Schriften 1949 - 1954: Herausgegeben von Peter Gostmann und Claudius Härpfer 9783658377359, 9783658377366, 3658377356

Albert Salomon (1891-1966), deutsch-jüdischer Soziologie und Herausgeber der Zeitschrift "Die Gesellschaft", w

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Schriften 1949 - 1954: Herausgegeben von Peter Gostmann und Claudius Härpfer
 9783658377359, 9783658377366, 3658377356

Table of contents :
Vorwort: Albert Salomons janusköpfiges Denken - Subjekt und Welt in doppelter Perspektive
Inhaltsverzeichnis
Zur Sozialtheorie der RevolutionÜ
I. Über den Begriff der Revolution
II. Zur Beschreibung von Revolutionen
III. Die Herrschaftselite und die Entfremdung der Beherrschten
IV. Die intermediären Akteure
V. Die revolutionären Klassen
VI. Fanatiker – Führer – Regenten
VII. Die Intellektuellen
VIII. Terrorismus und Cäsarismus
IX. Das Militär
X. Weltkrieg und Weltrevolution
XI. Revolutionen in Altertum und Moderne
Goethe – im Jahr 1949Ü
Goethes Idee der GesellschaftÜ
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
Propheten, Priester und Sozialwissenschaftler
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
Demokratie und Religion im Werk des ErasmusÜ
Franz Rosenzweig: Eine Philosophie jüdischen DaseinsÜ
In memoriam Milton SteinbergÜ
Soziologie und DichtungÜ
I.
II.
III.
Die Ordnung der Welt und die Verantwortung des GelehrtenÜ
Die Soziologie und der totale StaatÜ
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
Don Quijotes soziale MissionÜ
Der Aufbau der Gesellschaft aus Symbolen und BildernÜ
I
II
III
IV
Personenverzeichnis

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Albert Salomon Werke | 4

Albert Salomon

Schriften 1949–1954 Herausgegeben von Peter Gostmann und Claudius Härpfer 2. Auflage

Albert Salomon Werke Band 4 Reihe herausgegeben von Peter Gostmann, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Hessen, Deutschland Claudius Härpfer, RWTH Aachen, Aachen, Nordrhein-Westfalen, Deutschland

​ lbert Salomon (1891–1966), deutsch-jüdischer Soziologe und Herausgeber der A Zeitschrift „Die Gesellschaft“, war nach seiner Emigration 1935 Professor an der New School for Social Research in New York, wo er in alteuropäischer Tradition eine humanistische Soziologie begründete. Diese fünfbändige textkritische Edition ist die erste Ausgabe seiner gesammelten Werke.

Albert Salomon  

Schriften 1949–1954 Herausgegeben von Peter Gostmann und Claudius Härpfer unter Mitarbeit von Tom Kaden und Gerhard Wagner mit einem Vorwort von Thomas Meyer

Autor Albert Salomon New York, USA

Hrsg. Peter Gostmann Goethe-Universität Frankfurt am Main Frankfurt am Main, Deutschland Claudius Härpfer LS Technik- und Organisationssoziologie, RWTH Aachen Aachen, Deutschland

Albert Salomon Werke ISBN 978-3-658-37735-9 ISBN 978-3-658-37736-6  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-37736-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien ­Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Cori Antonia Mackrodt Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort: Albert Salomons janusköpfiges Denken - Subjekt und Welt in doppelter Perspektive

Albert Salomon war als Soziologe Philosoph und als Philosoph Soziologe. Er gehörte zu einer Generation in Deutschland geborener jüdischer Denker, die mit einem Wort des mit ihm von 1939 bis 1949 an der New School in New York lehrenden Leo Strauss zu den „janusköpfigen“ zählten.1 Der Blick in zwei Richtungen war nicht der Ausdruck einer Ambivalenz oder Unschärfe, sondern lässt sich, wiederum mit Strauss begriffen, als eine ausdrückliche Reaktion auf die Bedingungen der Moderne verstehen – einer Moderne, deren gegebene Ausdifferenzierung nicht bloß von außen festgestellt werden konnte, sondern die eine neue Form der Selbstreflexion auslöste und auf diese Weise die Kategorien für die eigene Weltsicht mitgab. Ergebnis der Selbstreflexionen war das ,Subjekt‘, das ganz im Sinne einer Selbstermächtigung nach dem Einheitspunkt in der Welt suchte, für den es sich selbst schon immer hielt. Die in diesem Band versammelten Texte Salomons sind zuallererst Auseinandersetzungen mit der Frage, in welchem Verhältnis Subjekt und Welt stehen. Die Frage wird, und hier trennen sich Salomons und Strauss’ Wege, zu einer Frage, die in sich selbst historisch ist und an historischem Material geprüft wird. Auch dies ist kein Selbstzweck für Salomon, vielmehr die Folge einer Denknotwendigkeit. Denn das Nachdenken hat sich, wenn es sich denn schon auf den Kollektivsingular ,Geschichte‘ bezieht, genau zu prüfen, ob es ihm um ,Geschichte‘ im Sinne einer deutenden Erzählung oder um vermeintlich bloße ,Ereignisse‘ geht. Für Salomon war solches Nachdenken über Geschichte und Ereignisse stets nur in einem Medium, also vermittelt, möglich. Dies umso mehr,

1Leo

Strauss kam in verschiedenen Briefen auf diesen Begriff zurück. Es war Alfred Schütz, den er bevorzugt als ,janusköpfig‘ ansprach. V

VI

Vorwort: Albert Salomons janusköpfiges Denken

da Geschichte und Ereignis selbst nicht vermittelt, also ,fern‘ waren, sondern direkt trafen, um dessen Verhältnis es gehen sollte: das Subjekt und die Welt. Exemplarisch zeigen das die beiden Goethe-Aufsätze aus dem Jahr 1949. Der im Jewish Frontier ist Walter Benjamin gewidmet. Die Widmung ist symbolisch im umfassenden Sinn. Benjamins Todesjahr 1940 spiegelt die beiden Jubiläen des Weimarers. Es ist die Achse, um die Salomons Deutungen sich drehen. Denn natürlich war auch er in dem von den beiden Historikern Werner E. Mosse und Arnold Paucker so apostrophierten „Entscheidungsjahr 1932“2 einer derer, die Goethes und seiner gesellschaftlichen Rolle gedachten. Und so stehen mit Benjamin und mit Goethe sowohl die Frage nach dem deutenden Subjekt, nach seinem Verhältnis zur Welt, als auch die der Geschichtlichkeit und der mit ihr verbundenen Vorstellung von Kontinuität im Raum. „Die Jahrhundertfeier des Todes im Jahre 1932 erkannte die Souveränität seines majestätischen Geistes und seine Existenz als Symbol menschlicher Unabhängigkeit und geistiger Freiheit in einer Welt, die mehr und mehr die Möglichkeiten solchen Daseins ausschloss. Im Jahre 1949 erleben wir Goethes Weisheit und Existenz als universale menschliche Natur.“3 Der Rückblick lässt zunächst die Achse außer Acht, es wirkt ganz so, als solle im Namen Goethes genau jener Moment – der Selbstmord Walter Benjamins auf der Flucht vor den Nationalsozialisten – über-dacht werden. Doch es gehört zu Salomons fließender, bildungsbürgerlich anmutender Prosa, dass er solche Disruptionen und Disseminationen nicht namhaft macht, nicht ausführt. Stattdessen müssen sie über Begriffe und ihre Verwendung erschlossen werden. Was Salomons Prosa völlig fehlt, ist eine Aufmerksamkeitslenkung, die auf Pointen oder starke Thesen ausgerichtet ist. In den Texten ist nichts ausgestellt oder avantgardistisch, ihre Organisation ist ganz vom Gegenstand abhängig. Beide zitierten Sätze könnten von Emil Staiger oder Benno von Wiese stammen, also von den auf werkimmanente Interpretation pochenden Traditionsbewahrern der Germanistik in dieser Zeit. Der Autor aber ist Salomon, der den Sätzen eine andere Perspektive gibt. Goethe wird im ersten Teil als Schutz, als Trotz inszeniert, ganz gegen die Zeitläufte. Die drei Elemente, aus denen der Goethe des Jahres 1932 zusammengesetzt wird, sind dabei vielsagend: Salomon

2Werner

E. Mosse und Arnold Paucker, Entscheidungsjahr 1932. Zur Judenfrage in der Endphase der Weimarer Republik. Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, Band 13. Tübingen: Mohr (Siebeck) 1966. 3Albert Salomon, „Goethes Idee der Gesellschaft“, in diesem Band, S. 85–103, hier S. 86–87.

Vorwort: Albert Salomons janusköpfiges Denken

VII

beginnt mit dem ältesten Verehrungstopos, um dann eine Deutung einzuführen, die sich etwa mit dem Namen Ernst Cassirer verbinden ließe, der im nämlichen Jahr mit seiner Schrift Goethe und die geschichtliche Welt4 seinen Protagonisten symbolphilosophisch als Sinnbild der Gegenwart auslegte. Doch dann der Bruch; der vermeintliche Dichterfürst und Gegenstand philosophischer Reflexion wird schließlich zur Zufluchtsstätte. Mit seinem Werk und in der Deutung seines Werkes lassen sich die Freiheitspotenziale offenlegen, die die Wirklichkeit verweigert. 1932 ist noch nicht das Jahr der sogenannten ,Machtergreifung‘ durch die Nationalsozialisten. Es ist noch nicht das Jahr, das man nach 1945 als ,tragisch‘ oder als ,Beginn der Tragödie‘ bezeichnet, also mithilfe von Begriffen, deren Fehlen bei Salomon umso mehr auffällt, wenn man ihren inflationären Gebrauch etwa in von Wieses Schrift über Goethe von 1948 gegenüberstellt. 1949 steht anders als 1932 im Zeichen von Rückblick und Vorausschau: Goethe wird als Konsequenz aus dem Zurückliegenden und in Absehung auf das Kommende entgrenzt – nicht mittels des letztlich bloß metaphorischen Konzepts der ,Weltliteratur‘, einer von Wieland übernommenen Idee, sondern als historische Figur, mit weiterhin gültigen Grundaussagen über Subjekt und Welt. Die von Salomon vorgenommene Universalisierung ist seine Weise der ,rettenden Kritik‘ Benjamins. Nicht in der ,Gestalt‘, nicht als ,Exemplar‘, sondern in der fragilen Einheit von Werk und Person liegt nunmehr die Funktion Goethes. Und wie sehr die Funktion Goethes wiederum einer Ausfaltung bedarf, dies zu zeigen bildet die eigentliche Einheit der Texte Salomons über den Dichter. Sie heben nicht das Ereignis – in diesem Fall den Holocaust – auf, das zum neuen Bedenken und zu der Neubestimmung der Funktion Goethes führte, sondern die hergestellte Einheit wird zum Prüfstein für das, was bleibt. Was heißt hier, im Unterschied zu Goethe, ,hergestellte Einheit‘? Bei Goethe greifen Natur und Erfahrung synthetisch ineinander, eine Verbindung, die der Dichter ermöglicht. Bei Salomon kommt die Geschichte als unabweisbare und zerstörerische Kategorie hinzu. Ihre erdrückende Dimension bemisst sich daran, dass ihr Verlauf nicht länger Ereignisse erklären kann. Sie wird bei Salomon folglich nur noch auf ihren Gehalt hin geprüft, das heißt, letztlich auf das Verhältnis von Tradition und Gegenwart, Kontinuität und Bruch – siehe dazu den Text über die Revolution.5 Die poiesis

4Ernst

Cassirer, Goethe und die geschichtliche Welt. Hamburg: Felix Meiner 1995. Salomon wird sich eingangs seines Aufsatzes Symbols and Images in the Constitution of Society auf Cassirers Symbolphilosophie beziehen; vgl. Albert Salomon, „Symbole und Bilder im Aufbau der Gesellschaft“, in diesem Band, S. 247–279, hier S. 248. 5Albert Salomon, „Zur Sozialtheorie der Revolution“, in diesem Band, S. 1–50.

VIII

Vorwort: Albert Salomons janusköpfiges Denken

besteht darin, die Kräfte zu erkennen, die innerhalb von ,Geschichte‘ wirksam sind. Gelingt dies, kann von einer ,hergestellten Einheit‘ gesprochen werden. Die bürgerliche Tradierung – „Was Du ererbt von deinen Vätern hast/ Erwirb es, um es zu besitzen“ – kann es nicht sein, lediglich die fortdauernde Deutung kann noch einstehen für das, was ansonsten verloren gegangen ist: „Was man nicht nützt, ist eine schwere Last“.6 Goethe aber wird nicht zum Schlüssel, steht nicht über den Zeiten, sondern wird in seiner Konkretion behandelt, die er für Welt und Subjekt hat. In Salomons Text über die Revolution wird die Problematik möglicher hergestellter Einheit, wie schon angedeutet, auf eine andere Ebene gehoben, wobei die grundlegenden Analysekategorien beibehalten werden. Revolution setzt die Korrelation zwischen Subjekt und Welt außer Kraft. Der Schnitt, den das Ereignis der Revolution setzt und in der Geschichte selbst zu einem Einheit suggerierenden Narrativ von Vorher – Geschehen – Nachher neu zusammenfügt, wird von Salomon übertragen: auf den ,Aufbau der Gesellschaft‘ – und genau darin liegt die immense Bedeutung dieses Textes. Er führt aus, was Geschichts- und Politikwissenschaft vorzubereiten helfen: nämlich eine Soziologie, die ganz dem Verlust abgewonnen wird. In der Situation, da Subjekt und Welt sich nicht mehr an Sicherheiten orientieren können, werden für Salomon die anthropologischen Konstanten und ihre Filiationen erst sichtbar. Nicht die Empirie ist dabei die erkenntnisleitende Instanz, sondern die spezifische Typologie, die während solcher Szenarien des Übergangs entsteht, deutlich etwa am Typus des „Fanatikers“.7 Aus dem Verlust der Sicherheiten, die die Korrelation von Subjekt und Welt außer Kraft setzt, gewinnt Salomon seine Soziologie. Sie ist darum nicht ,negativ‘; vielmehr stellt sie sich dem Gegenstand. Das heißt in der Folge, wer Gesellschaft typologisch fasst, der hat damit nur die Grundlage ausgewiesen, auf der die Typen kreiert wurden. Sie werden denn auch nicht an einem ,Ideal‘ gemessen, einer ,Idee‘ gegenübergestellt oder durch die Bestimmung einer Abweichung vom ,Ideal‘ bzw. der ,Idee‘ präzisiert. Es geht Salomon darum, die Typen gedanklich in die Beziehungsgeflechte der Gesellschaft zurückzuversetzen und dann genau zu verfolgen, wie sie dort wirken. Wenn Salomon fast apodiktisch vom „Hier-und-Jetzt“

6Johann

W. von Goethe, „Faust. Eine Tragödie“. In: Goethes Werke. Band III. Dramatische Dichtungen I. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz. München: C.H. Beck 1999, S. 7–145, hier S. 29 (682–684). 7Salomon, „Zur Sozialtheorie der Revolution“, S. 22–23.

Vorwort: Albert Salomons janusköpfiges Denken

IX

spricht,8 dann verdeckt er nahezu, wie seine Soziologie dem gerade sich entzieht. Seine Bedeutung verdankt nicht zuletzt dieser Text gerade dem Gegenteil: dem Nachweis, dass die Rede vom ,Hier-und-Jetzt‘ immer eingebettet sein muss, und zwar in eine am Gegenstand selbst zu gewinnende Genauigkeit bei der Rekonstruktion der Verhältnisse in dem Gesamt namens ,Gesellschaft‘. Man muss, will man Salomons Verfahren, ,Gesellschaft‘ in den Blick zu bekommen, verstehen, es als ein beständiges Durchschreiten von „Denkräumen“9 begreifen. Soziologie ist darunter wohl der zentrale ,Denkraum‘, doch Religion und Politik werden stets mitgedacht. Das heißt, die eigentlich philosophische Konstellation Subjekt-Welt wird geprüft an dem, was die Konkretisierungen von Typen in verschiedenen Denkräumen zu denken geben. Die Einbindung der SubjektWelt-Konstellation in die Analyse von Gesellschaft wird übersetzt mittels einer Rückbindung an philosophische Terminologie. Diese, wenn man so will, methodologische Korrelation kreuzt die von Subjekt und Welt, weil sie aus letzterer hervorgeht. Das Gesagte wird klarer, wenn man sich den Text Propheten, Priester und Sozialwissenschaftler10 ansieht. Hier demonstriert die Schilderung verfehlter Selbstwahrnehmung von Soziologen – die äußerlich sich dem Forschungsgegenstand Religion widmen, wobei das eigene Fach Soziologie zur Religion wird und erst daran dieser Gegenstand seine Bedeutung gewinnt –, wie genau es die Denkräume auszumessen gilt, damit sie in der Analyse Anwendung finden können. Salomons Soziologie der Religion als Teil der Subjekt-Welt-Korrelation beginnt bei der Evaluation historisch gewordener Positionen, die Typenbildung folgt dem geschichtlichen Lauf, die Religion selbst kann dann gesellschaftlich gefasst werden. Was aber nicht zugänglich ist, ist die Dimension des ,Erlebens‘. Das ist nur auf den ersten Blick eine Absage an eine Phänomenologie der Religion, eine Verweigerung gegenüber ihrem Eigentlichen. Die Begrenzung der Soziologie ist in Wirklichkeit eine Erweiterung: Indem sie Halt macht vor den internen Eigentümlichkeiten eines Denkraumes, versichert sie sich ihrer philosophischen Grundierung. Philosophie ist nämlich keiner der Denkräume, die zu erkunden sind, wenn es um Gesellschaft als eigentlichen Gegenstand einer an

8Ebd.,

S. 3. Gostmann, Beyond the Pale. Albert Salomons Denkraum und das intellektuelle Feld im 20. Jahrhundert. Wiesbaden: Springer VS 2014, S. 163. 10Albert Salomon, „Propheten, Priester und Sozialwissenschaftler. Über die Soziologie der Religion und die Religion der Soziologie“, in diesem Band, S. 105–121. 9Peter

X

Vorwort: Albert Salomons janusköpfiges Denken

der Korrelation von Subjekt und Welt orientierten Soziologie geht. Sie steht aber auch nicht ,über‘ der Soziologie, vielmehr bildet der Wechsel zwischen beiden Perspektiven den stets vorhandenen Horizont ab, dessen Verstehen Überlieferung und Gegenwart überhaupt erst zugänglich macht. Es wäre an dieser Stelle reizvoll, Salomons Reflexionen über diese Zusammenhänge in Beziehung zu setzen zu Joachim Wachs Religionssoziologie und seiner kaum mehr bekannten Geschichte der Hermeneutik oder seinen Überlegungen zur „religiösen Anthropologie“ von 1932.11 Hier ließe sich denn auch nachweisen, wie wenig erreicht und also verstanden wird, wenn man Philosophie- und Soziologiegeschichte als Fachgeschichte betreibt. Salomons janusköpfige Handhabung der SubjektWelt-Korrelation ist nicht zuletzt der Aufhebung solcher disziplinären Grenzen abgewonnen. Am Ende soll noch einmal über Albert Salomons ,Ort‘ in den Denkbewegungen des 20. Jahrhunderts gesprochen werden. Beide, Philosophie und Soziologie, entgrenzten sich, wie sich an seinem Werk abschauen lässt. Die ,alte‘ Philosophie war vor die Frage nach der notwendigen Rückbesinnung auf ihre Geschichte gestellt, denn sie sah sich von der Moderne herausgefordert angeben zu müssen, was sich denn von diesen Hinterlassenschaften unter den radikal veränderten Umständen retten ließe. Die ,neue‘ Soziologie hingegen war nach ihrer intellektuellen und akademischen Etablierung mit der Frage nach ihrer Leistungsfähigkeit konfrontiert. Es war daher folgerichtig, dass Philosophie und Soziologie in der Hochzeit dieser Selbstwahrnehmungen die Kräfte bündelten und sich Rechenschaft ablegten: In Max Dessoirs Lehrbuch der Philosophie von 1925 wurde die „Geschichte der Philosophie“ in einem Band, die „Philosophie in Einzelgebieten“ in einem anderen, weit umfangreicheren dargestellt.12 Das Handwörterbuch der Soziologie (1931) führte beides in einem Band zusammen.13 Dass Salomon in beiden Vorhaben nicht vertreten war, im Handwörterbuch lediglich einmal mit einem Verweis auf einen Aufsatz erwähnt wurde,14 lässt

11Joachim

Wach, Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhundert. 3 Bde. Tübingen: Mohr (Siebeck) 1926–1933; Joachim Wach, Typen religiöser Anthropologie. Ein Vergleich der Lehre vom Menschen im religionsphilosophischen Denken von Orient und Okzident. Tübingen: Mohr (Siebeck) 1932. 12Max Dessoir (Hg.), Lehrbuch der Philosophie. Die Geschichte der Philosophie. Berlin: Ullstein 1925; Max Dessoir (Hg.), Lehrbuch der Philosophie. Die Philosophie in ihren Einzelgebieten. Berlin: Ullstein 1925. 13Alfred Vierkandt (Hg.), Handwörterbuch der Soziologie. Stuttgart: Ferdinand Enke 1931. 14Ebd., S. 99.

Vorwort: Albert Salomons janusköpfiges Denken

XI

nochmals Rückschlüsse auf seine Schriften zu. Und diese Rückschlüsse führen auf einen lebendigen Begriff, der bislang bewusst vermieden wurde. Wer von Subjekt und Welt als Korrelation spricht, der spricht, das hat Hermann Cohen zum Zentrum seines Denkens gemacht, letztlich vom „Erzeugten“, vom beweglichen „Ursprung“, das aus der „Wechselwirkung“ entspringt.15 Nicht ,Gott‘, sondern das ,Ich‘ ist es, was im Falle Salomons ausgespart wurde. Mit dem ,Ich‘ ist nicht nur ein bloß biographisches, nicht bloß ein soziologisches oder philosophisches gemeint. Es geht nicht um Vorstellungen einer Substanz. Albert Salomons ,Ich‘, sofern es konstitutiver Teil der Subjekt-Welt-Korrelation ist, gewinnt seine volle Gestalt, wenn man die Konstellationen betrachtet, in denen es sich entwirft, in die es sich hineinbegibt, von denen es sich abgrenzt. Diese Konstellationen sind ihm teils vorgegeben und werden dennoch vom ,Ich‘ geprägt: Salomons Jüdischsein und seine deutsche Herkunft verlangen Standortbestimmungen, nachdem die Korrelation von Subjekt und Welt aufgehoben, das Ich disseminiert, vernichtet zu werden drohte. Die Ausgabe seiner Schriften bietet die Gelegenheit, dieses Ich in seinen Bewegungen zu beobachten. Das dabei entstehende Bewegungsprofil verweist auf die Verstehensleistungen anderer, denen Salomon kritisch Konturen verschafft hat. Das Ich hat sich dabei nichts verschrieben, was zufällig am Weg lag, es hat nichts geleugnet, was sowieso nicht abzulegen gewesen wäre. Salomons Ich als Ergebnis der Korrelation von Subjekt und Welt hat ein beeindruckendes Bild von dem geschaffen, was im 20. Jahrhundert unter den Bedingungen, die die Moderne ihm vorgab, denkmöglich war. Die dabei gezeigte Janusköpfigkeit weist über die Signatur seiner Epoche hinaus. Die Janusköpfigkeit ist nämlich für die Antwort auf die Frage nach dem Eigensinn des Ich, dem die eigene Zeit und das Nachdenken über sie Verweise auf die Kontingenz, die Versuchungen der Metaphysik, am Ende Verweise auf die Transzendenz sind. Beide zu gleichen Teilen, unaufgelöst und in geschichtlich-ereignishafter Härte gegenwärtig, bilden das Fundament von Salomons Erkundungen der modernen Korrelation von Subjekt und Welt aus. Thomas Meyer

15Hermann

Cohen, Logik der reinen Erkenntnis. Zweite, verbesserte Auflage. Berlin: Bruno Cassirer 1914.

Inhaltsverzeichnis

Zur Sozialtheorie der Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Goethe – im Jahr 1949. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Goethes Idee der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Propheten, Priester und Sozialwissenschaftler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Demokratie und Religion im Werk des Erasmus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Franz Rosenzweig: Eine Philosophie jüdischen Daseins. . . . . . . . . . . . . . . 153 In memoriam Milton Steinberg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Soziologie und Dichtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Die Ordnung der Welt und die Verantwortung des Gelehrten. . . . . . . . . . 189 Die Soziologie und der totale Staat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Don Quijotes soziale Mission. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Der Aufbau der Gesellschaft aus Symbolen und Bildern . . . . . . . . . . . . . . 247 Personenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

XIII

Zur Sozialtheorie der RevolutionÜ

I. Über den Begriff der Revolution Dem Anschein nach gehört der Begriff Revolution der Politikwissenschaft und der Historiographie. Daher muss ein Soziologe, der eine Sozialtheorie der Revolution vorschlagen will, dieses Unterfangen zuerst begründen. Eine solche grundlegende Betrachtung anzustellen ist auch darum zwingend notwendig, weil der Begriff Revolution häufig so ungenau und breit ausgreifend verwendet wird, dass wir Gefahr laufen, seine spezifische Bedeutung aus dem Blick zu verlieren. So ist zum Beispiel die Rede von technologischen Revolutionen, etwa von der Revolution des Buchdrucks, von der Revolution durch die Dampfmaschine oder von der Automobil-Revolution. Dies ist ein irreführender Begriffsgebrauch. Denn Erfindungen wie diese haben, wie eine Geschichte der Gesinnungen zeigen kann, die Formen des Denkens und Fühlens nur langsam, fast unmerklich verändert. Technische Innovationen mögen radikalen Wandel bewirken, doch zeigen sich dessen Auswirkungen erst über einen langen Zeitraum hinweg. Gerade dies aber bildet der Begriff Revolution nicht ab. Für den Politikwissenschaftler und den Historiographen kennzeichnet der Begriff Revolution ein Phänomen, in dem einerseits langfristige historische Entwicklungen akkumuliert und miteinander verflochten sind, deren Kontinuität aber andererseits in Form der Revolution unterbrochen wird, sodass das historische Werden zu einem absoluten Sein sublimiert ist. Der PolitikwissenÜAlbert

Salomon, „Social Theory of Revolution“. Vorlesungsreihe, The Graduate Faculty of Political and Social Science, New School for Social Research, 1948/49. Typoskript, 29 Seiten. Fundort: Nachlass Albert Salomon, Sozialwissenschaftliches Archiv der Universität Konstanz. Übersetzt von Peter Gostmann.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Salomon, Schriften 1949–1954, Albert Salomon Werke 4, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37736-6_1

1

2

Zur Sozialtheorie der Revolution

schaftler wie der Historiograph heben das Moment der Explosion, des Bruchs, des Umbaus als das grundlegende Element einer Revolution hervor. Der Politikwissenschaftler erklärt und versteht das Phänomen der Revolution als Effekt der Mängel einer Verfassung oder der Korrumpiertheit einer Regierung; sein Thema ist die Funktionalität bzw. Paralyse von Institutionen. Der Historiograph führt den Zusammenbruch politischer Institutionen auf verschiedene spezifische Gründe zurück, die nachvollziehbar erklären können, dass und auf welche Weise es zu einer solchen ungestümen Unterbrechung der historischen Kontinuität kommen konnte. Der Soziologe ist beiden, dem Politikwissenschaftler wie dem Historiographen, verpflichtet; er ist, um seinem Zweck zu dienen, auf ihre Kärrnerarbeit angewiesen. Was aber ist der Zweck einer solchen soziologischen Beschäftigung mit dem Phänomen der Revolution? Allgemein gesprochen strebt der Soziologe danach, diejenigen Muster sozialer Interaktion, Formen der Wechselwirkung und sozialen Beziehungen zu entdecken, die Kontinuität und Dauer einer Gesellschaft bewirken. Anders gesagt, der Soziologe zergliedert den Rahmen der Institutionen, um das Geflecht und den Zusammenhang der Interaktionen, die die lebendige Wirklichkeit einer historischen Gesellschaft bilden, zu analysieren. Der Soziologe analysiert in den Institutionen, die die Menschheitsgeschichte hervorgebracht hat, das Zusammenspiel von Über- und Unterordnung, von Kooperation und Konkurrenz, Zusammenarbeit und Konflikt. Eine solche mikrosoziologische Analyse ermöglicht es ihm, Grundtypen des Zusammenhandelns herauszuarbeiten, anhand von deren Verkettung bzw. Mischung er die Wirkung sozialer Institutionen, ihre Interdependenzen und gegebenenfalls ihren Zusammenbruch zu erklären vermag. Mit Blick auf das Phänomen der Revolution bedeutet dies, dass der Soziologe untersucht, ob hier spezifische Formen sozialer Interaktion sich zeigen, die ansonsten in Institutionen oder Organisationen nicht anzutreffen sind. Demnach ist die soziologische Analyse des Phänomens der Revolution von größter Bedeutung gleichermaßen für die Politikwissenschaft wie für die Geschichtsschreibung. Wenn es der Soziologie gelingt, typische Formen der Wechselwirkung aufzuweisen, welche die Grundlage allen revolutionären Handelns sind, wirft dies ein Licht auf sämtliche Gebiete der Menschheitsgeschichte, da diese Verhaltensformen ja nicht auf das politische Kräftespiel begrenzt sind. Die Soziologie kann auf diese Weise Wege eröffnen, die Verhaltensformen, die in revolutionärem Handeln wirken, in ihrer Wanderbewegung zwischen den verschiedenen Sphären menschlichen Tuns zu verstehen. Diese Aufgabe des Soziologen bestimmt das Verhältnis seines Fachs zur Historiographie und zur Politikwissenschaft. Als Sozialwissenschaften basieren

II. Zur Beschreibung von Revolutionen

3

beide auf soziologischen Begriffen, ebenso wie die Soziologie auf historischer und politikwissenschaftlicher Forschung basiert. Der Soziologie geht es darum, die Typik elementarer Wechselwirkungen herauszuarbeiten, die sich im menschlichen Verhalten hier und jetzt zeigt. Dabei setzt sie den Gedanken der Historizität voraus, d. h. setzt voraus, dass das Hier-und-Jetzt eine Einheit bedingter und bedingender Elemente bildet. Der Gedanke der Historizität basiert also auf der Annahme, dass das Grundmuster der gesellschaftlichen Beziehungen ein untrennbarer Zusammenhang von Handeln und Behandeltwerden, Herrschaft und Knechtschaft, Schutz und Gehorsam ist. Wenn diese Annahme zutrifft, so lässt sich bis hierher festhalten, dass der Soziologe Revolutionen als Prozesse betrachtet, die eine vollkommene Transformation des sozialen Gefüges inspirieren. Revolutionen – dies gilt es zu betonen – sind total; in ihnen zeigt sich die fortdauernde Wechselwirkung der ideell-religiösen und der politisch-sozialen Sphäre menschlichen Handelns. Unter dieser Voraussetzung fallen alle politischen Veränderungen, die sich dem Kampf um das Monopol der Macht zwischen verschiedenen Cliquen innerhalb der herrschenden Klasse verdanken, nicht unter den Begriff Revolution. Hier können wir besser von Komplott oder Aufruhr sprechen. Ebenso fallen unter dieser Voraussetzung all die Formen der Revolte nicht unter den Begriff der Revolution, die schlicht Ausdruck der unerträglichen Verzweiflung notleidender, ausgebeuteter Gruppierungen sind, ohne dass sie damit die Vorstellung einer vollkommenen Transformation der sozialen Welt verbinden würden. Zugleich ist unser Begriff der Revolution nicht auf die Epoche der Massengesellschaften beschränkt, weil die totale Transformation der sozialen Welt, ihr vollständiger Umbau, keine Erfindung der Moderne ist. Dies aber ist das originäre, das entscheidende Element des Phänomens der Revolution: dass es um die totale Erneuerung der geschichtlichen Welt geht: „Ab integro nascitur ordo“.a

II. Zur Beschreibung von Revolutionen Wir haben Revolution definiert als die vollkommene Transformation des gegebenen gesellschaftlichen Aufbaus. – Was heißt nun ,gesellschaftlicher Aufbau‘?

a Vgl. Vergil, Bucolica – Hirtengedichte. Lateinisch/Deutsch. Übersetzung, Anmerkungen, interpretierender Kommentar und Nachwort von Michael von Albrecht. Stuttgart: Reclam 2015, S. 36–37.

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Zur Sozialtheorie der Revolution

Gesellschaft ist die Gesamtheit allen Beziehungshandelns. Dies umfasst die Organisation menschlicher Bedürfnisse, die Grundlagen der Kontinuität und die geistigen Referenzrahmen, in deren Form die Menschen sich ihr Dasein in der Welt als Teil eines größeren Ganzen verständlich machen. Staat, Kultur und Religion sind Objektivationen grundlegender gesellschaftlicher Bedürfnisse. Sie bilden unterschiedliche Sphären, aber wirken fortgesetzt zusammen, ja sind ineinander verflochten. Was sie verbindet, sind die Schatten, die Ungewissheit und Angst auf das menschliche Dasein werfen. Wenn im revolutionären Handeln die Fundamente des sozialen Gefüges, seiner Einheit und des Zusammenwirkens seiner Elemente zerstört werden, so weil sie nicht hinreichen, die Gesellschaft vor den Zwängen der Ungewissheit zu schützen. Es kommt zu einer vollständigen Explosion des sozialen Gefüges, die all die in ihm verflochtenen Gebiete erfasst. Es ist das genuine Kennzeichen von Revolutionen, radikal zu sein, d. h. an die Wurzel der Dinge zu gehen. Sie berühren die grundlegenden Glaubensgewissheiten der Menschen, ihre Überzeugungen, ihre Religion, ihre Moralvorstellungen, ihr Rechtsdenken, ihre soziale Stellung und ihr Prestige. Revolutionen berühren das ganze Dasein, ebenso das der Herrscher wie das der Beherrschten. Wenn diese Überlegungen zutreffen, dann sind Revolutionen nicht auf das politische Feld begrenzt. Sind Revolutionen etwas Umfassendes, so ist die Revolution gleichermaßen ein politisches und ein religiöses Phänomen. In der prekären Situation der Revolution begegnen Religion und Politik einander. Keine politische Revolution ohne spirituelle Implikationen; keine spirituelle Revolution ohne politische Folgen. Die Revolution ist ein Gefüge von Handlungen, die die institutionelle Oberfläche ebenso wie die fundamentalen Überzeugungen herausfordern und infrage stellen: alles das, was die Gesellschaft als selbstverständlich hingenommen hatte. Jede Revolution kennzeichnet, dass die Gesellschaft, die sie trägt, glaubt, von Grund auf neu zu beginnen, sich durch einen Sprung ins Reich der Freiheit ein verlorenes Paradies zurückzuerobern oder eine letztgültige Idee zu realisieren. In jeder Revolution geht es darum, die Oberfläche der Institutionen des Politischen, des Rechts, der Gemeinde zu sprengen und so die Gesamtheit des Menschen Möglichen zu entfesseln: Heroismus und Frevel, Erhabenheit und Zynismus, das Heilige und das Böse, alle Formen von Enthusiasmus, Ressentiment, Idealismus und Gier. Revolutionen bieten den Menschen die einzigartige Möglichkeit, einen Blick in den Abgrund, in die Tiefe des Menschseins, auf menschliche Größe und Grausamkeit zu werfen. Dies gilt gleichermaßen für religiöse und für politische Revolutionen; beide gebieten Totalität. Beider Kennzeichen ist es, dass sie sich nicht enthalten können, alle Sphären des menschlichen Tuns in einen letztgültigen

II. Zur Beschreibung von Revolutionen

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Referenzrahmen einzupassen. Beide wollen das Leben als Ganzes in einer neualten Weise mit Sinn erfüllen. Es hat also seine Berechtigung, wenn manche Leute von der mystique politisch-sozialer Lehren sprechen. Der Begriff zeigt an, dass die Hingabe von Menschen an und ihr Enthusiasmus für soziale und politische Prinzipien von ihrem Verständnis dafür herrühren, dass hinter den Gütern des Rechts und der Schicklichkeit eine allumfassende Idee universaler Gerechtigkeit steht. In jeder revolutionären Situation geht es um die Wiederentdeckung der Grundlagen und des Sinngehalts eines Lebens in Gesellschaft – im Fall der religiösen und im Fall der sozialen Revolution gleichermaßen. Diese Beschreibung macht einige ergänzende Überlegungen notwendig; wir müssen sie in soziologische Begriffe übersetzen. Das soziale Gefüge ist ein komplexes Ganzes, aufgebaut auf Anerkennen und Anerkanntwerden, auf einem Konsens. Es gibt keine soziale Ordnung, wie auch immer ihre politische Verfassung sein mag, die nicht die grundlegenden Beziehungsformen der Herrschaft und der Knechtschaft, von Schutz und Gehorsam als konstituierende Elemente der Machtverteilung voraussetzen würde. Solche Akte der Anerkennung bilden das kommunikative Minimum zwischen den sozialen Gruppen und innerhalb sozialer Beziehungen. Dieses kommunikative Minimum ist die Voraussetzung für Kontinuität, d. h. für die dauerhafte Einheit der Vielfältigkeit unabhängiger oder voneinander abhängiger Gruppierungen innerhalb einer sozialen Körperschaft. Der Maßstab, an dem der Soziologe Lebenskraft und Wirkeinheit einer Gesellschaft bemisst, ist deren Kommunikation. So lange Herrscher und Beherrschte, Priester und Laien, unabhängige und abhängige Gruppierungen einander zu verstehen vermögen, eine gemeinsame Sprache sprechen, Liebe und Fluch, Segenswunsch und Schelte in allgemeinverständlichen Begriffen formulieren und in Form von Kommunikation Gemeinsamkeiten jenseits der sozialen Schichtung finden, so lange ist eine Gesellschaft intakt, ungeachtet aller Korruption und Konflikte. Gesellschaft ist ein lebendiger Prozess. Diesen Prozess kennzeichnet, dass im Zuge seiner immer mehr in nahen, intimen, von Homogenität und Zusammenarbeit geprägten Beziehungen kommuniziert wird, und immer weniger in förmlich-distanzierten, von Heterogenität und Konkurrenz geprägten. Der Offizier, der mit den Jungs in seinem Zug in ihrem regionalen Dialekt zu sprechen vermag, wird eine höher gestimmte Gefolgschaft finden als der kultivierte Herr aus der Metropole, der nicht einmal unbefangen fluchen kann. Eine Elite, der es nicht gelingt, in ihrem Austausch mit den Beherrschten den Ideen des Landes, der

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Zur Sozialtheorie der Revolution

Treue, der Pflicht, des Patriotismus und des Rechts Klang zu verleihen, öffnet dem Verhängnis die Tür. Der Turmbau zu Babel ist ein Symbol für eines der maßgeblichen Kennzeichen einer revolutionären Situation: den Zusammenbruch der Kommunikation. Wenn die Mitglieder einer Gesellschaft nicht mehr in der Lage sind, sich über die Bedeutung von Begriffen wie Volk, König, Pöbel, Tyrann, Demokratie, Arbeit, Werk zu verständigen, bedeutet dies eine Spaltung: den Abschluss der Gruppierungen gegeneinander, was auf längere Sicht die soziale Ordnung zerstören muss – weil ein kommunikatives Minimum notwendig ist, damit soziale Interaktion funktioniert. Zwischen Gesellschaften, die mit einer demokratischen Form der Kommunikation großgeworden sind, und Gruppierungen, die sich daran gewöhnt haben, in Form totalitärer Massenkommunikation manipuliert zu werden, ist eine Kommunikation über prinzipielle Fragen unmöglich. Vor diesem Hintergrund können wir soziale Institutionen als Gefüge von Interaktionen auf Gegenseitigkeit definieren, deren Einheit durch ein hinreichendes Maß von Solidarität und Einvernehmen gewährleistet wird. Dies ist der Fall, wenn die Mitglieder der Gruppe in ihrem Verständnis des Gemeininteresses übereinstimmen, die gleichen allgemeinen Ziele anstreben, sich an die gemeinsamen Beschlüsse halten. Wie auch immer die Interessen, Träume und Leidenschaften von Individuen bzw. Kollektiven in Sonderheit aussehen mögen, die Tatsache, dass sie dabei bleiben, zusammen zu leben – miteinander, füreinander, gegeneinander –, zeigt an, dass die Mitglieder dieser Gesellschaft über ein Minimum geteilter Glaubensüberzeugungen verfügen. In anderen Worten: Eine Gesellschaft ist ein Netz konzentrischer Kreise, die sich um ein gemeinsames Zentrum verbindlicher Kommunikation spannen. Die Radien der Kreise geben die Intensität und die Dichte einer Interaktion, ihre Distanz und Entfremdung vom Zentrum an. Dies gilt für religiöse und für politische Körperschaften gleichermaßen. In beiden Fällen sind der Erhalt der Oberflächengestalt des äußerlichen Handelns, der Rechtmäßigkeit eines Verhaltens, der zur Schau gestellten Schicklichkeit gebunden an innere Überzeugungen, den Schein der Sittlichkeit und geistigen Ernst, ohne die die dunklen und irrationalen menschlichen Kräfte die Oberhand gewinnen und die glänzende Oberfläche der Institutionen zerstören. Ist dies letztere der Fall, dann beginnt die Revolution, die Gewohnheiten des Alltags zu bestimmen. Jede Revolutionsanalyse muss also zunächst den Tiefenschichten des historischen Prozesses und der sozialen Institutionen Rechnung tragen, muss die Interdependenzen moralischer und legaler Aspekte berücksichtigen, muss hervorheben, welche Handlungsweisen auf Zustimmung stoßen, wie die Rechtsvor-

II. Zur Beschreibung von Revolutionen

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schriften verwaltet werden, welche Schlupflöcher die Rechtsordnung lässt, muss die offenen und die geheimen Formen des Krieges gegen die Legalität berücksichtigen. Sie muss bei allem Konflikt und Wettbewerb, trotz aller Unterschiede an Status und Prestige zwischen den Klassen, das Körnchen Gemeinsamkeit, das alle verbindet, herausarbeiten. Vor dem Hintergrund der Annahme eines flexiblen, offenen Systems sozialer Einrichtungen, in Sonderheit religiöser und politischer Institutionen, lässt sich nun deutlich sagen, was Revolution soziologisch bedeutet. Auf der gleitenden Skala der Anerkennungsverhältnisse zwischen intimer Nähe und förmlicher Distanz kennzeichnet die revolutionäre Situation, dass keine Beziehungsform mehr gilt als eine andere, dass jede Beziehung revolutionär ist. Soziologisch lässt sich eine revolutionäre Beziehung am besten in Begriffen von Freund und Feind beschreiben. Es ist ein Kennzeichen einer jeden wahrhaftig revolutionären Situation, dass die widerstreitenden Kräfte keine Neutralität zulassen. Ein relativistischer Umgang mit der Frage nach Ursache und Wirkung ist unmöglich. Die Intensivierung des Zeiterlebens verleiht der historischen Existenz absolute Bedeutung. Ebenso im Fall politischer wie im Fall spiritueller Revolutionen gilt die Formel, dass der, der nicht für mich ist, gegen mich ist, Anerkennen und Anerkanntwerden zu einer Frage von Freund oder Feind geworden ist. Es gibt nur heiß oder kalt, rot oder weiß, sodass sich jeder auf einer der beiden Seiten des Kampfes einreihen muss. Man muss hier präzisieren, dass wir tatsächlich über keinen Begriff verfügen, der die existentielle Dimension der revolutionären Beziehung beschreiben könnte. Denn der Begriff Feind beschreibt eigentlich nur den öffentlichen Widersacher, nicht den persönlichen. Die revolutionäre Beziehung aber kennzeichnet gerade, dass jeder politische Widersacher zugleich ein persönlicher ist. Es gibt nichts Privates in der revolutionären Situation. Ob es um Religion gehen mag oder um Politik – alle natürliche Bande, zum Beispiel die zwischen den Angehörigen einer Familie, hat sich aufgelöst. Es geht allein darum, den Mann auf der anderen Seite des Zaunes zu überwältigen und zu vernichten. Freund-Feind-Beziehungen sind nur im Rahmen politischer oder spiritueller Revolutionen von existentieller Bedeutung. In den anderen Sphären menschlichen Zusammenlebens existiert diese Beziehungsform nicht; nicht einmal im Fall der Ökonomie. Denn ein Konkurrent ist kein Feind; der andere wird wirtschaftlich und finanziell vernichtet, aber nicht eigentlich existentiell. Auch nicht im Sport, der Kampf um Ruhm, nicht Kampf um das Leben ist. Freund-Feind-Beziehungen gibt es auch nicht im intellektuellen Disput, wo ein Diskutant den anderen verletzen mag, aber nie körperlich. Dagegen beansprucht die revolutionäre Situation

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Zur Sozialtheorie der Revolution

das ganze Leben. Die Revolution setzt den Willen zu töten und die Bereitschaft, getötet zu werden, voraus. Ein Kennzeichen solcher totalen Situationen ist es, dass Menschen meinen, das Monopol der Wahrheit in den Dingen des Politischen, des Sozialen, der Religion zu besitzen, mit der Folge, dass die Revolution zu einem heiligen Krieg wird, oder anders gesagt: die Menschen die Frage der Identität strapazieren. Radikale und Traditionalisten begegnen einander unter solchen Umständen geradezu als Todfeinde. Es gibt keine Brücke zwischen den Antagonisten, steht doch jede der beiden Seite für die Totalität des Daseins und die Vision einer Welt, in der die Wahrheit ihre Verkörperung bereits gefunden hat bzw. demnächst gefunden haben wird. Der Traditionalist wird behaupten, dass seine Vorgänger und seinesgleichen bereits Wirkmächtigkeit, Wahrhaftigkeit und Berechtigung der Überlieferung erwiesen haben. Der Radikale wird verkünden, dass seine Kinder in einem gerechteren und vernünftigeren Universum, das mehr Glück und mehr Rechte für alle gewährt, leben sollen. Der eine verweist auf die Erfahrungswerte der Vergangenheit, der andere auf die Zukunft der Vernunft, d. h. den Fortschritt. Aber diese Argumente sind nur die Oberfläche des Geschehens. Im Innersten revolutionärer Konflikte geht es um akkumulierte Affektionen, um Stolz und Vorurteil, Repressionen und Ressentiments, Ergebenheit und Schwärmerei, Hingabe und Opfer. Vorstellungen über Glück und die gute Gesellschaft, die allgemein die einheitsstiftenden Elemente in der Geschichte sind, sind dies insbesondere in Revolutionen; Revolutionen sind radikale Manifestationen des Geschichtlichen. Wie auch immer die materiellen Umstände sich ausnehmen mögen: die Leiden der Massen, die Entwürdigung des gemeinen Volkes – zu revolutionären Kräften werden sie erst, wenn sie mit Ideen wie Gleichheit, Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit in Verbindung gebracht werden. In diesem Sinne sind die Schriften von Karl Marx der beste Zeuge gegen ihren Verfasser: Es sind nicht ökonomische Kräfte, die die Geschichte bestimmen, sondern es ist die kritische Analyse ihres Wirkens am Maßstab der Ideen der menschlichen Würde und der vollkommenen Demokratie, die die Welt verändert. Ohne diese Ideen sähe die Welt anders aus. Menschen sind bereit, sich ganz und gar hinzugeben für Zwecke, für die zu leben und zu sterben es lohnt. Niemals ist ein Mensch für eine ökonomische Fragestellung gestorben, immer war es für Ziele und Werte, die Menschen als absolut und umfassend galten. Fassen wir zusammen. Revolution ist eine Sache der Historizität. Es kommt zu einer Revolution, wenn das historische Dasein mit absoluter Bedeutung aufgeladen wird, indem die in ihm verwobenen Elemente eine Beschleunigung und Radikalisierung erfahren. Der soziologische Begriff der Revolution ist der der Freund-Feind-Beziehung. Dieser Begriff ist existentiell; er kennzeichnet den

III. Die Herrschaftselite und die Entfremdung der Beherrschten

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Zusammenbruch der Kommunikation, die Herrschaft von Gewalt und Extremismus, einen Kampf auf Leben und Tod zwischen den Parteiungen der Traditionen und Sitten, der Obrigkeit und des sozialen Status, und den Parteiungen der Radikalität, des utopischen Egalitarismus und des Rationalismus.

III. Die Herrschaftselite und die Entfremdung der Beherrschten Aus der Perspektive des Soziologen sind Kontinuität und Dauerhaftigkeit der sozialen Gesinnungen eine Sache des stillschweigenden Einverständnisses, des Konsensus der Beherrschten, nicht eine Frage der Rechts- bzw. Verfassungsordnung. Ein solcher Konsensus kann mit einer zustimmenden, einer ablehnenden oder einer neutralen Haltung einhergehen. Er geht mit einer positiven Haltung einher in der Form einer freiwilligen Anerkennung dessen, dass die herrschenden Klassen für Schutz, Sicherheit und ein Auskommen sorgen. So lange in einer Gesellschaft der Eindruck vorherrscht, dass die Regierung ihrem Zweck, ihrer Verantwortung für das politische Gemeinwesen, gerecht wird, wird man den Status quo bejahen, wie auch immer er verfasst sein mag. Der Konsensus geht mit einer negativen Haltung einher in der Form der Trägheit oder in Form einer Abkehr, die Dominiertwerden und Ausgeliefertsein als ein Schicksal hinnimmt, dem nicht gemeinschaftlich, sondern nur auf individuellem Wege zu entkommen sei. Schließlich die neutrale Haltung. Ein Konsensus dieser Art gründet auf der Vermeidung eines Urteils über die Herrschaftselite in allgemeinen Begriffen. Die neutrale Haltung basiert auf dem Verzicht, ein Werturteil vorzunehmen, da die herrschende Klasse bis auf Weiteres ihre Leistungsfähigkeit und Umsicht gezeigt hat, indem sich das Leben erträglich und einträglich und hinreichend sicher für die eigene Gruppe oder Schicht gestaltet. Revolutionen sind das Ergebnis der Auflösung der Bande, die durch das Einverständnis der Beherrschten geknüpft waren. Den Kollaps des Zusammenhandelns kann der Begriff der Entfremdung beschreiben. Er kennzeichnet, dass Herrscher und Beherrschte das Sozialprofil der Gruppierungen, die die Gesellschaft konstituieren, zugunsten einer Gegnerprofils, eines Zerrbildes, aufgeben. Dazu kommt es, wenn die herrschende Klasse, da sie ihre Herrschaft in der Gesellschaft fest verankert wähnt, den Versuchungen der Macht erliegt und ihre politischen Ämter mit dem persönlichen Verlangen nach Wohlstand gleichsetzt. Alle Eliten der Geschichte, ob feudale, patrizische, bürgerliche oder proletarische, ob die Eliten des Altertums oder die modernen Eliten, haben unabhängig von der Verfassung ein politisches Monopol bzw. ihre Vorrang-

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stellung für den eigenen wirtschaftlichen Vorteil und um den Preis der Ausbeutung der Beherrschten gebraucht. Am Anfang des Prozesses der Entfremdung stehen menschliche Mängel der Herrschenden, die immer dann zutage treten, wenn eine Elite des Drucks innerer oder äußerer Gegner entbehrt. Die Gruppe derjenigen, von denen wir gesagt haben, ihr Einverständnis gehe mit einer negativen Haltung einher, wird als erste bemerken, dass die Herrschenden die Bande der Zuverlässigkeit zerstört haben, dass die Institutionen der Verfassung und des Rechts nur noch die Fassade sind, hinter der sich die latenten Konflikte zu regen beginnen. Die Neutralen folgen ihrem Beispiel, da sie desillusioniert sind von der fortwährenden Ausbeutung, dem ökonomischen Desaster, dem Mangel an sozialer Entwicklung. Allein die, deren Einverständnis mit einer positiven Haltung einhergeht, werden alle Kalamitäten als Schicksal annehmen und, komme was wolle, ihre Gefolgschaftstreue wahren. In soziologische Begriffe übertragen, können wir die unterschiedlichen Formen des Einverständnisses wie folgt beschreiben. Diejenigen, die dem Status quo mit einer positiven Haltung anhängen, bejahen die integrativen Kräfte im Rahmen der bestehenden Machtverhältnisse – Sitten und Traditionen, Bestimmungen und Regeln –, weil sie von ihren Vorfahren überliefert wurden, weil schon Generationen unter dieser Herrschaft und diesen Gesetzen glücklich gelebt oder sie glücklicherweise ertragen haben. Diese Art der Zustimmung können wir die traditionalistische nennen. Sie ist möglich in jeder sozialen Ordnung bzw. Verfassungsordnung. Es wäre falsch, wollte man behaupten, sie beschränke sich auf statische, vorindustrielle Epochen; Traditionalismus ist keine historische, sondern eine soziologische Kategorie. Der Begriff kennzeichnet die grundlegende Beziehungsform von Schutz und Gehorsam, die universell ist, da sie ein elementares menschliches Bedürfnis in eine soziale Form übersetzt. Der Mensch in der Gesellschaft ist begierig, sein Zuhause zu verlassen und wie ein Pionier ins Unbekannte vorzustoßen; aber er ist auch bestrebt, nach Hause zurückzukehren oder sich ein Zuhause zu schaffen. Soziale Verbindungen unterliegen dieser elementaren Dialektik, dass Menschen erobern und entdecken und zugleich behütet und geschützt sein wollen. Traditionen sind bequem; sie schaffen eine Umfriedung, innerhalb derer es sich komfortabel, ohne die eigene Verantwortlichkeit und Spontaneität überdehnen zu müssen, leben lässt. So ist auch der Patriarchalismus, eine eigene Form des Traditionalismus – um es noch einmal zu sagen – kein historisches Phänomen, sondern möglich in jeder politisch-sozialen Verfassung. Z. B. sehen die russischen Massen jenseits aller industriell-kollektivistischen Ideologie in Stalin noch immer den Vater; und die demokratischen Gesellschaften ihrerseits lassen nicht davon ab, ihr Verhältnis zu ihren Regierungen, zu Präsidenten und Führern und zu ihrem Land zu

III. Die Herrschaftselite und die Entfremdung der Beherrschten

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beschreiben, indem sie die Bilder des Vaters, der Mutter, der Familie verwenden. Alle haben eine Muttersprache und ein Vaterland; alle, die im Ausland waren, haben bei der Rückkehr das Gefühl, nach Hause zurückzukehren. Diese kurzen Bemerkungen sollen zeigen, dass es trotz allen Wandels in Politik und Gesellschaft ein allen Menschen gemeinsames, grundlegendes emotionales Bedürfnis gibt, unabhängig von der konkreten Gesellschaft, in der sie leben mögen, von einer Autorität, die sie liebt, behütet und geschützt zu sein. Vernunft kann dieses Bedürfnis unterdrücken, aber nicht auslöschen. So finden wir in jeder Revolution traditionell orientierte Gruppierungen, gleichermaßen unter den Bauern, den Arbeitern, den Intellektuellen und im Kleinbürgertum. Ob die Gruppierungen, deren Einverständnis mit der Herrschaftsordnung auf einer neutralen Haltung beruht, von ihrer kooperativen Gesinnung ablassen, hängt davon ab, ob die Manipulation der Regeln des Rechts und der Verfassung seitens der Elite sich zu ihrem eigenen Vorteil auswirkt. Solange sie an der Beute beteiligt sind, werden sie sich an den Buchstaben des Gesetzes halten. Wenn aber nichts mehr für sie abfällt, werden sie sich auf den Geist der Gesetze berufen. Im Vergleich mit den traditionell orientierten Gruppierungen sind sie opportunistisch und konstitutionell orientiert. Die Einstellungen, die sich in dieser Gruppierung finden, variieren nach den möglichen Gesichtspunkten, unter denen man Legalität behandeln kann, d. h. nach der unendlichen Vielfalt konkreter Rechtsfälle und der Verschiedenartigkeit der Interpretationen, die ein Rechtsfall nahelegen mag. Der Teil der Wohlhabenden bzw. des Mittelstands, der bereit ist, sich für einen konstitutionellen Wandel zu öffnen, sofern die eigene finanzielle Sicherheit und die Kontinuität des Geschäftslebens gefährdet sind, wird am gesellschaftlichen Wandel mitwirken, solange er in einer Rechtsform mündet und ohne Gewalt abläuft. Diejenigen, deren Einverständnis mit den Herrschenden mit einer negativen Haltung einherging, werden ihnen, wenn sie dazu übergegangen sind, die Beherrschten auszubeuten, in Form des Konflikts, der Spannung, des Drucks begegnen. Anders als die Traditionalisten oder die Opportunisten werden sie der Frage der Legalität die Frage der Moralität entgegensetzen, den Geist der Gesetze dem Buchstaben des Gesetzes, die ideale Norm der missratenen Praxis. Zuerst setzt sich diese Haltung unter den Intellektuellen durch. Eine revolutionäre Dynamik entfaltet sie, wenn die in Mitleidenschaft gezogenen Massen sie verstehen und sich zu eigen machen, d. h. die Gruppierungen, die einen Verlust an Status und Prestige beklagen. Die Arbeiter, Bauern, Büroangestellten und Intellektuellen, die Minderheiten innerhalb der politischen oder der Wirtschaftselite, die von der Verteilung der Beute ausgeschlossen sind – sie sind der Stoßtrupp jeder Revolution.

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Die Entfremdung zwischen Herrschenden und Beherrschten ist allerdings nicht die einzige Quelle, aus der der Geist der Revolution sich speist. Die Möglichkeit der Revolution hängt auch damit zusammen, dass Einheit und Homogenität der Elite verloren gehen. Dazu kommt es in den Phasen der Geschichte, nachdem die herrschende Klasse, da sie über ein Machtmonopol verfügt, politische Verantwortlichkeit in wirtschaftliche Privilegien verwandelt hat. Dann tritt innerhalb ihrer eine Minderheit auf, die die Borniertheit und Unsittlichkeit, den Egoismus und das Unpolitische dieses Gebarens missbilligt – man könnte das moralische Pathos, das sich in dieser Missbilligung ausdrückt, das schlechte Gewissen der herrschenden Klasse nennen. Dabei handelt es sich um ein vielschichtiges Phänomen; in ihm enthalten sind Elemente des Aufbegehrens gegen den Vater, gegen die ältere Generation. Soziologisch gesprochen dient die Haltung, die hier zum Ausdruck kommt, der Lähmung des naiven Genusses der Macht, da sie den Kräften der Reflexion und der Selbstinterpretation Geltung verschafft und die Überzeugung der Elite, moralische oder juristische Ansprüche auf Amt und Ansehen zu haben, schwächt. Wenn nun ein Teil der Elite es aufgibt, an die konstruktiven Kräfte der eigenen Klasse zu glauben und sie gegen die destruktiven in die Waagschale zu werfen, dann ist die soziale Ordnung reif für den Umsturz. Dies beglaubigt die Geschichte, von den Gracchen bis zur russischen Intelligenzija. Im Zuge der Spaltung der Elite, der eigentlich doch an der Pflege von Status und Prestige gelegen ist, setzt ein eskapistischer Mechanismus ein, der sie Verstöße und Ignoranz der Beherrschten nicht mehr als solche erkennen lässt. Die aufgeschreckte Minderheit innerhalb der Elite ist sich der aufgestauten Feindseligkeit der leidenden, ausgebeuteten Massen bewusst; die leichtherzige Mehrheit reagiert darauf, indem sie eine neue Sicht auf die Beherrschten entwickelt. Trotz ihrer Verachtung der gemeinen Leute, die sie als eine fremde Rasse betrachten, schaffen sie sich ein sentimentales Bildnis der einfachen Menschen, die allein sich Sitte und Anstand der Alten bewahrt haben. So lobt man etwa die natürliche Güte der Bauern und ihre milden Regungen; im Vorfeld der französischen und der russischen Revolution ergötzten sich die hybriden Eliten an den großzügigen und aufrichtigen Menschen der campagne bzw. am treuen, guten mushik. Die Eliten schufen sich eine romantische Fiktion über die elementaren Beziehungen zwischen den Teilen, die das Gesellschaftsganze bilden. Scheinhafte Sicherheit, Eskapismus und Sentimentalität fügten sich in diesem Bildnis auf eigentümliche Weise. Tocqueville hat darin zutreffend das Symbol des Übergangs

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zur Revolution erkannt. Er nannte derlei Romantizismen, Kennzeichen der Entfremdung, ein „lächerliches und schreckliches Schauspiel“.b Der Eskapismus, der hier zum Tragen kommt, ist ein komplexes Phänomen, zusammengesetzt aus Elementen der Verdrängung, des Wunschdenkens und der Selbstgefälligkeit. Er beschränkt sich nicht auf die herrschenden Klassen; man könnte sagen, dass es sich dabei um einen psychologischen Mechanismus handelt, der die Konflikte innerhalb einer Gruppierung im Widerstreit begleitet, so zum Beispiel den Konflikt zwischen radikalen und evolutionistischen Sozialisten. Als im September 1917 einige österreichische Sozialisten in Wien die Möglichkeiten einer sozialistischen Revolution in Russland diskutierten, kamen sie zu dem Schluss, dabei handle es sich um nicht mehr als eine romantische Träumerei:,Wer soll denn diese Revolution machen – vielleicht der Genosse Trotzki drüben im Café Central?’. Ein Anzeichen für eine bevorstehende Revolution ist der Wandel der Bilder bzw. Vorstellungen, die sich Herrscher und Beherrschte voneinander machen, d. h. der Wandel der Elemente, aus denen das prärationale Ethos einer Gesellschaft gefügt ist. Wird das Bild des guten Königs, des weisen Richters oder des edlen Patriziers seines falschen Scheins entkleidet und durch das des Despoten, des niederträchtigen Domestiken, des Ausbeuters ersetzt, so bedeutet dies, dass die Grundlagen, auf denen die Gesellschaft fußt, geborsten sind. Dies ist der abschließende Nachweis des Zusammenbruchs der Kommunikation. Als des Nachdenkens wert wollen wir festhalten, dass in allen Gesellschaften der Geschichte die Vorstellung, dass es Herrschende und Beherrschte gibt, stets intakt geblieben ist. Von den beiden entgegengesetzten Elementen, aus denen das soziale Ganze zusammengesetzt ist, erachtet jeweils das eine sein Gegenüber als dem Wesen nach gut, lauter und ehrbar. Unheil und Korruption, Leid und Elend dagegen versteht man als das Ergebnis von Bösartigkeit, Selbstsucht, Ehrgeiz und Habgier bestimmter Träger öffentlicher Funktionen, von Ministern und Oratoren, Sophisten und Demagogen, Höflingen und Bankiers. Die Beweggründe aller öffentlichen Funktionsträger sind Gegenstand strengster Erörterungen; dass aber eine Gesellschaft in den Herrschenden ihre höchste Steigerung erfährt und die Beherrschten ihr Fundament festigen, steht nicht infrage – beide Elemente symbolisieren die Einheit des Gesellschaftsganzen. Nicht sie können schlecht sein, höchstens die Herrschenden schlecht beraten und die Beherrschten verführt

b Alexis

de Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution. Vollständige Ausgabe in der Übersetzung von Theodor Oelckers, durchgesehen von Rüdiger Volhard. Mit einem Nachwort und Anmerkungen herausgegeben von Jacob P. Mayer. München: DTV 1978, S. 137.

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von ambitiösen Parteigängern. Diese Denkweise ist gleichermaßen universell und elementar. In ihr zeigt sich die Tendenz des menschlichen Denkens, wider alle Verzweiflung zu hoffen, wider allen Hass zu lieben, wider die Realitäten zu glauben – ein grundlegender Mechanismus der Flucht und der Überkompensation angesichts der Schrecken und Unsicherheiten des weltlichen Daseins. Wie wir gesehen haben, gibt es zwei Aspekte, die das Verschwinden der Spontaneität und des konstruktiven Geistes einer Elite und damit die Möglichkeit der Revolution anzeigen: Machtmissbrauch und Eskapismus. Die letzte Verteidigungslinie, die der Elite angesichts der Revolution bleibt, ist stures Beharren auf der Legitimität des eigenen Amtsstatus, auf dem eigenen Prestige, wie auch immer man seine Funktion ausfüllen mag. Ob Dynastien, Aristokratien oder Bürgerschaften – alle haben sie darauf insistiert, einen rechtlich-moralischen Anspruch auf ihre Stellung zu besitzen, die durch Tradition, Kontinuität, Aufopferung geheiligt sei. Es ist die Tragik einer jeden revolutionären Situation, dass die Eliten unter Gesichtspunkten von Tradition und Legalität ihre Stellung für untadelig befinden müssen. Es ist ihnen unmöglich, Verständnis für das neue Recht aufzubringen, das die revolutionären Gruppen schaffen, um sie unter Anklage stellen zu können. So steht ihnen, sind sie besiegt, keine bessere Haltung als die des stillen Duldens einer schwachen Kreatur zur Verfügung. Zur Kreatur wird der Mensch, wenn er auf Wegen des Denkens nicht zu ergründen vermag, was ihm zugestoßen ist. Was er erduldet, sind Tod, Exil oder Entwürdigung. Während Könige immerhin als Märtyrer ihrer Sache sterben, ergreift die Aristokratie die Flucht oder zieht in den Kampf; das Besitzbürgertum wandert aus oder passt sich an. Der Prozess der Entfremdung ist langwierig und verwickelt; er durchdringt das gesamte Gefüge der Sozialmoral. Daher lassen sich in einer jeden Revolution Skandale ausmachen, anhand deren sich die Zerrüttung des Prestiges bzw. der Autorität der herrschenden Elite illustrieren lässt. Der wohl bekannteste dieser Skandale ist die Halsbandaffäre, die die Vorgänge beschleunigte, die zur französischen Revolution führten. Goethe berichtet von dem Vorfall als einer der größten Erschütterungen seines Lebens.c Anhand seiner hat er prophezeit, dass es zwangsläufig zur Revolution kommen müsse, denn er hatte verstanden, dass die Entwicklung, die zur Revolution führt, sich nicht an der Oberfläche der Institutionen des Rechts und der politischen Institutionen abspielt, sondern

c Johann Wolfgang Goethe, Annalen. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 30. Mit Einleitung und Anmerkungen von Oskar Walzel. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1903], S. 7–9, hier S. 7.

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im unterirdischen Labyrinth von Gier, Ehrgeiz und Ressentiment, das in deren Umkreis entsteht. Wenn wegen dieser emotionalen, irrationalen Kräfte Würde, Arglosigkeit und Prestige der Herrschaft zynisch zugunsten des eigenen Profits missbraucht werden, dann ist einer der Grundpfeiler zerstört, auf denen das Fundament der Gesellschaft errichtet war. In der religiösen und der politischen Sphäre ist alles für die Revolution bereit, wenn die verschiedenen Gruppierungen der Unzufriedenen zusammenkommen. Am Anfang bilden die Beherrschten eine höchst heterogene Gruppe. So wie im Fall der religiösen Revolution der Fürst und der Landmann, der Intellektuelle und der Krämer, der Edelmann und der Arbeiter unter der neuen Heilsbotschaft sich finden, so bündeln sich im Fall der politischen Revolution angesichts der Pressionen des Regimes die unterschiedlichsten Interessen zu einer gemeinsamen oppositionellen Kraft – um sich auf unterschiedliche Kraftfelder zu verlagern, sobald diese Pressionen verschwunden sind. Erstens sind da die Angehörigen der herrschenden Klassen, Fürsten, Edelleute und Besitzbürger. Sie werden Teil einer der antagonistischen Gruppierungen, z. B. der Bourgeoisie oder des Proletariats, aus psychologischen Motiven, etwa aus Ehrgeiz, Gier oder Eitelkeit, aus Gleichheitsstreben oder einer Passion für die Superiorität. Sie versuchen, der Sammlungspunkt alle Unzufriedenen zu werden und so das Debakel ihrer Klasse zu überleben. Zweitens haben wir die Intellektuellen, die in den Revolutionen der Moderne eine so entscheidende Rolle gespielt haben. Es gibt sie in der Gestalt des lauteren Idealisten, des wissenschaftlichen oder des philosophischen Analytikers, des Fachmanns oder des käuflichen Schreibers, der dem höchsten Gebot oder dem mutmaßlichen Gewinner folgt. Drittens sind da die Gruppierungen, die einhergehend mit dem Aufstieg der herrschenden Elite Status und Prestige verloren haben. Hier ist eine Anmerkung vonnöten. Es ist ein schwerwiegender Fehler der marxistischen Soziologie, die revolutionäre Situation als eine Situation darzustellen, in der es zu einer Gruppierung nach Klassen in Form des Klassenkampfes kommt. Die militärische Metaphorik der marxistischen Soziologie – die keine Metaphorik ist, wenn der Begriff auf die revolutionäre Situation angewendet wird – geht von zwei einander gegenüberstehenden Fronten aus, der Bourgeoisie und dem Proletariat, die bereit sind, einen Kampf auf Leben und Tod aufzunehmen. Diese dualistische Theorie kann man auf die Revolutionstheorie Aristoteles’ zurückführen.d Allerdings

d Aristoteles,

S. 166–201.

Politik. Übersetzt und herausgegeben von Olof Gigon. München: DTV 1973,

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wäre dies oberflächlich – eine Ungerechtigkeit gegenüber Aristoteles’ logischer, historisch-politischer Denkweise, die so weitgespannt ist, dass er die Möglichkeit anderer Formen der Revolution erkennt. Um sie von den Revolutionen in der Form eines Klassengegensatzes abzugrenzen, können wir hier von amphibischen Revolutionen sprechen. Mit diesem Begriff will ich Aristoteles’ Verständnis jener Revolutionen zum Ausdruck bringen, zu denen es kommt, wenn Teile der Elite sich mit populären Bewegungen verbinden, um ein monarchisch-despotisches oder ein oligarchisches Regime zu errichten. Machiavellie und Henri de Saint Simonf haben sich, indem sie einige Anregungen aus den Werken von Polybiusg und Sallusth aufgriffen, eingehend mit dieser Doppelbödigkeit der Revolution beschäftigt, und so zur Verdeutlichung von Aristoteles’ Überlegungen beigetragen. Keiner der beiden hat diese Überlegungen systematisch ausgearbeitet; beide sind experimentelle Historiker, die einige profunde soziologische Einsichten zutage gefördert haben. Ihre Überlegungen laufen darauf hinaus, dass die herrschende Klasse es immer mit zwei Arten von Opponenten zu tun hat: mit denen, die sie hassen, weil sie ausgebeutet und unterdrückt sind; und mit den Herrschenden früherer Zeiten, die ihnen eifersüchtig und neidisch grollen, da sie ihre Privilegien verloren haben, erniedrigt sind. Um die Reihen der revolutionären Front zu schließen, müssen sich vormals Herrschende und gegenwärtig Beherrschte zusammentun. Fast in jeder Revolution wird eine soziologische Analyse dies bestätigt finden. Viertens sind da die Arbeiter und die Bauern, also die arbeitenden Klassen, die in allen Revolutionen diejenigen sind, die bei der Radikalität bleiben – wir kommen später auf sie zurück.

e Niccolò Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung. Deutsche Gesamtausgabe, übersetzt, eingeleitet und erläutert von Rudolf Zorn. 3., verbesserte Auflage mit einem Geleitwort von Herfried Münkler. Stuttgart: Kröner 2007, S. 10–32. f Vgl. Henri, Comte de Saint-Simon, De la réorganisation de la société européenne, ou De la nécessité et des moyens. De rassembler les peuples de l’Europe en un seul corps politique, en conservant à chacun son indépendance nationale.Paris: Egron 1814, S. 77–87. g Vgl. Polybius, Die Verfassung der römischen Republik. Historien, VI. Buch. Griechisch/ Deutsch. Übersetzt von Karl Friedrich Eisen. Herausgegeben von Kai Brodersen. Stuttgart: Reclam 2012. h Vgl. Sallust, Die Verschwörung Catilinas. De coniuratione Catilinae. Lateinisch – deutsch. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Josef Lindauer. Berlin: Akademie Verlag 2012.

III. Die Herrschaftselite und die Entfremdung der Beherrschten

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Fünftens kommt hinzu die Gruppe der Angestellten, deren Mittelstellung zwischen Bourgeoisie und Proletariat bezeichnend für ihre labile Haltung in der Revolution ist. Sechstens sind da die Leute in den Ballungsräumen, die ein Leben außer Rand und Band führen und ebenso gut bei jeder Revolution wie bei jeder Konterrevolution dabei sind, weil sie ihnen die Gelegenheit, eine Karriere zu machen, eröffnen könnten. Siebtens haben wir die Gruppe der Neurotiker und anderer pathologischer Elemente, für die eine Revolution die einzigartige Gelegenheit darstellt, Perversionen auszuleben. Achtens müssen wir diejenigen Elemente des Kleinbürgertums berücksichtigen, die sich der revolutionären Bewegung anschließen, weil sie das Gefühl haben, dies könne ihren Geschäften zuträglich sein. Neuntens kommen hinzu einige Kriminelle, Gangster und Betrüger, die in der Revolution die faszinierendste Möglichkeit entdecken, Geld zu machen und Wohlstand zu erwerben, ohne dass dies einer Rechtskontrolle unterläge. Zehntens sind da Spekulanten und Geschäftsleute, die die Revolution unter dem Gesichtspunkt desjenigen betrachten, der künftig von ihr profitieren will, und auf dieser Grundlage die Möglichkeiten, die in Liquidationen, in der Inflation und Geschäften mit dem Staat liegen, beurteilen. Elftens haben wir bestimmte Teile der unteren Mittelschichten, die im Bewusstsein der Ungewissheiten agieren, die mit ihrem geringen Prestige und dem Mangel an Aufstiegschancen, die ihnen im komplexen Gefüge einer konkurrenzorientierten und hierarchisch organisierten Gesellschaft zur Verfügung stehen, verbunden sind. Zwölftens gibt es eine bestimmte Gruppierung in Wirtschaft und Industrie, auf die keine Gesellschaft verzichten kann und der es nichts ausmacht, in einer revolutionären Umgebung zu praktizieren, wenn nicht als Eigentümer, so als Manager oder Direktor. Dreizehntens haben wir es mit verschiedenen Gruppen von Experten und Ingenieuren zu tun. Sie besetzen Schlüsselpositionen moderner Gesellschaften und müssen deswegen von den revolutionären Gruppen achtsam behandelt werden. Vierzehntens sind da die Mitglieder der Bürokratie. Sie werden jeder Regierung zu Diensten sein, wenn sie keine andere Möglichkeit haben, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Zugleich wird jede revolutionäre Kraft begierig sein, das Wohlwollen und die Mitwirkung dieser Gruppe zu gewinnen, die die gesellschaftliche Maschine am Laufen hält.

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Zur Sozialtheorie der Revolution

IV. Die intermediären Akteure Es gibt gute Gründe dafür, die Grundlagen der Revolution in Begriffen des radikalen Antagonismus, der existentiellen Freund-Feind-Beziehung, zu beschreiben. Allerdings sollten wir, wenn wir unsere vorangegangenen Überlegungen berücksichtigen, den Extremismus der beiden gegenstrebigen Gruppen, deren eine strikt am sittlichen Wert der Legalität und deren andere ebenso strikt am Gerechtigkeitswert der Sitten sich orientiert, nicht für das Gesellschaftsganze generalisieren. Denn zwischen diesen extremen Positionen lässt sich eine Vielfalt intermediärer oder neutraler Standpunkte bestimmen. Zu den sozialpsychologischen Voraussetzungen, von denen der Soziologe ausgeht, gehört die, dass die Mehrheit der Leute nicht dazu neigt, sich überzustrapazieren und sich auf radikale bzw. extreme Positionen einzulassen. Menschen mögen es in der Regel nicht, wenn ihre Routinen gestört werden, sie mit Gewohnheiten brechen sollen, ihre Überzeugungen und die Traditionen, an denen sie sich orientieren, infrage gestellt werden. Wenn dies aber im Zuge der Kollision reaktionärer und radikaler Kräfte geschieht, wenn aus den üblichen Ungewissheiten eine umfassende Ungewissheit geworden ist, tritt eine Reihe von revolutionären Akteuren auf, deren Handeln auf unterschiedliche Weise von dem Versuch bestimmt ist, die Kontinuität des eigenen Lebens bzw. des Betriebs zu wahren oder ihr Ansehen zu erhalten. Erstens ist da die Gruppe der vollkommenen Opportunisten: Leute, die um des bloßen Überlebens willen sich der revolutionären Entwicklung in allen ihren Phasen anpassen. Zweitens haben wir es mit einer Gruppe von Revolutionsgewinnlern im Bereich der Ökonomie zu tun: Spekulanten und Unternehmer, vor allem Rüstungsproduzenten, Nahrungsmittelproduzenten, Besitzer von Textilwerken und Stahlerzeuger. Bei all denjenigen Betrieben, die grundlegend für den Fortbestand der Gesellschaft sind, wird man zusehen, dass sie den Interessen der Herrschenden entsprechend bewirtschaftet werden. Drittens gibt es eine Gruppe relativer Opportunisten. Sie umfasst Einzelhändler, Ladenbesitzer, Angestellte, die unteren Ränge der Verwaltungsapparate und Intellektuelle, die auf unterschiedliche Weise für sich das Beste aus den wechselnden Phasen der Entwicklung zu machen versuchen. Viertens ist da die Gruppe gesellschaftlicher Emporkömmlinge; diese findet man unter den Bürokraten ebenso wie unter den Intellektuellen, im Kleinbürgertum ebenso wie unter den Geschäftsleuten.

V. Die revolutionären Klassen

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Allgemein lässt sich feststellen, dass Revolutionen ein enormer Zuwachs in einer Reihe von Tätigkeitsbereichen korrespondiert: Geheimpolizei, Informanten, Spione, Kommissionäre, Verwaltungsapparate, Intellektuelle, Meinungsmacher, Dichter, Historiker, Wissenschaftler.

V. Die revolutionären Klassen Dem Mythos der Bourgeoisie zufolge handelt es sich bei ihr um eine revolutionäre Klasse. Dies ist eine Erfindung von liberalen bürgerlichen Historikern. Tatsächlich ist die Bourgeoisie die logische Vertreterin der Ideen des Konstitutionalismus und der Legalität. Denn ihr Klasseninteresse geht auf die Sicherung des Eigentums und die Fortdauer des Geschäftslebens. Von sich aus wird die Bourgeoisie niemals den Versuch unternehmen, den Boden der rechtlichen Übereinkünfte und der gesitteten Debatte zu verlassen. Das dynamische Element der Gesellschaft, das die mittleren Schichten zum Handeln veranlasste, bildete vielmehr ebenso im Fall der Französischen wie im Fall der Amerikanischen Revolution die kollektive Kraft, die die Bauernschaft durch ihr entschlossenes Agieren entfaltete. Der berühmte Verzicht des Adels und des Klerus auf ihre Vorrechte, der am 4. August 1789 beschlossen wurde, bedeutete lediglich die rechtliche Beglaubigung der revolutionären Aktionen, die gewaltbereite Bauern in vielen Gebieten Frankreichs unternommen hatten. Ähnlich war es in den amerikanischen Kolonien des British Empire; ausschlagendgebend war das energische Agieren der Bauern, das Handlungsdruck auf die städtischen Mittelschichten ausübte. Nikolai Kareiew hat in seiner 1899 erschienenen Schrift Les paysans et la question paysanne en francei in aller Deutlichkeit gezeigt und urkundlich belegt, dass die Bauernrevolten unabhängig vom Sturm der Bastille begannen; die Bourgeoisie hat sich den Sieg der Bauern bloß angeeignet. Die junge, kapitalistisch orientierte Bourgeoisie leistete tatsächlich keinerlei Beitrag zur Revolution. Die Nationalversammlung, der Konvent und besonders der Jakobinerklub agierten als die Exekutivorgane einer Revolution, die von den Bauern getragen und durch ihre gewaltsamen Aktionen bewerkstelligt wurde. In Paris verschmolz die Revolution der Bauern mit dem Aufruhr der Proletarier, wie

i Nikolai

Kareiew, Les paysans et la question paysanne en france dans le dernier quart du XVIIIe siècle. Traduit du russe par Mlle. Woynarowska. Paris: Giard et Brière 1899.

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Zur Sozialtheorie der Revolution

wir anhand der Darstellung zu La Révolution française von Albert Mathiezj und anhand von Tocquevilles L’Ancien Regime et la Revolutionk lernen können. In Mitteleuropa blieb es dabei, dass die Bauernschaft das Rückgrat aller revolutionären Regimes bildete – bis zu den totalitären Revolutionären der jüngeren Zeit, die sich den Hass der Bauern auf das urbane Bankkapital in Form ihrer antikapitalistischen Losungen und revolutionären Ideologien zunutze machten. Auch im östlichen Europa waren die Bauern die maßgebliche revolutionäre Gruppe. Dabei erkennen wir mit Blick auf die russische Revolution die generelle Trägheit sozialer Massen. Denn die Revolution kam 1905 noch nicht zustande, weil das Heer, trotz der Niederlage des Zarenreichs im Krieg mit Japan, bereitwillig die revolutionären Unruhen, getragen vor allem vom städtischen Proletariat, niederschlug. Erst mit den Niederlagen des Ersten Weltkriegs wurden der Revolution die Tore geöffnet. Und erst dann schlossen sich die ländlichen und die urbanen Massen zusammen, wenn auch nicht ohne Vorbehalte (wegen der Konflikte zwischen individualistischen und kollektivistischen Bestrebungen). Die proletarischen Massen in den Städten umfassen die Industriearbeiter, die verschiedenen Ausprägungen unselbständiger Angestellter und das ungesicherte Kleinbürgertum (z.  B. Hausierer, Einzelhändler, Straßenverkäufer, manche Führungskräfte). In allen modernen Revolutionen waren sie die treibenden Kräfte der Bourgeoisie, bis zur bolschewistischen Revolution, bei der der organisierte Teil des Proletariats maßgeblich war. Von Babeuf bis zu den Revolutionsbewegungen von 1848 war es so, dass die Arbeitermassen das Bildungsbürgertum zu radikalen Forderungen und extremen Ansichten drängten. Eine im besonderen Maße revolutionäre Entwicklung in der Apparatur der Revolution war dann im ausgehenden 19. Jahrhundert die sorgfältige Eingliederung von revolutionären Parteien in das politische Leben, verbunden mit der unrevolutionären Eingliederung der arbeitenden Massen in Gewerkschaften. Dass revolutionär orientierte, sozialistische Parteien Zugang zur parlamentarischkonstitutionellen, demokratischen Ordnung gefunden haben, ist ein Kennzeichen der gesellschaftlichen Situation in der westlichen Welt. In soziologischer Hinsicht ist daran bemerkenswert die Spaltung der Bewegung in moderate und radikale, evolutionär und revolutionär orientierte Elemente. Die revolutionären Parteien

j Albert

Mathiez, La Révolution française.3 Bde. Paris: Armand Colin 1922–1924. Der alte Staat und die Revolution.

k Tocqueville,

VI. Fanatiker – Führer – Regenten

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gewannen die Oberhand, als es ihnen gelang, die Bauernschaft zu integrieren, und im Ergebnis des verlorenen Weltkriegs. Wir wollen die Grundthese aufstellen, dass die Entstehung von Revolutionen und die Richtung, die sie nehmen, von Bauern und Arbeitern bestimmt werden. Dies gilt für die Vergangenheit und für zukünftige Entwicklungen. Kommt es zu Krisen und wirtschaftlichen Depressionen, dann wird die Bauernschaft ohne weiteres das Ressentiment, das sie traditionell gegen das urbane Bankkapital hegt, in einer antikapitalistischen Haltung ausformen, die den Forderungen der radikalen Parteien entgegenkommt, in denen die Massen der Industriearbeiter sich politisch organisieren. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit werden zu solchen Bewegungen Minoritätsgruppen oder benachteiligte Gruppen hinzustoßen wie z. B. die Ureinwohner Mittel- und Südamerikas oder die Schwarzen der Vereinigten Staaten, also all diejenigen, die weniger aus ökonomischen Gründen als wegen Fragen der politischen Gerechtigkeit und der Billigkeit auf die Seite der Revolution treten.

VI. Fanatiker – Führer – Regenten Es ist das bedrohliche und zugleich faszinierende Vorrecht der Revolution, dass sie sich aller etablierten Herrschaft entledigt und die Freiheit hat, die Formen der Beherrschung und der Unterordnung, ohne die keine Bündelung der Massen auf Dauer gelingen könnte, neu zu konstituieren. Die Einzigartigkeit der revolutionären Situation liegt darin, dass in ihr, in einer Art historischer Kondensierung, eine Vielfalt von Herrschaftstypen auftritt, mit denen sich ein Panorama der Möglichkeiten des sozialen Miteinanders eröffnet, in dem Erhabenheit und Enthusiasmus ebenso ihren Ausdruck finden wie Grausamkeit und Vulgarität. Wenn wir davon sprechen, dass die Revolution das Gesamtphänomen einer historischen Transformation ist, so bedeutet dies, dass hier, in der Geburt einer neuen sozialen Welt, sich sämtliche menschlichen Fähigkeiten in Potenz zeigen. Es ist ganz richtig, wenn gesagt wird, dass die Radikalität und der Extremismus, die das Handeln in Zeiten der Revolution prägen, den religiösen Bedürfnissen der Gesellschaft entgegenkommen. Revolutionäres Handeln ist Handeln in vollständiger Hingabe an absolute Werte. Revolutionäre sind Menschen, die fest entschlossen sind, sich für ihre Sache zu opfern, allen Gefahren zu trotzen, sich einem Kampf auf Leben und Tod zu stellen. Hinter dieser Haltung steht die Idee, die revolutionäre Aktion diene der Erlösung der Menschheit, wodurch sie einen wahrhaft religiösen Charakter erhält. Dabei ist es nicht zwangsläufig so,

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Zur Sozialtheorie der Revolution

dass im Zuge jeder modernen Revolution bzw. Revolutionsdoktrin religiöse Kulte etabliert werden, wie es bei der Französischen Revolution der Fall war und wie sie in den soziologischen Schulen Henri de Saint-Simons und Comtes oder von Marx und Proudhon in ihren Systemen negativer Spiritualität gepflegt wurden. Der erste Typus einer revolutionären Autorität, der uns beschäftigen soll, ist deswegen der Fanatiker. Wie im Fall des Aufstiegs eines religiösen Bekenntnisses gewinnt auch im Zuge der Entwicklung einer Revolution der Fanatiker eine ungeheure Bedeutung. Er verleiht der Idee, die er vertritt, ein lebendiges Abbild. Die betörende Macht, die er entfaltet, verdankt sich der Magie der Worte, die er findet, ob in der Form der Rede oder in gedruckter Form. Was aber verleiht Worten Magie – in Zeiten der Reife, der ausgebildeten Verstandeskräfte? Magisch sind nicht die Worte selbst, sondern ihre Wirkungsweise. Es ist nicht so, dass der Fanatiker einer Idee Ausdruck verliehe, ihre Wahrheit in logischen Zusammenhängen entwickelte; sondern er demonstriert im Mittel seiner Worte, dass er wiedergeboren ist im Lichte einer Überzeugung, die jenseits der Logik und der Grammatik liegt, die den alltäglichen Sprachgebrauch tragen, ja über diese hinausweist. Es gehört zu den grundlegenden Erfahrungen, die wir den modernen Revolutionen entnehmen können, dass die Wahrheit über Politik und Gesellschaft zu besitzen die Menschen frei macht. An den modernen Revolutionen zeigt sich, dass die Menschen dazu neigen, ihre historische Situation und die soziale Welt, in der sie selbst leben, zu universalisieren, in diesen Umständen den letztendlichen Sinn des Lebens erfahren zu wollen. Und hier erkennen wir, dass der Fanatiker bzw. das fanatische Element ein unverzichtbarer Bestandteil jeder revolutionären Praxis ist, da erst er bzw. es die revolutionsbereiten Massen in Erregung zu versetzen versteht, den Enthusiasmus für die Revolutionsdoktrin zu wecken und deren autoritative Bedeutung zu sichern weiß. Im Fanatismus verbinden sich der Wille und eine emotionale Werthaltung. Er bedeutet die Überwindung von Trägheit, Gleichgültigkeit und Entwurzelung, die ansonsten die Mehrheit der Bevölkerung kennzeichnen. Deswegen ist der Fanatiker eine notwendige Größe jeder Revolution – als Stifter oder als Gründer, bis hinab zum billigen Propagandisten oder Demagogen eines neuen Evangeliums. Fanatiker appellieren an den Sinn für das Wahre und für die Gerechtigkeit in den Massen. Sie bringen den Wunsch nach Vergeltung und Hass hervor oder verstehen sie zu stimulieren. Sie glauben daran, dass man die Leidenschaften wecken muss, um eine revolutionäre Dynamik in Gang zu setzen. Doch die Rechnung ist falsch, ihre Hoffnung trügerisch. Zwar trifft es fraglos zu, dass der Vereinigung der Unzufriedenen eine überwältigende Welle der Entrüstung,

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der Forderung nach Gerechtigkeit vorausgeht. Aber wenn die revolutionären Anführer oder ihre Funktionäre meinen, nicht nur ihre eigene Hingabe und Begeisterung auf die Massen ausweiten, sondern die Leute auf Dauer unter einer solchen seelischen Spannung halten zu können, so unterliegen sie einem psychologischen Fehlschluss. Obschon die Massen ihr Vergnügen an der Entfesselung des Ressentiments gegen die Herrschenden haben, liegt ihnen doch nichts daran, für einen allzu langen Zeitraum im aufgewühlten Zustand zu bleiben. Letztlich wollen sie Sicherheit, ein beschauliches Leben, Ruhe und eine gute Zeit an den freien Tagen. Der schwere Irrtum, die Massen könnten auf Dauer beim Fanatismus gehalten werden, findet sich bei Revolutionären von Marius bis Leo Trotzki; die Leute sind überfordert damit, hochgespannte geistig-moralische Prinzipien zu pflegen, um beständig in der rechten Stimmung zu bleiben. Eher schon haben die Leute Geduld mit einem vulgären und perversen Fanatiker, der ihre Sexual- und Gewaltinstinkte anspricht. In allen Revolutionen sind Personen oder Banden aufgetreten, die nach den zuvor geltenden legalkonstitutionellen Bedingungen abweichende Eigenschaften und Bedürfnisse aufwiesen und diese deswegen unter der gesellschaftlichen Oberfläche auslebten und befriedigten. Kriminelle, Gesetzlose und Abnormale haben unter den Umständen der Revolution das Erscheinungsbild des Fanatikers, der Gemüt und Geist der Massen gegen die sexuellen, verbrecherischen Übergriffe und Perversionen der herrschenden Schicht mobilisiert. Es zieht sie in die Strafverfolgungsbehörden, wo sie die Möglichkeit haben, den eigenen perversen Neigungen nachzukommen, indem sie die verhasste Elite körperlich und seelisch schikanieren. Es existiert eine ununterbrochene Linie der Vulgarität und Perversion, die Jacques-René Hébert, Julius Streicher und diverse Mitglieder der verschiedenen Geheimpolizeien miteinander verbindet. Leute wie die Genannten sind unverzichtbar, wenn es darum geht, eine Revolution in Gang zu halten. Die Edelmütigen unter den Fanatikern sind ihnen in Hass verbunden; aber sie kommen nicht umhin, sich mit diesen vulgären Fanatikern zusammenzutun, verstehen diese es doch so viel besser als die Idealisten und die Spiritisten, die Bedürfnisse der Massen zu stillen. Das Zusammenwirken Héberts mit Robespierre ist das eindrucksvollste Zeugnis einer solchen prekären Verbindung. An ihm zeigt sich, dass die Massen mehr an Fragen der Sexualität interessiert sind, ob sie sich im normalen Rahmen vollzieht oder außerhalb seiner, als an Idealen. Überdies erkennen wir, dass für Massen, die von Angst und Feigheit erfüllt sind, Grausamkeiten und Folter ein bevorzugtes Ventil für ihre verdrängten Bedürfnisse darstellen. Eine soziologische Studie zur Revolution, die darauf verzichten soll, für eine bestimmte revolutionäre Richtung Partei zu ergreifen, muss zu der Einsicht

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gelangen, dass jede Revolution dem Öffnen der Büchse der Pandora gleichkommt. Es ist nicht möglich, eine Revolution auf ein Ideal zu gründen, ohne dass all das Verdrängte, die Ressentiments und die Gier, die durch Konventionen und Moralvorschriften in Schach gehalten wurden, freigesetzt würden. Dies gilt für religiöse wie für politische Revolutionen gleichermaßen. Es wäre eine unzulässige Generalisierung, wenn man heute Führerschaft als das allgemeine Prinzip von Herrschaft bezeichnen wollte. Aber von Führerschaft können wir mit Blick auf all diejenigen Sphären der Interaktion sprechen, die kennzeichnet, dass eine Gruppe eines ihrer Mitglieder zu ihrem Führer proklamiert hat, weil es erstens ihre Vorstellung bestmöglicher Vollkommenheit verkörpert (je nach Qualität der Gruppe z. B. unter beruflichen oder fachlichen, religiösen oder nationalen Gesichtspunkten) und zweitens man ihm zutraut, kraft seines Vorrangs das Niveau zu heben, die Einigkeit zu stärken, die Macht zu steigern. Eine solche Verbindung kann ebenso in Form einer Pfadfindergruppe oder eines Heereszugs, einer Betriebseinheit oder eines Klubs auftreten oder, im Rahmen einer demokratisch verfassten Nation, die sich in politischen Parteien organisiert, durch die Wahl demokratischer Führer. Wenn wir hier von einem Führer-Gefolgschaft-Verhältnis sprechen, so geht es dabei nicht um Herrschaft, sondern um Interaktion. Damit ist gemeint, dass einerseits der Führer den Erwartungen der Gruppe an seine Person gerecht werden muss, während andererseits die Gruppe fortlaufend von den Eigenschaften des Führers geprägt wird. Es handelt sich also um eine dynamische und schöpferische Verbindung. Der Führer gewinnt an Sichtbarkeit, womit sich zugleich die Aufmerksamkeit erhöht, die die Gruppe ihren institutionellen Verhältnissen widmet. Er ist aus dem Kreis der Mitbewerber ausgewählt und von der Gruppe geprüft worden; in diesem Sinne bildet die Schulung in der Armee, in politischen Parteien, in Klöstern oder in kirchlichen Ämtern ein ausgezeichnetes Testgelände für angehende Führungskräfte. Es gibt allerdings neben diesen Formen der Führerschaft einen von ihnen unterschiedenen Typus, den wir den Abenteurer nennen wollen. Er macht seinen Weg außerhalb der Welt der Institutionen, abgesondert, weil er ein Leben hingegeben an die Welt seiner Träume führt, oder weil man ihn aus der Welt der Institutionen verbannt hat. Der Abenteurer ist ein Führer-Typus, dem es gelingt, eine Partei um sich selbst herum aufzubauen und sie nach seinem Bild zu formen, sich der Interaktion zu entschlagen, das grundlegende soziale Gleichgewicht von Handeln und Behandeltwerden außer Kraft zu setzen, und das Prinzip zu etablieren: Imitatio fecit filios, Nachahmung macht zu Söhnen – in Umkehrung

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der Überlegung Luthers, der zufolge das Sohnwerden die Nachahmung mache (non imitatio fecit filios, sed filiatio fecit imitatores).l Beide Typen der Führerschaft, die wir geschildert haben, bilden Komponenten der Revolution. Allgemein können wir feststellen, dass der Typus des Führers in den ersten beiden Phasen, die eine Revolution durchläuft, eine bedeutende Rolle spielt, in der Figur des Fanatikers oder ihm Verbund mit Fanatikern. Mirabeau und Kerenski gelang es, dem ersten Akt der Revolution, an der sie teilhatten, den Stempel aufzudrücken; aber mit der rasanten Radikalisierung im Zuge der zweiten Phase verloren sie ihren Einfluss. Grundsätzlich müssen wir davon ausgehen, dass wir, um die charakteristischen Eigentümlichkeiten eines Führers zu verstehen, die Struktur der revolutionären Gruppierung, der er vorsteht, nicht unberücksichtigt lassen dürfen. Es macht einen Unterschied, ob es sich um eine politische Partei handelt, eine Anwaltskammer, ein Offizierskorps, eine kirchliche Behörde oder ein Kloster, ob um Aristokraten, die Bourgeoisie oder Proletarier. Davon abgesehen gilt, dass die erste Phase einer Revolution gekennzeichnet ist von dem Bemühen der Führer, das soziale Gefüge zu erneuern, ohne die Kontinuität mit der vergangenen Verfassung vollständig preiszugeben. Doch wird ein solcher Versuch niemals gelingen; die Radikalen und Extremisten werden insistieren, man müsse mit den Traditionen brechen und die Vergangenheit Vergangenheit sein lassen: Sie stehen ihrerseits unter dem Druck derjenigen revolutionären Gruppierungen, die sich nach dem Ausbruch der Gewalt sehnen. In dieser Phase der Revolution bedeutet Führerschaft, die Begehrlichkeiten der Massen zu erfüllen; Führer ist nun der, dem es gelingt, seinen Unterstützern zu gehorchen. In allen Revolutionen bildet das Führer-Gefolgschaft-Verhältnis ein Surrogat für eine Dynastie, ein Patriziat oder einen Aristokratenstand, die über das Privileg verfügen, Eigentümer der Verwaltung zu sein und die politischen Vollmachten zu organisieren und zu verteilen. Dies erklärt auch, warum am Beginn einer Revolution eine Vielzahl von Parteien existiert – die sich nicht im Prinzipiellen voneinander unterscheiden, sondern wegen ihrer spezifischen, häufig regional begründeten Interessenlagen. Diese Parteien formen ihre Führer entsprechend ihren Eigenheiten. Welche Eigenheiten aber weist ein solcher Führer auf?

l „In epistolam Pauli ad Galatas M. Lutheri commentarius. 1519“. In: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. 2. Band. Hrsg. Dr. J. K. F. Knaake. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1884, S. 436–618, hier S. 518.

