Schmerz [1 ed.] 9783737014540, 9783205211389, 9783525356975, 9783847114543

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Schmerz [1 ed.]
 9783737014540, 9783205211389, 9783525356975, 9783847114543

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L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Caroline Arni/Basel, Ingrid Bauer/Wien und Salzburg, Anna Becker/Aarhus, Mineke Bosch/Groningen, Bożena Chołuj/Warschau und Frankfurt (Oder), Maria Fritsche/Trondheim, Christa Hämmerle/Wien, Gabriella Hauch/Wien, Almut Höfert/Oldenburg, Anelia Kassabova/Sofia, Claudia Kraft/Wien, Ulrike Krampl/Tours, Christina Lutter/Wien, Sandra Maß/Bochum, Claudia Opitz-Belakhal/Basel, Regina Schulte/Berlin, Kristina Schulz/ Neuchâtel, Xenia von Tippelskirch/Berlin, Heidrun Zettelbauer/Graz Initiiert und mitbegründet von Edith Saurer (1942–2011)

Wissenschaftlicher Beirat Angiolina Arru/Rom, Sofia Boesch-Gajano/Rom, Susanna Burghartz/Basel, Kathleen Canning/Ann Arbor, Jane Caplan/Oxford, Krassimira Daskalova/ Sofia, Natalie Zemon Davis/Toronto, Barbara Duden/Hannover, Ayşe Durakbaşa/Istanbul, Ute Frevert/Berlin, Ute Gerhard/Bremen, Angela Groppi/Rom, Francisca de Haan/Budapest, Hanna Hacker/Wien, Karen Hagemann/Chapel Hill, Daniela Hammer-Tugendhat/Wien, Karin Hausen/Berlin, Waltraud Heindl/Wien, Dagmar Herzog/New York, Claudia Honegger/Bern, Isabel Hull/Ithaca, Marion Kaplan/New York, Christiane Klapisch-Zuber/Paris, Gudrun-Axeli Knapp/Hannover, Daniela Koleva/Sofia, Margareth Lanzinger/Wien, Brigitte Mazohl/Innsbruck, Hans Medick/Göttingen, Michael Mitterauer/Wien, Herta Nagl-Docekal/Wien, Kirsti Niskanen/Stockholm, Helga Nowotny/Wien, Karen Offen/Stanford, Michelle Perrot/Paris, Gianna Pomata/Bologna, Helmut Puff/Ann Arbor, Florence Rochefort/Paris, Lyndal Roper/Oxford, Raffaela Sarti/Urbino, Wolfgang Schmale/Wien, Gabriela Signori/Konstanz, Brigitte Studer/Bern, Marja van Tilburg/Groningen, Maria Todorova/Urbana-Champaign, Claudia Ulbrich/Berlin, Kaat Wils/Leuven

L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 33. Jg., Heft 2 (2022)

Schmerz Herausgegeben von Heidrun Zettelbauer, Maria Fritsche und Bożena Chołuj

V&R unipress

Inhalt

Heidrun Zettelbauer, Maria Fritsche und Bożena Chołuj Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Beiträge Karen Nolte Schmerzen unter der Geburt: Praxeologische Annäherungen an Schmerz und Geschlecht im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

Maria Heidegger Schmerz, Männlichkeit und Religion: Selbstbestrafungen im Fokus der Tiroler Psychiatrie im Vormärz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

Kylie Thomas Undoing Gendered Expressions of Grief: Dora Kallmus’ Post-War ‘Slaughterhouse’ Photographs (1949−1958) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rosemarie Brucher Von Valie Export bis Cassils: Selbstverletzung als Self-Empowerment in der Performance Art zwischen Feminismus und Postidentität . . . . . . . . . . .

81

Extra Elisa Heinrich „Man sagt, college girls heiraten spät, aber sie heiraten gut.“ Imaginationen von Frauenemanzipation zwischen Deutschland und den USA bei Hugo Münsterberg (1863−1916) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Forum Eftychia Kalaitzidou To Cry One’s Fate: Female Expressions of Pain in the Lamentation Songs of Mani in Modern Greece . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

Im Gespräch Kathleen Canning interviewed by Heidrun Zettelbauer Looking at History through the Lens of the Body . . . . . . . . . . . . . . . 127

Aktuelles & Kommentare Rita Perintfalvi Anti-Genderismus und Pädophilie-Diskurs als politisch-kirchlicher Kampfplatz. Das Fallbeispiel Ungarn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

Aus den Archiven Tine Van Osselaer Palpable Pain. Crucifixes, Cilices and Bloody Handkerchiefs as Sources on Modern Female Stigmatics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Benedikt Grubešić Der Kampf um die Anerkennung von Schmerz. Frauen im Spiegel von Archivbeständen zur Irischen Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

Rezensionen Marina Hilber Nina Lükewille, Georg Wilhelm Stein d. Ä. (1737–1803) in Kassel. Ein früher Repräsentant der akademischen Geburtsmedizin . . . . . . . . . . . . . . . 161 Clemens Ableidinger Gundula Gahlen, Ralf Gnosa u. Oliver Janz (Hg.), Nerven und Krieg. Psychische Mobilisierungs- und Leidenserfahrungen in Deutschland (1900–1939) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Maria Fritsche Monica Black, Deutsche Dämonen. Hexen, Wunderheiler und die Geister der Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

7

Inhalt

Hanna Hacker Gabrielle Houbre, Les deux vies d’Abel Barbin, né Adélaïde Herculine (1838–1868). Édition annotée des Souvenirs d’Alexina Barbin . . . . . . . . 171 Isabella Löhr Irene Messinger u. Katharina Prager (Hg.), Doing Gender in Exile. Geschlechterverhältnisse, Konstruktionen und Netzwerke in Bewegung . . . . 174 Katharina Lenski Helga Amesberger, Brigitte Halbmayr u. Elke Rajal, Stigma Asozial. Geschlechtsspezifische Zuschreibungen, behördliche Routinen und Orte der Verfolgung im Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Ruth Ammann Regine Othmer, Dagmar Reese u. Carola Sachse (Hg.), Annemarie Tröger. Kampf um feministische Geschichten. Texte und Kontexte 1970–1990 . . . 181 Abstracts

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

Anschriften der Autor*innen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

Editorial

„No general theory about pain. Each patient discovers his own, and the nature of pain varies, like a singer’s voice, according to the acoustics of the hall.“1 Der französische Schriftsteller Alphonse Daudet (1840–1897), der über viele Jahre hinweg an den Spätfolgen einer Syphilisinfektion litt, nutzte seine Beobachtungsgabe, um seine Schmerzen minutiös zu beschreiben und damit fassbar zu machen. Daudets Aussage, dass es den Schmerz nicht gebe, sondern dieser sich ständig wandle, sich wie die Stimme eines Sängers an unterschiedliche Kontexte anpasse und von diesen verändert werde, ist auch für diese L’Homme-Ausgabe zentral. Sowohl die Empfindung von Schmerzen als auch deren Wahrnehmung sind kulturell bedingt, wie Ludwik Fleck bereits in „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“ (1935) konstatierte.2 Die dem Schmerz eingeschriebenen Bedeutungen erweisen sich – wie andere Formen körperbezogener Wahrnehmung – in historischer und kulturell vergleichender Perspektive als vielschichtig und höchst wandelbar und zugleich sozial und geschlechtlich differenziert. Während in europäischen Kontexten der Vormoderne Schmerz in einem komplexen Zusammenhang mit religiösen, medizinischen, aber auch herrschaftsbezogenen Sinnstiftungsmustern stand, etablierte sich spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Medizin als privilegiertes, ja hegemoniales Ausdeutungssystem von Schmerz, das die modernen westlichen Gesellschaften wesentlich prägte. Die medizinische Wissenschaft begriff den Körper als eine von der sozialen Umwelt abgekoppelte Entität, begann körperliche Symptome zu normieren und zu medizinischen Krankheitsbildern zu verdichten. Geschlechtsspezifische, sozial und kulturell geprägte Erfahrungen und Ausdrucksformen von Schmerz gerieten aus dem Blick

1 Alphonse Daudet, In the Land of Pain (1930). Edited and translated by Julian Barnes, London 2002, 17. 2 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, hg. von Lothar Schäfer u. Thomas Schnelle, Frankfurt a. M. 1980 (Erstausgabe: Basel 1935).

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beziehungsweise wurden in ein Schema eingepasst, das auch seine Deutung und Behandlung standardisierte.3 Das vorliegende Themenheft von „L’Homme. Z. F. G.“ widmet sich der Frage, wie Schmerz mit Geschlecht verbunden ist. In den Blick genommen werden nicht nur Prozesse geschlechterbezogener Normierungen und/oder Disziplinierungen von Schmerz, sondern auch geschlechtsspezifische Ausdrucksformen und Praktiken im Umgang mit Schmerz. Ausgehend von Einsichten über die tiefgreifende Historizität und Kulturbedingtheit von Schmerzwahrnehmungen versammelt das Themenheft Beiträge, die individuelle und kollektive Formen der Artikulation von Schmerz in verschiedenen historischen Kontexten und deren Interaktionen mit medizinischen, ökonomischen, religiösen, politischen oder eben künstlerischen Ausdrucksformen erkunden. Von besonderem Interesse ist für uns als Herausgeberinnen die bislang in der historischen Forschung wenig diskutierte Frage nach den konkreten (geschlechtsspezifischen) Formen des Schreibens und Sprechens über Schmerz sowie die Frage, wie solche Artikulationen von Schmerz mit historisch-kulturellen Normierungen interagier(t)en. Im Fokus der nachfolgenden Beiträge steht somit immer auch die Frage nach historisch-kulturell spezifischen Aneignungen von Schmerz im Sinne von kommunikativen Aushandlungen am Rande des Sagbaren beziehungsweise nach der Interaktion von individuellen Schmerzerfahrungen und kollektiven Deutungsmustern. Individuelle Schmerzbeschreibungen – das machen die einzelnen Beiträge deutlich – unterliegen kulturellen Machtkontexten, an denen sich Menschen in ihrem (kommunikativen) Handeln orientieren müssen, um ihre je spezifischen Erfahrungen für andere verständlich(er) zu machen. Das Heft strebt einen Dialog von aktuellen körpergeschichtlichen Thematisierungen4 einerseits und kunstwissenschaftlich5 oder kulturanthropologisch verankerten Analysen andererseits an. Die Beiträge untersuchen narrative oder visuelle Repräsentationen von Schmerz oder Schmerzerfahrungen als Momente kultureller Sinnstiftung entlang geschlechterspezifischer Normen6 und thematisieren Schmerz auch als Performanz von Geschlecht und Körper. 3 Die sogenannte „analgesic ladder“ ist eine erstmals 1986 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorgeschlagene Strategie zur angemessenen Schmerzlinderung bei Krebspatient*innen, bestehend aus drei Stufen (mild, moderate, severe & persistent pain). Vgl. Vittorio Ventafridda, Luigi Saita, Carla Ida Ripamonti u. Franco De Conno, WHO guidelines for the use of analgesics in cancer pain. International Journal of Tissue Reactions, 7, 1 (1985), 93–96. 4 Vgl. etwa Joanna Bourke, The Story of Pain. From Prayer to Painkillers, Oxford 2014; David Le Breton, Schmerz. Eine Kulturgeschichte, Zürich/Berlin 2003; Rob Boddice, Pain and Emotion in Modern History, London 2014. 5 Vgl. Eugen Blume, Annemarie Hürlimann, Thomas Schnalke u. Daniel Tyradellis (Hg.), Schmerz. Kunst + Wissenschaft. Ausstellungskatalog, Köln 2007. 6 Vgl. Nina Degele, Schmerz erinnern und Geschlecht vergessen, in: Freiburger FrauenStudien. Zeitschrift für interdisziplinäre Frauenforschung, 13, 20 (2007), 121–140.

