, entsprechend Ez 31,6 und Dan 4,9, gleich angeordnet: Vögel im oberen, Vierfüßler im unteren Bereich). Die Identifikation des Weinstocks mit dem Weltenbaum ist auf der Dekoration eines Bogens in der Kirche s. Vitale in Ravenna (Abb. 8) mit der Übertragung der Dimensionen des Weltenbaumes auf den Weinstock verbunden. Auf beiden Seiten des Bogens wächst ein Weinstock aus einer Amphore, die von Tauben flankiert wird. Die Weinstöcke streben auf ein Kreuz im Kreis – eine abkürzende Darstellung des Kreuzes im Kosmos – zu. Der Weinstock erhält hier, analog zum Weltenbaum, geradezu kosmische Dimensionen. In diese traditionsgeschichtlichen Zusammenhänge ist das Mosaik im Museum von Bet ed-Din (Abb. 1, 2) einzuordnen. Auch hier wird der Weinstock mit dem Welten- und Lebensbaum identifiziert. An die Stelle der weit ausgebreiteten Zweige des Weltenbaumes treten die zu Voluten gebildeten Ranken des Weinstocks, die die Tiere schützend und lebenspendend umschließen. Wie die Tiere in Ez 31,6; Dan 4,9 unter den Zweigen des Weltenbaumes Schutz suchen, so finden die Tiere auf dem Mosaik Geborgenheit in den Ranken des Weinstocks. „Von ihm nähren sich alle Lebewesen“ (Dan 4,9) – das gilt vom Lebensbaum und analog dazu von dem mit dem Lebensbaum identifizierten Weinstock – obwohl (vom Schwein abgesehen) keins der auf Abb. 1, 2 dargestellten Tiere sich von den Früchten oder Blättern des in der Natur vorkommenden Weinstocks ernährt: der Hase ist ein Nagetier, das keine Weintrauben frisst, Schaf und Antilope sind Wiederkäuer und Grasfresser, die unmöglich Weintrauben oder Weinblätter vertragen würden, der Löwe ist ein Raubtier. Dennoch ist auf Abb. 2, 9 offensichtlich, dass der Hase an den Weintrauben nagt. Analog dazu ist anzunehmen, dass der Weinstock auch den anderen dargestellten Tieren zur Nahrung bietet. Er ist kein in der vorfindlichen Welt vorkommender Weinstock, sondern er ist mit dem Welten- und Lebensbaum identisch, der allen Lebewesen Nahrung bietet. In Ez 31,3 wird der Weltenbaum mit der Zeder identifiziert,

151 und obwohl keineswegs alle Tiere sich von der Zeder und ihren Produkten nähren, gilt auch von der mit dem Lebensbaum identifizierten Zeder: „Von ihm (dem als Zeder bestimmten Lebensbaum) nähren sich alle Lebewesen.“ Analoges gilt von dem mit dem Weltenbaum identifizierten Weinstock. 4) Lebensbaum und Tierfriede Wie ist hier der Löwe, der kein Pflanzenfresser, sondern ein Raubtier ist, einzuordnen? Er ist auf dem Mosaik Abb. 2 zusammen mit Gazelle und Schaf, die zu seinen Beutetieren gehören, dargestellt. Hier hat der Mosaizist offensichtlich die Überlieferung des als Lebensbaum verstandenen Weinstocks mit der Zukunftsansage des Tierfriedens (Jes 11,6-8) verbunden. In Jes 11,1-5 ergeht im Bilde vom „Reis aus dem Baumstumpf Isais“ und vom „Spross aus seiner Wurzel“ die Verheißung eines künftigen Herrschers aus einer Seitenlinie der am Boden liegenden Dynastie Davids. Seine Herrschaft ist durch „Gerechtigkeit und Treue“ gekennzeichnet. Im Kontext damit ergeht die Verheißung eines umfassenden Tierfriedens (V. 6-9). In jedem Halbvers dieser Zukunftsansage stehen jeweils ein Raub- und ein Beutetier nebeneinander: Wolf und Lamm, Leopard und Böckchen, Kalb und Löwe, Kuh und Bärin. In der künftigen Welt werden diese Tiere in Frieden miteinander leben. Wolf, Leopard und Löwe werden keine Raubtiere mehr sein, Schaf und Rind samt deren Jungen nicht mehr den Raubtieren zur Beute fallen. Im Mosaik aus dem Libanon (Abb. 1, 2) werden zwar nicht alle in Jes 11 aufgezählten Raub- und Beutetiere dargestellt, jedoch Schaf und Gazelle sowie der Löwe sind exemplarisch und repräsentativ wiedergegeben. In Jes 11 wird ausdrücklich konstatiert, dass der Löwe in der künftigen Friedenszeit kein Raubtier, sondern ein Pflanzenfresser sein wird: „Der Löwe frisst Stroh wie das Rind“ (V. 7b). Das klingt auch auf dem Mosaik Abb. 2, 9 an. Der Löwe

152 ist nicht in aggressiver Haltung, sondern auf dem Bauch liegend dargestellt. Er wendet sich vom Hasen, der ihm zur Beute werden könnte, ab und einem Weinblatt zu. Man gewinnt den Eindruck, dass das Weinblatt ihm zur Nahrung diene. An die Stelle von Stroh als Nahrung für den Löwen (Jes 11,7b) tritt hier das Weinblatt. So stehen auf diesem Mosaik der Löwe, der nunmehr kein Raubtier ist, und Schaf, und Gazelle, die keine Beutetiere mehr sind, friedlich nebeneinander und werden gemeinsam von den Ranken des Weinstocks schützend und bergend umschlossen. Wie der Weltenbaum, so bietet der Weinstock als Weltenbaum „Nahrung für alle“ – auch für den Löwen – und gewährt allen Lebewesen Schutz und Geborgenheit. Wie auf Abb. 2, 9, so erscheint der Hase auch auf anderen byzantinischen Darstellungen des Weinstocks und des Paradieses (z.B. Abbb 9). In Anlehnung an Prv 30,26 („die ‚Hasen’, ein schwaches Volk“) und an Ps 104,18 („Die Felsklüfte geben dem ‚Hasen’ Zuflucht“)9 sehen die Kirchenväter „im Hasen den schwachen und ängstlichen Menschen, der gejagt wird, der vor Verfolgern in den Felsen, d.i. im wahren Glauben, in der Kirche, in Christus Zuflucht sucht.“10 Sehr wahrscheinlich ist auch der Hase auf dem Mosaik Abb. 2, 9 auf diesem Hintergrund zu verstehen. An die Stelle der Felsenklüfte, in denen sich der Hase birgt, tritt die Ranke des Weinstocks, die ihn schützend umgibt. Der Löwe, der dem Hasen gegenüber liegt und der als Bild des Verfolgers verstanden werden kann, liegt friedlich neben dem Hasen und hat sich von ihm abgewandt. Er hat jegliche Aggressivität verloren und ist nun kein Verfolger mehr; denn im Zusammenhang mit dem Tierfrieden gibt es nichts Böses und keinen Frevel mehr (Jes 11,9).

9

Die Kirchenväter (und auch Luther) geben das hebräischische Wort šƗpƗn, „Klippdachs“, mit „Hase, Kaninchen“ wieder. 10 Art. „Hase“ in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Rom, Freiburg, Basel, Wien 1972, Band 2, 221ff. Dort auch Textbelege.

153 Das ungestörte Wohnen unter Weinstock und Feigenbaum ist der Inbegriff des Friedens in der Gegenwart (1Kön 5,5) und in der zukünftigen Friedenszeit (Micha 4,4). In die Darstellung des Weinstocks auf Abb. 1, 2 sind die Tiere in den endzeitlichen Frieden einbezogen. Auch auf anderen byzantinischen Mosaiken erscheinen der Löwe und seine Beutetiere friedlich nebeneinander, so z.B. auf Abb. 10 Schafe, Antilopen und Rind – letzteres direkt dem Löwen gegenüber - in den Ranken des Weinstocks (Mosaik in der unteren Taufkapelle der Kathedrale von Madeba). Auf einem Mosaik im Museum zu Madeba (Abb. 11) wachsen aus den Ecken des Mosaiks Fruchtbäume diagonal in das Bild. Zwischen je zwei Bäume sind paarweise Tiere dargestellt: Hasen, Schafe, Vögel. An der Nordseite stehen Löwe und Stier beiderseits eines Strauches, der ihnen offenbar zur Nahrung dient, einander gegenüber. Dem Löwen hängt ein Stück der Pflanze, von der er frisst, aus dem Maul. Sehr wahrscheinlich ist hier der Tierfriede der paradiesischen Urzeit dargestellt. Er kehrt in der durch den „Wurzelspross“ vermittelten künftigen Heilszeit wieder (Jes 11,1-9) und ist auf Abb. 1, 2 und 9 sowie 10 mit dem als Lebensbaum verstandenen Weinstock verbunden. In den Zusammenhang des Tierfriedens ist auch die Darstellung des Wildschweins (Abb. 12) einzuordnen. In Ps 80,14 erscheint der wilde Eber im Zusammenhang mit dem Weinstock in negativer Konnotation: „Der Eber aus dem Wald wühlt ihn (den Weinstock) um, das Getier des Feldes frisst ihn ab.“ Der Eber wird hier als wildes Tier, das den Weinstock zerwühlt, gebrandmarkt. Auf dem Mosaik Abb. 2 hingegen gehört er zu den Lebewesen, die in den Tierfrieden einbezogen sind, die in den Ranken des Weinstocks Schutz und Geborgenheit finden und sich vom Weinstock nähren, ohne dessen Bestand zu gefährden.

154 5) Die Personifizierung von Weltenbaum und Weinstock In der Ikonographie des alten Orients und in vorderorientalischen und alttestamentlichen Texten können der Lebens- und Weltenbaum sowie der Weinstock mit Personen – Göttern oder Königen – identifiziert werden. Auf einem mitannisch-altassyrischen Relief aus Assur tritt ein Berggott, der Zweige in den Händen hält (Abb. 13), auf dem Relief auf dem Deckel einer Pyxis aus Ras Schamra/Ugarit eine Götttin, die auf einem Bergthron sitzt und der ein Berg als Fußschemel dient (Abb. 14), an die Stelle des Baumes auf dem Berg, der von Tieren flankiert wird. In neusumerischen Texten wird der König als Baum bezeichnet.11 In Ez 31 wird der König von Ägypten, in Dan 4 der König Nebukadnezar von Babylon mit dem Lebens- und Weltenbaum, in Ez 19, 10f die Mutter des Königs mit dem als Weltenbaum verstandenen Weinstock identifiziert. 6) „Der wahre Weinstock“ Eine Personifikation des Weinstocks erfolgt auch im letzten Ich-BinWort Jesu. Der Weinstock wird mit Jesus, und Jesus wird mit dem Weinstock gleichgesetzt: „Ich bin der wahre Weinstock“ (Joh 10,1.5). In diesem Horizont ist der Weinstock auf byzantinischen Bilddokumenten zu verstehen. In Joh 10 geht es vor allem um das Bleiben im Weinstock und um das Fruchtbringen der Reben. In der Ikonographie, die den Weinstock mit dem Lebens- und Weltenbaum identifiziert, werden Aspekte des Lebensbaumes und des Weinstocks auf Jesus übertragen und Heilsgaben, die Jesus schenkt, durch den Weinstock symbolisiert. So entsteht eine reziproke Beziehung zwischen Jesus und dem Weinstock. Der Weinstock symbolisiert die Heilsgaben, die Jesus vermittelt, Jesus schenkt all die Segensgaben, die in der biblischen Tradition mit dem Weinstock verbunden sind: Fülle an Frucht („Wer in mir bleibt und 11

Näheres und Belege: M. Metzger, Vorderorientalische Ikonographie und Alte Testament, Münster 2004, 63.

155 ich in ihm, der bringt viel Frucht.“ Joh 15,5); Freude („Dies habe ich zu euch gesagt, damit meine Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde.“ Joh 15,11); Leben („Ich gebe ihnen das ewige Leben.“ Joh 10,28; „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“ Joh 11,25a); Fülle („Ich bin gekommen, damit sie Leben und volles Genüge haben.“ Joh 10,11); Friede („Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch.“ Joh 14,27). Die Verheißung des Wurzelspross aus dem Stamme Isais, der Israel und der Menschenwelt Gerechtigkeit und den Tieren Frieden bringt (Jes 11,1-6), wird im Neuen Testament auf Jesus Christus bezogen (Rö 15,12; Apc 5,5; 1Petr 4,14). Darum ist in den Frieden, der mit Jesus, dem wahren Weinstock, und mit Jesus, dem Spross aus dem Wurzelstumpf des Stammes Isai, verbunden ist, die Tierwelt einbezogen. Das kommt auf dem Mosaik von Bet ed-Din im Nebeneinander von Schaf, Gazelle, Hase und Löwe exemplarisch zum Ausdruck. Die Einbeziehung der gesamten Kreatur und damit auch der Tierwelt in das künftige Heil ist auch in Rö 8,19-22 vorausgesetzt. In der Alten Kirche wird der Wurzelspross von Jes 11,1 häufig als Weinstock verstanden.12 Möglicherweise identifiziert auch der Mosaizist von Abb. 1, 2 den Weinstock mit dem „Wurzelspross“ aus Jes 11,1. Diese Gleichsetzung liegt nahe, da Jesus sowohl als Weinstock tituliert als auch mit der Wurzel Jesse identifiziert wird. 7) Zusammenfassung Auf dem Mosaikbild aus dem Mosaikmuseum von Bet ed-Din (Abb. 1, 2) fließen verschiedene Bildmotive und verschiedene Texttraditionen zusammen. Es geht zurück auf die Überlieferung vom Lebens- und Weltenbaum, die in der Ikonographie des alten Orients und in alttesta12

H. Thomas, Art. Wurzel Jesse, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, 4. Band, Rom, Freiburg, Basel, Wien 1972, Sp. 556. Thomas nennt folgende Belege: Didache 9,2; Klemens Alexandrinus, Quis div. 29,4; Origines, Hom. in Judic. 6,2.

156 mentlichen Texten Ausdruck fand. Auf mittel- und neuassyrischen Bilddokumenten sind die Ranken des Weinstocks Bestandteile des als Kompositbaum wiedergegebenen Welt- und Lebensbaums, auf dem Mosaik Abb. 1, 2 ist der Weltenbaum auf den Weinstock reduziert. Aspekte des Weltenbaums – Schutz, Üppigkeit, Nahrung für alle – werden auf den Weinstock übertragen, Aspekte, die mit den Weinstock verbunden sind – Leben, Freude, Fülle, Fruchtbarkeit, Friede – bereichern die Überlieferung vom Weltenbaum und treten in den Vordergrund. In Bildund Textüberlieferungen finden Vögel und „Tiere des Feldes“ Zuflucht und Schutz in und unter dem Weltenbaum – auf dem Mosaik Abb. 1, 2 sind lediglich vierfüßige Tiere von den Ranken des Weinstocks umfasst, und zwar der Löwe zusammen mit Tieren, die im realen Leben zu seinen Beutetieren gehören. Hier ist offenbar das Bildmotiv des Lebensund Weltenbaums mit der Texttradition des Tierfriedens (Jes 11,1-9) verbunden. Schließlich ist die Prädikation Jesu als „wahrer Weinstock“ der Verstehenshintergrund byzantinischer Darstellungen des Weinstocks. Jesus ist der Geber aller Segensgaben, die mit dem Weinstock verbunden sind: Leben, Fülle, Freude und Friede, in den auch die gesamte Kreatur einschließlich der Tierwelt, deren Repräsentanten auf dem Mosaikbild erscheinen, eingebunden ist (Römer 8,19-22).

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Abb. 1: Mosaik aus dem Libanon. Byzantinisch. Jetzt im Mosaikmusuem von Bed ed-Din (ohne Herkunftsangabe, ohne Museumsnummer). Ranken zweier Weinstöcke umschließen Tiere. Die Gegenseite des Mosaiks: Abb. 2.

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Abb. 2: Mosaik aus dem Libanon. Byzantinisch. Jetzt im Mosaikmusuem von Bed ed-Din (ohne Herkunftsangabe, ohne Museumsnummer). Dasselbe Mosaik wie Abb. 1, jedoch von der anderen Seite gesehen.

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Abb. 3: Byzantinischer Sarkophag aus Kanawat, Syrien.

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Abb. 4: Der Lebensbaum mit Vögeln und Steinböcken. Ausschnitt (Nebenmotiv) aus einem syrischen Rollsiegelbild. 1. Hälfte des zweiten Jahrtausends v.Chr.

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Abb. 5: Gefäßfragment aus Assur. Mittelassyrisch. 14.-13. Jh. v. Chr. Der Lebens- und Weltenbaum als Kompositbaum.

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Abb. 6: Der Weltenbaum als Kompositbaum. Wandbild aus farbigen Glasurziegeln über einem Hoftor im Fort Salmanassars III. (858-824).

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Abb. 7: Ranken des Weinstocks über Pfauen und Schafen. Madeba, Mosaik in einem Wohnhaus.

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Abb. 8: Kirche s. Vitale, Ravenna, Dekoration zu Seiten des oberen Triforiums der linken Presbyterwand. 8. Jahrhundert. Weinstöcke in kosmischen Dimensionen.

Abb. 9: Löwe und Hase in den Ranken des Weinstocks. Detail aus Abb. 2 (Mosaik im Museum von Bet ed-Din).

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Abb. 10a: Madeba, Kathedrale, Mosaik in der unteren Taufkapelle.

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Abb. 10b: Madeba, Kathedrale, Mosaik in der unteren Taufkapelle. Vierfüßige Tiere zu beiden Seiten des Weinstocks (nach: Ausschnitt.).

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Abb. 11: Madeba, Mosaik im Archäologischen Museum. Darstellung des paradiesischen Tierfriedens.

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Abb. 12: Wilder Eber, von Weinranken umschlossen. Mosaik aus dem Mosaikmuseum im Palast von Bet ed-Din. Detail aus Abb. 2.

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Abb. 13: Reliefbild aus Assur. Kassitisch/mittelassyrisch. 15. Jh. v.Chr. Vorderasiatisches Museum Berlin. Ein Berggott, dessen Unterkörper aus einem Berg besteht, hält zwei Zweige in Händen. Er wird von zwei Capriden, die an den Zweigen fressen, flankiert und tritt somit an die Stelle des von Capriden flankierten Baumes auf dem Berg.

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Abb. 14: Relief auf dem Deckel einer Pyxis. Aus Minet el-Beda. Mittelsyrisch, ca 1300-1200. Louvre, Paris. – Eine Göttin sitzt auf einem Bergthron. Ihr Fußschemel ist aus dem Berg heraugeschnitten. Sie hält Zweige in Händen und wird von Ziegen flankiert, die von den Pflanzenbüscheln fressen. Die Göttin tritt an die Stelle des Baumes auf dem Berg, der von Capriden flankiert wird.