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Zu Beginn einer Krise suchen die aufstrebenden Gruppierungen und Klubs nach einem Repräsentanten, der es versteht, sie in sich selbst zu einem sozialen Bild zu bündeln – und deswegen nach Menschen, die sich durch Wachsamkeit, Spontaneität, Vitalität, konstruktives Denken und Einfühlungsvermögen auszeichnen. Alle schwelgen sie im Wunschdenken, dass ihre Bewegung ihren Repräsentanten finden muss, der ein herausragender Führer sein wird, weil sie überzeugt sind, dies sei eine Bewegung der Gerechtigkeit. Ihnen fehlt das Bewusstsein, dass sie selbst unter dem Druck radikaler Kräfte Wandlungsprozesse durchlaufen werden. So sind denn diejenigen, die den Beginn der Revolution prägen, niemals diejenigen, die sie zu Ende bringen. Sie werden verschlungen werden, weil sie mit der gesteigerten Geschwindigkeit, die die Revolution über die Zeit entwickelt, nicht mehr mithalten können. Für das neue Vorhaben, das im Zuge der revolutionären Entwicklung Gestalt nimmt, sind sie überflüssig; die neuen Führer, die zu ihm passen, stehen schon bereit. An der Französischen Revolution, während der die einzelnen Phasen besonders deutlich zutage treten, zeigt sich, dass auch wahrhaftige Größe, verkörpert in Mirabeau, über den Verlauf der zweiten Phase keine Macht mehr hat. Meistens wird der revolutionäre Führer, sobald ein neuer auftritt, der, radikaler und gewaltsamer als er, besser die vorherrschenden Leidenschaften abbildet, eliminiert. Robespierre und Saint-Just, Trotzki und Bucharin sind solche radikalen Führer gewesen, die die Revolution zu einem Extremwert trieben. Sie drängten auf die Perfektion der Republik bzw. auf die wahrhaft demokratische Sowjetrepublik, zeigten sich treu verbunden dem abstrakten Ideal der dogmatischen Partei. Allerdings war ihr letztendliches Scheitern unvermeidlich; was sie präsentierten, war eine Idealvorstellung im Dienste der allgemeinen Menschheit, nicht ein Programm zum Wohle eines konkreten, lebendigen politischen Verbands. Wir tun gut daran, wenn wir den Gedanken in Betracht ziehen, dass Robespierre oder Trotzki weniger als politische Führer, vielmehr als Stifter von Sozialreligionen klassifiziert werden sollten. Ein wahrhafter Führer überprüft seine Vorstellungen anhand der Bedürfnisse seiner Gesellschaft. Er ist sich der Vulgarität der Leute bewusst und weiß, dass ihre Begehrlichkeiten grenzenlos sind – obwohl sie andererseits schon zufrieden sind, wenn man ihnen nur ein bisschen Sicherheit gibt. Er überblickt die Wirklichkeit in ihrer Komplexität, analysiert fortlaufend die Mittel, die für die Organisation und die Verteilung der Macht zur Verfügung stehen, und das Beziehungsgeflecht, das damit einhergeht. Er ist in der Lage, zu unterscheiden zwischen dem Lärm, den die Gremien und die Versammlungen produzieren, und den tatsächlichen Mächten: der Wirtschaft, der Armee und der öffentlichen Meinung. Solche wahrhafte Führerschaft lässt sich im Rahmen einer Revolution

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nicht praktizieren; die rivalisierenden Gruppierungen kommen immer wieder auf Führer zurück, die die Hochspannung zwischen einer Idealvorstellung und der prekären, unkalkulierbaren Wirklichkeit abbilden. Während Führerschaft in einer arrivierten Gesellschaft bedeutet, die Regeln des Spiels zu beherrschen, bedeutet Führerschaft zu Zeiten der Revolution, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Revolutionäre Führer bleiben Parteigänger, die den Bedürfnissen ihrer Unterstützer genügen müssen – Unterstützer, deren Blick niemals über den engen Horizont ihrer eigenen Interessen und Maximen hinausreicht. So ist eines der Kennzeichen von Revolutionen die ungeheure Verschwendung von Führungspersonal. Die Abfolge revolutionärer Aktivitäten gleicht einem fortgesetzten Kampf darum, wer am Ende die Macht hat. Dieser Kampf wird aber, solange Führer und Gruppierungen nicht Prinzipien und Ideale aufrichten, die die Wirklichkeit der gesamten Bewegung abbilden, sondern parteiisch agieren, nie vollständig beendet sein. Zu den Kennzeichen der Moderne zählt, dass politische Parteien ebenso rigide und rationell organisiert sind, wie die Institutionen des Militärs und der Wirtschaft. Aus diesem Grund kommt es auch zu einer Verschiebung im Typus der Führerschaft. An die Stelle des extrovertierten, emotionalen und abenteuerlustigen Redners tritt der introvertierte und ruhige, diszipliniert und mit technischem Verstand verfahrende Typus, wie Napoleon oder Lenin ihn verkörpern. Die Schulung des Militärs ebenso wie der Parteien beruht auf den Fähigkeiten der klugen Steuerung der individuellen Kräfte, der sorgfältigen Kalkulation des Systems der Kräfte, mit denen man es zu tun hat, des Bemessens der Mittel, deren es für den angestrebten Erfolg bedarf, und der Berechnung des Preises, den zu zahlen man bereit sein muss, um die gesteckten Ziele zu erreichen. Entscheidend am Wandel des Verständnisses von Führerschaft ist der Übergang vom klassischen zum industriellen Typus, von den Qualitäten des Redners oder des Sophisten zu denjenigen des Militäringenieurs, oder besser: des ingeneurialen Militärs. Damit ist gemeint, dass das fanatische Element sich von den emotionalen Kräften, die der Führer entfaltet, auf seine Willensstärke verlagert, d. h. die Massen jemandem ihr Vertrauen weniger wegen seiner erhabenen Prinzipien oder seiner schönen Reden zu schenken bereit sind, sondern sich eher auf solche Führer verlassen, denen sie Sachverstand und Durchsetzungsfähigkeit zuerkennen. Sie verzichten gern auf das Pathos der Ideen zugunsten der argumentativen Haltung eines Experten bei Gericht. Das Verhältnis von Führern und Gefolgschaften heute ist weit weniger emotional geprägt, weit weniger romantisch, als es in früheren Zeiten war. Denn die modernen Massen haben die Schule der politischen Parteien, der Klubs und der Diskussionsforen durchlaufen,

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weswegen sie sich ihren Problemen mit Mitteln des Verstands nähern und tatkräftige Führer bevorzugen, die in sich das strategische und technische Wissen vereinen, dessen es für planvolle revolutionäre Aktionen bedarf. Die Einstellung und die Denkweise eines echten Führers referieren auf die Eigentümlichkeit des Kollektivs, dem er zugehört. Ein wahrhafter Führer bezieht Durchhaltevermögen, Lebenskraft und Handlungsmacht aus der fortwährenden, sich immer wieder erneuernden Wechselbeziehung mit dem lebendigen Geist, der seine Gruppe trägt. Der soziologische Begriff des Abenteurers und die Darstellung eines Verhältnisses von Verführern und Verführten beschreiben etwas, das dem geschilderten Zusammenhang fast konträr gegenübersteht. Wir sollten einen selbsterkorenen nicht mit einem echten Führer und nicht mit einem Herrscher von historischem Format verwechseln. Gleichwohl ist es wichtig, solche Übergangsphänomene zu studieren, verdankt doch die begriffliche Verwirrung, die die Rede von Führern und Führerschaft häufig kennzeichnet, sich ihrer überbordenden Verallgemeinerung. Der selbsterkorene Führer entstammt nicht einer bestimmten Gruppe, sein Auftreten ist nicht die Folge der Entwicklung, die eine bestimmte Gruppe durchlaufen hat, oder der Ausnahmesituation, in der sie sich befindet. Seine soziale Lage ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass es ihm an einem sozialen Bezugsrahmen mangelt. Anders als der echte Führer ist er eine Figur des Alleinseins, befindet sich von Anfang an zwischen den unterschiedlichen Strömungen. Wegen seiner Isolation bewegt er sich üblicherweise auf neurotischen Bahnen, entwickelt eine Gier nach Macht. Er wirkt wie ein Fremder, bewahrt gegenüber seiner Gefolgschaft Distanz, begegnet seinen Leuten mit Misstrauen und Zurückhaltung. Womöglich hat er selbst die Erfahrung gemacht, dass ihm mit Misstrauen begegnet wurde; womöglich hat er erlebt, von einer sozialen Institution oder aus einer politischen Partei ausgeschlossen worden zu sein. Keinesfalls lässt sich sagen, dass er vom lebendigen Geist seiner Gruppe getragen würde, dass sie das Zentrum seines Elans, seiner Kraft, seiner Vitalität bilde. Der Abenteurer-Führer entspringt also nicht der dynamischen Entwicklung, die eine Gesellschaft im Ausnahmezustand nimmt. Im Gegenteil entwirft er ein Bild der Krise, in dessen Mittelpunkt er selbst positioniert ist, um eine Partei um diese Mitte herum aufzubauen – herum um seine isolierte, ungesellige Persönlichkeit. Er ist es, der diese Partei organisiert und unter Kontrolle hält, der die Anhänger fasziniert und hypnotisiert, ihnen seinen Willen aufzwingt. Eine solche Partei, die fortwährend der Manipulation ihres selbsterkorenen Führers unterliegt, der besessen ist von einer einzigen Idee und sie unbedingt seiner Gefolgschaft oktroyieren will, unabhängig von deren Bedürfnissen und Gedankengut, ist das Gegenteil der Parteien, die aus dem sozialen Gefüge moderner Gesellschaften

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hervorgegangen sind. Kennzeichnend für diese Art von Organisationen ist vielmehr, dass der Abenteurer zuerst solche Elemente der Gesellschaft erreicht und fasziniert, deren Existenz ebenso labil und ungesellig ist wie diejenige dieses falschen Führers, der die Richtung der Partei vorgibt. Unter ihnen sind Gesetzlose und Kriminelle, Leute, die ein Leben außer Rand und Band führen, und catilinarische Existenzen, die Status und Prestige verloren haben und es mühelos und ohne Rücksicht auf Gesetze wiedererlangen wollen. Dazu kommen Romantiker, frustriert von den Routinen der industrialisierten Massengesellschaft, in der niemand sie ernst nimmt; Veteranen und andere ehemalige, entwurzelte Soldaten; Menschen, die in den Schlupflöchern, die die geltende Rechtsordnung lässt, ihr Leben fristen. Solchen Leuten vermittelt der Abenteurer-Führer das unmittelbare Gefühl, er könne wie ein Magier sie aus ihren Ungewissheiten retten und ihnen zum Aufstieg auf der Leiter des gesellschaftlichen Erfolgs verhelfen. All diese Akteure sind erfüllt vom Traum des Abenteurers, eine ganze Nation zur Beute zu haben. Deswegen, und weil sie so wenig über einen sozialen Bezugsrahmen verfügen wie derjenige, der sie verzaubert, kann keine Rede davon sein, dass zwischen ihm und ihnen eine konstruktive Wechselwirkung bestehe. Solche Gruppierungen von Ungeselligen kennzeichnet, im Unterschied zu dem, was in echten Führer-Gefolgschaft-Verhältnissen der Fall ist, der Genuss, der dämonischen Gewalt einer herrischen Persönlichkeit Untertan zu sein – einer herrischen Persönlichkeit, die ausschließlich um ihre eigenen Komplexe kreist, die keinen Wert darauf legt, eine konstruktive Beziehung zu ihren Anhängern zu unterhalten, solange sie nur deren Jubel, Lob und Huldigung erfährt. Catilina, Louis Napoléon, Mussolini und Hitler sind nur die prägnantesten Fälle unter all den Abenteurer-Magiern, die eine revolutionäre Situation für ihren eigenen Nutzen auszuschlachten wussten. Dies sind Persönlichkeiten, die eine soziale Bewegung kreieren, die festgelegten Pfaden folgt; denen es aber nicht gelingt, einen Ausweg aus der revolutionären Situation zu finden. Im Gegenteil drängen sie darauf, die Einrichtungen der Revolution zu Konstituenten des alltäglichen Lebens umzuschaffen – und schaffen so die Grundlage, um das Prinzip der permanenten Revolution mit dem Prinzip des totalen Staats zu verbinden. Abgesehen von oberflächlichen Ähnlichkeiten haben wir es also im Fall des selbsterkorenen Führers und seiner Gefolgschaft tatsächlich mit einem Verhältnis von Herr und Knecht zu tun, während es sich beim echten Führer-GefolgschaftVerhältnis um ein konstruktives Zusammenspiel in Form gegenseitigen Gebens und Nehmens, gegenseitigen Beeinflussens und Beeinflusstwerdens handelt. Der Anschein der Ähnlichkeit zwischen den beiden Formen des Führer-Gefolgschaft-Verhältnisses kann für den oberflächlichen Betrachter entstehen, weil im Fall des Herr-Knecht-Verhältnisses Techniken der Massenmanipulation zum

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Einsatz kommen, die auch auf demokratischem Weg verwendet werden können. Wir müssen uns deutlich machen, dass jede Technik, und so auch diese, an sich eine neutrale Größe ist; ebenso die Kräfte der Demokratie wie antidemokratische Kräfte können sie sich zu Eigen machen. Und jedenfalls ist es, bei derartigen Werkzeugen, bequemer, Herrschaft auszuüben als spontane, konstruktive Beziehungen zu unterhalten. Wie dem auch sei, solange der Geist der Demokratie, indem er als Lebensform praktiziert wird, überlebt, so lange bleibt auch das echte Verhältnis von Führer und Gefolgschaft unbeschädigt. Die Unterscheidung zwischen echter Führerschaft und einer Führerschaft des Scheins ist auch deswegen wichtig, weil sie uns den Weg zu einem weiteren Begriff weist, mit dem wir denjenigen Handlungstypus erfassen können, mit dem die terroristische Phase der revolutionären Entwicklung endet und die folgende, die wir das Regime des Thermidor nennen, beginnt. Eine solche Phasenverschiebung können wir neben dem Fall der Französischen Revolution auch für die Römische und die Russische Revolution beobachten. Derjenige, der die Revolution zu ihrem Ende führt, entspricht nicht dem Typus des Abenteurers; er ist überhaupt kein Führer, sondern – wenn wir von der gegenwärtigen Konfusion über den Begriff der Führerschaft absehen – ein Regent. Der Regent bildet seinem Wesen nach nicht ein Element einer sozialen Beziehung auf Gegenseitigkeit, wie dies bei echten Führer-Gefolgschaft-Verhältnissen der Fall ist. Ebenso wenig entspricht er dem ungeselligen und isolierten Herrn, der über eine nihilistische Bewegung gebietet. Anders als dieser agiert der Regent in Verbindung mit einer sozialen Institution, einer Partei, einer Truppe. Aber seine Eigenheit und Eignung ist nicht das Ergebnis seiner Teilhabe an ihr. Seine Superiorität entfaltet sich zwar innerhalb sozialer Institutionen, aber transzendiert sie zugleich. Das Siegel historischer Größe ist es, Herrschaft, Planung und Zusammenhalt innerhalb einer Gruppe, für und gegen sie hervorzubringen. Derjenige, der die Revolution zu ihrem Ende führt, ist jemand, der die Einheit dessen, was die Gesellschaft brüchig werden ließ, sie zersetzte, zu sehen vermag. In diesem Regenten verbindet sich das Alte mit dem Neuen, währende Elemente der politischen Überlieferung mit schöpferischen Elementen der Revolution – in dieser Verbindung liegt das Geheimnis seiner Persönlichkeit. Neben einer Vision der Einheit, der Wiedervereinigung, verfügt er über die Klugheit und den Willen, sie zu vollbringen. Mit seinem überlegenen Geist versteht er die Massen zu faszinieren, oder wenigstens seine Gruppierung. Allerdings sind ihm ihre Zustimmung, ihre Liebe und ihr Enthusiasmus kein Bedürfnis; genau hierin unterscheidet der echte Regent sich vom Schein-Regenten. Ein Regent von historischem Geist weiß, wann es gilt, die Massen zu manipulieren, und wie dies geschehen muss; jedoch bleibt er in seiner eigenen,

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den Massen entzogenen Welt. Er ist wegen seiner Überlegenheit für sich; dagegen ist der Schein-Führer wegen seiner Minderwertigkeit isoliert. Ein echter Regent klärt sein Anliegen, um mit sich einig zu sein, während ein selbsterkorener Führer bloß ein Anliegen sich sucht, das seinem Superioritätsstreben dient. Sein Anliegen manifestiert sich in der Vision eines politischen Ganzen, ausgehend von der Notwendigkeit der Integration seiner Elemente. In der Vergangenheit, im Fall von Regenten wie Caesar oder Napoleon, die von den integriertesten Institutionen ihrer Zeit, von Armeen, getragen wurden, nimmt dieses Anliegen im Traum einer befriedeten, nach Rechtsgründen wohlverwalteten Welt Gestalt. Trotzki verdanken wir die profunde Einsicht, dass der russische Thermidor – das Ende von Lenins Vision einer Sowjetdemokratie – mit Stalin vollzogen war, weil dessen Anliegen in der Vision eines Sozialismus in einem Land, getragen durch eine totalitäre Organisation gemäß bürokratischer Strukturen, sich manifestierte.m Der Regent, der nicht als ein Nachkomme, sondern aus historischem Geist regiert, ist niemals ein Führer, niemals ein Abenteurer oder Fanatiker. Er ist ein wahres Genie der Zusammenordnung und Bewältigung der Wirklichkeit.

VII. Die Intellektuellen Das soziologische Denken des vergangenen Jahrhunderts ging seiner allgemeinen Tendenz nach von einem naturalistischen bzw. materialistischen Verständnis der Geschichte aus, bis hin zur Annahme einer vollständigen Determination der sozialen Entwicklung durch ökonomische oder andere ihr äußerliche Kräfte. Marx, dessen Theorie zu dieser Tendenz wesentlich beigetragen hat, ist allerdings misslicherweise selbst der beste Zeuge gegen diese Theorie. Denn die Entwicklung der Industriegesellschaft, der Einstellungen und Praktiken der in ihrem Rahmen interagierenden Gruppierungen, hätte anders ausgesehen, als sie sich darstellt, wenn Marx seine Ideen über die Revolution im Innern der Industriegesellschaft nicht in die Welt entlassen hätte. Solche Ideen, nicht ökonomische Kräfte allein, bilden ein wesentliches Element im Aufbau der modernen Revolutionen. Wir können demnach davon ausgehen, dass Intellektuelle eine besondere Bedeutung für Entstehung und Verlauf von Revolutionen haben. Intellektuelle

m Leo

Trotzki, Verratene Revolution. Was ist die U.S.S.R. und wohin treibt sie? Antwerpen: Editions de Lee 1936. Vgl. Josef Stalin, Fragen des Leninismus. Moskau: Verlag für fremdsprachige Literatur 1947.

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können wir klassifizieren nach berufsmäßigen, unabhängigen und abhängigen Intellektuellen, wobei die Gruppe der berufsmäßigen Intellektuellen die Kleriker, Rechtsgelehrten und Wissenschaftler umfasst. Allerdings lässt der politische oder revolutionäre Geist, den ein Intellektueller entfaltet, sich nicht allein nach diesen Kategorien bestimmen. Hierfür müssen zwei weitere Aspekte berücksichtigt werden, einerseits die soziale Klasse, andererseits die Berufsfunktion. Damit soll gesagt sein, dass die Solidarität, die ein Intellektueller gegenüber seinem Berufsstand an den Tag legt, nur ein Oberflächenphänomen ist. Unter dieser Oberfläche ist er geprägt von seiner ursprünglichen Klassenlage sowie der Stellung und Funktion, die er sich in seinem Berufsfeld erworben hat. So ist ohne Frage der Klerus als eine Institution geneigt, den Status quo zu unterstützen, während jedoch, von der Reformation bis zur bolschewistischen Revolution, verschiedentlich Gruppen von Mönchen oder die niederen Schichten des weltlichen Klerus aktiv an revolutionären Bewegungen teilnahmen. Hierfür lassen sich zweierlei Gründe angeben; zum einen die Erwartung, von allzu strengen Regeln frei zu werden, zum anderen die Hoffnung, als Lohn für ihre Zusammenarbeit mit den radikalen Kräften die höchsten Würden innerhalb der eigenen Institution zu erlangen. An dieser Stelle ist allerdings eine Einschränkung für den Fall religiöser Revolutionen vorzunehmen. Wie die Beispiele Buddhas und des Heiligen Franziskus zeigen, spielt es in diesem Fall keine Rolle, welcher Klasse derjenige zugehört, der, ob in der Gestalt des Denkers, Mystikers oder Geistlichen, die revolutionäre Idee hervorbringt, oder welche Stellung im Rahmen der Institution er einnimmt. Unter den berufsmäßigen Intellektuellen waren es die Rechtsgelehrten, deren Teilhabe an den modernen Revolutionen besonders augenfällig ist, was aus verschiedenen Gründen naheliegend ist. Erstens waren allein sie fähig zu prüfen, ob die Regierenden bei ihrem Tun den Buchstaben und den Geist der Gesetze beachteten. Zweitens waren die Rechtsgelehrten, die das Zentrum des Bildungsbürgertums darstellten, wirtschaftlich unabhängig, hatten überdies die Möglichkeit, Kanzleien zu unterhalten und Angestellte zu beschäftigen, sodass sie sich den politischen Dingen widmen konnten. Drittens opponierten und revoltierten im gesamten Zeitraum von der Renaissance bis zur russischen Revolution von 1905 Advokaten jeder Couleur gegen die Regimes, die Kirche oder Militär entfalteten. Es waren unabhängige Juristen, die jene Ideen hervorbrachten, die die Grundlage für alle liberalen und liberal-demokratischen Regierungsformen bilden. Die Einmütigkeit des Berufsstands war ein Effekt der Pressionen, die die ihnen feindlich gesonnenen Kräfte der Reaktion ihnen auferlegten. Innerhalb seiner existierten zu jeder Zeit Nuancen eines freiheitlichen, revolutionären

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Geistes, ein in Korrespondenz zur wirtschaftlichen Lage und dem sozialen Prestige der einzelnen Gruppierungen sich ausprägender Radikalismus. Wenn die Kräfte der Reaktion zerfallen, spaltet die Gruppe der Rechtsgelehrten sich in eine Gruppe bürgerlicher, antirevolutionärer Advokaten und eine Gruppe der radikalen Kritik auf. Die gewaltige Bedeutung, die der Berufsstand im Zuge liberaler Revolutionen erhielt, verdankt sich, wenn wir auf Russland und Deutschland sehen, der Tatsache, dass es hier bei den Privilegierten, die über das Monopol der Verwaltung verfügten, sich um Absolventen juristischer Fakultäten handelte. Im Ergebnis existierten in den beiden Ländern größere Gruppen von liberalen, revolutionär orientierten Aristokraten, die über Erfahrungen in der kommunalen oder staatlichen Verwaltung verfügten. Man kann mit gutem Recht die allgemeine These formulieren, dass in Monarchien ebenso wie unter Militärregimes die bürokratischen Kräfte zu einer liberalen Verwaltungspraxis neigten. Davon zeugt nicht zuletzt der Fall Österreichs zu Zeiten der Habsburger Monarchie. Der revolutionäre Geist in den Rechtsberufen entspringt, unter Gesichtspunkten der Professionalität betrachtet, der Erfahrung des Antagonismus von Recht und Wirklichkeit; unter allgemeinen sozialen Gesichtspunkten ist er eine Reaktion auf den fortgesetzten Verlust von Status und Prestige. Allerdings ist innerhalb der Gruppe der Akademiker eine gewisse Ambivalenz hinsichtlich ihrer Haltung zur Revolution festzustellen. Wenig überraschend gibt es immer solche, die sich, unabhängig von der Form der Verfassung, ob aus moralischen Gründen oder aufgrund logischer Erwägungen, berufen fühlen, als die wahrhaftigen Wächter des Status quo zu wirken. Zugleich gibt es solche, die, inspiriert von historischem Bewusstsein und einer Vorstellung sozialer Verantwortung, sich zu Prognosen kommender Krisen veranlasst sehen, ohne aber das Gefühl zu haben, es falle auch in ihre Verantwortung, etwas deswegen zu unternehmen, also eine Katastrophe zu verhindern oder die Entwicklung in eine bestimmte Richtung zu lenken. Vielmehr begrenzen sie ihre Verantwortung auf diejenige des Gelehrten der Krisenzeiten: die überlieferte Bildung, die Maßstäbe des Schönen und der Vollkommenheit lebendig zu halten und zu pflegen, indem sie mit ihrer Arbeit fortfahren, danach strebend, der Aufklärung Dauer zu verleihen, auf dass deren Lichter nicht verlöschen mögen. Ihre Hingabe an die höchsten Güter soll es, wenn einmal die Krise bewältigt sein wird, den Menschen ermöglichen, ihr Leben auf einer geistigen, moralischen, seelischen Grundlage zu führen. Gleichwohl finden sich unter den Akademikern auch solche, deren Haltung gerade auf das Gegenteil hinausläuft. Ihr Verantwortungsgefühl sagt ihnen, dass sie, da sie die Heraufkunft einer revolutionären Situation mit Mitteln der Wissenschaft vorherzusagen verstehen und revolutionäre Wege auszuarbeiten

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in der Lage sind, aktiv werden müssen, um die Gesellschaft in einen neuen, wissenschaftlich unwiderlegbaren Zustand zu überführen. Es kann kein Zweifel bestehen, dass die unterschiedlichen Haltungen, die Akademiker angesichts einer revolutionären Situation an den Tag legen, nicht ausschließlich durch den Charakter oder eine Klassenlage erklärt werden können; auch die Forschungsgebiete und Lehrfächer sind von Bedeutung. Denn sie alle befinden sich in einer bestimmten, größeren oder geringeren, im Lauf der Zeit in ihrer Ausprägung sich wandelnden Nähe bzw. Distanz zur gesellschaftlichen Ordnung und Entwicklung. So entfaltet in manchen Zeiten die Theologie eine prägnante Bedeutung, in anderen Zeiten das Recht oder die Geisteswissenschaften, in unserer Zeit die Sozialwissenschaften und im atomaren Zeitalter die Physik. Allgemein haben im Zeitalter der Technologie und der Massengesellschaften die Naturwissenschaften und die Ökonomie den Vorrang. Zu denken geben sollte uns indes auch das Faktum, dass Feuilletonisten, Literatur- und Geisteswissenschaftler in ihrem Tun tiefgreifend geprägt von der revolutionären Situation der gegenwärtigen Welt sind. Kennzeichnend für die gegenwärtige Lage ist es, dass die akademischen Berufe aus sich heraus keine integrative, Einheit stiftende Kraft entwickeln, obwohl das Schicksal der Bildung und des freien Denkens auf dem Spiel steht. Im Vergleich zu den berufsmäßigen entfalten die unabhängigen ebenso wie die abhängigen Intellektuellen in Revolutionen größere Bedeutung für die Verbreitung und Vermehrung von Ideen, Werthaltungen und Gemütszuständen. Wenn wir von unabhängigen Intellektuellen sprechen, so hat der Begriff zwei Facetten: wirtschaftliche und geistige Unabhängigkeit. Montesquieu etwa war wirtschaftlich unabhängig; seine antidespotische Philosophie konnte er als die subjektive Meinung eines Landedelmanns zum Ausdruck bringen. Die Existenz solcher Personen, die über ein hinreichendes Maß sozioökonomischer Unabhängigkeit verfügen, um unbeeindruckt von den Pressionen der Herrschenden zu wirken, ist für die Entwicklung eines progressiven, revolutionären Denkens von äußerster Wichtigkeit. Der Schutz dieser Denker ist ihre Zugehörigkeit zur Elite, deretwegen ihr Bestreben nach sozialem Wandel gemeinhin für ein bloßes Spiel mit utopischen Modellen gehalten wird. Einen anderen Typus des unabhängigen Intellektuellen verkörpern diejenigen, die in einer prekären Lage jenseits von Klasse und Stand sich befinden: utopisch oder messianisch orientiere Bohèmiens wie Rousseau, Comte oder Dostojewski. Darüber hinaus gibt es unabhängige Intellektuelle, die zugleich Geschäftsleute sind, wie Erasmus, der sich aus der überkommenen Abhängigkeit des Mäzenatentums löste, indem er sich mit seinen Freunden zusammentat, den BuchdruckerGelehrten Amerbach und Froben, die ihn zu ihrem Geschäftspartner machten.

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Den beschriebenen Formen der Unabhängigkeit korrespondieren Formen der Abhängigkeit. So steht dem Typus des wirtschaftlich unabhängigen Intellektuellen der Typus des Söldner-Intellektuellen gegenüber. Den kontrastierenden Fall zum berufsmäßigen Gelehrten oder akademischen Lehrer bildet der klassenlose Intellektuelle. Dieser hat gegenüber jenem, da er frei von den Vorurteilen aller Kasten und Klassen agiert, den Vorteil, die soziale Dynamik vom Ganzen her erfassen zu können, ein ganzes Feld von Kräften zu überblicken, in dessen radikalen, sich beschleunigenden Tendenzen sich eine revolutionäre Konfiguration anzeigt. Deswegen stammen die bemerkenswertesten Prognosen über kommende Revolutionen von Poeten und Philosophen, den Protagonisten der Empfindsamkeit und den radikal dem Denken Verpflichteten. Wir reden von Fällen wie denen Dostojewskis, Goethes oder Hegels, von Donoso Cortès, Jacob Burckhardt oder Tocqueville. Ohne Frage liegen wir richtig, wenn wir sagen, dass es die großen Menschen sind – groß nach Reichweite und Tiefe der Erfahrungen, die sie gemacht, und nach den Einsichten, die sie aus diesen Erfahrungen gewonnen haben –, die aus einer prekären Lage das Beste zu machen vermögen. Sie haben einen Blick für die Abgründe der menschlichen Existenz und des sozialen Lebens und verfügen damit über etwas, das solchen Intellektuellen, die den vorgegebenen geistigen, sozialen und professionellen Mustern folgen, verschlossen bleibt. Allerdings ist ihre Zahl gering. Wie aber verhält es sich mit denjenigen Intellektuellen, die ebenfalls von der allgemeinen Instabilität und Ungewissheit der sozialen Lage betroffen, aber ihrerseits keine großen Geister sind? Die Antwort auf diese Frage verweist uns auf den kontrastierenden Fall zum dritten Typus des unabhängigen Intellektuellen, des Geschäftsmanns-Gelehrten. Es handelt sich um unabhängige Intellektuelle, die zu abhängigen werden. Für die neue Abhängigkeit, die mit der Moderne entsteht, ist kennzeichnend, dass sie abstrakt und anonym ist – in der Form der Abhängigkeiten von der Öffentlichen Meinung, von den Gesinnungen der Gesellschaft bzw. deren Spitzen, von den Ressentiments der Unzufriedenen, von den Vorlieben dieser oder jener Gruppierung oder von den Erfordernissen des Literaturmarkts. Erasmus bildet tatsächlich einen Sonderfall; die lichte Stelle innerhalb des dunklen Bildes Intellektueller, die sich ihren Lebensunterhalt verdienen, indem sie ihr Wissen und ihre Bildung an den Höchstbietenden verkaufen. Der SöldnerIntellektuelle in diesem Sinn, jener Angestellte, der dem neuen Mittelstand der technologisch-bürokratischen Gesellschaft zugehört, ist bei jeder Revolution, die ansteht, dabei. Die überwältigende Mehrheit derjenigen freien Intellektuellen, denen es nicht gelungen war, im akademischen Bereich oder bei der Regierung unterzukommen, zeigte sich für all die Verlockungen offen, die die Reichen und

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die Mächtigen zu bieten hatten. Im Ergebnis ist eine Klasse von modernen Sophisten entstanden, d. h. ein Typus Intellektueller, die in der Lage sind, ihre Tätigkeit den Bedürfnissen und Ansprüchen jeglicher Interessengruppe anzupassen, um diesen nachzukommen. So wie die Freunde Caesars zahlten die eifersüchtigen und missgünstigen Adligen Frankreichs oder Russlands große Beträge an bedürftige Angestellten-Intellektuelle, damit sie die herrschenden Eliten als politische Klasse zerstören und deren einzelne Mitglieder moralisch vernichten. Schriftsteller dieser Sorte sind jeglichem Organ der Macht und des Reichtums zu Diensten, schreiben gleichermaßen für und wider etwas oder jemanden, wechseln zwischen ihren Überzeugungen und verstehen sich auf Konversionen. Ihren Ausgangspunkt, ob als Freischaffende oder als Bürokraten, bildet die Annahme, dass das Leben selbst der erste Bedarf ist, dagegen Überzeugungen und das Begehren des Geistes einen doppelbödigen Luxus darstellen, vorbehalten den Reichen und Mächtigen, die zu manipulieren die Intellektuellen den Schlüssel besitzen. Die Gruppe der abhängigen Intellektuellen lässt sich nach deren innerer Orientierung klassifizieren. Zum einen gibt es diejenigen, die mit ihren Schriften das Ziel der Aufklärung der höchsten Ränge der Gesellschaft verfolgen. Sie richten ihre Bemühungen darauf, Unterschiede zwischen dem Gesetz und der Wirklichkeit, zwischen der Verfassung und der Ordnung der Gesellschaft zu demonstrieren, und propagieren eine wissenschaftliche Analyse der gesellschaftlichen Gegebenheiten, die die Herrschenden zu Reformen anleitet, dank deren sie auf radikalere Maßnahmen verzichten können. Dies ist der Fall bei Voltaire und den Enzyklopädisten – von denen man zwar meinte, sie bereiteten Revolutionäres vor, die aber der Intention nach Reformer waren. Eine zweite Gruppe abhängiger Intellektueller umfasst radikalere Akteure, die eine Revolution als Alternative in Betracht ziehen. Sie arbeiten daran, die Zuversicht, das Selbstbewusstsein und die Sicherheiten der Herrschenden zunichtezumachen. Deswegen begnügen sie sich propagandistisch nicht mit der Verbreitung neuer Ideen und der Eröffnung neuer Perspektiven, sondern gehen zum Angriff über: auf die Persönlichkeit des Regenten, die Schwächen von Ministern, die Nachlässigkeiten der Verwaltungsleute. Auf diese Weise sorgen sie, mit Blick auf konkrete Fragen der sozialen Praxis, für eine Steigerung der Anspruchslage. Diese Gruppe umfasst ebenso wie die erste alle erdenklichen Autortypen: seriöse, wissenschaftlich orientierte Schriftsteller, Gebildete mit politischem Ehrgeiz oder sensible Gelehrte von Ansehen, die von der raschen Zunahme allgemeiner Unzufriedenheit alarmiert sind. Wir können vom intellektuellen Mittelstand sprechen. Unverzichtbar auf dem Weg der Revolution ist ein dritter Typus abhängiger Intellektueller. Denn nie wird eine Revolution ihr Ziel erreichen, wenn nicht

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gründlich die Massen gegen die Herrschenden aufgewiegelt worden sind. Für deren Aufbegehren reicht es nicht hin, dass sie gelitten haben und gedemütigt worden sind; um es zu animieren, sie aus ihrer Trägheit zu lösen, muss, so wie die Menschen einmal sind, zuerst ein Begehren nach Kompensation geweckt werden. So fanden sich in allen Zeiten Söldner-Schriftsteller niedersten Rangs, die die wichtige Rolle dessen ausübten, der die Triebe der Massen gegen die herrschende Dynastie oder Gruppe wendet. Zu diesem Zweck, um den Massen ein Gefühl moralischer Überlegenheit gegenüber den Herrschenden einzuflößen, ist es bestens geeignet, wenn ein radikaler Schriftsteller mit Sorgfalt deren Sexualleben erkundet und ausbreitet. In allen revolutionären Epochen finden sich manipulierte oder geradezu erfundene Geschichtchen über die sexuellen Freibriefe, die die Herrschenden besäßen, und über deren Perversionen. Diese vulgäre Form der politischen Propaganda dient – in jeder Revolution – dazu, die in politischer Hinsicht amorphen Massen im Mittel der Stimulierung ihrer Gefühle zu erreichen. Von den Anwürfen gegen Alkibiades zu den pornographischen Pamphleten gegen Marie-Antoinette, von den Geschichten über Skandale am Wiener Hof bis zu Julius Streichers und Henry Fords Propaganda vom Juden als Sexualverbrecher sehen wir die Wiederholung des gleichen Musters: das Nutzbarmachen des Interesses der Massen an der Sexualität, um auf diese Weise die letzten Reste von menschlicher Anteilnahme und Respekt vor dem Gemeinwesen zu zersetzen und an deren Stelle ein Gefühl der eigenen moralischen Überlegenheit zu errichten. Stereotype über sexuelle Verderbtheiten sind, nicht anders als Stereotype über wirtschaftliche Ausbeutung oder mangelnde Tüchtigkeit der Verwaltung, wiederkehrende Muster revolutionärer Propaganda, die, je nach den Wesenszügen der sozialen Schichten und ihrer spezifischen Lage, sich unterschiedlich formieren. Diese Typenlehre revolutionärer Intellektueller wird mit dem Aufstieg organisierter revolutionärer Parteien obsolet, denn diese verfügen über Intellektuelle eigenen Formats, teilweise in der Bürokratie, teilweise auf der Führungsebene angesiedelt. Die Bürokraten-Intellektuellen sind Experten und Techniker der revolutionären Aktion, befasst mit der Analyse des revolutionären Gehalts des gegebenen Zustands. Die Intellektuellen in der Parteiführung arbeiten an der Verbreitung der Prinzipien der bereits wissenschaftlich begründeten Revolution und lehren die Massen, die die Revolution tragen werden, wie sie jene Techniken der revolutionären Aktion, die die Bürokraten-Intellektuellen entwickelt haben, zur Anwendung bringen sollen. Dabei ist das Verhältnis von Führung und Bürokratie organisierter revolutionärer Parteien von Ambivalenz geprägt. Dass Stalin Lenins Nachfolge antreten konnte, spricht dafür, dass Lenin den Traum einer sowjetischen Demokratie aufgegeben hatte und Stalins Position

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als Meister der vereinigten Parteibürokratie – als deren Fokussierungspunkt – anerkennen musste. In einem solchen Rahmen erweist sich als großer Mann derjenige, der eine außergewöhnliche Konzentrationskraft mit einem umfassenden Gespür für die verschiedenen Aspekte der Wirklichkeit zu vereinen weiß; der es versteht, die Verhältnisse von Mitteln und Zwecken zu wägen; der zu unterscheiden vermag, welche der Elemente der Öffentlichen Meinung von bleibender Bedeutung sind und welche verschwinden werden; der Geduld hat, zu warten weiß und das Gesamt der Wirklichkeit als ein einziges Kampfgebiet versteht. Und der, auf diese Weise gerüstet, am eigenen Selbst die historische Situation als Ganze erkennt – und von einer Gesellschaft, die sich nach einem Erlöser sehnt, als solcher erkannt wird. Ein solcher großer Mann ist also jemand, der magische Energien in die Gesellschaft ausströmen lässt, indem er die tiefen Leidenschaften, die aus einer Gesellschaft im Ausnahmezustand aufsteigen, widerspiegelt. Die Qualität der Wechselwirkung zwischen dem großen Mann und der Gesellschaft bestimmt sich immer nach derjenigen Institution, der es am besten gelingt, ein umfassendes gesellschaftliches Ganzes zu erzeugen. Welcher Körperschaft die Auswahl des Führers, des großen Manns der Stunde zufällt – ob einer Armee, dem Krieg an sich, der Kirche oder der Partei – ergibt sich aus dem Gesamtzusammenhang der sozialen Lage. Welche gesellschaftliche Dynamik aber der Führer, auf den die Wahl gefallen ist, zu entfalten vermag, hängt davon ab, welches Bild des Zustands der Vollkommenheit die Selbstdeutungen der Gesellschaft, mit der er interagiert, anleitet.

VIII. Terrorismus und Cäsarismus Eine Entwicklung, die sich in allen Revolutionen zeigt, ist das Obsiegen radikaler Kräfte nach einer Phase des Konstitutionalismus. Wenn wir von einer Phase des Konstitutionalismus reden, so ist damit ein Zeitraum gemeint, der durch das Bemühen freiheitlich oder fortschrittlich gesinnter Gruppierungen um eine Neujustierung der Verhältnisse zwischen den politischen Mächten, der Gesetzgebung und den sozialen Kräften gekennzeichnet ist; diese Gruppierungen suchen, jene Neujustierung mittels groß angelegter Reformen zu erreichen, bei freiwilligem Verzicht der Inhaber traditioneller Rechte und Herrschaftsansprüche auf dieselben. Ist aber das Fundament der Tradition einmal infrage gestellt und die Gewähr von Glaube und Sitte nicht länger gesichert, stehen die Strukturen der Legalität unter Änderungsvorbehalt, so weckt dies – in allen Schichten

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der Gesellschaft, besonders aber unter den Angehörigen der niederen Klassen – die Kräfte des Begehrens und der Gier, Verlangen nach Vergeltung und nach Genuss, erzeugt Explosionen des Hasses und der Gewalt. Wir sollten nicht übersehen, dass der Moment, in dem das zivile Leben und der Rechtsverkehr paralysiert sind, eine ganz eigene Erregung oder Versuchung für all diejenigen birgt, für die Revolution zuerst die Befreiung von sämtlichen Bindungen, Regeln und Verpflichtungen ist und deswegen Plünderung oder persönlich Rache an privaten Feinden zu nehmen bedeutet. Diese Entwicklungen setzen die organisierten Träger der Revolution unter einen wachsenden Handlungsdruck, der durch die Widerständigkeiten von Elementen der tradierten Ordnung verstärkt wird. So erklärt sich, dass es in allen Revolutionen den radikalen Kräften gelingt, den Prozess zu beschleunigen, die Intensität der Kämpfe zu steigern, schließlich ein zentralisiertes, monopolistisches Regime des Terrors zu errichten. Unter einem terroristischen Regime verstehen wir eines, in dem die Exekutive sämtliche Belange zu Fragen von allgemeiner Gültigkeit im Sinne der Revolution erklärt und zum Zweck von deren Entscheidung Gesetzgebung, Rechtsprechung und Vollzugsgewalt in einer Körperschaft vereint. Die Kriterien, die hier angewendet werden, richten sich nach dem Zweck der Wahrung der Fundamente der Revolution, weswegen die Menschen einzig noch danach beurteilt werden, ob sie in letzter Konsequenz dafür oder dagegen sind. Die Frage der Angemessenheit der Mittel, die man einsetzt, spielt keine Rolle mehr. Wann immer eine Revolution in die Phase des Terrorismus eintritt, begegnet uns der Typus des politischen Asketen, voll der Hingabe an seine Heilsvision, das eigene Leben der Sache opfernd – Beleg der immerwährenden Bedeutung des Asketentums, neue Werte zu schaffen, indem der Einzelne ihnen sich selbst vollständig zueignet. Dem Asketen relativ nahe steht der Typus des Zynikers; während jener ganz in einer Idee aufgeht, geht er ganz in der historischen Situation auf. Allgemein liegen die Dinge in der Phase des Terrorismus so, dass es naheliegend für jeden Bürger ist, öffentlich diejenige Haltung an den Tag zu legen, die gefordert wird; Vorsicht walten zu lassen gegenüber jedem, der ein Spitzel sein könnte; den eigenen Vorteil zu suchen, wenn er eine Tätigkeit aufnimmt; unterhalb der Oberfläche des politischen Geschehens sich für alle erdenklichen Formen der Bestechung bereitzuhalten. Die Herrschaft des Terrors wird immer den Scharfsinn und die Gleichgültigkeit, wird Abenteurertum und Gerissenheit hervortreiben – im Angesicht alltäglicher Bedrohung und der Willkür des Todes. So kommt es, dass für die Phase des Terrorismus die allgemeine Regel gilt, dass größere Teile der Bevölkerung allen Elementen der Revolution zur

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gleichen Zeit zu Diensten sind. Terror führt zum Rückzug, Rückzug zur Geheimhaltung, Geheimhaltung sorgt für Unabhängigkeit, Unabhängigkeit für Selbstermächtigung – da den Horizont nicht das Gesetz, sondern der Tod bildet. Für diejenigen, die unter solchen Umständen agieren, ist das einzige Heil, das bleibt, die vollständige Vernichtung aller Feinde; nicht einmal deren Kinder und Nachfolger dürfen überleben. Ganze Familien gilt es auszulöschen, so wie es in den griechischen und den italischen Republiken der Fall war, wie die römischen Proskriptionen es zeigen und all die Akte der Verfolgung von Gegnern, Emigranten und deren Familien seit 1789 bis in unsere Tage es bewahrheiten. Mit dem Regime des Terrors endet die Zeit der Revolution; noch jede Revolution hat ihre Kinder verschlungen. Auf Terror und Anarchie folgt der Cäsarismus. Unter Cäsarismus verstehen wir, dem historischen Modell nach, eine Herrschaftsform, die geprägt ist durch die Wiederherstellung von Rechtmäßigkeit, Sicherheit und Alltagsroutine durch einen Menschen von historischem Format. Der Caesar sorgt für das Erlöschen der revolutionären Energien, ist der Architekt eines Friedens in den inneren Verhältnissen. Die Phase des Cäsarismus, genauer der Horizont und das Maß der menschlichen, politischen und sozialen Werte, die der Caesar pflegt, geben Auskunft über die gesellschaftlichen Strukturen, zu denen der revolutionäre Wandel geführt hat. Wie der historische Caesar, so verbinden auf eigene Weise auch solche großen Männer wie Napoleon I., Napoleon III., Richelieu, Bismarck oder Lenin – als Friedensstifter, Gesetzgeber, Generäle jener Krise, die wir die Revolution nennen – in ihren Persönlichkeiten Elemente der Tradition mit Elementen der Revolution. Ihre Beziehung zur Gesellschaft ist ein Heiligenbund, der nur in Zeiten des Bruchs und der entfesselten Kräfte zustande kommt, eigene Kriterien der Größe hat und einer eigenen Dienstbarkeit bedarf. Blicken wir auf den Beginn der Revolution, so meinen wir einer reichlichen Menge sogenannter großer Menschen zu begegnen. Aber wenn wir etwa, im Fall der Französischen Revolution, an Mirabeau denken, der Größe hatte, so bemerken wir, dass seine Größe schon für die zweite Phase der Revolution nicht mehr hinreichte. Auch Robespierre oder Saint-Just, ebenso wie in römischen Zeiten Marius oder Sulla, sind zwar von großer historischer Bedeutung, doch haben sie keine wirkliche Größe, da sie nicht vermochten, sich über den Horizont der Parteien, der Programme und der eigenen Gefühlsbewegungen zu erheben.

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IX. Das Militär Keine Revolution wird siegen, die nicht die – offene oder latente – Zustimmung der Streitkräfte hat. Sie bilden unter den Institutionen politischer Macht diejenige mit dem höchsten Integrationsgrad. Deswegen wird jeder Regierung daran gelegen sein, ihre Strukturen zu stärken, sie instand zu halten und sich ihrer zu versichern. Um es förmlich auszusprechen: Es ist keine andere Einrichtung als das Militär gewesen, die das Leitbild für die moderne Verwaltungs- und Industrieorganisation gewesen ist. Zentralisation, Hierarchie, Autorität, Disziplin und Gehorsam sind die soziologischen Kategorien, die im Zuge der Planung einer Militäraktion als Voraussetzung von Effizienz und Effektivität eingesetzt werden. Diese Organisationsweise bildet den Modellfall einer planmäßig agierenden Gesellschaft, an dem man sich in allen Industriegesellschaften orientiert. Sie ist auch der Grund dafür, dass dem Militär in allen Revolutionen eine entscheidende Rolle zugekommen ist. Da ist zunächst das Phänomen der Söldnerheere. Wenn wir den Fall der Römischen Revolution nehmen, so haben wir es hier mit der Erzeugung derjenigen sozialen Verhältnisse zu tun, aus denen später der Prinzipat, d. h. das Gerüst eines imperialen Despotismus, hervorging: (a) die Vernichtung erst des freien Bauerntums, dann des freien Heerwesens, dann des freien Bürgertums; (b) der Aufstieg des urbanen, erwerbslosen Proletariats; (c) die Herausbildung von Söldnerheeren in der gesamten römischen Welt; (d) die populare Wahl kommandierender Generäle, etwa durch Volkstribunen; (e) der Antagonismus innerhalb des Senats: Optimaten vs. Popularen; (f) der Rechtsstillstand; (g) die Aufwertung der Militärs seit Sulla. So waren es dann Armeen, die Kandidaten für Ämter förderten, sie auswählten, Ernennungen aussprachen, politische Maßnahmen beschlossen. Im Fall des Aufstiegs des absolutistischen Staats sind entscheidend: (a) die Einführung einer dynamischen Finanzökonomie; (b) das Steuerwesen; (c) Söldnerheere, die das Emporkommen und den Erhalt des Regimes absicherten. Das Ende des absolutistischen Staats kennzeichnet, dass die fremden Truppenteile – Flamen, Deutsche, Schweizer – loyal gegenüber der amtierenden Regierung waren, dagegen die Einheimischen sich mit der Bevölkerung verbrüderten. Machiavelli und Adam Smith belehren uns über die politischen Folgen, die die Einführung von Söldnerheeren nach sich ziehen.n

n Machiavelli,

Discorsi, S. 239–241; Niccolò Machiavelli, Der Fürst. Übersetzt, eingeleitet und erläutert von Rudolf Zorn. Mit einem Geleitwort von Herfried Münkler. 7.,

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Damit kommen wir zu den nationalen Streitkräften. Es gilt allgemein, dass eine Gruppierung, die Militärdienst leistet, einen Zuwachs politischer Macht erfährt. Dies kann zu (a) einer Ausweitung der Demokratie führen, wie die folgenden Fälle zeigen: Athen, wo die Teilhabe der Ärmsten am Sieg der Seestreitkräfte bei Salamis, als Bootsleute und Ruderer, ihnen die Bürgerrechte einbrachte; Rom, wo die populare Republik als eine Republik des Bauern-Bürger-Soldaten entstand; Preußen, wo das Kantonsystem der Konskription das Versprechen einer Verfassung enthielt; Frankreich, wo die Konskriptionspolitik der Revolutionszeit sich mit der Vorstellung der Demokratie verband; die Schweiz als der klassische Fall einer Demokratie des Bauernsoldatentums. Andererseits kann der Zuwachs politischer Macht, den im Militärdienst aktive Gruppierungen erlangen, auch zu (b) einer Zerstörung der Demokratie führen. In diesem Sinne war die neutrale Haltung, die das Militär in Italien und Deutschland pflegte, ein Grund für die Möglichkeit der faschistischen bzw. der nationalsozialistischen Revolution, oder ermöglichte umgekehrt das politische Wollen französischer Militärs den Cäsarismus Napoleon Bonapartes wie denjenigen seines Neffen, Napoleon III. Wir können nun die folgenden soziologischen Regeln formulieren. (1) Das Militär ist bereit, wann immer Zwietracht oder Feindseligkeiten das bürgerliche und das politische Leben paralysieren, die Kontrolle zu übernehmen, sei es auf direktem oder auf indirektem Weg. (2) Die politische Bedeutung des Militärs minimiert sich mit dem Aufstieg von militärisch organisierten Parteien in Richtung Neutralität; wenn Einigkeit zwischen dem Militär und einer Partei besteht, kann diese die Kontrolle übernehmen. Die schlechte Figur, die das deutsche Militär im Nationalsozialismus abgegeben hat, sowie die Frustration, die die militärische Elite während des Kriegs ergriff, verweisen uns auf einen tiefgreifenden Wandel im sozialen Gefüge. Dazu passt, dass die siegreiche russische Armee nicht einmal den Versuch unternahm, Kontrolle über die Partei zu bekommen. Auch wenn wir die Militärregimes in Lateinamerika betrachten, müssen wir dies mit Bezug auf faschistische bzw. autoritäre Regierungsweisen tun.

aktualisierte Auflage. Stuttgart: Kröner 2016, S. 47–53; Adam Smith, Vorlesungen über Rechts- und Staatswissenschaften. Übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Daniel Brühlmeier. Sankt Augustin: Academia 1996, S. 62–63.

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(3) Der Erfolg einer revolutionären Gruppierung, die nicht mit dem Militär kooperiert oder dessen Wohlwollen hat, ist im Zuge der technologischen Entwicklung des Militärwesens – denken wir an Panzer und die Luftwaffe – immer unwahrscheinlicher geworden. (4) Das 19. Jahrhundert hindurch und bis 1905 wurden alle revolutionären Bestrebungen, die von urbanen oder industriellen Schichten getragen wurden, von Armeen durchkreuzt, die sich aus Leuten vom Land zusammensetzten. Kommen wir schließlich zum Phänomen der besiegten Armee. Für die Entwicklung moderner Revolutionen spielen Krieg und Niederlage eine maßgebliche Rolle, insbesondere als Gelegenheiten für deren entschiedenen Ausbruch. In früheren Zeiten, als die Verhältnisse zwischen Herrschern und Beherrschten sich auf Grundlage von Sitte, Tradition und gelebter Erinnerung gestalteten, war es möglich, dass Dynastien und Nobilitäten trotz verheerender Kriege und schrecklicher Niederlagen instand blieben, sofern das Volk sie als Teil der Leidensgemeinschaft verstand. Erst unter der Voraussetzung einer Entfremdung der Bevölkerung von den Herrschenden und des Bedenkens der Gründe, die für die eigenen Kalamitäten verantwortlich sind, kommt es zur Erkenntnis der Anteile derjenigen, die regieren, am Schicksal der Nationen. Dann ist es denkbar, dass Soldaten verfeindeter Lager zusammenkommen und, indem sie als Losung die Einheit derjenigen ausgeben, die unter einer kapitalistischen, ausbeuterischen, monopolistischen Elite leiden, einander in eine andere Form der Sklaverei befördern. Ist dies der Fall, so bedeutet dies den Zusammenbruch des Ordnungsgefüges des modernen Militärs. Die Soldaten beugen sich nicht länger dem strengen Reglement, das Fraternisierungen untersagt. Die Revolution beginnt also mit der Auflösung der militärischen Beziehungsform von Befehl und Gehorsam; sie betrifft sowohl das Verhältnis der höheren Ränge zur kämpfenden Truppe als auch, im Besonderen, zum Etappenwesen. Für Zivilisten ist der Krieg eine Schule des Waffengebrauchs und des Kampfes, dem Tod ins Angesicht zu blicken und zu töten, sich in einer Männerwelt einzurichten. Nun ist all dies zwar auch Teil des Erfahrungshaushalts ziviler Gesellschaften. Aber es gewinnt eine revolutionäre Qualität, wenn wir von den Soldaten einer besiegten Armee sprechen, die sich, indem sie kollektiv den Gehorsam verweigern, der Bedeutung einer funktionstüchtigen militärischen Gliederung bewusst werden. Sie verfügen über Waffen, können sich leicht Zugriff auf die Magazine, die Nachschublinien und die Schlüsselpositionen der technischen Steuerung verschaffen. Sie erleben unmittelbar, wie brüchig die Grundlagen der Gesellschaft sind, weil die Massen, die der Staat mit Waffen versehen hat, diese gegen die Regierung, welche die Niederlage im Krieg verantwortet, richten können. Sie lernen aus eigener Erfahrung, dass die Dauer einer

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Zur Sozialtheorie der Revolution

Gesellschaft nichts mit einem mechanischen Ablauf zu tun hat, sondern durch das kontinuierliche Zusammenwirken und die Interdependenz zwischen den Elementen von Schutz und Gehorsam garantiert wird. Schutz gewährleisten die Einrichtung und die Pflege der Rechte, durch die der gewohnte Ablauf des alltäglichen Lebens sichergestellt wird, was im Ergebnis zu deren Anerkennung und Befolgung seitens der Mitglieder der Gesellschaft führt. Aber dieser Schutz verflüchtigt sich, wenn der Staat eine Niederlage erlitten hat und die bewaffneten Massen sich in einem sozialen Vakuum wiederfinden. Soldaten, Entwurzelte und die ob einer prekären Klassenlage Verunsicherten bilden die Stoßtrupps der Revolutionen der Moderne. Es gibt eine ganze Serie von Revolutionen, die uns auf vorhergehende militärische Niederlagen zurückverweisen: die Niederlage Frankreichs im Krieg gegen Preußen; die Niederlage Russlands im ersten Weltkrieg; der Fall Deutschlands nach der Niederlage in demselben Krieg und dem folgenden Friedensvertrag; das Scheitern der militärischen und nationalen Ziele Italiens nach dem Ende jenes Krieges. Dies sind die Elemente, die eine Rolle spielen, wenn eine militärischen Niederlage in den Ausbruch einer Revolution mündet: (1) die Zerrüttung politischer Autorität; (2) die Zunahme von Gewalt; (3) Einsichten in zentralistisch-hierarchische Organisationsweisen; (4) die Effektivität von Disziplin; (5) Waffenbesitz; (6) die Verfügungsgewalt über die Schienenwege, das Kabelnetz, den Funk und das Nachrichtenwesen; (7) die Verschmelzung technisch-militärischer Apparaturen und einer revolutionären Doktrin; (8) Entwurzelung; (9) Erwerbslosigkeit; (10) Verhaltensstörungen. Dabei gilt, dass die Theorien Machiavellis und Saint-Simonso über die Möglichkeit eines Zusammenschlusses der Privilegierten mit den Unterdrückten und Versehrten eine Bestätigung finden: im Fall der französischen Revolution mit Blick auf Adel und Bourgeoisie; im Fall Deutschlands mit Blick auf Landwirte, Mittelschicht, Arbeitslose, Entwurzelte und Militärs; im Fall Russlands mit Blick auf Bauern und das Proletariat; im Fall Italiens mit Blick auf Landadel, Bankiers, das Proletariat und Arbeitslose.

o Machiavelli, Discorsi, S.  10–32; Saint-Simon, De la réorganisation de la société européenne, S. 77–87.

X. Weltkrieg und Weltrevolution

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X. Weltkrieg und Weltrevolution Eine These, über die nachzudenken lohnt, besagt, dass seit 1917 Weltkrieg und Weltrevolution ineinandergriffen. Der Begriff des Weltkriegs, eine durchaus nicht eindeutige Formulierung, bezeichnet dabei zwei unterschiedliche Sachverhalte. Zum einen, dass alle Teile der Welt in wirtschaftlicher, finanzieller und sozialer Hinsicht durch ein umfassendes internationales Beziehungsgeflecht und wechselseitige Abhängigkeiten miteinander verbunden sind, sodass, wenn es zu einem militärischen Konflikt zwischen Nationen kommt, es geradezu eine Unmöglichkeit darstellt, Neutralität zu wahren – abgesehen von wenigen, allgemein bekannten Ausnahmefällen. Zum zweiten bringt der Begriff des Weltkriegs zum Ausdruck, dass der soziale Kosmos, in dem ein Mensch sich bewegt, im Fall des modernen Kriegs, solange er dauert, vollständig dem politisch-militärischen Kosmos einverleibt ist; das gesellschaftliche Leben, in die Klauen des Staates geraten, löst sich auf, weil nun das gesamte Beziehungsgefüge für die Macht und Stärke des militärischen Handelns zugerichtet wird. In diesem Sinne endet mit dem ersten Weltkrieg die erste Phase einer Entwicklung, die mit der technologischen Entwicklung, die im Laufe des 19. Jahrhunderts um sich gegriffen hatte, einherging. Diese Entwicklung, die gemäß des politischen Prinzips der Integration die Sphären der Ökonomie, der Industrie, der Kultur, des Militärs und der Politik miteinander verknüpfte, legte das Fundament für die Entstehung des totalen Staates. Der erste Weltkrieg ist dann das Ereignis, in dessen Zuge die politischen und militärischen Machthaber eine Vereinigung aller Kräfte zu einer Gesamtanstrengung zustande brachten, die dem Zweck galt, den Krieg zu gewinnen. Die enorme Energie, die die Entwicklung zum totalen Staat entfaltete, und die logische Notwendigkeit, mit der dies geschah, können wir an den Diskussionen ablesen, die die revolutionäre Gemeinde über die Überlieferungen, Glaubensvorstellungen, Kulturbedingungen und politischen Überzeugungen geführt hat, die innerhalb der industriellen Demokratien, die sich nach dem Weltkrieg gebildet hatten, bewirkten, dass diese Entwicklung aufgehalten wurde. Russland allein praktizierte die Revolution als eine permanente Revolution, indem das gesamte System der Kriegsorganisation übernommen wurde, um die Macht der Monopolpartei sichern, den Umbau der Wirtschaft als eine Art kollektivistisches Abenteuer gestalten und die revolutionären Massen als ein nationalbolschewistisches Industrievolk handhaben zu können. So wie in der Demokratie des klassischen Zeitalters sind Staat und Gesellschaft in Deckung, während die Verwendung der kolossalen Potenziale der Technologie für die Schöpfung, Erbauung, Erziehung

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Zur Sozialtheorie der Revolution

und Steuerung der Bevölkerung einer Hemisphäre eine Eigenheit der gegenwärtigen Situation ist. All dies bedacht, ist es durchaus statthaft, die These, dass seit 1917 Weltkrieg und Weltrevolution ineinandergreifen, zu vertreten. Die Weltrevolution hat sich das Modell und die Organisationsgestalt des totalen Krieges angeeignet und verwendet sie als die fortwährende Verfassung eines revolutionären Staates und einer kollektivistischen Gesellschaft im Zeitalter der Technologie. Der faschistische und der nationalsozialistische Staat unternehmen es, dieses neue Modell in die historische Situation des westlicheren Europa zu übertragen – denken wir in diesem Zusammenhang auch an die Moskauer Lesart, wonach es sich hier um konterrevolutionäre Bewegungen handelt. Unsere These lautet: Wir sollten dies als Versuche verstehen, das Modell des totalen Staats zu diversifizieren und es ideologisch so auszurüsten, dass es passend für spezifisch westliche Gegebenheiten ist. Der erste Weltkrieg hat das Modell der totalen Organisation und vollständigen Zentralisierung anschaulich gemacht. Innerhalb des Gesellschaftsgefüges hat er eine sozioökonomische Transformation bewirkt, deren Ergebnis eine starke Zunahme proletaroider Schichten ist. Der neue Mittelstand, die größer gewordene Gruppe der Angestellten in technischen oder Verwaltungsberufen, befindet sich tatsächlich in einer Situation, die nicht weniger von Ungewissheit und Abhängigkeit gekennzeichnet ist als diejenige der Masse der Arbeiter; ihr Einkommen mag höher sein, aber dies wird ausgeglichen durch den höheren Lebensstandard, den sie zu pflegen gewohnt sind. Also weitet sich mit dem Auftreten diese Gruppe die Umlaufbahn sozialer Abhängigkeiten, während der Bereich wirtschaftlich unabhängiger Gruppierungen kleiner geworden ist. Dieses Transformationsgeschehen erzeugt besonders unter denjenigen, die durch den Krieg und die Niederlage ihren ökonomischen Status oder ihr soziales Prestige verloren haben, eine revolutionäre Gesinnung. So wird das Feld der antibürgerlichen bzw. antikapitalistischen Kräfte größer, während an die Stelle des Gegensatzes von Bourgeoisie und Proletariat amphibische Bewegungen treten, welche die Mittelschichten an sich binden, sei es in der Gestalt organisierter sozialistischer Proletarier oder in der Gestalt organisierter nationalistischer Frühkapitalisten. Das Ineinandergreifen von Weltkrieg und Weltrevolution impliziert und offenbart ein weiteres Prinzip der totalen Revolution. An ihm können wir sehen, dass der Leitgedanke aller großen Revolutionen auf der supra- bzw. internationalen Ebene angesiedelt ist, ihre Umsetzung auf der nationalen Ebene geschieht und bei der Verbreitung des Evangeliums imperialistisch verfahren wird. Der zweite Weltkrieg hat die Zerstörung der bürgerlichen Kultur der Freiheit fortgeführt; der Schatz an Erfahrungen hinsichtlich der Möglichkeiten der

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Zentralisierung und der umfassenden Organisation hat sich auf der gesamten Welt ausgeweitet. Die entscheidenden Probleme, die sich angesichts der gegenwärtigen Verflechtung der sozialen Kräfte ergeben, sind: (1) den unausweichlichen Trend zur totalen Technologie mit den politischen Idealen einer vollkommenen Demokratie in Einklang zu bringen – denn Technologie ist wertneutral, d. h. kann für jegliche politische Ziel verwendet werden; (2) den potenziellen Konflikt zwischen verschiedenen Varianten eines nationalistischen Imperialismus in einen konstruktiven politisch-sozialen Internationalismus umzumünzen.

XI. Revolutionen in Altertum und Moderne Ob Revolutionen ein Grundmuster aufweisen oder nach historischen Maßstäben voneinander unterschieden sind, ist Gegenstand fortlaufender Diskussionen. Im Gegensatz zu einer Reihe von Historikern, welche von der Anwendbarkeit einer Theorie des sozialen Konflikts für das klassische Zeitalter ausgingen und ihm mit marxistischen Kategorien beizukommen versuchten, ging Max Weber davon aus, dass die Revolutionen des Altertums und diejenigen der Neuzeit sich wegen des grundlegenden wirtschaftlichen Gegensatzes, der jeweils vorherrscht, unterscheiden. Seiner Vorstellung zufolge bilden in der modernen Welt den grundlegenden Gegensatz Kapital und Arbeit, dagegen in der Welt der Antike Schuldherr und Schuldner. Dem widerspricht allerdings die historische Forschung. Auch in den Revolutionen der Moderne hat die Beziehungsform Schuldherr–Schuldner, insbesondere in der Variante Bankier–Landwirt, eine enorme Rolle gespielt – und sie wird dies weiter tun. Überall auf der Welt sind für Landwirte die Stadt und die Bank gleichbedeutend mit dem Feind. Demnach ist in der Beziehungsform Schuldherr–Schuldner die fortdauernde und bleibende Möglichkeit der Revolution enthalten, welchen Wandlungen auch immer das soziale Gefüge unterliegt. Andererseits hängt das Wechselverhältnis von Eigentümer und Arbeiter, hängen größtmögliche Ausbeutung und Entwürdigung nicht an der Voraussetzung des Warenmarktes, auf dem der freie Arbeiter seine Arbeitskraft feilbietet. Denn ohne Zweifel haben Bergleute, Werft- und Landarbeiter, ob es sich bei ihnen nun um Sklaven oder um verarmte Bürger handelte, ihren Anteil an den Revolutionen der Antike gehabt. Soweit es sich um die Frage der Revolution handelt, können wir strukturelle Unterschiede zwischen den Welten der Antike und der Moderne nicht auf wirtschaftliche Gegensätze zurückführen. Nach der allgemeinen Ansicht, in die eine Vielfalt von Leidenserfahrungen einfließt, bemessen sich wirtschaftliche Misserfolge und Notlagen nach Maßstäben eines anständigen und guten Lebens.

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Der Geist der Revolution entspringt nicht wie von selbst aus wirtschaftlicher Abhängigkeit oder Ausbeutung. Damit aus sozialem Elend revolutionäre Aktivität wird, bedürfen die Unterdrückten und Gedemütigten eines Leitgedankens, von dem sie Anhaltspunkte ableiten können, um zwischen Recht und Moral und dem gegebenen Gebaren der Herrschenden unterscheiden zu können. Es ist also nicht wirtschaftliche Bedrängnis, sondern eine Passion für Gerechtigkeit und Ausgleich, aus der der Geist der Revolution hervorgeht. Wenn wir aber vom Geist der Gerechtigkeit sprechen, so bemerken wir einen Unterschied zwischen den Welten der Antike und der Moderne; wenn wir einen Unterschied zwischen den Revolutionen des einen und des anderen Zeitalters finden wollen, so müssen wir das Geschichtsverständnis hier und dort in Betracht ziehen. Für die Alten ist Geschichte ein geringfügiger, keineswegs bedeutsamer Aspekt der Natur, der in deren zyklischer Bewegungsform zur Erscheinung kommt. Eine Revolution ist in diesem Sinn ein Vorgang, in dessen Zuge ein Zustand des Rechts und der Gerechtigkeit wiederhergestellt wird, der durch ausbeuterisch, mit unlauteren Mitteln Herrschende zerrüttet worden war. Die Alten verstehen unter einem solchen Ausgleich eine Verschmelzung von Rechtmäßigkeit und Sittlichkeit; gemäß der Lehre des Aristoteles etwa bedeutet dies eine Annäherung an das rechte Maß.p Wir können also sagen, dass in der Welt der Antike eine Revolution das Bedürfnis bestimmter Gruppen, denen die Gesellschaft zu wenig Beachtung gewidmet hat, nach einer Wiedereinsetzung einer ewigen Ordnung des Rechts anzeigt, deren Referenzpunkte die soziale Ordnung und die Verfassung der Polis sind. Im Unterschied zu der Ansicht, die für das griechische Altertum kennzeichnend ist, geht man in den jüdisch-christlichen Welten nicht von einer zyklischen Bewegung aus, in deren Zuge das Leben von Mal zu Mal zu seinem Ursprung zurückkehrt. So verstehen denn auch die Modernen die Geschichte als einen Vorgang der Evolution, des Heilsfortschritts, der Bewusstseinsentwicklung, der Freiheitsoffenbarung. Geschichte ist hier nicht ein Aspekt der Natur, sondern des Geistes, bedeutet dynamische, schöpferische Entwicklung nach Maßgabe des Verstandes, die in sich steigernder Ungebundenheit sich materialisiert. Seitdem die westliche Menschheit dem Glauben anhängt, dass das Königreich Gottes auf irdischem Boden verwirklicht wird, hat man das messianische Prinzip zum Maßstab gesellschaftlichen Tuns gemacht. Besonders in denjenigen Gebieten

p Aristoteles,

Nikomachische Ethik. Aus dem Griechischen und mit einer Einführung und Erläuterungen versehen von Olof Gigon. München: DTV 1991, S. 133–148.

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des Westens, die protestantisch geprägt sind, hat diese Form der Spiritualität die Revolutionen ebenso wie die Theorien der Revolution tiefgreifend beeinflusst. Wir finden sie selbst noch in solchen Lehren, die die Freiheit gegen die Religion verwirklichen wollen und in diesem Sinn eine negative Spiritualität pflegen. Dies ist also der markante Unterschied, der die Revolutionen der Moderne von denjenigen der Antike trennt: Sie folgen der Annahme, dass alles, was im Lauf der Geschichte geschieht, innerhalb des geschichtlichen Ganzen sinnvoll und für es von Bedeutung ist, wobei dies geschichtliche Ganze kennzeichnet, dass das Rettende wächst, der Geist zu sich kommt, vollkommene Freiheit Wirklichkeit wird. Geschichtsphilosophie ist es, nicht etwas Ökonomisches, weswegen die Welten der Antike und der Moderne voneinander unterschieden sind. Wir sehen dies deutlich anhand der ersten internationalen Revolution der Neuzeit, den Bauernaufständen der Jahre 1525 und 1526, die sich von Ungarn über Nordfrankreich bis nach England erstreckten; hier greifen der klassische und der spiritualistische Typus der Revolution ineinander. Die Revolution von 1525/1526 verweist uns auf die Misere der feudalen Schichten angesichts des Aufstiegs der Geldwirtschaft. Vor diesem Hintergrund unternehmen es die revoltierenden Bauern, ihre alten, von den Feudalherren gebeugten Rechte zu behaupten und eine Freiheit aufzurichten, die im Einklang mit dem Evangelium ist. Seither, bis ins 20. Jahrhundert, sind die Bauern eine revolutionäre Schicht geblieben. Denn wir sollten uns nicht von dem reaktionären Erscheinungsbild der Bauernschaften Mitteleuropas täuschen lassen; dies ist lediglich das Ergebnis einer nicht in die Tiefe gehenden, protestantisch-militärischen Indoktrination, die, falls Entwicklungen von wirklich entscheidender Bedeutung eintreten sollten, keinen Bestand haben wird. Nach der liberalen Überlieferung gilt die Lehre, dass die Träger der Revolutionen der Moderne die Mittelschichten sind. Diese Aussage ist erläuterungsbedürftig. Denn zwar sind es Bürgerschaften, die den Konstitutionalismus, die Bürgerrechte und eine freie Gewaltenteilung geschaffen haben, durch die das im Staatswesen schlummernde Potenzial einer totalen Machtentfaltung unter Kontrolle gehalten wird. Doch wurde die bürgerliche Revolution von einer absoluten Monarchie exekutiert, oder genauer: Der Monarch agierte im Bündnis mit dem Bürgertum als derjenigen revolutionärprogressiven Kraft, welche die Relikte der alten Feudalmonarchie zerstörte. Nicht nur bedurfte er der Unterstützung von Bankiers und Investoren; im Sinne des Aufbaus einer zentralisierten Verwaltung brauchte er überdies zuverlässige Fachleute und eine disziplinierte, arbeitsame Bevölkerung. Das Bürgertum stellte dem Monarchen seine Kräfte zur Verfügung und rückte so seinerseits ins Zentrum der soziokulturellen Macht.

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Die Überlegungen des Duc de Saint-Simon und Tocquevilles,q denen zufolge – soziologisch ausgedrückt – bereits der absolutistische Staat die bürgerliche Revolution darstellt, da seine administrativen und justiziellen Funktionen von Bürgerlichen ausgeübt wurden, treffen zu. Diese beiden haben in Form detaillierter soziologischer Beschreibungen und Attributionen bestens belegt, dass die bürgerliche Gesellschaft die Denkweisen und die Ansichten, die Politik und die Wirtschaft im absolutistischen Staat kontrollierte. Beim absolutistischen Staat handelt es sich um eine negative Demokratie, d. h. er basiert auf der Gleichheit aller, die nicht König sind. Der König seinerseits war allerdings ein Gefangener seiner Minister, die noch die geringsten Angelegenheiten überwachten, dabei allerdings mit dem Einfluss der Mätressen des Königs rechnen mussten. Mit der französischen Revolution sieht die Bourgeoisie sich des Drucks der Arbeiterklasse ausgesetzt, während die Bauern Klerus und Adel niederwerfen. Was die Bourgeoisie durch den revolutionären Terror hindurch anleitet, ist ihr fester, tief wurzelnder Wille zum Konstitutionalismus, ihre Legalitätsorientierung, um Geschäft, Eigentum und Erbbesitz zu schützen. Sie ist ihrer Natur nach konstitutionell und legalistisch gesonnen; es ist zu viel, dass die Bourgeoise riskieren und verlieren könnten, wenn in der Folge einer revolutionären Bewegung alle Brücken der Gesetzlichkeit gesprengt würden. Der Druck, dem die Bourgeoisie durch radikalsozialistische Parteien und extreme Bauernparteien ausgesetzt ist, hat von der französischen Revolution 1789 bis zur russischen Revolution von 1905 ununterbrochen angehalten. Gerade die Revolution von 1905 verdeutlich uns aber, dass die liberal-demokratischen Gruppierungen echtem Radikalismus nichts entgegenzusetzen haben.

q Vgl.

Louis de Rouvroy, Duc de Saint Simon, Die Memoiren. Dritter Band. 1710–1715. Herausgegeben und übersetzt von Sigrid von Massenbach. Berlin und Wien: Ullstein 1985, S. 233–235, S. 267–271 und S. 279–294; Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, insbes. S. 39–139.

Goethe – im Jahr 1949Ü

Kultur steht im Zeichen des Erinnerns und der Achtsamkeit, des Sichbesinnens auf solche Taten und Exempel, die uns ein Maß geben und unser Denken erhellen. Solches Eingedenksein setzt voraus, wahrhaft Vortreffliches willentlich anzuerkennen – eine Form menschlicher Selbstbestimmtheit, die Goethe als das kennzeichnende Charakteristikum der Bildung verstand, das sie von Barbarei abhebt. Das Vermögen, dem besonders Vorzüglichen nicht in Form von Ressentiment und Neid, sondern mit Liebe zu begegnen, hielt er für den höchsten menschlichen Wert. Er huldigte dieser befreienden Geisteshaltung auf seine Weise, indem er eine Äußerung Schillers, aus dessen zweitem, beider Gemeinschaft begründendem Brief,a nahezu im Wortlaut in seine Maximen und Reflexionen übernahm: „Gegen große Vorzüge eines Andern giebt es kein Rettungsmittel als die Liebe.“1 An solcher Gesinnung gibt der kultivierte Mensch sich zu erkennen. Bildung ist für Goethe die Gesamtheit aller Bestrebungen, die menschliche „Naturtendenz“ zu überwinden, denn „was wäre alle Bildung, wenn wir unsere natürlichen Richtungen nicht wollten zu überwinden suchen!“ Bildung bedeutet ÜAlbert

Salomon, „Goethe – 1949“. In: Social Research 16, 1949, S. 289–319. Wieder abgedruckt in: In Praise of Enlightenment. Cleveland, New York: Meridian Books 1963, S. 173–197. Übersetzt von Peter Gostmann und Claudius Härpfer. a Friedrich

Schiller, „An Goethe. Jena, den 25. Aug. 94. Sonnabend“ In: Friedrich Schiller, Briefwechsel. Schillers Briefe 1794–1795. Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 27. Herausgegeben von Günther Schulz. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1958, S. 24–27. 1 Johann Wolfgang Goethe, Goethe‘s Sprüche in Prosa. Herausgegeben von Gustav von Loeper. Berlin: Gustav Hempel, S. 87 (Nr. 389). © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Salomon, Schriften 1949–1954, Albert Salomon Werke 4, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37736-6_2

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das schöpferische Vermögen des Menschen, sich als Person in den Gesamtzusammenhang von Natur und Zivilisation einzuformen.2 Aus diesem Grund widersprach Goethe entschieden, als einmal Freunde einen Trinkspruch auf die Erinnerung ausbringen wollten: „Ich statuire keine Erinnerung in Eurem Sinne, das ist nur eine unbeholfene Art sich auszudrücken. Das uns irgend Großes, Schönes, Bedeutendes begegnet, muß nicht erst von Außen her wieder er-innert, gleichsam er-jagt werden, es muß sich vielmehr gleich vom Anfang her in unser Inneres verweben, mit ihm eins werden, ein neueres besseres Ich in uns erzeugen und so ewig bildend in uns fortleben und schaffen. Es giebt kein Vergangenes, das man zurücksehnen dürfte, es giebt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet und die ächte Sehnsucht muß stets productiv sein, ein neues Besseres erschaffen.“3 Das Charakteristikum, das der Verstand des Genius trage, vermerkte er mit Blick auf Shakespeare, sei es, schöpferischen Geist ewig anzuregen.4 Die letzteren Aussagen bieten uns eine treffliche Orientierung, wenn wir im Jahr 1949 über Goethe nachdenken, während international sein 200. Geburtstag feierlich begangen wird. Wenn wir Goethes Forderung des Eingedenkseins treu bleiben wollen, müssen wir uns mit denjenigen Aspekten an ihm beschäftigen, die uns Heutige zu schöpferischem Denken anregen können. Man muss nicht eigens betonen, dass die allgemeine Entwicklung, die die moderne Zivilisation genommen hat, Goethes Idee von Bildung direkt entgegengesetzt ist, zumal die schädlichen Auswirkungen der Technologie Goethes prophetische Sorge um die Zukunft des Menschseins bestätigen. Andererseits gibt es im Denken der Moderne Strömungen, die gegen die vorherrschende Richtung der Zivilisation aufbegehren – sie finden in der Theorie Goethes eine Stütze. Sein

2  Johann

Wolfgang Goethe, „Mit Johann Peter Eckermann. 2. Mai 1824“. In: Johann Wolfgang Goethe, Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Bd. 5. Leipzig: Divan 1889–1896, S. 70–76, hier S. 71; Goethe, Maximen und Reflexionen, S. 142 f. (Nr. 649). 3 Johann Wolfgang Goethe, „Abend bei Goethe. 4. November 1823“. In: Johann Wolfgang Goethe, Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Bd. 4. Leipzig: Divan 1889–1896, S. 310–312, hier S. 311. 4 Johann Wolfgang Goethe, „Shakespeare und kein Ende“. In: Johann Wolfgang Goethe, Schriften zur Literatur. Zweiter Teil. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 37. Mit einer Einleitung und Anmerkungen von Oskar Walzel. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1906], S. 37–50, hier S. 37.

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Bemühen, ein Bild der Totalität des Lebens zu gewinnen, richtete sich gegen Dogmatismen und gegen die Irrationalität. Er begriff den Naturprozess als aus gegensätzlichen Polen erzeugte Dynamik: So wie alle Erscheinungen des Lebens zugleich eine positive und eine negative, eine konstruktive und destruktive Seite haben, so ist das Leben als Ganzes vielschichtig und in Bewegung begriffen, bewegt sich durch eine Mannigfaltigkeit von Gegensätzen hindurch. In dieser philosophischen Grundhaltung Goethes verbinden sich Naturalismus und Spiritualismus zu einer neuen Art von Realismus, der anregend war für jüngere Versuche, der allgemeinen Tendenz zu positivistischen und mechanistischen Methoden und Philosophien entgegenzuwirken. Auf dem philosophischen Gebiet unternahm Georg Simmel den Versuch, den Prototyp seiner Lebensphilosophie in Goethes Denken ausfindig zu machen.b Ein Schüler Simmels, Professor Barker Fairley, hat dessen Überlegungen in seinem Buch A Study of Goethe, der bemerkenswertesten Goethe-Studie seit Carus’ tiefgründigen Werken,c bestätigt; Fairley hebt ausdrücklich hervor, dass Goethe eine beträchtliche, unmittelbare Bedeutung mit Blick auf die Probleme eines Zeitalters hat, das von zerstörerischer Introspektivität gekennzeichnet ist: „Die starke Anziehungskraft, die ganz nach innen gekehrte Persönlichkeiten wie Hölderlin, Rilke, Kierkegaard, Kafka und andere heute ausüben, mag uns daran erinnern, wie viel uns noch […] mit Werther und Tasso verbindet. Soweit ist Goethes Problem auch […] ein Teil unseres Problems; wir können und dürfen es nicht übersehen.“5 Es ist offensichtlich insbesondere Goethe als Vordenker und exemplarischer Fall von Bildung, um dessen Relevanz für unser Zeitalter es Fairley geht. Wir nähern uns dem Phänomen Goethe von unserem Interesse an der Situation des Intellektuellen aus, dem es unmöglich ist, die normsetzende Idee der Bildung aufzugeben. Gelehrte und Lehrer sehen sich dem Druck ausgesetzt, sich zu Ingenieuren, zu Technikern mit klar umrissenen Tätigkeitsgebieten umzuschaffen.

b Georg

Simmel, Goethe. Dritte, überarbeitete Auflage. Leipzig: Klinckhardt & Biermann 1918. c Carl G. Carus, Göthe. Zu dessen näherem Verständniß. Beigegeben ist eine Reihe bisher ungedruckter Briefe Göthe’s. Leipzig: Weichardt 1843; Carl G. Carus, Denkschrift zum hundertjährigen Geburtsfeste Goethe’s. Über ungleiche Befähigung der verschiedenen Menschheitstämme für höhere geistige Entwickelung. Leipzig: Brockhaus 1849; Carl G. Carus, Goethe. Dessen Bedeutung für unsere und die kommende Zeit. Wien: Braumüller 1863. 5 Barker Fairley, Goethe. München: C.H. Beck 1953, Vorwort (o. S.).

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Man erwartet von ihnen die Fähigkeit, Kunstgriffe zu lehren, mit deren Hilfe sich bestimmte Bereiche des sozialen Lebens manipulieren ließen. Nun wird zwar niemand die Vorstellung ablehnen wollen, dass ein Wissenschaftler ein Meister seines Fachs sein sollte; doch folgt er überdies einer inneren Notwendigkeit, sein Wissen in einem organischen Gefüge der Bildung zu verankern.6 Im Rahmen von Goethes Lehre des menschlichen Gebarens ist Bildung keine rein ästhetische Kategorie, nicht eine Sache des Elfenbeinturms. Vielmehr ist Bildung die wichtigste Wehr des Humanums gegen seine Bedrohung durch Nationalismus, Etatismus, Kirchlichkeit und Saint-Simonismus. Sie ist die einzige Möglichkeit, gegen alle Widrigkeiten auf schöpferische Weise die höchsten Werte der westlichen Zivilisation zu pflegen, überall auf der Welt die Gruppe der Gelehrten und Kultivierten zu steigern und zu einen und auf diese Weise nationale, politische, soziale und religiöse Grenzen zu überwinden. Die Gebildeten sind es deshalb, die allein in der Lage sind, eine Macht aufzubauen, deren Wirken Frieden, Toleranz und mitfühlendem Verstehen gilt. Dies ist der Zweck der Weltliteratur und der Weltbürgerschaft – so wie Professor Weigand es in einer glänzenden Formulierung zusammenfasste: „Ein Deutscher zu sein war Goethes Schicksal; ein Weltbürger zu werden seine Bestimmung“.7 Die internationalen Feiern zum 200. Geburtstag Goethes stellen, mit Blick auf die Verwirklichung seiner Vision eines Zeitalters der Weltliteratur, schon an sich einen Meilenstein dar. Goethe prägte den Begriff 1827,d in einer Zeit, als der Meister und sein Werk amerikanischen ebenso wie europäischen Literaten und Gelehrten bereits als gewichtige Autorität galten. Seine Bücher waren in viele Sprachen übersetzt, und seine Übersetzer und Verehrer pflegten den Kontakt durch Besuch und Korrespondenz. Auf diese Weise wurde er vertraut mit allem, was in Europa und in den Vereinigten Staaten in Literatur, Philosophie und Wissenschaft passierte. Ihm stand ein Zeitalter vor Augen, in dem alle

6 Bezeichnend

für Goethes unabhängige Haltung ist es, dass er dem Postulat der Bildung treu blieb und zugleich anerkannte, wie unerlässlich die Spezialisierung in einer Zeit ist, in welcher das Material der Naturwissenschaften sich so enorm ausgeweitet hatte. 7 „To be a German was Goethe’s fate; it was his destiny to become a citizen of the world.” Hermann J. Weigand, „Introduction”. In: Johann Wolfgang von Goethe, Wisdom and Experience. Ausgewählt von Ludwig Curtius. Herausgegeben von Hermann J. Weigand. London: Routledge & Kegan Paul 1949, S. 7–37, hier S. 25. d Johann Wolfgang Goethe, „Mit Johann Peter Eckermann. 31. Januar 1827“. In: Johann Wolfgang Goethe, Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Bd. 6. Leipzig: Divan 1889–1896, S. 43–50, hier S. 46.

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­ eltoffenen und gelehrten Menschen einander begegnen, voneinander lernen und w jenseits von Stämmen, Nationen, Sozialordnungen, Religionen und Berufen eine Solidarität aus Bildung begründen. Für Goethe war die Weltliteratur ein Aspekt der Entwicklung der modernen Zivilisation. Sie konnte erst entstehen, nachdem einmal die verschiedenen Nationen in den fürchterlichsten Kriegen aufeinandergetroffen waren. Denn als die nationalen Grenzen im Zuge von Friedensabkommen wiederhergestellt waren, bemerkte man, dass im Zuge dieser Begegnungen unverhoffte geistige Merkwürdigkeiten und Interessen zutage getreten waren. So kam es, dass die unterschiedlichen Kulturen einander die Tore öffneten und im literarischen und philosophischen Austausch Methoden des laissez faire wirksam wurden.8 Goethe war der Ansicht, ein solcher Austausch kultureller Güter werde zur Steigerung mitfühlenden Verständnisses unter den Nationen führen und die Zahl der Menschen mehren, die an den prächtigen geistigen Errungenschaften anderer Kulturen ihre Freude haben: „Die selbe Wechselwirkung zwischen Allgemeinem und Besonderem kommt im praktischen Leben und Verhalten der Menschen vor. Auch im menschlichen Handeln gehen Weisheit und Mäßigung aus dem einfühlsamen Verständnis der Dichtung und der Belletristik hervor und bringen einen Funken Glanz in die ansonsten von Egoismus, Grausamkeit und Falschheit geprägte Welt.“9 Goethe war zu sehr Realist und zu vertraut mit Spinoza, um sich Illusionen über das Ausmaß des aufklärerischen Einflusses hinzugeben, den Bildung auf die politischen Angelegenheiten gewinnen könnte. Gleichwohl war er überzeugt, dass Begegnungen zwischen Gebildeten, ob zwischen Einzelnen oder Gruppen, das Fundament für das Entstehen wechselseitiger Toleranz schaffen würden. Toleranz bedeutete für ihn die entschiedene Anerkennung von Eigenheiten als schöpferischen Elementen des allgemeinen Bildungsprozesses; solche Toleranz würde das Niveau menschlicher Sympathie heben und eine supranationale, professionsübergreifende Elite, eine um den Gedanken kreisende und auf Liebe basierte Gemeinschaft entstehen lassen.

8  Johann

Wolfgang Goethe, „Thomas Carlyle, Leben Schillers”. In: Johann Wolfgang Goethe, Schriften zur Literatur. Dritter Teil. Goethes sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 38. Mit Einleitung und Anmerkungen von Oskar Walzel. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1907], S. 211–226, hier S. 212. 9  Johann Wolfgang Goethe, „Thomas Carlyle, Leben Schillers”, S. 212 [nicht nachgewiesen].

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Auf dem Gebiet der Bildung orientierte Goethe sich an der Idee des Fortschritts: Er verstand den Status der Individualbildung seiner Zeit, deren universalistische Implikationen, als Ergebnis einer langen historischen Entwicklung. In einer Abhandlung, die sich wie der erste Entwurf einer Kulturtheorie liest, spielt er darauf an.10 Er unterscheidet hier verschiedene aufeinander folgende Phasen eines sozialen Prozesses interkultureller Bildung. Am Anfang steht ein idyllisches Zeitalter des esoterischen Patriarchalismus, das winzige Gruppen kennzeichnen, die sich von der groben, rohen Horde abgrenzen, um mittels Dichtung und Gesang ihre traulichen Beziehungen zu pflegen und zu rühmen. Solche esoterischen Gruppen müssen Distanz zur Masse schaffen, um die eigenen Normen der Empfindsamkeit und des Denkens wahren zu können. Doch was sie verfassen, ist verfasst in heimatlicher Sprache. Auf der zweiten Stufe, die Goethe als die sociale oder civische Epoche bezeichnet, treten neue, größere Gruppierungen auf. Die Gesellschaft an sich wird dynamisch, und die Kreise der Gebildeten werden empfänglich für fremde Sprachen und die Werke anderer Kulturen. Sie bleiben isoliert, aber sie tolerieren das, was anders ist. In der allgemeinen Epoche kommen diese Kreise zusammen und gewinnen Einfluss aufeinander. Die letzte Stufe, die universelle Epoche, wenn es zur Vereinigung aller Kreise der Bildung zu einem organischen Gefüge kommt, wird die Zukunft erreichen müssen. In allen diesen Kreisen wird man dann erkennen, dass jeder, der einmal die schöpferische Wirkung kulturellen Austauschs erfahren, Gefährten im Streben nach Bildung gefunden hat, mit Blick auf die realen und die ideellen Fragen der Zeit dasselbe Ziel der Steigerung der Kräfte universaler Humanisierung verfolgt. Trotz seines festen Glaubens an solchen Fortschritt fiel Goethes Beurteilung dessen spezifischer Formen, die er unter den Umständen der Moderne ausbilden würde, höchst nüchtern aus. Er unterschied zwischen der Entwicklung hin zu einer internationalen literarischen Massenproduktion und den supranationalen Strömungen echter Dichtung und Philosophie. Die kulturellen Bedürfnisse, Erwartungen und Anforderungen der Masse der Durchschnittsmenschen sind allerorts dieselben. Es wird Schreiber und Intellektuelle geben, die diesen Markt bereitwillig mit standardisierten Produkten versorgen werden; es wird internationale Schriftsteller geben, so wie es internationale Geschäftsbeziehungen

10 Johann

Wolfgang Goethe, „Epochen geselliger Bildung“. In: Johann Wolfgang Goethe, Schriften zur Literatur. Dritter Teil. Goethes sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 38. Mit Einleitung und Anmerkungen von Oskar Walzel. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1907], S. 232–233 u. 324.

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gibt. Für den lauteren, ernsthaften Dichter und Denker wird dies Schwierigkeiten heraufführen, wird er doch, wenn er sein Niveau wahren, nicht sich den populären Ansprüchen anpassen will, nur schwer ein Publikum finden. Auf der anderen Seite werden diejenigen, die die geistige und literarische Elite bilden, da sie allesamt in ihrer Hingabe an Höchstes abseitsstehen, alsbald zueinander finden; denn überall finden sich solche lauter und aufrichtig um den wahren Fortschritt der Menschheit Bemühten. Diese happy few werden ihr Werk in Form esoterischer Kommunikation weiterführen, sich der ewigen Verpflichtung der Menschen von Bildung verschreiben: vitai lampada tradunte – um das Fortwirken des Überlieferten, der Normen der Philosophie und der Bildung zu sichern. Sie wissen, dass es unerlässlich ist, weiter der esoterischen Tradition zu folgen, da es aussichtlos wäre, dem breiten Strom der Gemeinplätze, der die gegenwärtige Welt prägt, sich entgegenzustellen. Goethe hatte gehofft, dass aus solchen Begegnungen und Erlebnissen Weltliteratur und Weltbürger entstehen würden. Weltliteratur bestünde aus durch die Erfahrung und das Verständnis der Schöpfungen fremder Kulturen bereicherten literarischen oder philosophischen Werken. Und die Aufnahme und Aneignung der Werte fremder Kulturen würde aus einheimischen Denkern und Schriftstellern Weltbürger formen: „Der Dichter wird als Mensch und Bürger sein Vaterland lieben, aber das Vaterland seiner poetischen Kräfte und seines poetischen Wirkens ist das Gute, Edle und Schöne, das an keine besondere Provinz und an kein besonderes Land gebunden ist […]. Und was heißt denn: sein Vaterland lieben? Wenn ein Dichter lebenslänglich bemüht war, schädliche Vorurtheile zu bekämpfen, engherzige Ansichten zu beseitigen, den Geist seines Volkes aufzuklären, dessen Geschmack zu reinigen und dessen Gesinnungs- und Denkweise zu veredeln: was soll er denn da Besseres thun?”11 Und noch prägnanter: „Es gibt keine patriotische Kunst und keine patriotische Wissenschaft. Beide gehören, wie alles hohe Gute der ganzen Welt an und können nur durch allgemeine freie Wechselwirkung aller zugleich Lebenden, in steter Rücksicht auf das, was uns vom Vergangenen übrig und bekannt ist, gefördert werden.“12

e „Die Fackel des Lebens weiterreichen“. Vgl. Lukrez, Von der Natur. Herausgegeben und übersetzt von Hermann Diels. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1924, S. 47 (II 79). 11 Johann Wolfgang Goethe, „Gespräch mit Johann Peter Eckermann. Erstes Drittel des März 1832.“ In: Johann Wolfgang Goethe, Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Bd. 8. Leipzig: Divan 1889–1896, S. 139. 12 Goethe, Maximen und Reflexionen, S. 152 (Nr. 690).

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Eine solche Gemeinde der Weltbürger sollten wir nicht mit der République des lettres oder einer Gelehrtengesellschaft verwechseln. Wenn auch zwar in beiden Fällen Unterschiede der Rasse oder der Nation, politische, soziale oder religiöse Differenzen keine Bedeutung haben, handelt es sich doch hier wie dort um Gemeinschaften, die durch sachliche Ideale bestimmt und integriert werden. Goethes Gemeinde der Weltbürger aus Weltliteratur dagegen ist in der philosophischen und humanitären Hoffnung geeint, dass das beständige Zusammenwirken und Wechselspiel verschiedener Kulturen in aufgeschlossenen Seelen zu unserem besserem Wissen und einer Steigerung des Niveaus menschlicher Bildung beitragen werden. Für Goethe stand außer Frage, dass vollständige Wahrheit die Sache der Menschheit als Ganzer ist und der fortgesetzte Austausch geistiger und poetischer Güter eine Ausweitung des pluralistischen Universums der Wahrheiten bewirkt. Deshalb ist Weltbürger, Bildungsmensch derjenige, der die humanitas zur Wirklichkeit bringt, was bedeutet: Wissen über die Natur und die menschlichen Dingen in eine Lebensform überführt. Wer nicht als Fachmann, sondern als Mensch Homer und Hafiz, Shakespeare und Calderón, Menander und Molière, Racine und Sophokles, Lukrez und Kant, Platon und Spinoza gelesen hat, wird seinesgleichen maßvoll und freundschaftlich begegnen – verbunden zum Wir solcher, die gemeinsames Streben nach Ausweitung und Bereicherung der eigenen Humanität im Mittel wohlwollenden Verstehens aller erdenklichen Formen des Lebens eint. Es war Goethes genügsame, realistisch gehaltene Hoffnung, dass solche esoterischen Kreise Sorge tragen würden, die Spannungen zwischen Nationen und Gesellschaften zu verringern. Er war überzeugt, dies würde in einer Welt, in der viele der fortschrittlichen Bewegungen mit betrüblichen Entwicklungen einhergingen, eine schöpferische Art des Fortschritts darstellen. Denn selbst dem Humanitätsideal wohnt als Möglichkeit eine düstere Aussicht auf die Zukunft inne: „Auf Herders dritten Theil freu ich mich sehr […]. Er wird gewiß den schönen Traumwunsch der Menschheit daß es dereinst besser mit ihr werden möge trefflich ausgeführt haben. Auch muß ich selbst sagen halt ich es für wahr daß die Humanität endlich siegen wird, nur fürcht ich daß zu gleicher Zeit die Welt ein großes Hospital und einer des andern humaner Kranckenwärter werden wird.“13

13  Johann

Wolfgang Goethe. „Brief an Charlotte von Stein. 9. Juni 1787“. In: Johann Wolfgang Goethe, Goethes Briefe. Weimarer Ausgabe, Bd. 8. Herausgegeben im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887–1912, S. 228–233, hier S. 233.

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Mit Blick auf die technologischen Fortschritte der Zeit Goethes ist es heute in Mode, seine Anmerkungen zum Panama- und zum Suez-Kanal sowie deren revolutionären Folgen anzuführen.f Nun ist es zwar richtig, im Interesse am technologischen Fortschritt eine Vorbedingung seines Weltbürgertums zu sehen. Doch ist es das maßgebliche Kennzeichen der Vielschichtigkeit Goethes, dass er auch die andere Seite dieses Fortschritts vor Augen hatte. Wir sollten also nicht vergessen, dass er das Schicksal voraussah, das der Aufstieg der Industrietechnik den Textilarbeitern in den ländlichen Regionen auferlegte: auszuwandern oder zu verhungern.g Die prononcierteste Voraussage Goethes zur Gestalt der neuen Welt begegnet uns in einem Brief an Zelter, der ihm über die Aufführung einer neuen Symphonie Beethovens berichtet hatte: „Ich kann nicht schließen, ohne jener überfüllten Musik nochmals zu gedenken; alles aber, mein Theuerster, ist jetzt ultra, alles transcendirt unaufhaltsam, im Denken wie im Thun. Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element, worin er schwebt und wirkt, niemand den Stoff den er bearbeitet. Von reiner Einfalt kann die Rede nicht seyn; einfältiges Zeug gibt es genug. Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen; Reichthum und Schnelligkeit ist was die Welt bewundert und wornach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle mögliche Facilitäten der Communication sind es worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren. Und das ist ja auch das Resultat der Allgemeinheit, daß eine mittlere Cultur gemein werde, dahin streben die Bibelgesellschaften, die Lancasterische Lehrmethode, und was nicht alles. Eigentlich ist es das Jahrhundert für die fähigen Köpfe, für leichtfassende praktische Menschen, die, mit einer gewissen Gewandtheit ausgestattet, ihre Superiorität über die Menge fühlen, wenn sie gleich selbst nicht zum Höchsten begabt sind. Laß uns soviel als möglich an

f Johann

Wolfgang Goethe, „Mit Johann Peter Eckermann. 21. Februar 1827“. In: Johann Wolfgang Goethe, Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Bd. 6. Leipzig: Divan 1889–1896, S. 62–64. g Johann Wolfgang Goethe, „Leonardos Tagebuch“. In: Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre. Zweiter Teil. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 20. Mit Einleitung und Anmerkungen von Wilhelm Creizenach. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1904], 82–99.

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der Gesinnung halten in der wir herankamen, wir werden, mit vielleicht noch wenigen, die Letzten seyn einer Epoche, die sobald nicht wiederkehrt.“14 Goethe verstand die historische Situation prozessual, als ein Ineinanderfließen verschiedener Strömungen, ohne dass aus diesen ein einzelner philosophisch maßgeblicher Strom des historischen Fortschritts entstünde. Der technologische Fortschritt ebenso wie derjenige der Humanität hat eine schöpferische und eine destruktive, eine positive und eine negative Seite, und selbst der Bildung, in der das schöpferische Moment am ausgeprägtesten ist, wohnt als mögliches Negativum der unangemessene, sich auf Wissensquantitäten richtende Stolz inne. Der Richtwert, den Goethe ansetzt, ist die Idee des Menschen als des höchsten Erzeugnisses von Natur und Geist. Eine Person, die diesem Richtwert entsprechen will, muss ihr dynamisches Gleichgewicht bewähren, indem sie in Form der Steigerung und Intensivierung ihres Selbstseins die widerstreitenden Elemente versöhnt. Es geht Goethe nicht um den Entwicklungsprozess der Menschheit als Ganzer. Die Idee einer abstrakten Humanität lehnt er entschieden ab. So überzieht er die Theorien der Saint-Simonisten, die eine kollektiv-dynamische, alle Individuen absorbierende Menschheit postulieren, mit vernichtendem Spott.h Eine Gruppe ist für ihn nichts anderes, als vereint sich mischende Wechselwirkungen einer Mannigfaltigkeit sozialer Beziehungen von Individuen. Sie bildet auf einer höheren Ebene die einfachen Beziehungstypen des Gebens und Nehmens, der Über- und Unterordnung, des Handelns und Behandeltwerdens, des Verweilens und der Wanderschaft, des Sich-Verbindens und Sich-Trennens, des Liebens und Hassens, der Freiheit und der Knechtschaft usw. ab. Frei von der Hybris des 19. Jahrhunderts, glaubte Goethe nicht an eine objektive Bedeutung der Geschichte, die sich philosophisch verifizieren ließe. Er blieb der Idee des Fortwährens der überlieferten Bildung und des fortwährenden Wachstums der Wahrheit treu – dies war ihm Fortschritt im eigentlichen Sinne. Goethe machte sich die Orientierung an denjenigen Denkbewegungen zum Prinzip, denen er sich im historischen Teil seiner Farbenlehre und in seinen autobiographischen Schriften verpflichtet hatte. Er war der Auffassung, dass

14  Johann

Wolfgang Goethe, „An Carl Friedrich Zelter. [6. Juni 1825?]“. In: Johann Wolfgang Goethe, Goethes Briefe. Weimarer Ausgabe, Bd. 39. Herausgegeben im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887–1912, S. 214–216, hier S. 215–216. h Johann Wolfgang Goethe, „Mit Friedrich Soret. 6. März 1830“. In: Johann Wolfgang Goethe, Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Bd. 7. Leipzig: Divan 1889–1896, S. 236–238, hier S. 236.