Editorial

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Sowohl Behandlungen als auch Therapien, ja selbst individuelle Schmerzempfindungen erscheinen, historisch betrachtet, nahezu immer geschlechtsspezifisch strukturiert.7 So wurden Geburtswehen und Entbindungsschmerzen jahrhundertelang entweder naturalisiert oder dem biblischen Prinzip folgend als „Strafe Gottes“ für die Übertretung seines Gebotes durch Eva interpretiert.8 Bis heute kämpfen Frauen in manchen Ländern für das Recht auf schmerzlindernde Medikamente während der Geburt, die ihnen oft aus religiösen und/oder politischen Motiven verwehrt werden.9 Geschlechtsspezifische Vorstellungen über Schmerz entscheiden nicht nur darüber, ob Maßnahmen zur individuellen Schmerzlinderung gewährt oder verwehrt werden, sondern strukturieren auch medizinische Diagnosen und Therapien. Das zeigt sich etwa daran, dass Medikamente häufig an ‚weißen männlichen Normkörpern‘ entwickelt und auch in ihrer Verabreichung kaum gendersensitive oder auf Ethnizität bezogene Abwägungen stattfinden.10 Die Geschlechterstudien haben die Diskussion über Körper und Schmerz in den letzten Jahrzehnten maßgeblich geprägt. Ausgehend von den in den 1990er Jahren höchst kontrovers geführten Debatten um den „Ort des Körpers“11 vor dem Hintergrund des linguistic turn wurden Theoreme und Begriffe zu Geschlecht und Körper seither konsequent weiterentwickelt und präzisiert. Dies erfolgte nicht zuletzt im Rahmen einer differenzierten Auseinandersetzung mit Prozessen der Verkörperung/ Embodiment12, der Performativität von Geschlecht und Körper13 oder einer viel-

7 Vgl. Whitney Wood u. Joanna Bourke, Conceptualising Gender and Pain in Modern History, in: Gender & History, 32, 1 (2020), 8–12. 8 Ilse Müllner, Menschlicher Schmerz als Wille Gottes? Die Strafsprüche der Genesis als Begründungsgeschichte (Ätiologie), in: Thomas Hieke u. Konrad Huber (Hg.), Bibel falsch verstanden. Hartnäckige Fehldeutungen biblischer Texte erklärt, Stuttgart 2020, 56–63, 57–60. 9 Zur Stellungnahme der WHO in Zusammenhang mit geringschätziger und missbräuchlichem Umgang in geburtshilflichen Einrichtungen vgl. http://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665 /134588/WHO_RHR_14.23_ger.pdf;jsessionid=59337E5B77601A1BD5048143267B7E8E?se quence=22, Zugriff: 25. 5. 2022. Zur Diskussion in Deutschland vgl. Susanne Bartig, Dorina Kalkum, Ha Mi Le u. Aleksandra Lewicki, Diskriminierungsrisiken und Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen – Wissensstand und Forschungsbedarf für die Antidiskriminierungsforschung? Berlin 2021, 34. 10 Vgl. Sabine Oertelt-Prigione u. Vera Regitz-Zagrosek (Hg.), Sex and Gender Aspects in Clinical Medicine, London 2012. 11 Michael Fauser, Einführung in die Kulturwissenschaft, 3. Aufl., Darmstadt 2006, 103. Zit. n. Heidrun Zettelbauer, Embodiment. Verkörperungen. Geschlecht, Körper, Kultur, in: dies., Stefan Benedik, Nina Kontschieder u. Käthe Sonnleitner (Hg.), Verkörperungen. Embodiment. Transdisziplinäre Analysen zu Geschlecht und Körper in der Geschichte. Transdisciplinary Explorations on Gender and Body in History, Göttingen 2017, 9–43, 18. 12 Vgl. Kathleen Canning, The Body as Method? Reflections on the Place of the Body in Gender History, in: Gender & History, 11, 3 (1999), 499–513. 13 Vgl. Judith Butler, Gender Trouble, New York 1990.

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schichtigen Geschichte der Gefühle14. Die Thematisierung von Schmerz, Lust, Verletzung oder Vulnerabilität wurde so zu einem Regulativ für die stark auf Normierung und Disziplinierung fokussierende Körpergeschichte.15 Die Frauen- und Geschlechtergeschichte trug wesentlich zu einer differenzierteren, geschlechtersensiblen Körpergeschichte bei. Sie machte geschlechtsspezifische Subjektivierungsprozesse und individuelle wie kollektive Strategien des Umgangs mit historisch-kulturellen Körperund Geschlechterordnungen sichtbar und rückte Körperlichkeit als maßgeblich auf Geschlecht bezogenen Prozess der Interaktion von Normierung und subjektiver Aneignung ins Blickfeld, als „process of doing the work of bodies, of becoming a body in social space“.16 Studien, die sich mit der Denaturalisierung und Historisierung von Körperlichkeit und Schmerz befassen, betonen die sinnvolle Unterscheidung von soziokulturellen Modellen, Konstrukten und Ordnungen einerseits und Erfahrung beziehungsweise Erlebnisfähigkeit andererseits. Es sind hauptsächlich zwei Aspekte, die im Mittelpunkt des historischen und kulturwissenschaftlichen Erkenntnisinteresses stehen: erstens die Frage nach Prozessen der sozialen Kommunikation, in deren Rahmen Schmerz als nicht- oder vorsprachliches Zeichen und körperliche Ausdrucksweise betrachtet wird, als „Sprache des Körpers“17, und zweitens der Zusammenhang von Schmerz und Sprache.

14 Vgl. Gefühle als geschichtsmächtige Kategorie. Ute Frevert im Gespräch mit Ingrid Bauer und Christa Hämmerle, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, 24, 1 (2013), 109–117. 15 Vgl. Theresa Wobbe u. Gesa Lindemann (Hg.), Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht, Frankfurt a. M. 1994, darin v. a. Gesa Lindemann, Die Konstruktionen der Wirklichkeit und die Wirklichkeit der Konstruktionen, 115–146 u. Hilge Landweer, Generativität und Geschlecht. Ein blinder Fleck in der sex-gender-Debatte, 147–176. Als direkte Replik auf J. Butler vgl. Barbara Duden, Die Frau ohne Unterleib. Zu Judith Butlers Entkörperung. Ein Zeitdokument, in: Feministische Studien, 11, 2 (1993), 24–33. 16 Vgl. Leslie Adelson, Making Bodies, Making History, Nebraska 1993, xiii; Bryan S. Turner, The Body & Society. Explorations in Social Theory, London 1996, xiii, zit. n. Canning, The Body, wie Anm. 12, 505. 17 Jakob Tanner, Körpererfahrung, Schmerz und die Konstruktion des Kulturellen, in: Historische Anthropologie, 2, 3 (1994), 489–502, 490.

Editorial

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„Are words actually any use to describe what pain (or passion, for that matter) really feels like? Words only come when everything is over, when things have calmed down. They refer only to memory, and are either powerless or untruthful.“ (Alphonse Daudet, In the Land of Pain, 1930)

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Dabei wird Schmerz häufig als „Antithese zur Sprache“18 aufgefasst und versinnbildlicht in dieser Dimension gerade radikale Abtrennung, Isolation und Ausschließung aus der menschlichen Gesellschaft. In diesem Zusammenhang wurde auf Prozesse der Übersetzung individueller Schmerzerfahrungen in ein kulturell vorgeprägtes Set an Begriffen und Gefühlen sowie auf Ästhetisierung als zentraler Aspekt der Artikulation von Schmerz hingewiesen.19 Kritisiert wurde zudem die durch moderne naturwissenschaftlich-medizinische Deutungskontexte verursachte Aufspaltung von Schmerz in voneinander je unabhängig gedachte physische oder psychische Dimensionen.20 Schmerz wird weitgehend übereinstimmend als Schnittpunkt von Körper, Gehirn und Kultur, als gleichzeitig emotional, kognitiv und sozial bedingt gedeutet, als „Wahrheit, die notwendiger Weise von eindeutiger Erkenntnis ausgeschlossen ist“,21 als destruktives wie gleichermaßen kreatives Moment, das den Ausgangspunkt für rekonstruierbare historisch-kulturelle Sinnbezüge und Handlungszusammenhänge bildet. Die Betrachtung von Schmerz als am Rand des Sagbaren angesiedelt, wurde insbesondere von der Amerikanistin Elaine Scarry geprägt, welche die These vom Schmerz als Ursprung der Konstruktion des Kulturellen in ihrer wegweisenden Studie „The Body in Pain“ (1985)22 radikal zugespitzt hat. Schmerzempfindungen sind Scarry zufolge nicht in das symbolische Medium der Sprache übersetzbar, sondern geradezu gekennzeichnet von einer Resistenz gegen Sprache, von Sprachzerstörung, „Wahrnehmungszerrüttung“ und einer Desintegration von Bewusstseinsinhalten.23 Als intimste Erfahrung radikaler Subjektivität seien sie abgetrennt von Diskursen und Praktiken. Da kulturelle Interaktion jedoch immer ein Überschreiten des Körpers bedeute, sei der Schmerz ein Kennzeichen des Verlusts der Fähigkeit durch Kommunikation mit anderen über sich selbst hinauszugelangen – gewissermaßen das Gegenteil des Zivilisationsprozesses. Gerade in seiner Referenzlosigkeit eröffne Schmerzerfahrung – so Scarry – aber zugleich auch den Weg in neue Erfahrungsräume und Praxisformen jenseits vorgeprägter Deutungsmuster und Verhaltensroutinen und könne daher als stärkster Impetus für die Veränderung von Kultur angesehen werden. In Scarrys Arbeiten ist der Schmerz neben imaginären und symbolischen Dimensionen von Körperlichkeit als Ankerpunkt des ‚Realen‘ präsent und verweist darauf,

18 Tanner, Körpererfahrung, wie Anm. 17, 491. 19 Vgl. Byron J. Good, Medicine, Rationality and Experience. An Anthropological Perspective, Cambridge 1994; Mary-Jo DelVecchio Good, Paul Eric Brodwin u. Byron Good (Hg.), Pain as Human Experience. An Anthropological Perspective, Berkeley 1992. 20 Vgl. David B. Morris, Geschichte des Schmerzes, Frankfurt a. M./Leipzig 1994. 21 Morris, Geschichte des Schmerzes, wie Anm. 20, 39. 22 Elaine Scarry, The Body in Pain. The Making and Unmaking of the World, New York/Oxford 1985 [dt.: Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, Frankfurt a. M. 1992.] 23 Scarry, Der Körper im Schmerz, wie Anm. 22, 47.

Editorial

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dass der Körper und seine Empfindungen niemals „bruchlos symbolisierbar“ sind.24 Schmerz, Tod, Lust oder Begehren sind Erfahrungen, die sich zumindest nicht vollständig in Sprache übersetzen lassen, die – so der Historiker Philipp Sarasin – nicht (immer) „diskursiv (vor)geformt sind, sondern in die Leerstellen der Repräsentationssysteme einbrechen, Symbolisierungen erzwingen und so die Repräsentationen verändern“. Das ‚Reale‘ lässt sich demnach nicht in Diskurs auflösen – aber wo und wie es in historischen Quellen erscheint, ist weder natürlich noch selbstverständlich oder gar unmittelbar einsichtig. Schmerz, Verletzlichkeit, Begehren ereignen sich somit an den Übergängen vom Körper zum Text und in den Leerstellen des Symbolischen: „Hier ist das Physische in unseren Diskursen präsent – als Loch, um das die Sprache kreist.“25 Dies lässt sich als Plädoyer dafür lesen, auch nach den Leerstellen in Bezug auf Schmerz und Geschlecht in historischen Prozessen zu fragen. Die beiden Historikerinnen Margit Pernau und Imke Rajamani betrachten Schmerzwahrnehmungen wiederum aus emotionshistorischer Sicht und bezeichnen sie als „bodily practice“: Subjekte haben nicht einfach Schmerzen, sondern sie vollziehen sie.26 Von Interesse erscheint die Frage nach Geschlecht dabei nicht zuletzt, wenn sich Emotionen und körperliche Ausdrucksformen quasi verselbständigen. Für einen praxeologischen Ansatz einer Geschlechtergeschichte des Schmerzes plädiert auch die Historikerin Karen Nolte, die darauf hinweist, dass der Schmerz in der Geschichte seiner angeblichen Unsagbarkeit zum Trotz immer wieder wortreich beschrieben wurde. Tatsächlich hat das Schreiben und Reden über Schmerz vielstimmige und vielschichtige Spuren in historischen Dokumenten hinterlassen und mündliche, bildliche sowie schriftliche Ausdrucksweisen geprägt. Somit gilt es, nicht nur auf den Ausdruck von Schmerz zu fokussieren, sondern auch auf den Umgang mit ihm und zu untersuchen, wie Konzeptionen von Geschlecht diesen Umgang mit Schmerz präg(t)en.27 Das vorliegende Heft versammelt Beiträge, die aus unterschiedlichen Perspektiven sowohl den historischen Umgang mit Schmerz analysieren als auch Versuche thematisieren, Schmerzerfahrungen zu vermitteln und für diese Verständnis zu erwirken. Dabei geht es um physische, durch Geburt, Krankheit oder Gewalt erzeugte Schmerzen, aber auch um psychische oder seelische Schmerzen, die durch den Tod geliebter Menschen ausgelöst wurden. Mit der Betonung von (zumeist ‚weiblicher‘) agency unterstreichen die Autor*innen außerdem, dass Schmerz nicht nur passiv er24 Philipp Sarasin, „Mapping the Body“. Körpergeschichte zwischen Konstruktivismus, Politik und „Erfahrung“, in: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a. M. 2003, 100–121, 450. 25 Sarasin, Mapping, wie Anm. 24, 450. 26 Margit Pernau u. Imke Rajamani, Emotional Translations. Conceptual History Beyond Language, in: History and Theory, 55, 1 (2016), 46–65. 27 Vgl. Karen Nolte, „Leiden mit Geduld“ – Schmerz und Geschlecht im 19. Jahrhundert. Praxistheoretische Rekonstruktionen, in: GENDER – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, 10, 1 (2018), 29–46, 30.