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Quellennachweis der Abbildungen Abb. 1, 2, 3, 9, 12: Aufnahmen des Verfassers. Copyrigt zu 1, 2, 9 und 12: Directorate General of Antiquities – Lebanon. Abb. 4: Zeichnung nach: D. Collon, First Impressions. Cylinder Seals in the Ancient Near East, London 1987, Nr. 221 (Ausschnitt). Abb. 5: W. Orthmann, Der Alte Orient. Propyläen Kunstgeschichte 18, Propyläenverlag, 1985, S. 332, Fig. 101 (Ausschnitt). Abb. 6: W. Orthmann, a.a.O., S. 317, Fig. 98. Abb. 7: M. Piccerillo, The Mosaics of Jordan, American Center of Oriental Research, Amman 1993, S. 70, Abb. 34. Abb. 8: G. Bovini, Die Kirchen von Ravenna, Wilhelm Goldmann Verlag, München 1958, S. 125. Abb. 10a: M. Piccerillo, The Mosaics of Jordan, S. 119, Abb. 121. Abb. 10b: A.a.O., S. 119, Abb. 122 Abb. 11: A.a.O., S. 128, Abb. 139. Abb. 13: G. R. Meyer, Altorientalische Denkmäler im Vorderasiatischen Museum zu Berlin, VEB E.A. Seemann, Leipzig, (jetzt Verlag Koehler & Amelang), 2. Aufl., 1970, Taf. 63. Abb. 14: A. Jirku, Die Welt der Bibel, Stuttgart Deutsche Buchgesellschaft Berlin, Darmstadt, Wien1957, Taf. 53, J.G. Cotta’sche Buchhandelung Nachf. GmbH, Stuttgart, nach C . Schaeffer, Ugaritica I, Titelbild. Der Verlag Bautz, die Herausgeber und der Autor danken Herrn Director Rana S. Andar, Responsable des Collections Archéologique, Direction Générale des Antiquités du Liban, für die freundlich erteilte Ge-

172 nehmigung zur Erstpublikation des auf Abb. 1, 2, 9 und 12 wiedergegebenen Mosaiks aus dem Museum des Palastes in Bet ed-Din. Die im Folgenden genannten Verlage, Institutionen und Personen erteilten dankenswerter Weise die freundliche Erlaubnis zur Reproduktion und zum Wiederabdruck von Abbildungen: - American Center of Oriental Research, Amman (Director Barbara A. Porter, Ph.D.), (Abb. 7, 10a, 10b und 11), - Propyläenverlag und Herr Prof. Dr. Winfried Orthmann (Abb. 5 und 6).

Nach dem Mythos vom Fall der Engel – vor dem Lied der (Liebes-) Lieder: philologisch-theologische Existenz heute Rüdiger Bartelmus Der folgende, Georg WARMUTH mit guten Wünschen für einen langen, aber nichtsdestoweniger abwechslungsreichen Ruhestand gewidmete Beitrag ist zwar nicht speziell für diese Festschrift verfasst worden, die Freunde des Jubilars in Kiel und im ganzen deutschen Sprachraum auf den Weg gebracht haben, aber der Sache nach fügt er sich vielleicht doch zumindest einigermaßen in den literarischen Blumenstrauß, der dem Jubilar den Abschied vom aktiven Dienst an der Universität verschönen bzw. erleichtern soll. Der Verfasser hat den entsprechenden Schritt ein gutes Jahr vor Georg WARMUTH vollzogen und hatte dies seinerzeit zum Anlass genommen, über „Zeit und Zufall“ (Koh 9,11) nachzudenken, genauer über zwei Aspekte des unerschöpflichen Themas „Zeit“. Zum einen reflektierte er in seiner Abschiedsvorlesung1 über die „Zeitläufe“, die er – fast synchron mit dem Jubilar – an deutschen Universitäten verbracht hat, zum anderen über das noetische Problem, wo im Kontinuum der Zeit eigentlich „vorne“ und wo „hinten“ ist, und welche Konsequenzen sich daraus für den Gebrauch der Präpositionen mit spatio-temporaler Konnotation im Biblischen Hebräisch ergeben. Ganz besonders im Blick auf den erstgenannten Aspekt verbindet den Vf. und den Jubilar so vieles, dass der bewusst subjektiv formulierte seinerzeitige Vortrag auch in ein Buch passen sollte, das dem Dozenten gewidmet ist, der die Mehrzahl der an der CAU zu Kiel studierenden jungen Theologinnen und Theologen vermutlich tiefer geprägt hat als das den verschiedenen Professoren am Institut für Alttestamentliche Wissenschaft und Biblische Archäolo-

1

Die Abschiedsvorlesung fand am 16. Februar 2009 statt. Für den Druck wurde das Manuskript nur minimal verändert; die für den Vortrag gewählte Form der Diktion wurde beibehalten.

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gie gelungen ist, mit denen sich Georg WARMUTH in den langen Jahren seiner Tätigkeit je und je arrangieren musste. Vorlesungen im klassischen Sinne verlieren in der »neuen Universität« zusehends an Bedeutung. Verlangt werden Powerpoint-Präsentationen und Reader mit möglichst vielen Spiegelstrichen – schließlich muss mundgerecht Lernstoff aufbereitet werden. Wer von den Studierenden Mitdenken oder gar selbständiges Denken erwartet – basierend auf vorausgehender eigenständiger Auseinandersetzung mit Texten und der wichtigsten Literatur zum jeweiligen Thema –, hat jede Existenzberechtigung im modernen Lehrbetrieb verwirkt, geht es doch um Didaktik, um die Vermittlung von Kompetenzen, nicht um Anregung zu eigenständiger Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Problemstellungen. Von daher trifft es sich gut, dass ich schon ein Jahr nach Einführung der neuen Studiengänge (ehrlicher müsste es heißen: Ausbildungsgänge) meine Abschiedsvorlesung halten kann. Es ist nicht die erste Abschiedsvorlesung in meinem akademischen Leben, aber anders als 1996 in München gehe ich nicht mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Im Blick auf die Lehrsituation bin ich jedenfalls froh, gehen zu können – und es ist wohl auch aus der Sicht der meisten Studierenden gut, dass ich gehe: Mit der Methode, in erster Linie durch Denkanstöße, durch Provokationen zu lehren, weil ich davon ausgehen zu können meinte, dass ein gewisses Basiswissen vorhanden ist – einst ein Markenzeichen der Münchner Evangelisch-Theologischen Fakultät – erreiche ich den Großteil der heutigen Studierenden nicht mehr. Spät, aber doch, rächt es sich, dass die Grundschule die einzige Schulstufe ist, der ich in meiner vorakademischen Zeit im Dienst des Schulreferats der Stadt München beim Sammeln pädagogischer Erfahrung ausgewichen bin. Heute kann ich es mir freilich erlauben, noch einmal so zu verfahren wie in den ersten rund 25 Jahren meiner 35-jährigen Tätigkeit als Hochschullehrer – muss doch keiner der Anwesenden in den nächsten Tagen eine Klausur zum Inhalt der folgenden Ausführungen schreiben, und steht es

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doch jedem Hörer frei, in den anvisierten Denkprozess mit einzusteigen oder ihn mehr oder minder teilnahmslos an sich vorüberziehen zu lassen. Doch worum soll es im Folgenden eigentlich gehen? Was hat der Mythos von den gefallenen Engeln, was hat das Lied der Liebeslieder mit einem Denkprozess zu tun, in den man einsteigen oder den man an sich vorüberziehen lassen kann? Wenn ich die vielen verwunderten Rückmeldungen auf meine Themenformulierung, die ich nach Veröffentlichung des Themas bekam, noch einmal Revue passieren lasse, kann ich mit einer gewissen Befriedigung feststellen, dass es mir zumindest dieses eine letzte Mal nach einer langen Pause noch einmal gelungen zu sein scheint, Nachdenken zu provozieren: Praktisch alle Erwartungen gingen allerdings in die – falsche – Richtung, ich wolle mich in Nachfolge von Marvin H. POPE als eine Art Oswald KOLLE der Alttestamentlichen Wissenschaft präsentieren. Natürlich habe ich mich vor Jahren im Zusammenhang mit dem Thema meiner Dissertation auch emotional mit den göttlichen Wesen identifiziert, die Gefallen an schönen Menschentöchtern gefunden und mit diesen Kinder gezeugt haben. Böse Zungen sprachen denn auch von einer verkappten Autobiographie. Dass prüde Kreise im frühen Judentum diesen positiven Mythos später mit Elementen aus anderen Mythen verbanden, so dass daraus schlussendlich die Geschichte vom Fall der Engel wurde, ist angesichts der Auseinandersetzungen zwischen den puristischen Verfechtern der Jahwereligion und den Seleukiden zwar nachvollziehbar2, hatte aber negative Folgen für den Umgang des Juden- und Christentums mit Frauen bzw. mit der biologischen Realität der Sexualität. Dass Sätze wie Mt 1,20 bzw. Lk 1,35, die von der Zeugung Jesu durch den Hl. Geist berichten, ohne diesen religionsgeschichtlichen Vorläufer wohl nie geschrieben worden wären, entging moralisierenden Eiferern im christlichen Bereich. Hier wurde im Zusammenhang mit Gen 6,12

Vgl. dazu R. BARTELMUS, Heroentum in Israel und seiner Umwelt. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung zu Gen. 6,1-4 und verwandten Texten im Alten Testament und der altorientalischen Literatur, AThANT 65, Zürich 1979, 151-174.

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4 gelegentlich gar von »schaurigen und schmutzigen Fantastereien« gesprochen, so etwa im Genesiskommentar von Franz DELITZSCH3. Die Beschäftigung mit diesem Thema liegt nun aber schon lange zurück. Wenn ich mich jetzt dank der Befreiung von Lehr- und Verwaltungsaufgaben dem Lied der Liebeslieder zuwenden kann, hat sich die eben angesprochene Einstellung zum Gegenstand meiner Forschung nur wenig geändert: Ich versetze mich bei der Arbeit an dem geplanten HoheliedKommentar nur allzu gerne in den Liebhaber des Hohenlieds hinein, der in realer Gemeinschaft mit seiner Geliebten deren körperliche Vorzüge preisen kann, bzw. freue mich, wenn ich das Gefühl vermittelt bekomme, geliebt zu werden. Nicht umsonst wurde ich wohl wegen dieser wissenschaftsbiographischen Merkmale gebeten, für das WiBiLex4 den Artikel »Sexualität« zu verfassen, der sich dem Vernehmen nach gut »verkauft« – sex sells. Von daher waren die erwähnten Erwartungen potentieller Hörer dieser Vorlesung zweifellos nicht ganz unberechtigt, da nicht ohne Bezug in der Realität dessen, der sich von Ihnen verabschiedet. Viele wissen darüber hinaus auch darum, dass ich mit dem etwas närrischen Papageno der Mozartschen Zauberflöte die (übrigens unwiderlegbare) Überzeugung teile: »Der Mensch lebt durch die Lieb allein«. »Philologisch-theologische Existenz heute« ohne Liebe wäre zwar möglich, wie viele wissenschaftliche Leistungen belegen, die in Klöstern entstanden sind. Ich für meinen Teil meine indes, dass ohne »Erkennen« im Sinn des hebräischen ydࣚ – denken Sie an Luthers Übersetzung von Gen 4,1 – tiefergehende wissenschaftliche Erkenntnis Stückwerk bleiben muss; Ihr fehlt ein Bezug zum Kern des Menschseins. – Trotz alledem: Alle in diese Richtung gehenden Erwartungen Ihrerseits muss ich enttäuschen. Angesichts meiner seit langem bekannten – und häufig kritisierten – Art der wissenschaftlichen Kommunikation, konsequent mäeutisch vorzugehen, d.h. die Lösung eines Problems zumeist erst mit dem letzten Satz zu

3 4

F. DELITZSCH, Genesis, Leipzig 1872,194. Internet-Adresse: http://www.wibilex.de.

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präsentieren, hätte den meisten eigentlich klar sein können, dass die Andeutungen in Richtung Sexualität und Liebe nur als Aufhänger für das wissenschaftliche Thema dienen sollten, das ich heute realiter erörtern möchte – stehen sie doch relativ weit vorne in der Themenformulierung. Diese hat einmal mehr ein deutliches Achtergewicht (um im Jargon dieser Region zu bleiben), und sie nimmt Bezug auf den Grund, der aller Wahrscheinlichkeit nach die Theologische Fakultät der CAU vor etwa 15 Jahren dazu bewegte, mich hierher nach Kiel zu berufen: Ich war (und bin) ein philologisch ausgerichteter Exeget und hatte mir mit meinen einschlägigen Arbeiten, vor allem mit denen zu Fragen der sprachlichen Darstellung von Zeit5, zumindest in Hebraistenkreisen einen gewissen Ruf erworben. Dieser wurde offenbar auch in Kiel wahrgenommen und mündete in einen Ruf anderer Art. Hier hatte ich dann allerdings leider nur wenig Gelegenheit, meine diesbezüglichen Fähigkeiten in Lehrveranstaltungen einzubringen bzw. sie gar an die Frau oder den Mann zu bringen: Die Zahl der Studierenden, die bereit war, sich den Mühen sauberer philologischer Arbeit auszusetzen, blieb durch alle meine Kieler Jahre hindurch »überschaubar« (um es euphemistisch zu sagen). Ja, nach mir berufene neue Kollegen und deren SchülerInnen konnten meine – außerhalb von Kiel durchaus bekannten, respektierten und vielfach diskutierten – Arbeiten zu Zeitkonzeptionen und zum Zusammenhang von Zeit und Raum schlicht übersehen bzw. schlicht für wenig relevant erklären: Ein Prophet gilt nicht nur in seinem Vaterlande nichts – auch in seiner Wahlheimat gilt er offenbar nur wenig. Immerhin gelang es den Studierenden, die als Auftakt zu meinem 65. Geburtstag als Text für eine eindrückliche Andacht in der Nikolaikirche den Maschal vom rechten Zeitpunkt aus Koh 3 gewählt haben, diese resignierte Einschätzung zumindest zu rela5

Vgl. dazu v.a. R. BARTELMUS, HYH. Bedeutung und Funktion eines hebräischen »Allerweltswortes« – zugleich ein Beitrag zur Frage des hebräischen Tempussystems, ATSAT 17, St. Ottilien 1982, aber auch eine Reihe von Aufsätzen in dem Sammelband: R. BARTELMUS, Auf der Suche nach dem archimedischen Punkt der Textinterpretation. Studien zu einer philologisch-linguistisch fundierten Exegese alttestamentlicher Texte, Zürich 2002.

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tivieren. Zum Zeitpunkt der Formulierung des Themas dieser Überlegungen konnte ich davon freilich noch nichts wissen. Längst war ich ja auf den Gedanken verfallen, heute zum Abschluss meiner Kieler Zeit noch einmal über das Thema zu handeln, das mich als Schüler des Semitisten Adolf DENZ und geistigen Enkel des Slawisten und Sprachwissenschaftlers Eugen KOSCHMIEDER seit mehr als 30 Jahren bewegt: Gemeint ist das Verhältnis von Sachverhalt und Zeitbezug, die Frage, welche Möglichkeiten Menschen haben, ihre zeitlich begrenzte Existenz in Zeit und Raum sprachlich zu artikulieren, und die damit verbundene Frage, wie unterschiedlich Sprachen hier verfahren können. Exemplifizieren möchte ich diese nie erschöpfend zu behandelnde und explizit (wenn auch ein wenig versteckt) in meiner Themenformulierung angesprochene Problematik am Beispiel der noetischen Implikationen zweier spatio-temporal gebrauchter hebräischer bzw. aramäischer Wurzeln und unter Einbeziehung zweier hebräischer Lexeme mit ausschließlich temporaler Bedeutung. Im Klartext: Es geht im Folgenden – wie bei mir nicht anders zu erwarten, natürlich erst nach einigen weiteren Vorbemerkungen – um die auch und v.a. präpositional gebrauchten Wurzeln ࣙ٧r »das Hintere« / »nach« und qdm »Vorzeit« / »vor« / auch: »Osten«, sowie um das Zeitadverb ࣚattą »jetzt« bzw. die Fügung hayyôm »heute«. Nachdem ich meine geistigen Väter genannt habe, darf vor allen weiteren Ausführungen natürlich auch ein Bruder, der (wirklich) große Bruder im Geiste, nicht unerwähnt bleiben: Es ist der Nestor der deutschsprachigen Hebraistik, der Basler Alttestamentler Ernst JENNI, mit dem mich seit 1983 eine Art ideelle Partnerschaft verbindet. Er ist es überdies, der uns gelehrt hat, Präpositionen und anderen gemeinhin als Partikeln disqualifizierten Elementen der Sprache größere Aufmerksamkeit als früher üblich zu schenken. Seine Erkenntnis, dass es sich bei den Präpositionen nicht um beliebig austauschbare bzw. interpretierbare Elemente der Korrelation handelt, sondern um unterscheidbare und demgemäß auch semantisch zu unterscheidende sprachliche Zeichen, die im Zusammenwirken mit Nomina und Verben klar beschreibbare spatio-temporale Relati-

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onen zwischen Begriffen und Handlungen herstellen6, steht – zusammen mit älteren Erkenntnissen meiner Person und Anregungen von anderer Seite – hinter den folgenden Ausführungen. Die von JENNI geforderte Sichtweise, die sprachlichen Elemente nicht je für sich, sondern in ihrer jeweiligen Bezogenheit zu betrachten, berührt sich nun aber strukturell so eng mit der von mir entwickelten Theorie, im Hebräischen liege ein relatives Tempussystem vor, dass ich guten Gewissens von einer gewissen ideellen Nähe zu diesem Großmeister der Hebraistik sprechen kann. Im Prinzip habe ich mit der Nennung der Wurzeln ࣙ٧r und qdm bzw. der Lexeme ࣚattą und hayyôm bereits den Kern des Problems umschrieben, über das ich hier handeln will: Was ist – im Blick auf Zeit – »vorne«, was ist »hinten«, und was meint eigentlich »jetzt« bzw. »heute«? Schon 1928 hat Erwin KOSCHMIEDER in seinem Büchlein »Zeitbezug und Sprache«7 das Grundproblem anschaulich beschrieben. Die meisten indoeuropäischen Sprachen setzen in ihrem Verbalsystem die Trias Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft als Basis-Noeme voraus. D.h. diese Sprachen verfahren im Blick auf den Zeitbezug so, dass sie das »Ich« als eine Bezugsgröße voraussetzen, die sich mit der Zeit vorwärts bewegt. Diese unbewusste Implikation hat – nebenbei bemerkt – Folgen bis in die Politik und Wirtschaft der westlichen Staaten: Was vorne oder hinten, was jetzt ist, wird vom »Ich« her bestimmt.