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die Ideengeschichte ein unfehlbares Mittel ist, um die törichten und trivialen Theorien, die das Zeitgeschehen hervorbringt, zu korrigieren.15 Sein Urteil über die Geschichte als wissenschaftliche Disziplin und als Werkzeug des sozialen Handelns allerdings war von wüster Skepsis geprägt: Geschichte als wissenschaftliche Disziplin ist eine Narretei wegen ihrer fragwürdigen Methoden; und die These, von der der Historiker ausgeht, besteht in nicht mehr als dem Gemeinplatz, die Menschheit habe immerzu Leid getragen und das Leben sei ohnehin ein Elend. Der ernsthafte Grund, von dem aus Goethe die Geschichte infrage stellt, ist seine Sorge um das Individuelle: „Dem Geschichtsschreiber ist nicht zu verargen, daß er sich nach Resultaten umsieht; aber darüber geht die einzelne Tat sowie der einzelne Mensch verloren. […] Die Geschichte, selbst die beste, hat immer etwas Leichenhaftes, den Geruch der Totengruft.“16 Er selbst ist einzig an einem Menschsein interessiert, das geeignete Ideen und das Schöne aller Zeiten in eine Lebensform verwandelt hat, die wir in Begriffen der Weisheit, Mäßigung oder eben Bildung bezeichnen. Aus diesem Grund teilte er die traditionelle Auffassung der Aufklärung, der zufolge der historische Prozess und historische Taten eine Sphäre der menschlichen Torheiten, des niederen Strebens und der Eitelkeit bilden. Er hatte die Welt der Politik genau genug studiert, um zu wissen, dass hier weniger der Verstand als der Unverstand regiert. In der Folge entwickelte Goethe eine Theorie der Natur sozialer Beziehungen, die es ermöglichen soll, den historischen Prozess als wiederkehrendes Muster des Wandels zu verstehen: „Der Kampf des Alten, Bestehenden, Beharrenden mit Entwicklung, Aus- und Umbildung ist immer derselbe. Aus aller Ordnung entsteht zuletzt Pedanterie; um diese los zu werden, zerstört man jene, und es geht eine Zeit hin, bis man gewahr wird, daß man wieder Ordnung machen müsse. Classicismus und Romanticismus, Innungszwang und Gewerbsfreiheit, Festhalten und Zersplittern des Grundbodens: es ist immer derselbe Conflict, der zuletzt wieder einen neuen erzeugt. Der größte Verstand des Regierenden wäre daher, diesen Kampf so zu mäßigen, daß er ohne Untergang der einen Seite sich ins Gleiche stellte; dies ist aber den Menschen nicht gegeben, und Gott scheint es auch nicht zu wollen.“17

15 Goethe,

Goethe’s Sprüche in Prosa, S. 80 (Nr. 352). Wolfgang Goethe, „Anmerkungen“. In: Johann Wolfgang Goethe, Dichtung und Wahrheit. Dritter Teil. Goethes sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 24. Mit Einleitung und Anmerkungen von Richard M. Meyer. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1904], S. 265–310, hier, S. 268–269. 17 Goethe, Maximen und Reflexionen, S. 64–65 (Nr. 346). 16 Johann

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Goethe selbst war ein äußerst präziser Analytiker der historischen Situation des vorrevolutionären Frankreich. Die Halsbandaffäre von 1785 war ihm Anlass, den Fall der Monarchie, da sie Würde und Respekt eingebüßt habe, vorherzusagen. Er hob hervor, dass es immer die herrschenden Klassen sind, die die Verantwortung für die Revolutionen tragen, wenn sie nämlich aus ihren politischen Verpflichtungen soziale Privilegien machen.18 In Revolutionen sah er indes die perennierende Rückkehr des Naturzustandes, der Gesetzlosigkeit, der Beseitigung aller Hemmungen.19 Einen Zustand der Ungerechtigkeit wollte er dem der Unordnung vorziehen. Auf diese Weise, um der Verteidigung des Status quo gegenüber den Mehrheiten, den Massen und den Revolutionsbewegungen willen, riskierte Goethe seine eigene Idee einer unabhängigen Person.20 Seine tiefgründigsten Reflexionen zu einer Theorie der Geschichte behandeln jene Aspekte, in denen Tun und Gebaren Ideen folgen, also ideelle und normative Güter die entscheidenden Elemente sozialen Wandels bilden: „Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Konflikt des Unglaubens und Glaubens. Alle Epochen, in welchen der Glaube herrscht, unter welcher Gestalt er auch wolle, sind glänzend, herzerhebend und fruchtbar für Mitwelt und Nachwelt. Alle Epochen dagegen, in welchen der Unglaube, in welcher Form es sei, einen kümmerlichen Sieg behauptet, und wenn sie auch einen Augenblick mit einem Scheinglanze prahlen sollten, verschwinden vor der Nachwelt, weil sich niemand gern mit Erkenntnis des Unfruchtbaren abquälen mag.“21 Dies ist keine

18 Johann

Wolfgang Goethe, „Mit Johann Peter Eckermann, 4. Januar 1824“. In: Johann Wolfgang Goethe, Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Bd. 5. Leipzig: Divan 1889–1896, S. 8–14, hier S. 10–11. 19 Goethe, Maximen und Reflexionen, S. 203 (Nr. 955). 20  Johann Wolfgang Goethe, „Kampagne in Frankreich“. In: Johann Wolfgang Goethe, Kampagne in Frankreich – Belagerung von Mainz. Goethes sämtliche Werke. JubiläumsAusgabe in 40 Bänden, Bd. 28. Mit Einleitung und Anmerkungen von Alfred Dove. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1903], S. 1–214, hier S. 206–214 u. Johann Wolfgang Goethe, „Belagerung von Mainz“. In: Johann Wolfgang Goethe, Kampagne in Frankreich – Belagerung von Mainz. Goethes sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 28. Mit Einleitung und Anmerkungen von Alfred Dove. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1903], S. 215–262, hier S. 257. 21  Johann Wolfgang Goethe, „West-östlicher Divan. Israel in der Wüste“. In: Johann Wolfgang Goethe, West-östlicher Divan. Goethes sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 5. Mit Einleitung und Anmerkungen von Konrad Burdach. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1905], S. 247–268, hier S. 247–248.

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Geschichtsmetaphysik, vielmehr eine dynamische Theorie, deren Elemente nicht in einem dialektischen Verhältnis, sondern in einem der Polarität stehen. Saint-Simon und Comte hielten sich eng an das Muster Goethes: Die von beiden vertretene Dichotomie organischer und kritischer Perioden korrespondiert seiner Unterscheidung von Epochen des Glaubens und des Unglaubens. Glaube bildet für Goethe den Gegensatz zur Skepsis. Indem er dieses Gegensatzpaar konstituiert, bestimmt er Glauben unausgesprochen nicht etwa als eine rein spirituelle Bindung, sondern als feste Überzeugung und Bewusstsein dessen, was gut ist an den menschlichen Gegebenheiten. Und Glaube in der Form des Zutrauens in die Vereinigung der Gebildeten zum Zweck der Verwirklichung eines esoterischen Reichs fortschreitender Aufklärung ist Bedingung der Möglichkeit von Bildung. Deshalb hat Geschichte Bedeutung nur als Fortschritt der Bildung, während die konkreten Abläufe historischer Taten ein Chaos gemeiner Leidenschaften und gemeiner Interessen darstellen. Eine einzige Szenerie der Zeitgeschichte gibt es, in der Bildungstendenz und historische Dynamik zusammenfallen: der Auftritt des Phänomens Napoléon. Für Goethe war Napoléon, so wie Friedrich II. von Preußen oder Caesar, eine Verkörperung des Typus des dämonischen Herrschers. Aber mehr noch bedeutete er für Goethe. Allein Napoleon war in der Lage, den umfassenden Rahmen für ein vereinigtes Europa herzustellen und die engen Grenzen nationaler Vorurteile niederzureißen. Erst auf diesem Weg konnte ein europäischer Bund des Weltbürgertums und der Weltliteratur Wirklichkeit werden – einmal mehr leistete die irrationale Sphäre der Politik der Sache des Weltbürgertums einen Dienst.22 Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass Goethes Versuch, eine Verbindung zwischen Freiheit der Bildung und zentralistischem Cäsarismus zu knüpfen, seiner Logik nach mit seiner Philosophie der Gesellschaft in Deckung ist. Aufgrund seiner Erfahrungen im politischen und administrativen Bereich und seiner Beobachtungen der Dominanz, die hier beschränkte persönliche Interessen und Ressentiments ausüben, war er überzeugt, dass zu allen Zeiten das durchschnittliche Regierungshandeln Pfusch ist. Zugleich und als Ergebnis derselben Beobachtungen schrieb er indes der Güte exekutiven Handelns höchste Bedeutung zu: „[D]enn so komme auch in einem Reiche alles auf die exekutive

22  Selbstverständlich

war Napoléons Hybris Goethe wohl bewusst, ebenso wie die destruktiven Elemente seiner dämonischen Natur, die er ebenso wahrnahm, wie seine schöpferische Vision.

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Gewalt an; die gesetzgebende möge so vernünftig sein, als sie wolle, es helfe dem Staate nichts, wenn die ausführende nicht mächtig sei.“23 Goethe war durch und durch Perfektionist, weswegen ihm Pfusch verhasst war, wo immer er sich zeigte. Als junger Mann verehrte er Friedrich den Großen, nicht als preußischen Souverän, sondern als dämonischen Herrscher. Der reife Goethe unterschied zwischen entwürdigender Tyrannei und der Despotie als einem Regime der Effizienz und der Wohlfahrt, das auf zur Größe begabte Charaktere anziehend wirkt:24 „Die Despotie […] schafft große Charaktere; kluge, ruhige Übersicht, strenge Tätigkeit, Festigkeit, Entschlossenheit, alles Eigenschaften, die man braucht, um den Despoten zu dienen, entwickeln sich in fähigen Geistern und verschaffen ihnen die ersten Stellen des Staats, wo sie sich zu Herrschern ausbilden.“25 In Alexander, Friedrich und Napoléon fand Goethe den Beweis für die anregenden, schöpferischen Möglichkeiten dieser Form der Regierung. Die Despotie bildet ein Muster für unabhängige Gruppen freier, kollegial verbundener Arbeiter, die zusammenwirken, um Werte für das Gemeinwesen zu schaffen. Goethe war fest davon überzeugt, dass Menschen, sofern sie schöpferisch arbeiten, noch in den bescheidensten Verhältnissen frei sind: Die Textilarbeiter im Thüringer Wald oder die Zimmerleute von Weimar waren, indem sie Arbeiten zum Wohl der Gesellschaft leisteten, nicht weniger unabhängig als Goethe oder sein Herzog. Dass Arbeit, die der Gestaltung von Objekten gilt, Menschen frei macht, war eine der besonders authentischen Erfahrungen, die Goethe in seinem Leben sammelte, und die tiefste Wahrheit, die er erfuhr – tatsächlich war er sich bewusst, dass deren Erkenntnis wie eine Wasserscheide sein Leben in zwei Hälften teilte. Er wusste, dass seine Jugendzeit und die Studienjahre, die Epoche des Werther, der Iphigenie und des Tasso, die Zeit der Liebe zu Charlotte von

23  Johann

Wolfgang Goethe, „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“. In: Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werthers – kleinere Erzählungen. Goethes sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 16. Mit Einleitung und Anmerkungen von Max Herrmann. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1906], S. 165–304, hier S. 264. 24 Die Tyrannei bedeutet Erniedrigung, da sie die Fundamente der Politik innerhalb des legalen Rahmens zerstört. Die Despotie dagegen ist schöpferisch in Form wirksames Handeln eines dämonischen Herrschers, das die Verhältnisse der Bevölkerung steigert, indem die Verwaltung im Rahmen von Recht und Gesetz kontinuierlich verbessert wird. 25  Johann Wolfgang Goethe, „Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis des West-östlichen Divans“. In: Johann Wolfgang Goethe, West-östlicher Divan. Goethes sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 5. Mit Einleitung und Anmerkungen von Konrad Burdach. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1905], S. 145–316, hier S. 173.

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Stein, von einer vollkommen selbstzentrierten Empfindsamkeit, von Introspektion und Subjektivismus geprägt gewesen waren. Italien symbolisiert den Wandel, den er erfuhr. Von 1788 an gewann er vollständige Macht über seine Stimmungen, Neigungen und Fähigkeiten. Er konzentrierte das Interesse, das er für Fragen der Natur, der Kunst und der Gesellschaft hegte, auf objektive, wissenschaftlich begründete Theorien, schuf seine poetische Lust zu metaphysischer Dichtung um, verwandelte die Pose des ewigen Wanderers in das stete und hartnäckige Streben des Gelehrten. Symbolischen Ausdruck findet die Zweiseitigkeit des Lebens Goethes in der Anlage seiner Hauptwerke – der Autobiographie, des Wilhelm Meister und des Faust –, deren jedes aus zwei Teilen besteht, die markante lebensgeschichtliche Veränderungen anzeigen. Besonders aufschlussreich ist die radikale Transformation, die die beiden Teile der Autobiographie preisgeben. Dichtung und Wahrheit enthält die Geschichte der Jugend Goethes seit den frühen Jahren bis zur Einladung, nach Weimar zu gehen. Bisher wurde kaum beachtet, dass dieser Teil der Autobiographie mit einer halb ernsten, halb ironischen Darstellung der astrologischen Kartographie seines Lebens beginnt, mit seinem Horoskop. Im Finale dieses ersten Teils, in Verbindung mit der Schilderung der plötzlichen Schicksalswende in Form des Rufs nach Weimar, erfolgt eine vielsagende Beschreibung des Dämonischen.i Die Eingangs- und Ausgangsgeschichte belegen, dass ihr Autor sich der Determinanten seines Lebens, dessen Jugend in der Aufzeichnung noch der geringsten Weltbewegungen verlief, feinfühlig wie eine Äolsharfe, klar bewusst war.j Dagegen gelten die verschiedenen Abschnitte des zweiten Teils der Autobiographie26 den

i Johann Wolfgang Goethe, Dichtung und Wahrheit. Erster Teil. Goethes sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 22. Mit Einleitung und Anmerkungen von Richard M. Meyer. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1903], S. 7; Johann Wolfgang Goethe, Dichtung und Wahrheit. Vierter Teil und Anhang. Goethes sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 25. Mit Einleitung und Anmerkungen von Richard M. Meyer. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1904], S. 138. j Johann Wolfgang Goethe, Faust. Erster Teil. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 13. Mit Einleitung und Anmerkungen von Erich Schmidt. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1903], S. 4. 26 Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise. Goethes sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bänden, Bde. 26 u. 27. Mit Einleitung und Anmerkungen von Ludwig Geiger. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1907]; Johann Wolfgang Goethe, Kampagne in Frankreich – Belagerung von Mainz. Goethes sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bänden, Bd. 28. Mit Einleitung und Anmerkungen von Alfred Dove. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1903]; Johann Wolfgang Goethe, Aus der Reise in die Schweiz 1797 – Am Rhein, Main und Neckar

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Objektivationen seines Lebens auf dem Weg der Beschäftigung mit Wissenschaft, Philosophie, philosophierender Dichtung, dem Verhältnis von Philosophie und Dichtung, Theorien der conditio humana, den Rollen, die Dichtung und Kunst in Lauf der Geschichte gespielt haben. Goethe war sich bewusst, dass die Formung seines Lebens, dass die Idee der Bildung, die er errichtet hatte, indem er Macht über sein Subjektsein gewann und es in die freimachende Objektivität aus Theorie gewonnener Wahrheit überführte, dazu beitragen würde, ein Maß für die Intellektuellen seiner Zeit und aller künftigen Zeiten zu setzen. Am Ende seines Lebens formulierte er diese Überzeugung wie folgt: „Ja, ja, es leben doch hier und da noch gute Menschen, die durch meine Schriften erbaut worden. Wer sie und mein Wesen überhaupt verstehen gelernt, wird doch bekennen müssen, daß er eine gewisse innere Freiheit gewonnen.“27 Hier kommt die Bedeutung des Wilhelm Meister und des Faust zum Ausdruck. Nur diejenigen, die sich einer würdigen Sache verschreiben, vermögen wahre Unabhängigkeit zu erlangen. Goethe lehnte die Flucht der Romantiker in den sicheren Schoß der katholischen Kirche ab. Im Wilhelm Meister schuf er eine soziale Utopie, deren Grundlage die Figur des frühen amerikanischen Siedlers ist, in der moderne Subjektivität sich mit Hingabe an den gemeinschaftlichen Zweck einer Wohlfahrtsgemeinde unabhängiger Menschen zusammenschließt. Echte Humanität erlangt Wilhelm Meister erst, nachdem sein Weg ihn durch eine Vielfalt ästhetischer und erotischer Erfahrungen geführt und er den Wert eines der Sache der Gesellschaft dienlichen Berufs erkannt hat. Und Faust erlangt vollständige Humanität in der Folge seiner Odyssee durch die theoretischesoterischen, die sozial-erotischen, die politisch-exoterischen, die individuellerotisch-ästhetischen und die despotischen Landschaften der Seele. Wie Friedrich der Große herrscht er als gütiger Despot, den Versuchungen der Macht unterworfen, Opfer der magischen Verstrickungen organisierter Gewalt. Als

1814–1815. Goethes sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bänden, Bd. 29. Mit Einleitung und Anmerkungen von Otto Heuer. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1906]; Johann Wolfgang Goethe, Annalen. Goethes sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bänden, Bd. 30. Mit Einleitung und Anmerkungen von Otto Heuer. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1903]. 27 Johann Wolfgang Goethe, „Mit Friedrich von Müller. Gespräch am 5. Januar 1831“. In: Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Bd. 8. Leipzig: Divan 1889–1896, S. 1–3, hier S. 2.

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dämonischer Herrscher ist er immun gegen das Erlebnis der Schuld; der Mann der Tat verfügt über kein Gewissen. Aber indem Faust endlich zur humanitas gelangt, wendet er sich einer demokratischen Gemeinschaft freier Menschen zu, die der Befreiung der schöpferischen Elemente der menschlichen Natur dient und die Resistenz, Negativität und Angst, jene Elementen des Menschseins, denen niemand sich entziehen kann, reguliert. Seit seiner italienischen Reise, seit dem Augenblick, als die Französische Revolution die alte Gesellschaft aushöhlte und Goethe selbst seine Position am Rand der Gesellschaft gefunden hatte, beschäftigte er sich mit den Elementen, die eine Gesellschaft konstituieren, verwendete er sein enzyklopädisches Wissen über menschliches Tun und Gebaren für die Arbeit an einer Theorie der conditio humana. In Wilhelm Meisters Wanderjahre prägte er den Begriff der „symphronistischen“ Methode,k um eine vergleichende Untersuchung der Struktur menschlicher Zustände und der typischen Weisen des Umgangs mit diesen Zuständen anzuzeigen. Es wirft ein Licht auf das tiefe Misstrauen, das Goethe gegenüber den Begehrlichkeiten der Gesellschaft hegte, dass er, nachdem er einmal ihre Realien entdeckt hatte, für ihre Beschreibung dieselben Begriffe verwendete, die er für die Beschreibung des Dämonischen bemüht hatte: Sie ist von Grund auf ambivalent. Im Rahmen seiner Analysen des römischen Karnevals und des Rochusfests in Bingenl formulierte er die These, dass das Leben der Gesellschaft Schein sei, also eine Erscheinung bzw. Illusion: Menschen sind Schauspieler, die ihre Rollen zu spielen haben, ob sie für diese gerüstet sind oder nicht. Sein gesamtes reiferes Leben hindurch anerkannte Goethe Macht und Wirklichkeit der Gesellschaft und fügte sich in sie, doch in der persönlichen Zurückhaltung desjenigen, der sich an ihrem Rand hält. Währenddessen blieb er bei der Idee, dass die Macht, die die gesellschaftliche Wirklichkeit kennzeichnet, lediglich eine Macht der

k Johann

Wolfgang Goethe, Wilhelm Meistes Wanderjahre. Erster Teil. Goethes sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 19. Mit Einleitung und Anmerkungen von Wilhelm Creizenach. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1904], S. 185. l  Johann Wolfgang Goethe, „Das römische Karneval“. In: Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise. Zweiter Teil. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 27. Mit Einleitung und Anmerkungen von Ludwig Geiger. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1907], 194–231; Johann Wolfgang Goethe, „Das Sankt Rochus-Fest zu Bingen“. In: Johann Wolfgang Goethe, Aus der Reise in die Schweiz 1797 – Am Rhein, Main und Neckar 1814–1815. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 29. Mit Einleitung und Anmerkungen von Otto Heuer. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1906], 187–219.

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Erscheinungen, der Schaustellerei, der Vortäuschungen ist. Es ist dies die Macht, die ein Reich des Scheins entfaltet: Goethe führt die Gesellschaft entweder als einen Karneval oder als ein Festspiel vor – wenn er sie nicht als eine Welt des Verfalls beschreibt, wie in Stella, in den Wahlverwandtschaften, in den Bildern des Hofgeschehens in Faust II oder der vorrevolutionären Gesellschaft in Die Natürliche Tochter. Die Menschen hier gleichen eher hilflosen Marionetten denn vollständigen Personen. Besonders prägnant bringt Goethe seine Schlussfolgerung im Märchen zum Ausdruck: „Drei sind, die da herrschen auf Erden: die Weisheit, der Schein und die Gewalt.“m Schein ist die conditio sine qua non der politischen und sozialen Organisation. Man lebe, indem man Rollen spiele und vortäusche, stellt Mephisto im Maskenzug von 1818 fest.n Alle gesellschaftlichen Beziehungen gründen auf Repräsentation und Illusion. Und ist nicht auch Repräsentation selbst eine Illusion? Goethe pries ausdrücklich die schöpferische Wirkung, die die Illusion im menschlichen Tun und Dulden entfaltet. Illusion allein befähigt Menschen, das Leben anzunehmen und zu bewahren; sie verleiht Konventionen, Sitten und Etikette eine Bedeutung; sie dient der Pflege dessen, was die Gesellschaft aus sich gemacht hat. Goethe wusste, dass seine Schwiegertochter mit August Goethe sehr unglücklich war; August war ein Trinker, der sie prügelte, wenn er betrunken war, und allerlei Affären mit anderen Frauen unterhielt. Gleichwohl insistierte der Vater Goethe, sie möge, um einen Skandal zu vermeiden, sich in die edle Haltung der ästhetischen Resignation schicken. Es ist von bitterer Ironie, dem Dichter und Denker, der die Sache der menschlichen Bildung und Humanität in Ehren halten wollte, dabei zuzusehen, wie er dem Scheingebilde gesellschaftlicher Bestimmungen sich unterwirft. Er zog es vor, eine leidende Seele auf dem Altar des Götzen der Gesellschaft zu opfern, statt sie aus sozialen Zwängen in die Freiheit zu entlassen.

m Johann Wolfgang Goethe, „Das Märchen“. In: Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werther – Kleinere Erzählungen. Goethes sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 16. Mit Einleitung und Anmerkungen von Max Herrmann. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1906], S. 266–304, hier S. 298. n Johann Wolfgang Goethe, „14. Maskenzug 1818“. In: Johann Wolfgang Goethe, Zeitdramen und Gelegenheitsdichtung. Goethes sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 9. Mit Einleitung und Anmerkungen von Otto Pniower. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1905], S. 302-374, hier S. 357.

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Und dennoch – Goethe blieb dem Ideal des echten Menschen, der zugleich in und außerhalb der Gesellschaft steht, treu. Die drei Kräfte, die, wie wir gesehen haben, das menschliche Leben beherrschen – Weisheit, Schein, Gewalt – sind die für den Aufbau der Gesellschaft grundlegenden Elemente. Aber es existiert darüber hinaus noch ein weiteres Element schöpferischen Tätigseins, das nicht in das Fundament der Gesellschaft eingeht – die Liebe. Wenn der junge, ehrgeizige Prinz an den Weisen die Frage richtet, ob dies nicht ein Mittel der Macht sei, dann weist der Philosoph dies zurück: „Die Liebe herrscht nicht, aber sie bildet, und das ist mehr.“o Denn der Mensch lebt – eben – in der Gesellschaft und jenseits ihrer. Er ist gezwungen, sich in einem sozialen Referenzrahmen zu bewegen, muss Illusionen und Erscheinungen in Ehren halten, um seine Rolle auf der Bühne des menschlichen Lebens mit Erfolg zu bewältigen. Doch soll er sich nicht vollständig von ihr vereinnahmen lassen. So lobte Goethe Molières Misanthropp als eines der größten und besonders humanen Abbilder menschlichen Scheiterns am Versuch, den Heucheleien und Illusionen der Gesellschaft zu entkommen.q Das Problem entspricht dem in Montesquieus Persischen Briefen dargestellten.r Dort zeigen alle Franzosen sich beschämt und verwirrt, als die Perser sich wie Franzosen kleiden. Was bleibt, wenn wir die Eigentümlichkeiten unserer Lebensweise verlieren? Was geschieht, wenn wir nicht die Kostüme tragen, die unseren Rollen entsprechen? Was bedeutet es, dem Anspruch zu folgen, schlicht Mensch zu sein? Montesquieu hatte auf diese Frage keine Antwort; Goethe hatte eine. Der Mensch ist Teil der Gesellschaft und ist es nicht. Zwei Formen des Gebarens bzw. zwei Geisteshaltungen sind es, die uns ermöglichen, den Schein und die Rollen, in die die Gesellschaft uns hineinzwingt, zu transzendieren: zum einen eine innige Verbindung aus aufrichtiger Neigung in Form von Liebe und Freundschaft; zum zweiten Hingabe an die Wahrheit. Tatsächlich sind dies zwei Seiten desselben Phänomens: der konstruktiven, gestaltenden Kräfte des

o Goethe,

„Das Märchen“, S. 300. Der Misanthrop. Lustspiel in fünf Aufzügen. Übersetzt von Emilie Schröder. Leipzig: Reclam o. J. [ca. 1875]. q Johann Wolfgang Goethe, „Histoire de la Vie et des Ouvrages de Molière“. In: Johann Wolfgang Goethe, Schriften zur Literatur. Dritter Teil. Goethes sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 38. Mit Einleitung und Anmerkungen von Oskar Walzel. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1907], S. 161–162. r  Charles Louis de Secondat de Montesquieu, Persische Briefe. Übersetzt von Fritz Montfort. Wiesbaden: Metopen-Verlag 1947. p Molière,

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Menschen, die, wie alles schöpferische Tun, dem innersten Wesen nach Liebe sind. Dieser Begriff der Liebe ist nicht romantisch oder sentimental konnotiert. Es geht um die sachliche Liebe des produktiven Geistes, der aus der Fruchtbarkeit seiner Erfahrungen schöpft. Wir müssen nicht eigens betonen, dass Menschen in ihren sozialen Rollen verbleiben, auch wenn sie das Wir der Freundschaft, der Liebe oder des Einswerdens mit einer Sache, für die zu leben und zu sterben lohnt, verwirklichen; aber indem sie des Ewigkeitswerts unverfälschter Liebe und des immerwährenden Wesens der Wahrheit innewerden, gelingt es ihnen zugleich, jenseits der Gesellschaft zu sein. Der gereifte Goethe spricht mit demselben Enthusiasmus von Molière, mit dem der junge Goethe die Griechen und Shakespeare gepriesen hatte. Den Misanthrop bezeichnet er als Tragödie, weil das Stück uns ins Gedächtnis ruft, was uns verzweifeln und nach einer Ausflucht fahnden lässt. Molière verkörpert ihm echtes Menschsein, das trotz Erwerbs höchster Grade der Bildung seine Natürlichkeit gewahrt hat. Ein solcher Mensch ist Träger des Wunschs, sich und anderen wahrhaft und aufrichtig zu begegnen. Doch wir sehen ihn im Widerstreit mit einer Gesellschaft, deren Grundlagen Heuchelei und Seichtheit sind.28 Goethes Hauptanliegen war der echte Mensch in Göttlicher Natur – die menschliche Stellung im Universum. Aus diesem Grund kreisen all die Konzepte, die, wie Bildung und Humanität, der Erhöhung des Menschseins zugeeignet sind, um diese Idee des echten Menschen. Dieser echte Mensch gleicht allerdings weder dem rational verfassten noch dem urtümlichen Menschen, sondern ist derjenige, der Lernen und Erlerntes in eine Lebensform verwandelt hat, in der Natur und Kunst verschmelzen. Wir reden hier nicht von einem in erster Linie ästhetischen, vielmehr von einem kosmologischen Konzept: „Kein Mensch will begreifen, daß die höchste und einzige Operation der Natur und Kunst die Gestaltung sey.“29 Gestaltung aber ist das innerste Zentrum des Universums; was Menschen als summum bonum erstreben, ist echte Humanität, und der Gang dieses Strebens heißt Bildung – das Muster kosmischer Gestaltung in der menschlichen Welt.

28 Johann

Wolfgang Goethe, „Histoire de la Vie et des Ouvrages de Molière“. In: Johann Wolfgang Goethe, Schriften zur Literatur. Dritter Teil. Goethes sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 38. Mit Einleitung und Anmerkungen von Oskar Walzel. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1907], S. 161–162. 29 Johann Wolfgang Goethe, „An Carl Friedrich Zeller. 20. Oktober 1808“. In: Johann Wolfgang Goethe, Goethes Briefe. Weimarer Ausgabe, Bd. 20. Herausgegeben im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887–1912, S. 192–194, hier S. 192.

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Aus diesen letzten Überlegungen ergibt sich klar, dass Goethe sich vollständig bewusst der Rolle gewesen sein muss, die unterhalb der schöpferischen und der fruchtlosen Phasen des Lebensrhythmus das Unbewusste spielt. In einem Brief an Schiller vom 27. August 1794, in dem er auf dessen erhellende Deutung der Natur Goethes antwortete (und der die Grundlage beider doppelbödiger Freundschaft wurde), lenkte Goethe Schillers Aufmerksamkeit darauf, dass er „eine Art Dunckelheit und Zaubern bey [ihm] entdecken werde, über die [er] nicht Herr werden kann, wenn [er sich] ihrer gleich sehr deutlich bewußt“ sei.30 Humboldt und Zelter haben gelegentlich von solchen Gemütszuständen berichtet, Humboldt mit Hinweis auf das vollständige Schweigen Goethes, als einige seiner Werke Gegenstand der Kritik wurden, während Zelter detailliert die deprimierende Stimmung zu Zeiten, wenn Goethe sich mürrisch und distanziert hielt, schildert. Es ist immerhin bemerkenswert, dass Goethe wusste, dass er solche Unterbrechungen der Regentschaft seines souveränen Intellekts als Takte in der Wechselfolge von Ebbe und Flut, in der sein Lebensstrom sich vollzog, zu nehmen hatte. Augenfällig wird dies in seiner Beschreibung des Dämonischen: „Das Dämonische […] ist dasjenige, was durch Verstand und Vernunft nicht auszulösen ist. In meiner Natur liegt es nicht, aber ich bin ihm unterworfen“.31 Wie bereits erwähnt, sprach Goethe dem Dämonischen entscheidenden Einfluss auf die Formation seines Schicksals zu; es wirkt im Menschen, in Ereignissen und in der Natur – ist eine kosmische Macht: „Obgleich jenes Dämonische sich in allem Körperlichen und Unkörperlichen manifestieren kann, ja bei den Tieren sich aufs merkwürdigste ausspricht, so steht es vorzüglich mit dem Menschen im wunderbarsten Zusammenhang und bildet eine der moralischen Weltordnung wo nicht entgegengesetzte, doch sie durchkreuzende Macht, so daß man die eine für den Zettel, die andere für den Einschlag könnte gelten lassen.“32

30  Johann

Wolfgang Goethe, „An Friedrich Schiller. Brief vom Brief vom 27. August 1794“. In: Johann Wolfgang Goethe, Goethes Briefe. Weimarer Ausgabe, Bd. 10. Herausgegeben im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887–1912, S. 184– 185, hierS. 185. 31 Johann Wolfgang Goethe, „Mit Johann Peter Eckermann. Gespräch am 2. März 1831“. In: Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Bd. 8. Leipzig: Divan 1889–1896, S. 36–37, hier S. 36. 32 Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Vierter Teil und Anhang. Goethes sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bänden, Bd. 25. Mit Einleitung und Anmerkungen von Richard M. Meyer. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1904], S. 126.

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Goethe bediente sich gern der Metapher des Webens, um die Dynamik, die dem Leben aus der Einheit der Gegensätze zuteilwird, anzuzeigen. Der Fortgang des Lebens gewinnt Ausdruck in Form des steten Zusammenwirkens von Bewusstem und Unbewusstem, durch das währende Wechselspiel des Dämonischen und des Intelligiblen. Es geht um Polarität, nicht um einen Dualismus; als Einheit der Gegensätze ist Leben naturgemäßes Leben. Aus diesem Grund konnte Goethe zu Meyer sagen, einzig Leben selbst sei Zweck des Lebens;s oder besonders deutlich zu Riemer: „Der Mensch kann nicht lange im bewußten Zustande oder im Bewußtsein verharren; er muß sich wieder in’s Unbewußtsein flüchten, denn darin lebt seine Wurzel.“33 In der letzten Fassung seiner Philosophie des Lebens bezeichnete Goethe als das höchste Geschenk, das wir von Gott und der Natur erhalten haben, „die rotirende Bewegung der Monas um sich selbst, welche weder Rast noch Ruhe kennt; der Trieb, das Leben zu hegen und zu pflegen, ist einem jeden unverwüstlich eingeboren, die Eigenthümlichkeit desselben jedoch bleibt uns und andern ein Geheimnis.“34 Dies ist die Prosafassung der ersten Strophe von Urworte Orphisch, wo Goethe vom Dämon spricht. Was hier die Monas heißt, nennt er an anderer Stelle, insbesondere mit Blick auf Fausts Unsterbliches, Entelechie, kennzeichnend das individuelle Gefüge, das das Wachstum des Einzelnen vom Tag seiner Geburt an als dessen eigentliches Gesetz prägt: als Gesetz der Ausdehnung, kontinuierlichen Erhöhung, aufsteigenden Kraft der Monas, die die Elemente der Resistenz und der Negativität bewältigt, indem es sie auf das summum bonum hin ausspannt. Bewusstes und Unbewusstes sind hier ineinander verschlungen, nicht voneinander getrennt. Dies gilt für das gesamte Feld der Gedichte, in Form derer Goethe die Gesamtsumme seiner Philosophie des Lebens zieht. Notwendigkeit und Zufall (ananke und tyche) stehen für die unabsehbaren und irrationalen Anteile des Lebens, die als äußerer Drang dem Einzelnen begegnen. Aber in Taten der Liebe und der Hoffnung erweisen sich Selbstbestimmtheit und

s Johann

Wolfgang Goethe, „An Johann Heinrich Meyer. 8. Februar 1796“. In: In: Johann Wolfgang Goethe, Goethes Briefe. Weimarer Ausgabe, Bd. 11. Herausgegeben im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887–1912, S. 21–25, hier S. 22. 33  Johann Wolfgang Goethe, „Mit Friedrich Wilhelm Riemer. Gespräch am 5. August 1810“. In: Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Bd. 2. Leipzig: Divan 1889–1896, S. 324. 34 Goethe, Maximen und Reflexionen, S. 76 (Nr. 391).

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Bewusstheit, jenseits der Gegebenheiten der Natur, als die schöpferischen Anteile des Lebens.35 Eines der Kennzeichen der weitgespannten Lebensweise, die Goethe pflegte, ist sein Vermögen, das theoretische Verständnis der Zusammenhänge des Bewussten und des Unbewussten zu praktischer Anwendung zu bringen. Aus einigen bösen Erlebnissen hatte er gelernt, dass es eine Möglichkeit gab, auf das innere Gleichgewicht des eigenen Lebens hinzuwirken, sich vom fortwährenden Zwang zur Introspektion, von der Bedrängnis wiederkehrender Erschütterungen und Depressionen zu befreien. Die wirksamste Kur, entdeckte Goethe, war Arbeit, war die Umschaffung subjektiver Stimmungen und Eindrücke in objektives Verstehen und Wissen. Er praktizierte psychotherapeutisch – zuallererst an sich selbst. Die autobiographischen Schriften durchzieht der ausdrückliche Hinweis, dass, wann immer er seelische Erschütterungen und Enttäuschungen erlitt, er Zuflucht in seinen wissenschaftlichen und poetischen Arbeiten suchte, um sich im Mittel der Objektivation Freiheit zu verschaffen. Nach seiner Rückkehr aus Italien fühlte er sich zutiefst verletzt und bedrückt wegen der Entfremdung von alten Freunden, der Isolation von der vertrauten Gesellschaft. Harte, schöpferische Arbeit war es, die dies überwand; aber nicht länger war es der Ausdruck, den er dem eigenen Leiden in Form subjektivistischer Poesie gab, der ihn von diesem Leiden befreien sollte, sondern im Gegenteil kurierte er sich mit dem Mittel der Hingabe an das theoretische Studium der Natur, der Gesellschaft und der Kunst. Sein gesamtes reifes Leben hindurch machte Goethe mit höchster Energie von dieser Art der Psychotherapie Gebrauch. In einem speziellen Fall empfahl er ausdrücklich seine Methode der sachlichen Beschreibung und Deutung als wirksame Therapie gegen ein aufsteigendes Ressentiment. Dieser Fall ist erwähnenswert, da kaum bekannt. Die Paralipomena zu den Annalen, dem zweiten Teil der Autobiographie, lassen erkennen, dass er vorhatte, die Arbeit weiterzuführen. Unter diesen Notizen ist eine, die sich auf Kotzebue bezieht, der in der Zeit, als Goethe das Theater in Weimar leitete, ein bekannter Dramatiker war. Kotzebue war bei Produzenten und Publikum weit beliebter als Goethe. Er besaß hinreichende Raffinesse und Kunstfertigkeit, um den Massen zu geben, was sie verlangten, galt als skrupellos und zynisch, als

35 Johann

Wolfgang Goethe, „Urworte. Orphisch“. In: Johann Wolfgang Goethe, Gedichte. Zweiter Teil. Goethes sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bänden, Bd. 2. Mit Einleitung und Anmerkungen von Eduard von der Hellen. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1906], S. 354–358, hier S. 357.

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Produzent ohne Gewissen. Goethe unterhielt eine starke Abneigung und einen ausgeprägten Groll gegen ihn. Aber ihm war klar bewusst, dass Kotzebue, als Gegenspieler, ein Platz in seiner Autobiographie zustand, war er doch sicher, dass erst dessen Einfluss auf das Repertoire und die Schauspieltechnik der deutschen Bühnen es ihm selbst ermöglicht hatte, deren literarisches und schauspielerisches Niveau nennenswert zu verbessern. Für Goethes Bestrebungen, den künstlerischen Geschmack des deutschen Publikums zu heben, waren Kotzebues Stücke hinderlich, bestärkten sie doch die Mittelschichten in ihrem Hang zu sentimentalen Traumwelten voll der harmonischen Zufriedenheit. Die Notiz zu den Annalen präsentiert ihn als Verkörperung und Sprachrohr solchen Mittelschichtengeschmacks. Dabei geht es Goethe nicht um Kotzebues persönliche Eigenart; er analysiert ihn als eine soziale Kraft, untersucht die Wechselwirkungen, die sich zwischen ihm und der Öffentlichkeit, der Öffentlichkeit und ihm entfalten. Ausdrücklich vermerkt Goethe die Einsichten in Bedürfnisse und Ansprüche bürgerlicher Massen, verstanden als Theaterkunden, die er Kotzebue verdanke. Es ist eine durch und durch sachliche Erläuterung der Rolle und Funktion Kotzebues in der sozialen Welt des Theaters, die Goethe hier leistet. An deren Schluss steht eine persönliche Anmerkung: „Eines solchen Bekenntnisses würde ich mich nun gar sehr erfreuen, wenn ich vernähme, daß mancher, der sich in ähnlichem Falle befindet, dieses weder hochmoralisch, noch viel weniger christliche, sondern aus einem verklärten Egoismus entsprungene Mittel gleichfalls mit Vorteil anwendete, um die unangenehmste von allen Empfindungen aus seinem Gemüt zu verbannen: kraftloses Widerstreben und ohnmächtiger Haß.“36 Gelegentlich praktizierte Goethe auch psychotherapeutisch in Ausübung einer Freundschaftspflicht. So berichtet er am 5. September 1785, nach der Rückkehr aus Karlsbad, an Charlotte von Stein: „Gestern Abend habe ich ein recht Psychologisches Kunststück gemacht. Die Herder war immer noch auf das hypochondrischte gespannt über alles was ihr in Carlsbad unangenemes begegnet war. Besonders von ihrer Hausgenossin. Ich lies mir alles erzählen und beichten, fremde Unarten und eigne Fehler, mit den kleinsten Umständen und Folgen und zuletzt absolvirte ich sie und machte ihr scherzhafft unter dieser Formel

36  Johann

Wolfgang Goethe, „Annalen, 1802“. In: Johann Wolfgang Goethe, Annalen. Goethes sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bänden, Bd. 30. Mit Einleitung und Anmerkungen von Otto Heuer. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1903], S. 93–112; Johann Wolfgang Goethe, „12. Kozebue“. In: Johann Wolfgang Goethe, Annalen. Goethes sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bänden, Bd. 30. Mit Einleitung und Anmerkungen von Otto Heuer. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1903], S. 417–424, hier S. 419–420.

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begreifflich, daß diese Dinge nun abgethan und in die Tiefe des Meeres geworfen seyen. Sie ward selbst lustig drüber und ist würcklich kurirt.“t Unter Goethes literarisch-philosophischen Arbeiten bezeugen der Faust, Die Wahlverwandtschaften und in Wilhelm Meisters Wanderjahre eingelassene Kurzgeschichten sein umfangreiches Verständnis des Unbewussten. Faust schwört im Bann seiner Jugend dem Selbstmord ab.u Ein Suchender nach der vollständigen humanitas, hat er verstanden, dass weder Flucht noch Unterdrückung erreichen können, dass das Menschliche als Ganzes sich entfaltet. Es ist der entschiedene Sinn der grimmigen Sorge, der Schwester des Todes, Fausts humanitas als Ganze zu restituieren. Ihr Leben hindurch sind Menschen verblendet; und Faust erblindet vor seinem Ende, um einmal alle Last des Menschseins zu tragen: passio humana, ohne die sein Tod nicht Sieg in der Niederlage wäre.v Erblindet ist Faust den Ängsten und Traumata der menscheneigenen Unsicherheit ausgesetzt. Aber er ist sich wohlbewusst, dass es eine Arznei gegen solche Kräfte der Paralyse gibt: fortgesetztes Tätigsein für und selbstlose Hingabe an eine Sache, die es wert ist. Ein vollständiger Mensch schafft sich ein dynamisches Selbst im unablässigen Streben schöpferischer Liebe, die all seine Beziehungen durchdringt und den dunklen Mächten des Unbewussten überlegen ist. Wir gewinnen Freiheit und eigenes Leben nur im fortwährenden Streben, unter dem individuellen Bewegungsgesetz der Monas Bewusstheiten und Unbewusstheiten in einem Gleichgewicht zu halten. Die Wahlverwandtschaften führen die steten Verflechtungen, die Täuschung und Betrug eingehen, in kleinsten Gebärden und Äußerungen der Handelnden vor. Die der Naturwahl folgenden Beziehungen zwischen den zwei Paaren kollidieren mit dem Zwängen, die Rechtsnormen und soziale Konventionen entfalten, und führen zu psychischen Repressionen und Perversionen. Demnach bedeutet der sogenannte edle Verzicht in Wirklichkeit keine Befreiung; vielmehr handelt es sich um ein scheinheiliges Opfer, um die falsche Tapferkeit des Erduldens aus Furcht vor den sozialen Konventionen. Die Protagonisten scheuen

t Johann Wolfgang Goethe, „An Charlotte von Stein. Brief vom 5. September 1785“. In: Johann Wolfgang Goethe, Goethes Briefe. Weimarer Ausgabe, Bd. 7. Herausgegeben im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887–1912, S. 87. u Goethe, Faust. Erster Teil, S. 32. v Johann Wolfgang Goethe, Faust. Zweiter Teil. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 14. Mit Einleitung und Anmerkungen von Erich Schmidt. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1906], S. 264.

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die Mühen seelischer Emanzipation, die das Streiten für wahrhaft menschliche Beziehungen einschließen. Der Leser der Wahlverwandtschaften wird womöglich erst auf den zweiten Blick bemerken, dass Goethe hier ohne Absicht, eher um der ästhetischen bzw. sozialen Konvention willen, das härteste Urteil für eine solche psychologische Verdrängungsleistung fand. Denn er hatte die Ottilie geliebt, verstand sie als eine Heilige, und scheint sich nicht bewusst gewesen zu sein, dass die in den Roman eingebundene Kurzgeschichte über die beiden wunderlichen Nachbarskinderw die falsche Befreiung der Resignation restlos verdammt. Im Zentrum der Geschichte steht ein Parallelgeschehen zum Handlungsablauf des eigentlichen Romans, das verborgene Liebeshändel offenlegt, die als Konflikt und Hass verkleidet auftreten. Die jungen Liebenden befreien sich allein dadurch aus ihren Zwängen, dass sie ihre Leben riskieren, um sich einander auf Zeit und in Ewigkeit zu verbinden. Sie suchen Glückseligkeit nicht durch Wahlverwandtschaft, sondern durch Entscheidung. Ihre Entscheidung ist es, den Willen zueinander zu gehören durch das Opfer des Lebens zu bewähren, Siegel ihrer einvernehmlichen Treue. Kampf und schöpferische Tätigkeit, Glückseligkeit, erworben aus dem Geist der Hingabe, bilden demnach das seelisch-moralische Maß, an dem die Persönlichkeiten der schöngeistigen Marionetten der Haupthandlung gemessen werden müssen. Wir sollten nicht übersehen, dass Goethe seine Kenntnisse des dynamischen Zusammenhangs des Bewussten und des Unbewussten in eine allgemeine Theorie von Polarität und Metamorphose überführte. Deshalb verfügt er über keine systematische Theorie des Unbewussten. Seine Überzeugung, die später Simmel in eine neue Form brachte, lautet, dass jegliche Rationalisierung des Unbewussten dessen eigentliche Natur zerstöre. Damit soll nicht gesagt sein, Goethe, der Dichter und Denker, der Erzrealist, sei sich nicht vollkommen der gewaltigen Macht der Sexualität bewusst gewesen. In den obszönsten Versen, die sich unter den Paralipomena finden, denen zur romantischen Walpurgisnacht, parodiert Satan die Bergpredigt und kündet den Ziegenböcken zur Rechten und den Geißen zur Linken, dass Sex und Geld, Geld

w  Johann

Wolfgang Goethe, „Die wunderlichen Nachbarskinder“. In: Johann Wolfgang Goethe, Die Wahlverwandtschaften. Goethes sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bänden, Bd. 21. Mit Einleitung und Anmerkungen von Franz Muncker. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1904], S. 234–243.

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und Sex die einzig wahren Bedürfnisse der tiefsten Natur seien.x Mephisto verkörpert das destruktiv-nihilistische Schema der reinen Sexualität, abgelöst und emanzipiert vom Gesamtgefüge der menschlichen Mächte. Goethes Analyse gipfelt in der Ironie, die Mephistos Behauptung begleitet, er verfüge, indem er alles Geschehen auf die Macht des Sexus zurückrechne, über den Schlüssel zur Erklärung aller menschlichen Erscheinungen. Diese Ironie zeigt sich höchst sublim, als Mephisto seine eigene Niederlage im Kampf gegen Gott seiner bisexuellen Passion für Engel zuschreibt.y Denn er vergisst über diese Erklärung vollständig, was er doch weiß: dass anlässlich des Prologs im Himmel der Herr die Folgen über Fausts Tod hinaus bereits festgelegt hatte.z Es liegt auf der Hand, dass 1949, in einem Jahr, das einzigartige Möglichkeiten bietet, Schriften über Goethe zu veröffentlichen, allerlei Beiträge unter einem Titel wie: ,Von Goethe zu Freud‘ erscheinen werden. Gewagter wäre die Vorhersage, dass 1950, wenn das öffentliche Interesse erlahmt ist, jemand einen Aufsatz mit dem Titel ,Von Freud zu Goethe‘ verfassen wird. Doch bei allem gebührenden Respekt für die tiefgründigen Arbeiten Freuds kommt Goethe der Wahrheit über die menschliche Natur näher, da er der Wahrheit über das Naturganze näherkommt. Goethe räumt eine fortwährende Interdependenz von Bewusstem und Unbewusstem ein, aus deren Vereinigung die Dynamik menschlichen Lebens entsteht. Weil er aber Leben als Einheit in der Vielfalt seiner verschiedenen Gestalten versteht, lehnt er jede analytische Praxis ab, die nicht durch Synthese vervollständigt wird. Die Analyse an sich abstrahiert vom lebendigen Zusammenhang, zerstört dessen Gesamtgefüge, indem sie dieses oder jenes einzelne menschliche Vermögen – hier die Sexualität und dort den Intellekt – verabsolutiert oder zum Generalnenner erhebt, ihm die Rolle des Hauptbevollmächtigten im Aufbau des Lebens zuschreibt. Beide Abstraktionen lässt Goethes Idee der dynamischen Gestalten, die das Universum der Natur beleben, hinter sich.

x Johann

Wolfgang Goethe, „Satanscenen“. In: Johann Wolfgang Goethe, Paralipomena zu Goethes Faust. Entwürfe, Skizzen, Vorarbeiten und Fragmente. Herausgegeben von Friedrich Strehlke. Stuttgart et. al: Deutsche Verlags-Anstalt 1891, S. 35–41, hier, S. 36–39. y Goethe, Faust. Zweiter Teil, S. 273–276. z Goethe, Faust. Erster Teil, S. 16.

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Der spirituelle Naturalismus, den Goethe erstmals in dem Fragment über die Natur 1782–1783 zum Ausdruck bringt,a' stellt auch noch 1828 eine Paradoxie dar, die einer Lösung harrt. Goethe rundet die Idee ab, indem er die treibenden Kräfte des Naturgeschehens als Polarität und Steigerung bezeichnet. Polarität meint das immerwährende Wechselspiel von Anziehung und Abstoßung, die Polarität des materiellen Unterbaus. Steigerung meint die immerzu sich erhöhende, aufsteigende Kraft des Geistes. Materie und Geist sind begriffliche Abstraktionen. Tatsächlich gibt es keine Materie ohne Geist, keinen Geist ohne Materie. Deshalb sind Polarität und Steigerung geeignet, die Totalität des Lebens zu erfassen.b' Auf einer höheren menschlichen Ebene zeigt Polarität bzw. Metamorphose sich in Formen von Freiheit und Knechtschaft, Geben und Nehmen, Gewinn und Verlust, Bewusstem und Unbewusstem. Steigerung ist die Kategorie, die die innere Dynamik des Dämons erfasst: die des Einzelnen, der danach strebt, in fortdauernder, ansteigender Aktivität sich zu verwirklichen, seine organischen Grenzen durch die objektiven Kräfte des menschlichen Geists zu übersteigen. In der Sehnsucht des Homunculus nach vollständiger Humanität, in Fausts Streben nach unsterblicher Seligkeit, in der orgiastischen Hymne auf den kosmogonischen Eros und im Zusammentreffen von Eros und Agape bei der Auffahrt von Fausts Unsterblichem – wir finden das konkrete Bildnis einer Steigerungsbewegung als Fausts tiefste Intention, als den eigentlichen Sinn seiner passio humana. Sicher sollten wir nicht vergessen, dass Goethe selbst gesagt hat, Faust sei ein Bildnis des modernen Intellektuellen, kein Bild seines eigenen Lebensgangs.c' Gleichwohl blieb diese Grundhaltung des nie nachlassenden Kampfs für Bildung und Höhergestaltung Goethes Thema bis zum letzten Augenblick seines Lebens.

a' Johann Wolfgang Goethe, „Fragment über die Natur (1781–1782)“. In: Johann Wolfgang Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft. Erster Teil. Goethes Sämtliche Werke. JubiläumsAusgabe in 40 Bänden, Bd. 39. Mit Einleitung und Anmerkungen von Max Morris. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1906], S. 3–6. b' Vgl. Johann Wolfgang Goethe, „Anmerkungen. Fragment über die Natur (S. 3–6)“. In: Johann Wolfgang Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft. Erster Teil. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 39. Mit Einleitung und Anmerkungen von Max Morris. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1906], S. 347–350, hier, S. 349–350. c' Johann Wolfgang Goethe, „Helena. Zwischenspiel zu Faust. Ankündigung II“. In: Johann Wolfgang Goethe, Paralipomena zu Goethes Faust. Entwürfe, Skizzen, Vorarbeiten und Fragmente. Herausgegeben von Friedrich Strehlke. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1891, S. 97 f., hier S. 97.

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Dies wird jedem augenfällig, der sich seinen letzten Brief in Erinnerung ruft, verfasst fünf Tage vor seinem Tod im Alter von 83 Jahren. Der Adressat ist Wilhelm von Humboldt. Goethe antwortet auf Humboldts Frage nach der letzten Fassung des Faust II. Er räumt ein, dass es der Kräfte des Bewusstseins und des Willens bedurfte, um die Lücken, die das Versagen des Unbewussten gelassen hatte, zu füllen. „Ganz ohne Frage würd es mir unendliche Freude machen, meinen werthen, durchaus dankbar anerkannten, weit vertheilten Freunden auch bey Lebzeiten diese sehr ernsten Scherze zu widmen, mitzutheilen und ihre Erwiderung zu vernehmen. Der Tag aber ist wirklich so absurd und confus, daß ich mich überzeuge, meine redlichen, lange verfolgten Bemühungen um dieses seltsame Gebäu würden schlecht belohnt und an den Strand getrieben, wie ein Wrack in Trümmern daliegen und von dem Dünnenschutt der Stunden zunächst überschüttet werden. Verwirrende Lehre zu verwirrtem Handel waltet über die Welt, und ich habe nichts angelegentlicher zu thun als dasjenige was an mir ist und geliebten ist wo möglich zu steigern und meine Eigenthümlichkeiten zu cohobiren, wie Sie es, würdiger Freund, auf Ihrer Burg ja auch bewerkstelligen.“37 ,Dasjenige was an mir ist zu steigern‘ – bis zum letzten Atemzug, dies ist ebenso Fausts wie Goethes Überzeugung; in dem Akt, um den es geht, wirken Bewusstes und Unbewusstes untrennbar zusammen. In Goethes Reflexionen über das Genie wird deutlich, dass seine Hervorhebung der Rolle des Unbewussten nicht bedeutet, dass er die Rolle des Bewussten vernachlässigt. Im April 1801 schreibt er an Schiller: „Ich glaube daß alles was das Genie, als Genie, thut, unbewußt geschehe. Der Mensch von Genie kann auch verständig handeln, nach gepflogener Überlegung, aus Überzeugung; das geschieht aber alles nur so nebenher. Kein Werk des Genies kann durch Reflexion und ihre nächste Folgen verbessert, von seinen Fehlern befreyt werden; aber das Genie kann sich durch Reflexion und That nach und nach dergestalt hinaufheben, daß es endlich musterhafte Werke hervorbringt.“d' Am deut-

37  Johann

Wolfgang Goethe, „An Wilhelm von Humboldt. Brief vom 17. März 1832“. In: Johann Wolfgang Goethe, IV. Abteilung: Goethes Briefe. Weimarer Ausgabe, Bd. 49. Herausgegeben im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887-1912, S. 282-284, hier S. 283 (Hervorhebungen von mir). Vgl. Ludwig Lewisohn, Goethe. The Study of a Man. Bd. 2. New York: Farrar, Straus 1949, S. 447. d'  Johann Wolfgang Goethe, „An Friedrich Schiller. Brief vom 3. oder 4. April 1801“. In: Johann Wolfgang Goethe, IV. Abteilung: Goethes Briefe. Weimarer Ausgabe, Bd. 15. Herausgegeben im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887–1912, S. 213–215, hier S. 213.

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lichsten zeigt sich seine Auffassung der schöpferischen Kraft des Bewussten in der Maxime, dass die Wahrheitsliebe die erste und letzte Pflicht des Genies sei.e' Gerade dies macht Goethes überlegene Kapazität aus, dass er das Verhältnis des Bewussten und des Unbewussten im Gleichgewicht hält, in beider Interaktion den beständig sich wandelnden Aufbau der individuellen Persönlichkeit erkennt. Ob die eine oder die andere der beiden Hälften sich als schöpferisch oder als steril, als vital oder als unfruchtbar erweisen mag – ihr Zusammenwirken hängt vollständig von jenen Elementen ab, die konstitutiv für die Stellung des Menschen sind. Höchst emphatisch hob Goethe im Zuge seiner Reflexionen über die Frage der Freiheit, die nach Geist und Buchstaben wahrhaft spinozistisch sind, die Rolle der Vernunft hervor. Seine eigene Erfahrung bringt er wie folgt zum Ausdruck: „Wer Bedingung früh erfährt, gelangt bequem zur Freiheit; wem Bedingung sich spät aufdringt, Gewinnt nur bittere Freiheit.“38 Zu keinem Zeitpunkt hingegen zeigte er eine Nähe zum modernen Irrationalismus. Im Gegenteil: Gerade weil er verstand, dass das Unbewusste im Menschsein als Ganzem wirkt, wusste er, dass das Bewusste unter den Gestalten des Lebens keine passive Größe darstellt. Beide, Bewusstes und Unbewusstes, sind gleichermaßen Subjekt und Objekt des Handelns, beide sind sie zu Schöpferischem wie zur Destruktivität, zu Fruchtbarkeit wie zu Unfruchtbarkeit fähig. Die Bedeutung, die Goethe der schöpferischen Kraft des tätigen Intellekts zuwies, zeigt sich besonders anlässlich seiner kämpferischen Spekulation über das sokratische ,Erkenne Dich selbst‘. Tatsächlich konnte er sich nie des Verdachts erwehren, dass diesem Imperativ der Beigeschmack falscher Religiosität anhafte; Introspektion zu verordnen und auf diese Weise unabhängiges Denken und spontanes Tun zu lähmen, schien ihm ein Priestertrug: „Nehmen wir sodann das bedeutende Wort vor: erkenne Dich selbst, so müssen wir es nicht im aszetischen Sinne auslegen. Es ist keineswegs die Heautognosie unserer modernen Hypochondristen, Humoristen und Heautontimorumenen damit gemeint; sondern es heißt ganz einfach: gieb einigermaßen Acht auf Dich selbst, nimm Notiz von Dir selbst, damit Du gewahr werdest, wie Du zu Deinesgleichen und der Welt zu stehen kommst! Hiezu bedarf es keiner psychologischen

e' Goethe, Goethe’s Sprüche in Prosa, S. 117 (Nr. 547); Goethe, Maximen und Reflexionen, S. 73 (Nr. 382). 38 Goethe, Goethe’s Sprüche in Prosa, S. 136 (Nr. 654), vgl. S. 220 u. 87 (Nr. 1020 u. 388).

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Quälereien; jeder tüchtige Mensch weiß und erfährt, was es heißen soll; es ist ein guter Rat, der einem Jeden praktisch zum größten Vortheil gedeiht.“39 Wenn Goethe von den modernen Hypochondristen sprach, hatte er einen bestimmten Autor im Sinn. Der berühmte Anatom und Physiologe Jan Evangelista Purkinjě, der einmal als Anhänger seiner spekulativen Farbenlehre und seiner Morphologie begonnen hatte, entwickelte später eine Theorie der Heautognosie, die Goethe missbilligte. Im Jahr 1826 erklärte Purkinjě die Heautognosie zur axiomatischen conditio sine qua non für jeden wissenschaftlichen Versuchf' und erntete Goethes entschiedenen Widerspruch. Goethes Ansicht war, dass radikale Introspektion letztlich selbstquälerisch ist, zur Paralyse schöpferischen Denkens und Tuns führt. Nur in den seltenen Fällen von Menschen mit unabhängigem Intellekt wird es gelingen, die Introspektion in produktiver Weise zu regulieren: „‚Man muß tüchtig geboren sein, um ohne Kränklichkeit auf sein Inneres zurück zu gehen.‘ Gesundes Hineinblicken in sich selbst, ohne sich zu untergraben; nicht mit Wahn und Fabelei, sondern mit reinem Schauen in die unerforschte Tiefe sich wagen, ist eine seltene Gabe, aber auch die Resultate solcher Forschung für Welt und Wissenschaft ein seltenes Glück.“40 Von besonderer Eindringlichkeit sind Goethes Erklärungen, dass nur vernünftiges Tun und nur der tätige Verstand uns zu lehren vermögen, was wir sind, nur sie uns ein Bewusstsein unserer Möglichkeiten geben und uns von den Zwängen des Ressentiments befreien können: „Wie kann man sich selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals, wol aber durch Handeln. Versuche, Deine Pflicht zu tun, und Du weißt gleich, was an Dir ist. Was aber ist Deine Pflicht? Die Forderung des Tages.“41 Tatsächlich, so lautet der Weisheit letzter Schluss. Es ist dies die Einsicht Fausts, dass in Leben und Freiheit Maß zu halten fort-

39 Goethe,

Goethe’s Sprüche in Prosa, S. 99 f. (Nr. 456). Evangelista Purkinje, Rezension von Johannes Müller, Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtsinnes des Menschen und der Thiere, Leipzig 1826 und Johannes Müller, Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen, Coblenz 1826. In: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, Februar 1827, Nr. 23–30, Sp. 190–228. 40  Johann Wolfgang Goethe, „Das Sehen in subjectiver Hinsicht, von Purkinje 1819“. In: Johann Wolfgang Goethe, Zur Naturwissenschaft: Allgemeine Naturlehre: 1. Theil. Goethes Werke, Bd. II/11. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen von Bernhard Suphan und Rudolf Steiner. Weimar: Böhlau 1893, S. 269–284, hier S. 271. 41 Goethe, Goethes Sprüche in Prosa, S. 20 (Nr. 2 u. 3). f' Jan

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währender Wachsamkeit, der Schaffenskraft gemeinsamen Tuns gemäß Idee und Liebe, des Bewussten wie des Unbewussten bedarf. Wir sollten uns an dieser Stelle Goethes Anliegens erinnern, den schöpferischen Geist als irreduzibles Element der allumfassenden Natur zu erfassen. Dabei geht es, anders als Simmel Goethes basale Vorstellungen präsentiert,g' nicht um eine Lebensphilosophie; und auch die Schüler von Carus oder Jung sind nicht berechtigt, Goethes Namen auf der Ahnentafel ihrer Philosophien des Irrationalen zu verzeichnen.h' Von dem Blickwinkel aus, den wir für unsere konstruktive Neubewertung dessen, was an Goethe lebendig ist, entworfen haben, sind diese Deutungen abzulehnen. Nach unserem Verständnis besteht die eigentümliche Größe Goethes, die unserer Zeit sich mitteilt, darin, gerade deswegen die währende Souveränität des Geistes behaupten zu können, weil er die Erfahrung des Bestimmtseins durch die Kräfte des Irrationalen, des Unbewussten oder der äußeren Welt in allen Facetten durchlaufen und erkannt hatte, dass gegen jegliche Traumata eine einzige Therapie hilft: unablässiges Bemühen, in sachlicher Arbeit Wahrheit zu finden bzw. zu gründen. Es bleibt ein weiterer Aspekt des Lebens Goethes, der angesichts unserer unsicheren Lage heute von Bedeutung ist. Er verlebte, nachdem er Reife erlangt hatte, die Hälfte seiner Tage unter den sich ausbreitenden Schatten der politischen, sozialen und technologischen Revolutionen des modernen Zeitalters. Doch hielt er Defätismus oder Schicksalsergebenheit nicht für eine ehrbare, schöpferische Grundlage, sein Leben zu führen. Ein großer Teil seines Werks stellt den Versuch dar, sich der Herausforderung durch die historische Situation zu stellen. Er wünschte zu zeigen, dass schöpferische Einzelne in Gemeinschaft mittuender Gefährten vermögen, die konstruktiven Güter, über die der Unabhängige verfügt, und die Güter der Gesellschaft, in der er, so wie sie ist, zu dem wurde, der er ist, im Vollzug des Dienstes am sozialen Ganzen zu vereinen. Goethe hegte keine romantischen Vorstellungen über die Wirklichkeit oder über die Reichweite, die ein humaner Idealismus tatsächlich erreichen kann. Er war vollkommen zufrieden mit der Idee eines langsamen Fortschritts der Weltliteratur, der esoterische Kreise von Weltbürgern und des bescheidenen, maßvollen Beitrags, den deren Begegnungen zur Einigung und Befriedung der Welt leisten würden. So wie der Intellekt schöpferisch nur wird, wenn er im Tun

g' Vgl.

Simmel, Goethe. Carl G. Carus, Göthe. Zu dessen näherem Verständniß; Carl G. Jung, Psychologie und Alchemie. Zürich: Rascher 1944. h' Vgl.

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zur Anwendung kommt, so wird die Bildung nur bildnerisch, wenn sie sich dem Gut der Gemeinschaft der Weltbürger zuwendet. In unserer von Historismus und Relativismus gekennzeichneten Welt ist es bemerkenswert zu sehen, dass Goethe, gerüstet mit enzyklopädischen Kenntnissen der Geschichte und seiner eigenen historischen Situation bewusst, sein Ziel in einer Naturtheorie des Gebarens und der sozialen Beziehungen erreichte, die uns sorgfältig darzulegen möglich ist, indem wir seine eigene symphronistische Methode zur Anwendung bringen. Es lohnt, wenn wir uns zum Schluss daran erinnern, dass Goethe, begabt mit der vortrefflichsten Sensitivität, mit der Last großer Leidenschaften und einem unabhängiger Intellekt, niemals zum Opfer einer Parteidoktrin wurde, niemals in Denken und Tun einer extremen Haltung sich hingab. Bildung und Humanität waren ihm gleichbedeutend mit Mäßigung. Seine Philosophie war nicht die Philosophie Spinozas; was ihn in erster Linie faszinierte, war die Lebensform des Philosophen, die in Gelassenheit und innerem Frieden mündet. Goethe war kein Mann des klassischen Altertums. Er war überzeugt, einst unter einem der ‚guten Kaiser‘ gelebt zu haben, vielleicht unter Hadrian,i' so wie Epiktet. Er war so tapfer, die Rolle eines Epigonen Homers anzunehmen. Häufiger glaubt der Leser den Eindruck zu haben, der gereifte, alte Goethe habe mit trotziger Energie in allen ihm zugänglichen Feldern des Wissens gearbeitet, um eine Arche zu bauen, auf der all das seinen Platz haben würde, das in die Zukunft hinübergerettet zu werden verdiente, sodass die kommenden Generationen, wenn einmal die Flut der vielfältigen Revolutionen abebben würde, etwas hätten, auf dem ein Leben sich aufbauen ließe. Aber es war keine Furcht, kein Ressentiment in ihm; nur der währende Wille, bis zum letzten Augenblick des Lebens tätig zu sein und zu schaffen, bis zum Ende und aus freien Stücken treu hingegeben der Bildung: vitai lampada tradere.j'

i'  Vgl. Johann Wolfgang Goethe, „Mit Sulpiz Boisserée. 11. August 1815“. In: Johann Wolfgang Goethe, Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Bd. 3. Leipzig: Divan 1889–1896, S. 209–213, hier S. 211. j' Vgl. Lukrez, Von der Natur, S. 47 (II 79).

Goethes Idee der GesellschaftÜ

In memoriam Walter Benjamin

I. Im Gedenken Verstorbener folgte Goethe dem Prinzip, dessen eingedenk zu sein, was in ihrem Leben und Werk aufbauend und belebend immer von neuem wirksam werde. Über „Abgeschiedene eigentlich Gericht zu halten, möchte niemals der Billigkeit gemäß sein. Wir leiden alle am Leben; wer will uns, außer Gott, zur Rechenschaft ziehen? […] [N]icht was sie gefehlt und gelitten, sondern was sie geleistet und getan, beschäftigt die Hinterbliebenen!“a Goethe hat häufig geäußert, dass alle Menschen, auch die hervorragenden, der Zeit, ihrer Gesellschaft und dem Zeitgeist verhaftet sind. Die Zeit hat Sokrates getötet; unsere Irrtümer gehören der Zeit, die Tugenden dem Einzelnen – in solchen

ÜAlbert Salomon, „Goethe’s View of Society“. In: Jewish Frontier 16, 1949/12, S. 20– 25 u. 30. Es existiert ein deutschsprachiges Typoskript, das älteren Datums ist als die Publikation; Fundort: Alfred Schütz Archiv Konstanz: Nachlass Salomon. Das Typoskript wurde mit der publizierten Version abgeglichen.

a  Johann Wolfgang Goethe, „Ridels und der früher heimgegangenen Brüder Kästner, Krumholz, Slevoigt und Jagemann Totenfeier“. In: Johann Wolfgang Goethe, Dichtung und Wahrheit. Vierter Teil und Anhang. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 25. Mit Einleitung und Anmerkungen von Richard M. Meyer. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1904], S. 262–273, hier S. 273.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Salomon, Schriften 1949–1954, Albert Salomon Werke 4, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37736-6_3

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Formulierungen erkennt Goethe Bedingungen an, denen auch er unterworfen war.b Goethe hat einmal leidenschaftlich gegen die von ihm als falsche Romantik betrachtete Idee des Erinnerns protestiert.c Es gebe nur die dauernde Gegenwart des lebendigen Geistes; und es ist das Kriterium des wahrhaften Geistes, immer wieder von neuem den Menschen zu eigener Tätigkeit anzuregen und zum Höchsten und Wahren hinzuwenden. Goethe, der Schöpfer des Begriffs Weltliteratur, würde wohl mit Ironie bemerken, wie die Realität dieser Idee im Jahre 1949 aussieht. Es fanden zwar auf der ganzen Welt Goethe-Feiern statt, aber jede Nation hat sich den Goethe konstruiert, den sie gemäß ihrer jeweiligen Weltanschauung braucht. Goethe würde sich wohl lächelnd selbst zitieren: „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“.d Aber das war nicht die echte Idee der Weltliteratur, wie er sie konzipiert hatte. Goethe erwartete von der steigenden Kultur der Individuen die Fähigkeit, immer mehr von dem Vortrefflichen aus aller Welt zu schätzen, sich durch das Studium solcher Werke höher und höher zu bilden und dadurch eine universale kosmopolitische Bildungsschicht zu ermöglichen. Er hatte die Vision einer übernationalen Gemeinschaft der Geister in einer kosmopolitischen Bildung. Er dachte an die illuminierende und reinigende Kraft des reinen Blickes und des sympathischen Verstehens, nicht an die pragmatische Ausbeutung eines dichterischen und philosophischen Werkes für die propagandistischen Zwecke von Massengesellschaften im Zeitalter universaler Technologie. Wenn es wahr ist, dass Geist ein lebendiger Prozess ist und immer neues Leben erweckt, dürfen wir Goethes in unserer Weise eingedenk sein. Das 19. Jahrhundert hat den Dichter gewürdigt, der der deutschen Sprache ein nie vorher und nie mehr erreichtes Maß von Zartheit, Leuchtkraft, Innigkeit und Magie verliehen hatte. Die Jahrhundertfeier des Todes im Jahre 1932 erkannte die Souveränität seines majestätischen Geistes und seine Existenz als Symbol menschlicher Unabhängigkeit und geistiger Freiheit in einer Welt, die mehr und

b Vgl.

ebd. Johann Wolfgang Goethe, „Abend bei Goethe. 4. November 1823“. In: Johann Wolfgang Goethe, Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Bd. 4. Leipzig: Divan 1889–1896, S. 310–312. d Johann Wolfgang Goethe, Faust. Erster Teil. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 13. Mit Einleitung und Anmerkungen von Erich Schmidt. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1903], S. 7. c  Vgl.

I.

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mehr die Möglichkeiten solchen Daseins ausschloss. Im Jahre 1949 erleben wir Goethes Weisheit und Existenz als universale menschliche Natur. Er selbst benutzt die Kategorie „Natur“ als höchste Auszeichnung für universale Schöpferkraft in einzigen Menschen, wie Shakespeare,e Dantef und Leonardo da Vinci.g Als solche Natur ist er uns heute das ruhige Licht in den Verdüsterungen einer revolutionären Welt. Wir erkennen in Goethe die mögliche Unendlichkeit der menschlichen Endlichkeit. Noch näher als anderen Generationen ist unserem Verständnis die dauernde Anspannung all dieser Kräfte in wissenschaftlich-philosophischen, kritisch-ästhetischen, moralisch-sozialen Studien. Mit Recht nannte er sein Leben das Leben eines Gelehrten, der sich nicht erinnern könne, jemals längere Zeit geruht oder es sich bequem gemacht zu haben.h Diese ungeheure Kraftanstrengung war nicht nur der spontane Ausdruck seiner einzigen Schöpferkraft. Die Weite und die Tiefe seiner Analysen, seiner Beschreibungen und seiner Synthese stehen unter einem historischen Stern. Was er in allen seinen Arbeiten dem Zeitgeist entgegenzurichten bemüht war, ist die Idee der tätigen Freiheit und der freien Tätigkeit. Denn nur in dem Bewusstsein, dass alle Individuen und alle Gruppen einer solchen Gestaltung der Unabhängigkeit fähig seien, glaubte er den als Schicksal erscheinenden politischen und sozialen Revolutionen die Idee des tätigen Lebens entgegensetzen zu können. In diesem Sinne ist Goethe uns lebendig als Vorbild möglichen Menschwerdens, inmitten der ausgreifenden Massengesellschaft. Durch Herrschaft über das Leben, durch Resignation und Unterordnung unter erkannte Gesetze

e Vgl. Johann Wolfgang Goethe, „Mit Johann Heinrich Voß d. j. Abend bei Goethe. 24. Februar 1805“. In: Johann Wolfgang Goethe, Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Bd. 8. Leipzig: Divan 1889–1896, S. 290–291, hier S. 291. f Vgl. Johann Wolfgang Goethe, „An Christoph Ludwig Friedrich Schultz. Brief vom 7. May 1823“. In: Johann Wolfgang Goethe, Goethes Briefe. Weimarer Ausgabe, Bd. 37. Herausgegeben im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887–1912, S. 34–38, hier S. 36. g Vgl. Johann Wolfgang Goethe, „Mit Johann Peter Eckermann. 16. Dezember 1828“. In: Johann Wolfgang Goethe, Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Bd. 6. Leipzig: Divan 1889–1896, S. 358–367, hier S. 359–362. h  Vgl. Johann Wolfgang Goethe, „Selbstbeschilderung“. In: Johann Wolfgang Goethe, Dichtung und Wahrheit. Vierter Teil und Anhang. Goethes sämtliche Werke. JubiläumsAusgabe in 40 Bänden, Bd. 25. Mit Einleitung und Anmerkungen von Richard M. Meyer. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1904], S. 277–278, hier 277.

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gestalten wir allein die Freiheit der Möglichkeiten des Geistes und setzen sie den dämonischen Mächten des Schicksals entgegen.

II. Während ihm in der ersten Hälfte seines Lebens das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft lediglich als der Konflikt zwischen dem schöpferischen Menschen und der Sorge des Alltags erschien, wurde ihm mit wachsender Reife die Gestaltung der Gesellschaft ein fundamentales Problem seines dichterischen und philosophischen Denkens. Als Dichter war er immer an der Grenze der sozialen Institution, als Zeitgenosse wurde ihm das Phänomen der Revolution ein dauernder Gegenstand der Reflexion über das Zusammenleben der Menschen in Verbänden, als Wissenschaftler wurden ihm diese Fragen bedeutsam, weil er sie weder in seinen naturwissenschaftlichen noch in seinen kunsttheoretischen Forschungen einordnen konnte. Er entdeckte die eigene Sphäre der Gesellschaft als ein wissenschaftliches Problem, das zwar immer in Beziehung zu der politischen Organisation stand, aber darüber hinaus ihre eigene Spontaneität und Aktivität hatte. Es ist gewiss wahr, dass Spinozas desillusionierte Erkenntnis menschlicher Motive und sozialer Handlungen auf Goethes Grenzperspektive einen höchst beträchtlichen Eindruck gemacht hatte. Wir haben Goethes eigenes dunkles Wort darüber: „Alles Spinozistische in der poetischen Produktion wird in der Reflexion Machiavellismus.“i Solche Transformation sieht bei Goethe folgendermaßen aus: „Die empirisch-sittliche Welt besteht größtentheils nur aus bösem Willen und Neid.“j Eine solche These könnte von Spinoza formuliert worden sein. Aber jenseits der fragmentarischen Beobachtung des sozialen Moralisten, die in Sprüche in Prosak oder Maximen und Reflexionenl gesammelt sind, müssen wir mit Nachdruck betonen, dass Goethe sein theoretisches Interesse an der Gesellschaft im Zuge seines naturwissenschaftlichen Studiums und seiner kunst-

i Johann Wolfgang Goethe, Goethe’s Sprüche in Prosa. Herausgegeben von Gustav von Loeper. Berlin: Gustav Hempel 1870, S. 65 (Nr. 281). j Ebd., S. 49 (Nr. 183). k Vgl. ebd. l Johann Wolfgang Goethe, Maximen und Reflexionen. Nach den Handschriften des Goetheund Schiller-Archivs. Herausgegeben von Max Hecker. Weimar: Verlag der Goethe Gesellschaft 1907.

II.

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theoretischen Arbeiten objektivierte. In der Metamorphose der Tierem hatte er die Polarität von Macht und Schranken, von Willkür und Gesetz, von Freiheit und Maß, von Gestalt und Dynamik, von Überlegenheit und Mangel als die höchsten Beziehungsbegriffe bezeichnet, denen weder Herrscher, Geschäftsmänner, Moralisten noch Dichter höhere an die Seite setzen können. Es ist bezeichnend für Goethe, dass er das Studium der Gesellschaft begann, als er selbst der Gesellschaft entfremdet war. Wie immer benutzte er theoretische Reflexion oder poetische Bilder als Psychotherapie, um sich von der Depression unglücklicher Situationen zu retten. Er berichtet darüber im Schicksal der Handschrift: „Aus Italien dem formreichen war ich in das gestaltlose Deutschland zurückgewiesen, heiteren Himmel mit einem düsteren zu vertauschen; die Freunde, statt mich zu trösten und wieder an sich zu ziehen, brachten mich zur Verzweiflung. Mein Entzücken über entfernteste, kaum bekannte Gegenstände, mein Leiden, meine Klagen über das Verlorne schien sie zu beleidigen, ich vermisste jede Teilnahme, niemand verstand meine Sprache. In diesen peinlichen Zustand wußt’ ich mich nicht zu finden: die Entbehrung war zu groß, […] der Geist erwachte sonach, und suchte sich schadlos zu halten. Im Laufe von zwei vergangenen Jahren hatte ich ununterbrochen beobachtet, gesammelt, gedacht, jede meiner Anlagen auszubilden gesucht.“n Er hatte in dieser Zeit die Eigentümlichkeiten und Ideale der griechischen Kunst verstanden, er hatte die Naturgesetze analysiert und beobachtet, nach denen Natur wirkt, um lebende Strukturen als Modelle von künstlichen zu schaffen. Er war beschäftigt mit dem Studium der Sitten, Gebräuche und Konventionen der Völker: „Das dritte, was mich beschäftigte, waren die Sitten der Völker. An ihnen zu lernen, wie aus dem Zusammentreffen von Notwendigkeit und Willkür, von Antrieb und Wollen, von Bewegung und Widerstand ein Drittes hervorgeht, was weder Kunst noch Natur, sondern beides zugleich ist, notwendig und zufällig, absichtlich und blind. Ich verstehe die menschliche Gesellschaft.”o.

m Vgl. Johann Wolfgang Goethe, „Metamorphose der Tiere“. In: Johann Wolfgang Goethe, Gedichte. Zweiter Teil. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 2. Mit Einleitung und Anmerkungen von Eduard von der Hellen. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1906], S. 250–252. n  Johann Wolfgang Goethe, „Schicksal der Handschrift“. In: Johann Wolfgang Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft. Erster Teil. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 39. Mit Einleitung und Anmerkungen von Max Morris. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1906], 317–321, hier S. 317. o Ebd., S. 318.

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Diese Beschreibung des Gesellschaftlichen verdient genauere Analyse. Es ist höchst relevant für alle künftigen Reflexionen Goethes über soziale und historische Phänomene, dass er erkennt, dass Gesellschaft etwas darstellt, was nicht in Natur aufgeht. Dies ist höchst wunderbar bei seiner pannaturalistischen Philosophie. Es bedeutet aber, dass die Sphären sozialer und politischer Beziehungen nicht nur den Gesetzen der Natur unterstehen, sondern sich, ihrer Gesellschaft und ihrer Kultur Regeln und Pflichten schaffen, die der Mannigfaltigkeit und Beschränktheit menschlicher Intentionen und kollektiver Forderungen entsprechen. Gesellschaft ist aber auch nicht nur ein reines Kunstprodukt, wie Hobbes es wollte.p Es ist ein Mittelding mit allen Implikationen eines solchen. Dieses dynamisch-flexible Phänomen hatte Goethe stets fasziniert. Schon in Leipzig war er zu Tode erschrocken, als er bemerkte, dass das wirkliche Leben der Gesellschaft gar nicht an der Oberfläche der etablierten Rollen der Gesellschaft stattfindet, sondern dass die Wirklichkeit in dem dunklen Labyrinth menschlicher Leidenschaften abläuft, im Innern oder jenseits der sozialen Institutionen. Er hatte sich aus Hippokrates notiert: „Alles ist gleich, Alles ungleich, Alles nützlich und schädlich, sprechend und stumm, vernünftig und unvernünftig.“q So wird es nicht überraschen zu sehen, dass Goethe das Phänomen der Gesellschaft fast in denselben konträren Beziehungspaaren beschreibt, in denen er das Phänomen des Dämonischen festgehalten hat. Wie Gesellschaft zwischen Natur und Kunst, so befindet sich das Phänomen des Dämonischen zwischen Gott und Natur. Wie Gesellschaft das Notwendige und Zufällige, das Zweckmäßige und Blinde vereint, so koexistieren im Dämonischen Schicksal und Zufall, Wohltätigkeit und Verheerendes. Das heißt, Gesellschaft und das Dämonische sind strukturell zweideutig, aber beide sind gleichzeitig unentbehrliche Elemente in der dynamischen Konstitution des menschlichen Lebens. Für beide benützt Goethe gelegentlich das dichterische Bild von Zettel und Einschlag beim Weben.r Wie die moralische Ordnung und die Idee der moralischen Pflichten nur existieren können in der dynamischen Entfaltung des

p Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan oder von Materie, Form und Gewalt des kirchlichen und bürgerlichen Staates. Herausgegeben von Jacob Peter Mayer. Zürich, Leipzig: Rascher 1936. q Goethe, Goethe’s Sprüche in Prosa, S. 94 (Nr. 434). r Johann Wolfgang Goethe, „Leonardos Tagebuch“. In: Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre. Zweiter Teil. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 20. Mit Einleitung und Anmerkungen von Wilhelm Creizenach. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1904], 82–99, hier S. 92–95.

III.

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Gesellschaftlichen, so sind auch alle idealen Ordnungen immer und ewig durchsetzt mit dem Element des Dämonischen.

III. Es ist vollkommen in der logischen Entwicklung dieser Grundposition, dass Goethe die menschliche Gesellschaft im Phänomen des Römischen Karnevals entdeckte. Der Karneval ist kein von den politischen Institutionen organisiertes oder befohlenes Fest. Es entspringt aus der Spontaneität der Kollektivität als Gruppe und aus der alle Schichten einigenden und gleichmachenden Magie geschlechtlichen Vergnügens.s Aber Goethe hatte noch ein anderes Motiv, die menschliche Gesellschaft als Karneval darzustellen. In den Annalen von 1789 beschreibt er, dass er im Römischen Karneval das Phänomen des Sozialen rein aufnehmen und im reinen Begriff darstellen wollte.t Darum war es sein Verlangen, die reinen Formen sozialer Beziehungen zu entdecken in einer Zeit, die nicht getrübt war von den subjektiven Interessen und Zwecken der Mitglieder der Gesellschaft. Darum wählte er die Illusion der Gesellschaft, die Gesellschaft als Spiel, in der die Grundformen sozialer Beziehungen als reine Formen sichtbar werden mussten. Er gibt eine phänomenologische Beschreibung, gerade weil er ein Zuschauer ist, Fremder im äußeren und soziologischen Sinne, außerhalb ihrer und an ihrem Rande stehend. Er entwickelt die Lokalität, das anschwellende Tempo, die radikale Losgelassenheit der letzten Tage. Er beschreibt die Masken,u welche die Mannigfaltigkeit der Gesellschaft reproduzieren, die Klassen, die Berufe, die Grenzfälle des Sozialen wie den Bettler, den Spaßmacher, die Polizisten; darüber hinaus beschreibt er die Masken, die das Symbol des gesellschaftszerbrechenden Kults des Geschlechts darstellen. Das erste Kennzeichen der reinen Gesellschaft ist das Phänomen, dass das Individuum vollkommen in ihr aufgeht, völlig von ihr

s Vgl.

Johann Wolfgang Goethe, „Das römische Karneval“. In: Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise. Zweiter Teil. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 27. Mit Einleitung und Anmerkungen von Ludwig Geiger. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1907], 194–231, hier S. 194–196 u. 202–207. t Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Annalen. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 30. Mit Einleitung und Anmerkungen von Oskar Walzel. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1903], S. 7–9. u Vgl. Goethe, „Das römische Karneval“, S. 202–207.

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absorbiert wird. Als reine Rolle verliert die individuelle Person ihre Identität und stellt sich dar als Schauspieler und Spieler in der Schau des wirbelnden Lebens. Schaudernd fühlt Goethe, wie die dämonischen Elemente der Masken der entfesselten Natur – Pulcinelli, der allzu schamlos die Freuden der Liebe darstellt; und jene Baubo, die Geheimnisse der Geburt dem Gelächter preisgibt – überall die Masken des Sozialen überwältigen und uns so zu Symbolen der Tiefen des Lebens werden: Geburt, Liebe und dazu Tod im Scheine der nächtlichen Kerzen, aus dem Strudel der Torheit aufsteigend. Er beschreibt das Gewoge der Massen in unübersehbaren Straßen, in denen keiner gehen kann, sondern man einander schiebt und stößt, ohne zur Möglichkeit eigener Bewegung zu kommen.v Man glaubt zu schieben und man wird geschoben, man glaubt zu handeln und ist getrieben, man glaubt sich zu entwickeln und ist beschränkt. Gesellschaft gibt die Illusion des eigenen Tuns, während in Wahrheit die bedingenden Elemente die wahre Realität sind. Das Spiel des Karnevals ist der Schein des Lebens, aber der Schein des Lebens ist gleichzeitig die Wahrheit des Lebens. Denn es ist das Charakteristische der Gesellschaft, das Individuum aufzusaugen und ihm die Illusion der Selbständigkeit zu verleihen, während es nur eine soziale Rolle darstellt. Alles ist im Gesellschaftlichen vorhanden, was der Karneval uns als Spiel zeigt: Druck und Streben, Flucht und Geschäft, Kompromiss und Entschlossenheit, Herrschaft und Gehorsam. Goethe beschreibt das Soziale im Karneval, wie Simmel in der Theorie der Geselligkeit den Spiegel der gesellschaftlichen Beziehungen als Spiel und zwecklosen Genuss erkennt.w Während Simmel aber mit seiner Entdeckung die reinen Formen des Sozialen darstellen will, will Goethe das Phänomen werten. Er findet, dass, wenn das Gesellschaft ist, drei Folgerungen unausbleiblich seien. Die höchsten Genüsse sind wie ein vorübereilender Traum, der keine Spur in der Seele zurücklässt. Der Karneval oder die entfesselte Gesellschaft sind der beste Beweis, dass totale Freiheit und Gleichheit nur im Taumel der Tollheit existieren können. Endlich lehrt ihn der Karneval, dass Menschen höchsten Genuss nur empfinden, wenn Lust und Gefahr, Wagnis und Genuss einander steigern. Darum lautet sein letztes Urteil, dass der Karneval oder die menschliche Gesellschaft ein treuer Spiegel des Lebens überhaupt seien; und er gibt dem Leben die Prädikate prekär, ungenießbar und unübersehbar.

v Vgl.

ebd., S. 210–211. Simmel, „Soziologie der Geselligkeit“. In: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19. – 22. Oktober 1910 in Frankfurt a. M. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1911, S. 1–16.

w Georg

IV.

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Goethe schrieb diese Darstellung zu einer Zeit, in der er die Metamorphose der Pflanzex und die Grundlagen seiner Kunsttheorie schuf.y Das heißt, in der ersten Epoche der wissenschaftlichen Intension und des Strebens nach Objektivität, einer Zeit, in der auch Poesie der Darstellung objektiver Wahrheit diente. Diese Situation der beginnenden Reife gibt dieser Schrift und ihrer Charakteristik als Entdeckung der menschlichen Gesellschaft das größte Gewicht. Gesellschaft ist Schein, ist Absorption der Person, ist Druck und Entfesselung, bedingend und bedingt, Zweideutigkeit im Ganzen. Goethe schreibt diese phänomenologische Darstellung in der Perspektive seiner Entfremdung von den Freunden in Weimar und in der Erkenntnis der Revolution als eines totalen Umsturzes der Gesellschaft. Das Problem des Scheins als ein integrierendes Element der Gesellschaft hat Goethe seit diesem Beginn nicht mehr verlassen. Er hörte nie auf, sich mit dem Problem der notwendigen Mittel einer produktiven Revolution zu beschäftigen. Dies ist das Problem der Möglichkeit der Freiheit in der modernen Gesellschaft.

IV. In den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter nimmt Goethe das Phänomen der Gesellschaft als Schein von neuem auf, und zwar in der eingeschobenen Novelle, die er „Das Märchen“ nennt.z Das Märchen ist eine Novelle im Rahmen des Buches. Das Buch ist eine Rahmenerzählung vergleichbar der, die Boccaccio erfunden hatte.a' Nur entfliehen Goethes Figuren nicht der Pest, sondern der

x  Vgl.

Johann Wolfgang Goethe, „Metamorphose der Pflanzen“. In: Johann Wolfgang Goethe, Gedichte. Zweiter Teil. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 2. Mit Einleitung und Anmerkungen von Eduard von der Hellen. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1906], S. 247–249. y Vgl. Johann Wolfgang Goethe, „Der Sammler und die Seinigen“. In: Johann Wolfgang Goethe, Schriften zur Kunst. Erster Teil. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 33. Mit Einleitung und Anmerkungen von Wolfgang von Oettingen. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1903], S. 137–204. z Vgl. Johann Wolfgang Goethe, „Das Märchen“. In: Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werther – Kleinere Erzählungen. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 16. Mit Einleitung und Anmerkungen von Max Herrmann. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1906], S. 266–304. a' Giovanni Boccaccio, Der Decamerone, 5 Bde. Übersetzt von Heinrich Conrad. Berlin: Propyläen Verlag o. J. [1923].

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französischen Revolution und ihren kriegerischen Folgen. Das Märchen ist keine Allegorie, sondern eine echte Geschichte, deren Symbole alles oder nichts bedeuten können, wie der Erzähler andeutet. Die Geschichte ist die wundersame Utopie, wie Schönheit und Herrschaft sich in einer utopischen Gesellschaft verwirklichen, in der jeder seine Pflicht tut und seinen Dienst treu verrichtet. Obwohl der Erzähler andeutet, dass das Märchen keinerlei Beziehungen zu der prekären Lage der Ausgewanderten hat, ist es doch offenbar, dass dies eine Utopie des reinen Lebens in Form der Gesellschaft ist. Hier finden wir eine Prozession, die von der Welt in die Welt geht, d. h. eine Entfaltung des Lebens von Dunkelheit und Verwirrung zu Licht, Reinheit und Sühne. Es ist eine Wanderung, auf der die Pilger des Lichts den Herrscher der Gewalt begleiten müssen. Sie wandern zu dem geheimen Tempel, wo ihnen die Bilder der Könige den innersten Sinn der menschlich sozialen Welt künden. Vier Könige sind dort als Statuen gebildet. Der aus gemischtem Metall geformte König in sitzender, fast kauernder Stellung ist ein Symbol der Trägheit und Nichtigkeit. Der eiserne König mit dem Schwert in der Scheide repräsentiert die Gewalt als ein konstitutives Element der Gesellschaft, wenn geleitet von den Kräften des Lichts. Der goldene König vertritt die Weisheit der Entsagung als unentbehrliches Element gesellschaftlicher Autorität. Er verleiht dem strebenden Prinzen einen Kranz von Eichenlaub und segnet ihn mit den Worten: „Erkenne das Höchste“.b' Der silberne König im fahlen und zweideutigen Schein dieses Metalls ist der Ausdruck der organisierten Gesellschaft, geschmückt mit den Insignien der Repräsentation. Er rät dem Strebenden, „Weide die Schafe!“c'. Die Prozession zum geheimen Tempel eröffnet die Schlange, erleuchtet vom Scheine eines humanen, praktischen Verstandes, der das Opfer der eigenen Existenz nicht scheut für das Wohl des Ganzen. Ihr folgen die Irrlichter dynamischer Intelligenz und zerstreuenden Reichtums, leuchtend im blendenden und irritierenden Licht ihrer beweglichen und aufklärenden Verstandesweisheit. Feierlich schließt sich das alte Paar an, die Hoffnung und Wärme ausstrahlend als klares und leuchtendes Licht. Es folgt Lily, die leuchtende Schönheit, umstrahlt vom Scheine der Schönheit. Endlich beschließt der Mann mit der Lampe die Prozession, das ruhige und reine Licht der Weisheit in die Finsternis tragend. Die Pilger des Lichts offenbaren die Möglichkeiten des Scheines als Wahrheit, Illusion, Täuschung und Zweideutigkeit. Der Sinn dieser Reise wird offenbar in

b' Goethe, c' Ebd.

„Das Märchen“, S. 299.

IV.

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den Worten des weisen Mannes mit der Lampe: „Drei sind, die da herrschen auf Erden: die Weisheit, der Schein und die Gewalt. […] Die Liebe herrscht nicht, aber sie bildet, und das ist mehr.“d' Die Pilger des Lichts sind die Gestalten, die dauernd zusammenwirken, um kräftig und nützlich zu handeln. Darum müssen sie den König der Gewalt wieder in die Welt hineingeleiten, um sie im Licht und in der Wahrheit im echten Schein zu rekonstruieren, und um Gewalt in Liebe zu verwandeln. Liebe wirkt als die Kraft, die menschliche Beziehungen immer wieder von neuem aufbaut, die Freiheit und Leben gewinnen lässt. In unserem Zusammenhang ist höchst bedeutsam, dass Goethe dem Schein eine zentrale Bedeutung in der Konstitution der Gesellschaft zuspricht. Es ist selbstverständlich, dass Gewalt als ein fundiertes Element der menschlichen Organisation erscheint. Dass Weisheit – für Goethe mit dem Göttlichen identisch – geschichtsbegründend ist, kann aller Oberflächlichkeit zum Trotz nicht leicht bezweifelt werden. Aber darum soll Schein Gesellschaft konstituieren? Wir müssen hinter den Römischen Karneval zu Goethes frühesten philosophischen Äußerungen zurückgehen, um die philosophische Grundlage des Scheins als soziologischer Kategorie zu verstehen. Das erste philosophische Dokument in Goethes Entwicklung ist der aphoristische Aufsatz „Fragment über die Natur (1781–1782)“.e' Dieser Hymnus auf die Natur ist die Grundlage von Goethes Philosophie und Religion der Natur. Darin verkündet Goethe, dass alles Leben, einschließlich des menschlichen, nichts ist als Ausdruck der Natur, als Manifestation ihrer universalen Schöpferkraft, in der Schuld und Verdienst, Glück und Unglück, Geist und Seele enthalten sind. Noch im Jahre 1828 hat Goethe dieses Dokument als in den Grundsätzen seiner Philosophie und Religion entsprechend anerkannt.f' Dieser Aufsatz enthält die folgende Stelle: Die Natur „freut sich an der Illusion. Wer diese in sich und andern zerstört, den straft sie als der strengste Tyrann. Wer ihr zutraulich folgt, den drückt sie wie ein Kind an

d' Ebd.,

S. 298 u. 300. Johann Wolfgang Goethe, „Fragment über die Natur (1781–1782)“. In: Johann Wolfgang Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft. Erster Teil. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 39. Mit Einleitung und Anmerkungen von Max Morris. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1906], S. 3–6. f' Vgl. Johann Wolfgang Goethe, „Anmerkungen. Fragment über die Natur (S. 3–6)“. In: Johann Wolfgang Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft. Erster Teil. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 39. Mit Einleitung und Anmerkungen von Max Morris. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1906], S. 347–350, hier, S. 349–350. e'  Vgl.

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ihr Herz.“g' Bereits in seiner Jugend bejahte Goethe die konstruktive und nutzbringende Macht des Scheins. Die ganze Tragweite der Stelle wird klar, wenn wir uns an Fausts Fluch erinnern, in dem er alle die Kräfte als Schein, Illusion und Täuschung verwünscht, die uns das Alltagsleben der Sorge verklären, ertragen lassen und aus dem Tal des tiefsten Nivellements eine erfreuliche Landschaft der Zufriedenheit konstruieren.h' Es lohnt sich, die Folge zu untersuchen, in der Faust das Trug- und Gaukelwerk der Seele entlarvt. Er verflucht als Schein den Glauben an den Geist, das Blenden der Schönheit, die Illusion von Ruhm und Ansehen, den Schein sozialer Rollen und die Illusion des sozialen Konsensus, den Glanz des Goldes als Verführer, den Schimmer der Liebe und die Aufschwünge der Seele, die leuchtenden Sterne von Glaube, Hoffnung und Geduld gegen die deprimierenden Wirkungen von Enttäuschung, Verdacht und Ungeduld. Was Faust in selbstzerstörerischem Geist verflucht, sind Goethe gerade die Elemente, welche die Kontinuität und die Konstitution der Gesellschaft verbürgen.

V. Illusion oder Schein existieren als begründende Elemente des sozialen Daseins auf verschiedenen Stufen. Wie der silberne König bekleidet ist mit dem Schein der Hoheit, der Repräsentation des Ganzen, wie die Individuen verschwinden im Schein des Konsensus, wie Menschen sich täuschen im Blenden der Schönheit und dem Glanz des Goldes, so sind es immer wieder allein diese Illusionen, die Menschen trotz Niederlage und trotz Enttäuschungen zu neuen Wegen und neuer Tätigkeit vorantreiben, die Menschen hoffen lassen gegen Verzweiflung, glauben lassen gegen Enttäuschung, ausdauern lassen gegen alle Schicksalsschläge. Schein ist die Summe aller Akte, welche die Gegenseitigkeit und Polarität aller sozialen Beziehungen sichert und aufrechterhält. Repräsentation ist der echte Schein, der die Kontinuität des sozialen Ganzen ermöglicht. Dieser Schein konstituiert die Einheit, in der Hoheit und Autorität, Dienst und Gehorsam sich begegnen. Er ist die Wahrheit des Konsensus zwischen Herrschern und Beherrschten, zwischen Vorstehern und Arbeitern. Auf diese Weise wird der wahre Schein echter Repräsentation etabliert, in der Menschen alle ihre sozialen Rollen mit der Moralität erfüllen, die ihnen zukommt. Dem gegenüber steht

g' Goethe, h' Vgl.

„Fragment über die Natur (1781–1782)“, S. 4. Goethe, Faust. Erster Teil, S. 64.

V.

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der verfallende Schein. Der Schein, das echte Leuchten wird fahl, führt zum Erblassen und endlich zum Erlöschen, wenn Menschen ihre Rollen von deren Moralität trennen und ihre Rollen zum Genuss des Privilegs eines sozialen Vorteils benutzen. Die große Welt des Hofes im zweiten Teil des Faust ist eine solche verfallende Welt, in der Genuss an Stelle der Herrschaft tritt, Ausbeutung an Stelle der Fürsorge.i' In der Tragödie der Revolution, Die natürliche Tochter,j' ist die verfallende Welt der Herrschaft ein Symbol der staatlichen Auflösung, die Revolution ermöglicht. Goethe hat die Revolution bereits 1785 vorausgesagt, als die Halsbandaffäre ihn in einen Zustand tiefster Verstörung und Depression versetzt hatte, sodass selbst die Intimen sein Benehmen als seltsam und pathologisch bezeichneten. Er sah die festeste und sicherste Monarchie im Vergehen, da die Autorität und Würde der Königin zu den gemeinsten Betrügereien missbraucht werden konnte. Freilich nahm er die Königin nicht aus von Schuld, sie selbst hatte die strengen und autoritären Etiketten des Hofes zerstört, an der die Tradition, die Autorität und der Zusammenhang mit dem Adel hingen. Daher hatte er 1789 sich nur auf seine Voraussage zu beziehen, dass der Schein der monarchischen Autorität in dieser Affäre endgültig verschwunden sei. Der echte Schein ist dauernd in Gefahr, zu erlöschen. Daher bezieht sich Fausts letzte Einsicht, dass nur der sich Freiheit und Leben verdient, der es täglich neu erwirbt, auf den Schein, der die Integration aller sozialen Beziehungen und aller sozialen Institutionen konstituiert.k' Nur solange der Schein der Illusion und die Illusionen des Scheins fruchtbar sind, bleiben sie wahr, echt und gesund. Schein und Illusion, Hoffnung und Glaube, selbst Aberglaube sind für Goethe die Produkte kräftiger und konstruktiver Naturen, die dadurch die paralysierenden und dämonischen Kräfte des Lebens beherrschen und sich ins Gleichgewicht zu setzen vermögen. Im Sozialen ist der Schein der Repräsentation unentbehrlich für die Dauer, für die Kontinuität, für die Ordnung der Gesellschaft. Es ist der reine Schein, das Leuchten der Wahrheit. Zweideutig dagegen steht die Schönheit zwischen

i' Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Faust. Zweiter Teil. Goethes Sämtliche Werke. JubiläumsAusgabe in 40 Bänden, Bd. 14. Mit Einleitung und Anmerkungen von Erich Schmidt. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1906], S. 3–76. j' Vgl. Johann Wolfgang Goethe, „Die natürliche Tochter“. In: Johann Wolfgang Goethe, Iphigenie auf Tauris – Torquato Tasso – Die natürliche Tochter. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 12. Mit Einleitung und Anmerkungen von Albert Köster. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1912], S. 221–348. k' Vgl. Goethe, Faust. Zweiter Teil, S. 266–267.