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litten wird, sondern die Betroffenen animiert, das vermeintlich Unsagbare verständlich zu machen oder sogar gezielt einzusetzen, um politische Botschaften zu vermitteln oder religiöse Erlösung zu finden. Karen Nolte eröffnet das Themenheft mit einem Aufsatz zum medizinischen Umgang mit dem Geburtsschmerz in den Gebärhäusern des 19. Jahrhunderts. Anhand von Haus- und Tagbüchern der Entbindungsanstalt Heidelberg zwischen 1821 und 1900 analysiert sie die Wissenskontexte, in denen die 1846 erstmals durchgeführte Chloroform-Narkose zur Anwendung kam, und beleuchtet die situationsgebundenen Aushandlungsprozesse zwischen Gebärenden, akademischen Geburtshelfern und Hebammen. Auf diese Wiese rückt sie das (mitunter widerständige) Handeln von gebärenden Frauen ins Blickfeld. Die Untersuchung offenbart eine zeitgenössische Vielstimmigkeit von entsprechenden Diskursen, in deren Rahmen sowohl geschlechtsspezifische Formen von Schmerz naturalisiert, aber auch klinisch-experimentelle Schmerzlinderungsversuche diskutiert wurden. Deutlich wird, dass medizinische Schmerztheorien nicht nur Geschlecht zentral setzten, sondern auch Klasse und ‚race‘ als Differenzkategorien in die klinischen Diagnosen und Behandlungsmethoden einschrieben. Medikalisierte Ausdeutungen von Schmerz stehen auch im Mittelpunkt von Maria Heideggers Beitrag, der anhand von Fallakten den Umgang der sich etablierenden Anstaltspsychiatrie mit als sündhaft verstandenen körperbezogenen Bußpraktiken und religiös motivierten Selbstverstümmelungen untersucht. Anhand der Diagnosen und Behandlungen zweier junger Männer, die sich im religiösen ‚Wahn‘ selbst kastriert hatten und deswegen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die „k. k. ProvinzialIrrenanstalt Hall in Tirol“ eingewiesen wurden, zeigt Heidegger, dass Schmerz zeitgleich als etwas zu Therapierendes aufgefasst werden konnte als auch als etwas, das Beschwerden lindern kann. Vielfältige und durchaus ambivalente Vorstellungen von Männlichkeit bildeten dabei die Hintergrundfolie für unterschiedliche Deutungen. Heideggers Analyse des Spannungsfelds von Religion und Psychiatrie illustriert zudem (Un‐)Gleichzeitigkeiten in der Schmerzgeschichte, in denen ältere Formen von Frömmigkeit, die im Untersuchungszeitraum ein Revival erlebten, auf die sich entfaltende moderne Medizin und Psychiatrie trafen. Ebenfalls mit absichtsvoll erzeugten Schmerzen beschäftigt sich Rosemarie Bruchers Aufsatz zu den beiden Künstler*innen Valie Export und Cassils, die Schmerz und (Selbst‐)Verletzungen gezielt als Praktiken des feministischen beziehungsweise queeren Self-Empowerment einsetzen, um die strukturelle Gewalt gegen Frauen und queere Personen in Kultur und Gesellschaft sichtbar zu machen. Anhand einer detaillierten Analyse ausgewählter Performances skizziert Brucher die Zielsetzungen und Entwicklungen solcher feministisch-künstlerischen Praktiken seit den 1970er Jahren und erläutert, wie diese im Kontext gegenwärtiger queer-feministischer Kunstaktionen weitergedacht werden. Zugleich eröffnet die Autorin damit den Blick auf die hinter den diskutierten künstlerischen Prozessen liegenden politisch-kulturellen Positionierungen

Editorial

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und Konzeptualisierungen der Begriffe Geschlecht/Gender und (sexuelle) Identitäten, die zunehmend fluider werden. Auch der Aufsatz von Kylie Thomas nimmt Kunst als Ausgangspunkt, um über Schmerz und Verlust zu reflektieren und der Frage nachzugehen, in welche Formensprache sich körperliches und emotionales Leiden fassen lässt. Im Fokus ihrer Analyse steht die 1881 in Österreich geborene jüdische Fotografin Dora Kallmus, die als Studiofotografin unter dem Namen „Madame D’Ora“ berühmt wurde und nach dem Zweiten Weltkrieg eine Serie zusammenhängender Fotografien, die sogenannte „Schlachthaus-Serie“, produzierte. Die Fotografin hatte die Shoah im Versteck in Frankreich überlebt, litt aber unter dem Verlust ihrer Heimat und vor allem ihrer geliebten Schwester, die im Vernichtungslager Chełmno ermordet worden war. Die über viele Jahre hinweg in Pariser Schlachthöfen aufgenommenen Bilder liest die Autorin dabei als Versuch, die NS-Verbrechen zu begreifen und den Schmerz des Verlustes zu verarbeiten. Thomas’ Gegenüberstellung von Kallmus’ nüchternen und zugleich eindringlich emotionalen Schlachthausfotografien und Hannah Arendts philosophischer Sezierung des deutschen Umgangs mit der Shoah legt gleichzeitig offen, wie sich beide Frauen als kritische Kommentatorinnen ihrer Zeit positionierten, indem sie traditionelle Vorstellungen von ‚weiblichem‘ Schmerz unterliefen und zugleich individuelle und kollektive Schuld und Verantwortung für zugefügte Schmerzen und Traumata in Erinnerung riefen. Der Beitrag von Benedikt Grubešić in der Rubrik „Aus den Archiven“ widmet sich weiblichen Opfern von Gewalt und sexueller Gewalt im Kriegskontext. Grubešić stellt den digitalisierten Archivbestand der irischen Military Service Pension Collection (MSPC) ins Zentrum, der umfangreiche Informationen zur Entschädigung irischer Nationalist*innen für deren Einsatz während der Irischen Revolution (1916–1923) enthält. Anhand von ausgewählten Fallbeispielen illustriert er die massiven Nachwirkungen von Gewalt, denen politische Aktivistinnen ausgesetzt waren. Die Bemühungen der Frauen, eine Anerkennung für die erlittenen Schmerzen zu erreichen, unterstreichen ihre agency, belegen aber auch ihr häufiges Scheitern und eine strukturelle Genderdiskriminierung durch Gesetzgeber und Behörden. Textquellen allein bilden vergeschlechtlichten und verkörperten Schmerz nicht ab. Wie produktiv eine inter- und transdisziplinäre Herangehensweise für die Analyse von Schmerz, Geschlecht und Geschichte sein kann, wird auch in einem weiteren Beitrag in „Aus den Archiven“ von Tine Van Osselaer deutlich, die materielle Hinterlassenschaften von Frauen erforscht, die im Europa des 19. Jahrhunderts die Wunden des gekreuzigten Christus trugen und deswegen von der katholischen Kirche sowie Gläubigen verehrt wurden. Indem sie den Blick auf die Aufbewahrung und das Zeigen von devotionalen Objekten aus dem Besitz der stigmatisierten Frauen lenkt, kann die Autorin nicht nur die katholische Idealisierung ‚weiblichen‘ Leidens, das diese Frauen (etwa in Zusammenhang mit durch Flagellation zugefügten Schmerzen) verkörperten, sondern auch den maßgeblichen Einfluss männlicher Anhänger bei der späteren

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Mythenbildung nachzeichnen. Van Osselaers Beitrag ermöglicht gerade auch in der Zusammenschau mit dem Beitrag von Maria Heidegger erhellende Einblicke in eine zutiefst vergeschlechtlichte Praxis von Schmerzerfahrungen in religiösen Kontexten. Im „Forum“ analysiert Eftychia Kalaitzidou die Trauergesänge von Frauen in der Region Mani auf der griechischen Peloponnes im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Ihr Beitrag veranschaulicht, wie Frauen im Rahmen der ihnen traditionell zugewiesenen Rolle, die Toten öffentlich zu betrauern, nicht nur ihrem Schmerz Ausdruck verliehen, sondern auch ihre Benachteiligung in einer streng hierarchischen und patriarchalen Gesellschaft sichtbar machten. Die Frauen nutzten die Trauerlieder also als Bühne, um Kritik an der geltenden sozio-kulturellen Ordnung zu üben, aber auch um Moralvorstellungen und erwünschtes Verhalten sowohl von Männern als auch von Frauen durchzusetzen, wobei der Schmerz ihnen Legitimität verlieh. In der Rubrik „Im Gespräch“ diskutiert Kathleen Canning mit der Heftherausgeberin Heidrun Zettelbauer, was es bedeutet, historische Begriffe und Kategorien konsequent aus der Perspektive von Geschlecht und Körper zu betrachten. Canning, langjähriges Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von „L’Homme. Z. F. G.“, legt dar, wieso der Körper nie nur einen Ort von Einschreibungen, Machtbeziehungen oder der Internalisierung soziokultureller oder politischer Ordnungen, sondern zugleich immer auch einen potenziellen Ausgangspunkt für Widerstand, Selbstermächtigung oder Selbstrepräsentativität darstellt. Historische vergeschlechtlichte Subjekte reproduzieren somit nicht einfach existierende soziokulturelle und politische Körper- und Geschlechterordnungen, sondern erleben und erfahren diese, beurteilen und verändern sie dadurch beständig. Dies gilt auch für vergeschlechtlichte Schmerzwahrnehmungen. Alle im Themenschwerpunkt des Heftes versammelten Beiträge thematisieren auf je unterschiedliche Weise, wie Männer und Frauen mit den ihnen im Rahmen einer ‚Geschlechterordnung des Schmerzes‘ zugeschriebenen Rollen und Erwartungen umgingen, bei denen das Erdulden und Ertragen im Mittelpunkt stand. Sie eröffnen Einblicke in eine erstaunliche Vielfalt an historischen Vorstellungen und Normierungen, Wahrnehmungen und Handlungsweisen, die keineswegs immer entlang einer dichotomen Achse von ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ verlaufen und damit auch den hegemonialen Geschlechterdiskurs der Moderne herausfordern. Außerhalb des thematischen Schwerpunktes geht Elisa Heinrich in „L’HommeExtra“ der Frage nach, wie der deutsch-jüdische Bildungsbürger Hugo Münsterberg, der Ende des 19. Jahrhunderts in die USA emigrierte und dort wissenschaftliche Karriere machte, sich selbst in autobiografischen Dokumenten und Selbstzeugnissen als scientific persona konstruierte. Heinrich zeigt, dass Münsterberg, trotz aller demonstrierten Offenheit für kulturelle Unterschiede zwischen den USA und Deutschland, Frauen generell die Befähigung für eine wissenschaftliche Karriere absprach. In seinem Briefwechsel mit der jungen Käthe Schirmacher wird deutlich, wie sehr er die universitäre Ausbildung von Frauen als Gefahr für die bestehende Geschlechterordnung