6

Vgl. E. JENNI, Die hebräischen Präpositionen. Band 1: Die Präposition Beth, StuttgartBerlin-Köln 1992, 16. 7 E. KOSCHMIEDER, Zeitbezug und Sprache. Ein Beitrag zur Aspekt- und Tempusfrage, Leipzig-Berlin 1929 bzw. Hamburg 21971 (Reprint Darmstadt 1974). Das Vorwort nennt November 1928 als Entstehungsdatum. Die Darstellung auf der folgenden Seite ist diesem Werk entnommen (ebd. S. 4).

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Im Bild der Zeitgeraden dargestellt: Das »Ich« bewegt sich aus der Vergangenheit in die Zukunft: »Vorne« ist das Neue, das Offene, das zu Gestaltende, das zu Reformierende, »hinten« liegt das, was man eigentlich vergessen kann und soll (außer es wird politisch instrumentalisiert als eine Art Menetekel gebraucht wie z.B. der Holocaust oder aber als positives Erinnerungsdatum wie z.B. der Sturm auf die Bastille). In gewisser Weise unbestimmt bleibt allein die Gegenwart, die man gemäß KOSCHMIEDER als eine »Brücke aus der Vergangenheit in die Zukunft« verstehen kann8, also als eine gewisse Dauer. Diese Trias »Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« ist ein Denkmodell, ein stabiles Bezugssystem im Fluss der Zeit, das für die meisten Bewohner der westlichen Welt unhinterfragbar geworden ist, das aber – verabsolutiert – Studierenden häufig den Zugang zu einer semitischen Sprache wie dem Hebräischen erschwert. Wie anders kann man sich nun aber überhaupt angesichts des Phänomens der Zeit verhalten, wie anders kann man zum Phänomen der ablaufenden Zeit Stellung beziehen? Ansätze zu einer Relativierung dieser Sichtweise gab und gibt es viele, doch blieben sie – da nicht im Sprachsystem verankert – in ihrer Wirksamkeit beschränkt. Zumindest den Älteren unter den Anwesenden dürften als geflügelte Worte markante Formulierungen der deutschen Klassiker GOETHE und SCHILLER geläufig sein, die in diese Richtung gehen: In GOETHEs Faust erscheint etwa eine andere Einstellung zur Zeit – dies gewissermaßen als Utopie und reduziert auf den Umgang mit dem Phänomen der Gegenwart. Faust kann bekanntlich erst dann erlöst werden, wenn er zum Augenblick sagt: »Verweile doch, du bist so schön«, d.h. wenn er es schafft, einem im Prinzip punktuellen Ereignis zumindest mental Dauer zu verleihen und es so aus der gleich näher zu beschreibenden transsubjektiven Wahrnehmung von Zeit in das eben geschilderte System subjektiver Zeitwahrnehmung zu überführen. SCHILLER dagegen hat das Ganze mit den Worten auf den Punkt gebracht: »Dreifach ist der

8

Ebd. 4.

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Schritt der Zeit: Zögernd kommt die Zukunft hergezogen, pfeilschnell ist das Jetzt entflogen, ewig still steht die Vergangenheit«. Nicht das »Ich« erscheint hier als bewegt, die Zeit ist es, die am Subjekt vorüberzieht. Das Epigramm Schillers zeigt jedenfalls deutlich: Man kann sich zum Phänomen der Zeit auch anders verhalten, als sich quasi in den »Zug« der Zeit zu setzen und auf dem Weg nach vorne, auf dem Weg des Fortschritts, durch die Fenster dieses Zugs die Wirklichkeit an sich vorüberziehen zu sehen. Beide Sichtweisen in ein- und demselben Werk zusammenzubinden ist dem Sprach- und Zeichenkünstler W. BUSCH gelungen, und zwar in: »Tobias Knopp. Die Abenteuer eines Junggesellen«. Dort erscheint gleich zu Anfang der Satz: »Ja, die Zeit entfliehet schnell, Knopp, du bist noch Junggesell«9. Das entspricht SCHILLERs Modell – wenn auch in vereinfachter Form. Demgegenüber zeigt das Schlussbild in der gleichen Bildergeschichte einen Sensenmann, der ganz im Sinne der subjektbezogenen Sicht parallel mit Knopps Lebensablauf von links nach rechts davoneilt und den Vorhang schließt10.

9

W. BUSCH, Das Gesamtwerk des Zeichners und Dichters in sechs Bänden, Bd. 4, Olten-Stuttgart-Salzburg 1959, 9. 10 Ebd. 234. Der beigegebene Text lautet: »Na, jetzt hat er seine Ruh! / Ratsch! Man zieht den Vorhang zu«.

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KOSCHMIEDER hat nun als Sprachwissenschaftler die in den Zitaten aus SCHILLER und BUSCH angesprochene, uns weniger selbstverständliche Sicht nicht in poetischen Worten ausformuliert, er hat sie vielmehr noetisch-philosophisch durchdacht und das Ergebnis dieses Denkprozesses folgendermaßen zusammengefasst: »Die Bewegung des Ich und der Gegenwart auf der Zeitlinie ist eine mögliche Darstellung des an sich ja relativen Verschiebungsverhältnisses von Gegenwart und kalendarischchronometrischem System. Es gibt natürlich dafür auch eine zweite, bei der das Ich und damit die Gegenwart als ruhend gedacht werden, die Zeitlinie dagegen in Bewegung«. Und er fährt fort: »Die zeitlichen Relationen ... stellt das Ich her, und da das Ich, also auch das Ich des Sprechers, selbst an der Verschiebung teilhat, ist es ihm unmöglich festzustellen, ob „in Wirklichkeit“ das Ich oder der Zeitstellenwert bewegt ist. Betrachtet es sich selbst im Verhältnis zum Zeitstellenwert, so erscheint es sich selbst als in Bewegung befindlich ... Betrachtet es umgekehrt den Zeitstellenwert in seinem Verhältnis zum Ich, so erscheint ihm der Zeitstellenwert bewegt«11. Obwohl nun KOSCHMIEDER in dem zitierten Büchlein und in vielen weiteren Publikationen stets auch althebräische Beispiele berücksichtigt hat, dauerte es Jahrzehnte, bis sich die Erkenntnis, man könne Zeit auch an-

11

Koschmieder, 5.

183

ders als in Form von Zeitstufen wahrnehmen bzw. Zeitbezüge anders als in den meisten indoeuropäischen Sprachen üblich ausdrücken, auch im Bereich der Hebraistik durchzusetzen begann. Zu festgefahren war die Deutung des althebräischen Verbalsystems als eines reinen Aspektsystems, das »keine Angaben über die absolute Zeitstufe eines Vorgangs (Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft)« enthalte12, und zu schön für fromme Theologen war die Schlussfolgerung daraus, man könne jede hebräische Verbalform in temporaler Hinsicht so übersetzen, wie es gerade theologisch erwünscht ist. Letztere Überzeugung war ja – ich verkürze ein wenig polemisch – aus Sicht der NOTH-VON RAD-Schule durch D. MICHELs Dissertation »Tempora und Satzstellung in den Psalmen«13 sprachwissenschaftlich untermauert worden. Ja, der eben zitierte, an der kirchlichen Hochschule Wuppertal als Hebräischlehrer angestellte Altphilologe behauptete in seiner – mit Unterstützung kirchlicher Kreise veröffentlichten »Grammatik des biblischen Hebräisch« gar, im Hebräischen gebe es nur die Unterscheidung von besprochener und erzählter Welt – im Verbalsystem realisiert in Gestalt der Haupttempora Narrativ und Imperfekt. Eine Verbalform wie das sog. Perfekt könne von daher überhaupt nicht als Tempus verstanden werden, weil es »gegenüber der grundlegenden Opposition Erzählen/Besprechen indifferent« sei14: Zeitstufen – und damit Zeit an sich – spielt/en nach ihm auf alle Fälle im hebräischen Verbalsystem keine Rolle. So richtig dieses Statement (etwas präziser formuliert) auch wäre – die hebräischen Verbalformen bezeichnen allein für sich genommen in der Tat keine Zeitstufen – zu behaupten, dass eine Sprache, in der Texte verfasst wurden, die man mit Fug und Recht als Geschichtswerke bezeichnen kann, keine Möglichkeiten gehabt haben sollte, Zeitbezüge auszudrücken, ist schlichter Unsinn. Die Geschichte der Auseinandersetzung mit diesem von der EKD, anfangs aber auch von breiten Kreisen in der W. SCHNEIDER, Grammatik des biblischen Hebräisch, München 51982, 206. D. MICHEL, Tempora und Satzstellung in den Psalmen, Bonn 1960. 14 W. SCHNEIDER (Anm. 3) 189. 12 13

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evangelischen Alttestamentlerschaft unterstützten Irrweg nachzuzeichnen, ist hier nicht der Ort15. Zur Vorbereitung der folgenden Argumentation seien aber zumindest ein paar Anmerkungen zur hebraistischen Entwicklung seither gestattet. Stillen, aber ausgesprochen erfolgreichen Widerstand gegen den Trend, dem Hebräischen quasi Zeitlosigkeit zu unterstellen, leistete v.a. E. JENNI, indem er – ohne auf die eben erwähnten abstrusen Ideen auch nur mit einem Satz Bezug zu nehmen – 1977 schlicht eine Neuauflage des alten Lehrbuchs von HOLLENBERG-BUDDE-BAUMGARTNER auf den Markt brachte16. In ihr waren neuere Erkenntnisse der seriösen Hebraistik verarbeitet, die sich im wissenschaftlichen Diskurs als tragfähig herausgestellt hatten – und nicht ungeprüfte Behauptungen zum Lernstoff für unbedarfte Erstsemester erklärt worden. Lautstarke und bald auch effektive Kritik kam demgegenüber aus der (katholischen) Münchner Schule um Wolfgang RICHTER, in die ich – vermittelt über Kontakte in der hebraistischen Arbeitsgemeinschaft von Prof. DENZ am Institut für Semitistik – als Gast aufgenommen wurde. W. GROß veröffentlichte 1976 eine Habilitationsschrift mit dem programmatischen Titel: »Verbform und Funktion. wayyiq‫گ‬ol für die Gegenwart«?17 Da es in ihr um poetische Texte geht, richtete sich seine Polemik zwar in erster Linie gegen D. MICHEL und dessen Dissertation, aber faktisch war mit diesem Buch die gesamte Ideologie der zeitlosen Wahrheit des Alten Testaments in Frage gestellt, die durch das erwähnte, irreführend als Grammatik bezeichnete Buch gestützt werden sollte. GROß – heute der wohl renommierteste katholische Hebraist – und weitere RICHTERSchüler reichten in der Folge noch eine Fülle weiterer Beiträge zu diesem Diskurs nach. – Meine wichtigsten Beiträge zur Debatte um die Darstel15

Der Vf. musste übrigens – gegen seinen Willen und wider besseres Wissen – in seinen ersten Jahren als Hebräischdozent nach diesem Buch unterrichten! 16 E. JENNI, Lehrbuch der hebräischen Sprache des Alten Testaments, Basel und Frankfurt/M. 21981. 17 W. GROß, Verbform und Funktion. wayyiq‫گ‬ol für die Gegenwart? Ein Beitrag zur Syntax poetischer althebräischer Schriften, ATSAT 1, St. Ottilien 1976.

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lung von Zeit im Hebräischen wurden 1982 und 1994 veröffentlicht. Die bereits indirekt erwähnte Habilitationsschrift von 1982 – eine Untersuchung zu HYH und dem hebräischen Tempussystem, die übrigens von E. JENNI in einer Rezension in der ThR beinahe euphorisch begrüßt wurde – ist mittlerweile längst vergriffen18. Anderes gilt für die 1994 auf der Basis dieses Buchs verfasste »Einführung in das Biblische Hebräisch«: Sie ist inzwischen sogar in 2. Auflage erhältlich19. Die darin abgedruckte schematische Darstellung des hebräischen Tempussystems ist in den folgenden Überlegungen als Referenzsystem vorausgesetzt20. Ein Blick darauf hilft in jedem Fall, die Vorbemerkungen etwas abzukürzen und zudem das graphisch zu verdeutlichen, was ich verbal vielleicht zu kompliziert ausgedrückt habe bzw. noch ausdrücken werde oder gar darzustellen übersehen habe. Überdies hoffe ich auf diesem Wege sinnenfällig demonstrieren zu können, dass menschliche Orientierung in der Zeit ohne Anleihen bei räumlichen Vorstellungen kaum möglich ist, wie umgekehrt auch zeitliche Komponenten bei der Wahrnehmung des Raums unverzichtbar sind. Nicht umsonst findet sich in allen mir bekannten Sprachen eine Vielzahl von Präpositionen, die spatio-temporale Relationen zwischen Begriffen und Handlungen ausdrücken, so dass man allein aus dem Kontext erschließen kann, ob räumliche oder zeitliche Sachverhalte in Rede stehen. Ja, manchmal hat man den Eindruck – und das gilt ganz besonders im Bereich der semitischen Sprachwelt, in der überdies keine klare Abgrenzung zwischen den Wortklassen Nomen und Präposition besteht –, dass Autoren ganz bewusst mit der damit gegebenen Ambivalenz spielen.

18

S.o. Anm. 5. Titel der Rez.: E. JENNI, Hebraistische Neuerscheinungen, ThR 50 (1985) 313-326; 321-323. 19 Der volle Titel ist etwas länger und lautet: R. BARTELMUS, Einführung in das Biblische Hebräisch – ausgehend von der grammatischen und (text-) syntaktischen Interpretation des althebräischen Konsonantentexts des Alten Testaments durch die tiberische Masoreten-Schule des Ben Ascher; mit einem Anhang: Biblisches Aramäisch für Kenner und Könner des Biblischen Hebräisch, Zürich 1994 (22009). 20 Die Tabelle ist in leicht reduzierter Form diesem Beitrag als Anhang beigegeben.

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Kommen wir also nach den generellen Ausführungen zu Zeitkonzepten und deren Realisation in einer semitischen Sprache endlich zum eigentlichen Thema – der Frage, wo im hebräischen Zeitsystem denn »vorne« und »hinten« anzusetzen ist, und welche Funktion das Lexem ࣚattą »jetzt« und die Fügung hayyôm »heute« im Zusammenhang mit der Darstellung von Zeit haben. Beginnen wir mit letzterem, denn anhand der beiden Elemente lässt sich eine weitere noetisch wichtige Unterscheidung sinnenfällig beschreiben, die in der am Ende des Essays abgedruckten Darstellung vorausgesetzt ist: ࣚattą »jetzt« ist gewissermaßen die sprachliche Inkarnation dessen, was der Linguist mit dem Stichwort »Punktualität« umschreibt. In Kombination mit einem angefügten waw signalisiert ࣚattą, wie E. JENNI in einem schönen Aufsatz gezeigt hat21, den Wendepunkt in einer Erzählung – es markiert in der Regel den Punkt, an dem die Situation umkippt oder ein Redner zu dem kommt, was ihm eigentlich am Herzen liegt. Insofern hätte ich – wenn denn alle hier im Raum Anwesenden des Hebräischen mächtig wären – diesen Teil meiner Vorlesung mit weࣚattą einleiten können. hayyôm »heute« drückt demgegenüber ziemlich exakt das aus, was in der Tabelle als Durativ, als »Dauer« ausgewiesen ist – nicht nur, weil ein Tag nun einmal etwas länger dauert als ein Moment, in dem alles umkippt: Der Sache nach handelt es sich bei der Fügung hayyôm ja um nichts anderes als um eine Kombination aus dem bestimmten Artikel *han und yôm, dem hebräischen Wort für Tag, die sich gewissermaßen semantisch verselbständigt hat und dabei auch den Bezug zur messbaren Einheit des auf 24 Stunden festgelegten Tages verloren hat. Wird nun hayyôm »heute« von einem Individuum, einem »Ich« artikuliert, entspricht die damit angesprochene Zeiteinheit in etwa dem, was KOSCHMIEDER in seiner oben abgedruckten Darstellung zum Thema »Zeit und ich« graphisch dargestellt hat – es geht um eine Zeitstrecke, deren Beginn und deren Ende unbestimmt bleiben. 21

E. JENNI, Zur Verwendung von ࣚattą «jetzt» im Alten Testament, ThZ 28 (1972) 512.

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»Präsenz« – wie KOSCHMIEDER noch statt »Gleichzeitigkeit« sagt – ist kein punktuelles Geschehen; es setzt stets eine gewisse Dauer voraus. Und das Individuum weiß darum, dass »Gegenwart« immer etwas in die Vergangenheit hineinreicht, wie sie auch Anteil an der Zukunft hat. An diesem Punkt besteht kaum ein Unterschied zwischen der Wahrnehmung von Zeit, wie wir sie zu artikulieren gewohnt sind und der hebräischen. Der Sprecher/Schreiber kann – unabhängig davon, ob er von innen oder von außen auf den Zeitstellenwert blickt – nicht umhin, den Sachverhalt in seiner zeitlichen Erstreckung wahrzunehmen. Der entscheidende Unterschied zwischen den indoeuropäischen Sprachen und dem Hebräischen liegt nun aber darin, dass der Hebräer mit ein und derselben Konstruktion – nämlich mit Nominal- oder Partizipialsätzen – sowohl Sachverhalte artikuliert, die in der Gegenwart des Sprechers stattfinden, als auch solche, die gleichzeitig zu einem Sachverhalt stattfinden – unabhängig davon, ob dieser vor oder nach dem Gegenwartspunkt des Sprechenden bzw. Schreibenden liegt. Nur wenn in einem solchen Satz ein hayyôm steht, kann man ohne langes Überlegen davon ausgehen, dass damit Gegenwart in unserem Sinn gemeint ist. Was aus der räumlichen Darstellung des zeitlichen Phänomens auf alle Fälle deutlich wird, ist die Tatsache: Gegenwart und Punktualität treffen nur in Ausnahmefällen zusammen, etwa in dem, den GOETHE im Faust angedacht hat, bzw. in dem Spezialfall, den ich eben im Blick auf weࣚattą in seiner makrosyntaktischen Funktion im biblisch-hebräischen Tempussystem dargelegt habe. Von diesen Überlegungen her ist aber auch klar, dass man in einer graphischen Darstellung des »normalen« Tempussystems des Hebräischen bei Gleichzeitigkeit nicht den Sonderfall der Punktualität berücksichtigt und auch nicht von Gegenwart spricht. Dass Sachverhalte, die mit den sprachlichen Mitteln zum Ausdruck der Gleichzeitigkeit artikuliert sind, in der direkten Rede, d.h. wenn der Relationspunkt der Gegenwartspunkt des Sprechenden ist, als Gegenwart zu übersetzen sind, ergibt sich von selbst.