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dem tätigen und kontemplativen Leben, befangen in sich selbst, verschlossen in der sich entfaltenden Natur. Dabei hatte Goethe doch in Winckelmann die These aufgestellt, dass das höchste Produkt der werdenden Natur der schöne Mensch sei.l' Für ihn war die Faszination der weiblichen Schönheit als Schein und des Scheins als Schönheit ein nie zur Lösung zu bringendes Rätsel. Helena und Pandora sind die höchsten Symbole seines Ringens um den Schein der Schönheit, dem Zweideutigkeit eigen ist. Zweideutigkeit eignet ihm, weil Schönheit als vollkommene Natur jenseits alles Moralischen und damit des Geistes liegt. Schönheit kennt keine Entscheidung, sie ist blind dem Schicksal unterworfen, und noch als blendende Schönheit ist sie ein Opfer der Männer. Herrscherin und Gefangene, angebetet und verflucht, verfolgt und wandernd, ruhelos und voll Haltung, zitternd und voll edler Gebärde, bewundert und gescholten – das ist das Leben der scheinenden Schönheit. Wie die schöne Lily im Märchen vermag die scheinende Schönheit die Lebenden zu töten und die Erstarrten zu beleben, aber was von Helena und Pandora bleibt, ist gerade der Schleier, der verbirgt und durchscheinen lässt, das Symbol des Scheines, an dem wir den Abglanz des Lebens haben. Wie Pandora nur vom sinnenden, untätigen Epimetheus geliebt wird, vom tätigen Prometheus verschmäht wird,m' so würde Helena für den der Tätigkeit hingegebenen Faust nur eine Episode geblieben sein; nie würde er um ihretwillen das „Verweile doch!“ ausgesprochen haben.n' Der Schein der Schönheit blendet und unterwirft, er schafft den Spiegel der Dichtung, einen neuen schöpferischen Schein. Aber er hat keine Gewalt über die Gestaltung des Lebens. Pandoras Gaben und Illusionen sind die Illusionen des Glücks, des Besitzes, der Dauer. Ihre Kinder sind der Schein der Hoffnung und das Licht fürsorglicher Liebe, wie Euphorion den Schein des tätigen Lebens in der Phantasie und dem Bilde des Dichters verkörpert.o'

l' Johann Wolfgang Goethe, „Winckelmann (1805)“. In: Johann Wolfgang Goethe, Schriften zur Kunst. Zweiter Teil. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 34. Mit Einleitung und Anmerkungen von Wolfgang von Oettingen. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1904], S. 3–48. m' Vgl. Johann Wolfgang Goethe, „Pandora. Ein Festspiel“. In: Johann Wolfgang Goethe, Dramatische Fragmente und Übersetzungen. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 15. Mit Einleitung und Anmerkungen von Otto Pniower. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1906], S. 140–178. n' Goethe, Faust. Erster Teil, S. 68. o' Vgl. Goethe, Faust. Zweiter Teil, S. 190–208.

VI.

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VI. Es muss aber ausdrücklich gesagt werden, dass diese Zweideutigkeit der Schönheit des Lebens eigen ist, nicht der des Geistes. Alle echte Kunst und Dichtung haben keine Realität, aber höchste Wahrheit. Goethe spricht einmal von dem von ihm innig geliebten Maler Claude Lorrain: „In Claude Lorrain sehen sie einmal einen vollkommenen Menschen, der schön gedacht und empfunden hat und in dessen Gemüth eine Welt lag, wie man sie nicht leicht irgendwo draußen antrifft. Die Bilder haben die höchste Wahrheit, aber keine Spur von Wirklichkeit. Claude Lorrain kannte die reale Welt bis ins kleinste Detail auswendig, und er gebrauchte sie als Mittel, um die Welt seiner schönen Seele auszudrücken. Und das ist eben die wahre Idealität, die sich realer Mittel so zu bedienen weiß, daß das erscheinende Wahre eine Täuschung hervorbringt, als sei es wirklich.”p' Und dieselbe Idee erscheint in allgemeiner Fassung in Dichtung und Wahrheit, III. Teil, Buch 11: „Die höchste Aufgabe einer jeden Kunst ist, durch den Schein die Täuschung einer höheren Wirklichkeit zu geben. Ein falsches Bestreben aber ist, den Schein so lange zu verwirklichen, bis endlich nur ein gemeines Wirkliche übrig bleibt.“q' So ist der Schein der Wahrheit in Goethes Kunst des symbolischen Realismus das Komplement zu der Wahrheit des Scheins in der Repräsentation des sozialen Zusammenhanges. Und andererseits ist der Schein der Wahrheit in Kunst und Dichtung das äußerste Gegenlicht zu dem blendenden Schein natürlicher Schönheit. Der echte Schein und der Schein des Echten sind konstruktive Elemente, ohne die menschliche und soziale Konstitutionen in Anarchie und Despotismus fallen würden. Beide erleuchten unsere Dunkelheit und klären unsere Verdüsterungen auf. Aber während das erscheinende Wahre sich selbst identisch ist, vermag die Wahrheit des Scheines zu erlöschen und zweideutig zu werden. Im Leben der Gesellschaft und des Individuums ist der verfallende Schein das Zeichen für den zunehmenden Verfall der menschlichen Bildungskräfte in der schöpferischen Formierung ihrer Lebendigkeit. Prätendieren ist die Kategorie, die Goethe dafür geprägt hat. Er spricht von der Geste gelassener Resignation und heiterer Gehaltenheit in ausweglosen Situationen. Er

p' Johann Wolfgang Goethe, „Gespräch mit Johann Peter Eckermann am 10. April 1829.“ In: Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Bd. 7. Leipzig: Divan 1889–1896, S. 73. q' Johann Wolfgang Goethe, Dichtung und Wahrheit. Dritter Teil. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 24. Mit Einleitung und Anmerkungen von Richard M. Meyer. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1904], S. 49–50.

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schreibt einmal seiner Schwiegertochter, die ihm ihr Herz ausgeschüttet hatte, über die Hölle ihrer Ehe (August Goethe war ein Trinker, der im Zustande der Trunkenheit seine Frau schlug und immer Weibergeschichten hatte): „Wie sehr ich dich bedaure darf ich dir nicht sagen, wie viel du leidest darfst du mir nicht bekennen, und so wollen wir denn mit der größten Aufrichtigkeit eine Zeitlang gegen einander dissimuliren.“r' Prätendieren heißt also anerkennen, dass die legalen und menschlichen Beziehungen als zusammenfallend und gültig gespielt werden durch ein Benehmen, dessen ästhetische Haltung den Schein des Guten vortäuscht. Der Schein edler Gelassenheit breitet sich über den Abgrund des verlorenen Lebens und verklärt die Züge der Verzweiflung zum Ausdruck subtiler Resignation. Im Maskenzug von 1818 lässt Goethe Mephisto sagen: „Verstellung, sagt man, sei ein großes Laster, doch von Verstellung leben wir“.s' So wird der Schein der Harmonie das blutlose Opfer, das die Menschen der Dauer und Ordnung der Gesellschaft bringen, auch wenn sie dabei verbluten. Dieser Schein ist bleiche Schönheit der Lüge, das moralische l’art pour l’art, die klanglose Unterordnung des Scheins der Schönheit unter die Gesellschaft als Schicksal, als sinnlose Gewalt, der die Person verfällt. Goethe hat diesen Aspekt des gesellschaftlichen Scheins am Vollkommensten und Tiefsten analysiert in den Wahlverwandtschaften, seinem größten Roman, bedeutend durch seine Tiefenanalyse und soziale Kritik. Es ist bequeme Oberflächlichkeit und offenbare Heuchelei, wenn die Kommentatoren dies Werk preisen als Verherrlichung der Ehe und der Resignation innerhalb ihrer. Niemand preist die Ehe in diesem Werk, außer dem Allerweltsversöhner und Schwätzer Mittler mit dem Enthusiasmus der Trivialität.t' Offenbar ist lediglich, dass die Ehe für Goethe das Symbol war für den zweideutigen und prekären Charakter aller Institutionen. Es ist höchst bezeichnend für die Intentionen Goethes bezüglich der Fabel dieses Buches, dass er schon die Ehe von Eduard und Charlotte auf Flug-

r' Johann

Wolfgang Goethe, „An Ottilie von Goethe“. In: Johann Wolfgang Goethe, Goethes Briefe. Weimarer Ausgabe, Bd. 39. Herausgegeben im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887–1912, S. 204. s' Johann Wolfgang Goethe, „14. Maskenzug 1818“. In: Johann Wolfgang Goethe, Zeitdramen und Gelegenheitsdichtung. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 9. Mit Einleitung und Anmerkungen von Otto Pniower. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1905], S. 302–374, hier, S. 357. t'  Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Die Wahlverwandtschaften. Goethes sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bänden, Bd. 21. Mit Einleitung und Anmerkungen von Franz Muncker. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1904], S. 80–81.

VII.

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sand gegründet sein lässt. Beide waren schon verheiratet gewesen, trotz gegenseitiger Neigung, aber Eltern und Verwandten nachgebend. Beide hatten ihre Liebe sozialen Forderungen untergeordnet. Als sie sich endlich frei fanden, verbanden sich alte Leidenschaft und soziale Erwägungen zu einem Bunde, dessen Brüchigkeit schon beim Beginn des Buches offenbar wird in Eduards Wunsch, den Freund als Dritten in dem jüngst geschlossenen Bunde zu sehen.u' Mit dem Erscheinen des Freundes und Ottilies beginnt das Spiel der Wahlverwandtschaft als ein Puppenspiel der magischen Natur, die die soziale Welt in ein Schattenreich verwandelt. Die sich kreuzenden Attraktionen sind zum Untergang verurteilt, weil sie glauben, dass Neigungen und legale Institutionen ausreichend seien, um menschliche Beziehungen zu begründen. Wahlverwandtschaften sind ein Zeichen dafür, dass wir überall und in allen Äußerungen unseres Lebens unter der Herrschaft der Natur stehen. Wahl ist natürlich und eignet den Elementen. Im Wählen sind wir nicht frei, sondern determiniert als Teile der Natur.

VII. Diesen Sinn der Fabel erleuchtet Goethe nur indirekt durch die eingeschobene Novelle von den wunderlichen Nachbarskindern.v' Wie Eduard und Charlotte kannten sie sich von Jugend auf, aber so stark war die gegenseitige Liebe, dass sie sich nur als Kampf und Streit äußern konnte. Als nach langen Jahren das Mädchen verlobt war und der einst gehasste Freund wiedererschien und uneigennützig an ihrem Glück teilnahm, brach die alte Liebe mit Leidenschaft hervor. Das Mädchen versucht Selbstmord, um den Geliebten sich für ewig zu verpflichten. Er folgt ihr, aber um sie beide zu retten. Beide versöhnen sich in dem Akt gegenseitiger Hingabe des Lebens. Und indem sie mit diesem Akt ihre Liebe besiegeln, gründen sie die Liebe auf Treue und Bewährung, die sie dem Segen der Eltern als Repräsentanten der Gesellschaft freudig unterwerfen. Von dieser Novelle empfängt die Fabel der Haupthandlung ein Licht, das ihr Halbdunkel und Schattenspiel erleuchtet. Die Ehe, wie alle Institutionen der Gesellschaft, kann konstruktiv und destruktiv wirken. Hier ist ihr Verfall offen-

u' Vgl.

ebd., S. 3–11. Johann Wolfgang Goethe, „Die wunderlichen Nachbarskinder“. In: Johann Wolfgang Goethe, Die Wahlverwandtschaften. Goethes sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bänden, Bd. 21. Mit Einleitung und Anmerkungen von Franz Muncker. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1904], S. 234–243. v' Vgl.

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bar, weil ihre Träger sich nicht zu der Humanität ihrer aufzuschwingen vermögen, sondern diese den sozialen und ästhetischen Ansprüchen der Gesellschaft unterordnen. Die Novelle dagegen demonstriert, dass man die sozialen Institutionen nur am Leben erhält, wenn man sie mit Freiheit und Leben stets von neuem erobert. Man erwirbt sie aber nur durch die Identifikation der menschlichmoralischen Intention mit der Moralität der sozialen Rolle. Diese Einigung findet aber nur im Ernst der moralischen Entscheidung statt. Dieser gedrängte Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten der Gesellschaft, erkennbar in der Beschreibung der Typen des Scheins, bestätigt die These dieses Aufsatzes, dass Gesellschaft wie das Dämonische Sphären der Zweideutigkeit sind. Reineke Fuchs,w' die unheilige Weltbibel, verfasste Goethe, um sich von den Erlebnissen der französischen Revolution zu befreien. Denn wenn auch in diesem Hof- und Regentenspiegel „das Menschengeschlecht sich in seiner ungeheuchelten Tierheit ganz natürlich vorträgt, so geht doch alles, wo nicht musterhaft, doch heiter zu, und nirgends fühlt sich der gute Humor gestört.“x' Nicht anders durften die Definitionen des Römischen Karnevals, des Hofes im zweiten Teil des Faust, der natürlichen Tochter und des Groß-Cophta lauten.y' Es muss jedoch dazu bemerkt werden, dass dieser analytische Realismus in der Phänomenologie der empirisch-sozialen Welt durchaus unterschieden werden muss von der Idylle und der Utopie der Gesellschaft. Hermann und

w' Vgl.

Johann Wolfgang Goethe, „Reineke Fuchs“. In: Johann Wolfgang Goethe, Reineke Fuchs – Hermann und Dorothea – Achilleis. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 6. Mit Einleitung und Anmerkungen von Hermann Schreyer. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1903], S. 1–154. x' Johann Wolfgang Goethe, „Kampagne in Frankreich 1792“. In: Johann Wolfgang Goethe, Kampagne in Frankreich – Belagerung von Mainz. Goethes Sämtliche Werke. JubiläumsAusgabe in 40 Bänden, Bd. 28. Mit Einleitung und Anmerkungen von Alfred Dove. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1903], S. 1–214, hier S. 210. y' Vgl. Goethe, Faust. Zweiter Teil, S. 3–76; Goethe, „Die natürliche Tochter“, S. 221–348; Johann Wolfgang Goethe, „Der Groß-Cophta“. In: Johann Wolfgang Goethe, Zeitdramen und Gelegenheitsdichtung. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 9. Mit Einleitung und Anmerkungen von Otto Pniower. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1905], S. 1–100.

VII.

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Dorotheaz' – als Dichtung neben den Wahlverwandschaftena" und dem WestÖstlichen Divanb" das ästhetisch vollkommenste Werk Goethes – ist die Idylle einer humanen Enklave, die normativ und ideal das Reale verklärt, was durch die epische Form aufs Entschiedenste betont wird. Ebenso wenig sind in Wilhelm Meister und im „Märchen“ die Andeutungen utopischer Gesellschaften zu übersehen, die durch den freiwilligen Zusammenschluss von Gleichen entstehen.c" Es ist eine fast dialektische Ironie in der Tatsache, dass der Philosoph der Morphologie und des organischen Entwicklungsideals paradoxerweise revolutionäre Utopien aufrichtet. Von vorne anfangend, auf neuem Grunde beginnend, mit freien Menschen kolonisieren und Kultur aus dem Nichts schaffen, ohne Schlösser und Traditionen, Amerikas revolutionäre Gesellschaft als Muster anerkennen, gehört zu der Polarität von Goethes Denken, das zwischen organischem Werden und konstruktivem Machen, zwischen Tradition und Revolution ein Gleichgewicht zu halten versucht. Aus dieser umfassenden und polaren Denkweise heraus konnte er in der Tat den konservativen und revolutionären Mächten verdächtig werden. Es war die Größe und Tapferkeit Goetheschen Denkens, dass in einer revolutionären Situation, in der alle Parteigänger nur extrem denken und handeln können, er nur seiner Vernunft und seiner Einsicht sich verpflichtet fühlte. Darum war er der Einzige, der Freiheit, Unabhängigkeit und Maß bewahrte, während alle übrigen Denker sich dem Druck und der Faszination der revolutionären Ideen nicht entziehen konnten.

z' Vgl. Johann Wolfgang Goethe, „Hermann und Dorothea“. In: Johann Wolfgang Goethe, Reineke Fuchs – Hermann und Dorothea – Achilleis. Goethes Sämtliche Werke. JubiläumsAusgabe in 40 Bänden, Bd. 6. Mit Einleitung und Anmerkungen von Hermann Schreyer. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1903], S. 155–232. a" Vgl. Goethe, Die Wahlverwandtschaften. b"  Vgl. Johann Wolfgang Goethe, West-östlicher Divan. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 5. Mit Einleitung und Anmerkungen von Konrad Burdach. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1905]. c" Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bde. 17 u. 18. Mit Einleitung und Anmerkungen von Wilhelm Creizenach. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1904]; Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bde. 19 u. 20. Mit Einleitung und Anmerkungen von Wilhelm Creizenach. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1904]; Goethe, „Das Märchen“.

Propheten, Priester und Sozialwissenschaftler Über die Soziologie der Religion und die Religion der SoziologieÜ

I. So groß ist des modernen Menschen Glaube an die Möglichkeiten der Wissenschaft, dass er wie selbstverständlich davon ausgeht, die Wissenschaft Soziologie müsse Bedeutsames über die Religion zu sagen haben; so entfremdet ist der moderne Mensch der Religiosität vergangener Zeiten, dass er sich ganz sicher ist, Religion könne nichts Wertvolles über die Gesellschaft zu sagen haben. Das dem so ist, erweist schon ein flüchtiger Blick in den Lehrplan eines beliebigen College. Dies ist eine recht neue Entwicklung in der Geschichte der westlichen Zivilisation. Tatsächlich war Religion über Jahrhunderte Teil des menschlichen Erlebens; die Soziologie gleicht angesichts dessen einem Parvenü. Gleichwohl, der Sieg der Soziologie ist so vollkommen, dass der Kritiker der gegenwärtigen Lage der Dinge sich als ,Obskurant‛ oder als ,Exzentriker‛ abgetan sieht. Sei es, wie es sein mag… So gering ist der Stellenwert, den Religion gegenwärtig in akademischen Kreisen genießt, dass man augenscheinlich noch nicht einmal einen Gedanken darauf verwandt hat, ob dies nicht im Sinne der spezifisch amerikanischen Tradition der empirischen Sozialwissenschaft ein würdiger Gegenstand für eine systematische Studie wäre. Zwar gibt es vereinzelte Studien amerikanischer Soziologen oder Psychologen über die Unterschiede der Kommunikanten verschiedener Bekenntnisse hinsichtlich ihrer Neurosen, ihrer Intelligenz, ihres ÜAlbert

Salomon, „Prophets, Priests, and Social Scientists. The Sociology of Religion and the Religion of Sociology“. In: Commentary 7, 1949, S. 594–600. Wieder abgedruckt in: Albert Salomon, In Praise of Enlightenment. Cleveland, New York: Meridian Books 1963, S. 387–398. Übersetzt von Peter Gostmann und Dorte Huneke.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Salomon, Schriften 1949–1954, Albert Salomon Werke 4, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37736-6_4

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Reichtums und so fort. Doch Untersuchungen dieser Art leisten wenig über die Erkundung des Einflusses der Religiosität auf diesen oder jenen Sozialbereich hinaus; am Phänomen der Religion selbst hat man offensichtlich kein besonderes Interesse. Die wichtigsten Beiträge zu diesem Thema stammen von dem französischen Soziologen Emile Durkheim, der den Sinngehalt von Religion in seiner Abhandlung über Die elementaren Formen des religiösen Lebens1 am Beispiel der primitiven Religionen studierte, sowie von dem deutschen Soziologen Max Weber, der ebenso den Einfluss der großen historischen Religionen auf das soziale Leben studierte, wie auch die personale und die soziale Struktur von charakteristischen religiösen Phänomenen wie Offenbarung, Prophetie, Gnade und Erlösung.2 Unter den amerikanischen Soziologen kommt einer Soziologie der Religion am nächsten ein Autor wie Talcott Parsons, der sich darauf konzentriert hat, Durkheim und Weber für ein amerikanisches Publikum auszulegen.a

II. Grundsätzlich nicht besonders fruchtbar wäre es, die Religion gegen die Soziologie oder die Soziologie gegen Religion zu stellen; das Verhältnis beider ist viel zu komplex, als dass ein solches Vorgehen ihm gerecht würde. Es ist ein Verhältnis, dessen nähere Betrachtung einige unerwartete Befunde erbringt. Denn neben einem grundlegenden Widerspruch zwischen Soziologie und Religion gibt es ebenso grundlegende Gemeinsamkeiten. Religion beansprucht traditionell, eine innere Verbindung zu einem Wesen zur Darstellung zu bringen, das jenseits des Menschlichen, über das Menschliche hinaus ist. Religion versteht sich als primäres Phänomen, das in letzter Konsequenz auf kein anderes reduzierbar ist, sei es Wissenschaft, sei es Dichtung.

1 Emile

Durkheim, The Elementary Forms of the Religious Life. Translated from the French by Joseph Ward Swain. Glencoe, Ill.: The Free Press 1948. [Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Aus dem Französischen von Ludwig Schmidts. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981.] 2 Einige seiner Schriften liegen in englischer Sprache vor. Vgl. Max Weber, From Max Weber. Essays in Sociology. Herausgegeben von Hans Gerth und C. Wright Mills. New York: Oxford University Press 1946. a Talcott Parsons, The Structure of Social Action. Band 2. New York: McGraw-Hill 1937, S. 409–450 und S. 500–578.

II.

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Ein religiöser Mensch betrachtet das Ganze der Wirklichkeit als Einheitlichkeit, getränkt mit göttlichem Sinn. Doch innerhalb des religiösen Gefüges treten zwei unterschiedliche Gesichtspunkte zutage: der des ,Visionärs‛ und der des Geistlichen – der des Propheten und der des Priesters. Der Visionär ist der Gründer oder der Erneuerer einer Religion. Er öffnet, mit Hegel gesprochen, ein „Fenster zum Ewigen“.b Als ein Mensch mit mystischem Vorstellungsvermögen, der das Unendliche intuitiv erlebt, verkörpert er das spirituelle Kapital, aus dem alle Religion schöpft und das sie einsetzt. Daneben aber gibt es die religiösen Menschen, die sich darum bemühen, jene Vorstellungen in geläufige Begriffe zu übersetzen, sie der Alltagswelt zu applizieren; während der Visionär den radikalen Kontrast zwischen der Gemeinschaft des Menschen mit dem Göttlichem und derjenigen von Mensch und Mensch hervorhebt, unternimmt der Geistliche den Versuch, das Heilige in der Sphäre des Profanen zu verorten. Wo der Visionär besonders feinsinnig für die Gefährdungen ist, die mit der Verwirklichung des Göttlichen in sozialen Institutionen einhergehen, treibt es den Geistlichen zur Identifikation des Göttlichen mit einer Kirche, einem Menschen, einem heiligen Text, einem Staat oder einer anderen konkreten Form. Damit tut sich ein Gegensatz auf zwischen dem Visionär, als dem Träger eines ursprünglichen Erkennens, und den Priestern, Theologen und Geistlichen, die eine ursprüngliche spirituelle Erfahrung als gegeben voraussetzen und ihre Aufgabe darin sehen, ein Bekenntnis zu formen und Institutionen zu errichten. Der eine wie der andere Typus ist für religiöses Leben wesentlich. Der Visionär befasst sich mit dem Göttlichen und mit dem Menschen als dessen Widerschein; der Geistliche bemüht sich darum, Kompromisse mit den intellektuellen und sozialen Erfordernissen der Welt zu arrangieren. In Figur und Wirken des Geistlichen mag Religion sich am deutlichsten als jenes historische Phänomen zeigen, das sich als Gegenstand für eine soziologische Analyse eignet. Der Geistliche versucht, die civitas terrena mit der civitas dei zu identifizieren – was, da doch etwas sozial Bedingtes niemals in Form eines Bilds von etwas im metaphysischen Sinn Unbedingten restituiert werden kann, zum Scheitern verurteilt ist. Mit Blick auf dieses Scheitern vermag uns die Soziologie zu berichten, wie ein theologisches Bekenntnis zur ideologischen Waffe einer bestimmten Klasse wurde; sie kann beschreiben, welche

b nicht

nachgewiesen.

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Rolle religiöse Institutionen in sozialen Konflikten gespielt haben; sie kann analysieren, wie und zu welchem Grad ideelle Werte materiellen Zwecken untertan wurden. Mit anderen Worten, die Soziologie vermag zu erzählen vom Drama des Scheiterns einer religiösen Intention. Der Fall des Visionärs ist allerdings anders gelagert. Der religiöse Visionär beansprucht für sich den unmittelbaren Besitz einer letzten Wahrheit, die jeden historisch-soziologischen Referenzrahmen transzendiert. Hier treten Soziologie und Religion in einen unauflösbaren Konflikt, denn auch die Wissenschaft beansprucht für sich, im Dienst der einen Wahrheit zu stehen. Der Visionär verdankt seine Wahrheit einer göttlichen Offenbarung. Der Soziologe beharrt darauf, dass alle Wahrheit das Ergebnis intellektueller Analysen oder Experimente innerhalb eines in seinen physischen, soziologischen und psychologischen Abläufen vollständig verstehbaren Universums ist. Zwischen diesen beiden radikalen Positionen kann es weder einen Kompromiss noch eine Vermittlung geben. Um ein Beispiel zu geben: Ist die Geschichte des jüdischen Volkes auf die gleiche Weise zu erklären wie die Geschichte jedes anderen Volkes? Oder ist seine Geschichte nicht erklärbar – es sei denn in Relation zu einer göttlichen Absicht? Beide Interpretationen stehen uns zur Verfügung, doch schließen sie einander aus. Die Soziologie, sofern sie eine Naturwissenschaft ist, kann nicht einmal daran denken zuzugeben, dass die Geschichte des jüdischen Volkes in irgendeiner Weise anders denn als eine ganz und gar säkulare Geschichte verstanden werden kann.

III. Während der vergangenen 50 Jahre hat man die Prätentionen der Wissenschaft einer strengen Prüfung unterzogen, und es tritt immer deutlicher zutage, dass die Soziologie wie die Wissenschaft insgesamt ihrerseits auf ungeprüften, ja unprüfbaren metaphysischen Prämissen gründet. Diese Erkenntnis hatte kaum Auswirkungen auf die Naturwissenschaften, die letztlich auch dann ,funktionieren‛, wenn sie nicht länger vorgeben, absolute Wahrheiten über die Natur des Wirklichen zu eröffnen. Im Fall der Soziologie ist der Schaden wesentlich größer, vermochte sie doch nie, sich durch ihr ,Funktionieren‛ zu legitimieren; vielmehr bezog sie ihr Prestige aus zweiter Hand, entnahm es der allgemein wissenschaftlichen Verfahrenswegen zugeschriebenen Autorität, die eigentliche Wahrheit zu entdecken. Mit der Erkenntnis, dass die sogenannten wissenschaftlichen Theorien der Soziologie keinen Anspruch auf ,absolute‛, ,neutrale‛ Wahrheit erheben können, erfährt die Soziologie das gleiche Schicksal wie einst die Kirche, als die Wissen-

IV.

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schaft deren Anspruch auf absolute Wahrheit anfocht – die Soziologie wird zum Untersuchungsgegenstand der Soziologie. Nun ist es an den Soziologen zu untersuchen, wie und warum die Theorien ihrer Vorgänger, seinerzeit für wissenschaftliche Wahrheiten gehalten, zu ,Ideologien‛ wurden, die bestimmten sozialen und politischen Kräften dienen – inwiefern zum Beispiel die im Deutschland des 19. Jahrhunderts verfasste soziologische Staatslehre ein Abbild der Lage von Bürgertum und Aristokratie war; oder wie Marx’ Lehre, für die man ebenfalls den Anspruch erhob, bei ihr handle es sich um ,wissenschaftliche‛ Soziologie, in den Dienst der sowjetischen Diktatur geriet. Eine Soziologie, die diese Fragen behandelt, berichtet vom Scheitern einer wissenschaftlichen Intention, so wie zuvor die Soziologie vom Scheitern eines religiösen Ideals berichtete. Angesichts dieser Umstände zeigt es sich, dass die Soziologie ihrerseits einen Untersuchungsgegenstand für den religiösen Denker bildet. Tatsächlich erschien die Wissenschaft den Religionen immer als ein konkurrierendes Bekenntnis, war die Soziologie des Strebens verdächtig, sich in betrügerischer Absicht der Menschheit der Moderne wie jemand, der über messianische Kräfte verfügt, präsentieren zu wollen. Denn so wie jede Religion den Sprung von der elementaren Erfahrung Einzelner zu weltumfassender Bedeutsamkeit vollzieht, vollzog die Soziologie den Sprung von wissenschaftlichen Verfahrensweisen zu humanitären Werten und von dort zu Visionen einer erlösten Gesellschaft. Weniger von dogmatischen Glaubenssätzen als vielmehr von Weltanschauungen getragen, von der Vision währenden Fortschritts und nicht von der Hoffnung auf persönliche Unsterblichkeit, wurde die Soziologie – und ist es noch immer – eine ,Religion der Menschheit‛.

IV. An der Soziologie zeigen sich unweigerlich – und dies war ihren Gründern wohl bewusst – die Krankheiten unserer Zivilisation. Die Gründer der Soziologie wussten, dass eine stabile Zivilisation der Soziologie nicht bedürfte – denn eine solche verfügt über einen festen, unwandelbaren Glaubenskern und über einen Horizont, den zu erreichen alle ihr Zugehörigen gemeinsam bestrebt sind. Darum auch schufen weder die Antike noch das Mittelalter eine Soziologie. Die Gelehrten dieser beiden Zeitalter (die, dies darf man voraussetzen, nicht weniger klug und scharfsinnig waren als es unsere heutigen PhDs sind) widmeten sich den umfassenden Wahrheiten des Kosmos, den sie a priori nahmen, um von hier aus Wahrheiten über den Menschen und die menschlichen Gemeinschaften zu

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erschließen, die ihnen jedoch nicht hauptsächlich um ihrer selbst willen, sondern als unendlich kleinteilige Belege universeller Wahrheiten von Bedeutung waren. Dagegen die Soziologie limitiert ihr Interesse auf Mensch und Gesellschaft, konstituiert aus diesen den einzigen Gegenstand und einzigen Zweck ihres Forschens. Mit revolutionärem Gestus verwirft sie die alten religiös-metaphysischen Anliegen und beschränkt sich auf die menschlichen Verhältnisse und deren Handhabung. Diese Abkehr vom Kosmos zugunsten der sozialen Szenerie vollzogen die Gründungsväter der Soziologie (Saint-Simon, Marx, Comte, Durkheim und andere) ausdrücklich mit dem Zweck, wissenschaftliche Verfahren ausfindig zu machen, welche die Menschen in die Lage versetzen würden, soziale Reformen, sozialen Wandel zu beherrschen und zu prognostizieren. Die Menschheit, so Marx, würde den Sprung aus dem „Reich der Notwendigkeit“ in „das Reich der Freiheit“ ohne die Hilfe eines Messias und vor dem Ende aller Tage tunc – wovon auch Auguste Comte überzeugt war. Dies war die Geburtsstunde der Religion der Soziologie, einer humanistischen Religion, die auf Erden erreichen würde, was die Vorgängerreligionen als den Himmel versprochen hatten; die nicht Gott den Menschen, sondern den Menschen sich selbst erlösen lassen würde – eine Religion, die in jeder Form soziologischen Denkens wirksam ist und auf diesem Weg lebendig in der Geisteshaltung des modernen Menschen. Für jedes der großen soziologischen Systeme lässt sich zeigen, dass am Anfang die Eingrenzung des Horizonts auf das Diesseits, die Übernahme des Rigorismus der wissenschaftlichen Methode als seiner philosophischen Grundlage, am Ende eine neue Religion steht. So überraschend dies scheinen mag, ist es im Grunde doch nur eine logische, unausweichliche Entwicklung. Während die wissenschaftliche Methode die Beschreibung sozialer Prozesse ermöglicht und Verfahren bereitstellt, um bestimmte Ziele zu verwirklichen, schweigt sie zwangsläufig über Zweck und Richtung des Unternehmens – über die raison d'être, die sich mit jenen Zielen verbindet. Die muss sich aus anderen Quellen als aus beobachtbaren, messbaren Tatsachen speisen – und diese Lücke zu füllen versucht der Soziologe, der ,Systeme baut‛. Er konstruiert eine Theorie menschlicher Emotionen und Werte, die dem Techniker als Leitfaden dienen soll, und so entstehen ,Religionen des Fortschritts‛, atheistische oder sozialistische Religionen

c Vgl.

Karl Marx, „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. Buch III: Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion“. In: Karl Marx und Friedrich Engels Werke. Band 25. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin: Dietz 1964, S. 828.

V.

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wie Comtes „Religion der Humanität“d oder Saint-Simons „Neues Christentum“e – Religionen, deren Gottesdienste eher von Soziologen als von Priestern gehalten wurden, und in Form derer diese Soziologen die Welt, statt zu berichten von dem, was in ihr existiert, gemäß einer Idee von Vollkommenheit umgestalten wollten. Diese ,Religionen‛ der Soziologie sind säkulare Religionen gewesen, insofern ihr Ziel die Erlösung im Diesseits war; um dieses Ziels willen, um letztgültige Harmonie und den Zusammenhang der gesellschaftlichen Entwicklung zu gewährleisten, entwarfen sie ihre Pläne. Tatsächlich bestand die Soziologie immer aus mehr als einer Reihe von Theorien und Verfahren zu dem Zweck, Denken und Handeln des modernen Menschen zu verstehen. Von Anbeginn an galten ihre sämtlichen Methoden, die statistischen ebenso wie die interpretativen, einem gemeinsamen Ziel: die modernen Industriegesellschaften und das Los des modernen Menschen zu verstehen und zu verbessern. Ausdrücklich verkündet wurde dieses Ziel in der Frühzeit der Soziologie, als die Bürger der neugeborenen industriellen Ordnung noch zu hoffen wagten, der wissenschaftliche Fortschritt werde ein neues Millennium herbeiführen. Heute, da die Soziologie in erster Linie eine akademische Disziplin ist, ist dieses Ziel weniger sichtbar. Gleichwohl ist die gleiche Ambition noch immer vorhanden; und sie hat noch immer großen Einfluss, nicht nur an den Universitäten, auch in der Literatur, der Sozialplanung, der Politik und in vielen Religionsgemeinschaften.

V. Besonders interessant zu sehen ist es, wie groß die Rolle gewesen ist, die Juden in dieser merkwürdigen neuen Kirche des modernen Menschen gespielt haben. So fanden Comte und Saint-Simon nicht zuletzt unter jungen Juden ihre Anhänger. Emile Durkheim zum Beispiel, der in viel größerem Maße ein Schüler Comtes war, als er zugeben wollte, und der die Religion zum Gegenstand ,wissen-

d Auguste

Comte, Katechismus der positiven Religion. Nach der zweiten Ausgabe des Originals übersetzt von Ernst Roschlau. Leipzig: Otto Wigand 1891. e Henri de Saint-Simon, Neues Christentum. Aus dem Französischen übersetzt und mit einer einleitenden Abhandlung ,Die Ursprünge der christlich-sozialen Ideen‛ versehen von Friedrich Muckle. Leipzig: C. L. Hirschfeld 1911.

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schaftlicher Untersuchungen‛ machte (worin er die Arbeiten Malinowskisf oder Paretosg weit übertraf), war der Sohn eines Rabbiners. Er ist in vielerlei Hinsicht das klassische Beispiel eines religiösen Soziologen. Was war es, das Durkheim zu sagen hatte? Er setzte sich zunächst mit der symbolischen Qualität des Heiligen auseinander; das Heilige verkörperte für ihn primär das Gefühl einer moralischen Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft, der Pietät gegenüber sozialen Autoritäten. Genauer betrachtet – und dies ist der Schlüsselbegriff der Soziologie Durkheims – verkörperte das Heilige das kollektive Bewusstsein, das er mit dem Absoluten, dem Göttlichen identifizierte. Die Gesellschaft selbst war ihm Gott. Waren einmal Göttliches und Soziales miteinander gleichgesetzt, konnte eine Denkfigur nach demjenigen Muster anschließen, das Durkheim als Sohn eines Rabbiners seit jungen Jahren vertraut war – abgesehen davon, dass Gott, vormals der Held der Geschichte, nun das Zepter an die Gesellschaft, die an seine Stelle trat, weiterreichte. Die Gesellschaft war es nun, die Quelle und Ziel der Erlösung sein sollte; wo man vormals einen göttlichen Entwurf vermutet hatte, war nun ein Fortschritt zu entdecken, der dem menschlichen Kollektivleben innewohnt. Das Königreich Gottes – der gute, alte jüdische Traum – tritt wieder in Geltung, allerdings im Hier und Jetzt, ohne übernatürliche Intervention oder Referenz. Als den neuen Glauben sanktionierende Instanzen treten Wissenschaft und technische Entwicklung an die Stelle der Offenbarung – wofür allerdings die Wissenschaft aus dem Laboratorium herausgeschmuggelt und in einen Mythos verwandelt worden ist. Durkheim stand, indem er den alten jüdischen Messianismus in eine neue ,wissenschaftliche‛ Eschatologie überführte, nicht allein. Das gleiche Anliegen verfolgten die meisten der jungen Juden, die unter den Schülern Comtes und Saint-Simons herausragten; aus ihren Reihen stammen nahezu alle führenden Soziologen Frankreichs. Auch außerhalb Frankreichs fanden sich Juden unter den Aposteln der neuen Pseudoreligion der Soziologie. Der Deutsche Karl Mannheim zum Beispiel. In seiner Person begegnet man einer tief humanitären Mitleidenschaft, einem so profunden wie passionierten Enthusiasmus für die Menschheit und ihre Erlösung, für den „Dritten Weg“ (die Majuskel stammt von ihm

f Bronislaw

Malinowski, Magie, Wissenschaft und Religion. Und andere Schriften. Frankfurt am Main: Fischer 1983. g Vilfredo Pareto, Allgemeine Soziologie. Ausgewählt, eingeleitet und übersetzt von Carl Brinkmann. Tübingen: Mohr (Siebeck) 1955, S. 25–44.

VI.

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selbst),h jene Synthese aus Freiheit und Planung, von der er sich die Befreiung des Menschen versprach. Einher mit einer Leidenschaft wie dieser geht jedenfalls der feste Glaube an die Wissenschaft im Allgemeinen und an die wissenschaftliche Soziologie im Besonderen – Mittel zur Lösung jeglicher Frage, einziger und universeller Schlüssel, das Tor zu einem glücklichen Leben auf Erden zu öffnen. Die Religion der Soziologie ist zugleich zu einer universalen Religion und zu etwas eigentümlich Amerikanischem geworden. Es hat den Anschein, als sei vielen amerikanischen Soziologen ihre Wissenschaft zur Religion geworden, die, ginge es nach ihnen, zur inoffiziellen Nationalkirche würde (während sie den offiziellen Kirchen aus libertären Gründen mit Ablehnung begegnen). Beigetragen zu dieser Geisteshaltung haben sämtliche Kräfte und Strebungen, die auch in Europa am Werke sind – und etwas Weiteres noch. Dem betonten Optimismus, der in Sonderheit zum Erbteil Amerikas zählt, verdankt sich eine ausgeprägte Neigung zur Idee vom Königreich Gottes auf Erden, sei es von geistlicher oder von weltlicher Art. Der Einfluss der calvinistischen Tradition eines spirituellen Pragmatismus (ein gutes Leben durch gute Arbeit) prädisponiert die Amerikaner, nach Techniken zu suchen und Werkzeuge zu erfinden, um ihre Ideen zu verwirklichen. So ist die soziologische Denkungsart zu einem integralen Element des amerikanischen Bewusstseins geworden, das sich von der Verbindung von Sozialtheorie und technischer Wissenschaft den Erwerb des Glücks der modernen Gesellschaft verspricht.

VI. Die Soziologie der Religion ist weit entfernt von der Religion der Soziologie; hinter ihr steht eine ganz andere Geschichte, die bei Fontenelle und Bayle beginnt und über Montesquieu, Gibbon und Voltaire zu Max Weber verläuft. Fontenelle und Bayle waren die ersten in der Neuzeit – im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert – die es wagten, rationalistisches Denken systematisch auf die Religion anzuwenden. Dies taten sie keineswegs unvoreingenommen. Es ging ihnen nicht um eine objektive Analyse der Religion, sondern darum, deren letztendliche Irrationalität und Unverständlichkeit freizulegen und jegliches Bekenntnis als eine vorrationale Form wissenschaftlichen Erklärens zu erweisen, nicht

h Vgl.

Karl Mannheim, Diagnose unserer Zeit. Gedanken eines Soziologen. Zürich, Wien, Konstanz: Europa-Verlag 1951.

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zeitgemäß der Moderne und daher irrelevant. Die Religionssoziologie entstand aus einem odium theologicum. Montesquieu näherte sich der Religion gänzlich als Sozialwissenschaftler, keinesfalls interessiert an ihrem Gehalt, vielmehr beschäftigt mit ihren Auswirkungen auf das Gebaren von Individuen und Gruppen. In dieser Weise betrachtet, ist Religion ein historisches Phänomen, eine soziale Tatsache, eine gleichermaßen konstruktiv und destruktiv wirksame Einflussgröße des politischen und wirtschaftlichen Verhaltens. Zu bemessen ist sie danach, inwiefern sie politische Institutionen stärkt oder schwächt, inwiefern sie gewerbliche und industrielle Ressourcen steigert oder mindert.i Voltaire stellte fest, dass es menschliche Interessen sind, die die Geschichte schreiben, und die Religion lediglich eines dieser Interessen.j Dem fügte Weber an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einen Begriff des Menschen als eines Sinn suchenden Wesens hinzu, unfähig, sich mit dem Besitz von Dingen und dem Erwerb von Macht zu bescheiden, immerzu beschäftigt mit der Fabrikation einer Heilspragmatik.k Weber ist ein interessanter, paradoxer Denker, der als Antwort auf den Marxismus und die positivistische Soziologie die Autonomie der Religion erweisen wollte – nur um schließlich sein eigenes Denkgebäude zu zerstören und bei einem radikaleren Positivismus zu endigen. Weber begann damit, sorgfältig die Grenze zwischen einem spirituellen Erlebnis und einem soziologischen Gegenstand zu ziehen. Im Reich primärer religiöser Erfahrungen, wo spirituelle Revolutionen bewirkt und neue Religionen begründet werden, ist der Soziologe ein Fremder. Seine Arbeit beginnt dort, wo spirituelle Bewegungen sich eingelebt, geistliche Institutionen sich etabliert haben, wo er den Einfluss von Recht und Wirtschaft auf die religiösen Institutionen oder die Kollision geistlicher und weltlicher Mächte untersuchen kann. Auf der Grundlage seiner Untersuchungen vermag er ein Licht auf die Anfälligkeit einer Heilsbotschaft zu werfen, die in das Getriebe der Machtpolitik gerät. Doch unweigerlich musste Weber gegen seine eigenen Regeln verstoßen. Die Hingabe an die Wissenschaft ist nicht einzuhegen, es widerspricht dem Wesen der wissenschaftlichen Methode, die

i Vgl. Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze. Auswahl, Übersetzung und Einleitung von Kurt Weigand. Stuttgart: Reclam 1994, S. 364–389. j Œuvres complètes de Voltaire. Band 11: Essai sur les moeurs et l‘ ‘sprit des nations. Tome I. Paris: Garnier Frères 1878, S. 26–27. k Vgl. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen: Mohr (Siebeck) 1920, S. 237–275.

VII.

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Unverletzlichkeit heiliger Bezirke anzuerkennen – alles verlangt schlussendlich nach einer Erklärung. Für Weber ist der Mensch ein „Zeichen-erfindendes“ Tier,l unbefriedigt von bloß materiellen Errungenschaften, das sich berechtigt wissen will zu seinem Glück und seine Erfolg verdient haben will. In den drei Bänden seiner Religionssoziologiem reduziert Weber die Religion zu einem unter einer Vielzahl anderer Faktoren, der besondere Bedeutung in Zeiten sozialer Krisen erlangt. Religion ist demnach für Weber in letzter Konsequenz und wesentlich ,Ideologie‛ – ein Werkzeug, menschengemacht und von Menschen betätigt. Der angesehene Harvard-Soziologe Parsons, ein Gefolgsmann Webers, anerkennt diese Überlegungen mehr oder weniger offenkundig, wenn er die These vertritt, die Leute würden auf das geistige Leben entweder als Theologen oder als Wissenschaftler Bezug nehmen, doch nur Letzteres habe eine Berechtigung.n Grundlegend für die Methode einer Soziologie der Religion – ungeachtet der persönlichen Gesinnung des einzelnen Soziologen – ist die Behauptung, die Religion sei nur eines unter den Elementen der Kultur, das in angemessener Weise zu erfassen es der unparteiischen Analyse des Sozialwissenschaftlers bedürfe.

VII. Der Visionär hat per se nur eine Botschaft zu überbringen – dass Gott existiert und darauf wartet, dass die Menschen sich ihm zuwenden. Neben ihm steht indes ein Typus, den man den ,spirituellen Denker‛, den religiösen Philosophen nennen könnte – der die göttliche Offenbarung als Wahrheit annimmt und doch hinreichend säkular ist, um sich vom Religiösen abzusondern und die Geschichte der Menschheit und ihrer Religionen zu überblicken. Er lebt in einem permanenten Spannungszustand, einer offenbarten Wahrheit verschrieben und dennoch ebenso wenig blind für die von Leidenschaft und Tiefsinn getragenen Ansinnen anderer Religionen wie für die des wissenschaftlichen Rationalismus. Er ist der lebende

l Vgl. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. In: Werke in drei Bänden. Zweiter Band. Herausgegeben von Karl Schlechta. Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997, S. 7–274, hier S. 221. m Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. 3 Bände. Tübingen: Mohr 1920–1921. n Vgl. Talcott Parsons, The Structure of Social Action. Band 1. New York: The Free Press 1968, S. 261 und 289.

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und leidende Zeuge dafür, dass Gott und Welt nicht mehr – oder noch nicht – eins sind. So wie der Soziologe seine ,Wahrheit‛ der Religion appliziert, richtet der spirituelle Denker die seine auf die soziale Ordnung. Während der Soziologe die Geschichte religiöser Bewegungen als das unvermeidliche Ergebnis des Wirkens sozialer Kräfte ausweist – und wegerklärt –, interpretiert der spirituelle Denker sie weitergehend in Begriffen von Sünde und Verfall, Tugend und Erlösung. Beider Gegenstand ist der gleiche, doch ihre Gesichtspunkte und Begriffe unterscheiden sich. Der Soziologe verbleibt innerhalb des Fortgangs des sozialen Geschehens, ordnet seine Befunde in Form einer kausalen Analyse. Der spirituelle Denker balanciert auf dem schmalen Grat zwischen Göttlichem und Weltlichem, indem er die conditio humana auf einen erlösenden, bergenden Gott zurückführt. Für ihn stehen Tun und Gebaren des Menschen jederzeit in Verbindung zu einem göttlichen Wesen, dessen Gebote konstitutive Elemente der geistigen Abenteuer der Menschheit sind. Kürzlich ist eine bemerkenswerte Schrift erschienen, in der die religiöse Idee nicht allein als eine unter den Triebkräften von Kultur, Geschichte und Gesellschaft angenommen wird, sondern als ihr letztes und wichtigstes Glied. Jacob Taubes legt in seiner Abendländischen Eschatologie3 nahe, dass Ursprung und Wirkmacht der zentralen intellektuellen und sozialen Werte der westlichen Welt in einer messianischen Vision zu finden sind. Seine Arbeit stellt eine vergleichende Typologie der messianischen Modelle dar, die von jüdischen Propheten begründet und zunächst im 13. Jahrhundert im Zuge der Revolte der Franziskaner, später erneut von den Begründern des deutschen Idealismus, schließlich in den gegensätzlichen Lehren von Kierkegaard und Marx aufgegriffen wurden. Taubes kommt zu dem Schluss, dass es jene messianische Vision ist, die sämtliche Theorien des Fortschritts, der Reform und der Revolution, die die modernen Zeiten kennen, ermöglicht hat. Noch die atheistischen Revolutionen der heutigen industriellen Welt tragen, wenn auch keinesfalls im Namen, diese Prägung. Von seinem Standort auf jenem schmalen Grat zwischen Göttlichem und Weltlichem aus vermag Taubes die Religion sowohl von innen als auch von außen zu betrachten. Von außen betrachtet kann Religion zweifellos nur ein Element der Kultur sein. Doch bringt sie etwas hervor, das die Grenzen der Kultur transzendiert und sich selbst zu deren eigentlichem Fundament macht: das,

3 Jacob

Taubes, Abendländische Eschatologie. Bern: Francke 1947.

VIII.

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was ihr selbst innerlich ist – die Begegnung von Mensch und Gott als Urgrund des menschlichen Geschicks. Für Taubes ist Religion das primäre Ereignis des menschlichen Daseins, denn erst religiöses Erleben schließt den Kreis der Menschheitsgeschichte, des menschlichen Zusammenlebens, in sinnhafter Form. Der spirituelle Denker sollte keinesfalls mit dem Theologen verwechselt werden. Der Theologe stellt seine Betrachtungen im Rahmen geistlicher Institutionen an, auf der Grundlage der hier anerkannten doktrinären Requisiten – den von ihm unbestrittenen Prämissen. Der spirituelle Denker geht von einer ursprünglichen religiösen Erfahrung aus, die er aus erster Hand kennt. Er ist ein Radikaler, der keine Konzessionen macht, kennt er doch die geistlichen Institutionen nicht nur von außen, sondern auch ihre innere Logik und die Notwendigkeiten, denen sie unterliegen. Kraft der Teilhabe an einer ursprünglichen Passion, die der organisierten Religion vorausliegt, ist er befähigt, religiösen Institutionen mit tiefer Respektlosigkeit zu begegnen.

VIII. Die jüdischen Propheten bilden den Präzedenzfall für die spirituellen Denker. Sie schufen die religiöse Begeisterung in sich um zu schonungslosen Akten der Entlarvung der dem Menschen eigenen Schwäche und der Sündhaftigkeit sozialer, auch religiöser Institutionen. In der christlichen Welt zu Zeiten der Geburt der modernen Zivilisation spielten eben diese Rolle die Franziskaner-Spiritualen, die aus Prophetenworten eine kollektive Revolutionsbewegung formten. Vermöge ihres messianischen Hoffens wurden ihnen die Sünden kenntlich, durch die alle Institutionen, insbesondere aber die Kirche, zu schäbigen Wirtschaftsunternehmen herabgemindert waren. Nicht ging es ihnen in erster Linie um die Katalogisierung und Bekanntmachung der Vergehen, die die Kirche und ihre Geistlichen verdarben. Vielmehr führten sie die Übel, gegen die sie eiferten, zurück auf die Gier nach Macht und Besitz, auf den Durst nach Prestige und Privilegien, durch die sich die Kleriker entwürdigten, weil sie ihretwegen geistige Ziele der Machtpolitik unterordneten. So waren es jene Franziskaner-Spiritualen, die kraft der ihnen eigenen geistigen Haltung die erste gründliche Analyse sozialen Wandels in der modernen Epoche entwickelten – genauer: die eines sozialen Verfallsprozesses. Erasmus von Rotterdam bietet uns ein hervorragendes Beispiel für die Tätigkeit des spirituellen Denkers als eines Wanderns auf schmalem Grat. Einerseits ist er wach für die Wirklichkeit unbedingter moralisch-sozialer Prinzipien, ist von unaussprechlicher Liebe zum Göttlichen bewegt. Andererseits weiß er, da er sich

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an das Richtmaß der naturgegebenen und der ideellen Vernunft hält, aus eigenem Erleben zu berichten, warum Menschen dennoch so häufig und so weitreichend sich von diesem Richtmaß entfernen. Die sogenannten satirischen Schriften des Erasmus sind tatsächlich soziologische Analysen, gewidmet der Beschreibung des Geweses von Menschen, die um die Wahrheit wissen und dennoch den Irrtum wählen. Insbesondere sein Lob der Torheito ist eine der wenigen wahrhaft weisen Untersuchungen des Wirkens – sei es konstruktiv oder destruktiv – der dem Menschen eigenen unbewussten, irrationalen Kräfte. Ein weiteres Beispiel für die Radikalität einer Sozialkritik, die sich der Teilhabe an zentralen religiösen Erkenntnissen verdankt, ist Erasmus’ Soziologie der Meinung. In den Vorreden zu seinen Editionen von Kirchenvätern erklärte er wiederholt, die grundlegenden Wahrheiten des Evangeliums seien schlicht und eindeutig.p Komplexe dogmatische Systeme seien daraus erst unter dem Druck verfeindeter, miteinander wetteifernder Sekten geworden, die selbst oftmals nur als ,Fassade‛ anderer Kräfte dienten. In seiner Consultatio de Bello Turcicoq widmet Erasmus sich in nüchterner Sachlichkeit den hinter dem geplanten Kreuzzug gegen die Türken verborgenen Beweggründen, der Rolle von Bankleuten und Zuckerspekulanten, die eine kriegerische Stimmung schürten, und dem Zusammenhang von innenpolitischer Krise und außenpolitischem Handeln. Diese so düstere wie eindringliche soziologische Analyse ist, da geschrieben aus dem Blickwinkel unbedingter, aus religiöser Lehre gespeister geistiger Werte, von allgemeiner Tragweite. Der spirituelle Denker vermag menschliche Verbildung und Sittenlosigkeit zu bezeichnen und zu erklären, denn in seinen unbedingten Prinzipien – und in seinen Heiligen, die diese Prinzipien verkörpern – verfügt er über einen immerwährenden Kanon dessen, was sein soll und sein kann. So verwundert es kaum, dass Erasmus es war, der, treu dem unbedingten religiösen Tugend-

o Desiderius

Erasmus, „Mωρίας Eγχώμιον sive Laus Stultitiae. Das Lob der Torheit“. In: Desiderius Erasmus, Mωρίας Eγχώμιον sive Laus Stultitiae. Das Lob der Torheit – Carmina Selecta. Auswahl aus den Gedichten. Ausgewählte Schriften, Bd. 2. Übersetzt von Alfred Hartmann. Eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Wendelin SchmidtDengler. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 1–211. p nicht nachgewiesen. q  Desiderius Erasmus, „Utilissima Consultatio De Bello Turcis Inferendo, Et Obiter Ennaratus Psalmus XXVIII“. In: Opera Omnia Desiderii Erasmi Roterodami Recognita Et Adnotatione Critica Instructa Notisque Illustrata. Bd. V, 3. Herausgegeben von Anton G. Weiler. Amsterdam: Elsevier 1986, S. 1–82.

IX.

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ideal, das Gesetz der Degeneration formulierter – den Gedanken, dass sämtliche sozialen Institutionen, auch die religiösen, getrieben vom Begehren zu überleben programmatisch sich in sich selbst verwurzeln und sich selbst verherrlichen, während die Überzeugungen und Ideale, die an ihrem Ursprung standen, verkehrt und preisgegeben werden.

IX. Das erasmische Procedere, im Zuge dessen aus soziologischer Beobachtung und geistigem Weitblick ein organisches Wahrnehmungsganzes sich fügt, hat eine fruchtbare Tradition begründet. Zu den in dieser Tradition stehenden Gelehrten gehörte Gottfried Arnold (1666-1714), den Leo Tolstoi unserer Epoche ,wiederentdeckt‛ hat.s Seine Unparteyischen Kirchen- und Ketzer-Historient schrieb er unter Anwendung all der empirischen Verfahren, die die moderne Soziologie in ihrer besten Form vorzuweisen hat, und zugleich vom Standpunkt eines protestantischen Mystikers aus. Dadurch war es ihm möglich, die organisierte Christenheit in ihrer Einheit und Kontinuität in den Blick zu nehmen, ihre konstruktiven ebenso wie ihre destruktiven Aspekte, die Wirkungskräfte des Eigeninteresses und des Selbsterhalts, die ihren politischen Kurs bestimmen. Er erkannte, dass unweigerlich die in der Kirche herrschenden Gremien jeder spontanen Wiederentdeckung der Wahrheiten, auf denen die Kirche doch gründet, mit Misstrauen begegnen, dass sie derlei Spontaneitäten als Häresie, als Störung der bestehenden Ordnung ächten und auf ewig den lebendigen Geist der Offenbarung zum Gleichnis ihrer Interessen machen würden – und dass all dies das unentrinnbare Gesetz menschlicher Institutionen ist.

r Desiderius

Erasmus, „Epistola ad Paulum Volzium. Brief an Paul Volz“. In: Desiderius Erasmus, Epistola ad Paulum Volzium. Brief an Paul Volz – Enchiridion militis christiani. Handbüchlein eines christlichen Streiters. Ausgewählte Schriften, Bd. 1. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Werner Welzig. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 2–53, hier S. 31. s Leo N. Tolstoi, Das Reich Gottes ist inwendig in Euch oder das Christentum als eine neue Lebensauffassung, nicht als eine mystische Lehre. 2 Bde. Leipzig: Eugen Diederichs 1903, Bd. 1, S. 80–137, hier insbes. 106–110. t Gottfried Arnold, Gottfried Arnolds unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historien. Vom Anfang Des Neuen Testaments biß auf das Jahr Christi 1688. 3 Bde. Schaffhausen: Hurter 1740–1742.

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In unserer Zeit repräsentieren den Typus des spirituellen Denkers Männer wie Reinhold Niebuhr, Charles Péguy, Leonhard Ragaz oder Gabriel Marcel. Sie alle gründen ihre Analysen der sozialen Ordnung auf religiöse Prämissen. Daraus entsteht, wie das Beispiel Niebuhrs zeigt,u eine Analyse der modernen Gesellschaft, deren Radikalismus dem der Marxschen Analyse gleicht, doch von einer vollständig anderen Quelle herrührt. Ein ausgesprochen interessanter spiritueller Denker der Moderne ist der brillante ungarische Marxist Georg Lukács, der auf der sozialistischen Revolution als dem notwendigen Vorspiel zum wahrhaftigen ,Ende aller Tage‛ beharrt. Denn bis nicht die Revolution vorüber und vorbei ist, so Lukács, werden die Menschen niemals die radikale Verzweiflung spüren, die am Anbeginn ihrer Erlösung steht.v Erst wenn die vollkommene Gesellschaftsmaschine verwirklicht ist, erst wenn alle Menschen angemessen behaust, bekleidet und ernährt sind und dennoch weiterhin als Verlorene, Elende und Unerlöste sich fühlen, erst dann werden sie – zutiefst desillusioniert – erkennen, dass Technologie keine Rettung ist, und werden sich zu aufrichtiger Spiritualität gezwungen sehen. Eine spirituelle Revolution war es, von der Lukács träumte, eine Krise der individuellen Seele, die folgen würde, wenn die Krise der Gesellschaft erfolgreich überwunden wäre. Dann und nur dann würde der Schleier des Historismus gelüftet und die Menschen vermöchten die Illusion politisch-ökonomischen Gedeihens, das sie mit dem Königreich im Himmel verwechseln, zu durchschauen. Dann und nur dann wären sie frei und als Freie genötigt, offenen Auges und klar der ewigen Dinge zu gedenken. Dies war Lukács’ Haltung, bevor er Mitglied der Kommunistischen Partei wurde.

X. Im Zusammenhang dieser Überlegungen stellt sich die Frage: Gibt es, zumindest der Möglichkeit nach, eine seriöse Form der Soziologie der Religion? Unsere Betrachtungen haben ergeben, dass immer wieder auf der Grundlage spiritueller Vorstellungen, die Endliches und Unendliches umfassen, beredte, bedeutungsvolle Analysen des menschlichen Zusammenlebens entstehen.

u Reinhold

Niebuhr, Moral man and immoral society. A study of ethics and politics. New York, London: Charles Scribner’s Sons 1932. v Georg Lukács, Balázs Béla és akiknek nem kell [Béla Balázs und diejenigen, die es nicht brauchen]. Übersetzt von Anna Bak-Gara. Gyoma: Kner 1918.

X.

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Religion hat stets einen Hintergrund gewirkt, in Auseinandersetzung mit dem gewisse Dinge verständlich wurden; kraft der ihr eigenen transzendenten Einsichten waren bedeutsame Entdeckungen auf der Bühne des Menschlichen möglich. Mit anderen Worten, das spirituelle Vorstellungsvermögen hat sich als der Einrichtung allgemeiner Wahrheiten über den Menschen und die soziale Ordnung fähig erwiesen. Daneben sollte deutlich geworden sein, dass die Soziologie nicht im eigentlichen Sinne des Wortes Erkenntnisse über die Religion zu erbringen vermag. Über die Entwicklung einer Religion: ja. Über die Institutionen, die Praktiken und die Äußerlichkeiten einer Religion (und mitunter auch über einiges Internes): ja. Wann immer Religion im sozialen Geschehen Gestalt gewinnt, kann sie Gegenstand der Soziologie sein. Dies aber bedeutet nichts anderes, als dass es keine Soziologie der Religion, nur eine Soziologie der Irrwege der Religion geben kann. Ein Soziologe mag vielleicht erklären können, was eines Menschen Grund und Antrieb ist, die Überzeugungen Anderer zu übernehmen und aus zweiter Hand zu glauben oder eigene Überzeugungen aufzugeben; weshalb er ein Bekenntnis wählt oder eines verschachert; weshalb er seine religiösen Bedürfnisse den politischen Gegebenheiten anpasst. Es mag dem Soziologen auch gelingen, Blüte und Niedergang von Religionen zu beschreiben, ihren Aufstieg und Fall als Staatskirchen. All dies vermag die Soziologie und leistet so wertvolle Beiträge zur Religionshistorie. Hier beginnt jedoch zugleich das klassische Missverständnis, dem die moderne, verwissenschaftlichte und säkulare Zivilisation hinsichtlich der Religion unterliegt: die Annahme, Religion sei nur eines unter anderen Motiven der Kultur und ähnlich wie bestimmte Technologien oder Weltbilder in ihrer soziohistorischen Erscheinung vollständig offenbar. Tatsächlich aber ist jene Religion, die eine Komponente der sozialen Welt bildet, als Religion nur von zweitrangiger Bedeutung. Vorrangig ist religiöses Erleben, das die Achse ist, um die alles sonstige Erleben sich dreht. Es schafft Zentrum und Horizont der menschlichen Dinge und weist so allen anderen Gütern der Zivilisation ihren Platz zu, ohne diesen je selbst verfügbar zu sein. Der Mensch, der dies einmal zur Gänze erlebt hat, wird besser in der Lage sein, jegliche Facette der Wirklichkeit zu verstehen, auch die, die wir Gesellschaft nennen – besser in der Lage, Größe und Not des menschlichen Geschicks zu verstehen.

Demokratie und Religion im Werk des ErasmusÜ

Dass religiöse Motive einen entscheidenden Anteil an der Beschaffenheit jener Referenzrahmen haben, an denen orientiert in und an Gesellschaften gehandelt wird, gilt als erwiesen.1 Offen ist jedoch die Frage, wie im Besonderen religiöse Elemente sich auf den Horizont auswirken, der ein solches historisches Gebilde kennzeichnet. Je nach religiösem oder säkularem Standpunkt können diese Auswirkungen als konstruktiv, präventiv oder destruktiv beurteilt werden. So ÜAlbert

Salomon, „Democracy and Religion in the Work of Erasmus“. In: The Review of Religion 14, 1950, S. 227–249. Wieder abgedruckt in: In Praise of Enlightenment. Cleveland, New York: Meridian Books 1963, S. 24–43. Übersetzt von Peter Gostmann, Claudius Härpfer und Monika Plessner.

1  Dieser

Artikel und der ihm folgende [Joseph L. Blau, „Freedom of Prayer“. In: The Review of Religion 14, 1950, S. 250–269] sind Ergebnisse der Sektion Religion and Democracy des Columbia University Seminar on Religion. Für andere Arbeiten aus dieser Sektion sei der Leser auf die Januar-Ausgabe des Review of Religion von 1948 [„Religion and Democracy: A Group Inquiry“. In: The Review of Religion 12, 1948, S. 117–136; F. Ernest Johnson, „Democracy and Revelation“. In: The Review of Religion 12, 1948, S. 137–147; William J. Fitzgerald, „The Idea of a Democracy in Contemporary Catholicism“. In: The Review of Religion 12, 1948, S. 148–165; John C. Bennett, „Modern Protestantism and Democracy“. In: The Review of Religion 12, 1948, S. 166–178; Mordecai M. Kaplan, „The Place of Religion in a Democracy“. In: The Review of Religion 12, 1948, S. 179–192; John David Hughey Jr., „Baptists in Soviet Russia“. In: The Review of Religion 12, 1948, S. 193–203; Roger L. Shinn, „The Relation of Religion to Democracy and Communism in the Writings of John Macmurray. A Review Essay“. In: The Review of Religion 12, 1948, S. 204–215] und auf die September-Ausgabe von Church History von 1949 [John T. McNeill, „The Democratic Element in Calvin’s Thought“. In: Church History 18, 1949, S. 153–171; Meredith F. Eller, „The ‘Retractiones’ of Saint Augustine“. In: Church History 18, 1949, S. 172–183] verwiesen.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Salomon, Schriften 1949–1954, Albert Salomon Werke 4, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37736-6_5

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hatte der Messianismus der Franziskaner-Spiritualen Folgen, die für die Kirche verhängnisvoll und für das politische Gemeinwesen gefährlich waren. Die Intellektuellen am kaiserlichen Hof dagegen machten sich den franziskanischen Radikalismus triumphierend zu Eigen, da er ihnen als ein besonders wirksames Instrument für ihre antiklerikale Politik höchst gelegen kam. Friedrich II. von Sizilien verwandelte diesen spirituellen Messianismus zynischerweise in einen messianischen Imperialismus, der ihm die säkulare Ideologie für seinen antipäpstlichen Internationalismus lieferte. Damit leitete er eine Entwicklung ein, die später von Karl V. fortgeführt wurde und schließlich in den innerweltlichen Heilsversprechungen moderner politischer und sozialer Revolutionen aufging – was für Kirche und Staat gleichermaßen desaströs war. Viele Religionen waren stark genug, wenigstens ein paar Jahrhunderte lang den Vormarsch weltlicher Bestrebungen aufzuhalten. Im Verbund mit anderen Faktoren haben religiöse Bekenntnisse zu Beginn der Neuzeit die Expansion politischer Macht hin zu einem totalen Staat verhindert. In Asien und im Nahen Osten entstanden durch religiöse Indoktrinierung Konventionen, die das Entstehen des Industriekapitalismus verhinderten. Im Anbruch der modernen westlichen Zivilisation war Religion ein konstituierendes Element sämtlicher politischer und sozialer Institutionen. Allerdings gab es schon nicht mehr die eine christliche Religion, sondern mehrere. Die Lehren der verschiedenen Kirchen wirkten sich unterschiedlich auf die Einstellungen und Verhaltensmuster der jeweiligen Gesellschaft aus. Zweifelsohne ist der deutsche ‚Untertan‘ mit all seinen negativen staatsbürgerlichen Eigenschaften und seinen positiven, wo er als Arbeiter auftritt, durch Luthers Soziallehre geprägt – abgesehen von den politischen und sozialen Hintergründen, die darüber hinaus für die deutsche Sozialordnung verantwortlich sein mögen. Für genuin calvinistische Länder wie den Kanton Genf und die Niederlande nach der Ständeversammlung von Dordrecht war dagegen eine monopolistische Aristokratie die naturgemäße Form der Regierung. Vielleicht sollte man den Einfluss der Kirchen dennoch nicht überbewerten. Selbstverständlich haben deren Lehren in Form von Predigt und Unterricht und durch die gelehrten Disziplinen, denen sie Geltung verschafften, sitten- und konventionsbildend gewirkt. Aber es gab doch viele psychologische und geistige Auswege, um sich ihrem Einfluss zu entziehen. Schon vor der sogenannten Reformation waren fromme Laienbewegungen weit verbreitet: freie mystische Gruppierungen, spiritualistische Gemeinden und Reformbewegungen, gegen die sich spontan viele Mönchsorden richteten. Man kann fragen, ob diese Strömungen zahlenmäßig stark genug waren, um sie mit der gleichen Aufmerksamkeit zu behandeln wie die Kirchen. Leider können wir solche Fragen nicht

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beantworten, weil es keinen Beleg für die Stärke von Gruppierungen gibt, die nur überleben konnten, indem sie ihre wahren Überzeugungen verbargen. Die Aufmerksamkeit des Historikers liberal-demokratischer Ideen verdienen sie jedenfalls – aus dem einfachen Grund, dass sie von spiritualistischen Anschauungen ausgingen, die sie zu Widersachern des Autoritarismus der herrschenden Kirchen machten. Erasmus und die Erasmische Bewegung, für die die Spanier den Ausdruck ‚Erasmismo’ geprägt haben, haben einen wichtigen Beitrag zu dieser Entwicklung geleistet. Im Zentrum des spiritualistischen Liberalismus des Erasmus – oder besser seines liberalen Spiritualismus – steht die Idee der evangelischen Freiheit. Diese Idee impliziert das Prinzip sozialer und politischer Demokratie und – als kritischen Aspekt – die schonungs- und illusionslose Analyse des im Zerfall begriffenen Feudalismus und des aufsteigenden, waffenklirrenden Despotismus. Erasmus hatte Freiheit als leitendes Prinzip für sein Leben gewählt und immer wieder ausdrücklich erklärt, dass er zum Dienen nicht tauge. Selbst den Tod zog er der Versklavung des Geistes vor. Angebote von Päpsten und Königen, die ihn beschworen, kirchliche oder weltliche Ämter zu übernehmen, hat er abgelehnt. Er konnte Niemandes Parteigänger sein,a sondern musste für sich bleiben, um seine geistige Integrität zu bewahren. Über seine prekäre Lage zwischen den verfeindeten Lagern von Katholizismus und Luthertum machte er sich keine Illusionen. Er kämpfte für die unzerstörbare Einheit der Kirche, nicht für bestehende kirchliche Institutionen. Er prophezeite, dass Luthers Revolution die Freiheit des Geistes auf unabsehbare Zeit gefährden werde.b Geistige und soziale Unabhängigkeit waren für ihn untrennbar. Er ließ die Mönchsorden hinter sich, um sich dem institutionalisierten äußeren Zwang und dem psychischen Druck zu entziehen, dessen Ursache seine illegitime Geburt war. Die einzige Leidenschaft,

a  Vgl. Desiderius Erasmus, „Hyperaspistes diatribae adversus servum arbitrium Martini Lutheri. Liber primus. Erstes Buch über die Unterredung ‚Hyperaspistes’ gegen den ‚unfreien Willen‘ Martin Luthers“. In: Desiderius Erasmus, De libero arbitrio διατριβή sive collatio. Gespräch oder Unterredung über den freien Willen – Hyperaspistes diatribae adversus servum arbitrium Martini Lutheri. Liber primus. Erstes Buch über die Unterredung ‚Hyperaspistes’ gegen den ‚unfreien Willen‘ Martin Luthers. Ausgewählte Schriften, Bd. 4. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Winfried Lesowsky. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 197–675, hier S. 214–215. b Vgl. z. B. Desiderius Erasmus, „An Gerhard Geldenhauer. 9. September 1520. Löwen“. In: Erasmus von Rotterdam, Briefe. Verdeutscht und herausgegeben von Walther Köhler. Leipzig: Dietrich 1938, S. 275–276.

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die er anerkannte, war der Drang nach Freiheit von etablierten Autoritäten. Sein Eros galt der Freiheit im Dienste Christi und des Logos. Diesem Dienst widmete er sein Leben, und dieser Dienst machte ihn frei. Erasmus konnte sein Unabhängigkeitsstreben in die Tat umsetzen, weil die neue, revolutionäre Erfindung der Kunst des Buchdrucks ihm die Alternative ersparte, sich entweder an einen Brotherrn zu verdingen – sei es ein Einzelner oder ein Kollektiv – oder zu verhungern. Nach ein paar Jahren des üblichen Hofmeisterelends bei adligen Familien hatte er das Glück, sich Aldus in Venedig und Froben und Amerbach in Basel zu Freunden machen zu können. Diese Häupter großer Druckerdynastien waren nicht nur Kaufleute, sondern auch Gelehrte. Sie ließen Erasmus an den Gewinnen aus seinen Büchern und Editionen teilhaben. Die beiden Baseler vor allem, die ihr verlegerisches Ansehen der Tatsache verdankten, dass sie seine Schriften druckten, teilten ihren Wohlstand gerne mit ihm. Aus dem armen, ungesicherten Hofmeister wurde so ein wohlhabender Privatgelehrter, dessen Werke die gelehrte Welt seiner Zeit faszinierten. Seine Gefolgsleute – die Erasmier – sagten, er habe sie besser gemacht. Er habe ihnen den Mut gegeben, unabhängig von etablierten Institutionen zu sein, habe ihre spirituelle Spontaneität gefördert, die zu sozialen und politischen Verbesserungen im Interesse ihrer Untertanen führte. Erasmus ging es nicht um philosophische und theologische Ideen und Konzepte. Aber sein religiöser Antiintellektualismus und moralischer Intellektualismus ließen ihn nicht von ungefähr zum Vorläufer gewisser Richtungen des Positivismus und des Pragmatismus werden. Er hat häufig gesagt, dass es ihm hauptsächlich um ein praktisches Anliegen gehe. Er wollte solche geistigen Werkzeuge schmieden, die Menschen durch das Erlebnis des Lernens zu freien Christen machen konnten. Dieser Vorsatz zieht sich als roter Faden durch sein Schaffen und gibt diesem den logischen Zusammenhang. Was Erasmus anstrebte, war eine Welt freier christlicher Bürger. Freilich hätte er seine Vorhaben auch anders formulieren können. In einer sozialen Lage, in der alle Zeichen auf rapides Wachstum unabhängiger politischer und wirtschaftlicher Organisationen hindeuteten, ging es ihm darum, kirchliche Institutionen zu reinigen und weltliche mit christlichem Geist zu durchdringen. In einem solchen Augenblick mussten Christen ihr Äußerstes tun, um den Geist des Christentums gegenüber dem Druck der weltlichen Mächte am Leben zu erhalten. Allein eine hierarchische, aristokratische Kirche, die noch das Gebet für die Laien übernahm, konnte der Flut nicht standhalten. Der verantwortungsbewusste christliche Denker und Lehrer musste das christliche Fußvolk mobilisieren und zu

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christlichen Streitern ausbilden.c Diese mussten mit den Waffen der christlichen Ethik, auf Grundlage der ihr eigenen asketischen Gebote, nach innen die Feinde Habgier und Zügellosigkeit und nach außen den Feind der Machtgier bekämpfen. Erasmus hatte den Mönchsorden aus verschiedenen subjektiven Gründen den Rücken gekehrt. Objektiv betrachtet, musste er sie im Verlauf seiner inneren Entwicklung verlassen, um die religiöse Aristokratie und jene Arbeitsteilung, die die mittelalterliche Kirche etabliert hatte, demokratisieren zu können. Er erklärt immer wieder, am nachdrücklichsten in seinem Abschiedsbrief an den Abt von Steyn, die ganze christliche Welt müsse ein Kloster werden. Alle Christen müssten als Mit-Kanoniker und Mit-Brüder in einer Welt der Alltagsinstitutionen leben.d Er begriff die christliche Religion als Lebensform – eine alles durchdringende Lebensform, gültig und unerlässlich für alle Christenmenschen: innerweltliche Askese, die ihnen gewähren wird, die säkulare Welt zu beherrschen und zu überwinden. In Erasmus’ Vision einer spirituellen Demokratie vereinigen sich verschiedene religiöse Strömungen. Aus der Eschatologie des franziskanischen Spiritualismus gewann er seine Theorie der innerweltlichen Askese: ein Erfordernis der historischen Situation, deren Verderbtheit Gott in der Absicht zugelassen hat, einzelne Seelen zur Läuterung bzw. zum Ausharren auf dem Weg zur Vollkommenheit zu ermuntern. Zweitens hat Erasmus das mystische Erlebnis, die unio mystica mit Christus als dem alles durchdringenden Logos, in das moralische Prinzip der Philosophie Christi umgedeutet. Die Philosophie Christi ist die Anwendung seiner moralischen Lehren auf Fragen des sozialen Gebarens im Sinne einer Bildungserfahrung. Erasmus war ehrlich davon überzeugt, dass wir fähig sind, nach den Idealen Christi zu leben und ihm im Geiste und in der Wahrheit nachzufolgen, wenn wir bewusst sein Joch als leicht begreifen und bejahen. Barmherzigkeit und Gelehrsamkeit sind, so Erasmus, keine Alternativen, sondern interdependent. Blinde Liebe ohne Wissen ist ebenso ohnmächtig, wie Wissen ohne spirituellen Eros. In diesem Sinne hat Erasmus das Wissen um die

c Vgl. Desiderius Erasmus, „Enchiridion militis christiani. Handbüchlein eines christlichen Streiters“. In: Desiderius Erasmus, Epistola ad Paulum Volzium. Brief an Paul Volz – Enchiridion militis christiani. Handbüchlein eines christlichen Streiters. Ausgewählte Schriften, Bd. 1. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Werner Welzig. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 56–375. d Vgl. Desiderius Erasmus, „An Servatius Roger. 8. Juli 1514. Schloß Hammes“. In: Erasmus von Rotterdam, Briefe. Verdeutscht und herausgegeben von Walther Köhler. Leipzig: Dietrich 1938, S. 100–107, hier S. 102.

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mystische Erfahrung in eine Theorie sozialer und utilitarischer Frömmigkeit überführt, die stark beeinflusst ist vom moralischen Intellektualismus Plutarchs und Sokrates’. Erasmus verfolgt mit seiner Religion den Zweck, die Magie aus dem Weg zu schaffen, eine Religion des reinen Logos zu errichten, womit er eine Bresche für Zwingli und später Schleiermacher geschlagen hat. Ihm schien die Kirche der mit ihrem Machtmonopol einhergehenden Versuchung erlegen zu sein, den natürlichen Hang der Unwissenden zu Magie und Aberglauben zu missbrauchen. Die Kirche war für ihn der Modellfall, an dem er das Gesetz der Degeneration exemplifizierte, demzufolge alle sozialen Institutionen dem Zwang zur Organisation ausgesetzt seien.e Deshalb rief er das christliche Fußvolk auf, sich die Buchdruckerkunst zunutze zu machen, um mit ihrer Hilfe die Evangelien und die Episteln in Umlauf zu bringen und zu erläutern. Dies würde die Einsetzung einer spirituellen Demokratie möglich machen, in der jeder zum Theologen berufen ist, weil jeder lesen und die Grundwahrheiten des Christentums verstehen kann. Erasmus war sich der soziohistorischen Umstände und des durch sie bestimmten Möglichkeitsraums einer christlichen Lebensweise in seiner Zeit durchaus bewusst. Er sah ein, dass Imitatio Christi nicht bedeuten konnte, das Leben der Apostel und der Urkirche nachzuahmen. Unter modernen Bedingungen konnte dies nur ein nach innen gekehrtes Leben bedeuten: in der Welt zu sein also, als seien wir nicht in ihr; und uns dem Geist zuzuwenden, für den Friede und Versöhnung die Grundlagen des Lebens sind. Der mystische Weg führt ins Innere, sagt, in wahrhaft erasmischem Geist, Novalis.f So bewusst, wie Erasmus sich der soziohistorischen Voraussetzungen war, denen eine religiöse Haltung unterliegt, hielt er Luther entgegen, dass die Zeiten der Offenbarung des Heiligen Geistes und des Lauschens auf ihn vorüber seien. Übrig geblieben ist nur das langsame Fortschreiten auf dem Wege des Verstehens der Wahrheit Christi. Christus hat nicht gewollt, dass wir seine überwältigende Wahrheit auf einmal erkennen. Wir werden seiner Weisheit nach und nach inne,

e  Vgl. Desiderius Erasmus, „Epistola ad Paulum Volzium. Brief an Paul Volz“. In: Desiderius Erasmus, Epistola ad Paulum Volzium. Brief an Paul Volz – Enchiridion militis christiani. Handbüchlein eines christlichen Streiters. Ausgewählte Schriften, Bd. 1. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Werner Welzig. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 2–53, hier S. 31. f Vgl. Novalis, Fragmente. Herausgegeben von Ernst Kamnitzer. Dresden: Wolfgang Jess, 1929, S. 555.

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wenn wir immer wieder neu die Überlieferung befragen. Die Offenbarung ist einzig und ewig; aber die Organe, mit denen die Menschen hören und verstehen, sind Irrtum und Täuschung ausgeliefert. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass eine Vielfalt religiöser Erfahrungen – einschließlich derjenigen der Häretiker – gefördert wird, um die Wahrheit in ihrer Fülle zu enthüllen. Erasmus strebte nach einem pluralistischen Spiritualismus, der auf einigen wenigen Grundwahrheiten beruhte, die auch für die größten theologischen Widersacher selbstverständlich waren. Diese Wahrheiten sind: der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, Schöpfer der Welt, der Logos und der heilige Geist, Christus als Fleischgewordener und Logos, transzendent wie immanent. Sie beinhalten die menschliche Verpflichtung, teilzunehmen an jenem alles durchdringenden Geist, Teile dessen wir doch sind. Erasmus’ Auffassung ist eher mystisch als theologisch, eher panentheistisch als pantheistisch. Aber diese Mystik ist nicht kontemplativ, sondern pragmatisch und utilitarisch. Sie zielt auf die Frömmigkeit sozialen und demokratischen Handelns, die allein die Einsetzung christlicher Freiheit möglich macht. Nicht Luther, sondern Erasmus hat den Ausdruck der „evangelischen Freiheit“ geprägt.g Er meint damit das Ziel des Christen, für das die christliche Res Publica die unabdingbare Voraussetzung ist. Das Ziel ist die geistige Souveränität des Menschen, seine Selbstverantwortung und Überwindung der Welt durch innere Überlegenheit. Christliche Vollkommenheit unterscheidet sich nicht vom paganen Ideal, wie es Sokrates, Epiktet, Epikur und Plutarch praktiziert und beschrieben haben. Deshalb weist Erasmus Luthers radikale Verwerfung von allem, was vor Christus gedacht wurde, leidenschaftlich zurück: „Daraus ergibt sich für uns eine dreifache Art von Gesetz: das Gesetz der Natur, das Gesetz der Werke, das Gesetz des Glaubens […]. Auch die Philosophen haben ohne das Licht des Glaubens, ohne den Beistand der Heiligen Schrift aus den geschaffenen Dingen die ewige Macht Gottes und seine Göttlichkeit erkannt und haben viele Vorschriften für ein gutes Leben hinterlassen […]. Und es ist wahrscheinlich, daß in ihnen ein Wille bestand, der irgendwie zum sittlich Guten geneigt war, aber unfähig war

g Desiderius Erasmus, „De libero arbitrio διατριβή sive collatio. Gespräch oder Unterredung über den freien Willen“. In: Desiderius Erasmus, De libero arbitrio διατριβή sive collatio. Gespräch oder Unterredung über den freien Willen – Hyperaspistes diatribae adversus servum arbitrium Martini Lutheri. Liber primus. Erstes Buch über die Unterredung ,Hyperaspistes‘ gegen den ,unfreien Willen‘ Martin Luthers. Ausgewählte Schriften, Bd. 4. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Winfried Lesowsky. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 1–195, hier S. 192–193.

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zum ewigen Heil, wenn nicht durch den Glauben die Gnade hinzutrat.“h In all seinen Werken ist Erasmus bestrebt, Christus und den Gott Abrahams nicht als historische Phänomene, die die Geschichte in zwei unversöhnliche Teile spalten, anzusehen, sondern als Elemente der Religion schlechthin, die ein universales Phänomen ist. Sie ist ein konstitutives Element der Natur, das überall und zu allen Zeiten im menschlichen Denken und Fühlen gespiegelt wird. Sie schafft überall Ideale und Formen der Vollkommenheit, die allesamt aus ein und derselben Quelle entspringen – dem alldurchwaltenden Logos, welcher der Schöpfergott, der Gott der Gnade, der Christus der Barmherzigkeit ist. Erasmus bestaunte die Lebensführung und die sublimen Gedanken eines Sokrates, Cicero oder Epikur. Wenn man aber auch sie mit Recht Heilige nennen darf, so müssen sie der Gnade Gottes und der Barmherzigkeit Christi, des Erlösers, teilhaftig geworden sein. Deshalb geht Erasmus das Wagnis ein, eine historische Religion in die natürliche Religion aller Räume und Zeiten umzuschaffen. Erasmus hat sich radikal gegen Luther gestellt, denn niemand hat ein Monopol auf religiöse Wahrheit, und niemand ist zu tätigem Fanatismus berechtigt.i Wenn wir auf die Suche nach der echten Kunst wahrer Frömmigkeit gehen, so Erasmus, werden wir finden, dass alle frommen Wege zum Haus Gottes führen, das den Frieden und die immerwährende Versöhnung in allen Religionen umschließt. Wie sonst wäre es dazu gekommen, dass sie alle das gleiche Ideal der Vollkommenheit pflegen: Freude des Herzens, ein friedvolles Gemüt und ein ruhiges Gewissen. Der Liberalismus des Erasmus ist unvereinbar mit jeder Form christlicher Orthodoxie. Für ihn war Liebe zur Freiheit die Essenz des Christentums. Er konnte nicht Bürger eines Nationalstaats sein, wollte aber auch nicht Weltbürger sein, sondern strebte nach dem Bürgerrecht der Civitas coelestis. Vom Antibarbarij bis zur posthum erschienenen Origenes-Editionk verfolgte Erasmus den Gedanken, dass die beste aller Religionen zu höchster Vollendung h Ebd.,

S. 42–45. Desiderius Erasmus, „Erstes Buch über die Unterredung ,Hyperaspistes‘ gegen den ,unfreien Willen‘ Martin Luthers“. In: Desiderius Erasmus, De libero arbitrio διατριβή sive collatio. Gespräch oder Unterredung über den freien Willen – Hyperaspistes diatribae adversus servum arbitrium Martini Lutheri. Liber primus. Erstes Buch über die Unterredung ,Hyperaspistes‘ gegen den ,unfreien Willen‘ Martin Luthers. Ausgewählte Schriften, Bd. 4. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Winfried Lesowsky. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 197–675. j Vgl. D. Erasmi Roterdami, Antibarbarorum, liber unus. Basel: Johannes Froben 1520. k Vgl. Origenes, Opera, quae quidem extant omnia, 2 Bde. Herausgegeben von Des. Erasmum Roterdamum. Basel: Hieronymus Froben 1536. i Vgl.

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gedeiht und die höchste Wirkung entfaltet, wenn sie durch höchste Gelehrsamkeit untermauert ist. Die höchste Wissenschaft ist für Erasmus nicht die Philosophie, sondern es sind die klassischen Philologien, denn diese befassen sich mit den ausdrücklichen Kundgebungen Gottes durch den und als Logos. Dies bedeutet für Erasmus die unmittelbare und spontane Gegenwart des Göttlichen. Das ist der innere Sinn seiner Philologie. Am deutlichsten zum Ausdruck kommt seine Position in den Vorworten zu Ausgaben der Kirchenväter, die er ediert und ins Lateinische übersetzt hat. Bereits seine Auswahl ist aufschlussreich. Er hat diejenigen Autoren ausgewählt, die – wie Hieronymus oder Origenes – glaubten, dass der menschliche Geist frei und die Liebe zu Gott und dem Guten dem natürlichen Gewissen eingeboren sei. Diese Kirchenväter wussten, dass viele Wege zu Gott führen, und sie liebten ihre Mittheologen trotz deren den eigenen widersprechenden Meinungen. Sie wussten genau, dass dogmatische Formulierungen Produkte sozialer Notstände sind, die sich durch feindlichen Druck von außen und sektiererischen Wettbewerb im Inneren verhärtet haben. Erasmus hielt es für möglich, in ihren Schriften seiner eigenen Überzeugung zu begegnen: dass Glaube eher eine Lebensform denn ein konzeptuelles Schema ist. Erasmus zufolge verknüpften die Kirchenväter Glauben und Gelehrsamkeit, um Erzieher des christlichen Volkes sein zu können, denen die Aufgabe zufallen würde, Glauben in die gelebte Frömmigkeit sozialen Handelns umzuwenden. In der gleichen Absicht bezeichnete Erasmus die Verschmelzung von christlichem Glauben und paganem Spiritualismus als die echte Synthese des guten Lebens. Ambrosius hatte das Ideal des christlichen Lehrers aufgestellt, dessen Wirkung und Werke den sozialen Frieden bringen würden: „Magnum pondus habet morum integritas, magnam habet auctoritatem coniuncta mansuetudini constantia. Plurium valet eloquentiae copulata prudentia.“ – „Große Würde genießt Sittenreinheit, großes Ansehen genießt Beharrlichkeit im Verein mit Milde. Am höchsten gilt mit Beredsamkeit verbundene Weisheit“.l Dies war das Ideal, das Erasmus mit seinem Leben und Werk zu verwirklichen hoffte. Die Frage, ob Erasmus die Kirchenväter richtig interpretiert hat, ist müßig. Wahrscheinlich hat er sie missverstanden. Er verstand sie so, wie er selbst verstanden werden wollte. Er wollte Christus und Epikur, Sokrates und Paulus in Einklang bringen. Er wollte freie christliche Bürger erziehen, aus der Elite

l  Desiderius Erasmus, „Epistola DCCCLXXVIII. In Ambrosium“. In: Opera omnia emendatiora et auctiora, Bd. 3. Lugduni-Batavorum: Cura & impensis Petri Van Der Aa 1703, Sp. 991–995, hier Sp. 992.

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ergebene Diener der Verwirklichung Christi im Hier und Jetzt machen. Dieser verwegenen Absicht gemäß stimulierte und förderte er alle Tendenzen zu spiritualistischen und demokratischen Institutionen und Formen der Lebensführung. Erasmus’ religiöse Position hat drei charakteristische Schwerpunkte. Erstens haben ihn die sozialen Verhältnisse und im Besonderen das Los der unteren Klassen, der Armen und der Leidenden, tief beunruhigt. Zweitens ermöglichte sein Spiritualismus ihm eine Analyse der vorherrschenden sozialen Institutionen, die ebenso bitter und illusionslos ausfiel wie diejenige Machiavellis. Drittens empfahl er aufgrund seiner sozialen und utilitarischen Frömmigkeit die Übertragung von Ordensregeln auf soziale Institutionen, um auf diese Weise die Bedingungen herzustellen, unter denen christliche Freiheit verwirklicht werden könnte. Erasmus antizipierte mit seiner Auffassung von der Gesellschaft als Trägerin der sozialen Evolution die Theorien des politischen Liberalismus. Gesellschaft ist die Gesamtsumme all der verschiedenen Tätigkeiten der Menschen, die Sicherheit, Wohlergehen und Frieden ermöglichen. Bauern, Ackerbürger und Stadtbürger in Handel, Handwerk und Gewerbe arbeiten auf dieses Ziel hin. Die Stadtgesellschaften besaßen die Ressourcen, aus denen die akademischen Berufe ihre besten und stärksten Kräfte bezogen, weshalb sich dort die Begeisterung für ein Neues Lernen entwickelte. Hier fand Erasmus jene liberale Einstellung, die Beteiligung an und Beschränkung von politischer Macht vorsah. Er hatte die Welt der Bürger und Patrizier in London, Antwerpen und anderen großen Städten kennen gelernt. Er stand – als Freund und Geschäftspartner – auf vertrautem Fuß mit den gelehrten Buchdruckern in Venedig und Basel. Seine praktische Erfahrung ermöglichte ihm den Vergleich neuer ökonomischer Errungenschaften – wie des Buchdrucks – mit Einrichtungen der Vergangenheit, sowie das Überdenken des Verhältnisses zwischen der Wirtschaftsgesellschaft und dem Staat. Es wäre zu einfach und noch dazu irreführend, wenn man sich seine Überzeugungen aus seiner Klassenlage und seinen bürgerlichen Interessen erklären wollte. Gewiss, seine Frömmigkeit war geprägt durch den Laienmystizismus der holländischen Stadtgesellschaft, in der er aufgewachsen war. Aber sein ‚persönliches Interesse’ galt dem Entstehen der spirituellen Demokratie und der Zunahme christlicher Freiheit im Sinne seiner ebenso sokratischen wie christlichen Frömmigkeit. In seinen Analysen verschiedener Formen der sozialen Schichtung kommt eine entschiedene Sympathie mit den Armen und den unteren Mittelklassen

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zum Ausdruck.m Sie sind die eigentlich produktiven Klassen, deren Arbeit den Wohlstand der Gesellschaft erzeugt. Indem er sie in den Blick nimmt, findet er eine voll und ganz urbanisierte Bevölkerung, eine Welt vieler kleiner und mittelgroßer Städte, die klug und gerecht verwaltet werden, sodass Sicherheit und angemessener Wohlstand in allen Gesellschaftsschichten herrschen können. Dies lässt sich einfach erklären: Die Städte sind die Märkte für die reichlich vorhandenen landwirtschaftlichen Erzeugnisse, und sie importieren gerade so viel, wie für ein Gleichgewicht der Preise vonnöten ist. Erasmus pries den Charakter dieser Klassen. Die Arbeit als ihr Lebensnerv hat konstruktive Effekte auf ihr Verhalten und ihre wechselseitigen Beziehungen. Ein Beruf hält „die jungen Leute, solange sie mit seiner Erlernung beschäftigt sind, von vielen Schandtaten“ ab.n Arbeit trägt nicht selten dazu bei, den Menschen bescheiden und rücksichtsvoll gegenüber seinen Mitmenschen zu machen. Arbeit ist heilig, denn sie ist das Mittel, die Familie aufzubauen; heilig, weil mit ihr der Segen und das Glück des gleichberechtigten Zusammenlebens von Mann und Frau in der Familie einhergehen. Arbeit ist ein unentbehrliches Element des innerweltlichen Christentums. Um die evangelische Freiheit zu errichten und die Klippen zu umschiffen, die Wohlstand und Luxus für den Anspruch spiritueller Unabhängigkeit darstellen, ist sie ebenso bedeutungsvoll wie Genügsamkeit und Sparsamkeit. Erasmus hat nie aufgehört, die Eigenschaften des niederen Mittelstands zu preisen, wobei er sich allerdings der politischen Implikationen dieser seiner Begeisterung nicht bewusst war. In all seinen Schriften spricht er von den sozialen Beziehungen zwischen Mann und Frau, Freunden und Geschäftspartnern so, dass alle Unterschiede von Herrschaft und Status durch die Betonung gemeinsamer Arbeit im Dienste der Verwirklichung religiöser Werte nivelliert werden. Ihm schwebt eine demokratische Gesellschaft vor, die man ohne weiteres als christlich-soziale Demokratie bezeichnen kann. Große Sorge bereitete ihm die politische und soziale Lage der Mittelklassen angesichts des Zerfalls sozialer Ordnungen und sich ausbreitender

m Vgl. Desiderius Erasmus, „Institutio Principis Christiani. Die Erziehung des christlichen Fürsten“. In: Desiderius Erasmus, Dialogvs, Ivlivs exclvsvs e coelis. Julius vor der verschlossenen Himmelstür, ein Dialog – Institutio Principis Christiani. Die Erziehung des christlichen Fürsten – Querela pacis undique Gentum ejectae profligataeque. Die Klage des Friedens, der von allen Völkern verstoßen und vernichtet wurde. Ausgewählte Schriften, Bd. 5. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Gertraud Christian. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 111–357. n Ebd., S. 292–295.

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absolutistischer Institutionen. Ihm war die Notlage der Bauern und des städtischen Proletariats vertraut. Seine ganze Sympathie galt den Unterdrückten, auch wenn er für den Erhalt des Status quo argumentierte. Er war der Meinung, dass ein gewissenhafter Gelehrter nicht einer Revolution das Wort reden dürfe, die nur noch grausamere und tyrannischere Unterdrückung herbeiführen würde. Vielmehr sehnte er sich nach dem ausgestorbenen Geschlecht von Männern wie Brutus, denen in Zeiten des Despotismus eine besondere Rolle zukommt: Entgegen seiner persönlichen Vorlieben anerkannte er frank und frei, dass in einer verzweifelten Situationen die Revolution ein legitimes Mittel sein kann. Mit tiefer Anteilnahme verfolgte er das Aufbegehren der Bauern und Proletarier.o Ein französischer Kartäuser (im Dezember 1524) und der Syndikus der Sorbonne, Noël Béda (im Mai 1525), griffen ihn persönlich an und beschuldigten ihn, Anstifter religiöser und sozialer Unruhen zu sein.p Er sei verantwortlich für den Zerfall der Gesellschaft, weil er, so seine Kritiker, den libertinistischen Geist humanistischer Philosophie verbreite. Erasmus wies die Vorwürfe gelassen zurück und stellte klar die sozialen und politischen Motiven heraus, die den verzweifelten Aktionen der Aufständischen zugrunde lagen. Er zog es vor, die Herrschenden anzuklagen, statt das Volk zu tadeln. Er hatte von jeher den Verdacht, dass Aufstände den Feudalherren nur allzu gelegen kämen, weil sie dann ihre Tyrannei und Ausbeutung noch verschärfen konnten. Er war sich klar darüber, dass die deutschen Feudalherren sich jegliche Gelegenheit, die wohlhabenden städtischen Eliten zu unterwerfen und deren Besitztümer zu übernehmen, mit Freude zunutze machen würden. Ebenso wie in seiner Kritik an Luther finden sich hier bemerkenswerte Einsichten in die Eigenarten der Deutschen. Schon er stellte sich die Frage, wieso die Deutschen so viel tüchtiger in der harten Bestrafung von Verfehlungen sind als in deren weiser Verhütung. Im Kontrast zu solch einfühlsamen Betrachtungen steht Erasmus’ kritische Schilderung der bürgerlichen Elite, des Patriziats, der angesehenen Reichen. Zwar stimmte er mit Aristoteles darin überein, dass Reichtum ein Mittel der

o Vgl.

Desiderius Erasmus, „An Willibald Pirkheimer. 28. August 1525. Basel“. In: Erasmus von Rotterdam, Briefe. Verdeutscht und herausgegeben von Walther Köhler. Leipzig: Dietrich 1938, S. 355–356. p Vgl. ebd.; Desiderius Erasmus, „An die Theologische Fakultät zu Paris. 6. Februar 1526. Basel“. In: Erasmus von Rotterdam, Briefe. Verdeutscht und herausgegeben von Walther Köhler. Leipzig: Dietrich 1938, S. 363–364.

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Glückseligkeit ist,q kritisierte aber gleichwohl die zeitgenössische Rezeption des Römischen Rechts, weil sie die Absicherung von Geschäftsinteressen durch Regulierung und Quotierung zugunsten der Besitzenden betrieb. Er war der Ansicht, dass eine Kaufmannsgesellschaft durchaus Wagnis und Vernunft in Einklang bringe. Die neuen Formen des Zinses schienen ihm sinnvoll und er tadelte die Gruppierungen der Bankiers nicht, sondern erkannte an, dass sie ihre Praxis guten Gewissens vertreten könnten. Schließlich hat Christus nicht den geschickten und gescheiten Handel verboten, sondern nur die Tyrannei der Profitgier. Aber den gewagten internationalen Handel der Patrizier von Antwerpen verurteilte Erasmus, weil ihm die Auswirkungen, die diese außer Kontrolle geratenden ökonomischen Kräfte auf die einfachen Leute hatten, die allfällige ruchlose Ausbeutung der Massen durch Wirtschaftsmonopole, genau vor Augen stand. Was er beklagte, war nichts Geringeres als der freie Wettbewerb, der in den neuen Geschäftsfeldern herrschte, wo jeder ein Unternehmen gründen konnte, während das Gesetz nicht in der Lage war, das bereits bestehende Gewerbe zu schützen und die Frage des Bedarfs an Neugründungen nicht berücksichtigte. Erasmus’ Einstellung gegenüber dieser neuen Welt war typisch für einen konservativen Liberalen. Einerseits erkannte er durchaus die positiven und konstruktiven Züge der neuen Stadtgesellschaft: ihr Streben, die Natur unter Kontrolle zu bringen und eine bessere wirtschaftliche und soziale Welt zu schaffen. Veblen vorwegnehmend, bemerkte er andererseits, dass die neue Methode der kommerziellen bzw. Finanzspekulation von den materiellen Bedürfnissen des einfachen Volkes entkoppelt sei, mit dessen Lebensnotwendigkeiten ein gefährliches Spiel treibe. Auf solche Weise entsteht, nach Veblens Terminologie, eine neue „leisure class“.r Für Erasmus sind die neuen Reichen die schlimmste und zugleich die angesehenste soziale Gruppe – angesehen bei der politischen Elite, weil ihr Vermögen dazu gebraucht wird, den entstehenden Nationalstaat zu stabilisieren. Erasmus war bestürzt über diesen Aspekt der Wechselbeziehung zwischen Staat und Gesellschaft. Er sah eine kommende Spaltung der Gesellschaft in arbeitende Klassen auf der einen und den Zusammenschluss einer politisch-ökonomischen Machtelite auf der anderen Seite. Von dieser Ahnung beunruhigt, befürchtete er eine Konspiration von Adel und Reichen zur Ausbeutung des

q Aristoteles,

Die Nikomachische Ethik. Aus dem Griechischen und mit einer Einführung und Erläuterungen versehen von Olof Gigon. München: DTV 1991, S. 109–110. r Vgl. Thorstein Veblen, The Theory of the Leisure Class. An Economic Study of Institutions. London: Allen and Unwin, 1924.