Editorial

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und Arbeitsteilung betrachtete – und wohl auch als Bedrohung seines Status als männlicher Wissenschaftler. In der Rubrik „Aktuelles & Kommentare“ legt die Theologin Rita Perintfalvi im Rahmen der L’Homme-Serie zu Anti-Genderismus schließlich eindrücklich dar, wie die Regierung von Viktor Orbán, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Covid-Krise, den demokratischen Rechtsstaat in Ungarn immer mehr aushöhlt. Indem Orbán sich als Beschützer traditioneller patriarchaler Familienwerte präsentiert, macht er Stimmung gegen sexuelle Minderheiten und Feminist*innen, denen die Zerstörung der Familie und der christlichen Wertegemeinschaft angelastet wird. Perintfalvis Kritik richtet sich auch gegen die ungarische Kirche, die im Schulterschluss mit Orbán Pädophilie und Homosexualität diskursiv verschränkt, um von innerkirchlichen sexuellen Missbrauchsskandalen abzulenken. Themenspezifische Rezensionen von Marina Hilber, Clemens Ableidinger und Maria Fritsche sowie weitere außerhalb des Schwerpunktthemas stehende Besprechungen von Hanna Hacker, Isabella Löhr, Katharina Lenski und Ruth Ammann runden das Heft ab. Die gesamte Vorbereitung und redaktionelle Betreuung des vorliegenden Themenheftes fielen in die anhaltende Covid-19-Pandemie, die durch zahlreiche Lockdowns und radikal veränderte Arbeitsbedingungen – auch im (geschichts‐)wissenschaftlichen Kontext – gekennzeichnet war. Vielschichtige Erfahrungen mit Krankheit, Schmerz oder Isolation kennzeichneten diese Zeit: indirekt, indem der wissenschaftlich so wichtige produktive Austausch über mehr als zwei Jahre hinweg nur online möglich und Archive nur eingeschränkt zugänglich waren – und auch direkt, indem wir, wie viele andere, von Krankheit, Schmerz oder Tod persönlich betroffen waren. Zudem hat der seit Februar 2022 von Russland geführte Angriffskrieg gegen die Ukraine unsere Arbeit an diesem Heft beeinflusst und auf erschütternde Weise die Frage von Krieg, Gewalt und Geschlecht erneut auf die Tagesordnung gebracht. Die aktuell so präsenten und vielschichtigen Verflechtungen von Schmerz, Geschlecht und Geschichte, die wir derzeit miterleben, haben uns noch einmal deutlich vor Augen geführt, wie fragil soziokulturelle und politische Ordnungen sind und wie notwendig eine (historische) Geschlechterforschung ist, die sich an den Lebenswirklichkeiten von Menschen orientiert. Heidrun Zettelbauer, Maria Fritsche und Bożena Chołuj

Schmerzen unter der Geburt: Praxeologische Annäherungen an Schmerz und Geschlecht im 19. Jahrhundert

1.

Einführung

„Das Weib, empfindlicher als der Mann, erträgt leichter als dieser Schmerzen.“1 Mit dieser Feststellung brachte der Göttinger Professor Karl Friedrich Heinrich Marx (1796–1877) in seiner Schrift über Schmerzlinderung auf den Punkt, was im 19. Jahrhundert unter Medizinern2 common sense war: Von Frauen wurde erwartet, dass sie ihre Schmerzen tapfer ertrugen, und expressive Schmerzäußerungen wurden als sozial inadäquates Verhalten gewertet.3 In diesem Beitrag wird herausgearbeitet, welche Konsequenzen die im 19. Jahrhundert in der Medizin vorherrschende Deutung von Schmerzen bei Frauen für den Umgang mit Geburtsschmerzen hatte. Dabei werden Beschreibungen, Kategorisierungen und Wertungen von Schmerz unter der Geburt im praxeologischen Sinne als wissenschaftliche Praktiken verstanden, die – so die These dieses Textes – als wesentlich für die Verwissenschaftlichung der Geburt im 19. Jahrhundert anzusehen sind. Die Medizinhistorikerin Esther Fischer-Homberger betont in ihrer Arbeit zur Medizingeschichte des Schmerzes, die allerdings den akademischen geburtshilflichen Schmerzdiskurs nicht thematisiert, dass es das Ziel der Geburtshilfe gewesen sei, Frauen beim „Ertragen“ von Schmerzen lediglich zu unterstützten – sie bezieht sich hier auf die Zeit vor der Einführung „der schmerzlosen Geburt“ unter Anwendung von Chloroform

1 Karl Heinrich Friedrich Marx, Begriff und Bedeutung der schmerzlindernden Mittel, Göttingen 1851, 7. 2 In diesem Beitrag wird im Sinne einer geschlechtergerechten Sprache das Gendersternchen (Asterisk) verwendet. Die Termini Mediziner/(akademischer) Geburtshelfer werde ich jedoch mit der männlichen Endung bezeichnen, um sichtbar zu machen, dass es sich im Untersuchungszeitraum um einen Beruf handelte, der exklusiv für Männer zugänglich war. Auch die Wöchnerinnen, Gebärerinnen und Patientinnen der Universitätsfrauenkliniken werden mit der weiblichen Endung bezeichnet, da es sich hier ausschließlich um Frauen handelte. 3 Vgl. Karen Nolte, „Leiden mit Geduld“ – Schmerz und Geschlecht im 19. Jahrhundert. Praxistheoretische Rekonstruktionen, in: GENDER, 1 (2018), 29–46.

BEITRÄGE

Karen Nolte

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durch den schottischen Gynäkologen James Young Simpson (1811–1870) im Jahr 1847. Diese Aufgabe sei den Hebammen zugefallen.4 Dieser Beitrag untersucht geburtshilfliche Lehr- und Handbücher sowie publizierte und handschriftlich überlieferte Fallbeschreibungen aus der geburtshilflichen Praxis. In Stichproben wurden die Haus- und Tagbücher der Großherzoglichen Entbindungsanstalt Heidelberg5 und die Tagbücher des 1751 eingerichteten Königlichen Entbindungshospitals in Göttingen durchgesehen.6 Beide Anstalten gehörten zu den ersten deutschen Gründungen und entfalteten international Wirkung auf die Entwicklung der akademischen Geburtshilfe.7 Elaine Scarry hat in ihrer breit rezipierten Studie auf die „inexpressibility of pain“8 verwiesen und argumentiert, dass Schmerzerfahrungen Menschen auf sich selbst zurückwerfen und damit eine sprachliche Vermittlung von und Kommunikation über Schmerz unterbinden. Entgegen dieser These und an meine Forschungen zur Geschichte von Schmerz und Geschlecht anschließend, gehe ich davon aus, dass im 19. Jahrhundert in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten sehr ausführlich über Schmerz geschrieben wurde und diese Schilderungen als Schmerzpraktik zu verstehen sind. Viele Leidende brachten im 19. Jahrhundert ihre Wahrnehmungen sprachlich sehr differenziert zum Ausdruck. – Diese Charakterisierungen fanden Eingang in wissenschaftliche medizinische Texte zum Schmerz.9 Um den (individuellen) Umgang mit dem Geburtsschmerz aus der Perspektive der Gebärenden zu erforschen, wären Selbstzeugnisse aus verschiedenen sozialen Schichten notwendig, die aber nur von Frauen aus dem gebildeten Bürgertum oder Adel schriftlich überliefert sind. Die Tagebücher von Frauen aus dem pietistischen Bürgertum wurden genutzt, um die durch deren Glauben strukturierte Erfahrung zu rekonstruieren.10 Jürgen Schlumbohm 4 Vgl. auch Esther Fischer-Homberger, Hunger – Herz – Schmerz – Geschlecht. Brüche und Fugen im Bild von Leib und Seele, Bern 1997, 99–136, 123–126. 5 Gemäß der lückenhaften Überlieferung wurden durchgesehen: Universitätsarchiv Heidelberg (UAH), Acc. 2/95, Großherzogliche Entbindungsanstalt: Hausbücher 1821–1827 und 1828– 1837, Tagbücher 1829, 1831–1834, 1843, 1845. 6 Von den Tagbüchern des Königlichen Entbindungshospitals in Göttingen, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universitätsklinikum Göttingen wurden folgende Bände gesichtet: 4 (1795–97), 7 (1801–1802), 11 (1808–1809), 11 (1818–1820). Bände ohne Nummer: (1821– 1823), (1823–1824), (1825–1826), (1847). 7 Zur Geschichte der Entbindungsklinik in Heidelberg vgl. Eva Riedlsperger, Die Heidelberger Großherzogliche Entbindungsanstalt 1827–1851. Eine Sozialgeschichte der institutionalisierten Geburt in Heidelberg. Jahrbuch zur Stadtgeschichte 25 (2021), 47–66. 8 Elaine Scarry, The Body in Pain. The Making and Unmaking of the World, New York/Oxford 1985. Zur Rezeption von Scarrys These in der Körpergeschichte vgl. Jakob Tanner, Körpererfahrung, Schmerz und die Konstruktion des Kulturellen, in: Historische Anthropologie, 2 (1994), 488–502. https://doi.org/10.7788/ha.1994.2.3.489 9 Vgl. Nolte, Leiden, wie Anm. 3. Zur Medizingeschichte von Schmerz und Geschlecht vgl. auch Fischer-Homberger, Hunger, wie Anm. 4. 10 Vgl. hierzu Ulrike Gleixner, Todesangst und Gottergebenheit: Die Spiritualisierung von Schwangerschaft und Geburt im lutherischen Pietismus, in: Barbara Duden, Jürgen Schlumbohm u. Patrice

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wiederum hat Tag- und Hausbücher aus den Entbindungsanstalten analysiert, um eine Alltagsgeschichte der Geburt in nichtbürgerlichen Gesellschaftsschichten zu schreiben.11 Dieser Beitrag konzentriert sich hingegen auf die Thematisierung von Geburtsschmerz aus der Perspektive akademischer Geburtshelfer und fragt nach den Beschreibungen und Bedeutungszuweisungen von Schmerz in publizierten und handschriftlichen Texten in dieser im 19. Jahrhundert noch jungen medizinischen Teildisziplin der Geburtshilfe und Frauenheilkunde. In einer intersektionalen Perspektive soll analysiert werden, wie die Kategorien „gender“, „class“ und „race“ bei den geburtshilflichen Schmerzpraktiken zusammenwirkten. Zunächst soll jedoch der eingangs zugespitzt dargestellte Zusammenhang zwischen Schmerz und Geschlecht in der Medizin im 19. Jahrhundert näher ausgeführt werden, um dann im zweiten Schritt spezifischer auf geburtshilfliche Praktiken im Umgang mit Schmerz einzugehen.

2.

Schmerz und Geschlecht

In der medizinhistorischen Forschung wird betont, dass sich seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert die medizinischen Vorstellungen von der Genese des Schmerzes tiefgreifend gewandelt haben. Mit Descartes’ mechanistischem Schmerzmodell habe nach Fischer-Homberger ein Prozess der Distanzierung vom Schmerz begonnen, demzufolge Schmerz zunehmend als „rein körperliches Ereignis“ konzipiert wurde. An die Stelle des religiösen christlichen Verständnisses der Erlösung durch den Schmerz sei das naturwissenschaftlich geprägte Verständnis der Erlösung vom Schmerz getreten.12 Während der Schmerz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch gemäß des humoralpathologischen Körperkonzepts als etwas begriffen wurde, das von einem komplexen Zusammenspiel von Leib und Gemüt verursacht wurde, definierten nervenphysiologisch begründete wissenschaftliche Überlegungen Schmerz als ein rein körperliches Phänomen, das durch Reizungen des Nervensystems hervorgerufen werde.13 Frauen wurde in der medizinischen Lehre des 19. Jahrhunderts zugeschrieben, die empfindlicheren Nerven zu haben. Das bedeutete, dass das weibliche Geschlecht Veit (Hg.), Geschichte des Ungeborenen. Zur Erfahrungs- und Wissenschaftsgeschichte der Schwangerschaft, Göttingen 2002, 75–98. Sie betonte, dass im 18. Jahrhundert Frauen im pietistischen Bürgertum nahegelegt wurde, sich während der Schwangerschaft seelisch auf die Schmerzen während der Geburt vorzubereiten und die Haltung der Gottergebenheit einzunehmen (83). 11 Vgl. Jürgen Schlumbohm, Lebendige Phantome. Ein Entbindungshospital und seine Patientinnen 1751–1830, Göttingen 2016. 12 Vgl. Fischer-Homberger, Hunger, wie Anm. 4, 104. 13 Vgl. Fischer-Homberger, Hunger, wie Anm. 4, 104–111. Vgl. auch Karen Nolte, Todkrank. Sterbebegleitung im 19. Jahrhundert: Medizin, Krankenpflege und Religion, Göttingen 2016, 158–162.