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Anders liegen die Dinge, wenn es um vor- und nachzeitige Sachverhalte geht. Natürlich gibt es in dieser Welt so gut wie überhaupt keine Sachverhalte bzw. Handlungen ohne eine gewisse zeitliche Erstreckung22. Dennoch lässt sich aufweisen, dass der Hebräer im Falle der Vorzeitigkeit in der Regel nur den Endpunkt eines Vorgangs im Blick hat bzw. auf diesen sprachlich Bezug nimmt – unabhängig von dessen Dauer –, während er im Falle der Nachzeitigkeit auf den Punkt rekurriert, an dem eine Handlung bzw. ein Vorgang beginnt. Legt er Wert darauf, zudem die Dauer eines nicht in der Gegenwart stattfindenden Vorgangs auszudrücken, kennt er paraphrastische Konstruktionen mit hyh bzw. absolutem Infinitiv, unter denen erstere entfernt an die Verlaufsform im Englischen erinnert23. Zudem gibt es natürlich semantische Sonderfälle wie die sog. Verba stativa oder die Verba resultativa: Wenn jemand König geworden ist, ist er von da an für einen gewissen Zeitraum auch König, und wenn jemand etwas erkannt hat, dann weiß er es auch eine zeitlang. Aber solche Sonderfälle, wie sie auch im Griechischen und Lateinischen belegt sind, kann und will ich hier nicht diskutieren. Ja, schon der Blick auf die Verbalformen, mit denen im Hebräischen Vor- und Nachzeitigkeit ausgedrückt wird, hat uns ein wenig vom eigentlichen Thema abgebracht. Dennoch war er aus meiner Sicht sinnvoll – ist doch damit allgemein die Fragestellung veranschaulicht worden, wo im Blick auf Zeit »vorne« und »hinten« angesetzt werden kann. Und es ist zu erkennen: Außerhalb von Reden dominiert das zweite vorhin diskutierte Modell der Wahrnehmung von Zeit: Das Individuum betrachtet die Zeit »von außen« – sie zieht an ihm vorüber: »Vorne« ist also das, was wir als Vergangenheit bezeichnen und »hinten« das, was bei uns als Zukunft kategorisiert und als vor uns liegend empfunden wird. Eben diese Sicht spiegelt sich nun aber auch im Gebrauch der Wurzeln ࣙ٧r und qdm, die ich zum Schluss meiner Überle-

22

Als Beispiel für eine der seltenen Ausnahmen von dieser Regel wird gerne der Vorgang des Platzens eines Ballons genannt. 23 Vgl. dazu R. BARTELMUS, HYH, 206.

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gungen – nicht nur aus Gründen der alphabetischen Einordnung – in dieser Abfolge betrachten will. Ein Derivat der Wurzel ࣙ٧r hätte ich in dem eben geäußerten Satz – wäre er denn hebräisch formuliert worden – problemlos unterbringen können, nämlich das nicht nur in den prophetischen Büchern des Alten Testa24 ments häufiger belegte Abstraktnomen ࣙa٧arît . In der deutschen Übersetzung: »Es wird geschehen (oder sein) am Ende der Tage«, wie sie sich etwa in der berühmten Weissagung von der Völkerwallfahrt zum Zion in Jes 2 und Mi 4 findet (ähnlich aber auch in Dan 2,28 und andernorts), ist es den meisten der Leser/Hörer sicher schon begegnet. Das Wort meint schlicht das Ende, den Schluss. In diesem Falle stimme ich einmal nicht mit E. JENNI, dafür aber mit meinem verehrten Amtsvorgänger Herbert DONNER überein. Während letzterer in der von ihm zusammen mit den früheren Kieler Kollegen Udo RÜTERSWÖRDEN und Johannes RENZ verantworteten 18. Auflage des »Gesenius« als erste temporale Bedeutung »Ende, Schluss, Endphase, Ausklang« angibt25 und andere Bedeutungen wie »Ergebnis« oder »Zukunft« erst danach quasi als Nebenbedeutungen erwähnt, argumentiert JENNI im THAT exakt gegenläufig26. Er geht darin aber m.E. doch noch zu sehr von inhaltlichen Vorgaben der Forschung aus der Mitte des 20. Jh.s aus: Eschatologische Aussagen im Kern des Alten Testaments zu finden, war nicht erwünscht. Dabei hatte JENNI zu Eingang seiner Diskussion der einschlägigen Stellen zu Recht festgehalten, es komme immer darauf an, »ob der dem Sprechenden vorschwebende Zeitraum unabgegrenzt oder abgegrenzt ist«27, um feststellen zu können, ob der Ausdruck komparativisch oder superlativisch gemeint ist. Da ࣙa٧arît an den genannten Stellen nun aber durch hayyąmîm determi-

24

Insgesamt gibt es dafür 31 Belege. GBL18, 41f; ähnlich HAL, 35. 26 E. JENNI, Art. rja ࣙ٧r danach, THAT I, 110-118; 117; ähnlich H. SEEBASS, Art. tyrja, ThWAT I, 224-228. 27 Ebd. 115. 25

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niert ist, ist m.E. doch eher letzteres anzunehmen28. Es geht also ganz offensichtlich um die fernste Zukunft, um die Endzeit, um das »Ende der Tage« dieser Welt – vielleicht auch der Zeit – und nicht nur um »ferne Tage«, wie auch die neue Zürcher Bibelübersetzung die beiden erstgenannten Stellen übersetzen zu können meint. Sei dem wie es sei – in jedem Falle ist deutlich, dass ࣙa٧arît für einen Sachverhalt gebraucht ist, der nach unserem Empfinden noch nicht hinter uns liegt, der vielmehr vor uns liegt, der in Zukunft eintreten wird. Für den Hebräer bzw. den Aramäer liegt er dagegen ganz »dahinten«, noch ganz »dahinten«, also außerhalb des Horizonts des Sprechers. Erscheint die Wurzel dagegen in der Form ࣙa٧ar bzw. ࣙa٧ar؋ in präpositionaler Funktion, fällt dem Mitteleuropäer das Verstehen leichter, stimmt doch die damit ausgedrückte Wahrnehmung zumindest in räumlicher Hinsicht voll mit dem überein, was wir empfinden. Unschwer ist diese Behauptung nachzuvollziehen, wenn davon berichtet wird, dass jemand »hinter« einem anderen nachjagt bzw. diesen verfolgt (so etwa in 1 Sam 24,15 Saul den David) oder wenn davon die Rede ist, dass Israel hinter fremden Göttern herläuft bzw. hinter ihnen her »hurt« (wie man die einschlägigen Stellen wörtlich übersetzen müsste), so etwa in Ex 34,15. 16. Am Beispiel von Hld 2,9 kann man immerhin verdeutlichen, dass die Präposition zwar eindeutig ist, aber die Frage, ob jemand vor oder hinter einer Mauer steht, nur subjektiv zu beantworten ist: Aus der Sicht der jungen Frau steht ihr Geliebter hinter der Hausmauer, um nach ihr auszuspähen – er sieht sich indes vor der Mauer als einem Hindernis auf dem Weg zur Geliebten. Auch im Blick auf die zeitliche Verwendung der Präposition ergeben sich kaum Verständnisprobleme, da wir – sofern es nicht um uns selbst, sondern um die Wahrnehmung von Ereignissen in ihrer Abfolge geht – hier gewissermaßen unbewusst den Richtungsbezug unserer Zeitwahrnehmung ändern: Sachverhalte bewegen sich im Fluss der Zeit in einem »Nacheinander«, reihen sich also auf einer von links 28

JENNIs Annahme, hier eigne dem Artikel nur »leicht demonstrative(r) Kraft« (ebd.) wirkt doch etwas gesucht.

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nach rechts ausgerichteten Zeitgeraden ebenfalls von links nach rechts. Dementsprechend besteht im Falle der 50mal belegten Wendung weࣙa٧arê kĒn in keinem Fall ein Zweifel daran, dass der mit dieser Formel eingeleitete Sachverhalt im Sinne der absoluten Chronologie »nach« dem davor erwähnten Sachverhalt anzusetzen ist. Kommt indes das »Ich« ins Spiel, ist das, was »hinten« ist, auf der linken Seite positioniert – es liegt »hinter« dem Individuum, das sich vorwärts in die Zukunft bewegt. In der Tabelle aus meiner «Einführung« ist dieser Aspekt mit den Pfeilen zum »Richtungskoeffizienten« angedeutet. Aus Zeitgründen kann ich hier natürlich nicht alle Belege der Wurzel ࣙ٧r diskutieren. Andeuten möchte ich immerhin noch die interessante Frage, warum man von »anderen Göttern« als von ࣙælohîm ࣙa٧Ērîm spricht – auch ࣙa٧Ēr »anderer« ist von der Wurzel ࣙ٧r abzuleiten: Mag dabei an den meisten Stellen in gut deuteronomistischem Sinne unterstellt sein, dass erst Jahwe allein da war und Israel danach zu anderen Göttern abgefallen ist – an Jos 24,2 scheitert dieser Erklärungsversuch, denn dort sind die »anderen Götter«, denen Terach, Abraham und Nahor »jenseits des Euphrat« dienten, eindeutig Vorläufer Jahwes. Auf dem Umweg über den Verweis auf eine spatiale Verwendung von ࣙa٧arît möchte ich nun aber doch zu qdm und damit zum Ende kommen: In Ps 139,9 spricht der Beter davon, dass Jahwe ihn selbst beࣙa٧arît yam erreichen könne – und damit ist eindeutig der »hinterste« Westen gemeint: Das Meer im Westen kann aber nur »hinten« sein, wenn vorne Osten ist. Eben dies ist eine wichtige Bedeutung der beiden hebräischen Substantive qądîm und qædæm, die von der Wurzel qdm abgeleitet sind, deren semantischer Nucleus »vorne« unbestritten ist. Die alten Hebräer orientierten sich ganz offensichtlich nicht am Polarstern als primärem Bezugspunkt, sondern nach dem Sonnenaufgang. D.h. die Wurzel, die von Hause aus etwas mit »vorne« bzw. »vor« zu tun hat, wie u.a. auch dem redundanten Gebrauch der Präposition qådąm im Aramäischen zu entnehmen ist, wird stereotyp für Osten gebraucht; dementsprechend ist hinten – wie eben erwähnt – Westen, rechts Süden und links Norden.

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Räumlich gesehen erscheinen die Dinge einmal mehr wenig kompliziert, jedenfalls wenn man den Weg von der Grundbedeutung zur konkreten Verwendung einmal verstanden hat. Auch wenn die im Aramäischen häufige präpositionale Verwendung der Wurzel im Hebräischen nicht zweifelsfrei belegt ist29, dass qdm räumlich stets nach vorne verweist, ist nicht zu bezweifeln. Gewisse Verstehensprobleme ergeben sich für Mitteleuropäer dagegen, wenn man den temporalen Gebrauch in Betracht zieht – dies unbeschadet der Tatsache, dass auch wir von »Vorzeit« sprechen, wenn wir auf die fernste Vergangenheit zu sprechen kommen wollen. (Der von daher zu erwartende Begriff »Nachzeit« ist mir indes noch nie begegnet – außer in der erweiterten Form der »Nachspielzeit« in den Sportnachrichten). Temporal gebraucht heißt qædæm »Vorzeit«, »Urzeit«. Dass das, was längst vergangen ist, »vorne« (und damit natürlich auch vor Augen) ist, weil man ja eher selten nach hinten schaut, ist gefühlsmäßig für progressive Kräfte, als die wir uns gerne sehen, schwer nachzuvollziehen, nicht aber für die Orientalen, die es bis heute nicht aufgegeben haben, ihre Identität aus der Vorzeit zu begründen. Das beginnt mit der – aus pragmatischen Gründen auch vom Westen anerkannten – Staatsideologie von Israel, das seinen Anspruch auf Palästina mit den Vätergeschichten der Genesis und den Davidserzählungen begründet, geht weiter über die Syrer, die sich als legitime Nachfolger der Amoriter begreifen und gipfelt in der Selbstdarstellung der Türkei als Nachfolgestaat der Hethiter: Nach dem Atatürk-Mausoleum sind jedenfalls die auffallendsten das Stadtbild von Ankara prägenden Denkmäler vergrößert nachgebaute Objekte aus der Zeit des hethitischen Großreichs. Dass ethnisch und sprachlich Welten zwischen den Hethitern und den heutigen Bewohnern des Landes liegen, spielt ebenso wenig eine Rolle wie der Umstand, dass man sich ja eigentlich zum Westen, zu Europa gehörig fühlt, also vorwärts orientiert sein will.

29

Vgl. GBL18, 1148; in HAL, 1000 sind immerhin zwei Belege erwähnt.

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Doch kommen wir zurück zu qædæm. An einem Beispiel möchte ich Ihnen zum Schluss noch einmal demonstrieren, wie schwer es für einen Nicht-Orientalen ist, sich in der relationalen Welt des semitischen Raumund Zeitverständnisses zurecht zu finden. Die Stelle findet sich in Gen 2,8. Denjenigen unter Ihnen, die das Alte Testament nur qua Lutherbibel wahrzunehmen gewohnt sind, dürfte sie nicht als Problemfall bewusst sein – wohl aber ist sie ein solcher für den sprachwissenschaftlich orientierten Exegeten. Im Hebräischen steht dort nämlich mit der Fügung M®d®;qIm N®dEoV;b_NÅ…g MyIhølTa hÎwh¸y oAÚfˆ¥yÅw ein Satz, der zu schillernd formuliert ist, als dass die Beseitigung der in ihm vorhandenen »Wacken und Klötze« durch Luther & Co. als zureichende Lösung bezeichnet werden könnte. Die Lutherbibel von 1984 bietet: »Und Gott der HERR pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin«, und in der neuen Zürcher Bibel heißt es am Ende sogar noch einfacher »in Eden im Osten«. Das spatio-temporale Problem der Fügung miqqædæm ist in beiden Beispielen nicht einmal andeutungsweise zu erkennen. Ja, die Lösung bei Luther unterstellt einen Gebrauch der hier mit qædæm verbundenen Präposition min, der in Gegensatz zu dem semantischen Gehalt von min steht: min ist nun einmal die Präposition, mit der Relationen bzw. Separationen ausgedrückt werden – sie wird zum Ausdruck des Komparativs eingesetzt und dort, wo es um eine Bewegung »von etwas her« geht. Von daher haben es sich aber auch die Zürcher Bibel und selbst neuere Lexikographen m.E. zu leicht gemacht, wenn sie schlankweg behaupten, min sei hier einmal mit »in« wiederzugeben, der Garten in Eden sei im Osten gelegen gewesen. Gegen diese Lösung spricht schon allein der Umstand, dass am Ende der Paradiesgeschichte nach der Vertreibung des Menschen aus dem Garten die gleiche Fügung noch einmal erscheint – dort indes in syntaktisch nachvollziehbarer Weise positioniert, nämlich vor dem nun wohl als Eigennamen gebrauchten gan ࣚĒdæn, dem überdies ein le vorangeht. Die neue Wohnstatt des Menschen liegt demgemäß östlich des Gartens Eden. Erschwerend kommt hinzu, dass frei im Satz stehendes miqqædæm auch andernorts belegt ist.

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Dort ist es aber stets entweder im Sinne der Bewegung von Osten her oder aber temporal im Sinne von »von Urzeit an«, »von Anfang her« zu verstehen – ersteres etwa in Gen 11,2; 13,11, letzteres in Mi 5,1; Jes 45,21; 46,10. Ohne es zwingend beweisen zu können – der Ausdruck ist aller Wahrscheinlichkeit nach bewusst als Rätsel angelegt – tendiere ich dazu, in Gen 2,8 die Konnotation »vor Urzeiten« zumindest mitzudenken und das min vor qædæm im Sinne einer verschleiernden Angabe zu verstehen. Obwohl vor Urzeiten gepflanzt, liegt der Garten in Eden nach wie vor als Utopie irgendwo in Relation zum Osten, damit aber vor den Augen des ࣙądąm und der in ihm präfigurierten Menschheit. Dass die Tür dorthin nach dem ࣙa٧arît hayyąmîm, dem ein neuer ࣚôląm, eine neue ࣚalm؇ folgen wird, wieder aufgeschlossen werden kann, glaubt allein die Christenheit, für die eschatologische Erwartungen zum festen Bestand der Glaubensüberzeugungen gehören – das Alte Testament begnügt sich mit der Feststellung, dass der Garten auch nach dem Fall miqqædæm ist. [Das eben erwähnte hebräische Wort ࣚôląm meint übrigens den »Äon«, das »Zeitalter«, ࣚalm؇ ist aramäisch und meint die »Welt« – es liegt sie gleiche Wurzel vor: Einmal mehr sind wir einem fließenden Übergang zwischen Zeit und Raum begegnet]. Bleiben wir indes bei der Wurzel qdm. Wenn ich Studierende der CAU wiederholt dazu angeregt habe, qĒdmą »nach Osten«, in den Orient aufzubrechen, wollte ich ihnen damit – das ergibt sich aus der spatio-temporalen Ambivalenz von qædæm – nicht nur eine Annäherung an den Paradiesgarten ermöglichen, dessen erster Vorbote im Nahen Osten nach verbreiteter Überzeugung die Ghuta um Damaskus ist, ich wollte ihnen vielmehr zugleich einen Zugang zur Urzeit, zur Vorzeit unserer Kultur vermitteln. Wenigstens die Realisation dieses Anliegens scheint mir – im Gegensatz zum philologischen Programm, mit dem ich einst angetreten bin – in meiner Kieler Zeit dank der Kooperation mit kompetenten und netten KollegInnen einigermaßen gelungen zu sein. Spuren dieses Teils meiner Kieler Wirksamkeit können

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Sie unter KiBiDaNO im Internet studieren30; diesen Spuren von Bild zu Bild zu folgen, ist dank der von einem engagierten Mitarbeiter am Rechenzentrum der CAU geleisteten technischen Hilfe zweifellos leichter, als das nachzuvollziehen, was Ihnen mit meinen philologischen Ausführungen zugemutet wird. Sofern Sie freilich in den angekündigten Denkprozess mit eingestiegen (und nicht – verstört durch die vielen Assoziationen – unterwegs ausgestiegen sind), können Sie erahnen, dass sich mit der Wiederaufnahme des Stichworts »Vorzeit«, »Urzeit« der Kreis meiner Überlegungen schließt: Auch der Mythos vom Fall der Engel spielte in der Vorzeit – zwar nicht miqqædæm, vielmehr mĒࣚ ࣚôląm, was indes im Blick auf die Aspekte von Zeit, die ich heute angesprochen habe, nur wenig Unterschied ausmacht. Die Beschäftigung mit dem Mythos vom Fall der Engel liegt also aus altorientalischer Sicht nicht hinter mir; in der Tat wurde das Buch ja vor Zeiten verfasst und ist das Werk, das mein Bild in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit geprägt hat – inklusive aller Vorurteile betreffs meiner Person. Ob mein hoffentlich in etwa fünf Jahren lieferbarer Kommentar zum Hohenlied das letzte Werk sein wird, das aus meiner Feder bzw. aus meinem Computer hervorgeht, weiß allein der Himmel – für mich als Mitteleuropäer ist er eine vor mir liegende Aufgabe. Ob allerdings Sie ihn einst als zukunftsweisend empfinden werden oder als das Letzte, vermag ich nicht vorherzusehen, dies um so weniger, als ich ja bisher nur Vorarbeiten zu ihm geleistet (und veröffentlicht) habe. Vor uns liegt jetzt – vermutlich nach einigen Worten anderer Redner – in jedem Fall ein kleiner Empfang; meine Ankündigung ist somit eher im Sinne des hebräischen »heute« zu verstehen, und nicht im Sinne eines strikten »jetzt«. Mit dem Empfang, dem eine gewisse Dauer nicht fehlen sollte, soll das Ende meiner Kieler Wirksamkeit, das ࣙa٧arît yąmąy beqîl, rituell begangen werden.