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Volkes und zur Einsetzung eines absoluten Staates, der die bürgerlichen Freiheiten zerstören würde. Es war sich klar darüber, dass diese unheilige Allianz von Macht und Reichtum auch Auswirkungen auf die Außenpolitik haben müsse. Es gab zu viele Kriegshetzer, die nach Gewinn strebten und sich zugleich einer Kreuzzugsideologie bedienten, beispielsweise, indem der Zuckermarkt manipuliert wurde. Erasmus zog seine Schlüsse aus diesen Gegebenheiten und erklärte, darin gleichermaßen dem Marxismus wie Thomas Morus ähnlich, das politische Gemeinwesen sei nichts anderes als ein gigantischer Geschäftsapparat. Trotz seiner Illusionslosigkeit, was den Gang der politischen Entwicklung betraf, insistierte Erasmus auf den Eingriff der Regierung in sozioökonomische Angelegenheiten, um so den einfachen Leuten wenigstens einen minimalen Lebensstandard zu erhalten. Eines seiner Hauptanliegen war es, die Konsumenten vor der Ausbeutung durch Geschäftsleute, die auf verbrecherische Weise die Preise manipulierten, zu schützen. Der Staat muss hier schon aus rein utilitarischen Erwägungen: um gewaltsame Aufstände zu verhindern, intervenieren. Immer wieder verlangte Erasmus Preis-, Gewichts-, und Maßkontrollen, Kontrolle der Wirtschaftsverbände, der Marktvorgänge und der Lebensmittelqualität. Ohne eine solche Regulierung könne die Lage der einfachen Leute nur immer verzweifelter werden. Ebenso wichtig schien ihm eine allgemeine Steuerreform. Seit 1517 und bis zu seinem Lebensende lenkte er das Augenmerk der Herrschenden unablässig auf die beständige Gefahr eines Aufruhrs wegen der ungleichen Verteilung der Steuern, deren Löwenanteil die einfachen Leute zahlten.s Dem einsichtigen Herrscher empfahl er vier Maßnahmen: erstens, Einschränkung der Ausgaben für Hof und Krone; zweitens, eine kräftige Steuer auf importierte Luxusgüter, die von den Reichen getragen werden sollte; drittens, eine Steuer auf exzessive Gewinne, um der Konzentration des Reichtums in der Hand von wenigen vorzubeugen; viertens, eine geringe Besteuerung der lebensnotwendigen Güter wie Brot, Wein, Bier und Bekleidung, da es praktisch die Armen sind, die die schwerste Last von Konsumsteuern tragen – eine Last, die noch schwerer durch die vom Zweck der Selbstbereicherung getriebenen Machenschaften der Verfasser von Steuergesetzen wird, gegen die Erasmus seine Stimme erhob. Von seinen Feinden beschuldigt, die Autorität des Kaisers zu verletzen, wies Erasmus auf den Unterschied zwischen den Rechten eines Herrschers

s  Vgl.

Erasmus, „Institutio Principis Christiani. Die Erziehung des christlichen Fürsten“, S. 250–281.

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und den Verfehlungen seiner Verwaltung hin. Tapfer blieb er dabei, dass in der absoluten Monarchie das Volk in Form exzessiver Besteuerung vollkommen zerrüttet werde, und verwies auf die Tradition der Provinzen der Niederlande und Burgunds, wo keine Steuern ohne Zustimmung der Provinzialversammlung erlassen werden konnten. Überdies erinnerte er daran, dass Karl V. und dessen Bruder Ferdinand nie Einwände gegen seine Vorschläge zu einer Steuerreform erhoben hätten. Im Alter hat er seine Reformvorstellungen noch ausgeweitet. Im Rahmen seiner Überlegungen zu einem möglichen Krieg mit den Türken warnte er die Herrschenden davor, die Abgabenlast erneut zu erhöhen.t Die Armen, die durch Monopole und Steuern bereits ausgelaugt waren, sollten nicht auch noch die ganze Kriegssteuer tragen, was nur den Geist des Aufruhrs befördern würde. Die Herrscher können die Massen nur beschwichtigen, indem sie in ihrer eigenen Wirtschaft äußerste Sparsamkeit walten lassen und zusätzlich eine mäßige Besteuerung von Kirchengütern einführen. Erasmus antizipierte den modernen Liberalismus, indem er die Aufgaben des Staates auf Integration, Einigung und Schutz der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen begrenzte. Der Staat ist ein notwendiger Aspekt der Gesellschaft; sofern das politische Gemeinwesen sich an der Schaffung der Vorbedingungen geistiger Freiheit orientiert, erfüllt er Erasmus zufolge eine positive Funktion. Erasmus wusste genau, dass ein solches Postulat rein hypothetisch ist, und war (als Herausgeber der Historiae Augustae Scriptoresu) zu versiert in der Geschichte des römischen Kaiserreiches und in der Kirchengeschichte, um nur den geringsten Zweifel an der kollektiven Dynamik zu hegen, die institutionalisierte Macht entfaltet. Schon in der ersten Ausgabe des Enchiridion findet sich die besagte Lex Degenerandi, die für alle Institutionen gilt.v Er schildert darin, wie alle Institutionen notwendigerweise den Gesetzen der Expansion und der Macht folgen, um sich zu erhalten. Wie im Fall vieler seiner Einsichten hat er mit seiner Analyse der Macht das Vorbild für einen anderen Liberalen aus Basel geliefert, für Jakob Burckhardt.

t Vgl. u Vgl.

ebd., S. 352–353.

Historiae Augustae Scriptores. Herausgegeben von D. Erasmus. Basel: Froben 1518. Desiderius Erasmus, „Enchiridion militis christiani. Handbüchlein eines christlichen Streiters“. In: Desiderius Erasmus, Epistola ad Paulum Volzium. Brief an Paul Volz – Enchiridion militis christiani. Handbüchlein eines christlichen Streiters. Ausgewählte Schriften, Bd. 1. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Werner Welzig. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 55–375.

v  Vgl.

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Vor dem beschriebenen Hintergrund ist es nicht überraschend, wenn wir Erasmus – so wie Machiavelli – auf den Spuren der klassischen Tradition der politischen Philosophie finden, von Aristoteles vorbereitet und von Polybius und Cicero (in De Legibusw) fortgeführt, der zufolge eine gemischte Verfassung aus Monarchie und Republik die beste Form der politischen Verfassung ist. Die fundamentalen Unterschiede und letztlichen Ähnlichkeiten zwischen Machiavelli und Erasmus treten mit Blick auf die ständige Ambivalenz von Staat und Gesellschaft zutage. Für Erasmus war das Phänomen der Macht der Urgrund alles Bösen; für Machiavelli ist es die Grundlage alles Wirklichen. Der fundamentale Unterschied zu Machiavelli führt zum politischen Ideal der limitierten Monarchie oder der gemischten Verfassung. Als Berater Karls V. hat Erasmus seine Abscheu vor der absolutistischen Herrschaft unumwunden geäußert. Von den Adagiax bis zum Traktat über den Türkenkriegy im hohen Alter hat er Unvernunft und Egoismus der Monarchen immer wieder angeprangert. Über die sogenannten Heldenkönige bei Homer hat er sich nur lustig gemacht und die barbarischen Anwandlungen zeitgenössischer hoher Herren beklagt, die niemand für ihre Verantwortlichkeiten erzogen hatte. Die Feudalherren seien allerdings nicht besser als die Könige. Auch diese sind nur darauf aus, den Reichtum, den das Volk mit seiner Arbeit erzeugt hat, auszubeuten und zu vergeuden. Die Dynamik einer Macht, der ein geistiger Sinnhorizont mangelt, wird immerzu und unersättlich von einer Begierde zur nächsten treiben. Deshalb ist der Tyrann für Erasmus das Bild der ständig drohenden Gefahr einer Monarchie ohne Grenzen. Der Tyrann behandelt das Volk, als sei es sein Eigentum, erhebt sich selbst zum absoluten Herrn. Er verbreitet Furcht und sät Misstrauen und Verdacht. Das ist das Gesicht des Despotismus. Jede Form von Despotismus erniedrigt Erasmus zufolge die Menschen, zerstört ihre Würde. Wie die Anarchie steht er jenseits der Grenzen politischer Institutionen. Wahre politische Macht

w Marcus Tullius Cicero, De legibus. Herausgegeben von Konrat Ziegler. Heidelberg: Kerle 1950. x  Vgl. Desiderius Erasmus, „Adagiorum Chiliades (Adagia Selecta). Mehrere tausend Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten (Auswahl)“. In: Desiderius Erasmus, Ciceronianus sive De optimo dicendi genere. Der Ciceronianer oder der beste Stil. Adagiorum Chiliades (Adagia Selecta). Mehrere tausend Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten (Auswahl). Ausgewählte Schriften, Bd. 7. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Theresia Payr. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 357–633. y Vgl. Desiderius Erasmum Roterdamum, Utilissima Consultatio De bello Turcis inferendo, & obiter enarratus Psalmus XXVIII. Basileae: Froben 1530.

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aber ist niemals Herrschaft, sondern bedeutet Verwaltung – fast im Wortlaut finden wir bei Erasmus diesen Gedanken des liberalen Soziologen Max Weber.z Erasmus’ Vorschläge zur Kontrolle von Willkür und despotischen Neigungen sind eher soziologischer als politischer oder juristischer Natur. Er ist weder ein Machiavelli noch ein Montesquieu, denn sein Hauptanliegen ist nicht die Welt der säkularen Institutionen, sondern die Res Christiana. Allerdings weiß er, dass soziale Bündnisse die Macht im Staat ausbalancieren können. Deshalb schlägt er vor, dass sich, erstens, die Stadtstaaten mit der industriellen Klasse zu einer entente cordiale verbünden sollen, um die Tyrannei der Feudal- und Militärklassen in die Schranken zu weisen. Zweitens will er die politische Macht durch konstitutionelle Bande reduziert wissen. Eine gemischte Verfassung ist die weiseste Form der Regierung, weil sie der grundlegenden Wechselseitigkeit sozialer Beziehungen sowie dem andauernden Problem, einen Einklang zwischen Individuum und Kollektiv zu finden, am ehesten Rechnung trägt. Die Verfassung soll auf wechselseitigem Konsens von Herrschern und Beherrschten begründet sein. Fürst und Volk sollen einander achten und sich auf den guten Willen des jeweils anderen verlassen können. Indem Erasmus die Ideen der Gegenseitigkeit und des Konsensus einführt, überträgt er seine Vorstellung einer spirituellen Demokratie in die politische Sphäre. Herrschaft und Freiheit sollen so zwischen den sozialen Schichten aufgeteilt sein, dass sie die Harmonie des Ganzen sichern. Zu diesem Zweck sollten intermediäre Gruppen ins Leben gerufen und sollten bestimmte politische Aufgaben der lokalen Selbstverwaltung anheimgestellt werden. Wie erwähnt, folgt Erasmus mit diesen Vorschlägen einer klassischen Überlieferung. Allerdings handelt es sich hier ebenso wenig wie im Fall seiner entlarvenden Analysen der sozialen und politischen Eliten um Bücherweisheiten, sondern um Realitäten. Machiavelli hatte sich mit dem Thema der gemischten Verfassung auf Frankreich bezogen.a' Erasmus hätte seine Ideen mit dem Hinweis auf die Autonomie der Provinzen der Niederlande im Habsburger Reich illustrieren können, die hier ein nahezu eigenständiges politisches Gemeinwesen

z Vgl.

Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Zweite, vermehrte Auflage. Herausgegeben von Marianne Weber. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1925, S. 125–130. a' Vgl. Niccolò Machiavelli, Der Fürst. Übersetzt, eingeleitet und erläutert von Rudolf Zorn. Mit einem Geleitwort von Herfried Münkler. 7., aktualisierte Auflage. Stuttgart: Kröner 2016, S. 6–16.

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bildeten: Die Exekutivgewalt lag in den Händen des Kanzlers von Burgund, den die Provinzialstände, denen die adligen Familien angehörten, wählten und stützten. Die Generalstände repräsentierten das gesamte Volk. Als Delegierte der Provinzen bestimmten sie die Steuern für das gesamte Gemeinwesen. Ein derartiges System aus checks and balances verhindert sowohl Anarchie als auch Tyrannei. Zugrunde lag ihm das allgemeine Modell der mittelalterlichen Verfassungen, die auf wechselseitigen Verpflichtungen von Herrschern und Ständen beruhten: Der Herrscher leistet den Eid, die Rechte und Freiheiten der Stände zu wahren, und diese versprechen, das Gemeingut zu schützen. Als die Niederländer sich gegen die Spanier erhoben, handelten sie als echte Erasmier; denn Philipp II. hatte sein Gelöbnis gebrochen und damit die konstitutionellen Grenzen überschritten. Eine weitere Quelle für den Liberalismus des Erasmus stammt aus der religiösen Sphäre und ist geprägt durch die wechselseitige Abhängigkeit und das Zusammenwirken der Freiheit des einzelnen Christenmenschen und der Autorität der Kirche. Beide zusammen sorgen dafür, dass das Leben der Christenheit seinen Lauf nimmt. Auch hier, mit Blick auf die Organisation der Ecclesia, ist es eine Mischung monarchischer, aristokratischer und demokratischer Elemente, an der Erasmus sein Denken orientiert; die Institution soll gewährleisten, dass der einzelne Mensch Schutz und Führung hat, um zu sich selbst finden zu können. Der Einzelne muss über die Institutionen wachen, auf dass diese sich nicht zum Selbstzweck werden. Als Einzelner hat er wiederum – selbstverständlich – ebenfalls seinen Zweck nicht in sich, sondern ist Repräsentant göttlichen Sinns, dessen Reich er ausweitet, indem er geistige Freiheit ausbildet. Erasmus’ Denken kreist um die Res Christiana, die Maß für alle gesellschaftlichen Beziehungen, alle sozialen Institutionen ist. Eine gemischte Verfassung bedeutet für Erasmus nichts anderes als diejenige politische Form, die der spirituellen Person die Freiheit der Hingabe an die geistlichen Güter ermöglicht. Ein charakteristischer Aspekt des spirituellen Liberalismus Erasmus’ ist, dass er von den politischen Regenten fordert, asketisch zu leben, um so ihrer Stellung in der Welt in angemessener Weise gerecht zu werden. Die Gründe hierfür sind ganz pragmatisch. Breite Bewegungen, die sich um mystisch orientierte Laienprediger gebildet haben, welche freiwillige Askese anmahnen, um auf diese Weise das Christentum zu einer umfassenden Lebensform umzuschaffen, zeugen davon, dass die einfachen Leute den Respekt vor dem professionellen Asketizismus der Mönche verloren haben. Der Fürst aber ist der höchste Repräsentant der Gesellschaft, an dessen Gebaren der Konsensus des Volkes und die Einheit des Staates hängen. Er unterliegt denselben Gesetzen, die für seine Untertanen gelten; aber seine Verantwortung für das moralische Gesetz überwiegt

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ihre, weil es seine Pflicht ist, das Los der Gesamtheit zu verbessern.b' Er vollzieht ein ‚weltliches Golgatha’, wenn er als Herrscher entscheidet und handelt. Deswegen kann der christliche Fürst sein weltliches und sein geistiges Tun nicht voneinander trennen – die Wahrheit Christi zeigt sich in unseren Taten. Es ist das Vorrecht des Fürsten, durch seine asketische Lebensführung das Muster der unsichtbaren Einheit von weltlichem und geistlichem Leben zu setzen. In seinem Brief an Franz I. verwendet Erasmus das alte Bild von den zwei Schwertern zur Umschreibung der Pflichten des Herrschers.c' Er meint damit jedoch nicht die alte Zwei-Schwerter-Lehre, sondern, da ihm juristisches Denken fremd ist, die subjektive und die objektive Seite der Teilhabe an Christus. Der Herrscher, der das Segensschwert trägt, hat die Pflicht, für die objektiven Güter Christi zu wirken und sie zu verteidigen: Friede, Eintracht und Aussöhnung. Das vornehmste Beispiel christlicher Freiheit ist ein Herrscher, der sich ganz der Pflicht zur väterlichen Sorge für sein Volk hingibt, ja sich ihr unterwirft. Dies ist der objektive Aspekt von Erasmus’ spiritueller Theorie der Politik. Es bleibt die subjektive Seite dieser Theorie: die subjektive Pflicht des Herrschers zur Nachfolge Christi. Der weltliche Herrscher soll in Form der Imitatio Christi leben, um auf den Konsensus von Herrscher und Beherrschten hinsichtlich der spirituellen Bedeutung der Ordnung des gesellschaftlichen Lebens hinzuwirken. Erasmus errichtet mit diesem sozialen Spiritualismus eine Barriere gegen die Irrationalität menschlicher Leidenschaften, die nach der Befriedigung persönlicher oder kollektiver Egoismen strebt. Der Herrscher als Heiliger ist ein Postulat des Erasmus, das das Verhältnis der zeitlichen und der überzeitlichen Sphäre in eine neue Dimension überführt. Dies ist nicht mehr die Tradition der mittelalterlichen politischen Philosophie, die sorgfältig die Reiche der Politik und der Ecclesia voneinander schied, sondern eine neue Haltung zur Welt. Der soziale Spiritualismus überwindet den Dualismus zwischen geistlichen und weltlichen Belangen, der das Mittelalter prägte. Er betont die untrennbare Einheit von Religion und Welt, die in Form christlicher Praxis allen sozialen Institutionen innewohnt. Fürsten, Klerus und christliches Volk ordnen sich nicht in einer Hierarchie, sondern zu einer Republik, weil Christus die Mitte des gesellschaftlichen Ganzen bildet und die Vielfalt der Funktionen zur Einheit des lebendigen Handelns der Gesellschaft integriert. Alle

b' Vgl.

Erasmus, „Institutio Principis Christiani. Die Erziehung des christlichen Fürsten“. Desiderius Erasmus, „An Franz I. von Frankreich. 1. Dezember 1523. Basel“. In: Erasmus von Rotterdam, Briefe. Verdeutscht und herausgegeben von Walther Köhler. Leipzig: Dietrich, 1938, S. 323–324. c' Vgl.

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Angehörigen dieser Republik sollen ihre Aufgaben im lebendigen Geist Christi erfüllen, der Friede, Eintracht und Versöhnung ist. Erasmus’ Hauptanliegen ist es zu zeigen, dass Friede das Telos der Schöpfung ist, weil dies der innerste Sinn des Christus und des Logos zugleich ist. Friede ist kein sozialer Zustand, sondern ein ständiger Prozess, ein Problem, das sich allen sozialen Gruppierungen immer wieder neu stellt. Erasmus hat die Bedingungen des Friedens auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens erhellt.d' Er analysierte die Beziehungen unter Freunden, zwischen Mann und Frau, in einer Geistlichkeit voll der Meinungsverschiedenheiten, zwischen Herrschern und Beherrschten. In allen diesen Fällen lautet sein Schluss, dass Friede geschlossen werden kann, wenn hinreichend Klugheit und Weisheit vorhanden sind, um einander mit wohlwollendem Verständnis begegnen zu können. Eine solche Verständigung zu schaffen obliegt der Seite, die über den größeren pädagogischen Eros verfügt. Vor dem beschriebenen Hintergrund fokussierte Erasmus all seine Untersuchungen zu sozialen und politischen Fragen auf das Problem von Krieg und Frieden, das Grundproblem aller Beziehungen, ob zwischen Einzelnen oder zwischen Kollektiven. Er behandelte es mit Blick auf die Kirche, den Staat und soziale Institutionen. Dabei identifizierte er drei Motive, die dazu führen, dass in einem Ausnahmezustand zu den Waffen gegriffen wird. Heftig setzte er sich gegen den Vorwurf zur Wehr, er habe einem totalen Pazifismus das Wort geredet; vielmehr ließ er nie darin nach, die Gründe und Antriebe, die den Frieden störten und Kriege entstehen ließen, zu untersuchen. Dabei verfuhr er mit der gleichen Umsicht und Illusionslosigkeit, wie anlässlich seiner Analyse sozialer und politischer Institutionen. Einen reinen Verteidigungskrieg zur Abwehr einer Invasion ließ er gelten. Widerstrebend billigte er überdies den Krieg gegen die Türken, sofern er dem Überleben der christlichen Zivilisation und der Verbreitung der christlichen Religion dienen würde. Mit Blick auf diesen letzten Aspekt führte er eine dritte Kategorie zu billigender Kriege ein, die er für bedeutsam hielt, auch wenn er sie anscheinend auf vorchristliche Gesellschaften

d' Vgl. Erasmus, „Institutio Principis Christiani. Die Erziehung des christlichen Fürsten“, S. 328–357; Desiderius Erasmus, „Querela pacis undique Gentum ejectae profligataeque. Die Klage des Friedens, der von allen Völkern verstoßen und vernichtet wurde“. In: Desiderius Erasmus, Dialogvs, Ivlivs exclvsvs e coelis. Julius vor der verschlossenen Himmelstür, ein Dialog – Institutio Principis Christiani. Die Erziehung des christlichen Fürsten – Querela pacis undique Gentum ejectae profligataeque. Die Klage des Friedens, der von allen Völkern verstoßen und vernichtet wurde. Ausgewählte Schriften, Bd. 5. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Gertraud Christian. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 359–451.

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beschränkte. Er spricht vom Krieg zivilisierter Nationen gegen Barbaren als einer legitimen politischen Praxis. Er exemplifiziert dies anhand paganer Kaiser, die mühelose, unblutige Kriege führten und die Besserung der sozioökonomischen Lage der Besiegten bewirkten. Die Milde des Siegers beschwichtigte mitunter den Groll der Besiegten und erhöhte deren Lebensstandard. Erasmus erwähnt diese letzte Kategorie hauptsächlich, um deutlich zu machen, dass keiner der drei Fälle des zu billigenden Krieges für die christlichen Fürsten der vorangegangenen beiden Dekaden eine Rolle gespielt hatte. Die Motive, die tatsächlich militärische Konflikte zwischen den Staaten ausgelöst haben, klassifizierte er wie folgt. (1) Die persönlichen Motive der Herrscher spielen immer noch eine wichtige Rolle; Ruhm und Ansehen der Monarchen, der Vorrang der eigenen Person und Stolz, aber auch Minderwertigkeit und Ressentiment, tragen häufig zum Entstehen von Kriegen bei. (2) Der Eigennutz der königlichen Ratgeber kann Kriege heraufbeschwören; die Militärs ebenso wie junge Höflinge, die Karriere machen wollen, werden den Krieg immer schätzen. (3) Juristische Berater und gelehrte Staatsmänner neigen dazu, Verträge und Bündnisse immer wieder neu zu interpretieren; sie sind von der Idee der Expansion besessen, die eher ein Symptom von Furcht und Unsicherheit als von Stärke und Wettbewerbsorientierung ist. Erasmus weiß, auch wenn er es nicht ausdrücklich sagt, dass solche Männer der Logik der Politik unterliegen. Sie behaupten, die Naturgesetze, die Gesetze der Gesellschaft, die Sitten oder Bräuche seien es, die sie nötigten, auf Gewalt mit Gewalt zu erwidern, um das Leben zu verteidigen oder das Geld, das manchen Leuten ebenso teuer wie das Leben selbst ist. Erasmus ist bereit zuzugestehen, dass solche Argumente für pagane Staatsmänner zutreffen mögen, aber er bestreitet, dass sie in die christliche Welt gehören. Er weigert sich, die logische Notwendigkeit der Expansion anzuerkennen, da sie, wird sie erst einmal für notwendig gehalten, zu einem Schrecken ohne Ende führt. Er versucht, das Pragma der Macht auf psychologische Motive wie Angst, Zorn und Ehrgeiz zurückzuführen, sieht allerdings zugleich sehr klar, dass es daneben Motive gibt, die sich nicht auf Individualpsychologie reduzieren lassen. (4) Die Elite führt Krieg, um die Gesellschaft zu spalten, sie ohne Widerstand unterdrücken und ausbeuten zu können. (5) Dem vergleichbar, dient nichts der Absicherung einer Despotie besser, als ein siegreicher Krieg, da er die materielle und sittliche Macht des Despoten und seines Militärs steigert. Es sind solche inneren Angelegenheiten, die sich nicht auf Fragen der Individualpsychologie zurückführen lassen; sie sind rein soziologischer Natur. (6) Schließlich gilt, dass blühende Staatswesen und gedeihende Gesellschaften eine unheimliche Anziehungskraft auf kriegslüsterne Nachbarn ausüben, wie es bei Frankreich zweimal in zwölf Jahren der Fall war.

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Erasmus’ kritische Analyse entstand aus einer weitgespannten Beobachtung der ihn umgebenden Welt. Er war gut bekannt mit Regenten und deren Beratern. Viele Erasmier waren in führenden Positionen und vermittelten ihm Informationen über die staatlichen Angelegenheiten, die er begierig aufnahm. Dieses Wissen desillusionierte ihn ebenso hinsichtlich der Wege der Politik wie hinsichtlich der Staatsmänner, die sie beschritten. Tatsächlich entwickelte bereits er all jene soziologischen Theorien über militärische Expansion, die man seit der Entstehung der Sozialwissenschaft als einer eigenständigen Disziplin ausgearbeitet hat. Trotz seiner Überzeugung, dass der autonome Staat in sich schlecht ist, war Erasmus kein Defätist; allerdings konnte er auch nicht der optimistische Mann der Aufklärung sein, als der er häufig dargestellt wird. Jedenfalls war er ein Reformer, der indes nie geglaubt hat, dass seine Traktate über politische und soziale Fragen irgendeinen Einfluss auf die Fürsten und Herrscher gewinnen könnten, an die sie gerichtet waren. Er wusste jedoch genau, dass seine Ansichten, wenn sie publik würden, gelehrte Ratsmitglieder und zivile Staatsleute in ihrer Position und in ihrem Tun stärken würden und so dazu beitragen könnten, dass auf dem Weg des Kompromisses faire Abmachungen entstehen. So hat der Soziologe zu bemerken, dass eine seiner weitreichenden Leistungen die Begründung einer Art öffentlicher Meinung in den Reihen der gelehrten und gebildeten Schichten ist – ein bemerkenswerter Beitrag zur Demokratie, der anhand seiner verschiedenen Vorschläge zur Verhinderung von Kriegen und zur Einrichtung eines verbindlichen, dauerhaften Friedens sichtbar wird. Diese Ideen reichen von der Neubetrachtung rechtlicher und politischer Gepflogenheiten über Fragen einer Beeinflussung der öffentlichen Meinung bis hin zur Erbauung der Stimmungen der einfachen Leute. Erstens verabscheute Erasmus die Rolle, die Juristen in der Außenpolitik spielen. Sie missbrauchen den Geist der Gesetze, indem sie Worte verdrehen, und scheuen nicht einmal davor zurück, Dokumente zu fälschen, um ihren Anträgen den Schein der Rechtmäßigkeit zu verleihen. Sie haben sich ihren politischen Herren vollständig unterworfen. Beim Abfassen von Verträgen verwenden sie juristische Formulierungen, um ihre eigentlichen Zwecke zu verbergen und zukünftige Forderungen vorzubereiten; sie rationalisieren Angst und Misstrauen gegenüber solchen Dokumenten. Deshalb möchte Erasmus so wenige Verträge und Bündnisse wie möglich, ist doch deren psychologischer Effekt ein Gefühl der Unsicherheit bei den Vertrags- und Bündnispartnern. Zweitens machte er eine bestimmte Art von Verträgen verantwortlich für eine ganze Reihe von Kriegen:

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politische Heiraten, die er missbilligte.e' Immer wieder führen sie zu Konflikten um Nachfolge und Erbschaft, weswegen er sie abgeschafft sehen möchte. Drittens wünscht er, dass die Fürsten sich mit gelehrten und verantwortungsbewussten Zivilisten umgeben, die fähig sind, den Einfluss ehrgeiziger Generäle und junger Höflinge, die um ihrer Karriere willen immer für einen Krieg zu haben sind, zu hemmen. Solche Ratgeber könnten den guten Willen des Fürsten auf die sozioökonomischen Probleme im Volk lenken, die zu verringern zugleich die Wirtschaftskraft des Staates steigern würde. So würden denn auch schließlich die Fürsten einsehen, dass die innere Prosperität gegenüber außenpolitischen Abenteuern vorzuziehen ist. Erasmus’ gewichtigster Vorschlag lautet, keinen Krieg zu führen, der nicht einmütig vom Volk gebilligt wird. Dieser Gedanke ist im höchsten Maß kennzeichnend für seinen politischen Standort, der so häufig missverstanden wird. Wenn auch ‚Volk‘ hier nicht im Sinne der modernen Massendemokratie zu verstehen ist, so bedeutet es doch immerhin die Vollversammlung der Stände, die nach Maßstäben des 16. Jahrhunderts jedenfalls eine demokratische Einrichtung darstellt. Dieser Vorschlag trägt einen konstruktiven Charakter; ergänzt wird er durch einige Einschränkungen, denen ebenfalls eine positive Haltung zugrunde liegt. Wenn ein Krieg unvermeidlich ist, soll er so geführt werden, dass die größte Unbill den Führer der Partei trifft, die den Anlass gegeben hat. Erasmus weist wiederholt darauf hin, dass die Unschuldigen und Friedfertigen im Krieg am meisten zu leiden haben: Grundbesitzer und Gewerbetreibende, Handwerker und Ackerbauern. Diejenigen dagegen, die ein materielles Interesse am Krieg haben, Höflinge, Fürsten und Bankiers, sind in Sicherheit und werden an ihm reich. Diese Leute vergessen nur allzu gern, dass man den Frieden erkaufen kann, indem man auf die gerechte Sache setzt, gegebenenfalls um des zukünftigen Wohlergehens und Vorankommens des Volkes willen auch mit einem ungerechten Gegner Kompromisse schließt. Im Besonderen beunruhigten Erasmus die Propagandatechniken, mit denen die Kriegstreiber das Volk aufhetzten und Hass gegen Feinde säten. Das Götzenbild einer nationalen Ehre war ihm ein Ärgernis. Zwar nahm er als Selbstverständlichkeit, dass überall die Menschen die eigenen Sitten und Bräuche für natürlich, dagegen diejenigen der Fremden für seltsam und drollig halten. Aber ebenso gut weiß er auch, dass sie daraus keinesfalls notwendig den Schluss

e'  Erasmus, „Institutio Principis Christiani. Die Erziehung des christlichen Fürsten“, S. 316–321.

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ziehen, den anderen überlegen zu sein. Die einfachen Leute überall sind sich bewusst, dass es der böse Wille der Herrschenden ist, der sie leiden macht. Das Phantom der nationalen Ehre ist von Fürsten und Höflingen erfunden worden, um ihre eitlen Ambitionen und die Geschicke eines sonst friedliebenden Volkes ineins zu setzen. Erasmus ist viel zu feinsinnig in Fragen der Sprache, um nicht bestürzt deren Manipulation zu Zwecken des Entfachens bestimmter Stimmungen zu bemerken. Er erwähnt einen speziellen Fall, in dem wir die Antizipation von Methoden erkennen, die die Nazis gegenüber Frankreich und England anwendeten – offenbar seitens der Bürokratie der Spanischen Niederlande, die die nationale Einheit Frankreichs zerschlagen wollte. Diese Kriegstreiber versuchten, die Zivilbevölkerung in einem Gebiet des nordwestlichen Frankreich zu verwirren, indem sie sie unter Bezug auf historische Ursprünge als Deutsche ansprachen. Erasmus verachtet diese Art der Kriegsführung und fordert ihre Abschaffung, empört sich dagegen, dass friedfertige Leute zum Opfer der Raffinessen amtlicher Kriegstreiber und Propagandachefs werden. Seine Formulierung weist den Weg zu zeitgenössischen Inhaltsanalysen: „Mit falsch angewendeter Mühe suchen [einige, die auf einen Krieg versessen sind] Handhaben für Konflikte, sie teilen Frankreich und trennen nach künstlichen Namen, was weder Meere noch Berge noch die echten Namen der Landschaften trennen. Aus Franzosen machen sie Deutsche, damit nicht aus dem gemeinsamen Namen Freundschaft entstehe.“f' Schließlich richtet Erasmus sein Augenmerk auf Kirche und Klerus, deren Gebaren für einen lauteren Erzieher der Menschheit, wie Erasmus es war, den schwersten Schlag bedeutete. Päpste und hohe kirchliche Würdenträger haben Kriege geführt und angezettelt, anstatt die Widersacher zu versöhnen. Vergleichbar den auf Kriegskarrieren erpichten Höflingen waren junge Priester um ihres Aufstiegs willen begierig auf das Amt eines Feldgeistlichen. Ohne gesetzlichem Zwang unterlegen zu sein, unterwarfen sie sich vorbehaltlos dem Staat und predigten Christus, der im Ergebnis auf jeder Seite des Schlachtfeldes stand. Erasmus erklärt diese perverse Erscheinung soziologisch. Die Kirche, verstanden als Gemeinwesen, ist das Opfer ihrer eigenen imperialistischen Übergriffe auf die politische Welt geworden. Die Geistlichkeit konnte dem Verkehr mit der Welt nicht ausweichen; sie konnte nicht vermeiden, auch solche Güter anzuhäufen und zu horten, die die Welt für kostbar hält. Schrittweise haben auf diesem

f' Desiderius

Erasmus, „Querela pacis undique Gentum ejectae profligataeque. Die Klage des Friedens, der von allen Völkern verstoßen und vernichtet wurde“, S. 431.

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Weg die Männer der Kirche, selbst die Ordensleute in ihren Rückzugsorten, sich Umgangsformen angeeignet, die einer Welt entstammen, in der antagonistische ‚erworbene Rechte‘ aufeinanderprallen – mit dem Ergebnis des Entstehens gewalttätiger Konflikte zwischen Institutionen des Christentums. Erasmus hat nie sein Erlebnis des triumphalen Einzugs des siegreichen Julius II. in Bologna, gekleidet in schimmernde Wehr, vergessen.g' Es ist die heilige Pflicht von Päpsten und Klerus, zeitliche und ewige Werte nicht zu vermengen, vielmehr stetig an der Verwirklichung der christlichen Liga zu arbeiten, indem sie ihre Dienste als uneigennützige Schiedsrichter zur Verfügung stellen. Dieser Vorschlag richtete sich an den Heiligen Stuhl und die Diplomatie des hohen Klerus. Weitere Vorschläge des Erasmus richten sich an den einheimischen Klerus in den unabhängigen Staaten. Er war der festen Überzeugung, dass es Herrscher und Volk tief beeindrucken, sie zum Nachdenken über die Möglichkeit des Führens eines Krieges bringen würde, wenn die einheimische Geistlichkeit, statt die Waffen zu segnen, eine Beerdigung der Gefallenen in geweihter Erde verweigern würde. Die Geistlichkeit soll Kriegsromantik und Nationalstolz ihres falschen Scheins entkleiden. Wenn sie den Kriegstrophäen den geistlichen Segen versagte, würde ihr dies ein Leichtes sein: „Jetzt aber werden die bluttriefenden Trophäen derer, für deren Heil Christus sein Blut vergossen hat, in den Kirchen zwischen den Statuen der Apostel und Märtyrer aufgestellt, als ob es von nun an ein Zeichen der Frömmigkeit sei, nicht etwa Märtyrer zu werden, wohl aber zu Märtyrern zu machen. Es wäre Auszeichnung genug, sie auf dem Marktplatz oder in einem Zeughaus aufzubewahren. Es ziemt sich nicht, daß in die heiligen Kirchen, denen es zukommt, ganz rein zu sein, etwas aufgenommen werde, was mit Blut besudelt ist.“h'

g' Vgl. Desiderius Erasmus, „An Servatius Roger. 4. Nov[ember] 1506. Florenz“. In: Erasmus von Rotterdam, Briefe. Verdeutscht und herausgegeben von Walther Köhler. Leipzig: Dietrich, 1938, S. 86–87; Desiderius Erasmus, „Dialogvs, Ivlivs exclvsvs e coelis. Julius vor der verschlossenen Himmelstür, ein Dialog“. In: Desiderius Erasmus, Dialogvs, Ivlivs exclvsvs e coelis. Julius vor der verschlossenen Himmelstür, ein Dialog – Institutio Principis Christiani. Die Erziehung des christlichen Fürsten – Querela pacis undique Gentum ejectae profligataeque. Die Klage des Friedens, der von allen Völkern verstoßen und vernichtet wurde. Ausgewählte Schriften, Bd. 5. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Gertraud Christian. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 1–109. h' Erasmus, „Querela pacis undique Gentum ejectae profligataeque. Die Klage des Friedens, der von allen Völkern verstoßen und vernichtet wurde“, S. 427.

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Solche Vorschläge bezeugen den Willen des Erasmus, in pragmatischer Weise einen Beitrag zur Lösung des fundamentalen Problems von Krieg und Frieden zu leisten. Er hat immer wieder betont, dass sein relativistischer Pazifismus eine Konstituente seines politischen Denkens und seiner spiritualistischen Lehre vom Menschen ist. Beim Problem des Krieges geht es in erster Linie nicht um ein juristisches Phänomen, sondern um ein Phänomen der menschlichen Sittlichkeit. Verglichen mit einem ungerechten Frieden ist ein gerechter Krieg die Hölle, ist doch Krieg jedenfalls das verabscheuungswürdigste Verbrechen. Denn er untergräbt die Moral und die religiösen Maßstäbe von Siegern und Besiegten gleichermaßen. Wirtschaftlich gesehen ist er eine Katastrophe für beide Seiten. Schließlich und endlich ist er das größte Desaster für die einfachen Leute, für die Christus sein Blut ebenso vergossen hat wie für die Reichen und die Fürsten. Deshalb wird ein Herrscher der nobel, oder wird ein Fürst, der mitfühlend ist, Beleidigungen und Verletzungen ignorieren, auf dass Wohlergehen und Seelenfrieden seiner Untertanen erhalten bleiben. Dieser Herrscher und jener Fürst sind sich wohl bewusst, dass es in einer christlichen Welt keine Herrschaft, sondern höchstens patriarchale Verwaltung geben kann. Fürst und Volk sind geeint durch gegenseitiges Vertrauen, weil sie gemeinsam in einer Welt christlicher Freiheit leben, zur Teilhabe an der jedes Menschenwesen berufen ist. Die Demokratie des Geistes ist die Basis politischer Demokratie. Erasmus’ Analysen verschiedener sozialer Schichten erhellen uns seine religiösen Absichten. Seiner Ansicht nach ist die Verantwortung der herrschenden Elite für die Sicherung des Lebensstandards der Mittelklassen, da sie diesen die Möglichkeit einer christlichen Lebensführung eröffnet, zuerst spirituelle Verantwortung. Es ist bezeichnend, dass Erasmus das, was mittelalterliche Autoren politische Pflichten nennen, als religiöse Pflichten bestimmt. Selbstverständlich trifft es zu, dass alle sozialen Regeln – so wie wir sie bei Erasmus finden – sich an philosophischen Werken vergangener Zeiten orientieren. Nur hat sich der Bezugsrahmen verändert. Erasmus lehnt die Arbeitsteilung zwischen der Kirche und dem Laienstand ab. Die Laien sollen im Hier und Jetzt, in den alltäglichen Abläufen, daran mitwirken, der Lehre und dem Vorbild Christi Geltung zu verschaffen. Dies setzt eine Gesellschaftsordnung voraus, zu deren unverzichtbaren Bestandteilen das demokratische Element zählt, wie auch immer Status und Autorität verteilt sein mögen. Seine Untersuchungen über die Lage der Gesellschaft und ihrer Institutionen führten Erasmus zu dem Schluss, dass sich eine neue Form von Zwangsordnung anbahne. Diese Gefahr gehe jedenfalls von der stärksten Form organisierter Macht aus – etwa von Fürsten, die reich genug wären, starke Armeen anzuwerben, um mit diesen eine Militärdespotie zu errichten. Dies wird das Ende

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politischer und bürgerlicher Freiheiten sein, ebenso das Ende der Stände und des politischen Konsensus. Nicht länger ein politisches Gemeinwesen wird dies sein, weil der Zustand der Despotie, nicht anders als der der Anarchie, ein Zustand jenseits der Grenzen einer rationalen politischen Verfassung ist. Dieser neue Regierungstypus lässt sich nur mit dem römischen Prinzipat oder dem Regime der Militärkaiser vergleichen. Erasmus hat seine Einsichten über die düstere Logik, die mit der Autonomie sozialer Institutionen einhergeht und im Allgemeinen dort zu finden ist, wo kollektiver Druck ausgeübt wird, in einem gewichtigen Wort zusammengefasst, das deutlich anders klingt als die gelassene Formulierung, mit der er dieselbe soziologische Regel im Lob der Torheit zum Ausdruck bringt;i' es ist bedeutsam, dass er dieses Wort im Rahmen eines theologischen Kommentars verwendet: „Habet & hic mundus ordinem suum, quem non expedit à nobis perturbari“j' – „Auch hier hat die Welt ihre eigene Ordnung, mit der man besser nicht in Konflikt gerät“ – so lautet seine Schlussfolgerung. In Lehrbüchern zur Geschichte politischer und sozialer Ideen wird Erasmus nicht erwähnt. Dies ist nachvollziehbar, war doch sein Hauptanliegen die Res Christiana: der Zusammenschluss und das Einswerden der geistigen und der sozialen Sphäre, die Einrichtung einer christlichen Lebensform, die zur christlichen Freiheit hinführt. Diese letzte heroische Anstrengung, die die christliche Welt unternommen hat, ist durch die puritanische Revolution endgültig erstickt worden. Was blieb, war eine Form politischen und sozialen Denkens, die die Grundlage der modernen Demokratie und des modernen Liberalismus ist. Angesichts dessen ist es bedauerlich, dass heutige Darstellungen der Geschichte sozialer Ideen Erasmus und seinen sozialen Spiritualismus mit Schweigen übergehen. Tatsächlich, dies ist sogar ein schwerwiegendes Versäumnis, belegt doch Erasmus, dass die Freiheit vom Despotismus – demokratische und individuelle Freiheit – eine schöpferische Kraft als Freiheit für den Dienst an

i' Vgl. Desiderius Erasmus, „Mωρίας Eγχώμιον sive Laus Stultitiae. Das Lob der Torheit“. In: Desiderius Erasmus, Mωρίας Eγχώμιον sive Laus Stultitiae. Das Lob der Torheit – Carmina Selecta. Auswahl aus den Gedichten. Ausgewählte Schriften, Bd. 2. Übersetzt von Alfred Hartmann. Eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Wendelin SchmidtDengler. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 1–211. j' Desiderii Erasmi Roterodami, „In epistolam d. Pauli ad Timotheum priorem paraphrasis“. In: Desiderii Erasmi Roterodami, Paraphrases in Novum Testamentum. Opera omnia emendatiora et auctiora, Bd. 7. Lugduni-Batavorum: Cura & impensis Petri Van Der Aa 1706, Sp. 1033–1056, hier Sp. 1040.

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den höchsten Gütern und geistigen Idealen entfaltet. Erasmus hat gewusst, dass jede soziale Institution sich leicht zu despotischer Praxis umstülpt, wenn sie sich einmal eines philosophischen oder spirituellen Referenzrahmens entledigt hat. Er war erfüllt vom Geist eines sozialen Spiritualismus, bei dem es sich nicht um eine Form utopischen Denkens handelt, sondern vielmehr um einen Vorschlag zur Reform – quand même! Dieser Vorschlag richtete sich an die Einzelseele, die er zur Wandlung aufrief; auf eine allgemeine Veränderung sozialer Institutionen wollte Erasmus sein Vertrauen nicht setzen. Demgemäß war Erasmus keineswegs ein politischer Philosoph. Was aber war sein Bereich? Er lehnte es ab, als Theologe bezeichnet zu werden, sondern wollte Philologe und Lehrer sein. Als Liebhaber des Logos sah er sich im Dienst Gottes und Christi, die der alles durchwaltende Logos sind. Er diente der Gesellschaft, indem er die Jugend vorbereitete, auf den Logos in sich zu hören und aus ihm Überlieferung und Bildung zu begreifen. Er unterschied die eigene Aufgabe ausdrücklich von der des Gelehrten. Diesem geht es darum, im und für den gelehrten Kreis der Wahrheit um ihrer selbst willen gerecht zu werden. Der Lehrer dagegen ist berufen, sie um ihres Wirkens auf unser Leben willen zu verbreiten. Erasmus ging es um solche Besserung im Denken der Menschen, die Wahrheit bewirkt. Damit ist nicht ‚sittliche Besserung‘ in einem engen Sinne gemeint. Als Liebhaber des Logos muss der Lehrer vielmehr achtgeben, dass seine Schüler Aufklärung über die Bedeutung ihrer sozialen Pflichten gewinnen, sich ihnen ihre spirituelle Verantwortung erhellt. Als ein christlicher Sokrates war Erasmus sicher, dass Verstehen der Wahrheit bedeute, sie in Form unseres Lebens zu verwirklichen. Sittliche und geistige Bildung als Lebensform führt zur christlichen Freiheit, zu Gelassenheit des Geistes und einem friedvollen Gewissen – Idealen menschlicher Vollkommenheit, die Christen und Heiden, Jesus und Epikur teilen. Bildung öffnet die Wege zu diesem Ziel. Deshalb sollten alle sozialen Institutionen in Institutionen der Bildung transformiert werden. Kirche, Staat und Familien sind Schulen auf verschiedenen Ebenen des Lebens, die ihre je eigenen Logoi pflegen und so die Teilhabe aller am alles durchwaltenden Logos fördern sollten. Der Gehalt der Geschichte ist also die Erziehung des Menschengeschlechts – es führt ein direkter Weg von Erasmus zu Lessing.k' Allerdings, es gibt kein universelles Gesetz des Fortschritts. Fortschritt ist nichts anderes als die fortgesetzte Überlieferung von Wissen und Interpretation.

k' Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts. Herausgegeben von Erich Ruprecht. Freiburg im Breisgau: Novalis Verlag 1948.

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Diese koexistiert mit der fortgesetzt in den sozialen Institutionen sich vollziehenden Lex Degenerandi, bewirkt deshalb keine Verwandlung der Gesellschaft, die von Dauer wäre. Die menschliche Natur bleibt sich gleich: Niemals wird das Pharisäertum aussterben; niemals wird aufhören, dass Geistliche Angriffe auf die Freiheit des Evangeliums unternehmen; niemals wird aufhören, dass die Welt ihre Heiligen bis ans Ende der Welt verfolgt; niemals werden die Gottesfürchtigen und die Aufrichtigen mehr als eine kleine Herde sein. Die Welt der Institutionen ist ein Übel. Zu Vollkommenheit kann nur die einzelne Seele gelangen, die sich der Nachfolge Christi oder der Nachfolge Sokrates’ widmet und auf diese Weise an einem größeren Ganzen teilhat. Wegen dieser Einzelnen bedarf es demokratischer Institutionen in Kirche und Staat – damit denen, die sich nicht fürchten, um der christlichen Freiheit willen die Mühsal des Lernens und das Abenteuer der Erkenntnis auf sich zu nehmen, ein Weg offensteht.

Franz Rosenzweig: Eine Philosophie jüdischen DaseinsÜ

Die folgenden Gedanken sind der Erinnerung an Rabbi Milton Steinberg gewidmet. Eines verstorbenen Freundes zu gedenken bedeutet nicht, von Vergangenem zu sprechen. Im Gegenteil, wahrhaftiges Erinnern ist ein Akt liebender Treue, durch den wir die fortdauernde Gegenwart des Abwesenden im Geist der Eingedenkenden befestigen. Schließlich, was anderes ist Religiosität, als aus freiem Entschluss etwas, das größer ist als wir, anzuerkennen und sich ihm hinzugeben? In diesem Geist unaufhörlicher Hingabe an die Gegenwart Rabbi Steinbergs möchte ich von Franz Rosenzweig sprechen, einem Mann, dessen Vorhaben dem seinen – bei allen Differenzen der historischen und persönlichen Situation – eng verwandt war. Rabbi Steinberg beschäftigte sich mit zwei grundlegenden Fragen. Er lehrte das Judentum als Lebensform und füllte diese Lehre mit Inhalt, indem er sie lebte. Er studierte die Philosophie und die Theologie der Moderne, um deren Bedeutung für das jüdische Denken zu prüfen. Erst vor einem Jahr zum Beispiel hielt er eine Vorlesung, in der er die zeitgenössische Religionsphilosophie und die protestantische Theologie behandelte.a Im Zusammenhang dieser Reflexionen kam er kurz auf den atheistischen Existentialismus Sartres und Heideggers zu ÜAlbert

Salomon, „Franz Rosenzweig: a philosophy of Jewish existence“. Vortrag in der Park Avenue Synagoge, 22. Januar 1951. Typoskript, 17 Seiten. Fundort: Nachlass Albert Salomon, Sozialwissenschaftliches Archiv der Universität Konstanz. Übersetzt von Peter Gostmann und Dorte Huneke.

a Milton Steinberg, „New Currents in Religious Thought“. In: Milton Steinberg, Anatomy of Faith. Herausgegeben und eingeleitet von Arthur A. Cohen. New York: Harcourt, Brace and Company 1960, S. 214–300.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Salomon, Schriften 1949–1954, Albert Salomon Werke 4, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37736-6_6

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sprechen. Dabei unterschied er klar zwischen Kierkegaards und Kafkas Existenzphilosophie und dem areligiösen Existenzialismus. In seiner Abhandlung über Kierkegaardb legte er die Möglichkeit einer spirituellen Existenzphilosophie dar. Dieser Idee galt seine Faszination. Ihre Kraft rührt von Rabbi Steinbergs tiefer Überzeugung her, das Judentum selbst sei eine Philosophie der Existenz. Rosenzweig seinerseits verlieh ebenfalls einer jüdischen Philosophie der Existenz Konturen. Für die jüdische Gemeinde in Deutschland, die die ersten drei Jahrzehnte des Jahrhunderts den Fragen der Assimilation, der Säkularisation und der Christianisierung gewidmet hatte, bedeutete sein Werk eine Revolution. Eine Revolution muss es auch für die jüdischen Gemeinden in den Vereinigten Staaten des Jahres 1951 darstellen, die doch den gleichen Pressionen und Gefahren ausgesetzt sind, wie seinerzeit die Juden in Deutschland. Rosenzweig hat einen großen Beitrag dazu geleistet, dass das Judentum weiterlebt, indem er die Unschlüssigen heimführte,c heim ins Haus Israel. Geboren wurde Rosenzweig 1886 in der deutschen Stadt Kassel als Sohn einer vermögenden, liberalen Familie, in der die Spuren orthodoxer Frömmigkeit bereits verblasst waren. Dem Heranwachsenden waren lediglich die Grundelemente unserer Religion vertraut – der Shabbat, die Hohen Feiertage, die Bar Mitzwa –, ein ernsthaftes Interesse am Judentum gewann er nicht. Auch sein Studium – Medizin und Philosophie – vermochte das Verlangen, mehr über das Judentum zu erfahren, nicht zu wecken. Sehr verständlich war ihm gleichwohl jemandes Wunsch nach Seelenheil; der Generation Rosenzweigs schien ein Dasein, das sich im Reich der Kultur beschied, oberflächlich und leer. So nahm er es als selbstverständlich, dass seine Vettern zum Protestantismus konvertierten, da ihnen das Judentum nichts bedeutete. Bereits damals befand er allerdings, dass das Judentum eine Existenzweise sei und also, damit es gegen die Verlockungen der christlichen Konfessionen gefeit wäre, mit Leben gefüllt werden müsste. Rosenzweig seinerseits war gleichwohl zunächst geneigt, seinen Vettern und Freunden auf dem Weg der Konversion zu folgen. Diese Haltung änderte er, nachdem er in einer kleinen orthodoxen Synagoge in Berlin an einer Jom Kippur-Feier teilgenommen hatte. Er entschied sich mit Bestimmtheit dafür, Jude zu bleiben

b Milton

Steinberg, „Kierkegaard and Judaism“. In: Milton Steinberg, Anatomy of Faith. Herausgegeben und eingeleitet von Arthur A. Cohen. New York: Harcourt, Brace and Company 1960, S. 130–152. c Mose ben Maimon, Führer der Unschlüssigen. Übersetzung und Kommentar von Adolf Weiß. Mit einer Einleitung von Johann Maier. Hamburg: Felix Meiner 1995.

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und sein Leben einer Renaissance des Judentums, eines gelebten und greifbaren Judentums, zu widmen.d Es bedarf keiner psychologischen Spekulationen, um Rosenzweigs Entscheidung nachzuvollziehen. Sie lässt sich anhand der Betrachtungen über Christentum und Judentum in seinem großen Buch Der Stern der Erlösung nachvollziehen.e Als Jude war er durch seine bloße Existenz Angehöriger eines Volkes, das wieder und wieder unterm Sinai steht, sein Wirken dem Kommen des Messias widmet. Als Jude gehörte er einem Volk an, dem die Geschichte voll der Ewigkeit und dem Leben ewiges Leben ist. Als einem Juden war ihm sein Dasein eins und unteilbar. Als Christ hätte er dies Dasein aufspalten müssen. Diese Überlegung steht im Hintergrund seiner Entscheidung für das Judentum. So wurde Rosenzweig zum Baal Teshuvah. Was bedeutet das? Ein Baal Teshuvah ist ein reuiger Sünder – soziologisch gesprochen: ein Heimkehrender – der einst von zu Hause fortgezogen war in die Welt der Gojim und schließlich, zurückgekehrt zum Gott seiner Väter, dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, Frieden und Klarheit gefunden hat. Auf diese Weise ist ihm das Judentum zu einem revolutionären Erlebnis geworden, das Geist und Seele durchdrungen und ihm neue Hellsicht und Dynamik vermacht hat und eine innige Liebe zu jenem alt-neuen Erbe, sodass er die symbolische Bedeutung von Ideen, Geisteshaltungen und Ritualen sichtbar zu machen vermag. So wird der Baal Teshuvah sein Verständnis der heiligen Schriften einerseits aus jenem Erleben schöpfen, andererseits aus den philosophischen Einsichten, die er aus seinen historischen Umständen gewinnt. Es ist also berechtigt, wenn wir sagen, dass Rosenzweigs gesamtes Werk um die Bibel kreiste. Allerdings schrieb er zuerst seinen Kommentar zur Schrift – denn Der Stern der Erlösung ist nichts anderes als ein Kommentar zur Bibel – und begab sich dann erst an deren Übersetzungf und an die der Schriften Jehuda Halevis.g

d Franz

Rosenzweig, Briefe. Unter Mitwirkung von Ernst Simon ausgewählt und herausgegeben von Edith Rosenzweig. Berlin: Schocken 1935, S. 71–76. e Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung. Mit einer Einführung von Reinhold Mayer und einer Gedenkrede von Gershom Scholem. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 295–464. f Die Schrift. Zu verdeutschen unternommen von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Berlin: Lambert Schneider 1925–1931; Die Schrift. Zu verdeutschen unternommen von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Berlin: Schocken ­ 1932–1937. g Franz Rosenzweig, Jehuda Halevi. Zweiundneunzig Hymnen und Gedichte. Deutsch. Mit einem Nachwort und mit Anmerkungen. Berlin: Schneider 1926.

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Die Grundhaltung eines Baal Teshuvah ist von radikaler Art. Radikal zu sein bedeutet, zurück zu den Wurzeln der Dinge zu gehen. Die Wurzeln werden nur dem sichtbar, dessen Leben einen tiefen Wandel erfahren hat und davon im Innersten erschüttert wurde. So ging es Rosenzweig. Und darum konnten sein Leben und Werk eine solche revolutionäre Wirkung auf andere ausüben, die sich als Menschen und als Juden in einer ähnlichen Lage fanden. Daraus folgt allerdings auch, dass Rosenzweig nicht auf alle Angehörigen der jüdischen Gemeinde die gleiche Wirkung haben kann. Es versteht sich von selbst, dass die, die so glücklich sind, der Tradition des Gesetzes verbunden geblieben zu sein, die nie von der Schönheit der Kultur der Gojim versucht wurden, überrascht, vielleicht gar besorgt auf jene blicken, die gerade erst voll eines jungen geistig-seelischen Eifers das wiederentdecken, was ihnen selbst seit je vertraut ist. Diese Haltung der Orthodoxen ist berechtigt und nachvollziehbar. Doch hier, in den Vereinigten Staaten des Jahres 1951, gibt es eine ebensolche Vielzahl unschlüssiger, nach einem Weg heraus aus dem Labyrinth der Gegenwart Ausschau haltender Juden, wie damals in Deutschland in den zwanziger Jahren. Diesen Suchenden kann Rosenzweig das Bildnis eines Baal Teshuvah sein; ihnen ermöglicht er eine Renaissance des Judentums als einer Lebensform. Rosenzweig hatte das Glück, von einem wundervollen Lehrer in die Welt des jüdischen Denkens eingeführt zu werden – von Hermann Cohen. Cohen war ein berühmter Philosoph, der die Marburger Schule des Neukantianismus begründet hatte. Mit der Zeit wuchs seine Enttäuschung über die Möglichkeiten, die die idealistische Philosophie ihm bot. Nach seiner Emeritierung widmete er sein Leben der Lehre jüdischen Denkens und der jüdischen Religion an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Sein Buch über Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentumsh ist der großartige Beginn dessen, was Rosenzweig später das „neue Denken“ nennen sollte,i eine Philosophie der elementaren Wechselwirkungen, in denen das menschliche Dasein sich befindet. Auch wenn Rosenzweig und sein Lehrer Cohen über Religion als Grundhaltung nachdachten, taten sie dies als rationale Philosophen. Insbesondere Rosenzweig verwehrte sich gegen jede Art von Mystizismus; ihm war die

h Hermann

Cohen, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Leipzig: Fock 1919. i Franz Rosenzweig, „Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum,Stern der Erlösung’“. In: Kleinere Schriften. Berlin: Schocken 1937, S. 373–398.

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modische Philosophie des Irrationalismus, etwa das Werk Bergsons, ein Übel.j Vor dem Hintergrund seiner Ausbildung zum Wissenschaftler und Philosophen war er sich indes bewusst, dass der Mensch nicht vollständig durch die Erkenntnisse von Physiologie, Psychologie und Soziologie erklärt werden kann; dass er nicht hinreichend definiert ist als die Summe seiner Triebe oder als animal rationale. Der Mensch ist endlich und zugleich über seine Endlichkeit hinaus. Er hat Teil an einem größeren Ganzen. Die aktive Teilhabe an einem solchen größeren Ganzen nennen wir – den Glauben. Der Glaube ist eine Form menschlichen Daseins – als Glaube an Gott, Glaube an Mitmenschen, Glaube an die Möglichkeiten unseres Wirkens in der Welt. Der Denker Rosenzweig war überzeugt davon, dass Menschen aus ihrem Glauben leben. Durch religiöse Symbole erleben und begreifen wir Transzendenz als die elementare Wirklichkeit unseres Daseins. Für Rosenzweig war es undenkbar, dass jemand seine transzendentale Haltung verlieren könnte, ohne zugleich auch sein Menschsein – was ebenso bedeutet: sein Judentum – zu verlieren. Rosenzweig erachtete mithin religiösen Glauben als eine naturgegebene Tatsache, als eine notwendige Komponente menschlichen Daseins. Bei der jüdischen Existenzform handelt es sich um den historisch einzigartigen Fall der Verschmelzung von Nation und Religion. Die Torah und den Messias hielt Rosenzweig für die elementaren Symbole dieser unserer einzigartigen Stellung im Reich der Geschichte. Es ist wohl zulässig zu sagen, dass Rosenzweig seine Heimkehr als eine Berufung erlebte, der er sich vollkommen verschrieb. Diese Absicht, sich mit ganzer Seele und all seiner Kraft der Renaissance des Judentums zu widmen, offenbart ein zutiefst bewegender Brief vom 31. August 1916. Er schreibt: „Ich lebe in glühender Klarheit des Willens, aber in schwankender schwächlicher Ungewißheit der Gefühle. […] Denn – und das ist das Entscheidende – nur mit jenem Willen ist mir das Bewußtsein der Bestimmung, des Schicksals, des Muß, des Plus fort que moi (((Gottes))) verbunden, mit jenem Gefühl aber im Gegensatz dazu grade die Willkür, meine Willkür, der Aufstand meiner Person, meiner Vergangenheit, meiner Entwicklung, gegen jenes tyrannische Schicksal das mein Wille geworden ist.“k Welcher Art war dieses tyrannische Schicksal? Es war dies das Schicksal des Baal Teshuvah, seiner Berufung zu folgen, jüdischem Dasein in einer Welt der Assimilation, der Säkularisierung und des Szientismus von neuem Gestalt zu verleihen. Der Brief zeugt von der Eindringlichkeit eines Gefühls und

j Rosenzweig, k Ebd.,

S. 104.

Briefe, S. 152–154.

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ungeheurer Willenskraft, getragen von einer intellektuellen Begabung, deren es in einem Jahrhundert nur wenige gibt. Drei Erlebnisse bilden Stationen auf Rosenzweigs Weg zum Gott seiner Väter. Eines war die besagte Berliner Jom Kippur-Feier, ein weiteres die Begegnung mit Cohen, dem jüdischen Weisen und wahrhaften Philosophen. Das dritte Erlebnis war das der polnischen Judenheit in Warschau 1918, während des Krieges. Hier begegnete er Juden, deren Kinder nicht weniger naiv und spontan waren als die Kinder der Gojim, und für die dabei Leben und Religion eins und untrennbar waren. Dieses Erlebnis brachte ihn zu der Feststellung, wir westlichen Juden seien „heruntergekommene Parvenüs“.l Viele von uns erlebten dies so. Ich werde nie mein Kriegserlebnis vergessen, als ein alter frommer Jude mir mit unerschütterlichem Ernst erklärte: ,Und der Messias wird trotz alledem kommen‘, während nebenan deutsche Offiziere tranken, grölten und fluchten. Meine Schilderung der Grundhaltung Rosenzweigs bis hierher sollte dazu dienen, den Aufstieg jener neuen Form von Philosophie, die er das „neue Denken“ nannte,m zu verstehen. Ausformuliert und angewandt hat er es in Der Stern der Erlösung, seinem Hauptwerk. Es ist dies ein Kommentar zur Bibel aus dem Geist einer Philosophie, die jede Ausprägung menschlichen Denkens als im Zusammenhang mit einer Existenzweise befindlich sieht. So ist es zweifellos zutreffend, wenn Rosenzweig herausstellt, er beschäftige sich nicht mit Religion als einer unabhängigen, abstrakten Institution, sondern mit dem lebendigen Glauben als einer Form des Erkennens.n Insofern richtet sich das Buch in Verteidigung der menschlichen Vernunft, wie sie aus den Erfordernissen des menschlichen Daseins entspringt, gegen bestimmte Philosophen und Theologen. Rosenzweig wendet sich gegen Theologen, die den Faktor Mensch außer Acht lassen und sich in begrifflich-dogmatischen Kontroversen gefallen. Er wendet sich gegen eine Form der Philosophie, wie sie insbesondere Hegels mystischer Panlogismus darstellt. Wie Kierkegaard und Nietzsche, Schopenhauer und Marx revoltierte Rosenzweig gegen eine solche Philosophie, der die Wirklichkeit des menschlichen Daseins aus dem Blick geraten ist, die den Menschen zur Marionette eines absoluten Geistes, der an ihren Fäden zieht, gemacht hat. Heftig tadelte er Hegel dafür, die Geschichte zum Anliegen der Philosophie

l Ebd.,

S. 320.

m Rosenzweig, n Ebd.,

„Das neue Denken“. S. 389–397.

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gemacht zu haben.o Mit dem Gestus des Revolutionärs forderte er, zum Anliegen der Philosophie müsse wieder das menschliche Dasein werden. Leidenschaftlich postulierte er, der Mensch lebe nicht ausschließlich in der Geschichte oder in der Gesellschaft, sondern habe seinen Platz in Gottes Schöpfung.p Aus diesem Grund bekämpfte Rosenzweig die intellektualistische Philosophie des deutschen Idealismus. Denn deren Vertreter haben das Menschsein zu einem winzigen Segment des subjektiven Bewusstseins reduziert und stattdessen ein Wissen vom Absoluten fabriziert. Tatsächlich richtete sich Rosenzweig gegen alle traditionellen Formen der Philosophie – gegen die Idealisten, gegen die Pantheisten, gegen die Materialisten, denen allesamt die unverwechselbaren Schichten des Daseins durcheinandergerieten: Gott, Welt und Mensch. Rosenzweig schreibt dazu: „Die Philosophie verlangt heute, um vom Aphorismus frei zu werden, also geradezu um ihrer Wissenschaftlichkeit willen, daß ,Theologen’ philosophieren. Theologen nun freilich in einem neuen Sinn. Denn wie sich nun zeigen wird, ist der Theologe, nach dem die Philosophie um ihrer Wissenschaftlichkeit willen verlangt, selbst ein Theologe, der nach Philosophie verlangt – um seiner Ehrlichkeit willen. Was für die Philosophie eine Forderung im Interesse der Objektivität war, wird sich für die Theologie erweisen als eine Forderung im Interesse der Subjektivität. Sie sind aufeinander angewiesen und erzeugen so miteinander einen neuen, zwischen Theologie und Philosophie gestellten, sei es nun Philosophen- oder Theologentyp.”q Das ,neue Denken’ beschreibt er wie folgt: „Die theologischen Probleme wollen ins Menschliche übersetzt werden und die menschlichen bis ins Theologische vorgetrieben.“r Tatsächlich ist diese Definition des neuen Denkens die Definition einer Philosophie der Existenz – die sich vom Existenzialismus Heideggers schon dadurch unterscheidet, dass es Heidegger um eine Ontologie geht, die er auf einem vollkommen antispirituellen Fundament errichten will. Rosenzweig dagegen geht es um die Wesenszüge menschlichen Wechselwirkens und um den Kern des Wirkens der Religion im jüdischen Dasein. Rosenzweig nennt seine Philosophie einen „absoluten Empirismus“s – ein Begriff, der für amerikanische Hörer vertraut klingen dürfte, ist er doch ähn-

o Rosenzweig,

Der Stern der Erlösung, S. 56 u. S. 116. S. 117–118. q Ebd., S. 118. r Rosenzweig, „Das neue Denken“, S. 389. s Ebd., S. 398. p Ebd.,

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lich dem Begriff, den William James wählte, um seinen philosophischen Ansatz zu beschreiben.t Es gibt einen weiteren Beleg der Verwandtschaft im Denken von Rosenzweig und James. Rosenzweig spricht davon, dass der Gehalt der spirituellen Wahrheit sich an ihrer schöpferischen Wirkung auf den einzelnen Menschen bewähren muss.u Dies ließe sich vollkommen in Einklang bringen mit James’ Idee, das Kriterium dafür, dass etwas wahr sei, müsse sein, ob es belehrend auf den menschlichen Geist wirke.v Allerdings muss man hier einschränken, dass Rosenzweigs jüdischer Spiritualismus ihn ebenso von James unterscheidet wie von Sartre oder Heidegger. Rosenzweig war zutiefst überzeugt davon, dass jeder Mensch von Natur zum Philosophieren berufen sei, beschäftigt sich doch die Philosophie mit den Grundwahrheiten menschlichen Daseins. Diese Grundwahrheiten sind einfach, unmittelbar und jedem zugänglich, der sich Gedanken über sein Leben macht. Daher verurteilte Rosenzweig die artifiziellen Konstrukte der intellektualistischen Philosophie, die die gedankliche Einheit des Ganzen mittels abstrakter Begriffe manipulieren. Ihm selbst hingegen stand gemäß seines radikalen Empirismus lediglich die Möglichkeit offen, festzustellen, dass das Ganze keine manipulierbare Einheit ist. Vielmehr verkörpert es das Nebeneinander dreier klar unterschiedener Elemente: Gott, Welt, Mensch – drei voneinander unabhängige Größen, von denen keine sich auf eine der anderen reduzieren lässt. Rosenzweig beschrieb dies mithilfe der Metapher der Zwiebel.w Solange man sie auch häutet – eine Zwiebel bleibt eine Zwiebel. Dies ist die zentrale These des ersten Teils von Der Stern der Erlösung:x dass die drei Elemente, die das Ganze konstituieren, Gott, Welt und Mensch, voneinander unabhängig sind. Sie bilden die Grundtatsachen menschlicher Erkenntnis. Rosenzweig beschreibt drei Formen des Umgangs mit diesen drei Grundtatsachen: den paganen Ansatz, der eine antike und eine intellektualistische Variante hat, und den jüdischen Ansatz.

t William

James, Essays in Radical Empiricism. New York: Longmann Green 1912. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 436–440. v Vgl. William James, Pragmatismus. Ein neuer Name für einige alte Denkweisen. Übersetzt und mit einer Einleitung herausgegeben von Klaus Schubert und Axel Spree. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001, S. 131–151. w Rosenzweig, „Das neue Denken“, S. 378–379. x Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 3–99. u Vgl.

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Der antike Paganismus behauptet die selbstgenügsame Autonomie aller drei Elemente. Diese selbstgenügsame Autonomie bezeichnet man mit dem Begriff des Schönen. Dieses Schöne ist eine Form der Vollkommenheit in sich selbst. Diese Variante des Paganismus ist nicht auf eine historische Epoche beschränkt, sondern kennzeichnet, wie auch das Judentum, eine immerwährende Seinsweise. Sie verkörpert den ästhetischen Fehlschluss, der in der Voraussetzung einer letzten und endgültigen Vollkommenheit besteht, über die hinaus kein höherer Wert möglich sei. In ihrer Linie ist immer wieder gebildeten Ständen, die sich dem Volk und den verbreiteten Glaubensvorstellungen entfremdet hatten, das Ästhetische zum Muster eines vornehmen Atheismus geworden. Rosenzweig wirft die grundsätzliche Frage auf, ob nicht der Philosoph des Schönen seinerseits der Frage sich verpflichtet sehen sollte, wenn überhaupt, dann unter welchen Voraussetzungen Dichter oder Künstler als glückselig gelten können;y er ist sich wohl bewusst, dass dem Dichter in einem religiösen Zeitalter die Aufgabe zukommt, die spirituelle Bedeutung des Menschseins vermittels poetischer Symbole transparent zu machen. So hielten es die Dichter des alten Israel, die Autoren der Psalmen, des Buchs Hiob und des Hohelieds der Liebe, und ebenso die zeitgenössischen Dichter Israels, als der größte unter ihnen Agnon. Der intellektualistische Paganismus hat seine entsetzlichste Form in der Hybris des Systems Hegels gefunden, in dem er die Religion beseitigt hat. Er war davon überzeugt, das Absolute in seine Philosophie integriert zu haben, vermeinte er doch, kraft seiner panlogistischen Methode das Universum ermessen zu können. Weder der ästhetische noch der intellektualistische Paganismus vermögen jedoch eine wahrhaftige Begründung der Interdependenz der drei Elemente Gott, Welt und Mensch zu leisten. Dagegen Rosenzweig entziffert ihr Zusammenwirken, indem er ihre Bedeutsamkeit in der Trias von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung erkennt.z Diese drei Begriffe – Schöpfung, Offenbarung, Erlösung – sind für Rosenzweig Erscheinungsformen, die das menschliche Dasein konstituieren, nicht etwa außerweltliche Wunder. Sie sind als Symbole zu begreifen. Als Symbole deuten sie hin auf unser Bewusstsein des fortdauernden Wechselspiels von Endlichem und Unendlichem, Zeitlichem und Ewigem, Geschöpfen und Schöpfer. Rosenzweig orientiert sich nicht an einem überlieferten exegetischen Verfahren. Er entscheidet sich für den mühsameren Weg, die Wahrheit dieser Ideen in der Natur

y Vgl.

ebd., S. 163–166, S. 211–221, S. 270–277 und S. 419–421. S. 124–282.

z Ebd.,

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des menschlichen Daseins selbst wiederzuentdecken. Er könnte die Frage an seine Leser gerichtet haben: Ist nicht Schechina, Gegenwart Gottes, im Herzen eines jeden Menschen? Auf dieser Grundlage findet Rosenzweig Schöpfung in der ununterbrochenen Linie kreativen Denkens und fruchtbarer Imagination. Im Zuge einer gründlichen Analyse der Tätigkeiten des Denkens und Imaginierens arbeitet er heraus, dass es der Verweis auf einen Referenzrahmen ist, den Menschen in Begriffe eines fortgesetzt tätigen Schöpfers fassen, mittels dessen sie ihre Endlichkeit überwinden.a' Auf diese Weise überwindet Rosenzweig Heideggers atheistische Vorstellung vom Dasein als Zeitlichkeit.b' Er bejaht die Vorstellungen von Zeitlichkeit und Endlichkeit mit Blick auf den Menschen, das Geschöpf. Doch die Idee der Geschöpflichkeit impliziert das Bewusstsein eines größeren Ganzen, von Schöpfung und Schöpfer dieses Ganzen. Schöpfung bedeutet fortgesetzte Erneuerung des Ganzen, die uns tagtäglich kenntlich werden kann. Ebenso verhält es sich mit der Offenbarung. Auch hier gilt die Möglichkeit, Gott in tagtäglich wiederkehrender Offenbarung erkennen zu können. Denn für Rosenzweig ist die „Offenbarung ein Handeln, im Zuge dessen der Mensch der Liebe Gottes für sich gewahr wird, einer Liebe, die des Menschen Seele erweckt und sein Vermögen hervorruft, selbst zu lieben“.c' Sprechend und hörend, im wunderbaren und doch so dürftigen symbolvermittelten Austausch von Mensch zu Mensch, erleben wir die Begegnung der Seelen und ihre Vereinigung in Liebe und Rechtschaffenheit als Offenbarung Gottes. Schöpfung wurde Rosenzweig begreiflich als denkendes Tätigsein, Offenbarung als Sprechen – und Erlösung als Handeln. Im Handeln des Menschen ist Erlösung, wenn er durch es die Gebote der Torah verwirklicht. Durch sein eigenes Gebaren erwirkt er die Liebe Gottes, trägt sie dem Mitmenschen zu: „In dieser Liebe ist es, dass der Mensch teilhat daran, die Welt ihrer Erlösung zuzuführen; aus einer solchen erlösenden Liebe hat er die Angst vor dem Tod überwunden“.d'

a' Vgl.

ebd., S. 455–463. Heidegger, „Sein und Zeit (Erste Hälfte).“ In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 8, 1927, S. 1–438. c' Nahum N. Glatzer, „Franz Rosenzweig“. In: Yivo Annual of Jewish Social Science 1, 1946, S. 107–133, hier S. 113. Vgl. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 186–206. d' Glatzer, „Franz Rosenzweig“, S. 113. b'  Martin

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Für Rosenzweig sind Judentum und Christentum die beiden Formen, die Wirklichkeit von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung zu deuten. So ist Professor Glatzer recht zu geben, der von Rosenzweig sagt: „Dies ist das erste Mal, dass in der Theologie des Judentums diese beiden Religionen, besser: diese beiden Sichtweisen der Wirklichkeit, als gleichwertige Ausdrucksformen der Wahrheit – gleich vor Gott – behandelt werden“.e' Die Frage der beiden Deutungsweisen behandelt Rosenzweig im letzten Teil von Der Stern der Erlösung. Es ist dies die abschließende Antwort an die Freunde, die ihm eine Konversion nahegelegt hatten. Er geht die Frage soziologisch an. Die Juden sind ein Volk, die Christen eine Glaubensgemeinschaft. Die Juden sind eins und unteilbar, weil sie Glaube und Dasein zusammenführen. Die Christen sind zunächst, als Zugehörige einer Nation, Heiden; Christen werden sie erst durch den Vollzug bestimmter Handlungen. Daher kommt im Judentum Ewiges Leben, im Christentum der Ewige Weg zum Vorschein. Ein Jude wird als Jude geboren. Er existiert nicht als Ich, sondern als Wir, und zu diesem Wir gehört sind ewig dazu. Der Jude lebt als Rest, handelt und leidet für das Königreich Gottes. Er verbleibt in kritischer Distanz zu jenem Leben, von dem die Historie spricht; er schaut mitleidend und wohlwollend auf Größe und Elend des Menschen, der handelnd und duldend den Wechsel der Umstände durchlebt. Als Jude bleibt er Wächter des Ewigen, während sich das Leben beständig wandelt. So schafft er ein Bildnis Ewigen Lebens.f' Das Christentum zeigt Rosenzweig als den Ewigen Weg.g' Als Heiden geboren, bedürfen Christen einer Entscheidung, wollen sie spiritueller Wahrheit innewerden. So sind sie stets auf dem Weg, der Möglichkeit des Paganismus auszuweichen, indem sie strenge dogmatische Systeme ersinnen, Glaubenssätze ausarbeiten und sich fortgesetzt ihrer Ursprünge versichern. Sie fühlen sich stets unvollständig. Daher hassen Christen Juden, denn die Juden leben ein vollständiges Leben, in dem Dasein und Religion eins und unteilbar sind. Tatsächlich kann man den Stern der Erlösung einen Führer der Unschlüssigenh' nennen. Denn unsere Zeit kennt solche Juden, die unschlüssig das Labyrinth der Kultur der Gojim durchmessen. Einige sind fasziniert von deren Philosophie, andere von Dichtung und Kunst, wieder andere von einer

e' Glatzer,

„Franz Rosenzweig“, S. 115. Der Stern der Erlösung, S. 449–472. g' Ebd., S. 457–458 und S. 467–468. h' Vgl. Mose ben Maimon, Führer der Unschlüssigen. f' Rosenzweig,

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der christlichen Konfessionen. Rosenzweig versucht, einen Weg durch dieses Labyrinth zu weisen, indem er in rationaler und sachlicher Form aufweist, dass weder Paganismus noch Christentum jene Einheit von Glauben und Dasein zu schaffen vermögen, die dem jüdischen Volk ewiges Leben eintrug. Diese Einheit gewährleistet die Torah, für die der Pfad der Rechtschaffenheit in tätigem, gelebtem Judentum besteht. Rosenzweig legte Wert darauf, dass seinem Werk eine praktische Absicht zugrunde liege. Der Stern der Erlösung ist eine schwierige Lektüre, zweifellos. Die Absicht des Verfassers jedoch ist klar und einsichtig. Das Buch stellt den Versuch dar, den Weg zu erhellen, der ins Haus Israel führt. Diesen Versuch hat Rosenzweig nicht nur in seinen Schriften unternommen, sondern darüber hinaus in Form seines Engagements für eine jüdische Erziehung. Seine Ideen und Vorhaben fasste er unter den Begriff des Neuen Lernens.i' Dies bedeutet, dass es sein Hauptanliegen war, nicht eine jüdische Denkweise, sondern jüdische Männer und Frauen zu lehren: „Weniger als je bedürfen wir heut der Bücher. Mehr als je […] bedürfen wir heut der […] jüdischen Menschen“.j' Schon bevor er den Stern der Erlösung schrieb, hatte Rosenzweig sich Gedanken über Fragen der jüdischen Erziehung gemacht; dabei hob er stets die besondere Bedeutung des gesprochenen Wortes hervor. Er war ganz und gar überzeugt, dass das Ineinanderwirken von Sprechen und Hören, das lebendige Wechselwirken von Lehrer und Schüler, das zentrale Element jüdischer Erziehung sei.k' Denn nicht im stillen, abstrakten Prozess des Denkens begegnen Menschen einander; einer offenbart sich dem anderen erst durch das gesprochene Wort. Allein durch das gesprochene Wort vermögen ihre Seelen einander zu umfassen – in der Gemeinschaft des Glaubens und in der Liebe zu Gott. Rosenzweig stellte das Neue Lernen den Routinen der akademischen Ausbildung entgegen. Die akademische Welt hat jüdische Gelehrte hervorgebracht. Das ist, so wie es ist, gut und notwendig. Es gibt viele vorzügliche, ja herausragende jüdische Gelehrte. Aber es gibt nicht genug Juden, die gelehrt im Judentum sind. Rosenzweig war beunruhigt über den Niedergang der von den

i' Franz Rosenzweig, „Neues Lernen. Entwurf der Rede zur Eröffnung des Freien Jüdischen Lehrhauses“. In: Kleinere Schriften. Berlin: Schocken 1937, S. 94–99. j' Franz Rosenzweig, „Bildung und kein Ende. (Pred. 12, 12). Wünsche zum jüdischen Bildungsproblem des Augenblicks, insbesondere zur Volkshochschulfrage“. In: Kleinere Schriften. Berlin: Schocken 1937, S. 79–93, hier S. 80. k' Vgl. Franz Rosenzweig, „Das Freie Jüdische Lehrhaus. Einleitung für ein Mitteilungsblatt“. In: Kleinere Schriften. Berlin: Schocken 1937, S. 100–102.

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jüdischen Gemeinden unterhaltenen Schulen. Er erklärte deren Niedergang damit, dass sie nicht in der Lebenswelt der Juden gründeten. Die Religionsgelehrten folgten den Mustern der protestantischen Theologie; die Erzieher folgten den Mustern des höheren Schulwesens in Deutschland, ohne sich Gedanken über die vorrangige Bedeutung jüdischer Quellen und die Behandlung jüdischer Themen zu machen. Dieser Mangel schöpferischen Wirkens in den Schulen war für Rosenzweig die Folge der Emanzipation, im Zuge derer die Juden sich in ein Niemandsland zwischen jüdischer und christlicher Lebensführung geworfen fanden.l' Es war Rosenzweigs aufrichtige, ernsthafte Überzeugung, dass keine der Strömungen der deutschen Judenheit, nicht die Zionisten, nicht die Orthodoxen und nicht die Vertreter des Reformjudentums, in der Lage wären, jüdische Menschen heranzubilden. Die Zionisten hatten das aufgegeben, was in seinen Augen zentral für das Überleben des Judentums war: das spirituelle Erbe; die religiösen Institutionen hatten das Leben der deutschen Juden in zwei Segmente gespalten: in den deutschen Bürger und den jüdischen Gläubigen – zwei Segmente, die tatsächlich vollkommen unabhängig voneinander gelebt werden konnten. Ich maße mir kein Urteil an, ob Rosenzweigs Einschätzung mehr von einer objektiven Wahrheit oder mehr von einem subjektiven Eindruck hat. Im Zusammenhang unseres Themas ist allein von Bedeutung, dass diese Einschätzung der Lage Rosenzweigs Aufbegehren, sein Verlangen, etwas zu unternehmen, veranlasste. Er wollte einen Ort schaffen, an dem Männer und Frauen die Gelegenheit haben würden, die jüdischen Quellen zu studieren, um aus innerer Überzeugung und kraft Bildung wahrhaft Juden zu werden. Dies war seine Vorstellung vom Freien Jüdischen Lehrhaus. Es war gedacht als eine jüdische Bildungseinrichtung, deren Ziel es sein sollte, Juden zu einer lebendigen religiösen Überlieferung zurückzuführen, die ebenso modern sein würde wie alt, würden doch ihre Wahrheiten ewige Wahrheiten sein. Entstanden ist schließlich in Frankfurt am Main ein Beth-Hamidrasch, ein Haus des Lernens und Deutens. Lehrer und Schüler kamen hier zusammen, um die großen jüdischen Bücher, jene Quellen unseres geistigen und religiösen Lebens, in Gemeinschaft zu lesen und zu verstehen, um den Funken des Jüdischseins zu einer Flamme anzufachen, die Sinnen und Leben derer, die in das Haus Israel zurückkehren möchten, erhellen sollte.

l' Vgl.

Rosenzweig, „Bildung und kein Ende“, S. 81–84.

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Zur Eröffnung des Lehrhauses entwickelte Rosenzweig seine Idee des Neuen Lernens. Das alte Lernen hatte sich auf das Studium der Torah konzentriert. Die Torah setzte die Maßstäbe für die Behandlung sämtlicher Fragen des Lebens. Das Neue Lernen sollte am anderen Ende ansetzen. Es sollte mit den Gehalten eines Lebens und einer Welt beginnen, die nichts vom Gesetz wissen. Es sollte die Schüler langsam von dieser in Unordnung befindlichen, verwirrenden Welt zu den klaren, einfachen Wahrheiten der Torah leiten: „Das ist die Signatur der Zeit. […] Wir alle, soweit uns das Judentum, das Judesein wieder die zentrale Tatsache unseres Lebens geworden ist […] wissen, dass wir unserm Judesein zwar alles opfern müssen, aber nichts opfern dürfen. Nichts preisgeben, nichts verleugnen, aber alles zum Jüdischen zurückführen. Von der Peripherie ins Zentrum zurück, vom Außen ins Innen. […] [D]ie Einkehr zu finden ins Herz unseres Lebens“ “m' – und Schutz zu finden, indem wir uns der ewigen Überlieferung des ewigen Volkes verbinden. Im Studium der Torah erlangen wir als Juden innere Gewissheit und schöpferische Kraft zurück. Mit anderen Worten, Ziel des Neuen Lernens sollte nicht die Akkumulation von Wissen, sondern die Heraufbildung eines Modells jüdischer Lebensführung sein. Dies sollte geschehen durch eine Rückbesinnung auf die Quellen jüdischer Bildung: auf Bibel, Talmud, Midrasch und Siddur. Diese sollten studiert werden als Ausdrucksformen jüdischen Denkens, in denen religiöse und philosophische Gesichtspunkte mit Blick auf Einheit und Gänze des menschlichen Daseins zusammengeführt sind. Als Quellen der Überprüfung und Begründung von Wahrheit, nicht als historische Dokumente sollten sie gelesen werden; zwar in historischen Begriffen formuliert, sollten sie gedeutet und verstanden werden als Ausdruck von etwas ewig Wahrem, als verkörpernd ein einzigartiges Volk, das den historischen Prozess hindurch im Ewigen verbleibt. Gemäß des Zwecks, den man verfolgte, gliederte sich das Lehrhaus in zwei Bereiche. Das Allgemeine Seminar bot Veranstaltungen zum Studium der jüdischen Quellen an; die Lektürekurse umfassten das gesamte Spektrum jüdischer Themen. Für Rosenzweig war diese Abteilung ein Instrument, um die lautersten und ernsthaftesten unter den Schülern für den Seminarbereich zu gewinnen. Von der Vielzahl derer, die an den allgemeinen Veranstaltungen teilnahmen – die höchste Teilnehmerzahl während eines Semesters lag bei 1.100 Studenten bei einer jüdischen Stadtbevölkerung von etwa 26.000 – sollten sich die besonders Interessierten in Arbeitsgemeinschaften zusammenfinden, in denen

m' Rosenzweig,

„Neues Lernen“, S. 97.

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das Neue Lernen weitergeführt wurde. Hier beschäftigte man sich mit der Bibel und den entsprechenden Kommentaren (bei Martin Buber, Eduard Strauss oder Ernst Simon), mit dem Talmud (bei Salman Baruch Rabinkow oder Alfred Freimann), dem Midrasch (bei Nahum Nathan Glatzer) der Kabbalah (bei Gershom Scholem), der mittelalterlichen Philosophie (bei Josef Rivlin oder Henrik Landau) oder dem Chassidismus (bei Martin Buber). Samuel Joseph Agnon bot Interpretationen seiner eigenen Geschichten.n' Rosenzweig selbst widmete seine Anstrengungen ganz diesen Arbeitsgemeinschaften, in deren Rahmen er selbst die hebräische Sprache und Stillehre unterrichtete, den Pentateuch und den Siddur. Er war ernsthaft überzeugt, dass keine jüdische Bildung möglich sei, die nicht um diese Elemente kreiste. Das Studium des Hebräischen befand er als grundlegend, weil die Kenntnis der einzigartigen Struktur dieser Sprache dem Verständnis unserer spirituellen und intellektuellen Vergangenheit ein Tor öffnen würde; ein umfassendes Wissen über unsere Schriften gewinnen wir erst, wenn wir in der Lage sind, sie im Original zu lesen. In gleicher Weise wichtig war ihm das Studium des Siddur. Rosenzweig wusste sehr genau, wie wesentlich es ist, die symbolische Bedeutung der Shabbat-Liturgie, der Hohen Feiertage und Festlichkeiten, in denen das jüdische Jahr Gestalt nimmt, studiert und verstanden zu haben. Immer wieder betonte er, die Säulen der jüdischen Erziehung sollten das Hebräische und das Gesetz, die lebendigen Elemente des Jüdischen, sein. Im Gesetz, das erlebt und belebt, nicht ein abstraktes Gebot sein will, ist Israels Botschaft an die Welt offenbart und erfährt ihre Begründung. Das Hebräische ist die Ausdrucksform der jüdischen Bestimmung. Deshalb sollten diese beiden Elemente im Zentrum der Erziehung zum jüdischen Dasein stehen. Bemerkenswert ist, dass der Unterricht im Lehrhaus weder von apologetischer noch von aggressiver Art war. Die Studenten sollten der Weisheit der Väter innewerden nicht als einer Waffe im Überlebenskampf, sondern als eines ewigen Gutes. In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass Rosenzweig leidenschaftlich dagegen opponierte, jüdische Erziehung um die Lehre der jüdischen Geschichte kreisen zu lassen. Die Überzeugung, dass dies gefährlich sein könnte, spricht er wiederholt in seinen Briefen an.o' Es würde die, die doch das Wesen des Jüdischseins zu verstehen suchen, dem echten Judentum eher entfremden

n' Vgl.

Glatzer, „Franz Rosenzweig“, S. 122–123. Rosenzweig, Briefe, S. 382–383, S. 395–396, S. 585–586. Siehe auch Rosenzweig, „Bildung und kein Ende“, S. 80–84.

o' Vgl.

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als anziehend auf sie wirken. Doch gilt dies nicht für jede Nation? Erscheinen nicht Griechen und Römer, Franzosen und Deutsche angesichts ihrer Geschichte gleichermaßen als menschliche Tiere, mehr animalisch denn human? Der Fall unseres Volkes ist ein eigener, insofern wir immer wieder Propheten hervorgebracht haben, die die Lehren der Torah wider die Mattheiten, wider die Treulosigkeit, denen unser Volk unterlegen ist, bewahrt haben. Aus diesem Grund war Rosenzweig überzeugt, allein das Studium von Schriften bleibenden Werts, mit deren Hilfe wir uns über die Geschichte hinaus erhoben und unserem ewigen Joch ergeben haben, vermöchte das Wissen der Wahrheit Israels und seiner Aufgabe in der Welt zu errichten. Das Neue Lernen und seine Forderung: Zurück zu den Quellen!, die ich hier in wenigen Worten zusammengefasst habe, sollte auch für unsere Diskussion des Themas der Erwachsenenbildung eine Anregung sein. Es ist unmöglich, Rosenzweigs gigantische Leistung als Übersetzer jüdischer Quellen, der Bibel und einer Auswahl von Hymnen und Gedichten Jehuda Halevis angemessen zu würdigen. Der Leitgedanke, dem seine Übersetzertätigkeit folgte, lässt sich gleichwohl beschreiben, ist er doch späteren Übersetzern zum Wegweiser geworden. Rosenzweig ging davon aus und demonstrierte mittels seiner eigenen Übersetzungen, dass die Arbeit des wahren Übersetzers nicht damit getan ist, den Sinn eines fremdsprachlichen Werkes zutreffend in die eigene Sprache, in deren Struktur und Formen zu überführen. Der wahre Übersetzer muss auch dessen gesamten Kontext in Form von sprachlichen Symbolen und Figuren rekonstruieren, um es in seiner wahrhaftigen Gestalt aufzurichten.p' Rosenzweig starb 1929, ein Sinnbild für den Sieg des Geistes über den Körper, wahrhaft erleuchtet vom Göttlichen, wahrhaft Baal Ruach Hakodesh. In der Kürze seines Lebens und ungeachtet des Unglücks seiner körperlichen Erkrankung bewirkte er eine Renaissance des Judentums, einen neuen schöpferischen Enthusiasmus für die Quellen unseres jüdischen Lebens und die Wahrheiten unserer Denker, ebenso unserer Theologen wie unserer Philosophen. Die junge Generation der deutschen Juden seinerzeit dankte Rosenzweig ein spirituelles Rüstzeug, das sie in die Lage versetzte, dem zu begegnen, was da kam; vier Jahre nach seinem Tod gelangte Hitler an die Macht. Rosenzweigs Witwe und ihr gemeinsamer Sohn Rafael gingen nach Israel. Es ist sinnlos, Vermutungen anzustellen, was Rosenzweig selbst getan haben würde. Er war so

p' Vgl. Franz Rosenzweig, „Nachwort zu den Hymnen und Gedichten des Jehuda Halevi“. In: Kleinere Schriften. Berlin: Schocken 1937, S. 200–219; Franz Rosenzweig, „Neuhebräisch? Anläßlich der Übersetzung von Spinozas Ethik“. In: Kleinere Schriften. Berlin: Schocken 1937, S. 220–227.

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sehr erfüllt von der deutschen Art des Denkens, von der deutschen Dichtung und der deutschen Geschichte. Aus seiner eigenen philosophischen Haltung heraus hätte er sich der Frage stellen müssen: Wie kann es dazu kommen, dass es einer terroristischen Gruppierung gelingt, Menschen so zu manipulieren, dass sie jene Wesenszüge, die Rosenzweig doch als die Grundelemente seiner Philosophie des jüdischen Daseins galten, ablegten, ja auslöschten. Vielleicht hätte Rosenzweig geantwortet, dieses Ungeheuerliche sei möglich geworden, weil die technisch-industrielle Welt gleichermaßen Juden und Christen ihres genuinen Glaubens beraube. In beiden Fällen werde nur ein winziger Rest bleiben, der die Wahrheiten der Alten bewahrt. Der Glaube an Schöpfung, Offenbarung und Erlösung werde durch die Pseudoreligion von Konstruktion, Manipulation und Szientismus ersetzt werden. Schon während des ersten großen Krieges habe er eine Reihe von Weltkriegen in Verbindung mit sozialen Umwälzungen vorausgesehen,q' würde Rosenzweig sagen; allerdings müsste er bekennen, die Zukunft der deutschen Juden nicht geahnt zu haben. In den Vernichtungslagern hätte er vielleicht das erste Anzeichen für das Verschwinden des Geistes der Christenheit gesehen. Denn trotz aller Verfolgungen hatten doch in der Vergangenheit die Juden stets ihren Platz in der christlichen Erlösungsvorstellung gehabt. Dem neuen Paganismus – dem Bolschewismus bzw. Nationalbolschewismus – gelten die Juden nicht länger als Ärgernis für die Christenheit, sondern als Störung der national-sozialen Klischees. Sie müssen vernichtet werden – entweder physisch, wie in Deutschland, oder im Sinne einer vollständigen Assimilation, wie in Russland und seinen Satellitenstaaten. Rosenzweig hätte dies mit grimmigem Realismus zugestanden, ohne sich davon entmutigen zu lassen. Unser Volk hat im Verborgenen gelebt, in Katakomben und im Untergrund, durch sämtliche historischen Krisen hindurch. Es ist sich selbst kraft der ihm eigenen Kombination von Starrsinn und Wachsamkeit stets treu geblieben – Eigenschaften, die sich dem unerschütterlichen Vertrauen auf Elohenu w’elohe awoteinu, unseren Gott, den Gott unserer Väter, und dem unablässigen Glauben an die Ankunft des Messias verdanken. Auch in einer Welt der totalen Revolution bleiben die Juden Gottes Rest. Rosenzweig würde sich dem offen gestellt haben und hätte gefolgert: Je weiter die Welt in das neue Stadium der technologischen Barbarei, des pseudowissen-

q' Vgl. Franz Rosenzweig, „Vox Dei? Die Gewissensfrage der Demokratie“. In: Kleinere Schriften. Berlin: Schocken 1937, S. 400–408.

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schaftlichen Paganismus eintritt, umso mehr sind die Juden aufgerufen, sich des Schma Jisraelr' zu entsinnen und Seinen Namen zu heiligen, auf dass das Menschliche gepflegt und bewahrt sei.

r' Vgl.

Das Buch Reden, 6,4–9. In: Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. 1. Band. Gerlingen: Lambert Schneider 1997, S. 494.

In memoriam Milton SteinbergÜ

Der Tod Milton Steinbergs ist mehr als die Privatsache einer Familie, als die Angelegenheit einer Gemeinde. Dies ist ein Schlag für Israel, für seine spirituelle Erneuerung, seine religiöse Kultur. In Leben und Wirken Steinbergs trat das Judentum so menschlich, klug und erhaben in Erscheinung, wie unsere Generation nirgends sonst es zu erleben und an ihm teilzuhaben das Glück hatte. In dieser Stunde ist es an uns, daran zu wirken, dass das Bild dieses wundersamen Menschen, dessen Weisheit und liebende Güte eins waren mit seiner Hingabe an unseren Gott, den Gott unserer Väter, in der Zukunft bewahrt sein möge. Es ist an uns, seine Größe zu bezeugen und die Kraft, mit der er uns für die Verwandlung von Menschen in getreue Juden begeisterte. Ob er seinen Jugendgruppen die Worte der Väter auslegte, ob er ein Buch schrieb oder eine kämpferische Predigt hielt, ob er einem Gemeindemitglied Trost zusprach oder mit einem Freund Fragen einer moralischen Lebensführung diskutierte – immer war sein Anliegen das gleiche: darauf acht zu haben, dass die Menschen den Gesichtskreis der Göttlichen Schöpfung klar im Blick behalten möchten, dass sie sich bewusst sein möchten des Maßes, das der belebende Geist Göttlicher Weisheit und Liebe setzt, und menschliche Würde und Bescheidenheit wahren. Dieser sanftmütige und liebevolle Mensch wurde zu einem unnachgiebigen und kämpferischen Streiter, wenn er solchen begegnete, die die geistigen und sozialen Grundlagen, auf denen die Würde des Menschen errichtet ist, zu zerstören suchen. Es machte Steinbergs Größe aus, durch das Beispiel seines Lebens ebenso wie durch seine erhellenden Ideen zu lehren, dass zu korrigieren ist, was der ÜAlbert

Salomon, „In Memoriam Milton Steinberg“. In: The Reconstructionist 16, 20, 1951, S. 24–27. Übersetzt von Peter Gostmann.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Salomon, Schriften 1949–1954, Albert Salomon Werke 4, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37736-6_7

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In memoriam Milton Steinberg

Verfasser des Buches Hiob schrieb. Dieser setzte voraus, die allerhöchste Macht Gottes sei so überwältigend, dass der Sinn menschlichen Leidens keiner Frage wert sei. Dagegen Steinberg lehrte uns, dass das Leiden des Menschen verstanden werden sollte als eine Weise, zur Erlösung, zur Wiederherstellung der Welt beizutragen. Unser Leiden vermehrt unsere Vorstellung des Göttlichen, macht klarer das Wissen dessen, was heilig ist. Folgt man Steinberg, so ist der Gott Israels vor allem ein Gott der guten Werke und der Weisheit, nicht ein Gott der Stärke. Darum hat er die Menschen aufgerufen, an der fortwährenden Wiederherstellung der Welt mitzuwirken. Steinberg stimmte vollkommen mit Israel Baal Schem überein: „Wenn wir nicht glauben, daß Gott an jedem Tag das Werk der Schöpfung erneut, dann wird uns unser Beten und Geboteerfüllen alt und gewohnt und überdrüssig. Wie es im Psalm heißt: ,Verwirf mich nicht zur Zeit des Alterns‘, das ist, laß mir meine Welt nicht alt werden. Und im Klaglied heißt es ,Neu an jedem Morgen, groß ist deine Treue‘ – daß uns die Welt an jedem Morgen neu wird, das ist deine große Treue“.a Seiner Übereinstimmung mit Israel Baal Schem verlieh Steinberg in denkbar gelassener, freudiger Form Ausdruck. Er lehrte uns, unsere geistige Freiheit, unsere Würde und unsere Demut sei dies, dass unser Handeln und Behandeltwerden Teil des Heilsgeschehens ist. So wirkt noch unser Leiden als schöpferisches Element mit am Wachstum unserer Einsichten in das Geheimnis des Ganzen. Das ganze Leben und Denken Steinbergs verweist uns darauf, Leid und Bedrängnis in schöpferischer Form zu bejahen, um das Königreich Gottes zu erhellen. Sein Studium der griechischen Philosophie und der alten Geschichte führte ihn zu der Einsicht, dass die Rabbinen recht hatten; den Griechen ebenso wie den Römern fehlte es an Barmherzigkeit, Keuschheit und Mildtätigkeit. Eine Ausnahme bildet der römische Kaiser Marc Aurel, der zugleich ein stoischer Philosoph war; in seiner Bescheidenheit und Würde, so Steinbergs Eindruck, war er der jüdischen Überlieferung und ihrer zentralen Einsicht, dass die

a Martin Buber, Des Rabbi Israel ben Elieser, genannt Baal-Schem-Tow, das ist Meister vom guten Namen, Unterweisung im Umgang mit Gott, aus den Bruchstücken gefügt. Berlin: Schocken Verlag 1935, S. 39. Vgl. Das Buch der Preisungen, 71, 9. In: Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. 4. Band. Gerlingen: Lambert Schneider 1997, S. 106. Vgl. Das Buch Wehe, 3,23. In: Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. 4. Band. Gerlingen: Lambert Schneider 1997, S. 380.