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demzufolge für Hyperästhesie – Schmerzüberempfindlichkeit – prädisponiert war. Männer hingegen zeigten paradoxerweise im stärkeren Maße eine „geistige Empfindlichkeit“ gegen Schmerzen, die „gerade bei den stärksten Männern“ häufiger vorkomme. Da auch „zarten“, „nervösen“ Frauen ein weniger komplexer „Geist“ attestiert wurde, hätten sie nicht selten „die Fähigkeit, Schmerzen mit Gleichmuth zu ertragen“.14 Auch der eingangs zitierte Satz des Mediziners Marx verdeutlicht diese Auffassung, wonach Frauen in der Lage seien, Schmerzen gelassen zu ertragen. Chirurgischen Fallbeschreibungen aus der Zeit vor der Einführung der Tropfnarkose mit Äther und wenig später mit Chloroform zeigen, dass Operateure Frauen zumuteten, operative Eingriffe bei vollem Bewusstsein ohne oder nur mit geringer Schmerzlinderung auszuhalten, während Männern starke Schmerzmittel wie Opiate verabreicht wurden. Im internationalen Vergleich ergibt sich ein anderes Bild. In den USA etwa wurden Frauen als das angeblich schmerzempfindlichere und nervöse Geschlecht sehr viel häufiger narkotisiert als Männer. Die Forschungen Martin Pernicks zeigen jedoch auch, dass Schmerz in den USA klassen- und rassespezifisch konzipiert wurde: Die Medizin betrachtete Frauen der „lower classes“ und schwarze Frauen als weniger schmerzempfindlich, weswegen sie ihnen eine Narkose mit Äther oder Chloroform vorenthielt.15

3.

Geburt, Schmerz und Natürlichkeit

Angesichts der Leidensfähigkeit, die Frauen im 19. Jahrhundert im Allgemeinen zugeschrieben wurde, liegt die Vermutung nahe, dass von ihnen erwartet wurde, auch den Schmerz während der Geburt standhaft zu ertragen. Die geburtshilflichen Lehrbücher sowie publizierte und handschriftlich überlieferte, unpublizierte Kasuistiken zeigen eine intensive Beschäftigung der Mediziner mit dem Charakter und der Funktion der Wehen sowie mit der Qualität des Geburtsschmerzes. Die Schmerzen der Kreißenden wurden von den männlichen akademischen Geburtshelfern aufmerksam beobachtet und dokumentiert. Denn diese waren Teil des Geburtsprozesses, der von der noch jungen medizinischen Disziplin genau erforscht wurde, um sich von der als empirisch und ‚handwerklich‘ charakterisierten weiblich geprägten Geburtshilfe der Hebammen abzugrenzen. Hierbei interessierten sich die Ärzte wenig für das subjektive Schmerzerleben der Gebärenden. Vielmehr stand die Intensität der Wehen und somit des 14 Gustav Adolf Spiess, Krankhafte Störungen in der Thätigkeit des Nervensystems (Nervenkrankheiten), in: Rudolph Wagner (Hg.), Handwörterbuch der Physiologie mit Rücksicht auf physiologische Pathologie, Dritter Band, zweite Abtheilung, Braunschweig 1846, 162, vgl. auch Nolte, Todkrank, wie Anm. 13, 162f. 15 Vgl. Martin S. Pernick, A Calculus of Suffering. Pain, Professionalism, and Anesthesia in Nineteenth Century America, New York 1985, 196–207.

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Geburtsschmerzes im Fokus. Dieser wurde im Kreißsaal der um 1800 an den Universitäten gegründeten Entbindungskliniken genauestens registriert und eingeschätzt: Sowohl zu schwache als auch zu starke Wehen boten Anlass zur Intervention von Seiten akademisch ausgebildeter Geburtshelfer, um somit die Geburt „künstlich“ mit mechanischer „Hülfe“ zu beschleunigen respektive zu beenden. Die unerträglichen Schmerzen der Gebärenden dienten als Legitimation, den ‚natürlichen‘ Lauf der Geburt zu unterbrechen und insbesondere die Zange als eines der neu in die Geburtshilfe eingeführten Instrumente einzusetzen. Der Heidelberger Professor für Geburtshilfe, Franz Carl Naegele (1778–1851), definierte Wehen als „von Schmerzgefühl begleitete Zusammenziehungen der Gebärmutter, bestimmt zur Austreibung der Frucht“.16 Ferner seien Wehen in „wahre“ und „falsche“ einzuteilen: Erstere rühren vom „Zusammenziehen der Gebärmutter“ her, letztere hätten ihren „Sitz in den Gedärmen“ oder seien durch „Erkältungen“ respektive „Gemüthserschütterungen“ verursacht.17 Die „wahren“ Wehen zeichneten sich durch ihre produktive Kraft aus, da nur sie einen „wahrnehmbaren Einfluß auf den Muttermund und die in ihm befindlichen Theile“ hätten. Die „falschen“ Wehen hingegen zeigten sich in „unordentlichen“ und „oft kolikhaften Schmerzen“, die keine „fühlbare Veränderung in der Gebärmutter“ hervorbrächten, „den Fortgang der Geburt nicht fördern, vielmehr eher aufhalten“ würden.18 In seinen handschriftlichen „Tagbüchern der Großherzoglichen Entbindungsanstalt“ der Universität Heidelberg beschrieb Naegele verschiedene Stadien der Wehen und Geburtsschmerzen: die „vorbereitenden“ oder „gelinden Wehen“ der ersten Geburtsphase, die mit Fortschreiten des Geburtsgeschehens in „kräftige“ Wehen übergingen, gefolgt von „sehr wirksamen Wehen“, denen zufolge sich der „Muttermund schnell bis zum hinlänglichen Grade“ öffnete.19 Auch die Heidelberger Fallgeschichten schildern Geburtsschmerzen: Die Gebärenden klagten über „Schmerzen im Kreutze“, „Leibschmerz“, denen die Geburtshelfer zuweilen mit Dampfbädern und seltener als in Göttingen mit dem Einsatz der Geburtszange begegneten.20 Ausführlicher setzt sich der Göttinger Professor der Geburtshilfe, Friedrich Benjamin Osiander, mit den Geburtsschmerzen der Kreißenden in seiner Entbindungsanstalt auseinander. Er betonte, dass mit der „Beförderung der Frucht zur Welt“ es „ganz und gar nicht nothwendig“ sei, dass „wirkliche Schmerzen damit verbunden“ seien.21 Unter den „gebildeten Ständen“ gebe es „ganz schmerzlose Geburten zeitiger 16 17 18 19 20

Franz Carl Naegele, Lehrbuch der Geburtshülfe für Hebammen, Heidelberg 1836, 95. Naegele, Lehrbuch, wie Anm. 16, 96. Naegele, Lehrbuch, wie Anm. 16, 96. UAH, Acc. 2/95, Großherzogliche Entbindungsanstalt, Tagbuch 1829, 20. Vgl. UAH, Acc. 2/95, Großherzogliche Entbindungsanstalt, Tagbuch 1827, 11, 12, 16, 32, 34 und 62. An dieser Stelle sei Charlotte Meenken für die Hinweise auf diese Fallgeschichten gedankt. 21 Friedrich Benjamin Osiander, Neue Denkwürdigkeit für Aerzte und Geburtshelfer, erster Band, Göttingen 1799, 73f.

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Kinder“. In einem recht abfälligen Ton fährt Osiander fort: „Manches junge und zärtlich erzogene Mädchen konnte das kindische Wimmern sehr gut lassen, wenn es darauf ankam, stille zu seyn, um heimlich zu gebären, oder mit dem Stilleseyn einen Vorteil zu erlangen.“22 Die Art und Weise wie Osiander über die heimlich Gebärenden aus den „gebildeten Ständen“ schrieb ist auch deshalb bemerkenswert, da Mädchen und Frauen aus dem Bürgertum zu jenen gehörten, die der Geburtshelfer als zahlende Klientel diskret im Hinterzimmer des Göttinger Entbindungs-Hospitals entband.23 Osiander widersprach zugleich der Ansicht einiger seiner Zeitgenossen, die davon ausgingen, dass die ‚zivilisierte‘ Frau verlernt habe, quasi ‚natürlich‘ ohne Schmerzen zu gebären.24 Das „Leichtgebären“ sei kein Vorzug der „wilden Menschen“, die er allerdings in einem Atemzug mit den „Thieren“ nennt: Vielmehr, und das ist sein entscheidendes Argument, würden die sogenannten Wilden – darunter fasst er die indigene Bevölkerung Nordamerikas und Afrikas – ihre Frauen nicht nur mitleidslos unter Schmerzen gebären lassen, ohne ihr Leid zu lindern, sondern „barbarische Nationen“ würden die Geburtsschmerzen noch steigern, indem Geburtshelferinnen sich „rittlings“ auf den Bauch der Gebärenden setzten, um die Frucht gewaltsam aus dem Mutterleib zu drücken. Mit der drastischen Schilderung dieser als „barbarisch“ markierten Praktiken betonte Osiander den Unterschied zur wissenschaftlich fundierten, ‚zivilisierten‘ europäischen Geburtshilfe, die den Geburtsschmerz genau beobachte, charakterisiere und Methoden entwickele, um die Schmerzen der Kreißenden zu lindern oder gar ganz zu vermeiden: „Je mehr die Entbindungskunst vervollkommnet wird, desto mehr wird dieser Zweck der Kunst, das Gebären leicht und angenehm zu machen, unter gebildeten Nationen erreicht werden.“25 Auch der ärztliche Geburtshelfer Justus Heinrich Wigand (1769–1828) aus Hamburg betonte 1807, dass es die Aufgabe der „Geburtshelfer kultivirter Nationen“, das heißt der akademischen Medizin sei, die „Leiden der Gebärenden um vieles zu mildern“.26 Um 1900 beschäftigten sich zwei Autorinnen von Gesundheitsratgebern ebenfalls intensiv mit dem Geburtsschmerz – diese Frauen schrieben sich dabei in den Diskurs der akademischen Geburtshilfe ein, distanzierten sich jedoch zugleich aus einer medizinkritischen Perspektive von demselben, wie im Folgenden näher ausgeführt wird. Anna Fischer-Dückelmann (1856–1917) gehört zu einer Gruppe von deutschen 22 Osiander, Neue Denkwürdigkeit, wie Anm. 21, 74. 23 Vgl. Jürgen Schlumbohm, Verbotene Liebe, verborgene Kinder. Das Geheime Buch des Göttinger Geburtshospitals 1794–1857, Göttingen 2018. 24 Vgl. Dietrich Wilhelm Heinrich Busch, Handbuch der Geburtskunde in alphabetischer Ordnung, vierter Band: Paedobaromacrometrum bis Zwitter, Berlin 1843, 30: „Bei kultivirten Völkern ist die Geburt schmerzhafter als bei unkultivirten.“ 25 Osiander, Neue Denkwürdigkeit, wie Anm. 21, 79. 26 Justus Heinrich Wigand, Was kann die Kunst thun, um die Schmerzhaftigkeit der Wehen zu mildern?, in: Hamburgisches Magazin für die Geburtshülfe, 1 (1807), 38.