30

Internet-Adresse: http://www.uni-kiel.de/kibidano-neu/content/below/index.xml.

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Ich hoffe, dass Georg WARMUTH das ࣙa٧arît yąmąw an der CAU zu Kiel in ähnlich entspannter und freundlicher Atmosphäre begehen kann, wie ich das nach diesen Ausführungen vor mehr als einem Jahr erlebt habe.

Theologische Dimensionen des Hebräischunterrichts

von Hans-Christoph Goßmann Wer die hebräische Sprache lernt, studiert Theologie. Sie oder er ist nicht etwa dabei, sich durch das Erlernen dieser biblischen Sprache auf das Theologiestudium vorzubereiten, sondern steht schon mitten in diesem Studium. Diese These ist grundlegend für das hier entfaltete Konzept des Hebräischunterrichts; sie bestimmt sowohl dessen Inhalte wie auch dessen Methoden. Dies wird im Folgenden erläutert. Dabei gilt es wahrzunehmen, dass diese Sicht von vielen nicht geteilt wird. Es werden immer wieder Stimmen laut, die dem Erlernen der drei Sprachen Hebräisch, Lateinisch und Griechisch keinen Platz innerhalb des theologischen Studiums einräumen wollen, sondern es lediglich als Voraussetzung für das Theologiestudium betrachten. So schreibt – um nur ein Beispiel für diese Auffassung zu zitieren – Katharina Gralla in ihrem Beitrag ‚Pastoren fallen nicht vom Himmel’1 über die Ausbildung von Pastorinnen und Pastoren: „Erst, wenn diese Sprachhürden genommen sind, beginnt das eigentliche Studium.“2 Demgegenüber ist das Erlernen der Sprachen – in unserem Fall des Hebräischen – m.E. als unverzichtbarer Bestandteil des Theologiestudiums zu verstehen. Denn nur durch die Kenntnis der hebräischen Sprache erschließen sich Dimensionen des hebräischen Textes des Alten Testamentes und damit auch Zugänge zu seiner Theologie, die durch Übersetzungen – und seien sie auch noch so gut – nicht vermittelt werden können.

1

Katharina Gralla, Pastoren fallen nicht vom Himmel, in: Amt für Öffentlichkeitsarbeit der Nordelbischen Ev.-Luth. Kirche (Hg.), Unsere Kirche. Berichte, Beispiele, Bilder aus der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Hamburg 1991, S. 56f.

2

A.a.O., S. 56 (Hervorhebung von mir).

198 Mit dem Hebräischunterricht ist also das Ziel zu verfolgen, den Studierenden deutlich zu machen, dass sie sich nicht nur mit Formen, sondern auch mit Inhalten auseinander setzen. Wie diesem Anspruch entsprochen werden kann, wird im Folgenden exemplarisch anhand von drei konkreten Inhalten des Hebräischunterrichts dargelegt: dem Alphabet, der Vokalisation und den Verbalstämmen. a. Das Alphabet Zu Beginn des Hebräischunterrichts steht das Erlernen des Alphabets. Bereits dies hat eine theologische Dimension. Denn durch das Alphabet und seinen Gebrauch kann die Ehrfurcht Gott gegenüber zum Ausdruck gebracht werden. So wurde in Texten aus Qumran, die bereits in hebräischer Quadratschrift geschrieben wurden – dem Habakuk-Kommentar, den Hodajot und der Psalmenrolle – das Tetragramm weiterhin in althebräischer Schrift geschrieben.3 Die Schreibung des Gottesnamens in althebräischer Schrift begegnet man nicht nur in hebräischen Texten, sondern auch in griechischen – so in Fragmenten der Aquilaübersetzung, die in der Geniza von Kairo gefunden worden sind.4 Um diese Art, der besonderen Ehrfurcht Gott gegenüber Ausdruck zu verleihen, besser verstehen zu können, ist es hilfreich zu wissen, dass durch die Wahl eines bestimmten Alphabetes die eigene religiöse Identität zum

3

Joseph Naveh, Early History of the Alphabet. An Introduction to West Semitic Epigraphy and Paleography, Jerusalem/Leiden 1982, S. 119f.; Ernst Würthwein, Der Text des Alten Testaments. Eine Einführung in die Biblia Hebraica, Stuttgart 1973, S. 6; Ernst Würthwein, a.a.O., S. 145, bietet die Abbildung eines Abschnittes aus dem Habakuk-Kommentar (Kol. IX und X – Hab. 2,7-14), in dem dieses Phänomen begegnet. Im Anhang des Buches von Joseph Naveh ist ebenfalls ein Text als Beispiel abgebildet: ein Abschnitt aus der Psalmenrolle, in der das Tetragramm mehrfach – jeweils in althebräischer Schrift geschrieben – begegnet, während der restliche Text in Quadratschrift verfasst ist (Plate 14, D.). 4

Ernst Würthwein, a.a.O., S. 144.

199 Ausdruck gebracht werden kann.5 So hat der jüdische Gelehrte RaMba’’M (Moshe ben Maimon) sein Hauptwerk ‚More Newuchim’ in arabischer Sprache, aber in hebräischen Buchstaben niedergeschrieben.6 Entsprechendes ist hinsichtlich der ältesten Fassung der Hilde-GudrunSage zu beobachten. Diese Handschrift, die in der Kairoer Geniza entdeckt wurde, stammt aus dem Jahr 1382 und ist somit 150 Jahre älter als die älteste bekannte Fassung in deutscher Schrift. Sie war von Juden in Deutschland niedergeschrieben worden und wurde später auf der Flucht vor den Pogromen der Kreuzritterzeit nach Kairo mitgenommen.7 Auch hier haben die Schreiber ihre jüdische Identität durch das hebräische Alphabet zum Ausdruck gebracht. Wird im Rahmen des Hebräischunterrichts das Alphabet durchgenommen, dann lernen die Studierenden also ein Zeichensystem, durch dessen Wahl – sowohl in alttestamentlicher wie auch in nachbiblischer Zeit – bereits theologisch relevante Aussagen gemacht wurden. b. Die Vokalisation An das Erlernen des Alphabets schließt sich das der Vokalzeichen an. Da die Geschichte ihrer Entwicklung in diesem Zusammenhang von Relevanz ist, ist sie hier kurz zu skizzieren: Um die Lektüre der hebräischen Texte, die nur mit Konsonanten geschrieben wurden, zu erleichtern, wurden zunächst Vokalbuchstaben eingeführt, d.h. die Konsonanten Jod und Waw bekamen neben ihrer Funktion als Konsonanten zusätzlich die Funktion, Vokale anzuzeigen – das Jod die Vokale i, e und ä 5

Alphabete sind religiös nicht „neutral“. Durch die Wahl eines bestimmten Alphabets kann die eigene religiöse Identität zum Ausdruck gebracht werden. Vgl. zu diesem Phänomen Hans-Christoph Goßmann, Schriftsysteme als Ausdrucksmöglichkeit religiöser Identität, in: Linguistica Biblica 59, 1987, S. 123f.

6

Art. Mose ben Maimon, in: J.F. Oppenheimer u.a. (Hgg.), Lexikon des Judentums, Gütersloh/Berlin/München/Wien 1971, S. 524.

7

Salcia Landmann, Jiddisch. Das Abenteuer einer Sprache, Wiesbaden/München 1979, S. 91f.

200 und Waw die Vokale o und u. Da es trotzdem in späterer Zeit zu Unklarheiten beim Verständnis der Texte kam, wurden Vokalzeichen eingeführt. Sie wurden von jüdischen Gelehrten, den Masoreten, in der Zeit vom sechsten bis zum zehnten Jahrhundert entwickelt und sind somit also sehr viel jünger als die Buchstaben des hebräischen Alphabets. Im Rahmen der rabbinischen Exegese biblischer Texte war es aufgrund des Schriftverständnisses nicht möglich, in den Konsonantenbestand eines Textes einzugreifen. Da die Vokalisierung der Texte jedoch erst so spät erfolgte, bestand die Möglichkeit, durch unterschiedliche Vokalisierungen Textstellen unterschiedlich auszulegen und damit gegebenenfalls auch exegetische Probleme zu lösen bzw. zu umgehen. Dies wird anhand der rabbinischen Auslegung von Ex. 4, 24-26 deutlich.8 Dieser Text lautet in deutscher Übersetzung: V. 24: Und es geschah unterwegs in einem Übernachtungsort, und YHWH traf ihn, und er suchte ihn zu töten. V. 25: Aber Zippora nahm einen Stein und schnitt die Vorhaut ihres Sohnes ab, und sie berührte seine Füße, und sie sagte: „Denn du bist mir ein Blutbräutigam.“ V. 26: Und er ließ von ihm ab. Damals sagte sie „Blutbräutigam“ bei Beschneidungen. Dieser Text bereitete den Rabbinen u.a. das Problem, dass Zippora – also eine Frau – die Beschneidung durchführte. Dieses Problem wurde wie folgt gelöst: Die Form wtqh in V. 25 wurde nicht als Qal, sondern als Hiph’il vokalisiert. Sie hat dann gemäß dem allgemein üblichen Verständnis der Funktion des Verbalstammes Hiph’il die Bedeutung: „sie nahm“. Konsequent wurde auch für die folgende Verbform wtkrt die Lesung als Hiph’il statt Qal vorgeschlagen, die dann entsprechend nicht „sie schnitt“, sondern „sie ließ schneiden“ bzw. „sie ermöglichte 8

Vgl. zum Folgenden Hans-Christoph Goßmann, Metamorphosen eines Dämons. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte von Ex 4,24-26, in: Begegnungen zwischen Christentum und Judentum in Antike und Mittelalter. Festschrift für Heinz Schreckenberg. Unter Mitarbeit von Karina und Thomas Lehnardt (Schriften des Institutum Judaicum Delitzschianum, Bd. 1), Göttingen 1993, S. 123-132.

201 zu schneiden“ heißt. Es ist nicht untypisch für den rabbinischen Stil des Debattierens, dass die Diskussion über diese Frage mit dem Vorschlag endet, man könne den Text ja auch so verstehen, dass sie begann und Mose daraufhin kam und es vollendete.9 Diese Weise der Textauslegung ist nur vor dem Hintergrund der Geschichte der Vokalisierung hebräischer Texte zu verstehen. Der Ort im Theologiestudium, wo diese vermittelt wird, ist der Hebräischunterricht. Damit stellt der Hebräischunterricht zugleich die unverzichtbaren Voraussetzungen für das Verständnis jüdischer Theologie(en) zur Verfügung und ermöglicht so christlichen Theologinnen und Theologen ein qualifiziertes Engagement im jüdisch-christlichen Dialog. Dies kann er deshalb leisten, weil jüdische Kultur und hebräische Sprache so wenig voneinander zu trennen sind wie das Alte Testament und seine Sprache. Die hebräische Sprache war in jeder Epoche der jüdischen Geschichte die Sprache, in der sich jüdisches Denken artikulierte. Joseph Klausner schreibt zu Recht, „dass, obwohl die hebräische Sprache aufhörte, Umgangssprache zu sein, sie doch nie aufhörte, eine lebendige Sprache zu sein. Zu keiner Zeit konnte man sie mit der neulateinischen vergleichen. Zu gleicher Zeit, als das Lateinische im Mittelalter nur die Angelegenheit der Gelehrten, Philosophen und Theologen war, drang die hebräische Sprache dank der Verpflichtung jedes Juden, Bibel zu lernen, auf unmerkliche Art in das jüdische Volk, beeinflusste alle seine Vorstellungen, seine Art, seine Gedanken auszudrücken, mit einem Worte, sie

9

Vgl. baZ 27a. Durch diese Auslegung wird der Text zwar nicht geändert, sein Inhalt jedoch so interpretiert, dass die ursprüngliche – für die Rabbinen anstößige – Aussage in ihrer Auslegung keinen Niederschlag findet. Diese Art der Auslegung begegnet auch in christlicher und jüdischer Theologie, vgl. Hans-Christoph Goßmann, Vom Umgang mit Spannungen zwischen Heiliger Schrift und theologischem System in den drei Buchreligionen Judentum, Christentum und Islam, in: Zeitschrift für Mission 22, 1996, S. 189-193.

202 legte ein unverwischbares Siegel auf alle Werke seines Geistes und seiner Rede.“10 c. Die Verbalstämme Bei der eben angesprochenen Vokalisation ging es bereits um die Verbalstämme Qal und Hiph’il. Um diese beiden Stämme geht es auch in diesem letzten Beispiel für die theologische Relevanz der Inhalte des Hebräischunterrichts. Das Verständnis der Funktionen dieser Stämme eröffnet eine Möglichkeit, sich mit der lutherischen Rechtfertigungslehre auseinanderzusetzen, die im Allgemeinen in der theologischen Diskussion nicht thematisiert wird. Der Religions- und Missionswissenschaftler Olaf Schumann hat in seinem Beitrag ‚Zwischen rechtem Glauben und guten Werken’11 darauf hingewiesen, dass die meisten hebräischen Verbformen, die auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch verweisen, im Verbalstamm Hiph’il stehen. Ähnlich ist es im qur’anischen Arabisch, wo diese Verben im entsprechenden Verbalstamm aph’ala stehen. Oft wird die Funktion des Verbalstammes Hiph’il im Hebräischen damit erklärt, dass er gegenüber dem Grundstamm Qal kausative Bedeutung habe, d.h. dass ein Subjekt ein Objekt zu einer Handlung veranlasse.12 Schumann vertritt demgegenüber die Auffassung, dass durch diese Form zum Ausdruck gebracht wird, dass ein erstes, primäres Subjekt dem zweiten, sekundären Subjekt die Möglichkeit eröffnet, die im Verbalstamm genannte Tätigkeit auszuführen. Somit geht es also nicht um die Beziehung zwischen einem Subjekt und einem Objekt, sondern um die zwischen zwei Subjekten.

10

Joseph Klausner, Geschichte der neuhebräischen Literatur, Berlin 1921, S. 10.

11

Olaf Schumann, Zwischen rechtem Glauben und guten Werken, in: ders., Hinaus aus der Festung. Beiträge zur Begegnung mit Menschen anderen Glaubens und anderer Kultur (Studien zum interreligiösen Dialog, Bd. 1), Hamburg 1997, S. 61-79. 12

So z.B. Jutta Körner, Hebräische Studiengrammatik, Leipzig 1983, S. 137.

203 Dies verdeutlicht Schumann exemplarisch anhand des Verbs ys` und zieht daraus Konsequenzen für das Verständnis der Rechtfertigungslehre: „So heißt, um es an einem Beispiel zu verdeutlichen, das Wort yasa` ‚herausgehen’, in der Form des Hif´il (yose) wird es als ‚herausführen’ (etwa die Kinder Israel aus Ägypten) übersetzt: Gott führt die Kinder Israel aus Ägypten hinaus. Das heißt aber: Gott eröffnet den Kindern Israel die Möglichkeit, daß sie aus Ägypten gehen, ihre Beine müssen sie aber – als zweites Subjekt – selbst bewegen. Wenn also in dieser Verbalform zum Ausdruck gebracht wird, daß Gott den Menschen ‚rechtfertigt’, dann bedeutet dies nicht, daß der Mensch ‚gerecht wird’, sondern daß er von Gott wieder in die Lage versetzt wird, selbst gerecht zu handeln. Dazu wäre der Mensch nicht in der Lage ohne das vorausgehende Handeln Gottes, des ersten Subjekts. Doch bliebe das Handeln des ersten Subjekts bedeutungslos, wenn nicht das zweite Subjekt nun die Chance ergreift zu tun, wozu es befähigt wurde.“13 Dieser – zweifellos unübliche – Blick auf die Rechtfertigungslehre ist nur auf Grundlage der Kenntnis sowie des Verständnisses der beiden Verbalstämme Qal und Hiph’il möglich. Konsequenzen für die Methodik Abschließend seien einige Hinweise darauf gegeben, welche Konsequenzen die soeben dargelegten Ziele und inhaltlichen Schwerpunkte für die konkrete Unterrichtsgestaltung haben können. Da der Hebräischunterricht m.E. integraler Bestandteil des Theologiestudiums ist, dient auch er der Bildung der je eigenen, unverwechselbaren theologischen Identität jeder Studentin und jedes Studenten. Eine eigene theologische Identität kann sich letztlich nur im Dialog unter den Studierenden

13

Olaf Schumann, a.(Anm. 11)a.O., S. 69.

204 und zwischen ihnen und den Lehrenden bilden.14 Deshalb ist es m.E. wichtig, den Hebräischunterricht soweit wie möglich dialogisch zu gestalten und die Teilnehmenden des Hebräischkurses als Lerngemeinschaft zu betrachten. Dies beinhaltet einen häufigen Wechsel der Sozialformen innerhalb des Unterrichts. So kann z.B. ein grammatikalisches Phänomen wie den Relativsatz anhand eines oder mehrerer biblischer Beispiele erklärt werden. An diesen Lehrervortrag kann sich dann eine Phase der Kleingruppenarbeit anschließen, in der die Kleingruppen in einzelnen Sätzen die Relativsätze in ihrer jeweiligen Abgrenzung bestimmen und übersetzen können. Dabei haben sie die Möglichkeit, über den Sinn des jeweiligen Textes zu diskutieren. Während dieser Kleingruppenphase würde die Dozentin bzw. der Dozent den Studierenden für Fragen zur Verfügung stehen. Auf diese Weise kann sie bzw. er sich einen Eindruck darüber verschaffen, wo noch Verständnisschwierigkeiten und somit Erklärungsbedarf besteht. Im Anschluss an diese Arbeitsphase kann eine Sprecherin bzw. ein Sprecher jeder Kleingruppe die gemeinsam erarbeitete Bestimmung und Übersetzung der Relativsätze dem gesamten Hebräischkurs präsentieren und gegebenenfalls zur Diskussion stellen. Die Beschäftigung mit hebräischen Texten, ihren Strukturen und ihren Inhalten bietet die Möglichkeit, auch in längst bekannten Texten immer wieder neue Dimensionen zu entdecken. Ein wichtiges Ziel des Hebräischunterrichts ist m.E. darin zu sehen, den Studierenden diese Entdeckerfreude zu ermöglichen. Deshalb ist es wichtig, ihnen deutlich zu machen, dass der Hebräischunterricht nicht eine Hürde ist, die sie nehmen müssen, bevor sie sich ihrem eigentlichen Ziel – der Auseinandersetzung mit theologischen Fragen – zuwenden können, sondern dass sie dies bereits tun können, indem sie Hebräisch lernen. Dies spricht für

14

Zum Dialog als Ort der Identitätsbildung vgl. Hans-Christoph Goßmann, Zur Bildung religiöser Identität. Einige Anmerkungen aus christlich-theologischer Perspektive, in: Feuervogel 4, 1998, S. 42f.