In memoriam Milton Steinberg

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Welt nur durch Liebe und Weisheit beherrscht sein kann, verwandt. Es besagt viel über das spirituelle Wesen Steinbergs, dass es sein Wunsch war, anlässlich seiner Bestattung möge neben dem 19. Psalm und Versen aus dem Buch Kohelet eine Passage aus einer Schrift Marc Aurels rezitiert werden. Es ist die folgende: „O Mensch, du bist in dieser großen Stadt Bürger gewesen, was liegt daran, ob fünf oder dreißig Jahre? Was den Gesetzen gemäß ist, ist für niemand hart. Was ist es denn Schreckliches, wenn du nicht durch einen Tyrannen, nicht durch einen ungerechten Richter, nein, durch eben die Natur, die dich in diesen Staat eingeführt hat, wieder hinausgesandt wirst? Es ist nichts anderes, als wenn ein Schauspieler durch denselben Prätor, der ihn angestellt hat, wieder entlassen wird. – ,Aber ich habe nicht fünf Akte gespielt, sondern erst drei.‘ – Wohl gesprochen; doch im Leben sind drei Akte schon ein ganzes Stück. Denn den Schluß bestimmt derjenige, der einst das Gesamtspiel einrichtete und es heute beendet; weder das eine noch das andere hängt von dir ab. So scheide denn freundlich von hier; auch er, der dich entläßt, ist freundlich.“.b Diese Gedanken sind denkbar nahe jüdischem Denken, denkbar nahe der Weise, wie Steinberg sein Geschick und den, der es bestimmte, liebte. Seine Liebe zu Gott und die Heiterkeit, mit der er selbst sich der Liebe Gottes bewusst war, wurden offenkundig an den Wanderungen, die er durch das Labyrinth der modernen Philosophie und Theologie unternahm. Er war fasziniert vom tragischen Dilemma Kierkegaards,c fühlte sich verwandt den freiheitlichen Bestrebungen Niebuhrs und Tillichs, Soziologie und radikale protestantische Theologie zu verbinden,d begegnete William James und seiner Auffassung über die Vielfalt religiöser Erfahrungen mit tiefer Sympathie.e Aber keiner der modernen Denker, der modernen Religionsphilosophen bot eine Lösung, die

b Marc

Aurel, Selbstbetrachtungen. Übersetzung, Einleitung und Anmerkungen von Albert Wittstock. Ditzingen: Reclam 1949, S. 187–188. c Milton Steinberg, „Kierkegaard and Judaism“. In: Milton Steinberg, Anatomy of Faith. Edited, with an Introduction, by Arthur A. Cohen. New York: Harcourt, Brace and Company, S. 130–152. d Milton Steinberg, „The Outlook of Reinhold Niebuhr“. In: Milton Steinberg, Anatomy of Faith. Edited, with an Introduction, by Arthur A. Cohen. New York: Harcourt, Brace and Company, S. 119–129; Milton Steinberg, „The Theological Issues of the Hour“ In: Milton Steinberg, Anatomy of Faith. Edited, with an Introduction, by Arthur A. Cohen. New York: Harcourt, Brace and Company, S. 155–213, hier S. 184–213. e Milton Steinberg, „New Currents in Religious thought“. In: Milton Steinberg, Anatomy of Faith. Edited, with an Introduction, by Arthur A. Cohen. New York: Harcourt, Brace and Company, S. 214–300, hier S. 236–241.

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Steinberg vollständig zufriedenstellte. Sein Maßstab blieb die spirituelle Philosophie des Judentums, in der die Wechselwirkungen zwischen Gott, Welt und Mensch sichtbar und verständlich werden, während Vernunft und Geheimnis in einem Gleichgewicht sind. Allein die jüdische Überlieferung bietet die Möglichkeit, die „logique du coeur“f im Denken unserer Väter mit der Denkungsart der modernen Wissenschaft in Einklang zu bringen, ohne sich zu einem Sprung in den Abgrund des Glaubens gezwungen zu sehen. Steinberg war zutiefst überzeugt, dass das Verständnis der Natur und die Vorstellungen über das Kräftespiel der Schöpfung, wie sie unsere Religion gewährt, schlüssiger, von größerer Klugheit und Spiritualität sind, als alle anderen Versuche, die Einheit der Natur und der Gnade, der Geschichte und der guten Werke zu erläutern. Seine Überzeugung war es, dass keine andere Religion allen ihr Zugehörigen, unabhängig von deren Qualifikation, die Erkenntnis ihrer geistigen Normen zu ermöglichen in der Lage sei. Steinbergs eigenes Leben bietet ein authentisches Bild des Lebens, wie ein Gerechter es führen soll. Es ist statthaft zu sagen, dass er durch sein Beispiel lehrte, wie sich ein Judentum ausnimmt, das zur Lebensform geworden ist. Dieses Leben war ein kühn und doch gelassen unternommenes geistigmoralisches Abenteuer, durch das er Maßstäbe dessen setzte, was jüdische Größe in der modernen Welt bedeutet; als Muster einer unserer Gegenwart gemäßen jüdischen Spiritualität wird es bleiben auf weithinaus. Jüdische Spiritualität bedeutete für ihn, die Persönlichkeit des Rabbiners mit der des Propheten zusammenzuführen, den Geist liebevollen Lehrens mit dem Geist läuternder Empörung zu verbinden – ein einzigartiger Gleichklang von Gerechtigkeit und Liebe. Da ist keines der Mitglieder seiner Gemeinde, das nicht die Ausstrahlung seines spirituellen Enthusiasmus erfahren hätte, wie er sich in vielfältiger Beziehung zeigte, als Beratung, Trost, Ermutigung oder Erläuterung für die, die seiner bedurften. Der französische Katholik Charles Péguy, ein Dichterphilosoph, hat in einer Äußerung, die der Erinnerung an Bernard Lazare gewidmet ist, an den heldenhaften Anwalt von Dreyfus, der ihm die ewige Größe des Judentums verkörperte, ein Modell jüdischen Lebens beschrieben, das für alle Zeiten Gültigkeit hat: „Es

f Blaise

Pascal, Über die Religion und einige andere Gegenstände (Pensées). Heidelberg: Lambert Schneider 1946.

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lässt sich nicht leugnen, er hatte etwas Heiliges in sich. Und wenn ich von Heiligkeit spreche, mache ich mich nicht der Rede in Metaphern schuldig. Er besaß Güte, Tugend, mystische Zartheit, Gleichmaß des Gemüts, kannte Bitterkeit und Undank und wußte vollkommen, wie damit umzugehen, eine unübertroffene Tugend, völlig aufgeklärte Tugend von unfassbarem Tiefsinn. […] Er trug die Last eines ganzen Geschlechts und das Gewicht einer ganzen Welt auf seinen Schultern. Sein Herz verschlang ein Feuer, das herrührte vom Brennen seines Geschlechts; er wurde von der Flamme seines Volkes verzehrt. Einem Feuer in seiner Seele, einem glühenden Verstand, glühender Kohle von prophetischen Lippen.“g Dies ist Steinberg; präziser und artikulierter wird niemand seine vielschichtige Größe beschreiben können. Es ist das Mysterium der Berufung des jüdischen Volkes, dass es Juden unabhängig von den Umständen, unter denen sie leben, immer wieder gelingt, den Maßstäben dieses Volkes gerecht zu werden. Steinbergs Gemüt war hebräisch von Natur. Sein Leben war strömende Liebe, entsprungen aus der Liebe zu seinem Gott, die ihm vergolten wurde durch die Erleuchtung, die er erfuhr, wenn er die Torah auslegte. Durch die lebendige Torah strahlte sein Leben aus auf das Leben der Mitglieder seiner Gemeinde. Jedem von ihnen wurde ein Funke der Flamme zuteil, die in seinem Geist, Kernstück seines Daseins, glühte. Seiner Liebe zur Torah und zum Menschen dankte er den unerschütterlichen Glauben, dass es jedem Juden, der sich dessen, was das Leben trist macht, enthoben hat, möglich ist, solch einen Funken in sich zu entfachen. Es kann keinen Zweifel geben, dass die fortwährende Präsenz des Todes in Steinbergs Leben die Gestaltungskraft seines Denkens erhöht und erhellt hat. Immer zu Jom Kippur trug er vor, dass der Weg zu Wahrheit und Gerechtigkeit oftmals gesäumt ist von Bedrängnis und Leid.h Von Rabbi Tarfon wusste er, dass der Tag kurz ist und der Arbeit viel.i Er lebte aus dem Mut, den ihm das Wissen verlieh, dass es zwar nicht seine Aufgabe war, das Werk zu vollenden, aber auch nicht an ihm, davon abzulassen.

g Charles

Péguy, Notre Jeunesse. Paris: Gallimard 1933, S. 77–78. Das Buch Gleichsprüche, 2, 6–22, und 4, 10–19. In: Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. 4. Band. Gerlingen: Lambert Schneider 1997, S. 215–216 und S. 218–219. i Vgl. Die Mischna. Schädigungen – Seder Neziqin. Aus dem Hebräischen übersetzt und herausgegeben von Michael Krupp in Zusammenarbeit mit Susanne Plietzsch, Leif Mennrich, Matthias Müller und Frank Ueberschaer. Frankfurt am Main und Leipzig: Verlag der Weltreligionen 2008, S. 253. h Vgl.

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Während der letzten Jahre seines Lebens gab Steinberg uns ein Beispiel dafür, dass der Geist stärker ist als der Körper. Sein Leben und Sterben ist Beleg der Theorie, die Maimonides im Moreh Nebukim entwickelt hat. Demnach hindern allzu starke Vitalkräfte jene reine Reflexion, zu der Menschen vermöge der sich vervollkommnenden Erkenntnis, die den Aufstieg zu Gott begleitet, fähig werden.j Dies war auch in den Gedanken der Weisen, die sagten, Mose sei gestorben durch den Kuss Gottes. Das Bild eines Todes durch den Kuss Gottes besagt, dass er in der Wonne des Erkennens starb, an einer Liebe, die allzu groß war. Die Weisen Israels vermerken diese Form des Todes nur für Mose, für Aaron und für Mirjam. Die anderen Propheten und Frommen kamen ihnen nicht gleich, doch ihrer aller Erkennen wuchs im Tod, so wie geschrieben steht: „[D]eine Wahrhaftigkeit geht vor dir einher, Nachhut dir ist SEIN Ehrenschein“.k Wir verneigen uns vor der Autorität des Maimonides, der unterscheidet die Gerechten und die Stifter.l Doch dass Milton Steinberg in der Herrlichkeit des Herrn lebt, dessen sind wir gewiss.

j  Vgl. Mose ben Maimon, Führer der Unschlüssigen. Übersetzung und Kommentar von Adolf Weiß. Mit einer Einleitung von Johann Maier. Hamburg: Felix Meiner 1995. Drittes Buch, S. 43–44, S. 343–344 und S. 354–355. k Das Buch Jeschajahu, 58, 8. In: Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. 3. Band. Gerlingen: Lambert Schneider 1997, S. 184. l Vgl. Mose ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, Drittes Buch, S. 349–350 und S. 358– 369.

Soziologie und DichtungÜ

Die Besonderheit dieses Augenblicks der Geschichte bestimmt der Widerstreit zweier Menschenbilder – der kurz davor ist, in ein kritisches Stadium überzugehen. Diese Weltbilder sind als Fortsätze mannigfaltiger Verästelungen menschlicher Kreativität entstanden und werden selbst in Form solcher Verästelungen fortgeführt; doch ist in ihnen zugleich der zentrale Konflikt der Moderne symbolisiert: der Konflikt, der zwischen Soziologie und Dichtkunst wütet. Die Unverträglichkeit von Soziologie und Dichtkunst lässt sich wohl am einfachsten wie folgt ausdrücken. Die Dichtkunst ersinnt Wahrheit in Begriffen eines Ganzen, wozu sie von Symbolen und Bildern Gebrauch macht; diese Gesamtwahrheit versteht sie als eine dynamische Einheit der Wechselbeziehungen zwischen Gott, Welt und Mensch. Die großen literarischen Formen, die die Literaturgeschichte kennt, bezeugen dies, ob Epos oder Drama, Idylle oder Bukolik. Die Soziologie dagegen ersinnt Wahrheit in Begriffen sozialer Beziehungen und en gros der sozialen Entwicklung; den Menschen behandelt sie als Gesellschaftsmitglied und geht von der Annahme aus, dass die soziale Entwicklung sein eigenster Bereich ist. In dieser Annahme unterscheidet Soziologie sich von der Gesamtheit der Werke des Philosophierens und der Vorstellungs-

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Salomon, „Sociology and the Literary Artist“. In: Stanley Romaine Hopper (Hg.), Spiritual problems in contemporary literature. A series of addresses and discussions. New York, London: Harper & Brothers 1952, S. 15–24. Wieder abgedruckt in: In Praise of Enlightenment. Cleveland, New York: Meridian Books 1963, S. 142–150. Übersetzt von Peter Gostmann.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Salomon, Schriften 1949–1954, Albert Salomon Werke 4, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37736-6_8

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kraft, die vor ihrem Auftreten verfasst worden sind: Werke, in denen eine philosophische oder poetische Idee des Menschen zum Ausdruck kommt, die nicht auf die soziale Entwicklung begrenzt ist und nicht menschliche Grenzen mit den Grenzen der sozialen Entwicklung gleichsetzt. Die alten Dichter und Philosophen betrachteten den Menschen vor dem Hintergrund des Universums als Ganzem: als eines von dessen Elementen. Dieser Betrachtungsweise verdankt es sich, dass die großen literarischen Formen zu den menschlichen Ausdrucksweisen zählen, die beständig und unentwegt Gebrauch finden. Die großen Werke der Dichtkunst sind verständlich jenseits ihrer historischen Ursprünge und trotzdem sie einen bestimmten historischen Ursprung haben. So sind wir ungeachtet dessen, was Relativisten in der Soziologie oder der Geschichtsschreibung sagen, noch immer in der Lage, Homer, Dante, Aischylos, Sophokles oder Shakespeare zu verstehen. Die Tätigkeit von Dichtern ist überdies ihrer Wesensart nach etwas Bleibendes – wenn wir an die von Dichtern beständig beibehaltene Absicht denken, die Vielschichtigkeit des menschlichen Gepräges, die Beziehungen zwischen Mensch und Mensch, das Sicheinleben des Menschen in der Welt, seine Teilhabe an göttlicher oder jedenfalls allgemein begründeter Sinnhaftigkeit deutend zu erfassen. Die Denkmuster der Soziologie sind denen der Dichtung diametral entgegengesetzt. Die Soziologie ist ein historisch orientiertes Fach, das mit dem Ende der Französischen Revolution entstand, an einem Punkt, wo die industrielle und die soziale Revolution ineinander übergehen. Es handelt sich bei der Soziologie um eine Erfindung der Moderne, die von der Sozialphilosophie sich unterscheidet, weil ihr erster Zweck ist, die Gesamtheit wissenschaftlicher Methoden für die Transformation der sozialen Welt in ein vollkommenes, ganz menschliches Unternehmen fruchtbar zu machen. Dem liegt ein synthetisches Denken zugrunde, das wissenschaftliche Methoden mit der Eschatologie ‚der wissenschaftlichen Methode‘ verbindet. In Soziologie manifestiert sich die Theorie, dass der Welt ihr schlussendlicher, vollkommener Zustand, ihre Erlösung, durch Nutzbarmachung sämtlicher dieser Methoden, verpflichtet dem Vorteil und der Besserung der Menschheit als Ganzer, gewonnen werden könne. Deswegen tritt der Soziologe, anders als der Dichter, in erster Linie als messianischer Bohemien auf, d. h. als ein Philosoph, der die ewige Stellung derer, die dem Schutz der Wahrheit verpflichtet sind, aufgegeben hat. Dies ist ein neuer Typus Philosoph, befasst mit dem Summieren und Synthetisieren aller vorliegenden wissenschaftlichen Methoden (und besonders mit ‚der wissenschaftlichen Methode‘ der Naturwissenschaften), ausgerichtet auf die Transformation, ja den vollständigen Wandel der Welt des Menschen zu Zwecken der Natur- und Gesellschaftssteuerung, oder pointierter: zu Zwecken der vervollkommneten innerweltlichen

I.

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Erlösung des Menschen. Als Sozialingenieur also bildet der Soziologe den kompletten Gegensatz zum Dichter, der mit Pflege, Erhalt und Fortdauer der Wahrheit des Ganzen befasst ist – der Wahrheit, die Gott, Welt und Mensch vereint.

I. Haben wir uns bis hierher damit beschäftigt, unserer These über den Konflikt von Dichtkunst und Soziologie eine logische Form zu geben – einer These, die durch achtsame Analysen der mit ihr angesprochenen historischen Phänomene ergänzt werden muss –, müssen wir, um sie besser nachvollziehbar zu machen, uns noch einer anderen Frage widmen: der Frage nach einer soziologischen Haltung, die der Soziologie, verstanden als Wissenschaft oder als Philosophie, vorausliegt. Soziologie, als Haltung verstanden, basiert auf einem vorwissenschaftlichen Bewusstsein von der Tatsache, dass das Leben des Einzelnen von Gruppendynamiken beeinflusst ist, von Pressionen, die Kollektivinstitutionen entfalten, und von den Stereotypen und Uniformitäten, die von Instanzen sozialer Kontrolle vorgeschrieben werden. Diese Haltung entsteht einhergehend mit der modernen Gesellschaft. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir nicht etwa meinen, die Anfänge der modernen Gesellschaft ständen im Zeichen der industriellen Bourgeoisie; vielmehr müssen wir sie in der Gesellschaft der Höfe absolutistischer Herrscher suchen, die die erste Wettbewerbsgesellschaft darstellt. Die Gesellschaft bei Hofe umfasst urbane Gebildete und wohlhabende Patrizier. Die literarische Leistung, die diese Gesellschaft hervorbringt – und die letzten Endes eine Leistung des soziologischen Bewusstseins ist –, ist der moderne Roman. Nicht weil der Bourgeoise, der Patrizier oder die Leute an sich, die der moderne Roman darstellt, sich von den Edelleuten der Ritterdichtung unterscheiden würden, haben wir es hier mit einer neuen literarischen Form zu tun; sondern weil als eine vollkommen neue Größe das soziologische Bewusstsein in den Mittelpunkt der Handlung rückt. Um es so einfach wie möglich zu sagen: Von nun an ist die Gesellschaft das Schicksal des Einzelnen; der Horizont, unter dem er sich bewegt, wird durch gesellschaftliche Zwänge, Mächte und Herrschaft bestimmt.

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Soziologie und Dichtung

Der Roman, beginnend mit dem Don Quijote,a ist die Manifestation dieses neuen Blickwinkels. Die Idee, dass an der Vorstellung der Gesellschaft das Schicksal des Menschen hängt, hat, wie die weitere Entwicklung der literarischen Form des Romans zeigt, zwei unterschiedliche Gesichtspunkte, kann sich schöpferisch oder destruktiv entfalten. Ihre schöpferische Dimension zeigt sich dort, wo die Gesellschaft als Erzieherin, Wegweiserin, Führerin konzipiert wird, die dem Einzelnen die Möglichkeit eröffnet, seine Potenziale zu verwirklichen. Diese Richtung des modernen Romans lässt sich vom Don Quijote über Goethes Wilhelm Meisterb bis zu Galsworthys Forsyte Sagac verfolgen. Die destruktive Dimension findet sich dort, wo soziale Stereotype und die Pflichten, die die Gesellschaft der Seele des Einzelnen auferlegt, ihm die Luft abschnüren. Diese Tendenz verbindet die Romane von Gustave Flaubert, Jakob Wassermann und Henry James. Die Literatur- und die Soziologiegeschichte kennen einen Fall, in dem Roman und soziologische Analyse zu einer Einheit verbunden vorliegen: Montesquieus Persische Briefe.d Es handelt sich um eine Satire in Romanform, doch zugleich um das erste soziologische Traktat: eine Untersuchung des sozialen Gebarens in seiner Vielfalt, in verschiedenen Bereichen und auf verschiedenen Ebenen, die sowohl das äußere Verhalten als auch die inneren Motive menschlichen Tuns umfasst. Diese Untersuchung etabliert den Gedanken, dass der beste Soziologe ein Fremder ist, jemand, der aus einem anderen Land gekommen ist, um eine ihm unbekannte Kultur in ihrer ganzen Vielfalt, in ihren verschiedenen Bereichen und auf ihren verschiedenen Ebenen zu beobachten. Wir begegnen hier dem, was wir eine soziologische Haltung genannt haben, in voller Ausprägung, am Kulminationspunkt.

a  Miguel de Cervantes Saavedra, Don Quijote de la Mancha. Erster und zweiter Teil. Gesamtausgabe in vier Bänden, Bd. 2. Herausgegeben und neu übersetzt von Anton M. Rothbauer. Stuttgart: Goverts 1964. b Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bde. 17 u. 18. Mit Einleitung und Anmerkungen von Wilhelm Creizenach. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1904]; Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre. Zweiter Teil. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 20. Mit Einleitung und Anmerkungen von Wilhelm Creizenach. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1904]. c John Galsworthy, The Forsyte Saga. New York: Charles Scribner’s Sons 1922. d  Charles Louis de Secondat de Montesquieu, Persische Briefe. Übersetzt von Fritz Montfort. Wiesbaden: Metopen-Verlag 1947.

I.

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Doch dürfen wir nicht vergessen, dass wir es überdies mit Soziologie in der Ausprägung einer Geschichtsphilosophie bzw. einer für die Epoche der Kollektivorganisationen kennzeichnenden universellen Methode zu tun haben. Sowohl die Saint-Simonisten als auch die Marxisten haben sich zwar recht ausführlich mit Fragen der Literatur beschäftigt, doch jeweils in einer Weise, die für die Belange des Gelehrten, zumal dessen, der über Dichtung und Trauerspiel im Großen und Ganzen etwas weiß, unbefriedigend bleiben. Die einen wie die anderen machten die allgemeine Annahme publik, dass Dichtkunst der funktionale Ausdruck der Verteilung und Gliederung von Macht sei. Die Funktion des Dichters ist demnach die Beurteilung der gegebenen Machtverhältnisse und letztlich das Lob der herrschenden Ordnung mit Blick auf die Weisheit und Intelligenz, die in ihr vermeintlich zum Ausdruck kommen, und das Ansehen, das sie vermeintlich verdient. Damit ist allerdings die soziologische Dimension der Literatur nur höchst oberflächlich und also keineswegs zufriedenstellend angesprochen. Nur randständige Bereiche der Dichtung werden durch soziologische Untersuchungen dieser Art berührt; lediglich die Werke solcher Autoren, die es darauf anlegen, die Begehrlichkeiten einer bestimmten Gruppe oder Majorität literarisch zu befriedigen, können durch solche Untersuchungen in einem umfassenden Sinn gedeutet werden. Sie gelten dem zeitlosen Fall des literarischen Geschäftsmanns, der auf Bestellung der Herausgeber von Unterhaltungsmagazinen und gemäß der mutmaßlichen Nachfrage beim Publikum schreibt: 15 % Verbrechen, 15 % Abenteuer, 45 % Sex und 25 % bürgerlicher Anstand. So etwas gab es schon immer, ebenso im Mittelalter wie in der modernen Zeit; es handelt sich um einen allgemeinen sozialen Typus. Unzulässig ist es allerdings, großen Dichtern dieselbe Praxis zu unterstellen – selbst, wenn sie gezwungen sind, für populäre Magazinen zu schreiben, wie es z. B. bei Balzac oder bei Dostojewski der Fall war. Hier ist anzumerken, dass das marxistische Verständnis des Sozialen einen Prozess der Verfeinerung durchlaufen hat, der eine produktive Vorgehensweise hervorbrachte. Insbesondere Georg Lukács hat, bevor er ein bolschewistischer Schriftsteller wurde, Bemerkenswertes für die Soziologie des Dramase und die Theorie des Romansf geleistet. Das Resümee seiner zentralen Positionen zeigt, dass ästhetische Werte

e Georg Lukács, „Zur Soziologie des modernen Dramas“. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 38, 1914, S. 303–345 und 662–706. f Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Bielefeld: Aisthesis 2009.

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keine Sache soziologischer Zuschreibung sind. Gleichwohl, so Lukács weiter, ermöglicht die Soziologie, die Voraussetzungen zu bestimmen, unter denen ästhetische Werte realisiert werden können und die die Entwicklung bestimmter literarischer Formen befördern oder verhindern. So wirft er beispielsweise im Rahmen seiner Untersuchungen zum Drama die Frage auf, was es aus der Sicht des Soziologen bedeutet, dass die griechische Tragödie ein singuläres Phänomen geblieben ist, das in der westlichen Welt niemals wiederbelebt wurde, während wir es mit beständigen Transformationen des Schemas der Tragödie zu tun haben, das in der Zeit der Renaissance begründet wurde, von den Werken Shakespeares über die der französischen Klassizisten bis zu denen Ibsens und seiner Gefolgsleute im 19. Jahrhundert.g Lukács zufolge muss es dem Soziologen vorrangig darum gehen, die Bedingungen zu verstehen, die auf das Vorstellungsvermögen eines Dichters einwirken: Welche Bedeutung hat der geistige bzw. philosophische Horizont, unter dem er, welche Bedeutung hat die Gesellschaft, in der er lebt? An dieser Frage richtete Lukács seine Soziologie des Dramas aus, deren Ergebnis die Entdeckung der schrittweisen Verflüchtigung der dramatischen Form, insbesondere der großen Tragödie, aus dem Gesichtsfeld der modernen Welt ist. Denn mit dem Aufstieg und der wachsenden Macht des wissenschaftlich orientierten, technologischen Denkens wurde randständig, was für den Tragöden unverzichtbar ist: die Idee eines Schicksals, mit dem der Mensch sich im Widerstreit befindet. Das Verschwinden der Idee des Schicksals aber hat seinen Grund in den umfassenden Manipulationsmöglichkeiten, die die soziologischen bzw. sozialpsychologischen Techniken, die die moderne Welt hervorgebracht hat, eröffnen. Ähnliches zeigt Lukács in seiner Theorie des Romans mit Blick auf das Verschwinden der Formen des Epos in der Moderne: Ihr Verschwinden ist unvermeidlich, weil die sozialen Voraussetzungen und die intellektuelle Haltung, die ebenso Homer wie Ariost oder Milton es ermöglichten, in epischer Form zu schreiben, nicht mehr existieren. Jene Voraussetzungen kreisten um die Homogenität von Mensch und Sozialwelt, des Individuums und seiner Umgebung. Das Epos bevölkern Menschen, deren Lebensläufe sich durch den Auszug aus der Heimat und durch Wanderungen, die sie wieder nach Hause zurückführen sollen, auszeichnen. Es stellt letztlich ein geschlossenes, immerwährendes Universum dar, in der Menschen auf die Götter und die Kräfte der Natur vertrauen und sich in Harmonie mit ihnen befinden.

g Lukács,

„Zur Soziologie des modernen Dramas“, S. 662–674, 691–692 und 694–706.

II.

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II. Mit Blick auf die Soziologie der Sprache ist von größter Bedeutung die Frage, inwieweit die Gemeinsprache, deren eine Gesellschaft sich bedient, offen für das Poetische, für die Bedürfnisse des Dichters und für das dichterische Vorstellungsvermögen ist. Wichtig ist in diesem Sinne, was ein Phänomen, das wir seit etwa 50 oder 60 Jahren beobachten, uns über die Stellung des Dichters in der modernen Gesellschaft verrät: das Bedürfnis von Dichtern, eine eigene Sprache zu schaffen. Wenn wir die Stellung von Pope oder Goethe mit Blick auf die Gemeinsprache untersuchen, so zeigt sich, dass wir es hier mit Dichtern zu tun haben, die noch immer in der Sprache sich bewegen bzw. mit der Sprache sich befassen, die der Gesellschaft, in der sie leben, eigentümlich ist; sie verwenden, um Elementen der poetischen Vorstellungskraft Konkretion zu verleihen, die Wörter, die ihre Völker verwenden, um Gefühlen Ausdruck zu geben. Doch Ende des 19. Jahrhunderts geschieht etwas: Der Dichter spürt, dass die Sprache, deren seine Gesellschaft sich bedient, seinen Bedürfnissen und Ansprüchen nicht mehr genügt. Deshalb sieht er sich gezwungen, sich eine eigene Sprache zu schaffen. In diesem Phänomen wird das Problem der menschlichen Entfremdung (so wie Hegel und Marx es erkannt haben) in der Entfremdung des Dichters als einer besonders ausgebildeten Form menschlichen Seins sichtbar. Der Soziologe ist, obschon Antagonist des Dichters, bestens präpariert, dieses Phänomen zu erfassen. Es scheint also gute Gründe für die Überzeugung zu geben, die Soziologie könne, wenn auch nur in bescheidener und schlichter Weise, einen Beitrag zur Klärung der Frage der Dichtkunst leisten. Soziologen sind in der Lage zu erklären und zu verstehen, wie es zum fortlaufenden Wandel literarischer Formen kommt und inwiefern der geistig-moralische Horizont einer Gesellschaft enormen Einfluss auf das Vorstellungsvermögen ihrer Künstler nimmt – etwa mit Blick auf die Handlungsschemata, die diese Künstler entwerfen, oder auf das Entstehen der Möglichkeit, Literatur z. B. als Epos oder als Tragödie, als Drama oder als Komödie zu gestalten bzw. im Rahmen solcher literarischer Form am geistigmoralischen Horizont der Gesellschaft mitzuwirken. So betrachtet, steckt hinter unserem Gedanken der Unverträglichkeit von Soziologie und Dichtkunst ein rein logisches Problem. Dichtkunst, verstanden als Größe der Geschichte, Element der sozialen Entwicklung, unterliegt wie sämtliche soziohistorischen Erscheinungen sozialen Veränderungen: gesellschaftlichen Transformationen, dem Austausch von Eliten, dem allgemeinen Wandel des geistig-moralischen Horizonts, der Veränderung der affektuellen Bindungen, der Gesinnungen und der spezifischen

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gesellschaftlichen Umstände. Und man kann sagen, dass die soziologische Methode ein Instrument darstellt, um den Wandel literarischer Formen, den Aufstieg neuer und den Niedergang der überkommenen, zu erläutern. Mag diese Überlegung so erscheinen, als diene sie der Widerlegung unsere Ausgangsthese, handelt es sich tatsächlich um einen Kompromiss. Es muss nicht eigens betont werden, dass Dichtung den Horizont der Gesellschaft überschreitet – nicht anders als Philosophie. Die Soziologie aber, die heute eine äußerst bescheidene Fachwissenschaft zu sein scheint, stellte einmal eine Philosophie des totalen Fortschritts dar, die beanspruchte, die soziohistorische Entwicklung und mit ihr den menschlichen Horizont letztgültig zu bestimmen. Der große Dichter – nicht zu verwechseln mit dem literarischen Geschäftsmann – ist sich wie der große Philosoph immer bewusst, dass weder die Gesellschaft noch die soziale Entwicklung, weder die Historie noch der Historismus die Grenzen des menschlichen Universums darstellen. Dieses Universum ist weiter als das der sozialen Entwicklung oder der Historie im eigentlichen Sinn: Es ist ein Universum, in dem Gott, Kosmos und Mensch in steten Wechselwirkungen verbunden sind. Für den großen Dichter ist in diesem Sinn menschliches Leben ein Symbol für etwas, das mehr als Leben ist. Deswegen überragt die Stellung des großen Dichters diejenige des Soziologen, was ebenso mit Blick auf die ursprüngliche Form oder die frühen Formen von Soziologie gilt wie für zeitgenössische Soziologen, die meinen, dies sei eine Wissenschaft, die es ermögliche, menschliche Vollkommenheit zu manipulieren, ohne auf den – keinen Manipulationen zugänglichen – Bereich der geistigen Persönlichkeit und der Würde achtzuhaben. Der Dichter hingegen versteht, dass in den seltenen Augenblicken, wenn Menschen trotz der sozialen Schichtung und trotz der Unterschiede ihres individuellen Gepräges Homogenität und Integration erreichen, sie die soziale Entwicklung transzendieren. Weil der Dichter seiner Natur gemäß das Leben als Ganzes sich vorstellt und sichtbar macht, jenseits des Bereichs des Alltags und seiner Beziehungsroutinen, vermag er Spezifisches in der Allgemeinheit des Menschseins zu erfassen. Er weiß, dass alle Menschen, alle Mitglieder einer Gesellschaft, ungeachtet der Gewohnheiten, nach denen sie ihr Leben gestalten, und ungeachtet der Notwendigkeiten, die das Getriebe der sozialen Entwicklung hervorbringt, sich sehnen, dieses Gewohnte zu überwinden; und dass Gegenstand dieses Sehnens eine Form von Homogenität und Integration ist, in der alle Menschen, wie auch immer ihr individuelles Gepräge und wie die soziale Schichtung sein mag, einander verbunden sind.

III.

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III. Vier Gesinnungen gibt es, in denen Menschen, jenseits von Fragen der sozialen Entwicklung, vereint sein können; und diese Gesinnungen sind es, die den spezifischen Stoff des Dichters bilden. Erstens vereint Menschen die Begierde nach Vergnügungen; zweitens die Begierde, über jemanden sich zu vergnügen; drittens die Furcht vor den Göttern; viertens können sie sich im Leid vergemeinschaften. Dies sind für den großen Dichter die Elemente für ein Werk, dessen Bedeutung jenseits der Welt sozialer Institutionen liegt, und deswegen verdienen sie Beachtung. Die dauerhafte Form, die das erste dieser Elemente, die Begierde nach Vergnügungen, im Feld der Literatur findet, lässt sich von der naturalistischen Komödie des Aristophanes bis zum westlichen Showbusiness unserer Tage verfolgen. Für den Soziologen bedeutsam ist die Klassifizierung des Vergnügens in Begriffen von Wein, Weib und Gesang. Im Sinne einer Vereinigung gemäß der Begierde, sich über etwas zu vergnügen, entsteht mit der literarischen Komödie, die in Kontrast zur naturalistischen Komödie steht, ein zweiter überdauernder Typus literarischer Darstellung. Diesen Typus kennzeichnet, dass die Darstellung dem Wunsch Ausdruck gibt, im Vergnügen des Mitmenschen – einem Vergnügen, Gegenstand dessen alles und jeder sein kann – die Routinen des alltäglichen Lebens zu überschreiten. Ein drittes menschliches Begehren ist an der Vereinigung, genauer Homogenisierung wegen der und durch die Furcht vor den Göttern beteiligt; es kommt im Fall der griechischen Tragödie zum Ausdruck, in der wir nicht zuerst ein ästhetisches, sondern ein religiöses Phänomen erkennen sollten. In Form der Tragödie, deren Materie der Kampf mit den Göttern und die Kämpfe zwischen Göttern und Heroen waren, empfing die Bürgerschaft Athens die Symbole ihres Kultus. Jede Tragödie verweist, wenigstens am Rande der Handlung, auf eine göttliche Macht, die Macht des Schicksals. Erst im Zuge der modernen Tragödie, in den Tragödien der szientistisch-technologisch orientierten bürgerlichen Gesellschaft, bei Ibsen und seinen Gefolgsleuten, finden wir Handlungsschemata, die statt Spuren von Schau und Geschick, statt menschlichem Ringen mit dem Schicksal, einer psychologischen Linie folgen. Damit kommen wir zum christlichen Drama, das während des Mittelalters große Bedeutung erlangt. In seinem Fall handelt es sich nicht um eine Form der Tragödie – denn in einer christlichen Welt sind wegen der Immanenz der Erlösung Tragödien eine Unmöglichkeit. Allerdings verschwindet das christliche Drama, so wie die Tragödie verschwindet – und in diesen Zusammenhang wird die grimmige Seite der säkularen Gesellschaft offenkundig: Zu ihr gehört die

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Reinigung der Alltagsexistenz vom Schicksal und von Kategorien des Religiösen gleichermaßen. Die vierte Form menschlicher Homogenität, die Leidensgenossenschaft, wird nirgendwo so deutlich wie im großen Epos. In Odyssee und Ilias geht es um Leid, das Menschen wegen der Torheiten, der Niedertracht und Boshaftigkeit von lächerlich menschlich sich verhaltenden Göttern zu tragen haben; doch verantwortlich für es sind ihre eigenen Leidenschaften, der eigene Mangel an Vernunft und eigene Maßlosigkeit. Simone Weil, einer jungen Dame, die den Hungertod starb, verdanken wir das schönste Zeugnis einer Renaissance der Einsicht, dass das Homerische Epos die literarische Form des Leidens ist. Ihre Schrift Die Illias oder das Poem der Gewalth zählt zu den großartigsten Interpretationen über die Bedeutung, die Homer für uns, unser eigenes Leben, hat: dass in einer Situation, da wir das menschliche Vermögen erlebt haben, die Hölle auf Erden zu schaffen, Homer höchste Lebendigkeit erlangt. Die Tatsache, dass Menschen im gleichen Augenblick zu den größten Gemeinheiten und zu edelsten Handlungen fähig sind, entfaltet Weil in besonderer Klarheit. Der Gedanke, dass das Epos diejenige literarische Form ist, die der Leidensgenossenschaft Gestalt verleiht, lässt sich für die Moderne fruchtbar machen. Unter einem soziologischen Gesichtspunkt – und unter Anwendung der soziologischen Methode – zeigt sich, dass der moderne Roman, der uns bereits beschäftigt hat, in einer Transformation begriffen ist. Diese Transformation setzt Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Werk Balzacs ein, bei dem es sich nicht mehr um das Genre des Mittelstandsromans handelt, d. h. in dem nicht mehr die Vorstellung im Mittelpunkt steht, die Gesellschaft sei die Endstation menschlicher Entwicklung. Vielmehr ordnet Balzac seine Comédie Humaine als neuen Typus eines Werks an, in dessen Rahmen er aus all den verschiedenen Romanen, die sie bilden, eine neue Form von Homogenität schafft. Und dabei erweist sich sein Wissen, dass Menschen nicht ausschließlich Gesellschaftswesen sind, sondern in einem Universum theosophischer Gedankenbildung, der Kämpfe zwischen ihren vitalen und geistigen Kräften sich bewegen. Was in einem revolutionären Stadium mit den Kräften geschieht, die im Zuge der Entstehung der modernen Gesellschaft entwurzelt und entfesselt wurden, ist nichts anderes als der umfassende Kampf geistiger und vitaler Kräfte. Was im Werk Balzacs geschieht, ist der erste Fall einer Erneuerung des Schemas des

h Simone

Weil, „Die Ilias oder das Poem der Gewalt“. In: dies., Krieg und Gewalt. Essays und Aufzeichnungen. Zürich: diaphanes, S. 161–191.

III.

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Romans zu einem neuen epischen Typus, an dem dann Dostojewski und Proust weiterarbeiten werden. Balzacs neues Epos zeigt sich uns als eine literarische Form, die aus dem Gedanken hervorgeht, dass eine neue Form menschlicher Homogenität – eine Homogenität des Leidens – gegeben ist; es ist, mit Balzacs eigenen Worten, eine Dichtung des Bösen:i Menschen, leidend unter der Macht der Vitalkräfte, bewusst einer geistigen Wirklichkeit, nach der sie streben müssten und die sie nicht erreichen. Dostojewski und Proust überschreiten mit ihren Werken die literarische Form des Romans, die das 18. und 19. Jahrhundert kennt. In diesen Werken deuten sich eine neue Vorstellung und neues Erkennen, eine neue Erscheinungsform des Erkennens, das mit einer literarischen Form einhergeht, und eine neue Form des Epos an – was immer das verbindende, Einheit stiftende Glied sein wird. Wenn auch der soziologische Blick uns ermöglichen mag, den Wechsel literarischer Formen vollständig zu erfassen und zu erkunden, auf welche Weise Dichter ein Spiegelbild der Kräfte des Kosmos, der vitalen und der des Geistes, und der Kluft, die sie trennt, erzeugen – mehr als dies ist mit dem soziologischen Blick nicht erkennen. Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens zu beschreiben vermag der Dichter, nicht der Soziologe. Denn um den Horizont der Gesellschaft zu transzendieren, muss Dichtung die Höllen und die Paradiese des menschlichen Lebens verbinden, indem sie sie zu Symbolen eines Ganzen umschafft – ein Auftrag, den zu erfüllen der Soziologe außerstande ist.

i Honoré de Balzac, „Avant-propos à la Comédie Humaine“. In: Honoré de Balzac, Œuvres complètes de H. de Balzac, Tome 1, Paris: Alexandre Houssiaux 1855, S. 17–32, hier S. 25–26.

Die Ordnung der Welt und die Verantwortung des GelehrtenÜ

Dass einerseits die technisch orientierten Massengesellschaften universelle Gültigkeit beanspruchende Handlungsmuster und Verhaltensstereotype entworfen haben, während man andererseits in Form exklusiver Nationalismen Barrieren zwischen Völkern errichtet hat, ist eine der Paradoxien, zu denen die Entwicklung der Moderne seit dem 19. Jahrhundert geführt hat. Dabei kann kein Zweifel bestehen, dass die sozialen Typen, die die moderne Gesellschaft kennzeichnen, etwa der Angestellte, der Bergmann, der Sozialarbeiter, der Ingenieur oder der Fachwissenschaftler, im Ergebnis der rapide fortschreitenden Spezialisierung beruflicher Tätigkeiten in ähnlichen Ausprägungen überall auf der Welt zu finden sind. Wenn wir von einer Untersuchung sozialer Typen ausgehen, ist also die Vereinigung der Menschheit der Gegenwart in einer Ordnung zwingend. Nur reicht die soziale Homogenität, die die moderne Welt erreicht hat, nicht hin, um eine Ordnung für die Welt von heute zu schaffen. So lange keine geistig-moralische Homogenität zwischen den Nationen der Welt besteht, so lange wird es auch keine Institution des Weltfriedens geben, jedenfalls keine, die von Dauer ist. In früheren Zeiten genügte es, wenn den politischen Eliten, die für die Handhabung der auswärtigen Angelegenheiten zuständig waren, d. h. den Staatsleuten, als Bezugspunkt eine Vorstellung von internationaler Zusammenarbeit zur Verfügung stand, von der sie glauben konnten, dass sie für die Welt, in der sie agierten, verbindlich war. So ÜAlbert

Salomon, „The Organization of the World and the Responsibility of the Scholar“. In: Lyman Bryson, Louis Finkelstein, Harold D. Lasswell und Robert M. MacIver (Hg.), Foundations of World Organization. A Political and Cultural Appraisal. Eleventh Symposium. New York: Harper & Brothers 1952, S. 385–390. Übersetzt von Peter Gostmann.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Salomon, Schriften 1949–1954, Albert Salomon Werke 4, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37736-6_9

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Die Ordnung der Welt und die Verantwortung des Gelehrten

bildete die Vorstellung vom Geist des ‚guten Europäers‘ ein probates Mittel der Politik Metternichs, Disraelis oder Bismarcks. Die Idee eines europäischen Gleichgewichts der Kräfte unterlag der Voraussetzung, dass letzten Endes alle europäischen Mächte Teile eines Ganzen sind, dass sie ein gemeinsames Erbe pflegen, einig ihre Vormachtstellung gegenüber dem Rest der Welt behaupten. Von heute aus betrachtet, wirkt dies kleingeistig. Gleichwohl wäre es falsch, wollte man deswegen das Ideal ignorieren, das der Absicht zugrunde lag, von denjenigen Elementen, aus denen der Konflikt zwischen den europäischen Nationen, ja der Flächenbrand, der entstehen könnte, sich bildet, so viele wie möglich auszuräumen. Es ist wichtig, uns zu verdeutlichen, dass der Geist, von dem hier die Rede ist, die Oberhand im Rahmen einer hoch entwickelten und gebildeten Gesellschaft gewann. Die Staatsmänner mussten sich vollständig der sittlichen und der geistigen Kräfte bewusst sein, deren es bedurfte, um die gegebene Vielfalt unterschiedlicher Interessen zur Einheit eines internationalen Zusammenhangs, der über keine eigenen Institutionen verfügte, zu verbinden. Deswegen haben alle großen Staatsmänner Europas im 19. Jahrhundert, ob in England, Frankreich oder Deutschland, um den Konkurrenzkampf zu mildern und ihre vielfältigen Interessen über die gesamte Welt zu verteilen, auf den besagten Geist des guten Europäers referiert. Wenn für unsere zeitgenössische Welt gefordert wird, sie möge Eine Welt sein, so kommt darin das Verlangen zum Ausdruck, dass sämtliche Staaten auf ihre Souveränität verzichten und zu einer allumfassenden politischen Ordnung verschmelzen sollen. Dies ist Wunschdenken, aber wir sollten es nicht als Utopismus abtun. Wir können die Wurzeln der Idee, die hier zum Ausdruck kommt, bis zum Glauben der Propheten zurückverfolgen, finden sie in der Philosophie der Humanisten wieder. Es ist ein Zeichen der bleibenden Kraft des menschlichen Intellekts, wenn er allen Widerständen der Welt zum Trotz höchsten religiösen oder philosophischen Idealen, so dem eines Weltfriedens, treu bleibt. Ein Gelehrter wird also einen solchen Idealismus, statt in abzutun, auf das Höchste wertschätzen. Überdies wird es ihm allerdings angelegen sein, die Bedingungen, die eine Realisierung des Ideals in der Gegenwart hindern, zu ermitteln. Die Ergebnisse, zu denen er im Zuge dieser Untersuchung kommt, werden es ihm immerhin ermöglichen, Vorschläge zu unterbreiten, die demokratischen Verbänden und deren Staatsmännern die Richtung einer partiellen Erfüllung dieses absoluten Anspruchs weisen. Das maßgebliche Argument, das der Utopie der Einen Welt entgegensteht, ist die vollkommene Heterogenität zwischen den demokratischen und den bolschewistischen Ländern der Gegenwart. So kann der Begriff der Einen Welt,

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aus der Perspektive des Politbüros betrachtet, nichts anderes bedeuten, als den ultimativen Sieg der Weltrevolution; die Richtung, die die russische Außenpolitik nimmt, und die Dynamik, die sie entfaltet, sind vollständig an der Zielsetzung orientiert, die vor mehr als hundert Jahren Karl Marx formuliert hat.a Diese Zielsetzung ist Ideologie in Reinform; an ihr können wir die Rolle, die dogmatische Intellektuelle einnehmen, und die Norm, nach der sie verfahren, ablesen. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang zu beobachten, wie das starrsinnige Festhalten an einer indoktrinierten Theorie die Verfälschung eines ernsthaften politischen Ansatzes nach sich zieht. Den bedeutendsten Ökonomen in Russland, Eugen Varga, hat man von seinem Posten des wichtigsten Beraters in Wirtschaftsfragen abberufen, nachdem er dargelegt hatte, dass es in den Vereinigten Staaten wegen der Effekte des Marshall-Plans nicht zum Ausbruch einer Wirtschaftskrise kommen werde – was dem orthodoxen Dogma widersprach, demzufolge es in einem kapitalistisches Land im Anschluss an einen Krieg notwendig zu einem Konjunkturrückgang kommen müsse. Die russische Gesellschaft wird von einer winzigen Elite von Intellektuellen regiert: der Priesterschaft einer säkularen Religion, die über ein Monopol auf die Wahrheit hinsichtlich der Erlösung des Menschengeschlechts im Zuge der Gesellschaftsentwicklung verfügt. Es versteht sich von selbst, dass eine Weltanschauung dieser Art alle Möglichkeiten, zu einer vereinten, friedvollen Welt zu kommen, zerstören muss. Wenn wir dies festhalten wollen, so ergibt sich daraus für den Gelehrten die Frage, ob und wie es innerhalb gewisser Grenzen möglich ist, dass eine Vielzahl unterschiedlicher Staaten sich im Rahmen einer rein politischen Ordnung vereinen und davon alle Weltanschauungen, die eine Spaltung befördern, ausschließen können. Gerade zum jetzigen Zeitpunkt ist es dringend geboten, dieser Frage nachzugehen. Der Vorschlag, den Herbert Hoover unterbreitet hat,b läuft auf das Gegenteil hinaus. Nach seiner Vorstellung sollten zuerst alle atheistischen bzw. bolschewistischen Staaten von den Vereinten Nationen ausgeschlossen werden, und dann die verbleibenden Länder aus religiöser Weltanschauung ihre Integrationsfähigkeit entfalten. Nicht wegen ihres intrinsischen

a Vgl. Karl Marx und Friedrich Engels, „Manifest der Kommunistischen Partei“. In: Karl Marx und Friedrich Engels. Werke. Band 4. Herausgegeben vom Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der SED. Berlin: Dietz 1959, S. 459–493, hier insbes. S. 482. b  Herbert Hoover, „The Voice of World Experience. Address before the American Newspaper Publishers Association. The Waldorf Astoria, New York City [April 27, 1950]“. In: Herbert Hoover, Addresses upon the American Road. 1948–1950. Stanford: Stanford University Press, 1951, S. 59–67, hier S. 67.

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Werts ist diese Vorstellung für uns von Interesse, sondern weil sie es uns ermöglicht, uns über die enorme Gefahr Klarheit zu verschaffen, die in einer Lösung von der Art liegt, die Hoover vorschlägt. Zum Ersten bedeutet Hoovers Vorschlag die Spaltung der Welt in zwei feindliche Lager. Denn zwischen den Weltanschauungen, von denen er spricht, sind keine Kompromisse und ist schon gar keine Versöhnung denkbar. Zum Zweiten ist die Annahme, man könne auf Grundlage irgendeiner Weltanschauung einen Bund der Nationen des Westens errichten, fern aller Realität. Die Idee einer Heiligen Allianz hat sich bereits im Europa des 19. Jahrhunderts als Fehlschlag erwiesen. Ihre Neuauflage ist für uns heute keine Alternative. Zum Dritten sind Hoovers Vorstellungen obsolet, weil es doch wohl nicht in der Absicht eines Bundes der Nationen liegen kann, der auf der Höhe unserer Zeit sein will, durch die antiquierte Idee eines Vorrangs westlicher Werte die Empörung der Völker Asiens, Afrikas und Indonesiens hervorzurufen. Vor diesem Hintergrund ist es eine politische Notwendigkeit, getreu der Idee der Vereinten Nationen den Frieden mit Russland und seinen Satelliten zu wahren. Mit der Organisation der Vereinten Nationen verbindet sich die Hoffnung, dass sie die Sicherheit aller ihrer Mitglieder gewährleistet. Kapitel VII ihrer Charta bildet den Kristallisationspunkt der Bemühungen um die Institutionalisierung eines kollektiven Sicherheitssystems. Dieses Sicherheitssystem basiert auf dem Versprechen, jedes Mitglied, das einen Angriff erleidet, durch konzertierte Aktion zu unterstützen. Als Gegenleistung für den Schutz der internationalen Gemeinschaft müssen alle Einzelstaaten in gewisse Beschränkungen ihrer Souveränität einwilligen, so mit Blick auf das Recht, Kriege zu führen und Bündnisse zu vereinbaren. Allerdings sind solche Absichtserklärungen erst einmal nicht mehr als tote Buchstaben. Man kann von einem unabhängigen Staat nicht erwarten, auf wesentliche Elemente seiner Souveränität zu verzichten, solange er nicht sicher von der Wirksamkeit des internationalen Schutzmechanismus ausgehen kann. Nun ist es allerdings so, dass die Konföderalstruktur, die man dem System kollektiver Sicherheit gegeben hat, eine wahrhaft supranationale Autorität, die über politische, sittliche und militärische Macht verfügt, gerade ausschließt. Die Fürsprecher einer Weltregierung haben also recht, wenn sie bekunden, dass die Idee kollektiver Sicherheit sich im Rahmen eines Konföderalsystems nicht realisieren lässt. Dem steht der lange in Ehren gehaltene Traum des amerikanischen Internationalismus, das Sicherheitsproblem mittels internationaler Organisation zu lösen, entgegen. Wir haben geglaubt, dass eine Konföderation der Welt schon irgendeine Form von Sicherheit hervorbringen wird; wir hingen noch immer an Woodrow Wilsons Idealvorstellung internationaler Beziehungen: an der Vorstellung einer öffentlichen Meinung, die an Wahrheit orientiert ist; an der Vor-

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stellung, dass eine auf rationalen Verfahren basierte Streitschlichtung weise sei; an der Vorstellung einer letztendlichen Harmonie, zu der die verschiedenen Meinungen und Interessenlagen sich finden werden. Erst als wir bemerkten, dass die großen Mächte unseren Idealismus in Fragen der internationalen Beziehungen nicht teilten, haben wir begonnen, uns wieder zu bewaffnen und politisch-militärische Bündnisse zu schmieden. Der Nordatlantikvertrag ist, obwohl er sich strikt an Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen orientiert, ein Symbol der tiefen Enttäuschung der amerikanischen Staatsmänner über die mangelnde Effektivität der kollektiven Sicherheit. Es ist eine offene Frage, ob nicht eine Rückkehr zu dem altmodischen Bündnissystem, das ein Gleichgewicht der Kräfte gewährleisten sollte, besser geeignet wäre, den Frieden zu wahren – besser als ein System der kollektiven Sicherheit mit seiner „Grauzone“, wo „die eine Seite als gegeben annimmt, dass eine kollektive Sicherheit existiert, während die andere Seite darauf setzt, einen Vorteil aus der Tatsache ziehen zu können, dass sie nicht existiert“.1 Sowohl aus soziologischen als auch aus politischen Gründen ist es unmöglich, aus den Vereinten Nationen eine wirkungsvolle, mit Autorität agierende Garantin des Friedens zu machen.2 Meine These lautet, dass wir als eine betrübliche Tatsache zu akzeptieren haben, dass es so lange keine internationale Ordnung der Menschheit, die den Frieden der Weltmächte gewährleistet, geben wird, so lange die unterschiedlichen Kräfte in derjenigen Weise miteinander verknüpft sind, wie es gegenwärtig der Fall ist. Wenn wir hingegen die Vereinten Nationen als eine internationale Prüfstelle verstehen, die in Form von diplomatischen Verhandlungen und Übereinkünften praktiziert, durch Schlichtung konfligierender Interessen und Abgleich antagonistischer Positionen, mögen sie der Wahrung des Friedens der Welt doch zuträglich sein. Wenn wir die Operationsweise der Vereinten Nationen betrachten, so sehen wir, dass deren größtes Defizit in der Überzeugung ihrer Gründer liegt, die Taktiken, die sich in der Innenpolitik als wirksam erwiesen haben, eigneten sich in der gleichen Weise für die auswärtige Politik – insbesondere die Taktiken, die sich im parlamentarischen Prozess bewährt hatten, und diejenigen, die man

1 Hamilton

Fish Armstrong, „Coalition for Peace“, Foreign Affairs 27, 1948, S. 1–16, hier S. 13. 2 Die letzten Absätze fassen Gedanken zusammen, die mein Freund und Kollege Erich Hula in einem exzellenten Aufsatz entwickelt hat: Erich Hula, „Four Years of the United Nations“. Social Research 16, 1949, S. 395–415.

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in Reden anwendete, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen, ohne zuvor mit den widerstreitenden Kräften diskutieren oder verhandeln zu müssen. Angesichts all der Feinheiten, all der komplexen und delikaten Probleme, die in Fragen der internationalen Politik berücksichtigt sein wollen, wäre es besser, wenn verantwortungsvolle und weitsichtige Diplomaten sich ihrer annehmen würden. Jede parlamentarische Apparatur ist für die raffinierten und heiklen Belange der auswärtigen Politik viel zu brachial und zu demagogisch. So hat auch Trygve Lie in den letzten beiden Jahren mehrfach darauf hingewiesen, dass es eher an der konstruktiven Arbeit von Diplomaten, an ihrem besonnenen Agieren und den Übereinkünften, die sie erzielen, als an den Treffen der Generalversammlung oder des Sicherheitsrats liegen wird, wenn die Vereinten Nationen ein Erfolg werden. Tatsächlich stellt das parlamentarische Verfahren mit Debatte und Stimmabgabe weder im Fall der auswärtigen noch in dem der inneren Politik ein adäquates Mittel dar, um divergierende Meinungen und antagonistische Interessen zu integrieren. Es ist meine ernsthafte Überzeugung, dass Sicherheit und Frieden der Welt erhalten werden können, wenn die Verhandlungen der Großmächte in den Amtsräumen von Diplomaten stattfinden – nicht im Radio oder auf Massenversammlungen. Die Hauptthese, die meinen Überlegungen zugrunde liegt, lautet, dass die Verpflichtung des Gelehrten, sich in den Dienst der Menschheit zu stellen, zwei Dimensionen hat. Einerseits sollte er die Bestrebungen, die in seiner Zeit vorherrschend sind, in ihren möglichen normativen Konsequenzen zu Bewusstsein bringen und in Auseinandersetzung mit ihnen ideelle Kriterien für soziales Handeln formulieren. Andererseits sollte er seine Mitmenschen anleiten, den Widrigkeiten und Katastrophen, die der Lauf der Geschichte heranbringen wird, standzuhalten. Diese beiden Zuständigkeiten sind miteinander verwoben. Der Gelehrte, der sich eine im geistigen und sittlichen Sinn bessere als die gegebene Welt vorstellt, sollte sich währenddessen bewusst sein, dass Menschen, die im Rahmen sozialer Institutionen agieren, in erster Linie dem Gesetz der Trägheit unterliegen und in ihren Interessen begrenzt sind; er muss in der Lage sein, die Enttäuschung zu ertragen, die es für ihn bedeuten wird, wenn seine hochentwickelten Ideen keinerlei Resonanz finden. Er sollte vom Geist wahrhaftiger Bildung, vom Ethos des Gelehrten erfüllt sein. Diesem Ethos entspricht eine Haltung der Hingabe an das Reich der Wahrheit, wohin auch immer sie ihn führen mag. Dieses Ethos geht einher mit der Überzeugung, dass es die Wahrheit ist, die Menschen frei macht, unabhängig von dem Erfolg, den diese oder jene Wahrheiten, die entdeckt oder ans Tageslicht befördert werden, erzielen mögen. Nur solche Intellektuellen, die dieses Ethos pflegen, werden in der Lage sein, die

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Abscheulichkeiten und den Terror auszuhalten, die in einer Welt, die sich in der Krise befindet, jederzeit auftreten können. Vor diesem Hintergrund ist es alarmierend, dass unter den Gelehrten und Intellektuellen die Achtung vor der Bildung und das Ethos der Bildung in Vergessenheit geraten sind. Aus Gelehrten und Intellektuellen sind Ingenieure und Techniker geworden, ob sie nun die Philosophie, die Sozialwissenschaften oder die Chemie lehren. Kaufleute sind sie – so wie heute jeder ein Kaufmann ist. Wie dem auch sei, wir haben mit Entsetzen erlebt, was es mit dem Beitrag zur Zivilisation, den die Wissenschaftler von heute leisten, auf sich hat. Sie haben ein neues Ethos errichtet, das Ethos der Effizienz. Effizienz kann allerdings niemals ein menschliches Gut sein, denn die Realisierung der Werte, die mit Effizienz realisiert werden, bemisst sich nach Gesichtspunkten einer Instrumentalität. Angesichts dessen ist die letzte Hoffnung für eine Neubegründung des Ethos des Gelehrten der Religionsgelehrte. Allein er überwindet die Verhältnisse, in denen technisches Expertentum gilt, weil er in der Fülle des Seins lebt; er allein wird in der Lage sein, ein allgemeingültiges Bild des Weltbürgers zu schaffen, das die Grundlage einer neuen Form der Sympathie und Zusammengehörigkeit zwischen den Menschen bilden kann, erwachsend aus einer Gemeinschaft des Leidens.

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I Von Aristoteles ist die Aussage überliefert, dass in der Dichtung mehr Philosophie sei als in der Geschichtsschreibung.a Dies trifft insofern zu, als die Geschichtsschreibung sich mit einer Mannigfaltigkeit von Ereignissen und Begebenheiten beschäftigt, in welchen Zufall und Notwendigkeit so von Grund auf ineinander verflochten sind, dass es unmöglich ist, philosophische Verallgemeinerungen daraus zu gewinnen. Gleichwohl gibt es historische Situationen, die für den Geschichtsschreiber ebenso wie für einen Soziologen, der sich der Geschichte widmet, Aufforderung sind, über ihre philosophischen Implikationen nachzudenken. Zwei philosophische Fragen sind es, die immer wieder in Zeiten aufgeworfen werden, die von großen Veränderungen, von einer religiösen bzw. politischen Krisis geprägt sind. Die erste Frage gilt der Beziehung, in der die Geschichte mit der Natur steht und mit dem, was die Natur transzendiert. Dabei geht es darum zu ermitteln, ob es einen Sinn in der Geschichte gibt, und was ihr Gehalt sein mag. Die zweite Frage gilt dem Thema der historischen Anthropologie; Geschichtsschreiber in Zeiten der Krisis sind gehalten, sich mit der Lage des Menschen auseinanderzusetzen und die Frage zu stellen, welche der spezifischen Bedingungen,

ÜAlbert Salomon, „Sociology and the total state“. In: Cross Currents 2, 4, 1952, S. 32–42. Übersetzt von Peter Gostmann.

a Aristoteles, Poetik. Griechisch und Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 1982, S. 29.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Salomon, Schriften 1949–1954, Albert Salomon Werke 4, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37736-6_10

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die den historischen Kontext prägen, dafür gesorgt haben, dass bestimmte Formen menschlichen Verhaltens in den Vordergrund gerückt, andere von der Bildfläche verschwunden sind. Der Geschichtsschreiber, der die Umstände radikalen Wandels analysiert, kann nicht umhin, philosophische Betrachtungen anzustellen. Er versteht, dass die Möglichkeiten des Menschen zur Größe und zum Unheil tatsächlich auf das Problem der Persönlichkeit verweisen, die der einzelne Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt der menschlichen Geschichte entwickelt. Auf diese Weise bestätigt der Geschichtsschreiber, wenn er philosophisch gesonnen ist, dass der Mensch von Natur ein historisches Wesen ist.

II Die erste der beiden oben genannten Fragen, diejenige nach der Beziehung von Geschichte, Natur und dem, was die Natur transzendiert, ist vor allem ein Anliegen der klassischen, wissenschaftlich orientierten Philosophen der vorrevolutionären Epoche. Seitdem 1789 das Zeitalter der Revolutionen begann, haben sich Geschichtsschreiber und Soziologen der zweiten Frage gewidmet, der nach den Bedingungen, durch die bestimmte Verhaltensformen in den Vordergrund rücken und andere verschwinden. In der westlichen Welt existiert seit etwa einem Jahrhundert ungebrochen eine Tendenz des geschichtlichen Denkens, die für den historisch-soziologischen Denker beunruhigend sein muss, wirft sie doch die Frage auf: Was geschieht mit dem Menschen, diesem Wesen von Spontaneität und schöpferischer Vernunft, in der zusehends expandierenden technologischindustriell verfassten Massengesellschaft der Moderne? Die Geschichtsschreiber und Soziologen, die Fragen dieser Art aufwarfen, standen unter dem Eindruck dreier fundamentaler Krisen: der Französischen Revolution, des imperialistischen Kapitalismus und des Sozialismus der marxistischen Art. Zu ihnen zählen Henry Adams, Alexis de Tocqueville, Jacob Burckhardt, Friedrich Nietzsche, Wilhelm Dilthey, Georg Simmel oder auch Max Weber. Ihre grundlegenden Analysen historischer Entwicklungen brachten sie dazu, sich intensiv mit den Fragen der menschlichen Unabhängigkeit und der Würde des menschlichen Intellekts zu befassen. Als diese Denker über ihre historische Situation nachdachten, war der Sozialismus eine sich ausbreitende revolutionäre Bewegung. Man konnte ihn noch als ein dogmatisches System behandeln, das lediglich der Möglichkeit nach in Form eines Despotismus des Kollektivs seine Macht entfalten könnte. Dem Geschichtsschreiber unserer Tage dagegen, der sich konfrontiert sieht mit einem Staat, der sozialistisch heißt, mit der Sowjetunion, begegnet dieses Thema

II

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in denkbar konkreter Form. Bemerkenswert ist, dass indes niemand diesen Staat bolschewistisch oder sozialistisch nennt, sondern dass vom totalen Staat die Rede ist. Dieser Begriff ist Ausdruck einer bedenklichen Generalisierung, stellt einen fraglichen Idealtypus von ganz und gar formaler Art dar. Gestalt gewinnen konnte er erst in Folge der Imitation des Grundmodells des bolschewistischen Staates durch Faschisten und Nationalsozialisten, die dieses Modell zugleich seines sozialistischen Gehalts entleerten. Die Vordenker dieser Regimes wiesen den Sozialismus zurück, fühlten sich allerdings auch nicht berufen, den Kapitalismus zu verteidigen. Ihre Faszination galt einem Staat, in dem eine verschwindend kleine Elite über das Gewaltmonopol verfügt, das es ihnen ermöglicht, die materiellen und die sittlichen Kräfte der Nation zu kontrollieren. Dieses Modell des totalen Staates sah die ungehemmte Souveränität einer Minderheit vor, der gestattet war, die menschlichen und die materiellen Ressourcen der Gesellschaft willkürlich zu handhaben. Die Elite ernannte sich selbst zum einzigen Hüter aller politischen Institutionen und zum Eigner der Leben und Schicksale aller Bürger, ungeachtet bestehender Gesetze und juristischer Verfahrenswege. Als Kategorie genommen, kennzeichnet der ‚totale Staat‘ ein formales Modell politischer Ordnung ohne Rücksicht auf deren Gehalt. Er verkörpert das l’art pour l’art der Macht, bedeutet Imperialismus um der Expansion willen, hat seinen Zweck in sich selbst. Die Kategorie des totalen Staates ist eine Ableitung vom Archetypus des bolschewistischen Staats. Sicher war auch dies ein totaler Staat, doch mit andauernder Referenz auf einen spezifischen Zweck, der sich aus den sozialistischen Idealen ergab, die Marx entworfen hatte, abgeändert und erweitert in Form der Ergänzungen, die Lenin und Stalin vornahmen. Nun ist es wichtig zu bemerken, dass die formale Kategorie des totalen Staates heute, nachweislich ihrer alltäglichen Anwendung auf alle Formen der totalen Ordnung, unabhängig von ihrem Gehalt, allgemein akzeptiert ist. Diese Entscheidung in semantischer Hinsicht verweist auf die tiefe Erschütterung, die von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geprägte Völker erfasst, wann immer in einem Staatsgebilde eine kleine Elite die vollständige Kontrolle über die politische, sittliche und soziale Sphäre menschlichen Tuns und Gebarens gewinnt. Der totale Staat ist somit ein Typus der politischen Ordnung, den kennzeichnet, dass eine exklusive Minderheit sich unter Einsatz ihres Indoktrinationsvermögens, durch Beherrschung und Steuerung alles menschlichen Tuns, Denkens und Fühlens, über Gesetz und Sitte stellt. Das Erlebnis dessen ist für den heutigen Historiker ebenso essenziell, wie es die Französische Revolution für Tocqueville oder der Industriekapitalismus für Max Weber waren.

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III Zum üblichen Programm des historischen Denkers gehört es, einen Zusammenhang herzustellen zwischen verhängnisvollen neuen Institutionen und den vielfältigen Ursachen und Motiven, die ihnen Geltung verschafft haben mögen. Dieses Verfahren ist von gleichermaßen theoretischer und praktischer Bedeutung. Von theoretischer Bedeutung ist es für den Philosophen, dem es darum geht, die Abfolge des Geschehens zutreffend nachzuvollziehen und die Einflussgrößen richtig zu gewichten. Von praktischer Bedeutung ist es für den Staatsmann als Arzt der Gesellschaft, der nach einer korrekten Diagnose trachtet, um auf deren Grundlage die Erholung des Politischen zu befördern oder einer sozialen Krankheit vorzubeugen. Soziale Verursachung gibt es im Allgemeinen und im Besonderen. Alles historische Geschehen weist eine allgemeine Tendenz auf, die sich aus Logik und Notwendigkeit des sozialen Gefüges ergibt. Es gibt die immerwährenden Elemente der Expansion und des Widerstands, der Herrschaft und der Abhängigkeit, des Anerkennens und Anerkanntwerdens. Und es gibt spezifische Elemente, die sich aus der Eigentümlichkeit der historischen Situation ergeben. Die Analyse jeder historischen Situation bedarf der Berücksichtigung beider Formen der Verursachung. Unter den allgemeinen Bedingungen, die die Dynamik politischer Institutionen antreiben, wird der Geschichtsschreiber jene Elemente finden, die im Besonderen zur Einheit, Dichte und Integrität einer Gesellschaft oder aber zu deren Zerfall und Auflösung beitragen. Es mag sich hier um die Einwirkung äußeren Drucks, etwa um Feinde an ihren Grenzen, um aufreibende ökonomische Umstände oder um Probleme der Population handeln. Oder es mag um innere Faktoren gehen, um soziale Antagonismen wie Klassenkonflikte oder politische Gegensätze. Jedenfalls sind dies objektive Faktoren; zu dynamischen Kräften, die auf die historische Entwicklung einwirken, werden sie, wenn sie ins subjektive Bewusstsein einer historisch gegebenen Gesellschaft gehoben werden. Gesellschaften beurteilen die Qualität der Kräfte, die im sozialen Prozess auf sie einwirken, d. h. ob es sich um gute oder um böse handelt, in Begriffen dessen, was sie als Vorstellung eines guten Lebens voraussetzen. Daraus folgt eine weitere Frage – die nach der Bedeutung von Ideen und Theorien für die kausale Analyse des sozialen und politischen Geschehens. Ohne Frage waren etwa die Väter der amerikanischen Verfassung stark beeinflusst von der politischen Philosophie Montesquieus und dem Liberalismus Lockes; und zeitgenössische Geschichtsschreiber stellen eine Verbindung zwischen dem Aufstieg des italienischen Faschismus und der Soziologie Paretos her oder entdecken den Ursprung des

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Nationalsozialismus in Deutschland in den Lehren Hegels, Nietzsches oder der Existenzphilosophen. Wie auch immer es um den Wahrheitsgehalt von Zuschreibungen wie diesen bestellt sein mag; wir können aus den genannten Fällen ersehen, dass wir es hier gleichermaßen mit einem methodologischen und einem politischen Problem zu tun haben. Genauer ist es zweierlei, das wir aus diesen Beispielen lernen können. Zum einen, dass die Annahme mancher historischer Soziologen, aller radikale Wandel nehme Gestalt in einem spezifischen philosophischen Referenzrahmen, unbegründet sein könnte; zum zweiten, dass wir die Frage der Relevanz von Zuschreibungen wie den genannten stellen müssen, wenn wir an einer unverfälschten Interpretation politischer oder sozialer Institutionen interessiert sind. Dies führt uns zu der These, dass alle philosophischen Doktrinen politische oder soziale Bewegungen höchstens indirekt beeinflussen. Denn wann immer es zur Organisation großer Gruppierungen kommt, folgen sie simplen, ja primitiven Ideen, verkürzten Fassungen von politischen Theorien oder Sozialtheorien. In diesem Zusammenhang muss unsere besondere Aufmerksamkeit dem Werk von Marx gelten, schuf er doch den Referenzrahmen, in dem die sozialistische Bewegung und die bolschewistische Partei sich organisierten und ihre Aktivitäten planten. Im Unterschied zu Montesquieu oder Locke wollte Marx mit dem sogenannten wissenschaftlichen Sozialismusb eine Anleitung, ein Handbuch der revolutionären Praxis schreiben. Er hatte keine Bedenken, das vielschichtige Phänomen der sozialen Entwicklung zu simplifizieren und ihm eine rohe Form zu geben, um den Geist der sozialen Revolution zu entfachen. Und dennoch, seine Lehren wurden, um sie der Vorstellungswelt der Massen anzupassen, in die reichlich naive Vision vom Zukunftsstaatc transformiert, während die unverfälschte Interpretation dieser Lehren zum privaten Monopol von Parteiintellektuellen wurde, die sich selbst zu den Hohepriestern einer Kirche machten, die sich im Besitz der letzten Wahrheiten wähnte. Nachdem die Bolschewisten die Macht

b Vgl.

Karl Marx, „Konspekt von Bakunins Buch ‚Staatlichkeit und Anarchie‘“. In: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke. Band 18. Herausgegeben vom Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der SED. Berlin: Dietz 1973, S. 597–642, hier S. 636. Siehe auch Karl Marx, „Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons ‚Philosophie des Elends‘“. In: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke. Band 4. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin: Dietz 1959, S. 63–182. c August Bebel, Zukunftsstaat und Sozialdemokratie. Eine Rede des Reichtagsabgeordneten August Bebel in der Sitzung des deutschen Reichstags vom 3. Februar 1893. Berlin: Verlag des Vorwärts 1893.

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ergriffen und die sozialistische Konkurrenz eliminiert hatten, konstituierten sie ihr Regime als die letztgültige Erfüllung der Theorien von Marx. Es ist zweifelhaft, ob eine Deutung der Werke von Marx zulässig ist, die in ihnen den Referenzrahmen für die Konstruktion des totalen Staats in Form des realsozialistischen Staats sieht. Neben der Theorie von der Diktatur des Proletariatsd steht immer noch die Idee, der Sozialismus werde den Sprung in eine Welt der Freiheit ermöglichen. Es bleibt die Erinnerung an jenen Marx, der bemüht war, sich selbst von der Gebundenheit an Hegel zu lösen, indem er den Versuch der Formulierung eines realen Humanismus unternahm.e In Russland interpretiert man Marx aus der Perspektive Lenins und Stalins. Offenkundig wurde dies anlässlich der Ächtung des einzig großen Werkes, das die marxistische Philosophie hervorgebracht hat, Georg Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein.f Indem die bolschewistische Partei sich zur authentischen Interpretin von Marx erklärte, vergaßen die Parteiintellektuellen, dass ihre liebste Gerätschaft, die Wissenssoziologie, auch auf ihre eigene Gruppierung anzuwenden wäre. In der revolutionären Gesellschaft Russlands vereinigten sich drei verschiedene Tendenzen, deren jede von totalitärer Art war. Erstens bildete der organisierte Teil der Revolutionäre aus einer gewissen Notwendigkeit eine totalitäre Institution. Zweitens fiel die Revolution mit dem Erlebnis eines totalen Krieges zusammen. Drittens verdankte die Revolution dem vertrauten Umgang mit dem Despotismus des zaristischen Regimes eine wirkungsvolle Handlungsanleitung. Diese drei Tendenzen fügten sich ineinander, als die Revolution ausbrach und das zaristische Regime anlässlich der militärischen Katastrophe des Jahres 1917 kollabierte. Dies war die Situation, in der es den Bolschewisten möglich wurde, Marx’ Werk im Sinne einer vollständigen Herrschaft des Proletariats auszudeuten.

d Karl

Marx, „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, Teil III: Folgen des 13. Juni 1849“. In: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke. Band 7. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin: Dietz 1960, S. 64–94, hier S. 89. e Karl Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts“. In: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke. Band 1. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin: Dietz 1970, S. 201–333; Friedrich Engels und Karl Marx, „Die heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten“. In: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke. Band 2. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin: Dietz 1970, S. 5–223, hier S. 7. f Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik. Berlin: Malik-Verlag 1922.

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Es ist strittig, ob man von einem Totalitarismus Marx’ sprechen kann. Weniger strittig ist allerdings, dass die Begründer der Soziologie in Frankreich ein Modell der totalen sozialen Ordnung aufstellten. Der grenzenlose Hohn, mit dem Marx dieser philosophischen Bewegung begegnete,g hat die Soziologiehistoriker davon abgehalten, sich mit den Arbeiten dieser Gründerfiguren auseinanderzusetzen. Für unsere Untersuchung über den Ursprung des totalen Staates ist es gleichwohl von beträchtlichem Wert, diese Auseinandersetzung zu führen. Weder war es ein Zufall, dass die Soziologie in Frankreich entstand, noch war es einer, dass die ersten Soziologen ein Modell des Totalitarismus schufen.

IV Die Soziologie entstand in Frankreich als eine ganz und gar revolutionäre Philosophie, deren Gegenstand revolutionärer Fortschritt war. Im politischen Sinn allerdings war diese Philosophie antirevolutionär. Ebenso die Reaktionäre wie die Progressiven unter den Gründern der Soziologie verfolgten das Ziel, die Revolution zum Abschluss zu bringen und die umfassende Anarchie der Zustände zu beseitigen. Nicht in Form politischen Handelns, sondern in Form einer vollkommenen sozialen Revolution, die sämtliche Institutionen des Rechts und alle politischen Institutionen als hinfällig erweisen und abschaffen würde, sollte dies geschehen. Dieser Ausgangspunkt der Soziologie ist von Bedeutung, will man deren einzigartigen Einfluss auf die politischen Institutionen des totalen Staats verstehen. Wir begegnen hier einem äußerst interessanten Aspekt sozialer Verursachung. Die frühen Soziologen konstruierten das totalitäre Modell als Idealtypus der Organisation einer Industriegesellschaft. Die These, die ich in dieser Abhandlung verfolge, lautet, dass dieses totalitäre Modell einer technologisch-industriell verfassten Massengesellschaft den Aufstieg des totalen Staates verursachte – durch verschiedene Kanäle totaler Organisation, die seiner Modellierung seitens der revolutionären Gruppierung vorausgingen, hindurch, im Mittel einer Praxis der totalen Hingabe, verfestigt durch das Erlebnis des russischen Bürgerkriegs.

g  Marx,

„Das Elend der Philosophie“. Siehe auch Karl Marx und Friedrich Engels, „Manifest der Kommunistischen Partei“. In: Karl Marx und Friedrich Engels. Werke. Band 4. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin: Dietz 1959, S. 459–493, hier S. 482–492.

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Die Soziologie als jene Wissenschaft vom Menschen, als die ihre Gründer sie vorsahen, war die erste moderne Manifestation einer Denkungsart, die die Grundsätze der Gerechtigkeit und Gleichheit als Kriterien für ein wohlgeratenes Staatswesen außer Betracht ließ. Die ersten Soziologen lehnten die politische Philosophie als unberechtigte Metaphysik ab und befanden den Staat für ein Ärgernis. Politisches Handeln hielt man für das willkürliche Ergebnis abstrakter Rechte und Pflichten, das keinerlei Beitrag zu Fortschritt und Verbesserung des materiellen und sittlichen Niveaus der Menschheit zu leisten vermöchte. Tatsächlich, die Soziologie wurde zu einer revolutionären Kraft, indem sie das Politische verleugnete. Was man verwarf, war die schöpferische Kraft des menschlichen Geistes, der sich die Voraussetzungen und Grundsätze dauerhaften Miteinanders im Rahmen eines politischen Gemeinwesens verdankten. Zudem missbilligten diese ersten Soziologen die objektiven Erkenntnisse, die die politischen Philosophen versammelt hatten. Sie vergaßen, dass das Wissen der Menschen um ihre Antriebe und Interessen, um die Leidenschaften und die Güter, die sie pflegen, während sie ihre sozialen Beziehungen gestalten, weit mehr umfasst als das, was Soziologen über die Gesetze der Gesellschaft zu wissen meinen. Die Soziologen machten den Anfang mit einer verhängnisvollen Denkungsart, die fordert, wissenschaftliche Gesetze auf gesellschaftliche Prozesse zu übertragen. Der Begriff des Gesellschaftsprozesses bedeutet eine Abstraktion von der historischen Entwicklung in ihrer Vielschichtigkeit, die auch die unterschiedlichen Aspekte politischen Handelns umfasst. Daher verblieb die Soziologie im politischen Sinne antirevolutionär. Die frühen Soziologen nahmen Anstoß noch an den bescheidensten Ansätzen zu Konstitutionalismus und Bürgerrechten, zu denen es zwischen 1815 und 1848 kam; in einer Gesellschaft, die von Wissenschaftlern regiert wird, gibt es keinen Grund für die gesetzlich verbürgten Rechte der Gewissensfreiheit oder des freien Meinungsaustauschs. Ein Gesellschaftswissenschaftler von der Art der frühen Soziologen sieht die Möglichkeit des Meinungsaustauschs oder eines Gewissenkonflikts nicht vor, weil doch ein jeder einräumen müssen wird, dass die Hypothesen des Gesellschaftswissenschaftlers zutreffend sind; was zu tun bleibt, ist lediglich der logische Nachvollzug von dessen Denkschritten. Auf der anderen Seite wurde den Soziologen, indem sie die historische Entwicklung der Gesellschaft unter Anwendung wissenschaftlicher Gesetze analysierten, der revolutionäre Fortschritt der Industriegesellschaft sichtbar. Sie behaupteten, das Grundgesetz der historischen Entwicklung gefunden zu

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haben. Turgot hatte dieses Gesetz des Fortschritts bereits vorweggenommen.h Kraft dieses Gesetzes würde der menschliche Geist sich fortentwickeln vom theologischen zum metaphysischen Stadium, um mit Erreichen des wissenschaftlichen Stadiums den höchsten Grad des Fortschritts zu verwirklichen. In Ausarbeitung dieses Modells schufen die Begründer der Soziologie einen neuen Typus von Geschichtsphilosophie, der wissenschaftlich heißt, da er uns ermöglichen soll, den Fortschritt des Geistes als das dynamische Element der Geschichte zu erkennen. Mit diesem Wissen, auf Grundlage dieser Erkenntnis würden die Soziologen einen objektiven Einblick in die Zukunft der sozialen Entwicklung gewinnen können. Ihr gesamtes Schaffen galt nun recht eigentlich der Ausformulierung jener kommenden sozialen Transformation, die die Welt aus den Angeln heben und neue Lebensweisen, neue Arten des Denkens und des Fühlens hervorbringen würde. Es ist ein großer Vorzug der Begründer der Soziologie, sich wohl bewusst gewesen zu sein, dass die Heraufkunft jener schönen neuen Welti der Menschheit eine Ordnung einbringen würde, aufgrund derer diese Welt sich radikal von allen früheren Epochen der westlichen Geschichte unterscheiden würde. Sie prophezeiten eine Welt aus Autorität, Disziplin, Hierarchie und Unterordnung, die das Unterpfand einer vollkommen effizienten Menschheit sein würden. Es ist wichtig zur Kenntnis zu nehmen, dass die Begründer der Soziologie von Anfang an gleichermaßen der konstruktiven Kraft der Vernunft, die so hohes Ansehen in der politischen Philosophie genießt, und den Errungenschaften des Verfassungsstaats ihr Vertrauen entzogen. Als Ersatz boten sie eine neuartige Geschichtsphilosophie auf, für die Geschichte der Fortschritt des wissenschaftlichen Geistes ist und für die Ordnung und Hierarchie, Disziplin und Gehorsam die notwendigen Voraussetzungen des materiellen und sittlichen Wachstums der Menschheit bilden.

h  Vgl.

Anne Robert Jacques Turgot, „Vortrag über die Vorteile, die die Entstehung des Christentums der Menschheit verschafft hat“. In: Anne Robert Jacques Turgot, Über die Fortschritte des menschlichen Geistes. Herausgegeben von Johannes Rohbeck und Lieselotte Steinbrügge. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 117–139. Anne Robert Jacques Turgot, „Philosophische Darstellung der allmählichen Fortschritte des menschlichen Geistes“. In: Anne Robert Jacques Turgot, Über die Fortschritte des menschlichen Geistes. Herausgegeben von Johannes Rohbeck und Lieselotte Steinbrügge. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 140–163. i Aldous Huxley, Schöne neue Welt. Ein Roman der Zukunft. Übertragen von Herberth Egon Herlitschka. Frankfurt und Hamburg: Fischer Bücherei 1960.

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V Die Gründerväter der Soziologie brachten ein großes historisches Paradox hervor. In ihrem Bemühen, den Fortschritt in seiner radikalsten Form voranzutreiben, veränderten sie das für die westliche Welt charakteristische Normengefüge. Was immer man sagen mag über den parvenühaften Wesenszug der realpolitischen westlichen Kultur, wenn man ihr die Ideale und Grundsätze der Hindu-Kultur oder der Kultur Chinas gegenüberstellt – die wesentlichen Bestandteile einer wahrhaft freiheitlichen, zugleich wahrhaft maßvollen Ordnung des politischen Gemeinwesens und des Zusammenlebens der Individuen in ihm sind doch Schöpfungen des Westens. Der Westen hat das Ideal, dass die menschliche Vernunft und die kreative Kraft menschlicher Unabhängigkeit und Spontaneität, hervorgebracht im Einklang mit der konstitutionellen Gestaltung politischer Freiheit, zu achten seien. Die Wegbereiter der Soziologie haben dieses Normengefüge vollständig verwandelt. Sie begrenzten das Geschichtliche auf den Fortschritt der Menschheit in Form technologisch-industrieller Entwicklung und erhoben so die Gesellschaft oder das kollektive Sein zur eigentlichen Wirklichkeit der Geschichte. Das Individuum erklärten sie zum Abstraktum, sahen in ihm lediglich ein Agens, eine funktionale Komponente der Gesellschaft. Daher maßen sie der Analyse von Freiheit und Würde des Menschen keinerlei Bedeutung bei. Sinnvoll konnte menschliches Leben nur heißen, sofern sich darin die Funktion eines Mitglieds der Gesellschaft erfüllte. Diese Soziologen schufen die soziale Entwicklung zum Gesamt des menschlichen Daseins um; von einem größeren Ganzen hatten sie keine Vorstellung. Wenn nur die Methoden der Wissenschaft zur Anwendung kämen, dann würde die Geschichte aus dem währenden Fortschritt der industriell verfassten Menschheit ein vollkommenes Universum schaffen. Statt politischer Führung wollten sie eine wohlmeinende und wissenschaftlich geschulte Planungsbehörde, statt einer staatsbürgerlichen Verfassung gemäß Rechten und Pflichten die Gesellschaft als totalen Betrieb. So gaben sie die Richtung für den totalen Staat vor, während sie sich von der Idee politischer Ordnung distanzierten. Diese Männer wussten und waren begeistert davon, dass sie radikaler waren als die Jakobiner. Nach ihrem Verständnis würde die revolutionäre Wesensart der technologischen Umwälzungen alle vorhandenen Formen, das individuelle Gebaren ebenso wie die sozialen Beziehungen, vollständig verändern. Auf dreierlei Weise verfolgten sie ihr Ziel, den in der Zukunft notwendig einsetzenden Wandel zu erläutern und anzuregen:

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1. Sie analysierten die technologischen und ökonomischen Lebensbedingungen der Menschheit des industriellen Zeitalters so, als sei die unumgängliche Notwendigkeit totaler Planung in diesen Lebensbedingungen angelegt. 2. Sie lehrten die Industriegesellschaft wie einen Mythos (im Sinne Sorelsj), dazu berufen, die Feindschaft zwischen der Arbeiterschaft und der Minderheit der Müßigen aufzuheben. Dieser Antagonismus war in ihren Augen gleichbedeutend mit dem der schaffenden, industriell verfassten Menschheit einerseits und den destruktiven politischen Einrichtungen andererseits. Sich selbst verstanden sie daher als mythische Helden mit dem göttlichen Auftrag, alle politischen Einrichtungen zu stürzen und auf diese Weise die Anarchie in der Welt zu beseitigen. 3. Sie erfanden neue Religionen. Dies war unverzichtbar, um den technologisch und unternehmerisch verfassten Gesellschaften den Antrieb zur Liebe und zur Anteilnahme am Wohl des Gesellschaftsganzen einzupflanzen. Die prekäre Stellung dieser Soziologen-Philosophie zeigt sich gerade im Zwiespalt der bejahenden Analyse der industriellen Welt und der Bedeutung, die man einer schöpferischen Religion beimaß. Das revolutionäre Streben der Soziologen beruhte auf der Idee, dem Reich menschlichen Tuns in der Geschichte wissenschaftliche Methoden zu applizieren. Mit dieser Idee hat man allerdings noch keinerlei Vorstellung davon gewonnen, wie menschliches Tun anzuleiten, wie es in Bewegung zu setzen wäre, denn aus der Synthese verschiedener wissenschaftlicher Methoden ergeben sich noch keine Wertvorstellungen. Aus diesem Grund bedurfte es einer soziologischen Religion, der sich Annahmen über gesellschaftliche und sittliche Werte entnehmen ließen. Doch ist es ein sinnloses Unterfangen, eine Gesellschaft zusammenzuleimen, indem man das kollektive Sein mit einer abstrakten Liebe zu einer anonymen Menschheit ausstattet, um auf diese Weise Natur und Gesellschaft wissenschaftlich kontrollieren zu können. Sinnlos ist dies, weil die menschliche Natur eins und unteilbar ist. In der menschlichen Vernunft manifestieren sich Spontaneität und Vielschichtigkeit. Platon und Aristoteles ebenso wie die jüdischen Denker wussten, dass Erkennen und Lieben ineinander verflochten sind. Dagegen die Gründer der Soziologie misstrauten der menschlichen Vernunft und setzten auf die wissenschaftliche Methode. So mussten sie einen eigenständigen Bezirk der Affekte erfinden, die als Richtmaß für das wissenschaftliche Räsonnement der

j Georges

Sorel, Über die Gewalt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969, S. 134–147.

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Menschheit wirken. In letzter Konsequenz folgte daraus die spezifisch moderne Dichotomie des Rationalen und des Irrationalen, Kennzeichen der prekären Stellung der szientistisch gesonnenen Menschen unserer Tage. Um die Eigentümlichkeit des Wirkens der frühen Soziologen recht zu verstehen, muss man ihr Denken in seinen verschiedenen Schichten nachvollziehen. Zuerst ist da die aufrichtig geführte wissenschaftliche Analyse wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungen. Als Zweites folgt die synthetische Konzeptualisierung der industriellen als einer von Grund auf revolutionären Welt. Analyse und Synthese ermöglichen die Konstruktion einer industriell verfassten Menschheit, die die Trägerin des Sinns der Geschichte, Heldin des sozialen Geschehens ist. Dieses mythische Element, das die Gründer der Soziologie ihrem Schaffen beimengten, können wir anhand der semantischen Probleme, die die Eigentümlichkeit ihrer Sprache mit sich bringt, erkennen. Im befremdlichen Nebeneinander von wissenschaftlichen Begriffen, schwärmerischen Formulierungen und Verwünschungsformeln zeigt sich die mythische Ebene ihres Denkens. Die Religion der Humanität ist die logische Folge der mythischen Konzeption der sozialen Revolution. Sie beglaubigt deren Wahrheit und Sinnhaftigkeit, ist die Unabhängigkeitserklärung der zur Reife gelangten industriellen Welt. Die Wissenschaftler haben gelernt, dass sie es sind, die die Sinnhaftigkeit des kollektiven Daseins im sozialen Prozess hervorbringen.

VI Die soziologischen Religionen stellen wiederum ein neues, ja revolutionäres Element dar – einen modernen Paganismus, der zum Hauptmerkmal des entstehenden wissenschaftlich-industriellen Feldes wird. Somit ist der Aufstieg der Soziologie der Aufstieg eines neuen Modells der Geschichtsphilosophie. Tatsächlich allerdings handelt es sich hier um ein sehr altes Modell, um eine Imitation des augustinischen Entwurfs,k ergänzt um die Bestimmung, dass die civitas terrena mit der civitas coelestis identisch sei. Und als säkularisierte Version des augustinischen Modells der Geschichtsphilosophie orientiert sich die Soziologie vollständig am Ordnungsmodell der Kirche, wie die Soziologen

k Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat (De civitate Dei). Vollständige Ausgabe in einem Band. Buch 1 bis 10. Buch 11 bis 22. Aus dem Lateinischen übertragen von Wilhelm Thimme. Eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen. München: DTV 2007.

VI

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auch ihre Vorstellungen von der politisch-sozialen Instandsetzung der Welt von der Kirche übernommen haben. Das Ordnungsgefüge ihrer Kirche verlieh ihnen die letztgültige Autorität einer Heilsbotschaft nebst der persönlichen Autorität der Gründergestalt, umfasste eine Hierarchie, gestützt auf Disziplin und Unterordnung, jene Grundstoffe, deren eine geistige Elite bedarf, und sah im kleinen Maßstab Demokratie vor, nämlich die Möglichkeit, im Mittel rechten Lernens und der rechten Überzeugung in die Reihen der Elite aufzusteigen. Derart entwickelten die Gründer der Soziologie die Grundidee der totalen Organisation der Gesellschaft, die den historischen Prozess auf drei Ebenen begleiten soll. Erstens auf der technisch-industriellen Ebene; hier bedürfe die Gesellschaft einer totalen Kontrolle der Produktion und der Verteilung der Güter, um die stete Verbesserung des Wohlergehens der Menschheit sicherzustellen. Dafür werde eine wissenschaftliche Planungsbehörde sorgen können. Dies ist das Modell der unternehmerisch verfassten Gesellschaft, die von wissenschaftlichhumanitärem Planungspersonal regiert wird. Zweitens erkannten die Gründer der Soziologie, dass jede revolutionäre Gruppierung notwendig selbst eine totalitäre Organisation sein muss, weil sie ohne die letztgültige Autorität eines Führers, ohne den Gehorsam seiner Gefolgschaft, ohne die religiöse Verklärung ihrer Ziele und der Sinnhaftigkeit ihres Tuns nicht funktionieren würde. Die dritte Ebene ist die ekklesiastische. Das wissenschaftliche Planungspersonal und die Sozialrevolutionäre sind die Priester, die das Evangelium des sozialen Heils, der kollektiven Erlösung der Menschheit kraft des wissenschaftlich begründeten Sinns der Gesellschaftsgeschichte verkünden. Dies ist keine offenbarte Religion, sondern eine, die bewiesen wird. Ihre Wahrheit ist zu billigen, weil sie zu verstehen ist. Ihr Evangelium ist das einer humanitären Liebe, der durch gründliche Überzeugungsarbeit Geltung verschafft gehört. Die Anhänger der Schule Henri de Saint-Simons und die der Kirche Auguste Comtes sind gleichermaßen Wissenschaftler, Priester und Herrschaftspersonal, haben die Aufsicht über die totale Organisation der Gesellschaft und steuern sie, weil sie über das Monopol der wissenschaftlich erwiesenen Wahrheit verfügen. Dies also sind die drei Seiten des Ursprungsmodells der Soziologie; sie ist in dreierlei Hinsicht totalitaristisch. Auf der Ebene der Wirtschaft verlangt sie eine Organisation der Gesellschaft gleich der eines Industrieunternehmens; auf der revolutionären Ebene fordert sie die totalitäre Organisation der Gruppierung, die die Revolution trägt; auf der spirituellen Ebene sieht sie eine Kirche vor, deren Autorität sich ihrer Unfehlbarkeit verdankt. Es ist dies die Vision einer Rationalisierung des jakobinischen Revolutionsregimes bzw. der zentralisierten Befehlsgewalt im Imperium Napoleons, ist die Übertragung dieser geschichtlichen Erfahrungen auf die fortschreitende Ausdehnung der techno-

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logisch-industriellen Welt. Die französische Soziologie in ihrer spezifischen, eigentümlichen Gestalt wurde möglich vor diesem historischen Hintergrund, der uns zugleich ihr Modell einer totalitären Ordnung verständlich macht. Mit dieser Analyse wird auch der Zusammenhang zwischen dem Ursprungsmodell der Soziologie und dem totalen Staat deutlich. Auch im Fall der Sowjetunion haben wir es mit drei totalitären Elementen zu tun. Zunächst ist da die Struktur der Revolutionspartei, die aus formalen Gründen totalitär ist; hinzu kommt der sozialistische Grundsatz totaler Planung, der Teil ihrer Doktrin ist; schließlich die spirituelle Autorität der revolutionären Heilsbotschaft. Daneben gibt es mittlerweile, als neues Element des totalen Staats in Russland, die Zurichtung auf den totalen Krieg während des Zweiten Weltkriegs. Die Arbeiten der ersten Soziologen waren nicht unmittelbar Anlass für den Aufstieg des totalitären Staats. Lenin und Trotzki waren selbstverständlich bestens mit ihnen vertraut; so wissen wir aus Lenins Schriften, dass er fasziniert war von Saint-Simons erhellender Vorstellung von der Rolle, die die Kreditinstitute für den Wiederaufbau einer Gesellschaft spielen könnten.l Gleichwohl ist dies, wenn es um Fragen der sozialen Verursachung geht, ohne Belang. Im Fall der russischen Revolution und ihrer Institutionalisierung liefen vier Entwicklungen zusammen; die Entwicklung hin zur totalen Steuerung in der Organisation revolutionärer Gruppierungen, die sozialistische Lehre, die Fortdauer des totalen Krieges und die zaristische Tradition der Herrschaft über das Gesetz bzw. jenseits von Gesetzen. Die Vereinigung dieser vier Ideen gemeinsam mit der Missachtung freiheitlicher Elemente in Marx’ wissenschaftlicher Doktrin sorgte dafür, dass das totalitäre Modell, wie es die sogenannten ‚utopischen‘ Sozialisten bzw. Soziologen entwickelt hatten, eine Neuauflage erfuhr. Aus dem Blickwinkel des heutigen Betrachters scheint es angezeigt, den Spieß umzudrehen und Marx’ Lehre ‚utopisch‘, dagegen die Theorien der französischen Soziologen ‚wissenschaftlich‘ zu nennen. Gerade angesichts der gegenwärtigen Situation hier in den Vereinigten Staaten sind Marx’ Ideen von weit geringerer Bedeutung als die der französischen Soziologen, die von einer vollständigen Einheit von Unternehmerschaft und Arbeiterschaft ausgingen und die Idee des Klassenkampfs nicht vorsahen. Sie stehen unserer Art des Denkens weit näher, weil ihre Faszination für Technologie und unternehmerische Dinge und deren

l  Wladimir Iljitsch Lenin, „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß.“ In: Wladimir Iljitsch Lenin, Werke. Band. 22. Ins Deutsche übertragen nach der vierten russischen Ausgabe. Berlin: Dietz 1961, S. 189–309, hier insbes. 307–309.

VII

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integrative Wirkung weit größer war, als die zerrüttende Wirkung sozialer Gegensätze ihr Interesse auf sich zog.

VII Das Ziel der Analyse bis hierher war es zu zeigen, dass der Aufstieg der Soziologie in Frankreich ein spezifisches Momentum darstellt, aus dem die Möglichkeit entstand, das neue Modell einer Sozialphilosophie des gesellschaftlichen Fortschritts, darin enthalten die totalitäre Organisation der Gesellschaft, in seiner eigentümlichen Gestalt zu entwickeln. Anschließend an die Analyse der Eigentümlichkeit der französischen Soziologie ist es nun geboten, deren Verwandtschaft mit einem spezifischen Modell der Philosophie, das sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts manifestierte, aufzuzeigen. Man muss nicht eigens hervorheben, dass die Grundlagen dieses neuen Modells, in dem sich alles um die Geschichte dreht, von Hegel geschaffen wurden. Ungeachtet der unterschiedlichen religiösen, politischen und philosophischen Hintergründe ist es wichtig, sich die strukturellen Affinitäten im Denken Hegels und Comtes klarzumachen. Beide stimmten sie darin überein, dass der Philosophie die Geschichte angelegen sein müsse, weil der Geist sich weiterentwickle, im historischen Prozess fortlaufend sich entfalte. Beide verfuhren sie gemäß der dialektischen Methode als dem Mittel der Wahl für eine Philosophie des geschichtlichen Geistes. Beide erfanden sie einen modernen ‚Paganismus‘, sofern beider Systeme die Religion integrierten, indem sie sie einer philosophischen Kategorie subsumierten. Beider Haltungen gründen auf der Konstruktion einer umfassenden Synthese des westlichen Wissens. Wo Hegel die Voraussetzungen des westlichen Idealismus mit den revolutionären Elementen der Romantik vermengt, führt Comte ‚Szientismus‘ und Romantik zusammen. Warum ist diese formale Strukturähnlichkeit im Denken Hegels und Comtes, deren Arbeiten doch in ihrem Gehalt erheblich voneinander unterschieden sind, von Bedeutung? Hegel hat deutlich seinem Bewusstsein, der letzte Philosoph zu sein, Ausdruck verliehen.m Oberflächliche Historiker haben sich über diese Aussage lustig gemacht. Dabei gibt sie die profunde Einsicht eines Philosophen wieder, der in historischen Zusammenhängen dachte. Hegel war sich klar

m Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke 20. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. Auf Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S. 461.