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Ärztinnen, die schon vor der Zulassung von Frauen zum Universitätsstudium im Deutschen Reich Medizin in der Schweiz studiert hatten.27 In der ersten Auflage ihres Gesundheitsratgebers „Die Frau als Hausärztin“28, in dem sie ein langes Kapitel dem Thema Schwangerschaft und Geburt widmete, argumentierte sie: „Bei ganz wilden Völkern bleibt die Frau in ihrer sogenannten ‚schweren Stunde‘ ohne jegliche Hilfe und Unterstützung. Sie ist allein, besorgt die nötigen Handgriffe allein und niemand zeigt ihr Teilnahme. Auch beim Tiere finden Entbindungen in dieser Weise statt. Gesund, kräftig und unbefangen, wie Menschen der untersten Kulturstufe sind, haben sie dies auch nicht nötig, und selten verunglückt eine Mutter dabei.“29

Die Abbildungen30 der Niederkunft von Frauen sogenannter Naturvölker in Afrika oder in Nordamerika unterstreichen die ‚Natürlichkeit‘ der Geburt als Kontrast zu den jungen „verweichlichten, blutarmen, untüchtigen“ Frauen, die durch den Einfluss der ‚Zivilisation‘ aufgrund „krankhafter Reizbarkeit oder Aengstlichkeit“ nicht mehr fähig seien, schmerzlos zu entbinden. Das könne jedoch durch „Kräftigung, Abhärtung und Aufklärung“ der Mädchen verhindert werden.31 Fischer-Dückelmanns These von der ‚einsamen Geburt‘ abseits der Gemeinschaft bei den „Naturvölkern“ stehen im Widerspruch zu ihren Ausführungen über Gymnastik und Massage zur Linderung des Geburtsschmerzes, mit der „Ehemänner“ in der indigenen Bevölkerung Nordamerikas ihren gebärenden Frauen während einer Geburt bei krampfhaften Wehen helfen würden. Hier kontrastierte die Ärztin das Stereotyp des ‚Natürlichen‘ mit den ‚zivilisierten‘ Gebärenden, die dieses Körperwissen nicht (mehr) hätten.32 Fischer-Dückelmann, die Vertreterin der Naturheilbewegung war, verlieh damit auch ihrer kritischen Haltung gegenüber der ‚Schulmedizin‘ Ausdruck.33 Der naturnahe Umgang mit dem Geburtsschmerz dient hier als Abgrenzungsfolie zur Medizin, die sich von der Natur schon entfernt habe. Die Haltung der studierten Ärztin und Naturheilkundlerin Fischer-Dückelmann war durchaus ambivalent: So bewertete sie den Umstand, dass in Europa die Geburt nicht mehr von Frauen und Hebammen allein ausgeführt werde, sondern die Geburtsmedizin Einzug gehalten habe, als kulturelle Errungenschaft. Sie setzte dabei die „unwissenden“ Wehmütter der Vormoderne gleich mit den Geburts-

27 Vgl. Johanna Bleker, Die ersten Ärztinnen und ihre Gesundheitsbücher für Frauen. Hope Bridge Adams Lehmann (1855–1916), Anna Fischer-Dückelmann (1856–1917) und Jenny Springer (1860–1917), in: Eva Brinkschulte (Hg.), Weibliche Ärzte. Die Durchsetzung des Berufsbildes in Deutschland, Berlin 1993, 65–83. 28 Anna Fischer-Dückelmann, Die Frau als Hausärztin, Stuttgart 1901. 29 Fischer-Dückelmann, Die Frau, wie Anm. 28, 705. 30 Vgl. Fischer-Dückelmann, Die Frau, wie Anm. 28, 665, Fig. 374; 669, Fig. 377. 31 Fischer-Dückelmann, Die Frau, wie Anm. 28, 665. 32 Fischer-Dückelmann, Die Frau, wie Anm. 28, 668. 33 Vgl. Patrick Bochmann, Frauen in der Naturheilbewegung: Anna Fischer-Dückelmann und Klara Muche: Ihre Lebenswege, medizinischen und insbesondere frauenheilkundlichen Auffassungen, Hamburg 2018, besonders 149–163.

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helfer*innen der „Naturvölker“, denen die Erkenntnisse der modernen Medizin fehlten.34 Eine weniger bekannte Vertreterin der Naturheilbewegung und Mitautorin von Gesundheitsratgebern war Klara Muche (1850–1926), eine ausgebildete Lehrerin und autodidaktische Gesundheitsaufklärerin.35 Sie gab das ins Deutsche übersetzte Buch über „Die schmerzlose Entbindung“ von M. Collins heraus.36 In dem von ihr verfassten Anhang argumentierte Muche, dass europäische ‚zivilisierte‘ Frauen sich schon weit von der angeblich natürlichen Lebensweise schwarzer Frauen entfernt hätten. Letztere würden „leicht“ – will heißen schmerzlos – entbinden, nicht weil sie einen anderen Körperbau hätten als mitteleuropäische weiße Frauen, sondern, weil sie sich ‚natürlich‘ ernährten: „Kurz, die Diät ist bei diesen Völkern die einzige Ursache, auf welche leichte oder schwierige Entbindungen im allgemeinen zurückzuführen sind.“37 Auch Muche berief sich auf weitverbreitete Vorstellungen von ‚Natürlichkeit‘, um die Vorzüge der „Naturheilkunde“ gegenüber der akademischen Medizin zu begründen. Dieser kurze Exkurs zeigt, wie sich das Selbstverständnis der europäischen Geburtsmedizin in Abgrenzung zu Hebammen und Geburtspraktiken sogenannter „Naturvölker“ herausbildete. Zugleich dienten letztere als Beispiel, um den Verlust der ‚Natürlichkeit‘ der Geburt, die den ‚zivilisierten‘ Frauen vermeintlich verloren gegangen zu sein schien, zu veranschaulichen: Eng verbunden mit der Vorstellung von ‚Natürlichkeit‘ war dabei je nach Perspektive das Empfinden des Geburtsschmerzes oder der Umgang mit ihm. Im folgenden Abschnitt werden Schmerzbeschreibungen und -deutungen der im 19. Jahrhundert noch jungen universitären Geburtsmedizin in den Blick genommen, wobei herausgearbeitet werden soll, welches ärztliche Handeln daraus folgte.

4.

Schmerzbeschreibungen und Interventionen

Justus Heinrich Wigand fragte 1807 das Fachpublikum: „Was kann die Kunst thun, um die Schmerzhaftigkeit der Wehen zu mindern?“ Dafür müssten, so Wigand, zunächst die Ursachen ihrer „Schmerzhaftigkeit“ ausgemacht werden, wobei er drei Punkte nannte: erstens die „gewaltsame […] Ausdehnung oder Erweiterung des Muttermundes und aller der weichen Theile, durch welche das Kind bei der Geburt 34 Fischer-Dückelmann, Die Frau, wie Anm. 28, 705. 35 Vgl. Annette Kerckhoff, Wichtige Frauen in der Naturheilkunde. Ihr Leben – Ihr Werk – Ihre Schriften, Berlin 2020, 145–150. Kerckhoff würdigt Muche als Naturheilkundlerin, ohne ihre sozialdarwinistische und rassifizierende Argumentation zu erwähnen. 36 Zu Collins konnten keine näheren Angaben gefunden werden. 37 Klara Muche (Hg.), Die schmerzlose Entbindung. Verhaltensregeln zur Vermeidung und Gefahren der Niederkunft von Prof. Dr. M. Collins, fünfte und verbesserte Auflage. Mit einem Anhange: Über die Vorbeugung der Empfängnis, Leipzig 1898, 37.

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getrieben wird“; zweitens den „Rheumatismus der Gebärmutter“, der zu einer besonderen Empfindlichkeit der Gebärmutter und zu lokalen Schwächen ihres Muskels führte; drittens die „unüberwindlichen Hindernisse der Geburt“, zu denen Wigand eine Verengung des Beckens oder „höchst regelwidrige Lagen“ des Kindes zählte.38 Der Schmerz der Kreißenden rechtfertigte nach allgemeiner Ansicht der Medizin ein Eingreifen des Geburtshelfers in den Geburtsvorgang. Die Folgen der starken, schmerzhaften Aufdehnung der Weichteile könnten durch einen „in dem Damm gemachte[n] Schnitt“ abgemildert werden, meinte Wieland, da die Geburt auf diese Weise erleichtert und die Heilung eines Schnittes schneller geschehe als die eines Risses. Außerdem schlug er vor, den „Rheumatismus der Gebärmutter“ durch örtliche Einreibung mit einer opiathaltigen Tinktur zu lindern. Die genannten „Hindernisse“, die der Geburt entgegenstünden, könnten bei Enge des Beckens durch „mechanische Hülfe“ überwunden werden, worunter der Einsatz der Geburtszange und im schlimmsten Fall der Kaiserschnitt respektive die Perforation des Kindskopfes zu verstehen war. Die beiden letzteren Interventionen überlebte entweder die Gebärende oder das Kind nicht, mitunter ließen beide ihr Leben. Die entscheidende Frage, die sich dem ärztlichen Geburtshelfer stelle, sei die folgende: „[…] wie lange kann und soll der Geburtshelfer in solchen Fällen auf die Selbsthülfe der Natur hoffen, und die mechanische Hülfe aufschieben?“39 Es war also die Einschätzung der „Schmerzhaftigkeit“ von Wehen oder Geburt, welche den Anlass oder die Legitimation zur ärztlichen Intervention mit Instrumenten in den Geburtsprozess beziehungsweise kleineren oder größeren chirurgischen Operationen bot. Die „Tagbücher der Königlichen Entbindungs-Anstalt zu Göttingen“, die von Friedrich Benjamin Osiander akribisch geführt wurden, stellen eine besonders ergiebige Quelle für ärztliche Beschreibungen und Einschätzungen von Geburtsschmerz dar. Er notierte für jede Fallgeschichte seine Beobachtungen und Ergebnisse der Befragung der Schwangeren und hielt den Verlauf der Geburt fest.40 Die Fallgeschichten in diesen „Tagbüchern“ illustrieren, so der Historiker Jürgen Schlumbohm, „wie der Geburtshelfer in der Praxis mit der heiklen Grenze zwischen Wissen und Unwissen“ umging.41 Dementsprechend waren auch Beschreibungen des Geburtsschmerzes Teil jener eifrig gesammelten Beobachtungen, mit denen Osiander Wissen über die Vorgänge während der Geburt zusammentrug, um eine Verwissenschaftlichung der Geburtshilfe voranzutreiben. Der Arzt dokumentierte Vorkommen und die Qualität des Schmerzes unter der Geburt genauestens. 38 Wigand, Was kann, wie Anm. 26, 39–44. 39 Wigand, Was kann, wie Anm. 26, 46. 40 Zur Struktur der Fallgeschichte in den Tagbüchern Osianders vgl. Jürgen Schlumbohm, Der Blick des Arztes, oder: wie Gebärende zu Patientinnen wurden. Das Entbindungshospital der Universität Göttingen um 1800, in: Jürgen Schlumbohm u. a. (Hg.), Rituale der Geburt. Eine Kulturgeschichte, München 1998, 174–178. 41 Schlumbohm, Lebendige Phantome, wie Anm. 11, 246.