205 einen Hebräischunterricht, in dem die theologisch relevanten Elemente dieser Sprache thematisiert werden.

Hebräische Bibel? Hasko v. Bassi

(Andacht gehalten in der Sitzung des Aufsichtsrates des Verbandes Evangelischer Publizistik Niedersachsen-Bremen am 19.1.2006) Der Herr spricht: „Ich will dich nicht verlassen noch von dir weichen.” (Jos 1,5b) – so lautet in der Lutherübersetzung die Jahreslosung, die uns gerade jetzt zu Jahresbeginn immer wieder begegnet. Ein Wort aus dem Buche Josua, aus dem Alten Testament also, oder, wie es in kirchlichen Kreisen inzwischen immer häufiger heißt, aus der Hebräischen Bibel. Hebräische Bibel? Weshalb dieser neue Begriff? Und ist das wirklich dasselbe wie das Alte Testament? Mir selbst ist der Begriff „Hebräische Bibel” in den 90er Jahren vor allem bei Aufenthalten in den USA begegnet. In den Vorlesungsverzeichnissen der unzähligen Departments of Religious Studies gab es immer wieder „Introductions to the Hebrew Bible” zu finden. Neben Zwängen der Political Correctness gab es dabei, wie amerikanische Freunde mir erklärten, schlichte Markterwägungen: Mit einer solchen Ankündigung war die entsprechende Lehrveranstaltung für Hörer zweier Weltreligionen attraktiv. In Deutschland ist das Bemühen um eine vermeintliche diskriminierungsfreie Bezeichnung der alttestamentlichen Schriften ganz wesentlich mit der Scham über die deutschen Verbrechen am europäischen Judentum verbunden. Vor vier Wochen hat Wolfgang Thielmann im Rheinischen Merkur diesen Zusammenhang nochmals deutlich benannt. So sehr man Sympathie damit haben muss, dass die deutsche Schuld an der Ermordung von Millionen Juden nicht dem Vergessen anheimfällt, so sehr muss man doch auch fragen, ob die Umbenennung des Alten Testamentes theologisch ein sinnvoller Umgang mit dieser Schuld ist. Ich habe Mühe damit, mir das Schuldbekenntnis der Westfälischen Landessynode von 1994 zu eigen zu machen: „Wir bekennen als unsere Schuld, uns die hebräische Bibel so angeeignet zu haben, daß wir sie dem Judentum entrissen ... und daß wir sie zugleich als Altes Testament gegenüber dem Neuen Testament abwerteten.” Auch der Vor-

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schlag, als Zeichen der Demut nun alle denkbaren Begriffe „Altes Testament”, „Hebräische Bibel”, „Jüdische Bibel” und „Erstes Testament” einfach nebeneinander zu gebrauchen, überzeugt mich nicht. Auch in der viel benutzten Internet-Enzyklopädie „Wikipedia” ist davon die Rede, dass der Begriff „Altes Testament” einer „theologischen ‚Enteignung’” des Judentums Vorschub geleistet habe. Könnte nicht vielleicht das Gegenteil stimmen? Denn nur durch die klare Formulierung, auf welche Weise und in welcher Hinsicht wir Christen uns Schriften des Judentums zu eigen machen, lassen wir doch dem Judentum Freiheit, mit seiner Tradition in ganz eigener und eben von uns unterschiedener Weise umzugehen. Deshalb erscheint mir auch der Umgang mit dem Begriff der „jüdisch-christlichen Tradition” problematisch. Der Begriff wird für meinen Geschmack inzwischen etwas zu häufig benutzt und nicht immer genügend reflektiert, denn was kulturgeschichtlich zutrifft, muss theologisch noch nicht stimmen. Selbstverständlich gibt es eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten im Gottes- und Menschenbild, und selbstverständlich ist die jüdische Religion der Wurzelgrund des Christentums. Freilich ist unsere christliche Bezugnahme auf das Judentum eine spezifische und zwar gerade eine nicht jüdische. Und ich bin mir gewiss, dass auch das Judentum eben davon ein deutliches Bewusstsein hat. Mit Umarmungen ist es so eine Sache. Nicht immer ist sicher, dass der Umarmte sich dabei auch wirklich wohl fühlt. Machen wir die Probe: Wie wohl würden wir uns fühlen, wenn aufgeklärte Muslime von einer „jüdisch-christlich-islamischen” Tradition sprächen? Ich vermute, unser Impuls, auf die Unterschiede hinzuweisen und einen Einwand zu erheben mit den Eingangsworten „Ja, aber ...”, dieser Impuls wäre stark. Und ich frage mich: Mag es nicht auch manchen jüdischen Gläubigen so gehen, wenn sie flugs und ungefragt in die christliche Traditionsreihe eingefügt werden?

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Zurück zum Alten Testament. Man kann zunächst einmal rein äußerlich darauf verweisen, dass das christliche Alte Testament eine Vielzahl von Unterschieden zur Hebräischen Bibel aufweist, die im Judentum ja ursprünglich auch nicht so, sondern mit dem Kunstwort „Tenach” oder „Tanach” bezeichnet wird, Unterschiede in der Anzahl, in Umfang, Zuordnung und Reihenfolge der Schriften. Wichtiger als dies scheinen mir aber theologische Erwägungen. Der Begriff „Altes Testament”, der Ende des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts aufkam, ist ja nicht einfach willkürlich gebildet worden, sondern hat seinen Ursprung in den neutestamentlichen Schriften selbst, in denen bei Paulus und auch anderswo der Gedanke eines „Neuen Bundes” in Aufnahme des Wortes des Propheten Jeremia formuliert worden ist. Die Hebräische Bibel ist ohne Neues Testament zu erschließen, das Alte Testament nicht. Das Alte Testament ist erst im Neuen erschlossen und in christlichem Zusammenhang nicht anders als durch dieses zu verstehen. Der Begriff „alt” wird von manchen als pejorativ, als diskriminierend empfunden. Das mag man so oder anders sehen. Theologisch nützt es m.E. alles nichts: Das Alte Testament ist für uns Christen in der Tat das „alte” Testament, eben weil es das „Neue” Testament gibt. Martin Luther hat diese besondere Beziehungsstruktur von Gegensatz und Einheit beider Testamente stets betont. Das Alte Testament erhält seine Bedeutung für den Christen vom Neuen Testament her, das seinerseits im Alten Testament gegründet ist. Altes Testament zu sein ist in christlichem Zusammenhang also gerade kein abwertender Sprachgebrauch für den hebräisch abgefassten Teil unserer Bibel, sondern geradezu ein Ehrentitel. Denn das Alte Testament wird damit nicht einfach als nur vergangen und nur überholt verstanden. Es ist vielmehr im Neuen Testament aufgehoben, aufgehoben im dreifachen Sinne, so wie Hegel den Begriff verwendet hat: Aufgehoben in der Tat im Sinne von „ungültig geworden”: Der Weg zum Heil führt nicht über das Gesetz, sondern allein über den Gekreuzigten und Auferstandenen.

210

Das Alte Testament ist aufgehoben im Sinne von „bewahrt”. Es ist bewahrt als religiöse Heimat unseres Heilands und bewahrt als Teil der Geschichte Gottes mit uns Menschen. Und das Alte Testament ist aufgehoben im Sinne von „hinaufgehoben”, auf eine höhere Ebene des Verstehens gebracht. Die Hinwendung Jahwes zum Volk Israel wird zum Exempel der universellen Hinwendung Gottes zu allen Menschen. Das schließt die Juden nicht aus, sondern ein, denn, wie es im Römerbrief heißt: „Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er zuvor erwählt hat.” (Röm 11,2) Als Christen können wir die Worte der Jahreslosung nicht anders hören als vor dem Hintergrund der Botschaft von Jesus Christus, in der Gott sein Versprechen erfüllt hat. Die Beistandszusage Jahwes vor der Inbesitznahme des gelobten Landes bleibt religiös bedeutungslos für alle, deren gelobtes Land nicht geographisch lokalisierbar ist. Wenn ich Gottes Versprechen seiner dauernden Gegenwart aber so auffassen darf, dass sich dieses Wort in Jesus Christus endgültig erfüllt hat, dann wird die alttestamentliche Jahreslosung im Neuen Testament aufgehoben. Sie wird ungültig, weil unser gelobtes Land nicht jenseits des Jordans zu finden ist. Sie wird bewahrt, weil die Erinnerung lebendig bleibt, dass Gott in einem bestimmten geschichtlichen Moment Menschen, die sich ihm anvertrauten, tatsächlich auf ihrem Weg ins Unbekannte begleitet hat. Und sie wird hinaufgehoben, weil dieses Wort von Gottes bleibender Nähe zu uns in Jesus Christus seine Erfüllung gefunden hat. Dem Verfasser des neutestamentlichen Hebräer-Briefes jedenfalls war dieser Zusammenhang so wichtig, dass er unsere Jahreslosung aus dem Alten Testament für seine Leser direkt zitiert hat: „Denn der Herr hat gesagt: ‚Ich will dich nicht verlassen und nicht von dir weichen.’” (Hebr. 13,5b) Amen.

Predigt zum 2. Advent 2005 in der Frauenkirche zu Dresden Bischof Dr. Hans Christian Knuth Predigttext: Jesaja 63,15 – 64,3 So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich. – Bist du noch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, Herr, bist unser Vater; „Unser Erlöser“, das ist von alters her dein Name. – Warum lässt du uns, Herr, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten? Kehr zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind. – Kurze Zeit haben sie dein Volk vertrieben, unsere Widersacher haben dein Heiligtum zertreten. – Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde. – Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen, – wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kund würde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten. Eine Sehnsucht treibt uns voran, eine Hoffnung beflügelt unser Leben: Wir wünschen uns Glanz in dieser trüben Zeit, Licht in der Finsternis, Klarheit im Dunkel. Oft durchschauen wir die Dinge nicht mehr. In der Gesellschaft, in der Kirche, aber auch in der Familie. Und am schlimmsten ist es, wenn wir uns selbst dunkel und undurchschaubar werden. Wenn unser Herz verfinstert, unser Gedächtnis verschleiert, unser Gewissen trübe ist.

212 Die „neue Unübersichtlichkeit“ hat man das genannt. Unklare oder gar gestörte Beziehungen, ein dahindämmerndes Bewusstsein, fremdgesteuerte Prozesse, wenn überhaupt gesteuert, dann irgendwo in den Zentren der globalen Drahtzieher, aber nicht bei uns, nicht verantwortbar, nicht einsehbar. Ich glaube, ich muss das nicht weiter vertiefen! Die dunkle Folie des Lebens kennt jeder von uns auf seine Weise. Der Horizont unseres Daseins ist oft wie verbaut, der Himmel des Daseins ist uns verschlossen. So können wir unmittelbar nachempfinden, was der Prophet hier herausschreit: „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen!“ Dies ist eine der gewaltigsten Klagen in der Bibel überhaupt, die wir hier miterleben. Aber die Klage richtet sich nicht in erster Linie gegen andere; der Beter weiß, dass er selbst beteiligt ist an der Finsternis, an der Verstocktheit seines Herzens. Und sie richtet sich an den, über den geklagt wird! „Warum lässt du uns abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten?“ Die Christen haben dieses gewaltige Gebet um die Öffnung des Himmels aufgenommen und ihre ganze Sehnsucht nach dem Retter, dem Heiland aus diesem Jammertal mit diesem Symbol verknüpft. Es geht um die Wiederkehr des Glanzes in unsere Welt: „O Heiland, reiß die Himmel auf!“ Es ist diese Sehnsucht, die sich hier in dieser Kirche erfüllt hat. Die uns so unendlich glücklich macht über den Wiederaufbau dieser Kirche in Dresden. Es ist der Glanz, überirdischer Glanz, in dem Raum und in dem symbolischen Gehalt, den dieser Raum für unser Lebensgefühl bedeutet: Nicht mehr nur Schutt und Asche, nicht mehr Feindschaft zwischen Deutschland und England - eine gemeinsame Freude in Ost und West, dass das hier in Dresden jetzt möglich wurde, 60 Jahre nach dem Krieg.

213 So wie wir die Bombennächte in Hamburg und Hannover, in Berlin und Dresden auch als Gericht Gottes über den verbrecherischen Irrweg unseres Volkes erfahren mussten, so und in gleichem Atem dürfen wir ja nun auch den Wiederaufbau, die Wiedervereinigung, das neue Leben als einen Abglanz der Barmherzigkeit Gottes verstehen. Der Himmel hatte sich aufgetan, um die schreckliche und tödliche Bombenlast auf uns niederregnen zu lassen, und er tut sich heute auf, so dass wir die Güte Gottes neu schauen und erleben dürfen. Ja, wir dürfen davon reden, dass wir die Barmherzigkeit Gottes erfahren durften: Gott gibt uns noch einmal eine Chance. Liebe Schwestern und Brüder, in welche Tiefen das Schicksal seines Volkes den Propheten geführt hat, das wird uns deutlich an der Anfechtung, die ihn bis in den Atheismus führt. Gottesfinsternis ist das: „Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde“, so klagt er mit seinem Volk. Da hilft auch eine noch so gewaltige und reiche Tradition nicht weiter: „Abraham weiß von uns nichts und Israel kennt uns nicht!“ Diese Erfahrung, diese tiefe Anfechtung, dass der Vater des Glaubens, Abraham, dass Israel als von Gott erwähltes Volk nichts hilft, das ist die Erfahrung des Abgrunds, des Nichts. Dahin führt uns Gott. Und der Prophet wird schier zerrissen von der Frage, wie Gott das Elend seines Volkes zulassen kann. Abraham hatte doch Gottes Verheißung, Israel war doch von Gott erwählt, sollte das alles nicht mehr zählen? Nein, es gibt ein Gericht, es gibt ein Ende aller vertrauten Wege, da kann nur der totale Neuanfang weiterhelfen. Gott führt ins Nichts und er führt wieder heraus, und wer so zu Gott geführt wird, der wird in sein Nichts geführt. Das ist nicht theoretischer, blasser, ideologischer Atheismus, das ist Gottverlassenheit, Gottesfinsternis bis in die letzte existentielle Tiefe, aus der nur Gott selbst erlösen kann. Es ist ja wirklich vergleichbar, dieses Elend Israels und das Elend von Nachkriegsdeutschland: Der Tempel zerstört - das zentrale Heiligtum,

214 die Stätte der lebendigen Gotteserfahrung - und dann die innere Gewissheit der Gottesnähe: und das alles kann uns ja in jedem Moment wieder geschehen, auch dann, wenn wir in politisch dankbaren Verhältnissen leben, ja sogar inmitten des Glanzes dieser Kirche. Gemeint sind ja nicht nur die großen, die weltbewegenden Katastrophen, gemeint sind auch die privaten Zusammenbrüche, die tödlichen Krisen, bei denen es nicht nur darum geht, Probleme zu meistern, sondern radikal darum, sich selbst nicht zu verlieren, nicht ganz und gar unterzugehen im Strudel der Anfechtungen. Wenn plötzlich ernsthafte Krankheit nach uns greift oder nach denen, die wir lieb haben und die unser Leben bestimmen, wenn Beziehungen scheitern zwischen Eltern und Kindern, zwischen Eheleuten, im Beruf, wenn Lebenswerke zerstört werden wegen Insolvenzen oder brutaler Konkurrenz: Da kann es schon sehr leicht zu dieser Gottesfinsternis kommen, wir gehen dann durchs dunkle Tal, Gott scheint so fern zu sein. Aber gerade in dieser Situation wendet sich der Prophet mit seinem Gebet an den Gott, von dem er sich verlassen fühlt: „Warum lässt du uns, Herr, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten?“ Mit seinem ganzen Zweifel, mit seiner Sünde, mit seiner Gottesfinsternis wendet er sich an den, von dem er sich verlassen fühlt. Es ist schon ein Riesenunterschied, liebe Gemeinde, ob ich klage: „Wie kann Gott das zulassen?“, oder ob ich mich im Gebet an ihn wende und frage: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Luther hat das „die Flucht von Gott zu Gott“ genannt; er hat diese Anfechtungen selbst immer wieder durchlitten, und jeder weiß, wie schrecklich das sein kann, der es selbst erlebt hat, vom plötzlichen Unglück bis zur grundlosen Depression: Liebe Gemeinde, die Adventszeit erschöpft sich nicht in Plätzchenbacken und roten Schleifchen. Das ist eine Zeit, in der wir mit Ernst auf das Kommen Gottes warten. Und in der Gewissheit, dass wir nicht Illusionen nachhängen.

215 Wir hoffen – wie der Prophet – dass sich der Himmel auftut, dass Gott zu uns kommt. Und er kommt in diese Welt hinein, wird als Kind geboren, da beginnt der Himmel auf Erden, da gibt es Licht bei den Ärmsten der Armen, den Hirten auf dem Feld, da gibt es Licht durch den Stern von Bethlehem, da strahlt das Kind in der Krippe mitten in der kalten Nacht. Bei dem Kind, auf dessen Ankunft wir trauen, da beginnt der Himmel auf Erden, gerade weil es mitten unter den Menschen ist: in der Hektik, im Sog, im Druck. Bei dem Kind endet die Hölle auf Erden, hier wenden Menschen sich einander zu, auch wenn sie ausgeliefert sind an die Verhältnisse, an tödliche Bedrohungen, an den Tod. Das Kind geht mit uns im Strom der Menschen und der Geschichte. Es kommt auf die Erde, es geht mit in den Tod, aber auch ins Glück. Ins Leid, aber auch ins Leben. In der Erwartung seines Kommens, in der ernsten und warum dann nicht auch heiteren Adventszeit fällt auf alles, was wir erleben, der Goldstrahl der Liebe Gottes. Der himmlische Vater wird sich uns zuwenden, der Himmel reißt nicht nur auf für das Kind, sondern für alle, die seine Nähe suchen. Die Hölle der Verwahrlosung von Beziehungen, das Austrocknen der Gefühle füreinander, das alltägliche Chaos ungeordneter und unordentlicher Verhältnisse kommt an sein Ende. Der Krieg mit seinen Schrecken kommt an ein Ende. Wie es hier in Dresden eben auch heute nach 60 Jahren Versöhnung gibt zwischen den Feinden von damals. Die Mauer in den Herzen und Köpfen der Menschen in Deutschland wird weiter abgebaut wie die Mauer aus Beton. Obdachlose bekommen ein Dach über den Kopf, wie das Kind im Stall; Fremde und Heimatlose müssen nicht länger um ihr Leben zittern. Das alles und vieles Dunkle in der Welt wird nicht mehr passieren, wenn das Kind uns ergreift, aus dem der göttliche Schein leuchtet. Wir können gesund werden an Leib und Seele, wenn wir nicht blindlings durchs Leben hasten, sondern uns gegenseitig bergen und behüten, wie die Heilige Familie es tut.