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bewusst, auf einer historischen Schwelle zu stehen, ein Zeitalter zu überblicken. Er vergegenwärtigte sich eine werdende Welt, die sich nicht um die großen geistigen Überlieferungen der Vergangenheit scheren würde. Dies war der Grund, warum Hegel es als seine Mission erachtete, der Geschichte zum Trotz die Überlieferungen der Antike, der christlichen Theologie, des Vernunftidealismus und der Romantik zu einem bleibenden Gut zusammenzufügen. Auch Comte war sich bewusst, in einem Zeitalter umfassender Wandlungen zu leben. Er glaubte, sein Auftrag sei es, eine Synthese all jener Grundsätze und Methoden der Wissenschaft zu bewirken, die die im Umsturz befindliche Welt in eine fortschrittliche Ordnung oder, besser, zu geordnetem Fortschritt umschaffen würden, indem er diese Grundsätze und Methoden dem historischen Prozess applizierte. In einer solchen Vereinigung von Ordnung und Fortschritt würde sich eine wissenschaftlich verfasste Menschheit vollenden. Teilten zwar Hegel und Comte das Bewusstsein, in einem Zeitalter radikaler Veränderungen zu leben, zogen sie daraus gleichwohl unterschiedliche Schlussfolgerungen. Hegel führte die Gesamtheit theologischer und philosophischer Überlieferungen mit dem historischen Geschehen in seinen unterschiedlichsten Konstellationen zusammen. Comte vereinte eine Vielfalt wissenschaftlicher Methoden und Techniken als die für die Konstruktion einer neuen Gesellschaft und einer positivistisch verfassten Menschheit notwendigen Werkzeuge. Hegel legte besonderes Gewicht auf den lebendigen Geist der Vergangenheit und die wiederkehrenden Formen des Philosophierens in historischen Systemen. Comte betonte, dass wissenschaftlich-technische Verfahren unverzichtbar für die Errichtung des neuen Normengefüges einer wissenschaftlich gesonnenen Menschheit seien. Hegel sah auf die Zukunft aus dem Blickwinkel der Vergangenheit, während Comte auf die Vergangenheit aus dem Blickwinkel der Zukunft sah. Eine seltsame, doppelsinnige Form der Verwandtschaft ist dies; beider Denker Werke bilden widerstreitende Antworten auf die identische Erfahrung der totalen Revolution. Teil dieser besonderen Beziehung ist, dass Hegel wie Comte eine Begegnung mit dem Geist der Romantik hatten. Nicht, dass man sie geradezu selbst als Romantiker klassifizieren sollte; besser kann man sagen, dass beide ein wenig vom Klima der romantischen Bewegung berührt wurden. Diese Bewegung war nicht lediglich ein Ereignis in der Literatur, sondern eine umfassende, eine gleichermaßen philosophische, poetische und sozialpolitische Bewegung; eine Bewegung von Intellektuellen, die bestimmt war von vier grundlegenden Erfahrungen: der Revolution in Frankreich, den Entwicklungen in den Wissenschaften, dem Fortschritt in der Philosophie und den großen Errungenschaften poetischer Vorstellungskraft. Aus diesen Erfahrungen entstand jenen

VIII

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Intellektuellen das Bewusstsein eines andauernden Fortschritts in der Befreiung des Menschen. Und bewusst waren sie sich zudem, die Elite jener Welt zu sein, die nach der Revolution entstanden war. Sie verstanden sich selbst als Sprachrohr der Geschichte und zugleich als verantwortlich dafür, der Gesellschaft den Sinn der Geschichte verständlich zu machen. Offenkundig stand allerdings der Sinn der Geschichte nicht eindeutig fest. Romantische Intellektuelle fanden Freiheit, indem sie zurückkehrten in die Geborgenheit und unter die Autorität der Kirche, oder sie fanden Freiheit, indem sie sich eigene Religionen schufen, wie dies auch die französischen Soziologen taten. Einige ließen sich mitreißen von revolutionären Bewegungen und unterwarfen sich dem orthodoxen Dogmatismus einer Revolutionslehre, in der sie die wahre Freiheit erkannten. Tatsächlich, die französischen Soziologen waren vom Geist der Romantik erfüllt und Teil seiner, indem sie eine vollkommen wissenschaftliche Welt entwarfen, die Geborgenheit, Gelassenheit und Ordnung gebären würde, Vorbedingungen für die Fortentwicklung des materiellen und sittlichen Niveaus einer neuen, industriell verfassten Menschheit.

VIII Ohne Frage haben die Gründer der Soziologie eine neue Welt erschlossen. Ihre Arbeiten verkörpern den fundamentalen Wandel der alten Welt, der Normen und Ideale des Westens, in eine schöne neue Weltn des Szientismus, Soziologismus, Managerismus. Betrachtet unter dem Gesichtspunkt der Frage, die Gegenstand dieses Aufsatzes ist, lässt sich die Soziologie von ihren Ursprüngen her als eine eigentümliche philosophische Leistung verstehen; als das kühne Unternehmen, eine wissenschaftliche Philosophie der sozialen Revolution und des Wandels im Menschsein zu konstruieren, die neuartig darin ist, dass die Gründer der Soziologie den historischen Prozess mit den Mitteln der Wissenschaft interpretierten und objektive Vorhersagen der zukünftigen Menschheitsentwicklung tätigten. Mit Sorgfalt hörten sie dem Gras zu, wie es mit Notwendigkeit wuchs. Die ersten Soziologen, insbesondere Comte und Saint-Simon, schufen eine Philosophie, die davon kündete, dass die Gesellschaft das Wirkliche und das Individuum hypostasiert sei. Sie waren die ersten, die sich allein auf die wissen-

n Huxley,

Schöne neue Welt.

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schaftliche Methode stützten und sowohl die empirische Wirklichkeit als auch das dem einzelnen Denker a priori eignende Urteilsvermögen verachteten. Ihnen verdankt sich die Verwirrung, die die Anwendung wissenschaftlicher Methoden auf den historischen Prozess hervorbrachte, schufen doch sie die ersten theoretischen Systeme, die gleichermaßen eine wissenschaftliche Philosophie, den Mythos einer rettenden Elite und eine Religion der sozialen Erlösung umfassten. Aus der Vermengung dieser unterschiedlichen Elemente entstand das Modell einer totalen Organisation der Gesellschaft. Und dieses Modell wurde endlich in die politische Sphäre transferiert, indem ihm als weitere Elemente Krieg und Revolution, die ihrer Natur nach total sind, beigemengt wurden. Mit der Wechselwirkung zwischen der Soziologie und dem totalen Staat eröffnet sich eine neue Perspektive, aus der heraus die prekäre Stellung des Menschen in einem Zeitalter, das geprägt ist von der sich ausbreitenden Tendenz zur Rationalisierung, von der Notwendigkeit der Planung und von revolutionärer Mobilisierung, verständlicher wird.

IX Die Soziologen heute sind sensibler für die Gefahren, die als Möglichkeit in den Ursprüngen ihrer Wissenschaft angelegt sind, sind bewusster des Risikos, das eine menschliche Erlebniswelt birgt, die des Geistigen entblößt ist. Mögen sie auch nach wie vor überzeugt sein, dass die Soziologie des freien Westens darin fortfahren müsse, den Gesichtskreis der Planung zu erweitern und die Regierung wirkmächtig zu unterstützen, bemerken sie doch, dass einer Methode zu misstrauen ist, die auf Werte verzichtet und das Regierungshandeln des menschlichen Faktors enthebt. Wenn auch in ihrem ideologischen Kern mit Schaden behaftet, verfügt die Soziologie dennoch über das Vermögen, sich als hilfreich im Kampf für die Sicherung des Menschseins und die Ermöglichung von Wachstum im Geistigen zu erweisen, sofern ihr nicht die Beherrschung, sondern das Studium des Menschen angelegen ist.

Don Quijotes soziale MissionÜ

Die Komödie, die Satire und der Roman sind vorwissenschaftliche Ausdrucksformen der Sozialforschung. Zwar unwissenschaftlich, sind sie doch durchaus philosophisch. Poesie ist immer philosophischer als die Sozialwissenschaften, denn die Poeten beschäftigen sich mit der Stellung des Menschen in der Welt der Natur, in der Gesellschaft und in der Welt Gottes. Den verschiedenen literarischen Formen entsprechen unterschiedliche philosophische Fragen: Die Beständigkeit bestimmter Formen und das Verschwinden anderer deuten auf sich wandelnde philosophische Problemstellungen hin. Die Tragödie ist verschwunden, die Komödie hat überdauert, die Satire als literarische Form ist tot, der Roman ist aufgekommen und hat sich zur vorherrschenden literarischen Form der modernen Kultur entwickelt, obwohl es durchaus auch Autoren gibt, deren ‚Romane‘ in Richtung einer neuen epischen Prosa weisen, wie zum Beispiel Tolstoi, Balzac oder Dostojewski. Die Tragödie als spezifische Form war zum Tode verurteilt, als die modernen Schriftsteller nicht mehr in der Lage waren, eine Handlung zu entwerfen, in der sich eine Krise in der Begegnung zwischen dem Menschen und seinem Schicksal zeigte. Die Zeit war vorbei, in der man sich auf ontologische Fragestellungen wahrhafte Antworten erhoffte über das Wesen des Menschen, der aus der unausweichlichen Katastrophe seiner eigenen Schicksalhaftigkeit emporsteigt. Die zeitgenössischen Dramatiker kennen nur noch psychologische Leiden und eine psychoanalytische Katharsis. ÜAlbert

Salomon, „Don Quixotte’s Social Mission“. Vortrag gehalten im Rahmen des General Seminar der New School for Social Research im November 1953. Unveröffentlichtes Manuskript. Fundort: Sozialwissenschaftliches Archiv, Universität Konstanz. Übersetzt von Peter Gostmann, Claudius Härpfer und Dorte Huneke.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Salomon, Schriften 1949–1954, Albert Salomon Werke 4, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37736-6_11

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Die Komödie indes hat überlebt und sich trotz der Vielfalt literarischer Formen, die sie von Aristophanes bis Georg Bernhard Shaw angenommen hat – etwa die der Musikkomödie, der satirischen Komödie und der Sittenkomödie – im Grunde nicht verändert. Worin also liegt das Geheimnis der ewigen Jugendlichkeit der Komödie? Die Komödie bezieht sich auf die anhaltenden Probleme der Sozialphilosophie und der Sozialtheorie. Sie ist von Dauer, weil sie in allen historischen Gesellschaften auftritt. Sie ist philosophisch, weil die Komödienschreiber ihre Handlungsstränge auf der Mehrdeutigkeit sozialer Rollen aufbauen, auf der Paradoxie der Gesellschaft als Illusion und Realität, äußerem Schein und innerem Druck, glanzvoller Größe und bloßem Zwang. Sie finden am anhaltenden Problem des Einzelnen, einerseits er selbst zu sein und andererseits ein soziales Selbst auszubilden, sowie den sich daraus ergebenden Schwierigkeiten, sich zur Schau zu stellen und eine Rolle auszufüllen, Lachhaftes und Lächerliches. Dies sind die Belange der Komödienschreiber, die sich mit den philosophischen Problemen des Selbst, des Geistes und der Gesellschaft auseinandersetzen. Auf dem Weg von Menander bis Hofmannsthal entstehen nicht besonders viele neue Handlungsstränge, sondern nur neue Möglichkeiten, Scheinheiligkeit zu demonstrieren, Rollen vorzuführen und die Natürlichkeiten zu verraten. Die Satire als literarische Form präsentiert eine Analyse sozialen Verhaltens im Lichte der moralischen und sozialen Maßstäbe der jeweiligen Gesellschaft. Im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit steht der fortwährende Dualismus der Anerkennung und des Vortäuschens von sozialen Rollen, der scheinheiligen Zurschaustellung des Geforderten und dessen Missbrauchs für egoistische Zwecke. Die Satire als eigenständige literarische Form verschwand mit der Erosion der Tradition des Rationalismus in der Ästhetik und der klassischen Dichtung. Der Roman wurde zum Nachfolger der Satire, entwickelte sich aber weit über die enge moralische Perspektive der Gesellschaftsanalyse hinaus. Der Roman ist das literarische Symbol einer neuen sozialen Welt und einer neuen Erfahrung konkreter Zeit. Konkrete Zeit ist das Bewusstsein des Daseinsprozesses als des Zusammenlebens mit-, für- oder gegeneinander, gerichtet auf die Zukunft und in der Besinnung auf die erinnerte Vergangenheit. Konkrete Zeit ist menschliche Realität, menschliche Realität aber ist soziale und historische Realität. Soziale Realität ist das wechselseitige Zusammenwirken sozialer Rollen, ihrer Notwendigkeit und Beliebigkeit, ihrer fortwährenden Verwandlung in Verkleidungen, Masken und Erscheinungen. Es ist zum allgemeinen Schema des Romans geworden, sich mit spezifischen dramatischen Aspekten der Gesellschaft, wie sie im Laufe der menschlichen Lebenszeit auftreten, wie etwa möglichen Konflikten zwischen Individuum und Gesellschaft, auseinanderzusetzen. Die Gesellschaft kann in einer positiven

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und negativen Perspektive gesehen werden. Sie kann als Richtschnur betrachtet werden, die das Individuum dazu anleitet, durch eine Zeit des Ausprobierens hindurch zu sich selbst zu finden. Als Beispiel sei hier Goethes Wilhelm Meister genannt.a Negativ kann die Gesellschaft etwa als die düstere Realität sozialer Rollen und Stereotype auftreten, deren Anforderungen den aufstrebenden Menschen, der danach strebt, eine ‚Welt für sich selbst‘ zu sein, zermalmen. Madame Bovary ist immer noch die größte Errungenschaft mit Blick auf solche dramatischen Aspekte des Romans.b Das Buch wurde häufig als der Don Quijotec des 19. Jahrhunderts bezeichnet, d. h. als eine Variation jenes Buchs, das als der erste moderne Roman im eben beschriebenen Sinne gilt. Aber auch wenn nur die vorsichtigere Formel zuträfe, der zufolge es sich beim Don Quijote um den Vorläufer des modernen Romans handelt, ist es unerlässlich, den einzigartigen Charakter von Cervantes’ Buch zu verdeutlichen. Jeder Romanautor bedient sich bestimmter Techniken der Gesellschaftsanalyse und greift auf sozialpsychologische Beweggründe zurück, um symbolisch eine Konfliktsituation zu konstruieren. Wahre Romanautoren wie Balzac, Flaubert oder Stendhal beweisen eine genuine soziologische Vorstellungskraft im Auffinden und in der Gestaltung von Handlungsabläufen. Cervantes’ literarische Vision indes ist anders strukturiert, wie jeder Leser seiner Bücher sogleich erkennen kann. Einzig die pikaresken Züge der Handlung – zum Beispiel die Figur Sancho Pansa oder das Verhalten des Wirtes und seiner Familie – sind in einer wahrhaft soziologischen Manier gezeichnet. Diese Figuren symbolisieren den offen zutage tretenden Menschenverstand. In ihnen stecken der Wille und der Wunsch zum sozialen Aufstieg und zur Erweiterung des geistigen Horizonts – im Gegensatz dazu verkörpert Sancho Pansas Ehefrau eine Traditionalistin, die in ihrer sozialen Schicht verharren will.d

a  Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bde. 17 u. 18. Mit Einleitung und Anmerkungen von Wilhelm Creizenach. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1904]; Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bde. 19 u. 20. Mit Einleitung und Anmerkungen von Wilhelm Creizenach. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1904]. b Vgl. Gustave Flaubert, Madame Bovary. Französischer Sittenroman. Herausgegeben von Walter Heichen. Berlin: A. Weichert 1911. c  Miguel de Cervantes Saavedra, Don Quijote de la Mancha. Erster und zweiter Teil. Gesamtausgabe in vier Bänden, Bd. 2. Herausgegeben und neu übersetzt von Anton M. Rothbauer. Stuttgart: Goverts 1964. d Vgl. ebd., S. 632–633.

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Die Säulen der Gesellschaft erscheinen lediglich symbolisch in den Figuren des Barbiers und des Dorfpfarrers. Sie symbolisieren die öffentliche Meinung, umringt von der Nichte und der Haushälterin wie von zwei Schatten. An keiner anderen Stelle ist die soziologische Technik so deutlich erkennbar wie hier, wo Cervantes die Macht der stereotypischen Institutionen aufzeigt. Während die Macht und die Autorität des Staates im Allgemeinen als selbstverständlich angenommen werden, legt Don Quijote gegenüber dem König und der Kirche Lippenbekenntnisse ab. Nichtsdestotrotz fühlen sich die ehrenwerten Männer des Landes aufgerufen, die Vertreter seiner Majestät davon zu überzeugen, von Don Quijote abzulassen, obwohl zuvor ein Haftbefehl gegen ihn erlassen wurde.e Dem Staat kommt im Handlungsverlauf nur eine Randbedeutung zu. Marginal erscheint auch die wachsende finanzielle Macht der gesellschaftlichen Institutionen, obschon jene Negativkräfte für die Entwicklung der Handlung in Cervantes’ Roman durchaus eine zentrale Rolle spielen. Den meisten Figuren des Romans – insbesondere den Vertretern der pastoralen Welt und den Wanderern auf der Landstraße – kommt eher eine symbolische als eine soziologische Bedeutung zu. Wie Silhouetten oder Tänzer in einem Ballett repräsentieren sie allgemeine Muster menschlichen Handelns und Leidens. Dem Dichter ging es nicht primär um die Möglichkeit starker soziologischer Elemente der Handlung, ihn interessierte vielmehr eine allgemeine philosophische Perspektive. Das Handlungsgefüge ist eingebettet in eine symbolträchtige Topographie: die Landstraße, die Schenke, der Berg, Haus und Garten Don Quijotes. Die Landstraße ist die Straße der Lebenden und der Toten. Alle Menschen reisen ihrem Schicksal entgegen; es ist die räumliche Ausgestaltung eines typischen sozialen Ablaufs. Die Menschen leben vor sich hin, erfüllen ihre Aufgaben, ihre Geschäfte; sie unternehmen Reisen, um geliebte Menschen zu treffen; sie legen Ruhepausen ein. Das Leben hat einen Sinn, es gibt Ziele und Absichten. Zugleich ist jedoch jeder Mensch den düsteren und lächerlichen Zufällen, Unfällen und Irrationalitäten des Lebens ausgeliefert. Dies ist es, was Don Quijote uns vor Augen führt. Seine Reisen auf der Landstraße sind auf ganz eigentümliche Weise sinnlos – niemals würde er auf diesem Wege ein Reich erobern. Im Gegenteil, auf

e Vgl.

ebd., S. 566–568.

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der Landstraße handelt er sich Schläge und blaue Flecken ein. Es sind sozusagen zwei unterschiedliche Fäden, aus denen der Teppich des Lebens geknüpft ist, und sie heißen Zielgerichtetheit und Irrationalität. Sinn und Unsinn sind miteinander verwoben. Deutlicher noch vermittelt die Schenke des verzauberten Schlosses jene unterschiedlichen Aspekte der menschlichen Lebensreise. Die Schenke ist ein Ruheort für die Ruhelosen, ein neutraler Punkt, an dem zufällige Treffen stattfinden, Bünde geschlossen, Verletzungen zugefügt und Versöhnungen vollzogen werden. Die Ruhepause ist, so wird suggeriert, im Leben nur ein vorübergehender Zustand. Die schnellen Wechsel legen den Verdacht nahe, dass selbst die Liebe und eine Versöhnung keine endgültigen Phänomene sind. Das Kommen und Gehen der Reisenden berührt noch einen weiteren Aspekt des lebensweltlichen Miteinanders. In der Schenke versammeln und begegnen sich unterschiedliche soziale Schichten: Gesandte Seiner Majestät, Kaufleute, Damen und Huren, Maultiertreiber und Polizisten, ein wieder vereintes Liebespaar. Der Zufall bringt sie für einen Moment zusammen – und der Zufall wird sie am nächsten Morgen wieder auseinandertreiben. Don Quijotes Haus und Garten vermitteln das Bild trostloser Armut, wohingegen sein Arbeitszimmer mit Bücherschränken reich gefüllt ist. Die Beschreibung vermittelt uns ein Klima der Leere, einer oberflächlichen, beklemmenden Sinnlosigkeit des Lebens. Der Garten ist lediglich ein Ort, an dem Bücher verbrannt werden.f Schließlich gibt es noch den mächtigen Berg. Er bietet Zuflucht für die Leidtragenden, für diejenigen, die Verletzungen durch ihre Mitmenschen erfahren haben. Dieser Weg führt die Menschen in eine seelsorgerische Obhut; Liebende und Betrogene hoffen, dort jenen Seelenfrieden zu finden, den das gesellschaftliche Leben nicht für sie bereithält. Die als Schafhirten und Schafhirtinnen verkleideten Stadtbewohner leben wie fahrende Ritter in einer pastoralen Welt. Wie Don Quijote reisen sie rückschreitend vorwärts, dem Goldenen Zeitalter entgegen. Angesichts seiner bitteren Sicht auf die menschliche Doppelsinnigkeit konnte Cervantes die unromantischen Bedürfnisse der ansässigen Schafhirten aus der Darstellung der romantischen pastoralen Gesellschaft nicht ausklammern. Das traditionelle Verständnis des Sozialrealismus erscheint noch unter einem anderen Gesichtspunkt fragwürdig. In Anbetracht der Kurzgeschichten, die Cervantes in den Romantext eingefügt hat, müssen wir das gesamte Werk neu

f Vgl.

ebd., S. 73–81.

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klassifizieren. So gibt es zum Beispiel die autobiographischen Geschichten, die von dem Gefangenen und dem Maultiertreiber erzählt werden. Kolportiert wird die Lebensgeschichte des unziemlich Neugierigen. Wenn in einen Erzähltext kurze Episoden eingearbeitet werden, so übernehmen diese eine bestimmte Funktion innerhalb der Gesamtstruktur. Im Don Quijote verweisen die kurzen Geschichten darauf, dass das Leben einen Fiktionsgrad besitzt, der weit über das hinausgeht, was der Mensch zu erfinden in der Lage ist. Die Geschichte des Soldaten,g der in Gefangenschaft geraten war und dort Sklavenarbeit verrichten musste, dem es dann aber gelungen ist, mit der Tochter seines Herrn zu fliehen – diese Geschichte besitzt in der Tat romantische Elemente. Im Roman übernimmt diese Erzählung die Funktion, einem hingerissenen Don Quijote das Bild eines wahren Soldaten vor Augen zu halten. Er sieht vor sich einen harten, skrupellosen Mann mit enormer Willensstärke und von besonderer Klugheit, aufgrund derer es ihm gelingt, über seine irdischen Gegner zu triumphieren. Die Flucht und eine Rückkehr in die Heimat waren dem Soldaten nur deshalb gelungen, weil er eben jene Eigenschaften in sich vereinte. Im gleichen Maße romantisch ist die Geschichte des Maultiertreibers.h Sie handelt von einem Liebenden, der sich auf Wanderschaft begibt. Die Hauptfigur ist ein junger Adliger, der ohne zu zögern die Rolle eines Maultiertreibers annimmt, um den Spuren seiner Geliebten zu folgen, ihr nahe zu sein, bevor sie in absehbarer Zeit mit ihrem Vater zu den Westindischen Inseln aufbrechen wird. Wer wahrhaft liebt, wird nichts unversucht lassen, um mit dem Menschen, den er liebt, vereint zu sein. Don Quijote zufolge ist der wahrhaft Liebende kein Platoniker; in seinen Augen ist die Liebe nie interesselos. Beide Geschichten sind eher romantisch als realistisch. Ihr Bezugsrahmen ist nicht die Gesellschaft, sondern das Universum Fortunas, der Göttin des Zufalls. Im Kontrast hierzu – sowohl hinsichtlich ihres Charakters als auch ihrer Funktion – steht die tragische Geschichte des unziemlich Neugierigen.i Während die beiden romantischen Geschichten dazu gedient hatten, Don Quijote wahrhaftige Bilder eines Soldaten und eines Liebenden zu präsentieren, versucht diese Geschichte nicht, ihm einen Spiegel vorzuhalten. Stattdessen wird ein Modell von Don Quijote in der Sphäre der Sexualität entworfen.

g Vgl.

ebd., S. 477–526. ebd., S. 535–540. i Vgl. ebd., S. 387–458. h Vgl.

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Das Denken und Handeln Don Quijotes durchzieht der Glaube an das grundsätzlich Gute und die Erhabenheit des Menschen. Stets verwirft er Gedanken an die dunklen Mächte des Eigennutzes, der Gier und der Leidenschaft. Darin gleicht er dem Helden der eingeschobenen Geschichte. Dieser will, um den engelhaften, zutiefst menschlichen Charakter seiner tugendhaften, bezaubernden Ehefrau zu demonstrieren, sie gezielt einer Versuchung aussetzen. Den Handlungsablauf der inszenierten Verführung entwickelt er zusammen mit seinem besten Freund, der das Experiment durchführen soll, und trifft selbst die notwendigen Vorbereitungen. Die Geschichte nimmt ein tragisches Ende, denn weder die ehrliche Ehefrau noch der aufrichtige Freund vermögen der sexuellen Versuchung zu entsagen, als sie plötzlich der vorsätzlich provozierten Situation ausgeliefert sind. Der Held dieser seltsamen, tragischen Geschichte ist sozusagen ein Don Quijote der Sexualität. Diese Betrachtungen lassen vermuten, dass sämtliche Kurzgeschichten im Kontext des Ganzen bedeutungsvoll sind, mithin ebenfalls Bezug nehmen auf die prekären und doppelsinnigen Möglichkeiten des menschlichen Bewusstseins und menschlicher Gefühlsneigungen. Die Haupthandlung stellt im Verbund mit den Kurzgeschichten einen Sinnzusammenhang her, das literarische Bild besitzt also einen vollkommen einheitlichen Charakter. Einmal mehr wird daran deutlich, dass es Cervantes nicht um sozialen Realismus ging, sondern um eine Lebensauffassung, die von einer menschlichen Doppelsinnigkeit ausgeht, aus der sich eine pluralistische Welt konstituiert. Dieses literarische Muster verschmilzt Elemente der Gesellschaftsanalyse mit einer Interpretation des ganzen, komplexen Lebens, das wie ein Urwald erscheint, in dem der einzelne Mensch herumwandert, ohne Eingang ins Goldene Zeitalter zu finden. Mit Cervantes’ Roman ist das Fundament für eine Entwicklung der literarischen Grundstruktur des metaphysischen Romans gelegt. Cervantes präsentiert uns ein Tableau menschlicher Doppelsinnigkeiten, worin wechselnde soziale Rollen zum Ausdruck kommen und das Leben als unaufhörlicher Karneval, als ständige Maskerade, als maskenhafte Zurschaustellung entlarvt wird. Es ist ein Karussell der Erkenntnismethoden und der unberechenbaren Leidenschaften. Cervantes zeichnet diese Realität mit feinem Pinselstrich und bedeckt, ähnlich wie Rembrandt es auf seinen Bildern getan hat, die verschiedenen Ebenen der irdischen Realität sehr geschickt mit Licht und Schatten, als wollte er seine Figuren von anderen menschlichen Wesen umringt zeigen. Die Menschen bilden eine Gemeinschaft in ihrem Leiden und ihrem fortschreitenden Leben, angetrieben von dem gemeinsamen Verlangen nach Frieden, Liebe und dem Guten in einer besseren, vollkommeneren Welt.

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Wollte man Cervantes als Maler beschreiben, so rückte er wohl eher in die Nähe von Claude Lorrain und Antoine Watteau als in die eines realistischen Malers wie Jan Vermeer. Ein Ausspruch Goethes über Lorrain liefert eine präzise Beschreibung, die auch auf Cervantes’ Arbeit zutrifft: „‚Da sehen Sie einmal einen vollkommenen Menschen,‘ sagte Goethe, ‚der schön gedacht und empfunden hat und in dessen Gemüth eine Welt lag, wie man sie nicht leicht irgendwo draußen antrifft. Die Bilder haben die höchste Wahrheit, aber keine Spur von Wirklichkeit. Claude Lorrain kannte die reale Welt bis ins kleinste Detail auswendig, und er gebrauchte sie als Mittel, um die Welt seiner schönen Seele auszudrücken. Und das ist eben die wahre Idealität, die sich realer Mittel so zu bedienen weiß, daß das erscheinende Wahre eine Täuschung hervorbringt, als sei es wirklich.‘“j Liest man den Don Quijote nach Art der Romantiker, so symbolisieren die Reisen des Helden das menschliche Leben. Menschliches Leben unterliegt einem dialektischen Prozess: Jeder Mensch hat ein Zuhause, in das er hineingeboren wird; irgendwann rebelliert er jedoch gegen dieses Zuhause und verlässt es mit unbekanntem Ziel, um schließlich in einem neuen Zuhause anzukommen, wo er bleiben wird. Das neue Zuhause ist zwar ein anderes als das alte, aber immerhin ein Zuhause. Von den Romantikern wurde Cervantes’ Roman als Symbol einer Menschheit, die durch Versuch und Irrtum hindurch von denjenigen, die ihr in Freundschaft zugetan sind, weise und liebevoll nach Hause geleitet wird. Doch zweifellos trifft diese Auffassung eher auf Goethes Wilhelm Meister zu,k als sie der Absicht Cervantes’ entspricht. Zutreffend ist, dass Don Quijote seinem Zuhause zunächst entflieht und schließlich mithilfe seiner Freunde zurückgeführt wird. ‚Zuhause‘ bedeutet für Don Quijote indes nicht, an einem Ort der Ruhe, des Schutzes, der Entspannung zu sein. Im Gegenteil, das Zuhause symbolisiert die sinnlose Routine des alltäglichen Lebens. Sinnlos ist sie insofern, als Don Quijote keinen Sinn in den Stereotypen eines ländlichen Ehrenmannes sieht, der, wenn es Zeit ist, zur Jagd geht, jeden Sonntag die Messe besucht und sein Gut bestellt.l Diese Gewohnheiten bestehen fort, weil die Armut jede Ausflucht scheitern lässt oder ver-

j Johann Wolfgang Goethe, „Gespräch mit Johann Peter Eckermann am 10. April 1829“. In: Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Bd. 7. Leipzig: Divan 1889–1896, S. 74. k Vgl. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre. l Vgl. Cervantes, Don Quijote, S. 39–40.

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hindert. Als Ehrenmann, wenngleich keineswegs hochrangig, bekam er die Kluft zwischen den sozialen Ansprüchen und seinen wirtschaftlichen Defiziten bitterlich zu spüren. Don Quijote war – modern ausgedrückt – ein Deklassierter. Von ihm selbst stammt der Ausspruch, die Armut sei das entscheidende Motiv gewesen, das ihn zum fahrenden Ritter habe werden lassen.m Wie kommt er zu dieser Aussage? Weil die Armut alles erstickt, was an Menschen groß und tugendhaft ist; weil die Armen von Tag zu Tag, immerfort und ohne Muße dem Druck unterliegen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Als fahrender Ritter aber hätte Don Quijote die Möglichkeit, Land und Macht zu gewinnen. Wäre dieses Ziel einmal errungen, so würde er in Weisheit und Gerechtigkeit herrschen und die Tugenden eines edlen, großzügigen Herzens zur Schau stellen können. Er hätte seine Dienste auch in der Armee des Königs, in der Verwaltung oder bei Gericht anbieten können. Diese Tätigkeiten hätten ihm Reichtum und Ansehen verschafft. Doch er entschied sich dagegen. Die neue Welt hatte ein rationales Staats- und Geschäftssystem hervorgebracht, das den Einzelnen zur Selbstaufgabe verdammte. Er konnte lediglich wählen, ob er ein Höfling oder ein Auftragsfunktionär sein wollte. Don Quijote hätte demnach einem bestimmten Stereotyp entsprechen müssen. Er aber wollte sein eigenes Selbst in den Dienst des Königs stellen. Man sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass Cervantes seine Geschichten nicht als historischer Soziologe schrieb. Don Quijote als Symbol des schwindenden feudalen Zeitalters zu beschreiben, als Symbol des Aufbäumens gegen den modernen Staat, wie er als historische Größe auftrat, wäre schlicht falsch. Ein Mann von Stand, der an der Pilgerfahrt der Gnade teilnahm oder sich an einem Bauernaufstand beteiligte, gehörte einer im Niedergang begriffenen Klasse an und agierte in einem historischen Kontext – wohingegen Don Quijote, obschon seine soziale Lage derjenigen dieses Manns von Stand entspricht, nicht im Rahmen einer bestimmten soziohistorischen Entwicklungen angesiedelt ist. Der Text ist eindeutig: „So ich dies alles bedenke, bin ich nahe daran zu sagen, es schmerze mir in der Seele, den Beruf eines fahrenden Ritters auf mich genommen zu haben in einer solch jämmerlichen Zeit, wie die unsere es ist, denn wenngleich keine wie immer geartete Gefahr imstande ist, mir Angst zu machen, so weckt es in mir doch immerhin ein Gefühl des Unbehagens, zu denken, daß mir vielleicht Pulver und Blei die Möglichkeit nehmen könnten, mich dank der Stärke meines Armes und der Schärfe meines Schwertes auf der ganzen entdeckten Erde

m Vgl.

ebd., S. 471–476.

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bekannt und berühmt zu machen. Doch mag der Himmel es fügen, wie er will, immerhin werde ich, wenn ich durchsetze, was ich mir vorgenommen, um so größere Wertschätzung gewinnen, weil die Gefahren, denen ich mich aussetze, viel größer sind als die Gefahren, denen sich die fahrenden Ritter vergangener Zeiten gegenübergestellt sahen.“n Das Ideal der fahrenden Ritterschaft ist etwas Ewiges. Don Quijotes Position kommt am besten zum Ausdruck, wenn man sie der des Wirtes gegenüberstellt. Der Wirt gilt zuweilen als zweiter Don Quijote, denn er hat die Bücher über das Rittertum mit dem gleichen Eifer gelesen wie dieser.o Der Wirt ist sich jedoch stets der Tatsache bewusst, dass das ritterliche Zeitalter der Vergangenheit angehört und die Lektüre solcher Bücher nur der Entspannung dienen kann: eine Gelegenheit darstellt, die Imagination auf angenehme Reisen zu schicken. Don Quijote hingegen bleibt dem Ideal der fahrenden Ritterschaft treu, diesem unsterblichen Modell des Retters, diesem Symbol, das der leidenden Menschheit anzeigt, dass es jemanden gibt, der sich bemüht, das Bild des rechtschaffenen Kämpfers für Gerechtigkeit und Liebe auszufüllen. Don Quijote gesteht zwar zu, dass das wiederbelebte Modell des fahrenden Ritters dem Einfluss von Lebensumständen, ja von Mitteln der Verzauberung unterliegt, die der Vergangenheit unbekannt waren. Doch ist er zutiefst überzeugt, dass dieses Ideal bewahrt werden muss. Don Quijote, der deklassierte Ehrenmann mit hochfliegenden Ambitionen, wurde zu einem Intellektuellen und nahm Zuflucht in die Welt der Bücher. Welche Sorte Bücher las er? Er las die Bücher, die jeder um ihn herum las. Auch Cardenio und Luscinda, auch der Wirt und seine Tochter haben die Ritterromane gelesen, und zwar mit der gleichen hungrigen Gier wie Don Quijote. Diese Bücher entwarfen ein romantisches Bild einer späten Feudalgesellschaft; in ihnen verschmolzen Historisches, nationale Mythologie und dichterische Vorstellungskraft, um ein Bedürfnis nach Unterhaltung und nach Wunschträumen, nach Bildnissen menschlicher Größe und des Siegs der Liebe gegen alle Widerstände zu befriedigen, das Mitglieder aller sozialen Klassen hegen. Den Autoren der Ritterromane geht es vor allem darum, die Pracht und Vergnügungen einer müßigen Klasse zu präsentieren, die begierig auf Spaß, Ruhm und Liebe ist. Don Quijote aber wendete den Geist des ästhetischen Schauspiels in einen Geist moralischer und ideeller Verpflichtungen. Niemand hatte diese Bücher jemals so gelesen,

n Ebd., o Vgl.

S. 475–476. ebd., S. 381–385.

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wie Don Quijote sie las. Er las in sie ein Ideal fahrender Ritterschaft hinein, das weder der ursprünglichen Absicht der Autoren noch dem Geschmack der Öffentlichkeit entsprach. Die Welt der Fiktion ist für Don Quijote ein Universum der Wahrheit, das seiner Verwirklichung harrt. Fiktiv ist die Welt der fahrenden Ritter. Sind aber nicht alle Ideale und Postulate im Grunde fiktive Vorstellungen, deren Wahrheit sich erweist, sobald man sie der so genannten Realität alltäglicher Routinen gegenüberstellt? Don Quijote las die Bücher in existentieller Hinsicht. Seine Aufgabe war es, die Bedürftigen zu schützen, den Witwen und Waisen zu helfen und die Unterdrückten zu befreien. Diesen subjektiven Blickwinkel konnte Cervantes nur dadurch rechtfertigen, dass er ihn einem Deklassierten verlieh. Nur vor diesem Hintergrund, nur mit der Aussicht auf ein prekäres irdisches Leben wird Don Quijote der esoterischen Bedeutung der Unterhaltungsliteratur, die er liest, gewahr, der Vision einer Welt der Gerechtigkeit und der Güte, die die Wiedergeburt eines Goldenen Zeitalters vorbereitet. Nicht nur die Routinen, die die Armut hervorruft, entbehren des Sinns; Gleiches gilt für die stereotypen politischen und kirchlichen Autoritäten, die solche Zustände dulden. Sinnvoll hingegen ist der hingebungsvolle Geist, der nach Gerechtigkeit und Liebe strebt und sie mit aller Kraft befördert. Von solchem Geist war die Welt während des Goldenen Zeitalters beseelt; und was einmal war, kann wiederhergestellt werden. Wenn die Realität einen Sinnzusammenhang bildet, so besitzen Bücher Realität im höchsten Grad. Ihr Sinn lässt sich verifizieren, indem soziales Handeln auf seine Verwirklichung hinwirkt. Diese Gedankenstränge verknüpft Cervantes zu dem ersten Knoten seiner Geschichte. Der Begriff des Wahnsinns, in den die Freunde Don Quijotes ihre Beunruhigung und ihr Mitgefühl kleiden, die sie angesichts eines Mannes empfinden, der die Welt der Imagination und der Philosophie mit der wahrhaftigen Realität verwechselt, mit dem Status quo, den sie, so wie er in der Öffentlichen Meinung verkörpert ist, für selbstverständlich halten, ist doppelbödig. Die Freunde Don Quijotes sind regelrecht schockiert darüber, dass dieser Bücher auf eine so persönliche Weise liest. Sie finden, keines der Bücher „soll geschont werden, sind sie doch allesamt schädlich gewesen“, „voll des Unsinns und der Anmaßung“; sie sollten als „Irrlehrer und Stifter einer so gefährlichen Sekte unbarmherzig zum Feuertod“ verurteilt werden.1 Diese Passage ist besonders aufschlussreich. Offenbar erkennen die Säulen der Gesellschaft in

1 Ebd.,

S. 73–75.

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Don Quijote einen revolutionären Geist, der in der Lage ist, aus den Büchern eine esoterische Bedeutung herauszulesen. Deswegen belegen sie ihn mit dem Tabu des Wahnsinns – um ihn nach Hause bringen und sein künftiges Leben kontrollieren zu können. Hinter dem Begriff des Wahnsinns steht eine Ideologie. Don Quijote sieht nichts Falsches darin, Bücher zu lesen, sie zu interpretieren und sich von ihnen verwandeln zu lassen. Wir alle leben aus dem Geist der Bücher, verändern uns mit ihnen und durch sie, wenn wir ihnen im richtigen Moment unseres Lebens begegnen – ganz gleich, ob es sich um ein Buch von Melville, Dostojewski, Tolstoi, Balzac, Kierkegaard oder Abraham Lincoln handelt. In allen diesen Büchern begegnen wir einer idealen Wirklichkeit, einem letzten Sinnzusammenhang, den Verwirrungen und Übeln der Welt abgewonnen und dieselbe Schritt für Schritt oder auch plötzlich verändernd. In ihnen sind Welten, die so sinnfällig sind wie die der fahrenden Ritterschaft, gleichermaßen rätselhaft und wundervoll, so wie Don Quijotes ritterliches Universum. Don Quijote hält bis zur letzten Seite des Romans daran fest, dass nichts Falsches sei an Büchern, die eine schöpferische Wirkung auf Menschen ausüben und sie anhalten, an Idealen sich zu orientieren, sich über die Bedürfnisse des Organismus hinaus einem Ziel zu verschreiben. Er war fest davon überzeugt, als fahrender Ritter und Abenteurer die Ideale von Gleichheit und Gerechtigkeit verwirklichen zu können. Es ist Don Quijotes Sokratismus, der seine Kämpfe zugleich tragisch und komisch sein lässt. Er verwechselt unaufhörlich den Buchstaben und den Geist der Ideale. Auf solcherlei Verwirrungen richtete sich die verbreitete Sorge kirchlicher Autoritäten, spätestens seit Thomas von Kempens Imitatio Christip in die Hände der Gläubigen geraten war. Sind aber nicht Menschen andauernd, in allen Sphären ihres Wirkens, in der Versuchung, den Buchstaben mit dem Geist zu verwechseln? Der fahrende Ritter und der Abenteurer sind hier besonders anfällig, leben sie doch zwischen den Welten, in ihrem eigenen Universum. Es ist von großer Bedeutung, dass Cervantes Don Quijotes Rolle des fahrenden Ritters ausdrücklich mit derjenigen des Abenteurers gleichsetzt, die Berufung zum Abenteurer eine Einladung zur fahrenden Ritterschaft nennt.2

p  Vgl.

Thomas von Kempis, Die Nachfolge Christi. Neu übersetzt und mit einer Nachlese und Anwendung zu jedem Kapitel versehen von Johannes Gossner. Leipzig: Karl Tauschnitz 1839. 2 Vgl. Cervantes, Don Quijote, S. 215.

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Der Begriff des Abenteurers ist ebenso wie die Begriffe des Fremden und des Heimkehrers, die Georg Simmel und Alfred Schütz meisterhaft behandelt haben,q ein unverzichtbarer Begriff der Soziologie. Der Begriff stammt aus der philosophischen Anthropologie, referiert auf die prekäre Situation des Menschen in der Welt. Er hat eine soziologische und eine sozialpsychologische Seite, denn die Umstände, die das Auftreten des Abenteurers ermöglichen, sind feste Bestandteile der sozialen Ordnung und rufen spezifische psychologische Reaktionen hervor. Jede organisierte Gesellschaft versucht, ihre Institutionen zu sichern und zu erhalten. Erreicht wird dieses Ziel, indem man deren Mitglieder zu allgemeinen Verhaltensmustern und Stereotypen des Denkens, Fühlens und Glaubens erzieht, mittels Zwang und politischer Steuerung. Dabei wirkt sich selbstverständlich der Druck der Sozialkontrolle, die über dem alltäglichen Leben waltet, stärker aus als die Kraft, die die Gesetze entfalten. Menschen sind geneigt, wiederkehrende Abläufe als unausweichliche Notwendigkeiten zu nehmen, in ihnen die wahrhaftige Bedeutung der komplexen Zusammenhänge des Lebens zu sehen. Abgesehen von dieser allgemeinen Tendenz der Gesellschaftsorganisation kommt es immer wieder zu Situationen, die nicht abzusehen waren, einzigartigen Entwicklungen, dem Auftreten befremdlicher Einstellungen, die sich im Sinne des Ethos der Gesellschaft nicht klassifizieren lassen. Kontingenz und Zufälligkeiten gehören ebenso zum Leben, wie die Determinierung und das Gesetz der Routine. Es gibt überraschende Begegnungen, unkalkulierbare Ereignisse, unvorhersehbare Missgeschicke. Gesellschaften im Allgemeinen neigen dazu, derlei auszuräumen. Andererseits gibt es Menschen, die gerade von irregulären oder irrationalen Ereignissen und Zusammentreffen besonders fasziniert sind. Wenn wir es soziologisch ausdrücken wollen: Diese Menschen bewegen sich zwischen den Klassen und den Gruppierungen, jenseits der sozialen Grenzen. Es kann sich bei ihnen um klassenlose Intellektuelle handeln, um Deklassierte, Parvenüs oder Menschen mit einem Pioniergeist, die im gesamten menschlichen Wirkungsbereich die überlieferten Formen des Denkens und Fühlens überschreiten. Zum Teil handelt es sich um Revolutionäre oder radikale Reformer, die alle bestehenden Werte umwerten. Sprechen wir von Religion, sind dies diejenigen, die einen neuen Glauben begründen; sprechen wir von Philosophie, so

q Vgl. Georg Simmel, „Exkurs über den Fremden“. In: Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin: Duncker & Humblot 1908, S. 685–691; Alfred Schütz, The Stranger. An Essay in Social Psychology. In: American Journal of Sociology 49, 1944, S. 499–507; Alfred Schütz, The Homecomer. In: American Journal of Sociology 50, 1945, S. 363–376.

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sind es die, die ein neues Verständnis der Wahrheit des Ganzen stiften. Oder wenn wir es psychologisch ausdrücken wollen: Diese Menschen sind getrieben von einem Gefühl tiefer Unsicherheit, das sie ehrgeizig überkompensieren, indem sie ihre Wunschträume auf ihr Handeln projizieren. Ihre Abscheu gegenüber einer existierenden Ordnung wandeln sie in ein System absoluter Wahrheiten über die Umgestaltung der Welt nach einem Modell endgültiger Vollkommenheit. Solche Menschen sind es, die wir Abenteurer nennen – weil sie die Notwendigkeit und Bedeutung der Gefährdungen, die ihre Lebenslage mit sich bringt, an sich selbst festmachen und eine noch ungeborene Zukunft mit Sinn aufladen. Die Lage des Abenteurers ist ambigue. Er verweigert sich dem Sinnhorizont, der in den herrschenden Routinen aufscheint, wenn er auch in ihnen lebt. Er versucht, jenseits und zwischen diesen etablierten Lebensformen seinen eigenen Lebensmittelpunkt zu finden. Erst die ihm eigene Kraft der Sinnstiftung ist es, durch die höchst zufällige Dinge, die dem herrschenden Ethos der Gesellschaft nach irrelevant sind, Bedeutung erlangen. Der Abenteurer verleiht willkürlichen Zusammentreffen, isolierten Situationen und zufälligen Ereignissen kraft seines subjektiven Bewusstseins Bedeutung. Wir können die Lage des Abenteurers mit der des Künstlers vergleichen. Beide beschäftigen sich mit einem in fragmentarischer Form vorliegenden Gegenstand, den sie zu einem eng geknüpften inner- und außerweltlichen Sinngefüge umschmelzen. Der Abenteurer ist ein Philosoph des Lebens, der danach strebt, ein individuelles Gesetz zu verwirklichen: sein individuelles Gesetz gegen das Gesetz des generalisierten Selbst. Den Kern dieses seines Gesetzes aber findet er außerhalb seiner. Der Abenteurer ist seiner Natur nach ein Symbol der Doppelsinnigkeit: Er ist ein Teil der Welt und hat gleichzeitig ein eigenes Universum wie eine Insel im großen Ganzen geschaffen; verleiht Kontingentem Bedeutung; umfasst eine Einheit von Sinn und Unsinn; betrachtet das Intelligible und das Irrationale als unteilbar; erkennt ein Ineinanderwirken des Kalkulierbaren und des Zufälligen; öffnet sich der Koexistenz von Gnade und Getriebenheit. Der Abenteurer ist ein Reisender außerhalb der Zeit, ein Philosoph ohne Ruhe, ein Liebender, verliebt in die Liebe selbst. Als Mann der Tat ist er ein Radikaler, der einer unbekannten Zukunft seinen Sinn aufbürdet. Solchen Sinn entdeckt er jenseits dessen, das für sinnvoll gilt, und außerhalb seiner selbst. Womöglich deshalb sucht er seine Mitte durch sämtliche Formen hindurch, die menschliches Schöpfertum annehmen kann. Er kann als ein Abenteurer im Geiste auftreten, als genuiner Philosoph, der einmal mehr den so bedeutsamen wie unmöglichen Versuch unternimmt, eine Vorstellung von dem Mysterium des Ganzen in Kategorien der menschlichen Vernunft zu gewinnen. Oder er ist ein Abenteurer des

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Geistes, der zum Ketzer wird. Er mag sich der Sphäre der sozialen Tat zuwenden und zu einem Abenteurer der Revolution werden. Oder er mag als ein Abenteurer der Liebe in jede einzelne der genannten Möglichkeiten, nicht aber in erotische Begegnungen sich verwickeln. Die Begriffe des Abenteurers und des fahrenden Ritters umfassen die beiden Aspekte des Nonkonformisten, dessen positive und dessen negative Seite – positiv: die schöpferischen Kräfte des subjektiven Geistes, der einen sinnhaften Zusammenhang stiftet; negativ: die Ambiguität, die er in das Leben der Menschen bringt. Diese Form des Daseins trägt in sich das Potenzial zu heldenhaften Taten, aber auch zu tragischen Lösungen, und damit die allzu menschlichen Möglichkeiten, die das Potenzial des Komischen enthalten. Sancho Pansa kommt unter anderem die Funktion zu, den Bilderbuchhelden Don Quijote infrage zu stellen, wenn dieser agiert, als wäre er geradewegs einem seiner Ritterromane entsprungen. Der wahre, ideale Held selbst hingegen, so Don Quijotes feste Überzeugung, kennt weder Angst noch Zweifel. Sancho Pansa gibt das heroische Spiel seines Meisters immer wieder der Lächerlichkeit preis – am deutlichsten nach der furchtbaren, angstvollen Nacht, die sie mit dem donnernden Geräusch der sechs Walkstampfen im Rücken verbrachten.3 „Aber sagt mir doch, Euer Gnaden, ist es nicht zum Lachen und erzählenswert, welch große Angst wir ausgestanden haben?“,r fragt er Don Quijote. Der Held kann nicht leugnen, dass durchaus etwas Komisches in dem liegt, was ihnen kurz zuvor passiert ist. Komisch ist die Szene deshalb, weil darin die Grenzen der menschlichen Natur aufgezeigt werden. Don Quijote bleibt dabei, „daß der Mensch sich in der ersten Regung nicht in der Hand hat“.s Der Mensch ist dem Mechanismus seiner Instinkte, der Angst und des Schreckens ausgeliefert, ungeachtet seiner heroischen Eignung. Don Quijote zeigt sich stoisch und formuliert eine psychologische Regel, die festlegt, was außerhalb der Macht des Menschen liegt (τὰ δὲ οὐκ ἐϕ’ ἡμῖν).t Dies ist das einzige Gesetz des sozialen Verhaltens, dessen Geltung sowohl in der Welt der Routinen als auch in seinem Ritteruniversum er anerkennt.

3 Vgl.

Cervantes, Don Quijote, S. 198–215. S. 213. s Ebd., S. 214. t Epictetus, The Enchiridion. Übersetzt von Thomas W. Higginson. New York: The Liberal Arts Press 1948, S. 17. r Ebd.,

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Cervantes bezeugt allerdings, dass Menschen darüber hinaus einem weiteren Vitalmechanismus unterliegen – dem Trieb sexueller Bedürfnisse. Die romantische Vision der beiden unglücklichen Verliebten in der Stadt, ihre Hoffnungen darauf, eine vollkommene Welt idealer Liebe innerhalb eines pastoralen Universums zu finden, wird von Cervantes unerbittlich widerlegt. Die ländlichen Schafhirten unterscheiden sich nicht wesentlich von den Städtern, sie machen Anstalten, die Mädchen, die sie zu fassen kriegen, zu vergewaltigen. Dulcineas platonischer Geliebter kann sich einem unkeuschen Verlangen nicht erwehren, als er auf dem Speicher der ‚verzauberten‘ Schenke das Mädchen der Dienerschaft trifft, die auf ihre Verabredung, den Maultiertreiber, wartet.u Und die ganze Geschichte des unziemlich Neugierigen kreist um die Frage: Wie weit kann der Mensch seine sexuellen Triebe kontrollieren? Cervantes vertritt die Ansicht, dass die Grenzen, die eine zur Routine gewordene gesellschaftliche Moral und die Stereotypik des sozialen Gebarens den menschlichen Leidenschaften setzen, nur die Oberfläche des alltäglichen Lebens berühren. Männer wie Frauen würden stets, wenn sie einer Versuchung ausgesetzt sind, den Kräften ihres sexuellen Verlangens nachgeben. Der Held dieser Kurzgeschichte ist ein Don Quijote der Sexualität. So wie Don Quijote fest davon überzeugt ist, der Mensch sei von Natur aus gut und liebevoll, glaubt der Neugierige, der Mensch sei von moralischen Prinzipien geleitet, nicht von seinen Leidenschaften. Großes und Heroisches ist der Mensch zu leisten imstande; Beschränkungen sind ihm indes auferlegt durch die Instinkte seiner Angst und den Mechanismus seines sexuellen Triebs. Sowohl der Abenteurer als auch der fahrende Ritter versuchen, die Kräfte der organischen Natur zu überwinden, indem sie sich einer Sache verschreiben, die außerhalb ihrer selbst liegt. Immer wieder werden sie Frustrationen erleiden, wenn sie zu erobern suchen, was außerhalb unserer Macht liegt. Don Quijote macht sich zu einem Abenteurer des Geistes und im Geiste, der Tat und der Liebe. Die Abenteuer, die er durchlebt, reihen sich in logischer, schlüssiger Folge aneinander. Er beginnt als Abenteurer des Geistes – das deutlichste Zeichen hierfür ist sein Entschluss, ein fahrender Ritter zu werden. Cervantes geht es im Wesentlichen darum, eine Antwort auf die Schlüsselfrage zu finden: Wie kann ein Mensch seine soziale Rolle wechseln? Unter sozialen Rollen verstehen wir all jene Formen des Verhaltens, die von Bedeutung sind, damit eine Person die vielfältigen Pflichten und Aufgaben erfüllen kann, die ihr

u Vgl.

Cervantes, Don Quijote, S. 156–165.

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aufgrund des Status oder Prestiges zukommen, über die sie in einem bestimmten sozialen Kontext verfügt. Wir unterscheiden zwischen natürlichen, künstlichen und essentiellen Rollen. Don Quijote nahm keinen Rollenwechsel innerhalb seines historischen Kontexts vor. Er veränderte aus dem Geist des Abenteuers seine Form von Sozialität. Solche Vorgänge kann man Schöpfungsakte nennen, die Erschaffung neuer Welten. Möglich sind solcherlei Eingriffe, weil wir Souveränität über die Sprache und über die Worte haben. Worte sind Produkte unseres Denkens und unterliegen unserem Willen. Worte, im Besonderen Namen, können eine magische Kraft entfalten, denn sie vermögen in den Köpfen der Menschen neue Realitäten entstehen zu lassen. So entstehen Bilder und Gegenbilder, die uns helfen, unsere Welten systematisch zu ordnen, Freund und Feind zu unterscheiden; wir formieren eine Hierarchie der sozialen Rollen nach den Belangen, die sie für uns haben. Eine Theorie der Worte ist zugleich der Ausgangspunkt, von dem aus Don Quijote seine Lebensreise beginnt. Vom armen Landjunker namens Quijada, Besitzer eines namenlosen Kleppers, verwandelt er sich in Don Quijote, dessen Ross den Namen Rosinante trägt.v Er wählt erlauchte Namen, die den Glanz der Ritterromane besitzen und Idealbilder des Rittertums transportieren. Don Quijote zeigt von Anfang an Merkmale eines Demiurgen, eines Weltenschöpfers dem Schein nach. Er spricht ein paar Worte, und eine neue Welt entsteht. In der Schöpfungsgeschichte hatte Gott gesagt, „Es werde Licht! und es ward Licht“.w Es ist Kennzeichen der sozialen Welt, dass die Menschen, die in ihr leben, neue Welten schaffen, so wie Don Quijote durch sein fiat, die Erfindung von Namen, ein Universum der fahrenden Ritterschaft. Seine neue Welt bleibt jedoch unvollständig. Fahrende Ritter leben unter dem Banner der Liebe und der Ritterlichkeit. Ritterlichkeit ist die Lebensform eines Kriegerstandes, der die Güter, die die Gesellschaft für selbstverständlich hält, mit Waffengewalt sichert und verteidigt. Woher rührt der Zusammenhang zwischen den Idealen des Rittertums und der Liebe? Der Ritter lebt dem Tod entgegen im Dienste einer Sache, der er sich verschrieben hat. Als größten Triumph über den Tod empfindet er es, wenn er von denen, die er liebt, Anerkennung erfährt. Die Liebe stellt für den Krieger eine Steigerung des Lebens dar, eine einzigartige Situation, während der das eigene

v Vgl.

ebd., S. 39–45. 1, 3.

w Genesis

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Selbst über sich hinaus sich ausdehnt, größer als das Leben wird. Insofern ist die Liebe ein wesentliches Strukturelement der fahrenden Ritterschaft. Sie ist deren objektive Voraussetzung, ungeachtet der subjektiven Neigung, die sie tragen mag. Quijada erinnert sich vage daran, vor langer Zeit, als er noch ein junger Mann war, von der Liebe zu einem Bauernmädchen, das von seiner scheuen Leidenschaft nie etwas erfahren hat, verzaubert gewesen zu sein. Don Quijote ersinnt einen Namen, der den Eindruck einer großen Dame oder einer Prinzessin vermittelt. So erblickte Dulcinea del Toboso das Licht der Weltx – ein Kind der literarischen und sprachlichen Imagination Don Quijotes, das unplatonischplatonische Rätsel menschlicher Ambiguität. Ihr Bild vervollständigt die wiedergeborene Welt des Rittertums, die nun der Bezugsrahmen seines Tuns und Leidens wird. Don Quijote gelang es, kraft der Worte und dank der Schöpfung von Idealbildern die Welt der Ritterlichkeit in seinem Kopf wiedererstehen zu lassen. Diese Ausgangssituation ist entscheidend für den Fortgang der Abenteuergeschichte. Don Quijotes Theorie lautet, der Zustand des Menschen sei wesentlich vom seinem Willen abhängig, der als Souverän über sämtliche Charakterzüge bestimmt: Der Wille manipuliert die Akte des Denkens, und aus den Worten sprechen willentliche Leidenschaften. Wille nebst Imagination herrschen über den Menschen; gegenüber der Vernunft haben die Emotionen den Vorrang. Es ist ein Aspekt der Ambiguität des menschlichen Geistes, dass die Leidenschaften die Richtung bestimmen, in der der Verstand sich bewegt, woraus zwei unterschiedliche Anreize hervorgehen. Zum einen erleben Menschen die Vergangenheit unter Gesichtspunkten eines dauerhaften Bewusstseins über das Ziel der menschlichen Lebensreise. Es handelt sich also um Akte der Erinnerung, die in Zukünftiges gewendet werden. Zum anderen bewegen die Sinne den Verstand pragmatisch auf das nächste, unmittelbar bedeutsame Ziel hin. Die Möglichkeiten des Rollenwechsels, die das fiat der Sprachmanipulation und die Bildnisse der Vollkommenheit eröffnen, sind unendlich. Die Welt der fahrenden Ritterschaft verdankt ihre Wirklichkeit Don Quijotes Willen, sich mit der Rolle des Ritters und mit einer magischen Kraft, die seinen eigenen Worten entstammt, gleichzusetzen. So wurde er zum Schöpfer des wiedergeborenen Universums der fahrenden Ritterschaft, in der Lage, jegliche Situation zu bewältigen, indem er noch die absurdesten und lächerlichsten Ereignisse durch die Worte, die er für sie fand, in einen Sinnzusammenhang einbettete. Es ist aus diesem Grund,

x Vgl.

ebd., S. 44–45.

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dass er zu Sancho Pansa sagte, in der fahrenden Ritterschaft könne alles passend gemacht und angepasst werden.y Das erste Abenteuer des Geistes heißt Epistemologie. Ideen sind Manifestationen unseres Willens, denen wir vermittels Worten und sprachlicher Bilder Ausdruck verleihen. Worte entstehen erst aus der Erfahrung, aus den Eindrücken, die der Wille in unserem Denken hinterlässt. Innerhalb der Sphäre des Geistes beginnt Don Quijote seine Abenteuer als nominalistischer Voluntarist. Auf dieser epistemologischen Annahme fußt die gesamte Handlung und in jeder Hinsicht auch seine Abenteuer. Diese methodologische Ausgangsposition führt zunächst dazu, dass Don Quijote seine eigene Theorie der Kausalität erfindet, die in der Welt der fahrenden Ritter Gültigkeit besitzt. Sancho Pansa erläutert seinem Herrn immer wieder die sozialen Hintergründe seines desaströsen Scheiterns. Diese Erläuterungen ergeben keinen Sinn für Don Quijote, denn sie berücksichtigen nicht die Bedeutsamkeit des Kontexts der fahrenden Ritterschaft. Sein eigenes Ordnungssystem ist das einer magischen Verursachung und zugleich ein System der Vorsehung – es ist die Theodizee der fahrenden Ritterschaft. In Folge dessen begreift Don Quijote alles, was ihm widerfährt, als Werk eines bösen Hexenmeisters oder eifersüchtiger Zauberer. Es handelt sich also um eine negative Theodizee. Jeder Ritter hat außerdem, so schreibt es der Berufsstand vor, seinen eigenen, guten Hexenmeister, der ihn beschützt. Allerdings macht Don Quijote die traurige Erfahrung, dass der ihm wohlgesonnene Zauberer nahezu ohnmächtig ist gegenüber denen, die dessen Schützling hassen oder eifersüchtig auf ihn sind. Von seinem guten Zauberer erhält er nur minimale Unterstützung. Der gute Zauberer macht Menschen blind gegenüber Tatsachen, zum Beispiel derjenigen, dass das Becken des Barbiers in Wirklichkeit der Helm des Mambrin ist.z In allen anderen Belangen wird er von seinem Schutzgeist im Stich gelassen. Doch keine Katastrophe lässt jemals Verzweiflung oder die Frage nach Schuld aufkommen. Don Quijotes System providentieller Verursachung weist keine Lücken auf. Er bedient sich seiner Epistemologie, um sämtliche Situationen und Begegnungen nach seinem Willen zu manipulieren, verwandelt zum Beispiel harmlose Reisende in gefährliche Zauberer, um so ein Zusammentreffen im Sinne der fahrenden Ritterschaft erstehen zu lassen.a' Unaufhörlich, ganz wie es ihm gefällt,

y Vgl.

ebd., S. 371–372. ebd., S. 215–230. a' Vgl. ebd., 93–95. z Vgl.

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treibt er ein platonisches Spiel und fühlt sich dazu berufen, die Welt in ein verzaubertes Universum zu verwandeln. Wir begegnen hier dem Privileg des nominalistischen Voluntaristen. Von dessen Position aus ist ebenso gut wie eine Verzauberung es möglich, die Welt zu entzaubern. Genau dies war das Werk jenes nominalistischen Voluntaristen, der sich dazu berufen sah, die Welt zu entzaubern, den wir einen Don Quijote des ausgehenden Individualismus nennen können – die Rede ist von Max Weber.b' Es ist jenes spielerische Treiben mit gewissen Methoden der Logik, wodurch die Welt symbolisch zu einem Ort des Zufalls, der Irrationalität und des Abenteuers gerät. Don Quijote konstatiert bereits zu Beginn: „Ich weiß, wer ich bin […] und ich weiß, daß ich nicht nur einer von denen sein kann, von denen ich gesprochen habe, sondern alle zwölf Pairs von Frankreich zusammen“.4 Aus diesen Worten geht deutlich hervor, dass er sich nicht mit einem ontologischen Problem konfrontiert sieht. Er findet nichts als soziale Rollen, die wir nach Belieben annehmen oder ablehnen. Don Quijote hat die Rolle des fahrenden Ritters gewählt; ein solcher Entschluss ist jedoch flexibel – der ihn trifft, ist offen für Veränderungen. Don Quijote fühlt sich gedrängt, nach und nach verschiedene Aspekte der fahrenden Ritterschaft zu durchlaufen. So beginnt er mit einer Imitatio Montalbánis, des Straßenräubers, um zu einer Imitatio Amadís überzugehen, des asketischen Liebhabers. Entwicklungen wie diese sind die Folge willkürlicher Entscheidungen; in ihnen wirken ebenso Zufälle wie pragmatische Überlegungen. Don Quijote kann frei entscheiden, ob er die Rolle des höflichen, belesenen Ehrenmannes und Gelehrten unter vornehmen Damen und Aristokraten spielen will. Diese Rolle ist für ihn jedoch nur eine Verkleidung, eine Erscheinung, eine Illusion: „Wer unter allen Lebenden, der […] uns solcherart hier versammelt sähe, wäre imstande, uns richtig einzuschätzen und zu sagen, wer wir in Wahrheit sind? Wer wäre im Stande zu sagen, […] daß ich jener Ritter mit dem Kläglichen Gesicht bin, den des Ruhmes Mund allüberall auf der Zunge führt?“5 Alle sozialen Rollen sind in seinen Augen bloß Variablen. Unveränderlich ist allein die Souveränität des Willens – die willentliche Entscheidung, sich zu verändern oder zu bleiben, wie man ist.

b'  Vgl. Max Weber, „Wissenschaft als Beruf“. In: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Herausgegeben von Marianne Weber. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1922, S. 524–555. 4 Cervantes, Don Quijote, S. 70. 5 Ebd., S. 468.

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Die Kraft des Willens ist es, die Worte und Bilder manipuliert, um neue Realitäten zu schaffen. Don Quijote wird zum Symbol eines Zeitalters des Nominalismus, des Voluntarismus und der Revolutionen, avanciert zum Helden einer manipulativen Transformation und zum Pionier der revolutionären Macht der Werbung. In der philosophischen Haltung Don Quijotes, die am Beginn des Buchs erkennbar ist, ist bereits die Form des Abenteurers, die im Handlungsverlauf nach und nach zur Entfaltung kommt, enthalten. Es ist unerlässlich, dass er seinen epistemologischen Libertinismus zur Anwendung bringt und zu einer schließlichen Philosophie des sozialen Handelns ausformt. Diese Philosophie vereint Theorie und Praxis. Auf den Abenteurer des Geistes folgt somit der Abenteurer im Reich der Gesellschaft. Zu den ironischen und doppelsinnigen Aspekten des Buches gehört es, dass Don Quijote dem König Treue schwört und sich dessen Dienern verpflichtet und so den militärischen Geist eines revolutionären Anarchisten preisgibt. In der Vorstellungswelt, die seiner Interpretation der Ritterromane entspringt, wiederholt sich das zweifelhafte Muster, dass er deren Handlungsabläufe als Verweise auf einen geistig-moralischen Wandel, als Indoktrination des Lesers mit Loyalitätsgefühl und Enthusiasmus für die herrschende Elite versteht. Die Realität der Fiktion ist für Don Quijote die eigentliche Realität – was er mit Schlägen und Züchtigungen bezahlt, weil er deswegen in Streitigkeiten um die moralischen Pflichten fiktiver Persönlichkeiten gerät. Von der ersten Begegnung mit Cardenio anc' bis zur letzten Szene mit dem Hirtend' erleidet er Verachtung und erntet Gelächter, weil er die Fiktion mit der Realität verwechselt. In diesem Zusammenhang erfindet Don Quijote die Idee eines sexuellen Klassenbewusstseins. Seine erste Begegnung mit Cardenio hatte mit der großen Geste einer liebenden Umarmung geendet, einem Zeichen der Verbundenheit Leidtragender. Im unmittelbaren Anschluss an diese pathetische Szene ereifern sich die beiden Ehrenmänner über die Deutung einer literarischen Vorlage. Cardenio hatte als Tatsache in den Raum gestellt, die Königin So-und-so in einem bestimmten Ritterroman habe mit ihrem Arzt Ehebruch begangen.e' Dies ist eine Frage der Auslegung und man hätte sie nach Regeln der Auslegung behandeln können; Don Quijote hingegen erhebt sich vor Empörung zitternd, um

c' Vgl.

ebd., 260. ebd., S. 616–627. e' Vgl. ebd., S. 267. d' Vgl.

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die Ehre der Königin zu verteidigen und den Mann zu bestrafen, der das sittliche Verhalten hochrangiger Personen infrage zu stellen wagt. Diese Haltung spiegelt ein Klassenbewusstsein, das im Kontext dessen, wie Don Quijote im Großen und Ganzen die Ritterromane auslegt, vollkommen irrational ist. Die Art und Weise, wie Don Quijote im Großen und Ganzen die Ritterromane auslegt, ist esoterisch. Nur vage ist er sich der Tatsache bewusst, dass diese Bücher neben einer vordergründigen auch eine hintergründige Bedeutung besitzen. Die esoterische Bedeutung ist versteckt unter der Oberfläche von Geschichten fahrender Ritter in einer ritterlichen Welt. Was sich darunter verbirgt, ist die bleibende Hoffnung einer leidgeplagten Menschheit, eines Tages in ein Goldenes Zeitalter, das ehemals Realität war, zurückzufinden oder es wieder aufzurichten. Don Quijote ist fest davon überzeugt, dass wir auf eine Rückkehr dieses Zeitalters nicht warten sollten und nicht warten können. Wir müssen selbst etwas dafür tun. Und er machte einen Anfang. Dass Don Quijote einen im höchsten Maß literarischen Weg wählte, um ein geistiges Ziel zu erreichen, gehört zu den ironischen Elementen seiner Geschichte. Die Methode des fahrenden Ritters besteht darin, die Sphären der Wirklichkeit zu verwechseln. Don Quijote versuchte, Ideale einer fiktiven in die reale Welt zu übersetzen. Sind aber nicht alle Ideale, ist nicht jede regulative Idee fiktiv und etwas außerhalb unserer sogenannten alltäglichen Realität? Don Quijote behandelte die Ritterromane als sein Evangelium, weswegen es zulässig ist, wenn wir seine Lebensweise als Abenteuer der Imitation bezeichnen. Er selbst war es, der sich für die normativen Bilder einer fahrenden Ritterschaft entschied. Wieder einmal kommt die untergründige Ironie zum Tragen, die Cervantes’ Roman durchzieht: Der intellektuelle Abenteurer orientiert sich am Idealbild Montalbáns, des ritterlichen Straßenräubers, der die Reichen im Namen der Gerechtigkeit beraubt.f' Don Quijote begibt sich auf seinen Weg einer Imitatio Montalbánis als Abenteurer in der Sphäre sozialen Handelns. Allerdings bleibt Don Quijote seiner Normvorstellung ebenso wenig treu, wie er seine ritterlichen Gelöbnisse einhält. Nur eine einzige seiner Taten wird seinem Heiligen der fahrenden Ritterschaft gerecht. Er beraubt einen armen Barbier jenes Waschbeckens, das in Begriffen der geistigen Welt des Rittertums Mambrins Helm ist. Mit seinen übrigen Handlungen stört er höchstens den Straßenverkehr, wobei sich immerhin Aufschlussreiches über Don Quijotes innerste Triebkräfte

f' Vgl.

ebd., S. 41.

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offenbart. Zwei Muster tauchen im Buch immer wieder auf. Das erste ist das von Don Quijote stur verfolgte Vorurteil, jede in Gesellschaft oder in Begleitung einer Eskorte reisende Dame, ob lebendig oder fiktiv, sei eine Gefangene, die sich danach sehnt, befreit zu werden. In Don Quijotes Wahrnehmung sind diese Damen traurige, hilflose, der Unterstützung bedürftige Geschöpfe – Symbole seiner reinen Liebe. Das zweite Muster ist tatsächlich ominös – wir werden später, in einem anderen Zusammenhang, darauf zurückkommen müssen. Nur so viel sei gesagt, dass Don Quijote, wann immer er auf Kirchenvertreter oder Ordensleute trifft, böse Zauberer, schädliche Hexenmeister zu sehen glaubt. Womöglich resultieren Don Quijotes Taten aber auch aus den Vorurteilen und Glaubensgrundsätzen eines fahrenden Ritters, der ein schroffer Individualist ist und alles, was wie ein Massenphänomen aussieht, als feindliche militärische Bewegungen interpretiert. In der Terminologie des Rittertums erscheinen die Windmühlen wie ein wilder Mob aus kampfeslustigen Riesen.g' Die Schafherde assoziiert er mit einer Massenformation aus armen Rittern,h' die sich dazu gedrängt sahen, in disziplinierten modernen Armeen anzuheuern. Und erinnern die Kämpfe der hervorragend ausgebildeten Ritter in glänzender Rüstung und unter dem Befehl eines Generals nicht an bedauernswerte menschliche Schafherden? Zwei Ereignisse sind, wenn wir vom Abenteurer der sozialen Tat sprechen, als bemerkenswert hervorzuheben. Das eine ist Teil des ersten Ausflugs. Don Quijote begegnet einem Bauern, der seinen an einem Baum festgebundenen jungen Diener verprügelt.i' Der Herr weigert sich, seinen Diener für den von ihm erbrachten Dienst zu bezahlen. Der Junge hatte aber auf seinem Recht bestanden und wird deshalb verprügelt. Don Quijote scheint mit seiner furchterregenden Erscheinung und seiner zum Lachen reizenden Wirklichkeitsvorstellung Erfolg zu haben. Er beschwört den Bauern, das Rechte zu tun und den Jungen zu bezahlen. Er appelliert an ein für sie beide verbindliches, der Welt der fahrenden Ritterschaft entstammendes sittliches Gebot, indem er den Bauern trotz der Warnungen des Jungen als Teil seiner eigenen Ordnung behandelt. Durch ein Versprechen des Bauern zufrieden gestellt, reitet er davon. Doch seine Freude basierte auf einer Illusion, wie er im Laufe eines späteren feierlichen Abendessens erfahren muss. Um dem erst kürzlich wiedervereinten Liebespaar die Werte der fahrenden

g' Vgl.

ebd., S. 88–97. ebd., S. 178–185. i' Vgl. ebd., S. 60–64 u. 375–379. h' Vgl.

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Ritterschaft mitzuteilen, hält er bei diesem Essen Ausschau nach einem Augenzeugen seiner gesegneten Taten und entdeckt per Zufall den Jungen, der im selben Moment den Raum betritt. Der Junge versetzt ihm jedoch einen gehörigen Schock: Sein Herr hatte, nachdem Don Quijote davongeritten war, einen solchen Wutanfall bekommen, dass er den Jungen noch heftiger prügelte, und als er glaubte, der Junge sei tot, ließ er ihn am Boden liegen. Der Junge ist gerade aus dem Hospital entlassen worden, ohne Geld, ohne Arbeit, ohne Unterstützung. Folglich verflucht er die gesamte fahrende Ritterschaft und wünscht, sie würde vom Erdboden verschwinden. Aus einem guten Willen und guten Taten geht also nicht notwendigerweise etwas Gutes hervor. Aus Gutem kann Böses entspringen, so ist der Lauf der Dinge. Solche hingegen, die glauben, eine ritterliche Ordnung könne ein Evangelium der Liebe und der Güte predigen, sollten verlacht und ins Gefängnis gesteckt werden. Vor uns liegt hier das Grundmuster von Dostojewskis Großinquisitorj': Der Heiland, der erschienen ist, die Welt zu retten, ist ein Ärgernis und ein Fluch für das etablierte System, das bestrebt ist, Ordnung, Disziplin und Autorität aufrecht zu erhalten. Durch den Erlöser werden verheerende Zustände, Anarchie und Verwirrung Einzug halten und die sorgfältig eingerichteten Institutionen auf den Kopf gestellt. Es ist für die Autoritäten Gefahr und Hoffnung zugleich, dass der Erlöser niemals zurückkehren wird. Bereits in der ersten Tirade, auf die noch viele weitere folgen, offenbart Cervantes uns die esoterische Bedeutung von Don Quijotes Abenteuern. Es ist die tragische und zugleich komische Geschichte des Abenteurers, der die Welt zugleich in politischer, sozialer und geistiger Hinsicht zu retten unternimmt. Diesen Gedanken unterstreicht diejenige Geschichte, die den Höhepunkt der Abenteuer des kämpferischen Ritters Don Quijote bildet. Die zuletzt geschilderte Episode dient deren Vorbereitung. Don Quijote macht sich daran, die Verbrecher, die von den Gerichten des Königs rechtmäßig zur Sklavenarbeit auf den Galeeren verurteilt worden waren, zu befreien. Die Begründung dafür ist ebenso hübsch wie aufschlussreich: „Aus allem was ihr mir gesagt, vielgeliebte Brüder, habe ich klar erkannt, daß, obschon man euch nur eurer Vergehen wegen bestraft, die Strafe, die ihr erdulden sollt, euch doch nicht viel Freude bereitet und daß ihr nur sehr ungern und wider euren Willen auf die Galeeren geht; es könnte wahrlich so sein, daß bei dem einen die geringe Widerstandskraft in der Folter, bei

j'  Vgl. Fëdor Michajlovič Dostoevskij, Die Legende vom Großinquisitor. Übersetzt von Alexander Eliasberg. Berlin: Furche-Verlag 1919.

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dem anderen Geldmangel, beim dritten, weil es ihm an Gönnern fehlte, und schließlich die verkehrte Ansicht des Richters die Ursache eures Verderbens gewesen ist und ihr solcherart nicht zu dem Rechte gekommen seid, das auf eurer Seite war.“6 Don Quijote stellt sich auf die Seite der Verbrecher – nicht, weil sie Schurken sind, sondern weil sie leiden. Es ist das Geschäft des fahrenden Ritters, denen zu helfen, die in einer Notlage sind, und zwar mit Blick auf ihr Leiden, nicht auf ihre Schurkereien. „Ich bin auf einen Rosenkranz und ein Halsband gestoßen, an dem jämmerliche, unglückliche Leute hingen, und tat an ihnen, was mein Beruf von mir verlangt; alles übrige bleibe dahingestellt.“7 Don Quijotes Religion besteht in einer Philosophie der Liebe und der Ritterlichkeit. Sie gab ihm den Auftrag ein, die Verbrecher zu befreien, um sie von ihrem Leiden zu erlösen. Menschen, so glaubt er, müssen von ihren Leiden befreit sein, um ihre ursprüngliche Güte zum Vorschein bringen zu können. Einmal mehr erlebt Don Quijote einen tiefen Schock, als ihm die wahre Natur der Menschen, die er befreit hat, ihre Selbstsucht und Undankbarkeit, bewusst wird. Don Quijotes Philosophie ist die logische Konsequenz seines Voluntarismus. Es handelt sich um eine Theorie, in der sich revolutionärer Anarchismus und universelle Liebe verbinden. Sie ist zugleich Philosophie und Religion, denn in ihr enthalten ist der Glaube an die Heraufkunft der neu-alten Welt des Goldenen Zeitalters, das die Menschheit aus eigener Anstrengung aufrichten soll. Die Imitatio Montalbánis, der militärische Abschnitt der Lebensreise des Don Quijote, nimmt ein abruptes Ende mit der Befreiung der Verbrecher – einer Aktion, die eine offene Herausforderung der Autorität der etablierten Ordnung darstellt. Angesichts dieses Endes sollten wir uns mit Blick auf Don Quijotes Philosophie eines Gedankens erinnern, hinter dem mehr steht als ein klassisches rhetorisches Muster – des Gedankens des Vorrangs der Waffen gegenüber dem Buchstaben und dem Gebet. Der fahrende Ritter willigt ein, dass die Güter, denen die Gebete der Priester gelten – Frieden und Seelenruhe, Gerechtigkeit und Erlösung – die wahren Güter sind. Aber mit dem Beten allein ist es nicht getan. Man muss für die Verwirklichung dieser Güter tätig werden. Darin besteht die Aufgabe des fahrenden Ritters. Er dient denen als Vorbild, die es sich zum Ziel setzen, für die Heraufkunft des Königreichs Gottes auf Erden etwas zu tun. Aus diesem Grund ist der Mann der Waffen dem Reich des Geistes so sonderbar nahe.

6 Cervantes, 7 Ebd.,

Don Quijote, S. 238–239. S. 355.

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Don Quijote ist fähig, seinen Beruf zu rechtfertigen. Was ihm indes tiefe Sorge bereitet, sind seine ständigen Niederlagen im Waffengang. Alles, was er positiv bewirkt, geht auf zivile Tugenden zurück, auf seine Überzeugungskraft und die Höflichkeit des Herzens. Dass sein militärisches Auftreten eher lachhaft ist, wird Don Quijote klar, als er sich in der Geschichte des Gefangenen mit dem wahren Bild des Soldaten, der über alle Widrigkeiten erhaben ist, konfrontiert sieht. Der Intellektuelle und der Philosoph, so der Gedanke, der Cervantes’ Roman stillschweigend zugrunde liegt, sollten ihrer Rolle treu bleiben, nicht die Rolle des revolutionären Erlösers mit der Waffe in der Hand übernehmen. Mit dem Schwert auf Erhalt oder Wandel der Gesellschaft hinzuwirken, ist ihr Geschäft nicht. Wer dies tut, die Ordnung der sozialen Bühne verletzt und die Rollen durcheinanderbringt, macht sich zum Narren. Dies ist jedenfalls die Sichtweise, die immerzu die herrschenden Mächte jeder Form einer fahrenden Ritterschaft entgegensetzen. Sie hegen ein tiefes Misstrauen gegenüber allen Intellektuellen und fahrenden Rittern, weil diese die Anarchie heraufführen, die etablierte Ordnung zerstören würden. Aus der Sicht Don Quijotes ist es so, dass man sich in den Augen der Welt zum Narren machen muss, wenn man die Menschheit wirklich verändern will. Die Menschen verdienen die Vision einer komplexeren Welt, als die Routinen der Gesellschaft sie ihnen bieten, verdienen Ideale und normative Bilder, die die Grenzen des Gegebenen überschreiten. Diese mögen sich den Erinnerungen an ein Goldenes Zeitalter verdanken, die Teil unserer Natur sind, weil dies Goldene Zeitalter einmal wahrhaft wirklich und die Wirklichkeit der Wahrheit gewesen ist. Der zweite Teil des ersten Bandes beginnt mit Don Quijotes Flucht in die Imitatio Amadís. Dies ist keineswegs eine notwendige Entwicklung. Die Grundidee der Geschichte, die Cervantes entwirft, lautet, dass in einer Welt, die unter der souveränen Herrschaft des irrationalen Willens steht, Zufall und Kontingenz die herrschenden Kräfte sind. Don Quijotes Rollenwechsel bedeutet die Verschmelzung des Akzidentiellen mit der unfehlbaren literarischen Imagination. Sancho Pansa hatte Don Quijote davon überzeugt, dass es ein Akt der Klugheit sei, nach der Befreiung der Verbrecher in die Berge zu fliehen. Es ist diese dem Zufall geschuldete Flucht, die Don Quijote seinen Rollenwechsel suggeriert. Die Landschaft weckt in ihm Erinnerungen an jenes Kapitel im Amadís-Roman, in dem der Held Buße tut, eine asketische Form der Liebe pflegt und auf diese Weise ein glorreiches Leben mit seiner Herzensdame führt.k' Diese literarische

k' Vgl.

ebd., S. 269–290.

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­ ückbesinnung hat unmittelbare Auswirkungen – die Übernahme der neuen Rolle R in Form der Imitatio Amadís. Die Motive lagen auf der Hand. Das Abenteuer unter Waffen hatte zu viel Anstrengung gekostet, der Rückschläge waren allzu viele gewesen. Don Quijote war tatsächlich überzeugt, als kämpfender Ritter niemals Ruhm erlangen und seine Tugenden niemals entfalten zu können. So entschloss er sich kurzerhand, in die Rolle eines liebenden Ritters einzutreten, wie sie in der Amadís-Erzählung beschrieben ist. Cervantes’ Darstellung würden wir heute wohl eine Strip Burlesque Show nennen. Die wahre Bedeutung der Szene erschließt sich erst, wenn man sie in Bezug zu Sancho Pansas Vorwurf setzt, dass Don Quijote seine Geliebte aus einem Gefühl reiner Liebe liebt, jener uneigennützigen Liebe, die wir Gott entgegenbringen sollten, nur um seiner selbst willen, nicht wegen der Hoffnung auf ewige Herrlichkeit oder aus Furcht vor der Hölle. Sanchos Bemerkung ist zutreffend, deutet in die richtige Richtung. Tatsächlich ist Dulcinea ein Element der Religion Don Quijotes. Denn unser Held hat sich seine eigene Religion geschaffen, die im Widerspruch zu der vorherrschenden Institution eines auf eine übernatürliche Transzendenz gerichteten Bekenntnisses steht. Im Zentrum seiner Religion steht der Glaube an die ursprüngliche Güte, Spontaneität und Liebe der Menschen, von der wir aufgrund unserer kollektiven Erinnerung an das Goldene Zeitalter Kenntnis haben. Ein solcher Glaube fordert die soziale Tat. Nicht weniger wird von den Gläubigen verlangt, als die bestehende Welt zu transformieren und die Rückkehr der vollkommenen, harmonischen Welt der alten Zeit herbeizuführen. Dulcinea bedeutet für Don Quijote das Idealbild der Geliebten, die geliebt wird, weil ihre Vollkommenheit den Weg zur neuen Glückseligkeit weist. Selbstverständlich ist Don Quijote sich vollständig bewusst, dass Dulcinea ein Produkt seines Willens und seiner Imagination ist, gefertigt, um das Bildnis der fahrenden Ritterschaft, an dem er seinen Sinnhorizont gewinnt, zu komplettieren. Deshalb reagiert er ruhig und gelassen, als Sancho Pansa darüber spottet, dass er sich in ein flegelhaftes Bauernmädchen verliebt hat,l' das wahrscheinlich in brüllendes Gelächter ausbräche, wenn sie ihn, den Liebhaber mit dem kläglichen Gesicht, zu sehen bekäme. Don Quijote erzählt Sancho Pansa eine höchst aufschlussreiche Anekdote, die dem einfachen Knappen die Wahrhaftigkeit seiner Liebe vermitteln soll: „So wisse denn, daß eine junge schöne Witwe, die unabhängig und reich war und vor

l' Vgl.

ebd., 282–284.

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allem immer guter Laune, sich in einen jungen Laienbruder, einen untersetzten stämmigen Burschen, verliebte. Dies kam seinem Oberen zu Ohren und dieser sagte, sie brüderlich ermahnend, zur Witwe: ‚Erstaunt bin ich Señora, und dies nicht ohne zureichenden Grund, daß eine so vornehme, so schöne und reiche Dame, wie ihr, Euer Gnaden, es seid, sich in einen so schmutzigen, so niedrigen und so strohdummen Menschen, wie der gewisse Jemand es ist, verlieben konnte, wo es doch in diesem Hause so viele Doktoren, Lizentiaten und Theologen gibt, unter denen Ihr, Euer Gnaden, nach Herzenslust hättet wählen können. Hier hättet ihr sagen können: ‚Den mag ich und den andern mag ich nicht.‘ Die Witwe aber erwiderte mit großer Schalkhaftigkeit und Unverfrorenheit: ‚Ihr, Euer Gnaden, Señor, seid hier sehr auf dem Holzwege und gewiß in althergebrachten Auffassungen befangen, wenn Ihr meint, ich hätte mit dem gewissen Jemand, so dämlich er auch scheinen mag, eine schlechte Wahl getroffen, denn für das, wozu ich ihn brauche, hat er genug der Philosophie, ja sogar mehr als ein Aristoteles.‘ Und so Sancho, ist mir Dulcinea del Toboso für das, wozu sie mir vonnöten, ebensoviel Wert wie die erhabenste Prinzessin.“8 In der Tat ist Dulcinea das Geschöpf der schöpferischen Imagination Don Quijotes, die er im Sinne des ideellen Bezugsrahmens seines ritterlichen Universums einsetzt. Diese Imagination wird angetrieben durch fromme Handlungen, die das Leben des Romanhelden auf Höheres ausrichten – auf etwas, das mehr als Leben ist. Don Quijote machte aus der Dame seines Herzens ein Abbild des höchsten Guts, das den menschlichen Eros anregt, in der Hingabe an und dem Dienst für ein Ziel und einen Grund außerhalb seiner die engen Grenzen der Körperlichkeit zu überschreiten. Als Abenteurer der Liebe liebt Don Quijote die Liebe um der Liebe willen. Und in Dulcinea, die ihm als regulative Idee eines Lebens in der Vollkommenheit dient, zu dem hin seine Liebe ihn bewegt, liebt er sich selbst. Im Rahmen der Religion des Don Quijote symbolisiert Dulcinea, dass Menschen sich ihre eigenen Welten kreieren, mithin ihre eigenen Sinnhorizonte, und schließlich Gott. Die Religion Don Quijotes dient dazu, eine Brücke zu schlagen zwischen dem Goldenen Zeitalter der Vergangenheit und dessen Wiedergeburt in der Zukunft, die er durch sein Tun und Leiden vorbereitet. Der Dulcinea in der Welt der fahrenden Ritter korrespondiert im pastoralen Universum Marcella.m' Während Dulcinea von Don Quijote geschaffen wurde, ist Marcella ihr eigenes Geschöpf,

8 Ebd., m' Vgl.

S. 284. ebd., S. 111–147.

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sozusagen ein weiblicher Don Quijote. Sie hat die Wahrheit des Schönen und das Schöne der Wahrheit mittels sittlich-philosophischer Gestaltung ihrer leibhaftigen Schönheit bereits erreicht. Sie weiß, dass das Schöne liebenswert ist, entzieht sich jedoch ihren Liebhabern, die Liebe mit Sexualität verwechseln. Um Ruhe und Frieden zu finden, flieht sie in die Einsamkeit der Natur, zu den Schafhirten als den Vorboten einer besseren Welt. Wie Don Quijote ist sie so närrisch, an die fundamentale Güte, Liebenswürdigkeit und Erhabenheit der menschlichen Natur zu glauben – zu glauben, die Schafhirten seien dem Drang des Sexus weniger ausgeliefert als die verkappten Städter, die die pastorale Welt auf der Suche nach dem Goldenen Zeitalter bevölkern. Die pastorale Welt ist ein Universum des Leidens, in dem die, die nicht geliebt werden, und die, die von ihren Liebhabern verlassen worden sind, sowie die, die sich sehnen, ihren Liebhabern zu entkommen, einander begegnen. Die soziale Welt ist lediglich die Kulisse der pastoralen Welt. Konflikte ergeben sich nicht aus klassenbedingten Unterschieden an Ehre und Prestige, sondern sind das Ergebnis des Ausbruchs oder auch der langsamen Steigerung von Leidenschaften zwischen Einzelnen. Die Welt der Liebe bietet ein Szenario des Leidens und Vergebens, des Einander-Fliehens und Einander-Findens, von Verzweiflung und Versöhnung. Es ist ein Universum der Zufälle, der Irrationalitäten und einer unendlichen Vielfalt von Gefahren, die sich, wie die Schicksale von Camillan' und Leandrao' illustrieren, sowohl komisch als auch tragisch auswirken können. Die Welt der Liebe unterscheidet sich nicht von der Welt der fahrenden Ritterschaft. In beiden Segmenten des Lebens sind Sinn und Unsinn ineinander verwoben, wird eine Lebensführung gemäß rationaler Absichten immer wieder und in allen Sphären sozialer Tätigkeit von Rittern bzw. Liebenden durchkreuzt. Das Leben der Tat ist wie das der Liebe gewidmete doppelbödig, ausgesetzt allen erdenklichen Entwicklungen, die ihrerseits von einer unendlichen Vielfalt von Zufällen, betrüblichen oder lustigen, abhängen. Doppelbödig ist das gesamte Leben, weil es keinen Zustand gibt, der sich nicht im Karussell wechselnder Perspektiven als komisch und tragisch zugleich erweisen könnte. Dies ist das besonders augenfällige Ergebnis des letzten Abenteuers Don Quijotes, des Abenteuers im Geiste. Die Befreiung der Verbrecher hatte bereits einen Hinweis darauf geliefert, dass das Abenteuer der Revolution nicht einen politischen oder sozialen, sondern

n' Vgl. o' Vgl.

ebd., S. 387–446. ebd., S. 618–624.

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geistigen Wandel bedeutet. Tatsächlich bilden eine Philosophie der Freiheit und der akosmistischen Liebe den Mittelpunkt von Don Quijotes Religion der fahrenden Ritterschaft. Freiheit ist die Bedingung, um die Elemente zurückzuerlangen, die das Goldene Zeitalter noch kannte, die durch den modernen Rationalismus beschädigt und entwürdigt wurden und aus denen ein reines Herz gebildet ist. Wer die Erlösung von den Fesseln der modernen Sozialwelt erreichen will, ist zu einer vollständigen Transformation des Menschseins angehalten; das revolutionäre Werk ist die Tat eines Sehers, dem eine sinnvollere, vollkommenere Welt vor Augen steht. Der Kult um Dulcinea ist nur das Symbol der schöpferischen Kräfte, die es Menschen ermöglichen, Bilder und Bezüge zu erfinden, auf die sie den sich ausdehnenden Eros ihrer Schaffenskraft richten. Selbstverständlich bekundet Don Quijote immer wieder seine Treue zu König und Kirche. Solche Bekundungen sind unvermeidlich in Büchern, die neben ihrer offensichtlichen, vom Autor proklamierten überdies eine esoterische Bedeutung haben. Andererseits sagt Don Quijote ausdrücklich, er habe seine eigene Religion, die ihm aufgebe, die Leidenden zu befreien, selbst wenn sie von den Gerichten seiner Majestät rechtmäßig verurteilt worden sind. Und er betet zu Dulcinea, nicht zu Gott, bevor er sich in ein Abenteuer begibt. Darüber hinaus – und dies ist höchst aufschlussreich hinsichtlich seines Unbewussten – attackiert er die Mitglieder der Kirche, wann immer er ihnen begegnet. Stets ist er überzeugt, in ihnen bösen Zauberern zu begegnen, seien es Mönchsbrüder aus St. Benedikt,p' Junggesellen aus Baezaq' oder eine Prozession, deren Teilnehmer das Bild der Jungfrau Maria vor sich her tragen.r' Diese antichristliche Geisteshaltung ist Teil der Religion der fahrenden Ritterschaft. Don Quijotes Religion kreist um die Idee, dass das Goldene Zeitalter oder das Königreich Gottes im Hier und Jetzt – nicht zuerst in den Herzen der Menschen – verwirklicht werden. Denn dies ist doch ehemals die wahrhaftige Wirklichkeit gewesen, weswegen es wiederhergestellt werden können muss. Ohne Frage können die Säulen der Gesellschaft, der Barbier und der Dorfpfarrer, nicht anders, als Haltung und Handlungen Don Quijotes als Wahnsinn zu verstehen. Aber der Begriff des Wahnsinns ist eben ein ideologisches Instrument, um das Anliegen der vorherrschenden Autoritäten, den Status quo zu erhalten, zu verbergen. Sie spüren ganz richtig den Geist der Ketzerei, der Revolution, der

p' Vgl.

ebd., S. 93–95. ebd., S. 191–196. r' Vgl. ebd., S. 627–631. q' Vgl.

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modernen Philosophie in Don Quijote. Die Vorstellung, dass der Ritter sich unterstehen könnte, sich den Gesandten oder Statthalter Gottes zu nennen – Formeln, die er mit Sicherheit nicht in seinen Ritterromanen finden kann, sondern bei Pico della Mirandolas' oder Leone Ebreot' – entsetzt sie. Sie sind schockiert von seiner radikalen Epistemologie, der Idee einer absoluten Vorherrschaft des Willens über den Verstand und der daraus folgenden Philosophie des Zufalls, der Kontingenz und der Irrationalität. Der Barbier und der Dorfpfarrer verkleiden sich als Zauberer, um ihn zurück ‚nach Hause‘, in die Welt der Routinen, zu bringen.u' Sie wählen allerdings eine Form des Verzauberung, von der, wie Don Quijote fachmännisch bemerkt, noch niemand gehört hat und die mutmaßlich auf die neuen Umstände verweist, die mit der wiedergeborenen fahrenden Ritterschaft einhergehen. Don Quijote wird wie ein Ketzer behandelt, dem man den Prozess macht, nicht einem Zauber unterworfen, wie er der Welt des Rittertums entspräche. Er wird in ein Gefängnis gesteckt, an Händen und Füßen gefesselt und auf einem Ochsenkarren durch die Straßen gezogen. Diese Prozession symbolisiert den Triumph der Autoritäten über den Abenteurer der Tat und der Liebe, des Geistes und im Geiste. Bei oberflächlicher Betrachtung bleibt am Ende des Buchs der Status quo der Sieger. Aber tatsächlich entsteht aus dem Zusammenspiel zwischen den Perspektiven der tätigen und leidenden Figuren in ihm und der Außenperspektive des Lesers ein Werk von heiterer Gelassenheit im höchsten Maß, ein klassisches Beispiel für Sokrates’ Gedanken, der wahre Dichter sei gleichermaßen in der Lage, die Welt als Tragödie wie als Komödie zu begreifen.v' Am Ende unserer Untersuchung bleibt eine Frage offen, die nicht zu beantworten bedeuten würde, dass wir das Werk nicht in seiner ganzen Vielschichtigkeit verstanden hätten: Enthält das Buch nicht seiner inneren Form nach eine dezidiert spirituelle, obgleich unchristliche Sicht auf die weltliche Reise der Menschheit? Die Menschheit hat in ihrem Kampf um die Errichtung der Freiheit

s'  Vgl.

Giovanni Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen. Nebst einigen Briefen und der Lebensbeschreibung Pico della Mirandolas. Herausgegeben von Herbert W. Rüssel. Amsterdam: Pantheon 1940. t'  Vgl. Leone Ebreo, Dialoghi d’Amore. Hebräische Gedichte. Herausgeben von Carl Gebhardt. Heidelberg: Winter 1929. u' Vgl. Cervantes, Don Quijote, S. 576–579. v' Vgl. Platon, Gastmahl. Neu übersetzt und erläutert von Otto Apelt. Leipzig: Meiner 1926, S. 78.

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eine Niederlage erlitten. Alle Bemühungen, die menschliche Natur zu überwinden und den Mächten des Sexus zu wiederstehen, sind gescheitert. Der Mensch ist nicht hinreichend ausgerüstet für die anarchische Freiheit einer Welt universeller Liebe und Liebenswürdigkeit. Einzig Philosophen, Seher und Revolutionäre sind es, die Utopien einer pastoralen Welt oder eines wiedergeborenen Goldenen Zeitalters, wie fahrende Ritter sie propagieren, hervorbringen können. Dies ist Cervantes’ Auffassung der Entwicklung der Menschheit. Ist dies aber nicht eine Geschichte der Wanderungen, die Menschen aufnehmen, um zu einem Paradies der Unschuld, der Liebe und der Spontaneität zu gelangen? Menschen wissen, dass die Pforten des Paradieses verschlossen sind; und wir wissen von dem Cherub hinter uns. Und doch bereisen wir wie ein Kranz Liebender, Leidender, Suchender die Welt, bewusst unserer Unzulänglichkeiten und zugleich im Bewusstsein von Idealbildern eines perfekten Lebens, an dem wir teilhatten. Wir reisen um die Welt, um herauszufinden, ob nicht womöglich doch eine Hintertür des Paradieses aufgegangen ist. In Cervantes’ düsterem und ironischem Abenteuerroman ist eine metaphysische Theorie verborgen, der es um die letzte Bedeutung solcher Reisen und Wanderungen geht. Menschen sind fortwährend auf dem Weg in ein Universum der Unschuld und Liebe, dessen Erinnerung sie in ihren Herzen tragen. Tragisch ist diese Suche und komisch. Tragisch, eben weil das Paradies verschlossen ist; komisch, weil all die nominalistisch-voluntaristischen Epistemologien niemals die Fülle des Bewusstseins zu erfassen vermögen, deren die Menschheit bedürfte, bevor sie die natürliche Gnade und Anmut wiedererlangen möchte, derentwegen sie erhaben heißen könnte. Die spirituelle Vision im Innersten von Cervantes’ Roman nimmt eine Theorie vorweg, die ihr höchst ähnlich ist. Wir finden sie in den Reflexionen eines deutschen Dichters und Philosophen, Heinrich von Kleist. In seiner Abhandlung Über das Marionettentheaterw' hat er eine Dialektik von Grazie und Bewusstsein entwickelt, die durch sämtliche Möglichkeiten des Bewusstseins hindurch zurückführt zur natürlichen Grazie. Dieselbe Bewegung ist es, die Cervantes vor Augen hat, während er die Reisen und Wanderungen der Menschheit als die ewige Suche nach dem Paradies des Herzens im Labyrinth der Welt erhellt.

w' Vgl.

Heinrich von Kleist, Über das Marionettentheater. Bonn: Schwippert 1920.

Der Aufbau der Gesellschaft aus Symbolen und BildernÜ

„Durch Wälder von Symbolen“ Charles Baudelairea

I Der Sozialwissenschaftler nähert sich dem Thema der Symbole aus einem anderen Blickwinkel, als der Philosoph oder der Theologe es tun. Der Philosoph wird das Thema als das genuine Thema der Philosophie angehen und erklären, dass Begriffe Symbole der Reichweite des menschlichen Geistes sind. Eine wahre

ÜAlbert

Salomon, „Symbols and Images in the Constitution of Society“. In: Lyman Bryson, Louis Finkelstein, Hudson Hoagland und Robert M. MacIver (Hg.), Symbols and Society. 14. Symposium of the Conference on Science, Philosophy and Religion. New York: Cooper Square Publishers 1954, S. 103–129. Wieder abgedruckt in: Albert Salomon, In Praise of Enlightenment. Cleveland, New York: Meridian Books 1963, S. 236–260. Übersetzt von Peter Gostmann und Dorte Huneke.

a Charles Baudelaire, „Correspondances“/„Entsprechungen“. In: Charles Baudelaire, Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden. Herausgegeben von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost. Band 3: Les Fleurs du Mal/Die Blumen des Bösen, München, Wien: Carl Hanser 1975, S. 68–69.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Salomon, Schriften 1949–1954, Albert Salomon Werke 4, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37736-6_12

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Der Aufbau der Gesellschaft aus Symbolen und Bildern

Pionierleistung auf diesem Feld verdankt sich Ernst Cassirer, angefangen von seiner frühen, hellsichtigen Studie über Substanzbegriff und Funktionsbegriffb bis hin zur Philosophie der symbolischen Formen,c dem krönenden Abschluss seines Werks, womit er einen neuen Weg wies, sich der Epistemologie und der Typik des Philosophierens anzunähern. Der Religionsgelehrte dagegen studiert Symbole, indem er die fortwährenden Bestrebungen des Theologen erkundet, das allumfassende Geheimnis der Ganzheit in den historischen Religionen zu ergründen. Der Philosoph setzt die Wirklichkeit der Ideen und der Theologe das absolute Sein des Göttlichen voraus, und beide zudem, dass das, was sie voraussetzen, im Zuge der Geschichte ins Dasein tritt. Der eine wie der andere setzt dem unaufhörlichen Werden des sozialen Geschehens das wahre Sein des Geistes oder im Geiste entgegen. Sie pflegen eine wahrhaft platonische Haltung, der zufolge die symbolischen Formen, die der Geist bildet, die erste Wirklichkeit sind. Wer dagegen die Sozialwissenschaften studiert, wird von der Hypothese ausgehen, jede Gesellschaft schaffe sich, durch Gestaltung einer Vielfalt symbolischer Formen, ihre eigene Welt. Diese Symbole sind lebendige, konkrete Abbilder sinnhafter Ganzheiten. Mit anderen Worten: Der Soziologe setzt die schöpferische Wirklichkeit, die der historischen Entwicklung einer Gesellschaft innewohnt, voraus. Religion, Kunst und Philosophie sind demnach unterschiedliche Wege, das Bedürfnis einer Gesellschaft nach Sinn, Gewissheit und Sicherheit zu realisieren. Menschen schaffen Symbole oder wählen sie in Form sozialen Handelns. Alles, was die Natur umfasst, und alles, was Teil des kollektiven Bewusstseins ist, kann bedeutsam werden für die Schaffung von Symbolen. Soziale Gruppierungen verleihen bestimmten Worten, Ereignissen, Gegenständen, Dokumenten oder auch Personen symbolische Bedeutung, je nach den spezifischen Bedürfnissen, die sich ihnen aus dem soziohistorischen Zusammenhang ergeben. Eine Gesellschaft verändert ihre symbolischen Formen stetig und gibt die Wandlungsprozesse, die sie durchläuft, zu erkennen, indem sie sich von überlieferten Symbolen abkehrt und neuen, revolutionären Symbolen zuwendet. Tätigkeiten des Schöpfens und Tilgens von Symbolen bilden die Grundlage für die Errichtung wie für die Veränderung menschlicher Gesellschaften. So ist es für den Sozialwissenschaftler von erstrangiger Bedeutung, die Struktur gesellschaft-

b Ernst

Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchung über die Grundfragen der Erkenntnistheorie. Berlin: Bruno Cassirer 1910. c Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. 3 Bde. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1953.