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Am 14. August 1795 kam etwa die 25-jährige Sophia Carolina Küster in das Göttinger Gebärhaus, nachdem sie „schon die ganze Nacht Wehen verspürt“ hatte. Ihr Muttermund war bereits „zwei Finger breit“ geöffnet. Sie hatte den „ganzen Tag hindurch […] heftige Wehen“ gehabt. Die „Wasser“ seien um ungefähr 4 Uhr am Nachmittag „gebrochen“. Der Kopf sei lange vor dem Eingang in das Becken stehengeblieben. „Die Wehen kamen nachher besser, aber waren doch nicht sehr wirksam. So stark und schmerzhaft sie ihr auch waren.“ Osiander reagierte auf die wenig ‚produktiven‘ Wehen wie folgt: „Ich lies daher um 1 Uhr Morg[ens] die Zange anlegen.“ Ein Knabe wurde nach 20 „Tractionen“ zunächst „todtschwach“ geboren, jedoch dann erfolgreich „zum völligen Leben“ gebracht. Somit betonte der Arzt, dass er durch sein Eingreifen die Geburt zu einem glücklichen Ende gebracht hatte.42 Über eine andere Gebärende, Anna Catharina Koch, die 1795 in die EntbindungsAnstalt kam, schrieb Osiander spürbar beeindruckt, dass sie seit 5 Uhr am späten Nachmittag Wehen verspürt und noch „den Tag über im Feld gearbeitet“ habe. Gegen Ende der Geburt seien die Wehen „stark“ gekommen. „Die Gebärerin lies aber keinen Laut von sich gehen; sie verhielt sich die ganze Zeit hindurch vollkommen stille.“43 Diese Fallgeschichte gibt Einblick in die Lebenswelt einer Magd, die der Geburt offenbar wenig Raum in ihrem harten Arbeitstag gab, aber dennoch das Entbindungshospital aufsuchte, um Hilfe beim Gebären zu erhalten. Bemerkenswert für Osiander war hier also, dass die Kreißende kaum Schmerzen äußerte und dieselben still ertrug. Bedeutsam erscheint an dieser Stelle die Parallele zwischen Osianders Konstruktion einer ‚natürlichen‘, nämlich schmerzlosen Geburt bei nicht-bürgerlichen Schichten und der rassifizierenden Darstellung von Geburten bei indigenen „Naturvölkern“. Des Öfteren werden in den Fallgeschichten schmerzhafte Wehen erwähnt, besonders dann, wenn der Kopf wegen eines verengten Beckens im Geburtskanal stecken blieb.44 Bei einer „Gebärerin“ steckte das Kind im Geburtskanal fest, da „die Stirne nach dem rechten, das Kinn nach dem linken Darmbein gerichtet war. Die Wehen seien „immer schmerzhafter“ geworden, so dass die „Gebärerin laut aufschrie“.45 Der Göttinger Geburtshelfer beendete solche und andere erschwerte und schmerzhafte 42 Fallgeschichte Nr. 195, Sophia Carolina Küsterin, 1795, in: Tagbuch der Königlichen Entbindungs-Anstalt zu Göttingen, Bibliothek des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin des Universitätsklinikums Göttingen [Im Weiteren: Tagbuch Göttingen]. 43 Fallgeschichte Nr. 196, Anna Catharina Kochin, 1795, in: Tagbuch Göttingen. 44 Vgl. Fallgeschichte Nr. 57, Friderica Henrica Diefin, 1819, in: Tagbuch Göttingen: „Enge Geburtstheile. Ungeachtet d. Kopf im Ein- und Durchschneiden völlig eine Stunde verweilte, so schrie doch das Kind, so bald der Kopf geboren war und da ganz geboren war, sehr laut, zum Beweis, daß es durch den Druck des Kopfes nicht in Betäubung versetzt wird.“ Vgl. auch Fallgeschichte Nr. 72, Christina Kochin, 1819, in: Tagbuch Göttingen. Osiander ließ die Zange mit dieser Begründung anlegen: „Sie hatte viele und ihren Klagen nach schmerzhafte Wehen.“ Und der Kopf des Kindes bewegte sich offenbar nicht vorwärts. 45 Fallgeschichte Nr. 241, Carolina Grisard, 1796, in: Tagbuch Göttingen.

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Geburten mit Hilfe einer Geburtszange. Vielfache „Tractionen“, das Ziehen mit der Geburtszange, waren notwendig, um das Kind aus dem Mutterleib herauszuholen: Die mit der Anwendung der Geburtszange verbundenen Schmerzen werden von Osiander kaum erwähnt, gleichwohl dies eine durchaus leidvolle Prozedur war.46 Sehr eindrücklich beschrieb sein ebenfalls als Arzt tätiger Sohn, Christian Friedrich Osiander (1789–1839), wie eine Gebärende „schrie und trat, dass sie von 4 Herren gehalten werden mußte“, während er seine linke Hand vaginal in den Geburtskanal schob, die Arme des Kindes „löste“ und den Kopf „mittelst Zange“ herauszog.47 Häufig sah Friedrich Benjamin Osiander sich bei starken, lang anhaltenden Schmerzen beziehungsweise schmerzhaften, aber ‚unwirksamen‘ Wehen zur Anwendung einer Geburtszange veranlasst, um auf diese Weise eine schmerzhafte Geburt schnell zu beenden.48 Bei einer Kreißenden etwa waren die Wehen „äußerst schmerzhaft u. die Schmerzen vorzüglich im Kreuz. Da die Geburtsschmerzen sehr heftig und ohne Wirkung“ waren, kam wieder die Zange zum Einsatz.49 Bei vielen Gebärenden dokumentierte Osiander, dass sie nach der „Hülfe“ des Arztes verlangt hätten, um die aktive Rolle der Gebärenden bei der Entscheidung für operatives Eingreifen des Geburtshelfers zu betonen. So habe ein Dienstmädchen aus Kassel, nachdem die Wasser „gebrochen“ waren, „schmerzhafte schreyende Wehen“50 bekommen. Der Professor hob hervor: „Sie verlangte selbst Hülfe. Diese leistete ich unter anhaltenden Wehen. Als die Zange angelegt war, warf sich die Kreißende unter Schmerzen hin und her, so daß man sich sehr in Acht nehmen mußte.“ Es seien noch einige Mühen notwendig gewesen das „magere Knäbchen“ herauszuziehen. Das Kind habe sich rasch von der schweren Geburt erholt, so dass sich die ärztlichen Anstrengungen gelohnt hatten.51 Selten wurde bei starken Schmerzen vom Einsatz der Geburtszange abgesehen: Einer Kreißenden ließ Osiander den Leib mit Öl einreiben und warme Tücher auflegen, um ihre Schmerzen zu lindern. Am Ende der Geburt hatte die Kreißende die „heftigsten und öftesten Wehen“. Beeindruckt schrieb er: „Sie gab auch nicht einen Laut von sich, und zeigte, daß man die stärkste Wehe ohne Schmerzen verarbeiten könne.“52 Wenn Geburten ohne große Schmerzäußerungen abliefen, griff der Arzt nicht in ihren Verlauf ein. Andere Fallgeschichten beschreiben, dass auch zu schwache Wehen das Eingreifen des ärztlichen Geburtshelfers forderten, der in diesem Falle zu einem „Wassersprenger“ 46 47 48 49

Vgl. Fallgeschichte Nr. 207, Catharina Barbara Geblin, 1795, in: Tagbuch Göttingen. Fallgeschichte Nr. 102, Anna Christina Heppin, 1819, in: Tagbuch Göttingen. Vgl. u. a. Fallgeschichte Nr. 240, Maria Catharina Boldin, 1796, in: Tagbuch Göttingen. Fallgeschichte Nr. 281, Christina Antenbach, 1796, in: Tagbuch Göttingen, vgl. auch Fallgeschichte Nr. 286, Anna Maria Margaretha Birkenfeldin, 1796, in: Tagbuch Göttingen; Fallgeschichte Nr. 308, Sophia Amalia Wigandin, 1796, in: Tagbuch Göttingen. 50 Diese expressiv zum Ausdruck gebrachten Wehen stehen im Gegensatz zu der ebenfalls beschriebenen lautlosen verheimlichten Geburt. 51 Vgl. exemplarisch Fallgeschichte Nr. 53, Catharina Schweißin, 1819, in: Tagbuch Göttingen. 52 Fallgeschichte Nr. 209, Carolina Müllerin, 1795, in: Tagbuch Göttingen.

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griff, einem dünnen Troicar, mit dessen Nadel durch den Muttermund die Fruchtblase angestochen wurde, um so die Wehen auszulösen.53 Die Frauen, die in die Göttinger Entbindungs-Anstalt kamen, befanden sich größtenteils in einer sozialen Zwangslage, da sie zum Beispiel als Dienstmädchen in der Stadt auf keine Hilfe bei einer bevorstehenden Geburt hoffen konnten. Die meisten gehörten unteren sozialen Schichten an, waren ledig schwanger geworden und hatten ihre Stellung verloren. Die Tagbücher dokumentieren, dass es ihnen sehr schwer fiel, sich vor den männlichen Ärzten zu entblößen.54 Zuweilen ließen Gebärende sich wohl aus diesem Grund weder Wehen noch Schmerzen anmerken, damit die Medizinstudenten nicht mehr rechtzeitig zur Geburt aus der Stadt zur Geburt geholt werden konnten. In 44 von 1.300 Geburtsprotokollen bemerkte Osiander, dass die Kreißenden ihre Wehen verschwiegen, um einer öffentlichen Geburt zu entgehen. Auch wäre denkbar, dass sie ihre Wehen verheimlichten, um das ärztliche Eingreifen mit Geburtszange zu umgehen.55 Mit dem Verheimlichen des Schmerzes entzogen sich Gebärende der nichtbürgerlichen Gesellschaftsschichten also mehr oder weniger erfolgreich der öffentlichen Geburt im Göttinger Entbindungshospital – dieses Unterdrücken des Geburtsschmerzes kann somit auch als eine klassenspezifische Praktik gedeutet werden. Bei einem Dienstmädchen, das in Osianders Entbindungshospital aufgenommen worden war, schrieb dieser zu ihrer Niederkunft: „Sie hatte solche [die Wehen] aufs muthwilligste verheimlicht und vorgegeben sie habe keine Wehen eher verspürt. Sie war zuvor auf, gieng in der Nacht umher und sagte nichts, daß sie Drängen zum Kinde verspüre. Kaum war sie mit Eile an den Stuhl gebracht, als das Kind im Stehen von ihr auf die Erde stürzte.“56

In wenigen Fällen vermerkte Osiander auf dem Blatt, auf dem üblicherweise die Geburt protokolliert wurde, lediglich die Aussage „natürlich leicht“57 oder einfach „natürlich“58. Bei den solcherart kategorisierten Geburten wurde ärztliches Eingreifen als nicht notwendig angesehen. Schlumbohm hat in seinen Forschungen betont, dass die Abgrenzung von ‚natürlichen‘ und ‚widernatürlichen‘ Geburten, die „mit Hülfe der Kunst“, das heißt mit Hilfe von Instrumenten, beendet werden sollten, die akademi53 Vgl. Fallgeschichte Nr. 208, Angelica Sophia geb. Schwenner, 1795, in: Tagbuch Göttingen; vgl. auch Fallgeschichte Nr. 149, Magdalena Teßnerin, 1809, in: Tagbuch Göttingen. 54 Vgl. Schlumbohm, Lebendige Phantome, wie Anm. 11. 55 Vgl. Schlumbohm, Lebendige Phantome, wie Anm. 11, 407–408. 56 Fallgeschichte Nr. 247, Louisa Güntherin, 1796, in: Tagbuch Göttingen 4 (1795–1797). 57 Fallgeschichte Johanna Sophia Catharina Christiane Zimmermannin, 1818, 24, in: Tagbuch Göttingen. 58 Fallgeschichte Nr. 56, Sophia Henriette Petzeugin, 1819, in: Tagbuch Göttingen 11 (1818–1820); vgl. auch Fallgeschichte Nr. 118, Elisabetha Naumann, 1819, in: Tagbuch Göttingen: Auf der Seite für das Geburtsprotokoll wurde notiert: „Partus naturalis“, „schnell und leicht“. Vgl. auch Fallgeschichte Nr. 5, Louisa Gepsin, 1819, in: Tagbuch Göttingen; vgl. ferner Fallgeschichte Nr. 66, Maria Elisabetha Nietmann, 1819, in: Tagbuch Göttingen.

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sche Geburtshilfe, die sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts formierte, prägte und legitimierte.59 Ebendiese ‚widernatürlichen‘ Geburten offenbarten sich den männlichen Geburtshelfern, folgt man den Beschreibungen in den Tagbüchern, im Wesentlichen durch die Schmerzäußerungen der Gebärenden, die wohl auch aus diesem Grunde sorgfältig dokumentiert wurden. In den Schilderungen erscheint der expressiv geäußerte Schmerz der Frauen – anders als in medizinischer Literatur der Zeit – nicht als etwas „Unerhörtes“, das mit kulturellen Erwartungen an die Leidensfähigkeit von Frauen brach. Vielmehr kam, so mein Argument, der aktiven Bekämpfung des Geburtsschmerzes eine wesentliche Bedeutung im professionellen Selbstverständnis der sich seit dem 18. Jahrhundert akademisierenden Geburtshilfe zu, wie ich auch im folgenden Abschnitt zur Geschichte der Anästhesie in der Geburtshilfe ausführen werde.

5.