216 Mitten im Gleichschritt autoritärer Herrschaft, wirtschaftlicher und technischer Zwänge, im Sog von kollektivem Leistungsdruck, SinnNeurosen und Depression, ethischer Überforderung und Wettlauf mit der Zeit reißt der Himmel auf und gibt sein strahlendes Licht frei. Liebe Gemeinde! Wir sind alle ergriffen von der besonderen Geschichte, die das goldene Kreuz auf der Kuppel dieser Kirche hat. Seit vielen Jahren habe ich regelmäßig Kontakt zu Partnern in der Kirche von England. Und bei jedem Treffen spielten die Berichte über die Entwicklung des Dresden Trust – also der Spendenvereinigung für Dresden – eine große Rolle. Man spürt es unseren englischen Freunden förmlich ab, wie sehr ihnen dieses Symbol der Versöhnung am Herzen liegt. Und dann hörten wir, dass der Goldschmied, der dieses herrliche Kuppelkreuz geschaffen hat, ein Sohn eines Bomberpiloten ist, der den Auftrag hatte, Dresden zu zerstören. Da ragt es nun in den Himmel von Dresden hinein, das Kreuz reißt ihn auf, gibt ihm seine Perspektive, das Kreuz als Symbol der Gewaltlosigkeit, der liebenden Hingabe des Lebens bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz, das Kreuz anstelle der todbringenden Bombenfracht: Es glänzt in feinem Gold. Gibt es ein tieferes Symbol dafür, dass der Prophet nicht umsonst gehofft hat, gibt es ein strahlenderes Zeugnis für die Realität dieser Hoffnung gegen alle Hoffnung, dieser Erfahrung gegen alle Erfahrung, dieser Nähe Gottes gegen alle Gottesferne als dieses glänzende Kreuz, das den Himmel von Dresden aufreißt und hinweist zu dem, der die Macht der Versöhnung und der Liebe ist? Und, liebe Schwestern und Brüder, nehmt das Kreuz auch mit hinein in den Himmel eures Herzens; wenn es dort finster ist, weil nur noch Sterben und Elend zu erleben ist, dann lasst auch das Kreuz eures Lebens strahlen in dem Glanz der Güte Gottes. Es bleibt zwar das Kreuz, aber

217 im Glanz der Liebe Gottes strahlt es wie vergoldet und wirft einen hellen Schein auch auf unser dunkles Herz. Amen.

Das Gottesurteil am Karmel Eine Predigt im akademischen Gottesdienst Martin Ohst Da trat Elia zu allem Volk und sprach: Wie lange hinkt ihr auf beiden Seiten? Ist der HERR Gott, so wandelt ihm nach, ist's aber Baal, so wandelt ihm nach. Und das Volk antwortete ihm nichts. Da sprach Elia zum Volk: Ich bin allein übriggeblieben als Prophet des HERRN, aber die Propheten Baals sind vierhundertundfünfzig Mann. So gebt uns nun zwei junge Stiere und laßt sie wählen einen Stier und ihn zerstücken und aufs Holz legen, aber kein Feuer daran legen; dann will ich den andern Stier nehmen und aufs Holz legen und auch kein Feuer daran legen. Und ruft ihr den Namen eures Gottes an, aber ich will den Namen des HERRN anrufen. Welcher Gott nun mit Feuer antworten wird, der ist wahrhaftig Gott. Und das ganze Volk antwortete und sprach: Das ist recht. Und Elia sprach zu den Propheten Baals: Wählt ihr einen Stier und richtet zuerst zu, denn ihr seid viele, und ruft den Namen eures Gottes an, aber legt kein Feuer daran. Und sie nahmen den Stier, den man ihnen gab, und richteten zu und riefen den Namen Baals an vom Morgen bis zum Mittag und sprachen: Baal, erhöre uns! Aber es war da keine Stimme noch Antwort. Und sie hinkten um den Altar, den sie gemacht hatten. Als es nun Mittag wurde, verspottete sie Elia und sprach: Ruft laut! Denn er ist ja ein Gott; er ist in Gedanken oder hat zu schaffen oder ist über Land oder schläft vielleicht, daß er aufwache. Und sie riefen laut und ritzten sich mit Messern und Spießen nach ihrer Weise, bis ihr Blut herabfloß. Als aber der Mittag vergangen war, waren sie in Verzückung bis um die Zeit, zu der man das Speisopfer darbringt; aber da war keine Stimme noch Antwort noch einer, der aufmerkte. Da sprach Elia zu allem Volk: Kommt her zu mir! Und als alles Volk zu ihm trat, baute er den Altar des HERRN wieder auf, der zerbrochen war, und richtete das Holz zu und

220 zerstückte den Stier und legte ihn aufs Holz. Und Elia sprach: Holt vier Eimer voll Wasser und gießt es auf das Brandopfer und aufs Holz! Und er sprach: Tut's noch einmal! Und sie taten's noch einmal. Und er sprach: Tut's zum drittenmal! Und sie taten's zum drittenmal. Und das Wasser lief um den Altar her. Und als es Zeit war, das Speisopfer zu opfern, trat der Prophet Elia herzu und sprach: Erhöre mich, HERR, erhöre mich, damit dies Volk erkennt, daß du, HERR, Gott bist und ihr Herz wieder zu dir kehrst! Da fiel das Feuer des HERRN herab und fraß das Brandopfer. Als das alles Volk sah, fielen sie auf ihr Angesicht und sprachen: Der HERR ist Gott, der HERR ist Gott! Elia aber sprach zu ihnen: Greift die Propheten Baals, daß keiner von ihnen entrinne! Und sie ergriffen sie. Und Elia führte sie hinab an den Bach Kischon und tötete sie daselbst (1. Könige 18, 21-40).

I. Liebe Gemeinde, der Name Elia, also Gott, mein Gott ist Jahwe, ist Programm. Er bezeichnet das eine, beherrschende Thema der geschichtlichreligiösen Denk- und Lernprozesse, die sich im Alten Testament niedergeschlagen haben: Jahwe ist der Gott Israels, Israel ist das Volk Jahwes. In dem Mann Elia hat also das beherrschende Leitmotiv des Alten Testaments gleichsam personifizierte Gestalt gewonnen. Elia hat sich der geschichtlichen Erinnerung als derjenige eingeprägt, der, hart gegen sich selbst und unerbittlich gegen andere, Eindeutigkeit gelebt und eingefordert hat. Und in dichtenden Erzählungen von ihm ist diese Forderung nach Eindeutigkeit mehrfach neu in den sich wandelnden geschichtlichen Situationen erhoben und eingeschärft worden. Es gibt gute Gründe für die Annahme, daß die Geschichte von der großen Götterprobe auf dem Berg Karmel, die ich eben vorgelesen habe, ein spätes Stück der Elia-Überlieferung darstellt: Im Wirken des „histori-

221 schen“ Elia, das sich im 9. Jahrhundert v. Chr. ereignet haben wird, ging es um die alleinige Verehrung Jahwes, des Herrn, des Gottes Israels. In unserer Erzählung ist dieses Thema abgewandelt, auf eine höhere Ebene gehoben: Es geht hier um die alleinige Existenz des Gottes Israels; alle die anderen Götter erweisen sich in der Konfrontation als bloße machtlose menschliche Phantasiegespinste. Dieser Gedanke, daß sein Gott, Jahwe, der einzige Gott schlechthin sei, ist dem Volk Israel erst in und nach dem babylonischen Exil des 6. Jahrhunderts zugewachsen, und da er das eigentliche Anliegen unserer Geschichte ist, wird diese erst in nachexilischer Zeit entstanden sein. Es handelt sich also um eine Lehrerzählung, die für das, was sie ihrer Gegenwart sagen will, längst vergangene Zeiten als Veranschaulichungsmaterial benutzt.

II. Die Geschichte beginnt mit einem Protestruf des Propheten: „Wie lange hinkt ihr auf beiden Seiten?“ Uneindeutigkeit macht er seinen Zeitgenossen zum Vorwurf. Sie haben sich ein ausgeklügeltes System der religiösen Absicherungen entworfen. Keinesfalls haben sie sich vom Herrn, von Jahwe, dem Gott des Auszugs aus Ägypten, dem Gott der Wüstenwanderung und der Landnahme, losgesagt. Aber das Leben besteht ja nicht nur aus geschichtlichen Erinnerungen und Erwartungen. Es beruht auf dem Kreislauf der Jahreszeiten, auf dem Widerspiel von Saat und Ernte, auf der Fruchtbarkeit von Mensch und Tier. Und hierfür steht der Gott Baal in seinen unterschiedlichen Erscheinungsweisen. Sein alljährliches Sterben und Auferstehen im Kultus seiner Verehrer symbolisiert und garantiert die natürlichen Lebensgrundlagen. Sicher, Jahwe ist für Frieden und vielleicht auch für Gerechtigkeit zuständig – aber für die Sorge um die Bewahrung der Schöpfung ist doch

222 Baal die vertrauenswürdigere Adresse. Und so haben sich die Israeliten in einem religiösen System des Sowohl-als-Auch eingerichtet: Für die unterschiedlichen Lebensbereiche sind unterschiedliche Götter zuständig. Die unausgesprochene Grundlage von alledem besteht in der Voraussetzung, daß es in der Religion zuerst und zuletzt um das menschliche Bedürfnis nach einem geschützten, gesicherten und bewahrten Leben geht. Dazu haben die Götter zu helfen – sei es durch Bewahrung vor und in geschichtlichen Katastrophen, sei es durch die Aufrechterhaltung der natürlichen Kreisläufe. Gegen diese Religion der individuellen und gesellschaftlichen Selbstabsicherung protestiert Elia: Es geht in der Religion nicht um menschliche Wünsche, Bedürfnisse und Ansprüche. Vielmehr hat Gott das erste Wort. Er ist der Herr, er setzt seinen Willen durch. Er läßt sich nicht in ein System menschlicher Bedürfnisbefriedigungen einspannen. Er will allein als Herr anerkannt werden! Das Volk, so unsere Geschichte, weiß darauf nichts zu antworten. Es schweigt betreten. Elia aber läßt den Worten Taten folgen. Er fordert die Baalspropheten zu einem Wettstreit heraus. Sie und er sollen jeweils einen Stier zum Opfer zubereiten. Und dann soll sich herausstellen, wer den wahren, lebendigen Gott anbetet und wer einem illusionären Wunschgespinst nachläuft. Zuerst sind die Baalspropheten dran: Sie bereiten ihr Tieropfer zu und beginnen dann mit rituellen Tänzen um den Altar ihren Gott um das Feuer, das Zeugnis seiner Existenz und seiner Macht, zu bitten. Er antwortet nicht, und je drückender sein Schweigen wird, desto wilder werden ihre Tänze. Elia schaut dem blutigen Ritual zu und gibt seine spöttischen Kommentare ab. Deren Drastik ist in der Luther-Übersetzung stark abgemildert, darum zitiere ich sie noch einmal nach einer moderneren Wiedergabe: „Ruft mit lauter Stimme, denn Gott ist er. Ja, er ist austreten gegangen und macht gewiß ein Geschäft. Ja wirklich, er mußte mal eben raus. Vielleicht schläft er ja auch und wird wieder erwachen!?“ – Immer wilder werden die rituellen Tänze. Die Mittagssonne scheint sengend auf

223 die Szenerie, und zur Nachmittagszeit ist nach Stunden erfolgloser Bemühung die Kraft der Baalspropheten erschöpft. Sie geben auf. Und nun schlägt die Stunde des Elia. Auch er bereitet seinen Opferstier zu. So sicher ist er sich seiner Sache, daß er das Opfer noch mit großen Wassermengen übergießen läßt. Dann spricht er ein kurzes, klares Gebet, und sogleich fällt Feuer vom Himmel – das Opfer geht in Flammen auf, und, von der Macht unzweideutiger Tatsachen bezwungen, legt das Volk nun ein eindeutiges Bekenntnis ab: „Der HERR ist Gott, der HERR ist Gott!“. Und in dieses Bekenntnis stimmen auf ihre Weise auch die Widerlegten mit ein. Sie müssen jetzt unter der Macht eindeutiger Tatsachen dran glauben: Sie lassen sich, so malt es unsere Geschichte, von Elia an einem nahen Bach willig abschlachten – genau den terminus technicus dafür verwendet der hebräische Text. Auf diesen doppelten Schluß läuft die ganze Geschichte zu. Elia, der Mann der Eindeutigkeit, hat klare Verhältnisse geschaffen. Die Macht der Tatsachen hat unwiderleglich bewiesen, wer Gott, wer allein Gott ist. Und dem muß sich jeder auf seine Weise fügen: Die zuvor auf mehrfache Absicherungen Bedachten bekennen sich zum einen Gott und nur zu ihm; die konsequenten Gegner folgen ihrer Illusion in die Vernichtung und in den Untergang.

III. Liebe Gemeinde, wie gesagt: Wir haben hier Dichtung vor uns. Sie schildert nicht die Welt, wie sie ist, sondern sie malt aus, wie die Welt sein soll: Gott greift ein. Er zerreißt das Gewirr all der Inkonsequenzen und Vieldeutigkeiten. Das Dämmerlicht, in welchem die Grautöne bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander zerfließen, macht der Mittagshelligkeit Platz, in der die klaren Kontraste für eindeutige Konturen und Bilder sorgen. Gott herrscht, und im Bannkreis seiner Herrschaft gibt es zwi-

224 schen Unterwerfung und Untergang kein Drittes mehr. Es ist ein faszinierendes Bild, in dem sich die Sehnsucht der nachexilischen Israeliten nach Eindeutigkeit Ausdruck verschafft hat. Auf den ersten Blick ist uns diese Geschichte weltenfremd; allein schon der schwere, durchdringende Blutgeruch, der über ihr liegt, ist uns ekelhaft. Er macht es uns leicht, innerlich auf Distanz zu gehen. Aber so fremd, wie wir es vielleicht gern möchten, ist diese Geschichte uns doch auch wieder nicht. Sicher, wir bekunden oft und gern spöttisch oder zornig unser Mißfallen an den Vereinfachern, die die Welt schnellfertig und eindeutig in Bereiche des Guten und des Bösen aufteilen wollen und sich selber als die berufenen Sachwalter des Guten und seiner Durchsetzung aufwerfen. Wir halten uns ihnen gegenüber viel zugute auf unsere Toleranz und unser Verständnis für alles Fremde. Aber wenn wir uns dabei mal selber zusehen, dann werden wir gewahr, daß wir sehr schnell, gleichsam unmerklich, in ein sozusagen seitenverkehrtes, aber strukturell gleichartiges Denken verfallen. Uns werden unter der Hand die selbsternannten Vorkämpfer von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten zu Agenten einer finsteren Verderbensmacht, der gegenüber wir dann wieder als die Vorkämpfer des Guten dastehen. So konstruieren auch wir uns immer wieder unsere Art von Eindeutigkeiten. Wir wollen klare, eindeutige Unterscheidungen, und wir sehnen uns nach dem Sieg dessen, was wir für gut halten. Gott machen wir oftmals, insgeheim oder offen, einen Vorwurf daraus, daß er uns diese Eindeutigkeit versagt. Theologisch Unverbildete, etwa Konfirmanden, können so etwas mit herzerfrischender Offenheit auf den Begriff bringen: Wie kann man in einer Welt an Gott glauben, in der man von Gottes Herrschaft und von seinem Heil so verzweifelt wenig wahrnimmt? Wie kann man in einer Welt an den einen Gott glauben, in der sich fort und fort Menschen im Dienst an den falschen Göttern verzehren und andere Menschen diesen falschen Göttern opfern? Müßte er nicht viel eindeutiger sein Nein sagen zu alledem? Müßte er nicht einschreiten

225 und dem tödlichen Wahnwitz Einhalt gebieten, wenn er sich uns wirklich als glaubwürdig erweisen wollte? Wie gesagt, wir sagen das vielleicht nicht mit dieser Offenheit. Aber beschleichen tun uns solche Gedanken zumindest doch.

IV. Liebe Gemeinde, wenn wir das in Rechnung stellen, dann betrachten wir dieses Bild der Eindeutigkeit, das uns die Geschichte vom Sieg des Elia über die Baalsverehrer vor Augen malt, mit einer schwer entwirrbaren Mischung aus Faszination und Skepsis. Zu dem Ja, das sich uns auf die Zunge drängt, gesellt sich immer ein „Aber“, und auch ein Nein müßten wir immer mit einem solchen „Aber“ versehen. Die Eindeutigkeit, die Elia schafft, fasziniert uns, und sie stößt uns doch zugleich auch ab. Der tiefste Grund für diese Ratlosigkeit liegt darin, daß uns als Christen dieses Bild von der Eindeutigkeit Gottes und seiner Herrschaft in Jesus Christus unauslöschlich durchkreuzt ist. Auch er hat den einen Gott verkündigt, und auch er hat auf Eindeutigkeit gedrängt. Auch er hat die Halbherzigkeiten und die religiösen Mehrfachabsicherungen unerbittlich beim Namen genannt: „Niemand kann zwei Herren dienen: entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ – das bleibt an Eindeutigkeit keinen Millimeter hinter Elia zurück. Und was das heißt, allein den einen Gott zu verehren, das hat er mit einer Radikalität ausgesprochen, welche die des Elia weit hinter sich läßt: „Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu

226 euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“.