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licher Idealbilder und die Struktur, der diese Idealbilder ihre symbolische Bedeutung entnehmen, vor dem Hintergrund fortwährenden historischen Wandels zu analysieren. Symbole sind Zeichen von eigentümlicher Art; es sind lebendige, in feste Formen gefügte Sinnvorstellungen, die unter den Mitgliedern einer Gruppierung über die unterschiedlichen Daseinsebenen hinweg Einheit stiften. Ihr Sinngehalt verweist auf Erfahrungen, die sämtliche menschlichen Gesellschaften miteinander teilen. Erstens sind grundlegend die Erfahrungen des Todes und der Geschlechtlichkeit, die die Beziehung des Menschen zur Natur und zum Universum des Geistigen umschreiben. Menschen antworten auf diese elementaren Erschütterungen, indem sie Symbole ewigen, göttlichen Seins schaffen, das erhaben ist über Zeit und Raum und dem man mit Liebe und in Furcht begegnen soll. Zweitens sind grundlegend die Erfahrungen des Fortschreitens der Zeit und der Ewigkeit von Institutionen wie der Familie, des Sippenverbands, des Staats oder der Kirche, deren Dauerhaftigkeit und Fortbestand symbolischer Manifestationen bedarf. Drittens sind grundlegend die Erfahrungen der Zugehörigkeit, der Mitgliedschaft in einer Gruppierung, die gegen andere Gruppierungen steht. Aus Erfahrungen dieser Art entstehen Symbole der sozialen Ordnung, der politischen Ordnung oder der berufsständischen Ordnung. Diese Symbole dienen der Integration einer Gesellschaft; sie festigen die Bande zwischen der Endlichkeit des Menschseins und der Unendlichkeit des Sinnhaften, an dem ein Mensch teilhaben kann. Symbole bergen die Erkenntnis der Stellung des Menschen im Universum, erhellen ihm seinen Platz in der göttlichen Schöpfung, geben seiner Rolle in der gegenwärtigen Konkretion des Geschichtlichen und in der Gestaltung sozialer Zusammenhänge Ausdruck. Sie verkörpern die Überwindung von Zeit und Raum in Form von Denkmälern und mittels charakteristischer Institutionen wie der Familie, der Armee, des Staats oder der Kirche. In einem Zeitalter der totalen Revolution und des Aufstiegs einer atheistischen Theologie sehen sich die revolutionären Gruppierungen gehalten, ihrem Glauben an den absoluten Sinn ihres radikalen Tuns Symbole zu schaffen. Der Kultus der französischen Revolution, das Grab Lenins oder die Verehrung des ,Führers‘ belegen diesen Befund. Tatsächlich, Menschen leben in Wäldern von Symbolen,d die die Vielfalt der Formen und Schichten sinnhaften Daseins umfassen. Gesellschaften konstruieren

d Vgl.

Baudelaire, „Correspondances“/„Entsprechungen“, S. 68–69.

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Symbole, die ihre Position in einem ,größeren Ganzen’ zum Ausdruck bringen – dies sind religiöse Symbole; und sie errichten Symbole ihrer politisch-sozialen Organisation, etwa Symbole, welche die beiden Seiten des Staats repräsentieren, d. h. militärische Symbole und Symbole des Rechts. Sie drücken Dauerhaftigkeit und Fortbestand von Familien und Sippenverbänden in Form eines kollektiven Gedächtnisses aus, durch Ahnenverehrung oder durch die Überlieferung von Idealbildern. Und Gesellschaften führen die von Berufsständen und Universitäten geschaffenen symbolischen Formen fort – Erzeugnisse vorindustrieller Zeiten im Zeitalter der Industrie. In der Gestaltung von Symbolen erweist eine Gesellschaft die schöpferische Kraft, die menschlicher Vernunft und kollektiven Affekten eigen ist. Denn auf diese Weise gelingt es Menschen, das Labyrinth des Lebens zu durchdringen und es zu erhellen. Indem sie im Verbund mit anderen Menschen Formen und Modelle von Bedeutsamkeit errichten und so Unbegreifliches, Schicksalhaftes transzendieren, in der Irrationalität des Daseins einen Sinn finden, richten sie ihr Leben ein und geben ihm eine Ordnung. Dies ist und bleibt groß an der Kollektivgestalt des Menschseins, dass die Menschheit nie aufgehört hat, das Unbegreifliche begreifen zu wollen, im Sinnlosen Sinn zu suchen, im Dschungel des sozialen Handelns symbolische Formen aufzurichten. Das Thema unserer Konferenz,e „Symbol und Gesellschaft“, ist in erster Linie ein soziologisches Thema, wenn auch philosophische und theologische Denkansätze zu berücksichtigen sind. Emile Durkheim hat klar erkannt, welches der zentrale Aspekt dieses Themas ist. Immer wieder hat er auf die integrative Funktion des kollektiven Bewusstseins, auf dessen Bedeutung für die Gestaltung religiöser und sozialer Symbole hingewiesen. In seinem Buch über Die elementaren Formen des religiösen Lebens entwickelte er die grundlegende These, dass die Primitiven keine Arbeitsteilung kennen würden, d. h. keine autonomen Sphären des politischen, des wirtschaftlichen und des sozialen Lebens.f Das gesamte Leben ist hier religiös. Die Religion bildet den Referenzrahmen für sämtliches Tun und Gebaren. Sämtliche Bedürfnisse werden in Form religiöser Symbole erfasst; mittels religiöser Symbole auch übt die Gesellschaft ihre Autorität gegenüber den ihr Zugehörigen aus. Dies ist eine grundlegende Einsicht in die Tiefenstruktur des sozialen Lebens, dass Menschen ihr Handeln und Dasein der

e Vgl.

die Überlieferungs-Fußnote. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994, insb. S. 17–27.

f Emile

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Führung eines göttlichen Sinns unterstellen, der in Symbolen des Sakralen sichtbar wird. Indes irrte Durkheim, wenn er annahm, religiöse Gebote dienten allein dazu, die Autorität der Gesellschaft zu sichern. Sein Schluss lautete, die Religion sei lediglich eine vorwissenschaftliche Manifestation der Wirksamkeit von Autorität in der Gesellschaft. In dieser Einschätzung bringt sich jener wissenschaftliche Imperialismus zum Ausdruck, der das charakteristische Merkmal des Konflikts zwischen Wissenschaft und Philosophie war und ist. Durkheim wollte in der sozialen Entwicklung den gemeinsamen Nenner sämtlicher Ausprägungen des menschlichen Geistes sehen. Ein Aspekt dieser Sichtweise ist, dass Religion eine Notwendigkeit darstelle, insofern sie Sinnhaftigkeit gewährleistet, Verhalten steuert und die letztgültige Autorität über menschliches Handeln behauptet. Im Ergebnis dieser Sichtweise bildet die Gesellschaft das Fundament allen menschlichen Tuns.g,1 Durkheims Begriff der Gesellschaft sollten wir einer genaueren Betrachtung unterziehen. Unter Gesellschaft versteht Durkheim das autonome Wirken des sozioökonomischen Prozesses jenseits politischer Institutionen.h Er beschäftigte sich eingehend damit, auf wissenschaftlicher Grundlage eine der laizistischen Gesellschaft der Moderne angemessene Sittenlehre zu rekonstruieren. Seine Studie Über soziale Arbeitsteilungi zeigt deutlich die Grenzen seines Gesellschaftsbegriffs. In diesem frühen Buch stellt uns der Autor den Gesellschaftsprozess abstrahiert und unabhängig von der komplexen Dynamik der Geschichte vor. Er zeigt den menschheitsgeschichtlichen Fortschritt von primitiven Sozialformen bis zu individualistisch-funktional verfassten Gesellschaften und stellt in diesem Zusammenhang die Behauptung auf, die beiden antagonistischen Formen des Rechts – er unterscheidet Rechtnormen nach einem „repressiven“ und einem „restitutiven“ Typus – symbolisierten den Wandel der Gesellschaft.j Dies ist ein fundamentaler Irrtum. Eine auf Ökonomie und Technologie gegründete Gesellschaft selbst ist nicht in der Lage, Symbole zu schaffen.

g Vgl.

Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 494 f. intellektuelle Grenzüberschreitung einer wissenschaftlichen Disziplin auf das Gebiet der Philosophie wird zurecht als Soziologismus bezeichnet und korrespondiert dem Psychologismus Jungs und dem Historismus Diltheys. h Emile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studien über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988, S. 96–110. i Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. j Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, S. 116 f. 1  Diese

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Symbole referieren auf die objektive Bedeutung von Handlungen, Gegenständen, Ereignissen oder Idealbildern, die lebendig-konkrete Modelle des sinnhaften Zusammenhangs eines Gesellschaftsganzen verkörpern. Ökonomische Prozesse hingegen bleiben auf ihren unterschiedlichen Stufen doch immer subjektiv, ohne symbolische Konnotation, mit den Ausnahmen der mittelalterlichen Ständegesellschaft und den totalitären Gesellschaften unserer Epoche. Rechtsformen sind also Symbole einer politisch verfassten Gesellschaft, die durch eine angemessene Zuweisung von Rechten den Frieden sichert. Im Zusammenhang unserer Fragestellung gilt es, den Gesellschaftsbegriff neu zu bestimmen. Gesellschaft nennen wir sämtliche Prozesse, die in dem ihnen zugrunde liegenden sozialen Handeln eine einheitliche Struktur aufweisen. Eine Gesellschaft versucht, für die ihr Zugehörigen bestimmte menschliche Güter zu verwirklichen. Wenn wir von dieser Definition ausgehen, so bilden wir mit ihr alle religiösen, sozialen und politischen Institutionen der historischen Welt einschließlich der Welt der Primitiven ab, wobei wir voraussetzen, dass in deren Fall die religiösen und die politischen Prozesse zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen sind. Keine Gesellschaft ist in der Lage, außerhalb der politischen und der religiösen Institutionen Symbole hervorzubringen, die das menschliche Leben als Ganzes umfassen. Es bleibt die Frage nach der Wechselwirkung zwischen politischen und religiösen Symbolen bzw. nach deren Eigengesetzlichkeiten. Wie wir bereits gesehen haben, verdankt sich Durkheim die erhellende Einsicht, dass religiöse Institutionen das Modell bildeten für alle sittlich-sozialen Pflichtverhältnisse, in denen menschliches Gebaren gebunden ist. Dieser Gedanke bezieht sich nicht allein auf die Welt der Primitiven. In allen menschlichen Gesellschaften, auch in den atheistisch-revolutionären, bedingen religiöse Glaubensvorstellungen bzw. pseudotheologische Maximen den Gehalt der politischen Normen und der geltenden Rechte und Pflichten. Sie bilden den Referenzrahmen für die Verpflichtungen, die dem Einzelnen in seinen sozialen Beziehungen auferlegt sind. Es ist wichtig, dass wir uns der Wechselwirkungen zwischen politischen und religiösen Symbolen bewusst bleiben, denn Menschen neigen dazu, militärische Symbole und Symbole des Rechts für autonom zu halten. Man vergisst, dass religiöse Autoritäten Fahnen segnen, und vergisst die wichtige Funktion, die Militärseelsorgern zukommt; man vergisst das Ansehen, das der Richter genießt, der Frieden stiftet, indem er ein Urteil nach Billigkeit fällt. Frieden – dies ist das Anliegen ebenso der Religion wie des politischen Gemeinwesens. Religion ist eine Institution, die den Menschen das Verständnis eines größeren Ganzen und die Teilhabe an ihm ermöglicht. In frommen Handlungen finden sie einen Frieden, der den Ängsten der Welt trotzt.

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Ein politisches Gemeinwesen ist eine Institution, die zum Besten der Bürger Frieden im Inneren wie im Äußeren herstellen und erhalten soll. Die dem Gemeinwesen eigenen Symbole des Rechts und der Macht, der Zugehörigkeit und der Einheit, sind verwoben mit Symbolen des Sakralen. Der Mensch ist ein zeichen-erfindendes Tier. Religiöse ebenso wie politische Institutionen und ihre Untergliederungen bedürfen Symbolen, um eine ideale Wirklichkeit kollektiver Affekte und des kollektiven Bewusstseins anschaulich zu machen. Unter den verschiedenen sozialen Institutionen sind am wichtigsten für die Gestaltung von Symbolen und Idealbildern die Familien und Sippenverbände. Die Ordnung der schottischen und irischen clans oder die jüdischen Familientraditionen bleiben erhalten kraft kollektiven Erinnerns und überlieferter Idealbilder, die im Fortgang der Zeit eine Kette der Identität symbolisieren. Primärgruppen wie diese verdeutlichen, dass alle gesellschaftlichen Beziehungen auf Treu und Glauben gründen. Dies sind indes „vage Dinge“. Daher hängen Festigkeit und Dauerhaftigkeit aller Ordnungen, deren Mitgliederk sich unmittelbar, persönlich begegnen, von der Gestaltung jener Symbole ab, die ihnen den Sinn des Dazugehörens erhellen sollen, die in ihnen den Stolz auf die Einzigartigkeit dieser Gruppierung wecken und ein Bewusstsein ihrer Unterschiedenheit von anderen Gruppierungen vermitteln sollen. In vergleichbarer Weise, indem sie den Geist des gebildeten Wissens und von dessen Anwendung verkörperten, überdauerten auch die mittelalterlichen Traditionen der Universitäten und der Berufsstände. Auch in der gegenwärtigen Welt pflegen die Universitäten und Berufsstände die Symbole, die ihre herausgehobene Stellung im staatlichen Leben zum Ausdruck bringen.2 Religiöse Institutionen gibt es auf allen Ebenen des sozialen Lebens. Es gibt die großen historischen Religionen und ihre ekklesiastischen Einrichtungen; es gibt daneben die Relikte älterer religiöser Symbole – z. B. Folklore, Sprichworte, Aberglauben. Die Symbole3 des Lebens und des Todes, die jede primitive oder pagane Gesellschaft hervorbringt, wurden im Zuge der Ausbreitung des

k Alfred North Whitehead, Prozeß und Kausalität. Entwurf einer Kosmologie. Frankfurt am Main, Suhrkamp 1987, S. 329. 2 Die Gründer der alten europäischen Universitäten haben bestimmt, dass anlässlich der Prozession der akademischen Kollegien die Theologen voranmarschierten und die übrigen Kollegien gemäß des Zeitpunkts ihrer Entstehung folgten. In der modernen, säkularen Universität gehen die Sozialwissenschaftler voran. 3 Erwin Rhode, Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1910; Jane Ellen Harrison, Prolegomena to the Study of Greek Religion.Cambridge University Press 1922.

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Christentums beseitigt. Bemerkenswerterweise allerdings gingen sie nicht verloren. Sie lebten in residualer Form fort in den Märchen und in den Bräuchen, in den Sprichworten und im Aberglauben von Völkern, die offiziell zu Christen geworden waren. In der mündlichen Überlieferung schriftloser Völker wurden die Symbole ihrer alten Götter zu Bildnissen guter und böser Geister, die den Guten begünstigen und dem Bösen Ärger bereiten. Mehr als von der Philosophie oder der Theologie können wir über die alten symbolischen Formen und über den Glauben an die symbolische Bedeutung von Naturphänomenen aus den Arbeiten der Gebrüder Grimm über die Sprache oder aus Friedrich von Bezolds Analyse des Fortlebens paganer Götter in der christlichen Welt lernen.4 Die Symbole des Lebens und des Todes, der Fruchtbarkeit und der Ahnenverehrung kennzeichnen das Verhältnis des Menschen zu den Elementarkräften der Vitalität und der Zeit, von Selbstwerdung und Verfall. Sie gehören in den Bereich der religiösen Symbole, die der Bedeutung der menschlichen Schöpfungskraft und ebenso deren Scheiterns gelten. Für jedes Beziehungsgefüge innerhalb einer Gesellschaft – ebenso im Fall familiärer wie politischer oder religiöser Gemeinschaften – gilt ungeachtet seines spezifischen Gehalts, dass es eine Einheit ist und immer wieder von Neuem vereinigt wird kraft der wechselseitigen Anerkennung solcher Symbole, die den gemeinsamen Willen verkörpern, eine Einheit, etwas Dauerhaftes und ein sinnhaftes Ganzes zu sein. Es ist wichtig sich zu verdeutlichen, dass es vom Anbeginn der Geschichte bis zum gegenwärtigen Zeitalter der totalen Revolution üblich war, die symbolische Gestalt des Herrschers und die des Beherrschten von der kritischen Analyse sozialer und politischer Konflikte auszunehmen. Der Herrscher war das Symbol moralischer Vollkommenheit, das Volk das Symbol braven, wohlgesinnten Dienstes. Einzig die Gesandten der Fürsten und im Volk die Demagogen waren diejenigen, die Unruhen anzettelten, Konflikte und Revolutionen provozierten. Herrscher und Beherrschte sind Symbole einvernehmlichen Zusammenwirkens und gegenseitiger Anerkennung.5 Symbole dieser Art begleiten all jene

4 Jacob

Grimm, Deutsche Rechtsalterthümer. 2. Auflage. Göttingen: In der Dieterichschen Buchhandlung 1854; Friedrich von Bezold, Das Fortleben der antiken Götter im mittelalterlichen Humanismus, Bonn und Leipzig: Kurt Schroeder 1922. 5  Insbesondere zu Zeiten des Ständestaats war die feierliche Inauguration des neuen Herrschers das Symbol des grundsätzlichen Einvernehmens zwischen dem Herrscher und den Beherrschten. Zuerst leistete der zukünftige König den Eid, den Frieden des Reichs und die Freiheiten der Landbesitzer zu schützen und zu verteidigen. Anschließend schworen die Ständevertreter ihm Treue, solange er seinen Eid erfüllen würde. Den Schwur

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Institutionen, denen es angelegen ist, einer Gemeinschaft den Sinn des Daseins zu vermitteln. Der Soziologe betrachtet dies unter dem Gesichtspunkt der Wechselwirkungen zwischen Anerkennung leistenden und Anerkennung erntenden Teilen eines sozialen Ganzen. Seine Frage lautet: Welche Gestalt haben die Symbole im Rahmen der Routinen des alltäglichen Lebens? Denn Treu und Glauben, die Menschen dem Familienverband, einer politischen oder religiösen Gemeinschaft entgegenbringen, drücken sie in Form derjenigen symbolischen Bilder aus, die sie hier gewonnen haben. Das Symbol des erhabenen Herrschers wird zu einer sozialen Angelegenheit in Form der Bilder, die man in den verschiedenen sozialen Klassen von den Oberen entwirft. Die soziologische Behauptung, dass es möglich sei, mit den Mitteln der Wissenschaft soziale Konflikte und Umwälzungen vorherzusagen anhand des Wandels des Bildes, das man sich in den betreffenden sozialen Verbänden vom Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten macht, ist zutreffend. Wohlbekannt ist in der Sozialphilosophie wie in der Soziologie die Theorie, der zufolge alle gesellschaftlichen Klassen die verschiedenen Elemente ihrer sozialen Welten in Form normativer oder aber an einem Mittelmaß orientierter Bilder und Gegenbilder ersinnen – ein Denkansatz, dessen Tradition von Montaigne und Montesquieu bis zu Max Scheler und Robert K. Merton reicht. Montesquieu geht das Thema in seinen ebenso tiefgründigen wie anmutigen Persischen Briefenl direkt an. Alle Schichten der Gesellschaft verfügen demnach über eine Lebensphilosophie, die zugleich eine umfassende Galerie der sozialen, nationalen und internationalen Gruppierungen zu Hause und jenseits der Grenzen darstellt. Die Elemente dieser Galerie sind das Ergebnis der Erziehung seitens professioneller oder sozialer Mächte, denen Menschen unterliegen, vom Kindergarten an und bis in ihre Klubs hinein. Allesamt haben diese Bilder bzw. Gegenbilder eine positive oder negative Konnotation im Sinne des vorherrschenden Systems sozialer Präferenzen. In einer militaristischen Gesellschaft zum Beispiel – etwa in Preußen vor 1914 – steht es dem kleinbürgerlichen Oberlehrer trotz seines eher niederen Ranges im öffentlichen Dienst frei, sich über Unternehmer und Kaufleute lustig zu machen; den Offizier und den Amtsträger hingegen wird er verherrlichen.

von Aragon beenden die Landbesitzer mit den Worten: „Et si no, no.“ Dies ist ein unvergessliches Symbol für die Lehre vom Vertrag. l  Charles Louis de Secondat de Montesquieu, Persische Briefe. Übersetzt von Fritz Montfort. Wiesbaden: Metopen-Verlag 1947.

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Eine der grundlegenden Voraussetzungen der Soziologie besagt, dass Gesellschaften nur funktionieren, weil Menschen ihr Leben auf Vorurteilen gründen, also: gemäß der Bilder und Gegenbilder leben, die sie sich im Sinne ihrer eigenen sozialen Lage von den unterschiedlichen sozialen Klassen und Ämtern machen. Scheler hat zutreffend Reichweite und Bandbreite der sozialen Symbolik, auf deren Grundlage Menschen ihr Leben führen, herausgearbeitet.6 Er behauptete über die Bilder der Klassen hinaus Bilder des Berufs und der Arbeit, Bilder der Nation und Bilder des Geistigen, Bilder der Internationalität, Bilder der Vollkommenheit – Bilder allesamt, die in den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen Loyalität und Verbundenheit ermöglichen, aber auch zerstören können. Der Herrscher und der Richter, der Held und der Heilige symbolisieren Möglichkeiten menschlicher Vollkommenheit. Sie wirken auf soziales Handeln ein als normative, das Leben in Gesellschaft mit Sinn ausstattende Bilder. Montesquieu war sich ganz und gar bewusst, dass die Klassifikation menschlichen Daseins nach den Modellen einer sozialen Galerie eine zweischneidige Sache ist. Einerseits machen Erfindung und Aufbau sozialer Bilder das Leben einfacher. Aus ihnen entsteht, metaphorisch gesprochen, eine Landkarte, auf der verschiedene abgegrenzte Gebiete sichtbar sind – eine Topographie des Sozialen. Für die Mitglieder einer Gesellschaft sind dies Anleitungen, Orientierungswerkzeuge, die es ihnen zu glauben ermöglichen, dass sie nicht in einem Dschungel leben, sondern in einer wohl organisierten, ja in einer guten Gesellschaft. Andererseits sah Montesquieu – wie auch Paul Valéry – sehr deutlich die Folgen solcher sozialen Symboliken, solcher fiktiven Abschattungen der Wirklichkeit in ihrem wahrhaftigen Sinn. Wie kann einer er selbst sein? Wie kann er überhaupt Mensch sein, wenn da bloß soziale Bilder und soziologische Kategorien sind, mit denen man die Leute klassifiziert? Ist unsere konkrete Individualität die wahre Existenz und die Gesellschaft eine Fiktion? Oder ist die Gesellschaft die Wirklichkeit schlechthin und das Individuum bloß Schein?

6 Max

Scheler, Schriften aus dem Nachlaß. I. Zur Ethik und Erkenntnislehre. Berlin: Der Neue Geist Verlag 1933.

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II Es ist grundlegend, in unserem Zusammenhang darüber nachzudenken, dass es offenkundig zwei antagonistische Gesellschaftsbegriffe gibt, aus denen zwei unterschiedliche Herangehensweisen an das Thema der Symbole und Bilder folgen. Jeder Denker, für den das konkrete Individuum die Wirklichkeit schlechthin ist, wird zum Schluss kommen, die Gesellschaft sei ein künstliches Gebilde, der Kollektivprozess sei eine Fiktion, stehe im Gegensatz zum wahren Naturzustand. Für Hobbes und Mandeville, Tarde und Simmel und überhaupt für alle individualistischen Soziologen bilden die Gesellschaft und ihre Ordnungsgestalt ein Reich der Fiktion, ein Gebiet symbolischen Zwangs. Ein bemerkenswerter Beitrag zur Frage der Rolle, die Symbole im Aufbau der Gesellschaft spielen, stammt von einem Autor, dessen Werk in den Sozialwissenschaften üblicherweise keine Bedeutung beigemessen wird – Goethe. Er begann die Gesellschaft zu studieren, nachdem die Ereignisse der Französischen Revolution seine Aufmerksamkeit auf Fragen des Mit-, Für- und Gegeneinanderseins gelenkt hatten. Gleichzeitig wandte er sich der wissenschaftlichen Betrachtung der Natur zu. Indem er diese unterschiedlichen Gedankenwege zusammenführte, fand er einen vollkommen neuen Anknüpfungspunkt. Er verwarf den überlieferten Gegensatz von Natur und Kunst. Die Gesellschaft, befand er, sei eine unabhängige Größe, deren Bewegung einer eigenen Dynamik folge. Sie verwandelt sich unaufhörlich ihren Zwecken entsprechend Elemente der Natur und der Kunst an. Das Doppelgesicht der Gesellschaft blieb Goethes Faszinosum. Man hatte ihn gelehrt, Gesellschaft verwirkliche das Ideal des Menschseins im Rahmen einer Vielfalt von Beziehungen auf Wechselseitigkeit. Während seines Studiums kam er indes zu dem Schluss, dass die Wirklichkeit menschlichen Tuns tatsächlich unterhalb und jenseits des gesellschaftlichen Betriebes liegt – im dunklen Labyrinth menschlicher Leidenschaften. Bemerkenswert ist, dass Goethe die Wesenszüge der Gesellschaft in nahezu den gleichen kontrastierenden Begriffen beschrieb, die er für seine Phänomenologie des Dämonischen gewählt hatte.m Das Dämonische ist der Bereich zwischen Gott und

m Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Vierter Teil und Anhang. Goethes sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bänden, Bd. 25. Mit Einleitung und Anmerkungen von Richard M. Meyer. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1904], S. 126. Siehe auch Johann Wolfgang Goethe, „Mit Johann Peter Eckermann. Gespräch am 2. März 1831“. In: Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Bd. 8. Leipzig: Divan 1889–1896, S. 36–37.

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Menschennatur; die Gesellschaft ist der Bereich zwischen Natur und Kunst. Sie vereint Notwendigkeit und Zufall, Zweckhaftes und Strömendes, ebenso wie im Dämonischen die Gegensätze des Zwangsläufigen und des Möglichen, des Heilsamen und des Zerstörerischen sich vereinen. Die Gesellschaft und das Dämonische sind ihrer Natur nach doppelbödig. Ambiguität ist ein Wesenszug der menschlichen Konstitution, verweist auf die grundlegende Polarität des Menschseins. Um die dualistische Dynamik der Gesellschaft zu beschreiben, greift Goethe einmal mehr zu seiner bevorzugten Metapher von „Zettel“ und „Einschlag“.n Als Teil der Gesellschaft ist der Mensch Symbolen des Friedens, des Gesetzes und sozialer Konvention unterstellt; es wird von ihm erwartet, dass er den Idealbildern, den normativen Leitbildern entspricht, die die Gesellschaft zu ihrem eigenen Schutz geschaffen hat. In einer solchen Garnitur symbolischer Formen verkörpert sich die Macht der Gesellschaft über ihre Mitglieder – und sie stellt eine Abstraktion von der eigentlichen Wirklichkeit der konkreten Person dar, die doch eben bestrebt ist, ihr individuelles Selbst zu verwirklichen. Die Gesellschaft ist Fiktion, ist Illusion, ist „Schein“.o Goethes eigene Position zeigt sich darin, dass der Gegenstand, der ihm am besten geeignet schien, um anhand seiner eine gänzlich objektive Analyse der Struktur der Gesellschaft vorzunehmen, der römische Karneval war.7 1789 notierte er in den Annalen, seine Absicht sei es, den römischen Karneval als soziales Phänomen an sich vorzustellen.p Denn der Karneval sei spontan und folge nicht den Vorschriften der Autoritäten. Der Karneval ist das eigentliche Thema der formalen Soziologie, denn er ist ungetrübt von den subjektiven Interessen von Gruppen und Individuen. Goethes kritischer Reflexion der Gesellschaft liegt zugrunde das Erlebnis eines endlosen Konflikts zwischen dem sich ausspannenden Individuum und den strengen Kontrollen, die die Gesellschaft ihren Mitgliedern auferlegt, ungeachtet

n Goethe,

Aus meinem Leben, S. 126. Salomon, „Goethes Idee der Gesellschaft“. 7 Vgl. Johann Wolfgang Goethe, „Das römische Karneval“. In: Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise. Zweiter Teil. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 27. Mit Einleitung und Anmerkungen von Ludwig Geiger. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1907], 194–231; Johann Wolfgang Goethe, Annalen. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 30. Mit Einleitung und Anmerkungen von Oskar Walzel. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1903], S. 7–9. p Ebd. S. 7. o Vgl. Albert

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der spontanen Strebungen des einzelnen Menschen. Daher galt ihm die Gesellschaft als Fiktion und galten ihm ihre Symbole und normgebenden Bilder als die Zwangsmittel dieser Fiktion. Das Leben allgemein ist ein niemals endendes Schauspiel, an dem in unterschiedlichen Rollen teilzunehmen jeder einzelne Mensch gehalten ist. Alle Mitglieder der Gesellschaft nehmen teil an unterschiedlichen Aufführungen, was es unabdingbar macht, über eine große Anzahl von Masken zu verfügen. Es gibt Masken der Autorität und der Repräsentation, hinter denen sich ärmliche menschliche Wesen verbergen und die diese verklären. Es gibt die Masken der Macht, des Wohlstands und des Prestiges, die die wahren sozialen Kräfte symbolisieren. Es gibt Masken des Berufsstands und die symbolischen Bilder der Klassen vorindustrieller Zeiten. Es gibt die Maske des Bettlers und die des Narren, Symbole der Heimatlosigkeit, der Armut, der Einsamkeit. Masken sind die Symbole des allumfassenden Zwangs, den die Gesellschaft ihren Mitgliedern auferlegt. In ihnen bringt sich die Doppelgesichtigkeit, die Ambiguität des menschlichen Lebens zur Darstellung. Wie weit gehen Menschen in der Identifikation mit ihren Masken, ihren Rollen? Passt der Mensch sich den Erfordernissen der Gesellschaft ohne Vorbehalte, ohne Fluchtbewegungen, ohne Revolte an? Goethe argumentiert, die Kollektivität bestimme den Einzelnen vollständig und stoße ihn voran, wo er doch selbst zu schieben meint. Die Erfordernisse der Gesellschaft finden ihren Ausdruck in den Symbolen des Anstands, der Anpassung, der sozialen Konventionen – jenseits der Welt der legalen, der politischen und der religiösen Institutionen. Die Vielzahl der Symbole konstituiert ein Universum, das der Schein der Harmonie, des Friedens, der Schönheit umgibt. Goethe entwickelt in seinen Betrachtungen zum römischen Karneval, diesem seinem Modell kollektiven Daseins, die These, die Gesellschaft sei etwas zwischen Natur und Kunst. Sie ist ihm die Welt des Scheins. (Dieser Begriff lässt sich aus dem Deutschen kaum in eine andere Sprache übersetzen: er meint den Schein des Lichts und die Erscheinung, meint Illusion, meint Fiktion, meint Duplizität und Ambiguität; meint Schönheit und meint deren Steigerung.) Für Goethe steht die Welt im Bann dreier Mächte: Weisheit, Kraft und Schein. Die Funktionen von Weisheit und Kraft sind offenkundig. Welche Bedeutung aber kommt dem Schein zu? Schein umfasst die Gesamtheit aller Ideale und Symbole, die das soziale Leben steuern, anleiten und mit Sinn erfüllen. Seine maßgebliche Bestimmung erhält Goethes Begriff im Rahmen seiner Naturphilosophie. Die Genese des soziologischen Grundbegriffs des Scheins lässt sich bis zu seiner

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ersten philosophischen Abhandlung, dem Fragment über die Natur, entstanden 1781 und 1782, zurückverfolgen.8 In diesem Text, der ein bedeutsames Zeugnis der philosophischen Überzeugung Goethes ist, erklärt er, alles Leben, auch menschliches Leben, sei nichts anderes als der Ausdruck der universalen Schöpfungskraft der Natur. Die Natur trägt in sich Schuld und Zuwachs, Glück und Unglück, Seele und Geist. In einer 1828 verfassten Passage bekräftigt Goethe, dieser in jungen Jahren verfasste Aufsatz verbleibe der adäquate Ausdruck seiner philosophischen und religiösen Ansichten. Der endet mit der Feststellung: Die Natur „freut sich an der Illusion. Wer diese in sich und andern zerstört, den straft sie als der strengste Tyrann. Wer ihr zutraulich folgt, den drückt sie wie ein Kind an ihr Herz.“q Die Illusion ist ein schöpferisches, zuträgliches Element im Aufbau sozialen Handelns. Sie befähigt Menschen, nach dem Unmöglichen zu greifen, um so das, was möglich ist, zu erreichen. Zugleich versetzt sie Menschen in die Lage, die Wechselfälle des Lebens auszuhalten und auf einen neuen Anfang zu hoffen. Illusion ist Vertrauen in die Wahrhaftigkeit des Symbolischen. Sie ist das eigentliche Fundament des Sozialwesens. Dass der Schein Wahrheit birgt und die Wahrheit Schein – dies ist das Geheimnis der Ambiguität menschlichen Lebens in der Welt des Gesellschaftlichen. Faust verflucht sämtliche schöpferischen Kräfte, die der Mensch zur Schau stellt, um aus den fiktiven Symbolen des sozialen Wohls eine Anleitung zum gesellschaftlichen Frieden zu gewinnen. Er verflucht sämtliche Idealbilder als Illusionen, die unser alltägliches Leben angenehmer machen und helfen, unsere Sorgen zu ertragen, und legt den seelischen Mechanismus der Selbsttäuschung offen, durch den die Symbole des guten, sinnvollen Lebens manipuliert werden. Er verdammt all jene Illusionen, all jene fiktiven Grundsätze, die für Goethe die Fundamente bilden, auf denen Gesellschaft aufgebaut ist.r Im Sinne Goethes bilden die Symbole, die den Fortbestand und die Dauerhaftigkeit der Gesellschaft sichern, schöpferische Illusionen. Dieser Begriff bezeichnet die schützende, anleitende, lenkende Funktion jener symbolischen

8 Johann

Wolfgang Goethe, „Fragment über die Natur (1781–1782)“. In: Johann Wolfgang Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft. Erster Teil. Goethes Sämtliche Werke. JubiläumsAusgabe in 40 Bänden, Bd. 39. Mit Einleitung und Anmerkungen von Max Morris. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1906], S. 3–6. q Ebd., S. 4. r Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Faust. Zweiter Teil. Goethes Sämtliche Werke. JubiläumsAusgabe in 40 Bänden, Bd. 14. Mit Einleitung und Anmerkungen von Erich Schmidt. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1906], S. 3–76.

II

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Formen und Idealbilder, die dem Fortgang der gesellschaftlichen Tätigkeiten dienen. Repräsentation stellt eine solche schöpferische Illusion dar, insofern sie die gesellschaftliche Arbeitsteilung und die Ordnung der sozialen Institutionen ermöglicht. Jede Form von Repräsentation ist symbolisch, denn diejenigen, die etwas repräsentieren, sind als Repräsentanten, im Vergleich zu ihrem konkreten Menschsein, nichts als Schein. Das Fundament jeder Gesellschaft bilden Akte gegenseitiger Anerkennung; Ausdruck findet dies in den miteinander in Wechselwirkung stehenden Bildern, die Herrschende und Beherrschte voneinander haben. Goethes Lebensphilosophie ist vom Bewusstsein der Ambiguität aller Formen des Scheins, von der Doppelgesichtigkeit aller Illusion getragen. Zu den Möglichkeiten, die der schöpferischen Illusion innewohnen, zählt auch die kontrastierende Form, die entstellte Illusion. Von einer entstellten Illusion kann man sprechen, wenn Menschen die Verbindung zwischen ihrer sozialen Rolle und der mit ihr einhergehenden sozialen Funktion auflösen, wenn sie also die Maske tragen, aber ihre Rolle nicht ausfüllen. In seinem literarischen Werk illustriert Goethe verschiedentlich Verhaltensmuster dieser Art. Die Szenerie am Hof des Herrschers im zweiten Teil des Fausts zeigt solch eine Welt entstellter Illusionen. Hier verschmelzen die Masken des Karnevals mit der Symbolik von Autorität, Wohlstand und Macht zu einer allumfassenden Fiktion des Illusionären, zur Illusion des Lebens als eines karnevalesken Geschehens. Wohl niemand hat stärker den Druck gesellschaftlicher Erfordernisse, den Zwang gesellschaftlicher Fiktivität empfunden als Goethe. Und niemand hat sich zugleich entschiedener den Geboten der Gesellschaft, der Illusion der Schicklichkeit unterworfen, als es der reife Goethe tat – vielleicht zu seinem eigenen Schaden. Es existiert ein unvergessliches Dokument, das die desaströsen Folgen einer solch bedenklichen Selbstauslieferung erhellt. Seine Schwiegertochter hatte dem Alten in einem Brief ihr Herz geöffnet und ihm das Purgatorium ihrer Ehe geschildert. Goethes Sohn war Alkoholiker, er schlug seine Frau und hatte zahlreiche Affären. Goethe antwortete seiner Schwiegertochter: „Wie sehr ich dich bedaure darf ich dir nicht sagen, wie viel du leidest darfst du mir nicht bekennen, und so wollen wir denn mit der größten Aufrichtigkeit eine Zeitlang gegen einander dissimuliren.“t

s Ebd. t Johann Wolfgang Goethe, „An Ottilie von Goethe“. In: Johann Wolfgang Goethe, Goethes Briefe. Weimarer Ausgabe, Bd. 39. Herausgegeben im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887–1912, S. 204.

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Der Aufbau der Gesellschaft aus Symbolen und Bildern

Etwas vorzugeben heißt, etwas zu verbergen. Es ist ein Akt der Unterwerfung unter die Symbole sozialen Friedens, in denen wir die geltenden Konventionen erkennen. Wenn ein Mensch sein Leid verbirgt, um die Illusion häuslichen Friedens zu wahren, erkennt er damit die Wahrheit der Fiktion an und verleugnet die Wahrheit des eigenen Lebens. Goethe verstand dies als Resignation. Es ist der Rückzug vom Kampf um ein Menschsein, das in sich ein Ganzes bildet, zugunsten einer ästhetischen Haltung, der Illusion von Harmonie und Frieden. In einem der Maskenzüge lässt Goethe Mephisto sagen: „Verstellung, sagt man, sei ein großes Laster, doch von Verstellung leben wir“.u Täuschung und Verheimlichung sind die Schattenseiten der durch Fiktionen geordneten Gesellschaft. Goethes Theorie vom Schein als der symbolischen Fiktion der Gesellschaft ist ein wertvoller Beitrag zur Sozialtheorie, schon weil sie dem Individualismus eines Dichters und Denkers entspringt, dem die Welt voll der Symbole, positiver wie negativer, gewesen ist.

III Es gibt einen Begriff der Gesellschaft, der antagonistisch dem am Individuum orientierten gegenübersteht. Die raison d’être der Soziologie als einer empirischen Wissenschaft bildet die Annahme, Gesellschaft sei die Gesamtsumme kollektiven Bewusstseins und kollektiver Neigungen. Dem Soziologen ist der Einzelne Teil eines Ganzen, bestimmt, ja indoktriniert durch ein System von Präferenzen und Werten, die den Mitgliedern der Gesellschaft in Form einer Vielzahl von Symbolen begegnen. Es ist das bleibende Verdienst der französischen Soziologie – Durkheims und seiner Schüler, unter diesen insbesondere von Marcel Mauss und Maurice Halbwachs – ein Modell des wissenschaftlichen Umgangs mit unterschiedlichen Formen kollektiver Repräsentation geschaffen zu haben, mit kollektiven Affekten, kollektiven Erinnerungen, dem kollektiven Bewusstsein. Ihre Denkbewegung ist von höchster Bedeutung für die Erklärung und Deutung der symbolischen Formen, die dem Tun und Dulden von Menschen das Siegel des Sinnhaften verleihen. Durkheims Analyse der sozialen Bedeutung religiöser Symbole war das

u Johann

Wolfgang Goethe, „14. Maskenzug 1818“. In: Johann Wolfgang Goethe, Zeitdramen und Gelegenheitsdichtung. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 9. Mit Einleitung und Anmerkungen von Otto Pniower. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1905], S. 302–374, hier, S. 357.

III

263

Fundament für die denkbar komplexe wissenschaftliche Konstruktion, die seine Schüler aufgerichtet haben. Durkheims Schüler und Freunde bildeten eine Arbeitsgemeinschaft, die den ursprünglichen Ansatz ihres Lehrers erweiterte, verfeinerte, reformierte. Im Zusammenwirken mit Philosophen, Physiologen und Psychologen entdeckten sie, in welchem Ausmaß das Soziale auf alle Aspekte des Daseins einwirkt – von der Art und Weise, wie man geht oder spricht, über die Art und Weise, wie man seinen Lebensunterhalt verdient, bis zu den Ideen von Körper, Geist und Seele. Im Zuge dieser umfassenden Unternehmung prägten sie einen neuen Begriff, „la situation sociale totale“,9 beinhaltend eine Kritik des Soziologismus Durkheims. Der Begriff verweist darauf, dass die soziale Entwicklung keine Konstante darstellt, und stellt stattdessen heraus, dass Gesellschaft das Ergebnis des Zusammenwirkens einer Vielzahl kollektiver Repräsentationen ist, die das Gewebe des Sozialen prägen und ihrerseits durch die organischen und die institutionellen Wirkkräfte des Menschseins geprägt sind. Das Soziale als ein totales Phänomen umfasst die religiösen Formen und die Formen des Politischen, die Formen des Wirtschaftens und die des Rechts, umfasst alles Handeln, Sprechen, Sich-Bewegen und Spielen, insofern darin Einfluss und Spannweite kollektiver Prinzipien sich zeigen. Alles menschliche Tun hat einen Zweck, folgt einem Muster und schafft im Erfolg wie im Scheitern sinnhafte Symbole. Daher unterliegt das Leben eines Volkes, zunächst das der archaischen bzw. Urvölker, der Kontrolle durch Symbole, die sich zu einem beinahe undurchdringlichen Dickicht fügen und das Gebaren einer Gesellschaft im Inneren und nach außen regulieren. Die Schüler Durkheims haben unterschiedliche Möglichkeiten der Ausprägung kollektiver Repräsentation beschrieben, etwa Repräsentationen des

9 Marcel

Mauss, Sociologie et Anthropologie, Paris: Presses Universitaires de France, 1950, S. 147 und 329; vgl. hier besonders seine Definition der „Faits sociaux totaux“ [Marcel Mauss, „Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften“ In: Soziologie und Anthropologie. Band 2. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Frankfurt am Main: Fischer 1989, S. 11–144, hier S. 12 und besonders S. 137–138]: „Die Tatsachen, die wir untersucht haben, sind – man gestatte uns den Ausdruck – totale gesellschaftliche Tatsachen (man mag das Wort ,allgemein‘ vorziehen, das wir hingegen weniger schätzen, d. h. Tatsachen, die in einigen Fällen die Gesellschaft und ihre Institutionen in ihrer Totalität in Gang halten (wie Potlatsch, einander gegenübertretende Clans, einander besuchende Stämme etc.), in anderen Fällen eine große Zahl von Institutionen, nämlich dort, wo Austausch und Verträge mehr das Individuum angehen. All dies sind gleichzeitig juristische, wirtschaftliche, religiöse, sogar ästhetische und morphologische Phänomene.“

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Der Aufbau der Gesellschaft aus Symbolen und Bildern

Todes und Repräsentationen der Loyalität, Repräsentationen von Zeit und von Ewigkeit; auch Repräsentationen des Tausches.10 Das Interesse der Schüler Durkheims galt den Symbolsystemen von Gesellschaften verschiedenster Art, denn diese Symbolsysteme bilden die Grundlage für alles, was die Mitglieder unterschiedlicher Gruppierungen als gegeben, ja als geboten voraussetzen. In ursprünglichen, archaischen Gesellschaften schaffen die symbolischen Formen eine Wirklichkeit des Eingebundenseins und bringen Affekte zum Ausdruck, die im Gegensatz stehen zu den fiktiven Symbolen des Zwangs, die in individualistisch verfassten Gesellschaften vorherrschen. Es ist folgerichtig, dass das Interesse der Durkheim-Schüler sich auf die Analyse religiöser Symbole richtete, die für kollektive Repräsentationen von essenzieller, umfassender Bedeutung sind. Marcel Mauss und Robert Hertz haben mit großer Sorgfalt und beträchtlichem Forschungsaufwand versucht, Durkheims Begriff des Homo Duplexv einer Prüfung zu unterziehen. Der für Durkheim so entscheidende Begriff verweist auf die grundsätzliche Doppelgesichtigkeit des Menschen, der zugleich ein einzigartiges Individuum und ein socius ist. Einen socius stellt der Mensch dar, insofern er, ungeachtet der persönlichen Ziele, die er verfolgen mag, Akteur und Funktionsträger innerhalb einer Gruppierung ist. Insofern der Mensch Teil einer Gesellschaft ist, ist sein Leben ein Leben im Rahmen normativer Symbole, die es lenken und ordnen, ohne dass individuelle Bedürfnisse und Möglichkeiten Berücksichtigung fänden. Doch ist der Mensch mehr – und auch weniger – als ein socius. Er ist ein lebendig-konkretes Ganzes, das über individuelle Wirkmächtigkeit verfügt und sich auszuspannen, zu verwirklichen strebt im Rahmen der geltenden Symbolik von Frieden, Recht und Konvention, oder auch jenseits ihrer. Georg Simmel definierte Menschsein als ein merkwürdiges Phänomen,

10 Maurice

Halbwachs, Les Cadres Sociaux de la Mémoire. Paris: Félix Alcan 1925 [Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp]; Maurice Halbwachs, La Mémorie Collective. Paris: Presses universitaires de France 1950 [Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt: Fischer 1991]; Maurice Halbwachs, Les Causes du Suicide. Paris: Félix Alcan 1930; Robert Hertz, Mélange de Sociologie Réligieuse et Folklore. Paris: Félix Alcan 1928; Marcel Mauss, „Die Gabe“. v  Emile Durkheim, „Der Dualismus der menschlichen Natur und seine sozialen Bedingungen“. In: Friedrich Jonas, Geschichte der Soziologie 2. Von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart – Mit Quellentexten. Opladen: Westdeutscher Verlag 1981, S. 368–380.

III

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sofern es Leben und zugleich mehr als Leben sei.11 Diese Formulierung mag auch Durkheims Homo Duplex definieren. Als organisches Wesen verlangt es den Menschen danach, seine vitalen Kräfte zu entfalten, indem er sie den etablierten Institutionen entgegensetzt. Als Gesellschaftswesen hat er Teil an kollektiven Repräsentationen, an den kollektiven Affekten und Werthaltungen der unterschiedlichen Gruppierungen, denen er zugehört. Diese Doppelgesichtigkeit ist auf Dauer gestellt, lässt sich nicht ausräumen. Im Religiösen äußert sie sich im Antagonismus des Heiligen und des Profanen, diesem Antagonismus, der die spirituelle Welt der Urvölker beherrscht und bis in deren Sozialordnungen hineinwirkt. Jede der beiden Phratrien, die die Struktur eines primitiven Volksstamms konstituieren, unterscheidet sich von der jeweils anderen nach der Maßgabe des Heiligen und des Profanen. Dieser Antagonismus ist notwendig für das Überleben der Gruppe, bildet doch der solcherart zweigeteilte Volksstamm das erste Modell einer Arbeitsteilung. Unterschieden werden hier vital-soziale und religiös-symbolische Funktionen, und diese Unterscheidung ist die notwendige Voraussetzung für Funktionalität und Dauerhaftigkeit der Gruppe. Im Laufe der Fortentwicklung dieser frühen Gesellschaften wird jener grundsätzliche Dualismus ersetzt durch eine Hierarchie der Kasten bzw. Klassen, deren eine vornehm, heilig und zuständig für das Regierungsgeschäft ist, während die andere profan ist und verpflichtet zu Arbeit und Mühe. Soziale Gegensätze sind immer Spiegelbild und Folge religiöser Gegensätze. Dieser Dualismus im Menschlichen und im Spirituellen ist die notwendige Voraussetzung für die Vielfalt symbolischer Formen, die unmittelbar das Leben der archaischen bzw. Urvölker steuern, mittelbar die Gesinnungen der historischen Gesellschaften. Um den Symbolismus zu illustrieren, der die Welt der Urvölker vollständig durchwaltet, wähle ich im Folgenden zwei besonders vielsagende Beispiele. Im ersten Fall geht es um die Symbolik des Körpers, im zweiten um das Wirken symbolischer Kräfte in den frühesten Formen des Vertrags bzw. Tausches. Tatsächlich ist das Gesetz der Gegensätzlichkeit zunächst auf den Körper angewandt worden; der Dualismus der Geschlechter wurde rezipiert, indem man dem Männlichen positive Bedeutung beimaß – es als Symbol für Wirkmacht, Stärke, Tapferkeit verwandte – und das Weibliche Negatives symbolisieren ließ – Schwäche, Verschlagenheit, Boshaftigkeit.

11 Georg

Simmel, Lebensanschauung, Vier metaphysische Kapitel. München und Leipzig: Duncker & Humboldt 1919. Georg Simmel, Fragmente und Aufsätze. München: Drei Masken Verlag 1923.

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Der Aufbau der Gesellschaft aus Symbolen und Bildern

Indes gingen die Urvölker noch weiter. Sie verbanden mit bestimmten Organen aufgrund ihrer räumlichen Position im menschlichen Körper eine religiöse Symbolik. Die Differenzierung zwischen der – positiv besetzten – rechten und der – negativ besetzten – linken Hand, genauer: der Befund des Vorrangs der rechten vor der linken Hand, zählt zu den währenden symbolischen Konstruktionen der archaischen Welt. Wer sich dem Studium von Religion und Gesellschaft widmet, bedarf der Philologie, wird er doch im Sinne dieses Studiums Sinngehalt und Geschichte der Worte untersuchen müssen. In allen indoeuropäischen Sprachen verfügen die Worte, die ,rechts‘ und ,links‘ bezeichnen, über eine symbolische Konnotation. Die rechte Hand und der rechte Arm standen für Glück, Segnung, für die Nähe zum Göttlichen. Umgekehrt galt die linke Hand als glücklos, ausgesetzt den bösen Geistern und anziehend für diese. In der Vorstellung der Maori und vieler anderer pazifischer Völker stand die rechte Seite für Leben und Kraft, die linke Seite für Schwäche und Tod. Symbolische Deutungen dieser Art werden häufig auch auf die Himmelsrichtungen übertragen. In der Mythologie der indoeuropäischen Völker gibt es verschiedene Beispiele dafür, dass frühe Gesellschaften die rechte Seite mit dem Osten und dem Süden als den guten, vom Glück gesegneten Gegenden in Verbindung brachten, während der Westen und der Norden als Gegenden des Unglücks, des Verhängnisses galten.12 Überall auf der Welt steht die rechte Hand im wörtlichen und im symbolischen Sinn für Rechtschaffenheit und für Geschicklichkeit. Die rechte Hand ist diejenige, die zum Schwur erhoben wird, die man reicht, um ein Versprechen zu bekräftigen oder den Bund der Ehe zu besiegeln. Die linke Hand dagegen wird stets mit dem Prinzip des Bösen in Verbindung gebracht, mit Unglück, mit dämonischen Kräften. Wer jemals eine Zeit Lebens unter Menschen verbracht hat, die in einem Klima des Aberglaubens und alter Volksbräuche aufgewachsen sind, wird wissen, dass dieser archaische Glaube auch heute noch existiert. Die bäuerliche Bevölkerung in den ländlichen Regionen Europas stand den primitiven Gesellschaften wesentlich näher als ihren eigenen Zeitgenossen in den urbanen, industriellen Zentren. In ihrem Brauchtum und ihrem Gebaren, ihrer Lebensweise und ihren Festen, von der Feier der Geburt bis zu den gewaltigen Begräbnismahlzeiten, zeigt sich die nie unterbrochene Kontinuität ursprünglicher

12 Hertz, Mélange de Sociologie Réligieuse et Folklore, S. 43: „In der christlichen Darstellung der Kreuzigung scheint die Sonne auf die Region rechts vom Kreuz, wo die Neue Kirche triumphiert. Der Mond wirft sein blasses Licht auf die linke Seite des Räubers und der Synagoge im Verfall.“

III

267

Gesinnungen und Glaubensformen. Ich erinnere sehr lebhaft einen Kameraden während des ersten Weltkriegs, der aus einer ländlichen, katholisch geprägten Gegend in Süddeutschland stammte. Er erzählte mir, wie seine Leute zu Hause zu schwören pflegen: Sie heben die rechte Hand zum Schwur; währenddessen senken sie die linke Hand, um sie in die gegenläufige Position zu bringen. Auf diese Weise steht es ihnen frei, den Schwur tatsächlich zu leisten oder ihn ungültig zu machen. – Er erzählte mir dies, um mir einen guten Rat mit auf den Weg geben. Wie lässt sich die symbolische Bedeutung erklären, die traditionell der rechten Hand zugeschrieben wird? Weder eine geringfügige Asymmetrie des Organismus noch räumliche Unterscheidungen erklären jenes Symbolsystem, das die rechte Hand heiligt. Eine angemessene Erklärung ergibt sich allein aus der Struktur des kollektiven Bewusstseins. Das kollektive Bewusstsein existiert als dynamischer Prozess, dessen innere Dialektik wir als Polarität bezeichnen. Die universale Polarität des Denkens hat ihr symbolisches Abbild im Homo Duplex, der zwingend eine Teilung des Weltganzen in den fundamentalen Antagonismus des Heiligen und des Profanen fordert. Deshalb haben die primitiven Gesellschaften die rechte Seite für heilig erklärt und sind der linken mit Abscheu begegnet. Und dies lebt fort in den Sitten und Gebräuchen der modernen Gesellschaft. Die Analyse des Vorrangs der rechten Hand stellt ein Exempel für die Untersuchung der Symbolstruktur ineinander verflochtener Schichten des gesellschaftlichen Daseins dar. Die Schüler Durkheims, insbesondere Marcel Mauss, haben einen großen Beitrag zur wissenschaftlichen Durchdringung und Deutung von Symbolen und ihrer Funktionen geleistet. Sie haben unser Wissen über die menschlichen Gesinnungen erweitert und unsere Einsicht in die komplexe Struktur sozialer Tatsachen vertieft, indem sie deren Totalität betonten. Marcel Mauss’ große Abhandlung über die Gabe13 ist von erstrangiger Bedeutung für jeden, der sich dem Studium des Symbolischen widmet. Beim Gabentausch zwischen Gruppen, Sippen oder Einzelnen geht es nicht um die Handhabung von Gegenständen. Es geht darum, dass jeder Gegenstand in einer Beziehung steht zu demjenigen, der ihn gibt, und zu dessen Geist, der wiederum die Manifestation eines oder mehrerer Totems darstellt – von Dingen, die sippenspezifische Schutzgeister verkörpern. Jedes Geschenk erfordert eine Gegengabe – fordert auf zum Gabentausch. Solche gegenseitigen Gaben setzen selbstverständlich soziale Gebote voraus; das Gebot der Ehre, des Prestiges, des Wohl-

13 Mauss,

„Die Gabe“.

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Der Aufbau der Gesellschaft aus Symbolen und Bildern

stands des Einzelnen oder seiner Sippe. Die Grundvoraussetzung indes ist, dass die Fiktion spontanen und freiwilligen Gebens gewahrt bleibt. Die Gabe ist eine Handlung von gleichermaßen politischer, rechtlicher und ökonomischer Bedeutung. Insofern symbolisiert sie den sittlichen Status einer Gruppierung und deren gerechten und friedfertigen Geist. Doch damit nicht genug. Gaben sind die ehrwürdigen Symbole des spirituellen Lebenszusammenhangs einer Gruppe. Sie verkörpern Balance und Harmonie der sittlichen Welt als der fundamentalen Exposition der Sinnhaftigkeit des Universums. Dessen Friedensruhe würde massiv gestört, wenn der Gebende keine Gegengabe erhielte oder der Empfänger die Gabe nicht dankbar und demütig entgegennähme. Mauss entwickelte eine Theorie dreier Verpflichtungen, die in allen ursprünglichen bzw. archaischen Gesellschaften obwalten – und die in Form von Benimmbüchern bis in die Gegenwart überlebt haben. In diesen drei Verpflichtungen zeigt sich die symbolische Bedeutung sittlichen Gebarens. Die erste verpflichtet den Menschen, eine erhaltene Gabe zurückzugeben, sie niemals zu behalten. Dies gilt keineswegs als beleidigend. Im Gegenteil, es zeigt, dass man dem Geist und den Totems der Schenkenden höchsten Respekt entgegenbringt; schließlich soll der Mensch Gegenstände und deren Geist niemals dem Rahmen, in den sie gehören, entziehen. Das zweite Gebot weist die Edlen und Reichen, die Häuptlinge und mächtigen Sippen dazu an, Geschenke zu machen – schafft die noblesse oblige. Die dritte Regel verlangt, eine Gabe mit Dankbarkeit und im Geist gegenseitiger Anerkennung zu empfangen. Als Ganzes bildet jene Theorie, indem sie die unterschiedlichen Aspekte des Tauschs, die Ethik des Schenkens, Empfangens und Erwiderns umfasst, das Fundament aller späteren Vertragsmodelle. Ihre Symbolik verweist darauf, dass soziales Leben nur möglich ist auf der Grundlage von Vertrauen und Freundschaft. Vertrauen und Freundschaft jedoch setzen Prinzipien von Frieden und Gleichheit voraus, die ein größeres Ganzes mit Sinn erfüllen. Mauss’ Studien bestätigen die These, dass die verschiedenen Formen von Wechselwirkungen, aus denen das soziale Gefüge besteht, ihre letztgültige Bedeutung in religiösen Symbolen finden, deren Referenzpunkte die Sinnhaftigkeit von Einheit, Frieden und Übereinstimmung sind. Die Beschäftigung mit dem Symbolischen ist keine Sache, die nur im Elfenbeinturm der Wissenschaft von Belang wäre. Mauss hat ausdrücklich vermerkt, wenn auch sein Untersuchungsgegenstand eine besonders ferne Form der Ordnung von Recht und Wirtschaft sei, habe diese Untersuchung eines Gesamtgebildes von Vorstellungen ihn zur Entdeckung der Grundzüge einer

III

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Ethik des Tauschs geführt.w Der moderne Soziologe kann aus dem Studium der archaischen Welten durchaus etwas lernen, dass nämlich Wirtschaftsbeziehungen nicht autonom ablaufen, sondern auf einen sittlichen Kodex zurückverweisen. Wie sein Lehrer Durkheim befand auch Mauss, der entfesselte Prozess der Industrialisierung bedürfe einer Orientierung mittels sittlicher Grundsätze, nicht anders als dies in der vorindustriellen Welt der Fall gewesen sei. In der archaischen Welt14 war die ökonomische Sphäre noch voll der religiösen Symbole. Geld hatte noch eine magische Konnotation, stand in einer spezifischen Verbindung mit einer Sippe oder einem Individuum. Unterschiedliche Formen des Wirtschaftshandelns, etwa der Verkauf und die Praxis des Feilschens, wurden von feierlichen Ritualen und Mythen getragen. Das Leben bildete noch eine Ganzheit, die Vielfalt menschlichen Tätigseins auf den Ebenen des Profanen und des Heiligen stand in einen einheitlichen Sinnzusammenhang. Noch hatte keine Einzelpotenz Autonomie erlangt und auf diese Weise Integrität und Bedeutsamkeit des Lebensganzen zur Explosion gebracht. Mauss war der Meinung, dass seine Studien über die archaischen Gesellschaften unter seinen Zeitgenossen eine Wirkung entfalten müssten. Sie enthalten explizite Hinweise auf die unregulierte, eigensinnige Entwicklung der technologisch-industriellen Gesellschaft der Moderne, legen nahe, dass es geboten wäre, die ausufernde Ökonomie in ein Normengefüge einzubetten und mit einer entsprechenden Symbolik zu versehen – einen Rahmen zu wahren, auf den alles menschliche Tun bezogen werden kann. Auf eine ganz andere, eher mittelbare Weise beschäftigte sich Maurice Halbwachs mit den Symbolen des Gesellschaftlichen, indem er das kollektive Gedächtnis darstellte und analysierte.15 Halbwachs unterschied hinsichtlich kollektiver Erinnerungen grundlegend zwischen Erinnerung in Form der Historie und der Vielfalt kollektiver Erinnerungen, die sich in den lebendigen

w Ebd.,

S. S. 130–137. Sociologie et Anthropologie, S. 265 [Mauss, Die Gabe, S. 94]: „[A]uch sozialgeschichtlich sind sie von Bedeutung, denn Institutionen dieses Typus haben den Übergang zu unseren eigenen Rechts- und Wirtschaftsformen gebildet und können daher zur historischen Erklärung unserer eigenen Gesellschaften dienen. Die Moral und die Praxis des Austauschs der uns unmittelbar vorangegangenen Gesellschaften bewahren mehr oder weniger deutliche Spuren all jener Prinzipien, die wir analysiert haben.“ 15 Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen; Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis; Maurice Halbwachs, La Topographie Légendaire des Évangiles en Terre Sainté. Etude de Mémoire Collective, Paris: Presses universitaires de France 1941 [Maurice Halbwachs, Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis. Herausgegeben und übersetzt von Stephan Egger. Konstanz: UVK 2003]. 14 Mauss,

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Der Aufbau der Gesellschaft aus Symbolen und Bildern

Überlieferungen von Familien, Sippen, Berufen, regionalen Gruppen usw. materialisieren. Das historische Gedächtnis ist einem ständigen Wandel unterworfen und folgt darin den sich wandelnden Interessen und den unterschiedlichen Wertsystemen, an denen sich die Historiker orientieren. Dies ist der Grund, dass historische Symbole im Einklang mit den vorherrschenden Überlieferungen und Präferenzen auftreten und vergehen. Historische Symbole können von zweierlei Art sein – Daten oder Bilder. Militärische Siege oder Niederlagen, die Jahrestage revolutionärer Entdeckungen oder Erfindungen, Hiroshima und Compiègne, Lexington und Gettysburg – dies sind Beispiele für Ereignisse, die für eine Nation oder, insofern sie Wendepunkte der Menschheitsgeschichte indizieren, für die ganze Menschheit symbolische Bedeutung erlangen. Jenseits der Daten konstruiert und konserviert das historische Gedächtnis Bildnisse historischer Personen als Symbole nationaler oder menschlicher Größe und Schlechtigkeit. Washington und Lincoln, Attila und Hitler, Sokrates und Montaigne, Protagoras und Pietro Aretino symbolisieren den Antagonismus des Menschenmöglichen im nationalen Rahmen und darüber hinaus. Das kollektive Gedächtnis referiert – anders als das historische Gedächtnis – auf die fortdauernde Identität einer Gruppierung oder Gesellschaft, ungeachtet äußerer Veränderungen. Man könnte das kollektive Gedächtnis auch als die innere Dynamik einer sozialen Institution bezeichnen. Das kollektive Gedächtnis realisiert sich in Form von Bildern oder Denkmälern: Symbolen des menschlichen Vermögens, die Zeit zu besiegen, und anlässlich von Zusammenkünften. Um Symbole zu schaffen, die den Fortgang der Zeit transzendieren, um zu erinnern statt zu vergessen, bedarf es achtsamer Loyalität. Erinnerung ist ein komplexes Phänomen. Im Erinnern verbinden sich intellektuelle, emotionale und imaginative Elemente, es folgt dem Ideal der Ewigkeit, der Unsterblichkeit, der Objektivität jenseits des Strömens der Zeit. Eben dies ist die Funktion von symbolischen Bildern, von Sammlungen und Urkunden. Sie zeugen vom schöpferischen Vermögen des Menschen, seine Polarität zu realisieren, indem er sich selbst zum Objekt wird. Die einzelnen Mitglieder aller politischen, aller religiösen Institutionen sind sterblich, während die Institution selbst fortdauert. Dies ist die Vorbedingung für Symbole des Währenden, des Ewigen. Jede Familie, jede der Sippen, die noch heute den Aufbau der schottischen, der irischen oder der jüdischen Gesellschaft bestimmen, pflegt und kultiviert mit Sorgfalt die Symbole ihres Zusammengehörens: Sie bleiben treu den Bildern ihrer Vorfahren und anerkennen die Autorität ihrer Überlieferungen als Symbole ihres eigenen Fortdauerns – ungeachtet aller gesellschaftlichen Wandlungen. Der heutige Mensch neigt dazu, dem Geist des Traditionalismus mit Spott zu begegnen. Dies ist sein gutes Recht. Doch ist anzumerken, dass

IV

271

die starken, schöpferischen Gruppierungen oder Gesellschaften diejenigen sind, die die Traditionen ihrer Väter fortführen und den Symbolen gemeinschaftlichen Erinnerns mit Respekt begegnen. Solche Traditionen befähigen dazu, den Problemen der Gegenwart zu begegnen und sie zu beherrschen. Sehr wichtig ist die Unterscheidung zweier symbolischer Erscheinungsformen des kollektiven Gedächtnisses: zwischen der Referenz auf den Raum und der auf die Zeit. Beide sind von gleicher Bedeutung, referieren sie doch auf unterschiedliche Modalitäten des Denkens bzw. der Affektion. Es gibt Erinnerungen, die um Örtlichkeiten oder Monumente: um die symbolische Bedeutung des Raumes, kreisen. Und es gibt Erinnerungen, deren Symbolik die des Zeitlaufs ist. Diese Unterscheidung verweist auf einen grundsätzlichen Unterschied. Offenkundig existieren zwei entgegengesetzte Weisen symbolischen Denkens: die utopische und die messianische. Während die utopische Denkweise der Beherrschung des Raumes um rationaler Vervollkommnung willen gilt, erwartet die messianische Denkweise vom zeitlichen Prozess die Entfaltung eines Sinns.16 So lassen sich zwei Gattungen unterscheiden: Wunschraum- und Wunschzeit-Konzeptionen.

IV Es bleibt ein weiteres Untersuchungsgebiet, dem sich der Soziologe in diesem Zusammenhang zu widmen, das er zu analysieren und zu erklären hat. Wenn wir davon ausgehen, dass Gesellschaften in einem pluralistischen Universum von Symbolen leben, müssen wir gleich hinzufügen, dass ein solches Universum nicht statisch ist. Sämtliche Symbole sind lebendige Formen kollektiver Repräsentation und unterliegen ständiger Transformation, werden zerstört und neugestaltet. Jede Gesellschaft bildet eine zusammenhängende Einheit, die aus einer Vielzahl von Beziehungen besteht. All diese Beziehungen beruhen auf Wechselwirkungen des Gebens und Nehmens, auf Überordnung und Unterordnung. Dies ist der Fall, solange die interagierenden Elemente einander als sinnhafte und funktionale Größen in einem gemeinsamen Handlungskreis gegenseitig anerkennen. Diese gegenseitige Anerkennung findet Ausdruck in jenen symbolischen Bildern, auf deren Grundlage jede Gesellschaft lebt. Wie bereits ausgeführt, verfügen sämtliche Klassen über eine bestimmte Vorstellung ihrer selbst wie auch über eine

16 Einen

wertvollen Beitrag zur Bedeutung des zeitlichen Elements im jüdischen Denken leistet Abraham J. Heschel, The Sabbath. New York: Farrar, Straus & Young 1951.

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Der Aufbau der Gesellschaft aus Symbolen und Bildern

bestimmte Vorstellung der anderen Klassen in ihrem Handlungskreis. Diese Symbole unterliegen dem Wandel kollektiver Affekte. Der Wandel der Normativität sozialer Bilder folgt inneren und äußeren Gründen. Ihre Umkehrung in ihr Gegenteil, in Gegenbilder, kann aus verschiedenen Zwecken betrieben werden. Die Symbole selbst können zu Instrumenten werden, um bestimmte Ziele zu erreichen. Symbole können je nach Referenzrahmen verwendet werden, um die Seelen der Menschen in eine andere Richtung zu lenken, sie zu disziplinieren und zu kontrollieren. Im Zuge jener spirituellen Revolution, die man die Gegenreformation nennt, wurde eine grundstürzend neue sozialpsychologische Technik entwickelt, mit deren Hilfe man Symbole des Glaubens manipulierte, um die Einbildungskraft der Menschen zu stimulieren und ihren Willen darauf zu richten, dass sie in spiritueller Gemeinschaft den Wesenszug der Selbstkontrolle realisieren. Loyolas Exerzitienx sind eine revolutionäre Unternehmung. Zwar schließt er teilweise an die Exerzitien des Mittelalters an, reproduziert einige bekannte Passagen Ludolf von Sachsens oder Thomas von Kempens. Doch sein kleines Buch stellt einen radikalen Wendepunkt in der Geschichte der Frömmigkeit und der spirituellen Einkehr dar. Die mittelalterlichen Exerzitien sollten dem Einzelnen ermöglichen, allein für sich spirituelle Übungen durchzuführen. Kennzeichnend für die mystische Frömmigkeit des Mittelalters war das Bestreben, die eigene Seele der vollständigen Versenkung zu überantworten, auf dass sie sich der Erkenntnis des Göttlichen nähere. Psychologisch ausgedrückt ist die mystische Versenkung ein Vorgang, währenddessen der Fromme seine Aufmerksamkeit auf bestimmte Wahrnehmungskomplexe konzentriert. Diese Wahrnehmung versetzt er mit bestimmten Affekten, die eine Vision, einen Vorgang des Erkennens produzieren. Techniken dieser Art bringt der Mystiker um der eigenen Vervollkommnung willen zur Anwendung. Loyola nun hat eine neue, eine revolutionäre Form geistiger Exerzitien begründet. Erstens wandte er sich gegen das überkommene Ideal der spirituellen Einkehr; an Stelle dessen postulierte er, wesentlich sei Spiritualität Tat. Er wollte Körper, Geist und Seele der Menschen dazu erziehen, dass sie, sei es als Laie oder als Kirchenmann, ihren Platz des Dienstes an der Ecclesia Militans zu finden vermöchten. Zweitens setzte er die Exerzitien in Beziehung zur Gesellschaft. Die

x Ignatius

von Loyola, Die geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola. Übersetzt von Bernhard Köhler. Eingeleitet und herausgegeben von René Schickele. Berlin und Leipzig: Hermann Seemann Nachfolger 1907.

IV

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Menschen sollten nicht allein gelassen werden, sondern auf die verantwortungsvollste Weise geführt und geleitet sein bei der Suche nach ihrem eigenen Platz in Gottes Welt und der Ecclesia Militans. Mit der radikalen Transformation der Funktion der Exerzitien ging im Sinne Loyolas eine weitere, nicht minder revolutionäre Neuerung einher, die Einführung der Beziehungsformen von Meister und Schüler, von Offizier und Soldat in die kontemplative Praxis. Revolutionär war diese Neuerung deshalb, weil Loyola mit Begeisterung die psychologischen Aspekte sozialer Beziehungen anging. Alle Mystiker der Vergangenheit, Philosophen und Quietisten, hatten sich ausschließlich damit beschäftigt, individualpsychologische Techniken zu entwickeln. Mit Loyola begann eine neue Ära. Seine Exerzitien offenbarten die Möglichkeiten der Sozialpsychologie, indem sie die Manipulierbarkeit des menschlichen Geistes durch Bearbeitung der Vorstellungswelt und des Willens vorführten. Loyola hatte die Erfahrung gemacht, dass die Persönlichkeit eines Menschen mittels einer klug angeleiteten Konzentration seiner Vorstellungskraft auf Symbole und Bilder, die religiöse Wahrheiten verkörpern, einem grundlegenden Wandel unterzogen werden kann. Loyola selbst verglich diese sozialpsychologischen Techniken mit gymnastischen Übungen.y Es handelt sich um eine spirituelle Gymnastik, insofern diese Techniken den, der sie studiert, dazu bringen, willentlich bestimmte Symbole und Bilder, denen bestimmte Affekte innewohnen, zu imaginieren. Loyola ging sogar noch einen Schritt weiter. Er wusste um die innige Verbindung zwischen Physiologie und Spiritualität, die im Gebet entsteht, und konstatierte einen Kausalzusammenhang zwischen der richtigen Atemtechnik und der Wahrhaftigkeit des Betens.z Sein Interesse an sozialpsychologischen Techniken war von einer festen Überzeugung getragen. Wiederholt vermerkte er, durch die gebräuchlichen Formen der geistigen Schulung in Angelegenheiten der Spiritualität und der Moral würden die Menschen niemals von Grund auf berührt werden. Daher gründete er seine eigene, revolutionäre Methode auf die Voraussetzung, wer geistige Exerzitien lehre, müsse, um die Loyalität und Hingabe seiner Schüler ganz und gar zu gewinnen, auf deren sämtliche fünf Sinne zugleich einwirken.a' Zum Beispiel solle, während der Schüler der Stimme seines Meisters lauscht, die wiederum von einem anderen Ort ihn erreicht, das Licht im

y Ebd.,

S. 11–12. S. 112–114. a' Ebd., S. 20–21. z Ebd.,

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Zimmer gedämpft sein. Unbedingt müsse der Meister in Betracht ziehen, dass die Position, die der Schüler einnimmt, seiner Konzentration möglichst förderlich sein soll – sei es, dass er kniet, ausgestreckt auf dem Boden liegt oder sitzt.b' Im Licht von psychophysischen Vorkehrungen wie diesen sind die Exerzitien der ersten beiden Wochen von besonderer Bedeutung. Sie gelten der Handhabung von Symbolen und Bildern, die der religiösen Überlieferung entnommen sind, um mittels ihrer eine Haltung zum eigenen Selbst, zur Welt und zu Gott herzustellen. Das Thema der ersten Woche ist die Sündhaftigkeit des Menschen. Der Exerzitienmeister lenkt die Reflexionen des Schülers zu den Symbolen des ewig Wahren, so etwa auf die Engel,c' auf jenen Engel, der aus dem Himmel vertrieben wurde, auf die Verdammten, auf den gefallenen Adam, auf alle die, die aufgrund einer einzigen Sünde verurteilt wurden. Vor diesem Hintergrund leitet der Meister den Schüler an, seine eigene fortgesetzte Sündhaftigkeit in den Blick zu nehmen. Im Sinne Loyolas soll die Vorstellungskraft des Schülers stimuliert werden, die eigenen Sünden peinlich genau zu rekonstruieren. Sündhaft kann gleichermaßen Tun und Unterlassen sein. Loyola weiß sehr wohl, dass Sünden die Ergebnisse ebenso der Leidenschaft wie der Trägheit sein können. Er zwingt den Schüler, sich den endlosen Prozess und die Vielfalt menschlichen Sündigens vor Augen zu führen und zugleich der absoluten Entsetzlichkeit jeder einzelnen Sünde gewahr zu werden. Diese Rekonstruktion des eigenen Lebens als eines Symbols für die Natur Adams, der unausgesetzte Abgleich dieses Lebens mit den Bildern der Engel und der Verdammten vermitteln das Gefühl der Vergeblichkeit menschlichen Daseins. Auf diese Weise soll die Erschütterung jemandes hervorgerufen werden, der sich gefährlich nahe dem Abgrund und weit entfernt von Gottes Gnade erkennt. Die Tatsache, dass Loyola die Wiederholung der ersten beiden Meditationen im Rahmen der dritten und der vierten vorsieht,d' verrät die Tiefgründigkeit seiner psychologischen Kenntnisse. Er wusste, dass es notwendig war, die immergleichen Prozeduren ständig zu wiederholen, damit sie vollständig die Sinne, Vorstellungen und Gedankenwelt eines Menschen durchdringen. Einen weiteren psychologischen Kunstgriff Loyolas offenbart die Betrachtung des Aufbaus seines Buches. Alle Meditation ist von Gebeten eingerahmt. Die Gebete, die den Meditationen vorangestellt sind, dienen dazu, den Geist vorzubereiten, ihn

b' Ebd.,

S. 47–49. S. 57–58, S. 104–105 und S. 151–153. d' Vgl. ebd., S. 36–44. c' Ebd.,

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zu öffnen; die auf die Meditationen folgenden Gebete sollen der Verzweiflung vorbeugen. Die zweite Wochee' beginnt mit zwei symbolischen Geschichten. Die erste enthält eine detaillierte Topographie der heiligen Orte, an denen Jesus seine Jugend verbracht und zu predigen begonnen hat; bei der zweiten handelt es sich um eine Parabel, die die Geschichte eines Königs erzählt, der seine Leute zusammenruft, damit sie ihm in einen Krieg gegen die Ungläubigen folgen. Loyola macht kein Geheimnis aus der symbolischen Bedeutung dieser Geschichte. Da es eine Schande wäre, das Ersuchen eines weltlichen Königs, die Heiden zu bekämpfen, zurückzuweisen – wie viel beschämender noch wäre es, Christus nicht zu folgen, wenn Er uns befiehlt, unter Seiner Flagge für den Sieg des Geistes und für das Gute zu kämpfen? Die Meditationen der zweiten korrespondieren denen der ersten Woche. In der ersten Woche hatte der Schüler das Bewusstsein seiner eigenen Sündhaftigkeit erlangt. In der zweiten Woche nun wird er sich der grenzenlosen Gnade Gottes bewusst. Hier beschreibt Loyola im Stile eines großen Dichters das Idyll der Jugend Jesu, Seine Wanderungen, Sein Auftreten im Tempel. Die wichtigsten Meditationen der zweiten Woche widmen sich der symbolischen Vermittlung der Entscheidung, die Gott den Menschen in der Person Jesu aufgegeben hat. In ihnen rekonstruiert Loyola die berühmten Bilder, die Thomas von Kempen in seiner Imitatio Christi entworfen hatte,f' Bilder der beiden entgegengesetzten Lager, in die sich die Welt teilt. Auf der einen Seite versammelt Satan jene, die durch seine Verheißungen von Reichtum, Macht und Befriedigung ihrer Lüste verführt sind. Auf der anderen Seite richtet Christus Sein Banner auf und ruft all die zu sich, die Ihm zu folgen, Ihm zu dienen bereit sind; die bereit sind, Armut, Erniedrigung und Demütigung als ihr Los anzunehmen.g' Die symbolische Darstellung der beiden Alternativen, zwischen denen der Mensch in der Welt zu wählen hat, gilt keinem mystischen Zweck. Es geht darum, einen spirituellen Persönlichkeitstypus zu formen, der von der eisernen Disziplin des Soldaten getragen ist. Dieser Persönlichkeitsstruktur bedürfen all jene, die Gott und der Heiligen Kirche auf allen Feldern sozialen Handelns dienen wollen. Loyola ist ein großer Revolutionär auf dem Feld der Religion und auf dem der Psychologie. Die Radikalität seiner neuen Techniken lässt sich kaum

e' Ebd.,

S. 53–86. von Kempis, Die Nachfolge Christi. Neu übersetzt und mit einer Nachlese und Anwendung zu jedem Kapitel versehen von Johannes Gossner. Leipzig: Karl Tauschnitz 1839. g' Ignatius von Loyola, Die geistlichen Übungen, S. 67–69. f' Thomas

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Der Aufbau der Gesellschaft aus Symbolen und Bildern

hoch genug schätzen. Er eröffnete damit der Manipulation von Einzelnen und Gruppen einen weiten Horizont,17 schuf die Grundlagen für die weitere Entwicklung sozialpsychologischer Techniken. Als erster erkannte er die Realität jener situation sociale totale, die später die französischen Soziologen in wissenschaftliche Begriffe fassten. Loyola wusste aus Erfahrung, aufgrund der sorgfältigen Beobachtung seiner selbst und anderer, dass die physiologische, psychologische und soziale Situation der Menschen von großer Bedeutung für ihr spirituelles Wohl ist. Er war sich der Tatsache bewusst, dass ein gut präparierter Direktor oder Offizier dieses Wissen nutzen kann, um andere zu formen und zu beherrschen, um sie auf Situationen vorzubereiten, in denen Kampfbereitschaft und Ausdauer gefordert sind. Die Techniken, die er entwickelte, sind Teil dieses Wissens. Die Meditationen der mittelalterlichen Mystiker galten den Symbolen ewiger religiöser Wahrheiten; Loyola verwandelte diese Symbole in Instrumente der spirituellen Dressur. Dieser revolutionäre Bruch bildete das Modell für Techniken des Handelns in Politik und Gesellschaft. Jede revolutionäre Gruppierung hat sich die Vorgehensweise Loyolas in einer säkularisierten Form zu Eigen gemacht. Man schuf die überlieferten Symbole und Bilder der Autorität, des Prestiges, der Größe zu Gegenbildern oder zu Karikaturen der zuvor geltenden um. Im Phänomen der Revolution zeigt sich die Wechselwirkung zwischen Symbolen und Bildern besonders deutlich. In der Monarchie gründen Autorität und Würde des Regimes auf Respekt und Anerkennung, die das Volk dem König oder der Königin als den Symbolen der Einheit zollt, die man gemeinsam darstellt. Schwindet der Zuspruch des Volkes, ist das Regime in Gefahr. Erscheinen der König bzw. die Königin nicht mehr als Symbole des guten, edlen Lebens, sondern als ungeachtet ihrer Stellung angefochten von und handelnd gemäß vulgären Bedürfnissen, sind die Fundamente des Staates erschüttert. Denn die Leute dulden es nicht, wenn sie des erhabenen Idealbilds des Herrschenden, das sie in ihren Köpfen und Herzen tragen, benommen werden. Den vielleicht eindrücklichsten Beleg dieser These bildet Goethes Vorhersage der Revolution angesichts der Halsbandaffäre des Jahres 1785. Wie er später berichtete, hielten ihn seine Freunde für annähernd verrückt, weil er von dem Skandal derart

17 Henri

Delacroix, Les grands mystiques chrétiens. Paris: Félix Alcan 1938. Heinrich Boehmer, Loyola und die deutsche Mystik. Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Philologisch-Historische Klasse. Band 73. Leipzig: Teubner 1921.

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a­ ufgerüttelt war, dass er darin ein Vorzeichen des Debakels der Revolution sah.18 Doch war seine Vorahnung vollkommen berechtigt. Das Symbol der Majestät war angegriffen, war belastet, weil das Bild der Königin für eine kriminelle Handlung missbraucht worden war. Goethe war sich der Tatsache sehr bewusst, dass kein Regime, ungeachtet seiner Verfassung, überdauern kann, wenn seine Repräsentanten – Symbole seiner Einheit, Würde und Bedeutsamkeit – des Gespötts und der Verachtung der Leute anheimfallen. Es ist kein Zufall, dass alle Revolutionen eine Vorgeschichte haben – von der Halsband-Affäre bis zum Fall Rasputin –, in der das unsittliche und würdelose Gebaren einer Königin ein wesentlicher Anlass für die Erosion überlieferter Loyalitäten ist. Radikale Intellektuelle haben Mal zu Mal mit Erfolg die symbolische Autorität der Herrschenden entzaubert, indem sie den Abgrund aufwiesen, der klafft zwischen den symbolischen Anforderungen, die an die höchsten Ränge herangetragen werden, und dem tatsächlichen Verhalten derer, die jene höchsten Ränge repräsentieren. Immerzu hat in Zeiten der Revolution die Opposition die unehelichen Beziehungen von Mitgliedern der Elite oder deren perverse sexuelle Praktiken zum Gegenstand der Auseinandersetzung und zum Mittel gefälliger Propaganda gemacht. Ein durchgängig zu beobachtendes Kennzeichen für die Heraufkunft einer revolutionären Gesinnung ist die Zerrüttung des überkommenen Glaubens an Symbole und Bilder der Autorität, der Macht und des Gesetzes. Der Soziologe, der sich der Analyse des fortwährenden Wandels sozialer Bilder widmet, des Geschehens ihrer Gestaltung und kritischen Prüfung, wird recht treffend Tendenzen sozialer Integration bzw. Desintegration prognostizieren können. Wenn er die 50 Jahre betrachtet, die der Französischen Revolution vorausgingen, oder die 50 Jahre vor der Russischen Revolution, wird er anhand kleinster Details erkennen, wie die ehemals respektierten Symbole des väterlichen Königs, des patriarchalischen Edelmanns oder des aus Güte gerechten Richters in deren Gegenbilder verkehrt wurden. Der König wurde zum herzlosen Tyrannen, daneben traten der ausbeuterische Aristokrat, ein Raubvogel, oder der repressive Feudalherr, seinerseits ein Falke. Von der Französischen bis zur bolschewistischen Revolution deutet sich im Wandel von Symbolen und Bildern

18  Goethe,

Werke Jubiläumsausgabe, Bd. IX, S. 378; Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Annalen. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 30. Mit Einleitung und Anmerkungen von Oskar Walzel. Stuttgart, Berlin: Cotta o. J. [1903], ­ S. 7–9, hier S. 7.

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Der Aufbau der Gesellschaft aus Symbolen und Bildern

die Implosion der Symbolik der politischen Einheit und des sozialen Zusammenhalts an. Ich habe versucht, einen Überblick über die verschiedenen Erscheinungsformen zu geben, in denen Symbole und Bilder dem Sozialwissenschaftler begegnen. Implizit enthalten darin war der Gedanke, dass die Gesellschaft als die Summe der verschiedenen kollektiven Repräsentationen, Gefühle und Erinnerungen über eigene symbolkonstruierende Kräfte verfügt, deren Hervorbringungen sich von den Symbolen der Philosophen unterscheiden. Sie unterscheiden sich von diesen, insofern sich in ihnen die Fülle des menschlichen Strebens manifestiert, lebendige, konkrete Bilder zu schaffen, die Dauerhaftigkeit, Sinn, Ewigkeit symbolisieren. Diese Symbolkonstruktionen werden im Rahmen politischer oder religiöser Institutionen vollzogen; die Symbole der Philosophen verweisen auf ein anderes Diskursuniversum. Eine entscheidende Frage bleibt; ihr sollte die Sorge des Menschen der Gegenwart gelten, sofern ihm daran gelegen ist, seine eigene prekäre Situation zu begreifen: Leben wir nicht in einer Welt, in der die integrative Kraft der Symbole zusehends schwindet? In der die ,vagen Dinge‘, die sie darstellen, außer Betracht bleiben, während das Interesse der Menschheit allein auf Exaktheit und Gewissheit gestellt ist? Die rasche Fortentwicklung der wissenschaftlich-technologischen Massengesellschaft hat die geistigen wie die emotionalen Gesinnungen, die in den menschlichen Verhältnissen wirken, vollkommen umgewälzt. Der Mensch lebt auf Grundlage von Stereotypen und uniformen Verhaltensmustern, hat sich distanziert davon, das Weltganze in Form von Symbolen und Bildern zu durchdringen, mangels deren wissenschaftlicher Gültigkeit. Dass dies so kommen werde, prophezeite Paul Valéry bereits vor 25 Jahren. Im Szientismus der heutigen Welt tritt ein alter Barbarismus in neuer Form zutage. Denn an die Stelle des Gelehrten ist der Techniker, der Ingenieur, ist eine Expertenschaft in jedem einzelnen Wissensbereich getreten. Den Referenzpunkt ihres Schaffens bilden nicht mehr besagte ,vagen Dinge‘, die die Symbolik ihres Berufsstands zum Ausdruck bringen; der Universitätsprofessor heute ist nicht mehr ,Professor‘, verkörpert nicht mehr ein Ideal, ein Symbol menschlicher Teilhabe an einem größeren Ganzen. Nicht mehr das Muster der aufgeklärten humanitas, nicht mehr das normative Bild der Weisheit und der Liebe zu ihr stellt er dar; er ist nur noch ein Experte. Und das Ergebnis dessen ist eine Situation, die der nach dem Turmbau zu Babel gleicht. Wir sprechen heute eine Vielzahl von Sprachen, doch wir verstehen einander nicht. Dies ist ein Symbol des wissenschaftlichen Zeitalters.

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Symbole sind notwendige Konstruktionen des menschlichen Geistes, in dem ebenso Verstandeskraft wie Empfindsamkeit wirken. Liebe und Anteilnahme sind Formen der Erkenntnis. Sind aber diese Formen menschlichen Gerichtetseins noch möglich in einer Welt, die sich vollständig Methoden der Quantifizierung anvertraut? „Kann eine Gesellschaft überdauern, die alles beseitigt, das vage ist und irrational, nicht messbar und nicht prüfbar? Das Problem existiert, die Frage drängt. Alles, was modern ist, strebt stetig nach mehr Präzision. Alles aber, was nicht merklich ist, kann nicht genau sein, und verzögert auf seine Weise das Übrige.“19

19  Paul

Valéry, „Preface aux Lettres persanes“. In: Variété II. Paris: Gallimard 1930, S. 53–73, hier S. 60.

Personenverzeichnis

A Aaron, 176 Abraham, 129, 130, 155 Adams, Henry, 198 Agnon, Samuel Joseph, 161, 167 Aischylos, 178 Alexander (König von Makedonien), 64 Alkibiades, 37 Ambrosius von Mailand, 131 Amerbach, Johann, 34, 126 Aretino, Pietro, 270 Aristophanes, 185, 216 Aristoteles, 16, 48, 134, 138, 197, 207, 242 Arnold, Gottfried, 119 Attila (König der Hunnen), 270 Augustinus von Hippo, 208 Aurelius, Marcus, 172, 173

B Baal Schem Tov (Israel ben Elieser), 172 Balzac, Honoré de, 181, 186, 215, 217, 226 Baudelaire, Charles, 247 Bayle, Pierre, 113 Bebel, August, 201 Béda, Noël, 134 Beethoven, Ludwig van, 59 Benjamin, Walter, VI, 85 Bennett, John C., 123 Bergson, Henri, 157

Bezold, Friedrich von, 254 Bismarck, Otto von, 40, 190 Blau, Joseph L., 123 Boccaccio, Giovanni, 93 Boehmer, Heinrich, 276 Buber, Martin, 155, 167, 170 Bucharin, Nikolai I., 26 Burckhardt, Jacob, 35, 137, 198

C Caesar, Gaius Julius, 31, 36, 40, 63 Calderón, Pedro de, 58 Carus, Carl G., 53, 82 Cassirer, Ernst, VII, 248 Catilina, 16, 29 Cervantes Saavedra, Miguel de, 180, 217–219, 221, 222, 225, 230, 236, 238, 241, 246 Cicero, Marcus Tullius, 130, 138 Cohen, Hermann, XI, 153, 156, 158, 173 Comte, Auguste, 16, 22, 34, 63, 110, 112, 209, 211, 212

D Dante Alighieri, 178 Delacroix, Henri, 276 Dilthey, Wilhelm, 198 Disraeli, Benjamin, 190

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 P. Gostmann und C. Härpfer (Hrsg.), Schriften 1949–1954, Albert Salomon Werke 4, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37736-6

281

282 Donoso Cortés, Juan, 35 Dostojewski, Fjodor M., 34, 35, 181, 187, 215, 226, 238 Dreyfus, Alfred, 174 Durkheim, Emile, 106, 110, 112, 252, 262, 264, 267

E Ebreo, Leone, 245 Eller, Meredith F., 123 Engels, Friedrich, 110, 191, 201, 203 Epiktet, 83, 129 Epikur, 129, 150 Erasmus von Rotterdam, 34, 35, 117, 125, 127, 128, 130, 132, 134, 136, 139, 141, 144, 146, 148, 150

F Fairley, Barker, 53 Ferdinand I. (Kaiser des Heiligen Römischen Reiches), 137 Fish Armstrong, Hamilton, 191 Fitzgerald, William J., 123 Flaubert, Gustave, 180, 217 Fontenelle, Bernard de, 113 Ford, Henry, 37 Franz I. (König von Frankreich), 141 Franziskus, 32 Freimann, Alfred, 167 Freud, Sigmund, 77 Friedrich II. (König von Sizilien), 124 Froben, Johann, 34, 126

G Galsworthy, John, 180 Glatzer, Nahum N., 161, 163, 167 Goethe, August, 68, 100 Goethe, Johann W. von, VI, VIII, 14, 35, 51, 53, 56, 57, 60, 64, 68, 70, 71, 73, 77, 79, 81, 85, 86, 89, 92, 95, 97, 99–101, 180, 183, 217, 222, 257, 258, 261, 276 Goethe, Ottilie von, 261

Personenverzeichnis Grimm, Jacob, 254 Grimm, Wilhelm, 254

H Hadrianus, Publius Aelius, 83 Hafiz, 58 Halbwachs, Maurice, 262, 264, 269 Halevi, Jehuda, 155, 168 Harrison, Jane E., 253 Hébert, Jacques-René, 23 Hegel, Georg W.F., 35, 107, 158, 161, 183, 201, 202, 211, 212 Heidegger, Martin, 153, 159, 160 Herder, Johann G., 58, 74 Herder, Karoline, 74 Hertz, Robert, 264, 266 Heschel, Abraham J., 271 Hieronymus, 131 Hiob, 161, 172 Hippokrates, 90 Hitler, Adolf, 29, 168, 270 Hobbes, Thomas, 90, 257 Hofmannsthal, Hugo von, 216 Hölderlin, Friedrich, 53 Homer, 58 Hoover, Herbert, 191 Hughey Jr., John David, 123 Hula, Erich, 191 Humboldt, Wilhelm von, 71, 79 Huxley, Aldous, 205

I Isaak (Patriarch), 129, 155

J Jakob (Patriarch), 129, 155 James, Henry, 180 James, William, 160 Jesus von Nazareth, 150, 275 Johnson, F. Ernest, 123 Julius II. (Papst), 147 Jung, Carl G., 82

Personenverzeichnis K Kafka, Franz, 53, 154 Kant, Immanuel, 58 Kaplan, Mordecai M., 123 Kareiew, Nikolai, 19 Karl V. (Kaiser des Heiligen Römischen Reiches), 124 Kerenski, Alexander F., 25 Kierkegaard, Søren, 53, 116, 154, 158, 173, 226 Kleist, Heinrich von, 246 Kotzebue, August von, 73, 74

L Lancaster, Joseph, 59 Landau, Henrik, 167 Lazare, Bernard, 174 Lenin, Wladimir I., 27, 31, 37, 40, 199, 202, 210, 249 Leonardo da Vinci, 87 Lie, Trygve, 194 Lincoln, Abraham, 226, 270 Locke, John, 200, 201 Lorrain, Claude, 99, 222 Loyola, Ignatius von, 272–274, 276 Ludolf von Sachsen, 272 Lukács, Georg, 120, 181, 182 Lukrez (Titus Lucretius Carus), 58 Luther, Martin, 25, 123–125, 128, 129, 134

M Machiavelli, Niccolo, 16, 41, 44, 88, 132, 138, 139 Malinowski, Bronislaw, 112 Mandeville, Bernard, 257 Mannheim, Karl, 112 Manutius, Aldus, 126 Marcel, Gabriel, 120 Marie-Antoinette (Königin von Frankreich und Navarra), 37 Marius, Gaius, 23, 40 Marshall, George C., 191 Marx, Karl, 8, 22, 31, 109, 110, 116, 158, 183, 191, 199, 201, 202, 210

283 Mathiez, Albert, 20 Mauss, Marcel, 262, 264, 267–269 McNeill, John T., 123 Melville, Herman, 226 Menander, 58, 216 Merton, Robert K., 255 Metternich, Klemens W.L. von, 190 Meyer, J. Heinrich, 72 Mirabeau (Honoré G. V. de Riqueti), 25, 40 Mirandola, G. Pico della, 245 Mirjam, 176 Molière (Jean-Baptiste Poquelin), 58, 69, 70 Montaigne, Michel E. de, 255, 270 Montesquieu, Charles-Louis de, 34, 69, 113, 139, 180, 200, 255, 256 Morus, Thomas, 136 Mose, 176 Mose ben Maimon, 154, 163, 176 Müller, Johannes, 81 Mussolini, Benito, 29

N Napoléon I. Bonaparte, 27, 31, 40, 42, 63, 64, 209 Napoléon III. (Charles-Louis Napoléon Bonaparte), 29, 40, 42 Niebuhr, Reinhold, 120, 173 Nietzsche, Friedrich, 115, 158, 198, 201 Novalis (Friedrich von Hardenberg), 128

O Origenes, 130, 131

P Pareto, Vilfredo, 112, 200 Parsons, Talcott, 106, 115 Pascal, Blaise, 174 Paulus von Tarsus, 131 Péguy, Charles, 120, 174, 175 Philipp II. (Statthalter der Spanischen Niederlande), 140 Platon, 58, 207, 245

284 Plutarch, 128, 129 Polybius, 16, 138 Pope, Alexander, 183 Protagoras, 270 Proudhon, Pierre J., 22, 201 Proust, Marcel, 187 Purkinjě, Jan Evangelista, 81

R Rabinkow, Salman B., 167 Racine, Jean B., 58 Ragaz, Leonhard, 120 Rasputin, Grigori J., 277 Rhode, Erwin, 253 Richelieu (Armand-Jean du Plessis), 40 Riemer, Friedrich W., 72 Rilke, Rainer M., 53 Rivlin, Josef, 167 Robespierre, Maximilien de, 23, 26, 40 Rosenzweig, Edith, 155 Rosenzweig, Franz, 153 Rosenzweig, Rafael, 168 Rousseau, Jean-Jacques, 34

S Saint-Just, Louis-Antoine-Léon de, 26, 40 Saint-Simon (Claude-Henri de Rouvroy), 44, 63, 110, 111, 209, 213 Saint Simon (Louis de Rouvroy), 50 Sallust (Gaius Sallustius Crispus), 16 Sartre, Jean-Paul, 153, 160 Scheler, Max, 255 Schiller, J.C. Friedrich von, 51, 71, 79 Scholem, Gershom, 155, 167 Schopenhauer, Arthur, 158 Schütz, Alfred, V, 227 Servaas, Rotger (Abt von Steyn), 127 Shakespeare, William, 52, 58, 70, 87, 178, 182 Shaw, Georg Bernhard, 216 Shinn, Roger L., 123 Simmel, Georg, 53, 76, 82, 92, 198, 227, 257, 264

Personenverzeichnis Simon, Ernst, 167 Smith, Adam, 41 Sokrates, 85, 128, 129, 131, 150, 245, 270 Sophokles, 58, 178 Sorel, Georges, 207 Spinoza, Baruch de, 55, 58, 83, 88 Stalin, Josef W., 10, 31, 37, 199, 202 Stein, Charlotte von, 58, 64, 74 Steinberg, Milton, 153, 171, 173, 174 Strauss, Eduard, 167 Streicher, Julius, 23, 37 Sulla, Lucius Cornelius, 40

T Tarde, Gabriel, 257 Tarfon (Rabbi), 175 Taubes, Jacob, 116, 117 Thomas von Kempen, 226, 272, 275 Tillich, Paul, 173 Tocqueville, Alexis de, 12, 20, 35, 50, 198, 199 Trotzki, Leo, 13, 23, 26, 31, 119, 210, 215, 226 Turgot, Anne Robert Jacques, 204

V Valéry, Paul, 256, 278 Varga, Eugen, 191 Veblen, Thorstein, 135 Vergil (Publius Vergilius Maro), 3 Vermeer, Jan, 222 Voltaire (François-Marie Arouet), 36, 113

W Washington, George, 270 Wassermann, Jakob, 180 Watteau, Antoine, 222 Weber, Max, 47, 106, 113–115, 139, 198, 234 Weigand, Hermann J., 54, 114 Weil, Simone, 186 Whitehead, Alfred N., 253

Personenverzeichnis Wilson, Woodrow, 192 Winckelmann, Johann J., 98

285 Z Zelter, Carl F., 59, 71