V. Ein Unterschied allerdings besteht. Jesus zwingt niemanden in den Glauben und in den Gehorsam hinein – auch nicht durch die Macht der Tatsachen. Die Möglichkeit, sein Recht durch äußerliche Machterweise eindeutig geltend zu machen und durchzusetzen, hat er als Einflüsterung des Teufels abgelehnt. Der Gott, dessen Liebe er verkörpert, will nicht den gezwungenen Gehorsam dessen, der von der Macht der Tatsachen überwältigt ist, sondern er wirbt um freie, ungezwungene Zustimmung. Er will Menschen, die ihn in Geist und Wahrheit anbeten, Menschen, die aus unerzwingbarer, innerer Überzeugung zu ihm ihr persönliches, wahrhaftiges Ja sagen und aus diesem Ja heraus frei ihr Leben gestalten. Wie bei Elia ist dann auch bei Jesus die Frage nach dem wahren Glauben eine Frage auf Leben und Tod. Aber sie wird hier anders entschieden. Nicht die Männer des herrschenden Religionssystems oder der von ihnen aufgeputschte Pöbel müssen sterben. Und die römischen Soldaten haben nach allem, was wir wissen, ihr Leben nach der Kreuzigung weiter geführt, als wäre nichts Besonderes geschehen. Sterben muß auf jenem anderen Berg vielmehr derjenige, der um die freie Zustimmung zu der von ihm gelebten Eindeutigkeit geworben hat. Sein qualvoller Tod setzt das letzte bestätigende Siegel unter seine Botschaft und sein Handeln, mit denen er Gottes wehrlose, allein um freie Zustimmung und Anerkennung werbende Liebe verkörpert hat. Und seine Auferweckung ändert daran nichts. Sie setzt ihn nicht spektakulär, für jedermann sichtbar gegenüber seinen Verfolgern und Peinigern ins Recht. Sie erschließt sich allein denjenigen, die in freier Weise dessen

227 innewerden, daß Gott zu seinem Wort und zu seinem Geschick durch den Tod hindurch sein Ja gesprochen hat. Im Geist erschließt er sich als Gottes eindeutiges Wort an uns und befreit uns zur Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit. Im Geist schenkt er sich als unser Weg zum Vater, auf dem er uns zu seiner Wahrheit befreit und zum ewigen Leben führt. Hierin zeigt er uns den wahren Sinn unseres Lebens. Hierin haben wir die eindeutige Grundlage und Zielvorgabe unseres Lebens, an der wir uns selbst mitsamt allen unseren sonstigen Wünschen und Zielen ausrichten können. Diese Eindeutigkeit, die uns der Geist im Glauben schenkt, überwältigt uns nicht durch die Macht der Tatsachen. Sie unterwirft sich auch nicht dem Urteil der Tatsachen. Wir haben sie allein im Glauben, der sich an den Gekreuzigten und Auferweckten hält, und darum ist sie ebensowenig sichtbar wie ihr Grund: Sie ist „verborgen mit Christus in Gott“ (Kol 3,3). Aber sie ist dennoch wirksam: Sie macht uns frei von den Göttern, die über uns und unser Leben herrschen wollen. Weil sie uns ewigen Grund und Bestand in Gottes Liebe und Treue zusagt, befreit sie uns von der Angst um uns selbst. Sie befreit uns von dem Zwang, uns selber immer an die erste Stelle zu setzen, uns selber durchsetzen zu müssen. Sie zeigt uns klar und deutlich unsere Stärken und Vorzüge, und sie zeigt uns ebenso deutlich unsere Schwäche und Bedürftigkeit: Wir müssen uns selbst nichts vorspielen und wir müssen uns nicht vor uns selber verstecken. Das alles geschieht nun nicht einfach so auf einen Schlag. Es handelt sich vielmehr um einen lebenslangen Prozeß, der in jedem einzelnen Christenleben seine ganz eigenen Phasen und Verläufe hat. In jedem von uns erkämpft sich Gott auf ganz eigene Weise seine Herrschaft gegen die Götter. Wer sein Leben unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, der wird nicht bei der Anklage stehenbleiben, daß Gott in unserer Welt nicht spürbar genug wirkt. Er ist alles andere als ein stummer Zuschauer; er überläßt uns keinesfalls uns selbst. Er dringt auf uns ein in seinem Wort, er weist uns zurecht, er tröstet uns und er ermutigt uns. Er lädt uns ein, mit allem, was uns belastet, im Gebet zu ihm zu kommen, und wo unsere

228 Worte versagen, da hilft sein Geist uns aus. Und löst er uns immer mehr aus dem Dienst all der Götter heraus und zieht uns zu sich – bis wir ihm dann nach diesem Leben ganz und gar in Freiheit angehören. – Amen.

Predigt am 13. 3. 2005 (Judika) in der Gutleut-Kirche Frankfurt am Main Wolfgang Nethöfel Liebe Gemeinde, der Predigttext des heutigen Sonntags steht im Alten Testament, im 1. Buch Mose, der Genesis, im 22. Kapitel. Oft wird empfohlen, bei der Predigt auf das Evangelium auszuweichen, das wir eben gehört haben. Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, hören da: „Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele.“ (Markus 10, 45). Hier hingegen hören wir eine grauenvolle Geschichte sklavischen menschlichen Gehorsams, in der ein Vater seinen Sohn opfern will. In unserer evangelischen Tradition erscheint Abraham auch wegen dieser Geschichte als „Vater des Glaubens“. In islamischer Tradition weiß der Sohn – es ist nach der Koranüberlieferung der Älteste, also Ismael –, was ihn erwartet. Hier liegen er und Abraham am Schluss nebeneinander auf den Knien, die Stirn auf dem Boden. Sie ergeben sich in Gottes Willen, das eben heißt: Islam. Und daher werden sie erhöht werden, wie das den Jüngern in unserem Evangeliumstext auch als Belohnung vorschwebt. Aber ist das Glaubensgehorsam? Hier sträubt sich etwas in uns. Wo immer diese Geschichte tief empfunden wurde, wie in den Rembrandtbildern, klagt jenes nackte Grauen, das Abraham im Gesicht gestanden haben muss, für ewig den an, der so etwas befiehlt… Wir können heute: nach dem blinden Gehorsam gegen einen Ver-Führer niemandem mehr so gehorchen. Auch Gott nicht. Blicken wir auf die Geschichte des Christentums, des religiösen Fanatismus, so müssen wir ja eigentlich sogar sagen: gerade Gott sollte man so nicht gehorchen. Wir selbst sind und bleiben verantwortlich für das, was wir tun. Gandhi hat einmal gesagt: Achtet auf die Mittel. Die großen Ziele sorgen für sich

230 selbst. Und es gibt kein Ziel, das dieses blutige Mittel rechtfertigen könnte. Heute wissen wir das. Aber woher wissen wir das? Ich behaupte: nicht zuletzt durch diese Geschichte. Im besseren Islam ist man nicht irgendwem, sondern Gott „dem Allerbarmer“ gehorsam. Genauso wie im Judentum hat man dort die Geschichte immer unter dem Aspekt gelesen, dass Gott sich hier ja als Retter und Bewahrer des Erben erweist. Und man weist zu Recht auch daraufhin, dass er sich als der zu erkennen gibt, der durch Tieropfer das einstmals auch praktizierte Menschenopfer ablöste. Man muss diese Geschichte als von hinter her, vom Ende her verstehen. Die Exegeten bestärken uns dabei. Die Leser und Hörer von damals wussten, dass Gott das ganze Volk so „versuchte“ wie hier Abraham. Bei der Offenbarung der 10 Gebote fürchtet sich das Volk wegen der Nähe Gottes. Mose erklärt, mit eben mit dieser Furcht stelle Gott das Volk auf die Probe, damit es krisenfest, d.h. in rechter Weise gottesfürchtig werde. Es geht um die Bewahrung des Gottvertrauens in tiefen Krisen. Die Geschichte wurde von Menschen erzählt, die solche Krisen überwunden haben, und sie ist eigentlich auch nur von solchen Menschen recht zu verstehen. „Nach diesen Geschichten wollte Gott den Abraham prüfen“, heißt es zu Beginn. Die Leser wussten also schon durch die Überschrift, dass es gut ausgehen würde. Das ist nicht das Thema. Isaaks Halbbruder Ismael wurde kurz zuvor auf Gottes Geheiß gegen den anfänglichen Protest Abrahams mit seiner Mutter Hagar in die Wüste geschickt. Als er zu verdursten droht, greift auch da Gott durch den Engel ein. Und Hörerinnen und Hörer wissen: Abraham und Sara wurden schon am Hain Mamre versucht durch jene drei geheimnisvollen Männer, die Isaaks Geburt vorhersagten. Wir sollen die Geschichten von hinten her lesen. Die Vorbilder unseres Glaubens an diesen Gott lernten erst durch solche Krisen hindurch, dass Gott sie nicht verlassen wird. Auch nicht in Krisen, in denen sie selbst ihr Vertrauen an nichts mehr festmachen konnten: Vor allem nicht mehr an

231 den Gott, an den sie zuvor geglaubt hatten und den sie zu kennen glaubten. Die christliche Deutung dieses Textes schließt sich hier ebenso an, wie der berechtigte Protest gegen ihn. Er ist zum Predigttext des heutigen Sonntags geworden, weil Christus als jener Widder: als das Lamm gedeutet wurde, das unschuldig den berechtigten Zorn Gottes für unsere Schuld auf sich lädt. Es nimmt stellvertretend die Strafe für unsere Sünden auf sich und ist an unserer Stelle gehorsam bis in den Tod. Aber in der Tiefe des christlichen Verständnisses kippt auch diese Deutung – und sie wird anschlussfähig, ja sie wird selbst zum Ausgangspunkt des berechtigten Protests auch gegen dieses Gottesverständnis. Gott offenbart sich nur als der Retter, nur durch diese Verwandlung des traditionellen Bildes vom allmächtigen, vom gerechten und rächenden Gott hindurch. Er versucht uns auch nicht „in Wirklichkeit“. Er ist, er bleibt bei uns in der Not, ja im Tod. Er ist solidarisch mit uns. Er ist ganz in Christus. In ihm leidet er mit uns und für uns. „Gott selbst ist tot“, heißt es im Kirchenlied. Und Luther sagt, dass sich Gott am Kreuz unwandelbar als der zu erkennen gibt, der er wirklich ist. Es ist diese solidarische Liebe, die letztlich die Welt in Händen hält. Das, liebe Gemeinde macht frei – auch zum Protest. Als die so durch Gott selbst Befreiten, protestieren wir gegen die Forderungen, einem unmenschlichen Götzen sklavisch bis zum Mord gehorsam zu sein. Ja, wir protestieren gegen den Opfergedanken. Und heute sowieso auch gegen Tieropfer. Aber diese Freiheit, nur diese macht uns auch in der Nachfolge seiner Liebe frei zu neuem Gehorsam. Immer wieder erfahren wir ja auch, dass wir frei werden, uns neu unserem Mitmenschen zuzuwenden, wenn wir das von uns selbst nicht mehr geglaubt haben. Mit dieser Freiheit, die er uns geschenkt hat, wendet uns auch Gott wieder zu sich. Der Evangeliumstext den wir eben gehört haben, macht deutlich, wie und warum dieses Bild Gottes sich auf Jesus selbst berufen kann – und wa-

232 rum ich über diesen Text ebenso hätte predigen können wie über diesen alttestamentlichen Text. Er führt das Nachfolgeverständnis und das Gottesverständnis derer, die ihm nachfolgen in die Krise – und erführt sie wieder hinaus, indem er sie wegführt vom Bild eines allmächtigen Gottes, der auch seine Anhänger allmächtig macht, wenn sie nur gehorsam sind. Er weist sie auf den Weg der dienenden Liebe, die frei macht. Wo wir wissen, was wir tun und wie wir es tun: als Weg, den Gott will und als Weg, der endlich zu ihm führt. Lassen Sie mich daher mit einer jüdischen Geschichte schließen. Nach Auschwitz sitzen die Rabbis über Gott zu Gericht. Durfte er das zulassen? Sie diskutieren einen Tag und eine ganz Nacht. Gegen Morgen kommen sie einstimmig zu dem Urteil: Gott ist schuldig. Dann erhebt sich einer von ihnen, schaut zum Fenster und sagt: „Die Sonne geht auf. Zeit zum Morgengebet.“ Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

Statt eines Nachwortes Jörn Thiessen Wir sprechen über den Anfang der 1980er Jahre. Wir sprechen über Kiel, die Christiana Albertina und die Olshausenstraße hinten rechts. Und über die große, weite Welt, die sich hier für jemanden auftat, der gerade noch die Schultheatergruppe an der unteren Westküste besucht und mit deren Hilfe ein halbwegs anständiges Abitur incl. des Graecums hinter sich gebracht hatte. Neue Heimat: Kieler Kloster. Ziel: Nach dem ersten Semester sprachfrei sein und so schnell es ging in die Zwischenprüfung. Nach dem Einscheiben und dem ersten und definitiv letzten Besuch der Mensa an den Fakultätenblöcken (Blechtabletts!) öffnete sich im ersten Block hinten links ein großer Raum, ein noch größeres Staunen ob der Masse der Lernwilligen hob an - und es emanierte Dr. G. Warmuth. Der zweite Hebraist meines Lebens. An den ersten, meinen Religionslehrer mit dem schönen Namen Dr. Heide, hatte ich beste Erinnerungen und so hatte Dr. W. schon einen entscheidenden Vorsprung vor den anderen Lehrern, die mir in den kommenden Semestern zu meinem großen Wohle zugewachsen sind. Was war das für eine Fakultät! Die Professores Maron und Wölfel, Scharfenberg und Kraft, Metzger und Luck, Becker und Birkner et al., die mir im vorgerückten Alter bereits aus dem Gedächtnis geschwunden sind. Doch mein Schiboleth war zunächst der Jubilar. Wie ich heute mit sachtem Erschrecken feststellen muss, nur ein dutzend Jahre älter – aber welch Unterschied zu meinen durchaus verehrten Itzehoer Paukern. Mit erfahrener, menschenfreundlicher Gelassenheit stand da ein Mann vor dem in großer Zahl und noch größerer Verwirrung angetretenen, besser in U-Form abgesessenen Publikum und begann mit einer zögerlich vorgebrachten Erklärung zum künftigen Lern-Verfahren. Er, so G. W., habe die feste Absicht, diesen Kursus nicht per Du anzusprechen, sondern formge-

234 mäß zu siezen. Ihm schien dies etwas schwer zu fallen, mich indes hätte jede andere Umgangsform in schwere Wasser gestürzt, da ich nicht lange vor Aufnahme meines Studiums einer damals noch durchaus großen Volkspartei beigetreten war und mich in deren Reihen mit täglicher Müh und Qual an die Duzerei erst noch gewöhnen musste. Wenige Monate nach Beginn des Kurses bei Dr. G. W. hatte ich mich dann an zweierlei angepasst: Ich duzte bereits als stellvertretender Landesvorsitzender der Jusos Gott und die Welt in Schleswig-Holstein und darüber hinaus und blieb mit meinem Hebräisch-Lehrer beim Sie, das wir bis heute anwenden würden, so es denn zu einem durchaus angestrebten Wiedersehen käme. Die zweite Neuerung musste schon etwas länger Einzug gehalten haben, da sind meine Meme blass, aber es ging um katav und katal, und ich bin stets froh gewesen, nach dem Schreiben und nicht dem Dolchen die Verben durch die Gegend zu beugen. Georg Warmuth darf für seine Schülerinnen und Schüler nicht verantwortlich gemacht werden. Für das Erlernen des Bekadkefat, des dagesch lene, der Hitpa´els und Hof´als jedoch, da zeichnet er mit Autorität und in meinem etwas abseitigen Falle durchaus mit nachhaltigem Erfolg. Ich gestehe ein, dass mein Studium der evangelischen Theologie sich über lange Jahre erstreckte, dass ich im Laufe der Zeit viele Scheine der Systematik und Kirchengeschichte errang, dass mich vor allen anderen Lehrern die Professoren Maron (der jüngst leider verstarb) und Wölfel mehr geprägt haben als alle anderen. In Konkurrenz zu Dr. Warmuth standen sie nie und er nicht zu ihnen. Das warmuth´sche Hebraicum war mit Fug und Recht das erste Papier, mit dem ich die Zahlungen meiner Eltern rechtfertigen konnte – ein Nachweis durchaus angestrengten Bemühens, da mir trotz zweier Schulsemester Russisch die vermaledeiten Buchstaben so recht nicht zufliegen wollten. Welch eine friedliche, doch mahnende Geduld bewies Georg Warmuth! Nie überheblich ob seines allumfassenden Wissens über die Gründe und Abgründe dieser wunderbaren Sprache, nie anbiedernd, doch offen freundlich säte er uns die No-

235 mina mit veränderlichem Sere in Köpfe und bei gutem Erfolg auch ins etwas längere Gedächtnis. Das gesamte Kieler Kloster meiner Jahre in der Landeshauptstadt, nebst der Nordischen Burse und anderen, eher abgelegenen, studentischen Behausungen war von seinem austrischen Geist, der nefesch seiner Zweitsprache geprägt und sein Lob wollte in unseren Kreisen nicht verklingen. Das Kieler Kloster hat ihm regelmäßig dafür Tribut gezollt, doch dies fällt unter jenes Geheimnis, das auch ich als später durchaus Ordinierter bis heute zu wahren habe. Georg Warmuths wurde ich viel später noch einmal eingedenk, als ich zwar das Zeugnis über einst erworbene Kenntnisse der hebräischen Sprache in Händen, doch auf den ersten Blick nichts mehr davon im Sinne hielt. Zu halten schien! Denn neben dem unvermeidlichen Jenni hatte ich ein „Lehrbuch nach Georg Warmuth“ selbst verfasst, handschriftlich mit dem alten Pelikan aus Schülertagen. Und nun, vor dem ersten kirchlichen Examen, nach Jahren in der Fremde, dann in der Staatskanzlei zu Kiel, mit dem Kopf schon im Gefolge des Ministerpräsidenten Richtung Bonner Kanzleramt unterwegs – da nun die zweite Emanation. Erschienen zu Hassee, im bitteren Jahr meines uneingeschränkten Lernens auf das Examen zu: Georgus redivivus, mein Lehrer, sein Lehrbuch. Prüfung geschafft. Beim zweiten Kirchlichen beschränkte ich mich dann auf das Thema der „Auferstehungshoffnung im Alten Testament“ und konnte so das Volumen der auswendig zu lernenden Textstellen verträglich begrenzen. Wie gesagt: Georg Warmuth ist für seine Schüler nicht verantwortlich zu machen. Aber Dank kann ihm leicht von denen abgestattet werden, die das große Glück haben, sich heute noch gelegentlich mit der Sprache und dem Denken der Tora beschäftigen zu dürfen. Ich sage dürfen, denn mir ist das ob danach irrender, aber schöner Lebenswege heute aus Gründen mangelnder Zeit kaum noch möglich. Meine Kinder wollen keine Theologie studieren, ich kenne kaum noch Pastoren, die biblia hebraica steht in den höheren Regalen und wird selten zur Hand genommen. Aber das

236 Gute zum Schluss: Seit auf meinem Telephon das neue App „WordPower“ installiert ist, lerne ich fast jeden Tag zehn neue Ivrit-Vokabeln – und das auch unpunkiert, wie sich versteht. So wirkt das segensreiche Wirken des Dr. G. W. bis in meine heutige Wirklichkeit hinein, die mich in Sachen Sicherheitspolitik in manche entfernte Länder trägt – und sollte ich einst die „Rente mit 70“ sub conditione jacobea genießen dürfen, dann melde ich mich flugs zu einem Auffrischungskursus bei Georg Warmuth an. Ad multos annos!

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Jerusalemer Texte Schriften aus der Arbeit der Jerusalem-Akademie herausgegeben von Hans-Christoph Goßmann Band 1:

Peter Maser, Facetten des Judentums. Aufsätze zur Begegnung von Christen und Juden sowie zur jüdischen Geschichte und Kunst, 2009, 667 S.

Band 2:

Hans-Christoph Goßmann; Reinhold Liebers (Hrsg.), Hebräische Sprache und Altes Testament. Festschrift für Georg Warmuth zu 65. Geburtstag, 2010, 237 S.