Die Narkose und die Kontroverse um die schmerzfreie Geburt

Justus Heinrich Wigands 1807 gestellte Frage, was die ärztliche Kunst tun könne, um die Schmerzhaftigkeit von Wehen zu mindern,60 trieb Ärzte seit Beginn der akademischen Geburtshilfe um. Aus handschriftlichen Geburtsprotokollen des Entbindungshospitals in Göttingen ist zu ersehen, dass Schmerz unter der Geburt in seiner unterschiedlichen Qualität stets Teil von Geburtsbeobachtungen war. Unterschieden wurde zwischen Schmerzen, mit denen eine Kreißende gut zurechtkam und solchen, die ihr schwer zu schaffen machten. Die Schmerzen, die durch den Einsatz der Geburtszange, durch die von einem Geburtshelfer vorgenommene Wendung des Kindes oder durch den Einsatz von Perforatoren respektive Kephalotriben61 bei der Embryotomie hervorgerufen wurden, wurden dahingegen erst mit der Einführung der Chloroformnarkose in die Geburtshilfe thematisiert. Am 19. Januar 1847 wendete der Geburtshelfer James Young Simpson (1811– 1870) in Edinburgh erstmals eine Äthernarkose bei einer Entbindung an. Noch im gleichen Jahr wurde in Deutschland über die „schmerzstillende Kraft der Inhalation der Schwefelätherdünste“ in der praktischen Geburtshilfe berichtet.62 Der Göttinger Professor Eduard Caspar Jacob von Siebold (1801–1861) differenzierte zwischen zweierlei Arten von in der Geburtshilfe beobachteten Schmerzen: Die erste Art von 59 Vgl. Schlumbohm, Lebendige Phantome, wie Anm. 11, 164. 60 Vgl. Wigand, Was kann, wie Anm. 26. 61 Mit einem Perforator wurde der Schädel des Ungeborenen aufgebohrt, um den Kopf zu „enthirnen“ und diesen dann mit dem Kephalotribe, einer Zange, zu komprimieren, damit der Körper des toten Kindes durch den Geburtskanal passte. 62 Vgl. Steinthal, Ueber die Anwendung der Schwefeläther-Einathmung in der Geburtshülfe, in: Neue Zeitschrift für Geburtskunde, 22 (1847), 268–279. Wenig später berichtete Simpson über die Methode der Chloroform-Narkose.

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Schmerzen sei „von der Natur selbst angeordnet“ und würde bei komplikationslosen, als ‚natürlich‘ kategorisierten Geburten auftreten. Die zweite würde „durch die Hand oder das Instrument des Geburtshelfers angeregt, sobald sich dieser bewogen fühlt, in gewissen von der Norm abweichenden Fällen mit seiner Kunst einzuschreiten“.63 Gerade diese vor der Einführung der Chloroform-Narkose selten erwähnten Schmerzen unter der Geburt, die durch ärztliches Handeln verursacht wurden, dienten als Begründung für den geburtshilflichen Einsatz dieser neuen Methode der Schmerzlinderung.64 Siebold protokollierte seine Experimente mit Äther, den er als erster Geburtshelfer in Deutschland einsetzte, zuerst bei problemlosen Geburten und dann auch bei Zangengeburten. Er beobachtete, dass die Wehen nach dem Einatmen des Äthers aufhörten. Da „die Geburtsteile“ durch die Narkose „ungemein schlaff“ würden, könne der Geburtshelfer die Geburtszange „mit der grössten Leichtigkeit“ einführen. Von der Gebärenden sei „kein Schmerzenslaut“ zu vernehmen, während sie die „Ätherdämpfe“ noch einatmete.65 Enthusiastisch berichteten auch andere Geburtshelfer davon, dass die aus der Narkose erwachten Gebärerinnen keinerlei Schmerz verspürt hätten.66 In den Tagebüchern der Entbindungsanstalt in Göttingen sind bereits im Jahre 1847 Fallgeschichten von Siebolds zu finden, in denen er über den Einsatz von Äther bei Zangengeburten berichtete: „Nachdem die Kreißende 2 Minuten Äthergas inspiriert hatte, trat Betäubung ein; die Geschlechtstheile welche vorher turgescirten [angeschwollen waren, K.N.] wurden nun weich und nachgiebig. Die Ätherisation wurde noch 4 Minuten lang fortgesetzt und darauf die Zange angelegt. Beim Einbringen des ersten Löffels lag die Kreißende ganz ruhig und gab keinen Laut von sich, beim Einbringen des 2ten fing sie an zu stöhnen und bewegte sich etwas. Beide Löffel waren leicht einzubringen und auch die Extraction des Kopfes ging leicht und 63 Eduard Caspar Jacob von Siebold, Über die Anwendung der Schwefel-Äther-Dämpfe in der Geburtshülfe, Göttingen 1847, 5–6. Vgl. auch Eduard Caspar Jacob von Siebold, Vorläufige Nachricht über die Anwendung der Einathmungen des Schwefeläthers in der geburtshülflichen Praxis. Nach eigener und fremder Erfahrung, in: Neue Zeitschrift für Geburtskunde, 22 (1847), 317–352. 64 Die moralische Diskussion über den experimentellen Charakter dieser ersten Anwendungen von Äther und Chloroform in der Geburtshilfe hat die Medizinhistorikerin Barbara Elkeles analysiert, sie wird daher hier nicht näher ausgeführt. Vgl. Barbara Elkeles, Der moralische Diskurs über das medizinische Menschenexperiment im 19. Jahrhundert, Stuttgart/Jena u. a. 1996, 33–41. 65 Von Siebold, Über die Anwendung, wie Anm. 63, 17–18; vgl. hierzu auch Friedrich Wilhelm Scanzoni, Ueber die Anwendung der Anaesthetica in der geburtshilflichen Praxis, in: ders., Beiträge zur Geburtshülfe und Gynaekologie, zweiter Band, Würzburg 1855, 65. Auch aus Frankreich gelangten Erfahrungen von Geburtshelfern mit „Aether- und Chloroformeinathmungen bei Geburten“ nach Deutschland, denen zufolge sich diese als segensreich bei durch Beckenenge komplizierten Geburten bewährt hätten, jedoch bei „natürlichen“ Geburten kritisch gesehen wurden, da es zu Todesfällen bei den Kindern gekommen sei, vgl. Nicolas Charles Chailly-Honoré, Ueber die Fälle, in welchen die Aether- und Chloroform-Einathmungen bei Geburten angewendet werden dürfen und in welchen sie zu vermeiden sind, in: Monatsschrift für Geburtskunde und Frauenkrankheiten, 3 (1854), 335–361. 66 Vgl. Steinthal, Ueber die Anwendung, wie Anm. 62, 270.

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rasch vonstatten. Während der Operation war der Bauch hart ohne daß eine Wehe zu bemerken war, und nach völligem Austritt des Kindes zog sich die Gebärmutter rasch zusammen. Die Inspiration des Äthers machten der Kreißenden wenig Beschwerde, sie schloß die Augen öffnete selbige aber oft es ihr gesagt wurde [sic] und fühlte erst wieder Schmerzen als die Operation völlig beendet war. Hätte ihr Kind nicht geschrien so würde sie nicht gewußt haben, daß es schon zur Welt gefördert sein.“67

Diese komplizierte Geburt mit Einsatz der Zange war – so Siebold – von der Gebärerin beinahe unbemerkt vor sich gegangen. Enttäuscht zeigte er sich darüber, dass die Patientin über „ihr Befinden während der Narcose […] nichts Näheres anzugeben“ wusste – was er ihrer „Stupidität“ zuschrieb. Auch die zweite Kreißende, bei der die Äthernarkose ausprobiert wurde, konnte ihr Empfinden während der Geburt nicht schildern: „Sie habe geschlafen.“68 Der Würzburger Professor für Geburtshilfe, Friedrich Wilhelm Scanzoni (1821–1891), relativierte die augenscheinliche Schmerzlosigkeit einer Geburt unter Narkose. Er betonte, dass die „Perception der etwas intensiveren Schmerzeindrücke keineswegs“ aufhöre, was der Geburtshelfer „durch Aufschreien“ der Kreißenden bei einer stärkeren und schmerzhafteren Wehe beobachten könne. Doch würden Frauen, die während der Geburt gestöhnt oder aufgeschrien hätten, sich an den Schmerz nicht mehr erinnern, wenn sie aus der Narkose erwachten. Insofern standen Scanzonis Beobachtungen nicht im Widerspruch zu den Schilderungen Siebolds, der wiedergab, was Gebärende ihm nach der Narkose mitteilten.69 Während bei operativen geburtshilflichen Eingriffen die Anwendung der Narkotika Äther und Chloroform wenig umstritten war, wurde ihr Einsatz bei Geburtsschmerzen, die als ‚natürlich‘ eingestuft wurden, durchaus kritisch gesehen. Skeptiker verwiesen darauf, dass mit „Eintreten der vollständigen Narkose“ eine deutlich wahrnehmbare Veränderung der Kontraktionen der Gebärmutter zu beobachten sei. Auch könne eine „längere Wehenpause“ sowie eine „Verminderung der Kraftäusserungen des Uterus“ eintreten. Zwar ließen die Schwäche der Wehen und der Gebärmutter eine Viertelstunde nach Verabreichung der Narkose nach, doch führe die vorübergehende Wehenschwäche zu einer Verlängerung der Geburt.70 Sehr kritisch schätzte Obermedizinalrat August Vogler (1790–1860) aus Wiesbaden den Einsatz der Chloroformnarkose in der Geburtshilfe ein. Viele der Zangengeburten, die vornehmlich Anlass dafür boten, Gebärende zu narkotisieren, sah er als nicht „wissenschaftlich indicirt“ an; vielmehr würden diese verrichtet, um „ein reichliches Honorar“ zu gewinnen. Er 67 68 69 70

Fallgeschichte Kümmel, 1847, Tagbuch Göttingen (1847). Fallgeschichte Charlotte Sechtig, 11. April 1847, Tagbuch Göttingen (1847). Vgl. Scanzoni, Ueber die Anwendung, wie Anm. 65, 66. Vgl. Friedrich Sabarth, Das Chloroform, Würzburg 1866, 238–239. Zur wehenhemmenden Wirkung von Äther und Chloroform vgl. auch C. L. Sachs, Beiträge zur Anwendung der Aetherund insbesondere der Chloroform-Dämpfe in der Geburtshilfe, in: Verhandlungen der Gesellschaft für Geburtshilfe in Berlin, Berlin 1848, 249–312; Scanzoni, Ueber die Anwendung, wie Anm. 65, 63–65.

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verwies auf die zurückhaltende Anwendung der Zange bei Johann Lukas Boër (1751– 1835) in Wien, der das Konzept der „naturgegebenen“ Geburt vertrat, demzufolge ein aktives Eingreifen des Geburtshelfers nur in Ausnahmefällen zu rechtfertigen war.71 Auch würde die neuartige Narkose „gute Wehen verderben“. Der Wirkung von Chloroform- und Äthernarkosen in der Geburtshilfe sei „unberechenbar“. So verwies er auf Todesfälle der Kinder infolge von Narkosen und auf die Statistik von James Young Simpson, der zufolge eine von 49 Gebärenden unter der Narkose versterbe.72 Trotz aller Bedenken gegen den Einsatz von Äther und Chloroform bei ‚natürlichen‘ Geburten oder generell in der Geburtshilfe ist festzuhalten, dass Mediziner seit Beginn der akademischen Geburtshilfe danach strebten, Schmerzen während der Geburt zu lindern oder diese den Kreißenden ganz zu nehmen. Die Befürworter einer Betäubung bei ‚natürlichen‘ Geburten verwiesen auf den „Geburtsact“ bei „uncivilisierten Völkern“, der „keineswegs immer leicht, rasch und glücklich“ vor sich gehe.73 Die wissenschaftliche ‚zivilisierte‘ Geburtshilfe grenzte sich vom Gebären ohne ärztliche Hilfe, wie es bei sogenannten Wilden der Fall war, ab, indem sie betonte, bei schweren, schmerzhaften Geburten Linderung herbeiführen zu können. Dies hatte der Hamburger Mediziner Justus Heinrich Wigand bereits 1807 als Ziel der „Geburtshelfer cultivirter Nationen“ formuliert – zu einem Zeitpunkt, als noch kein wirksames Schmerz- respektive Betäubungsmittel zur Verfügung stand. Zwar stuften die meisten Geburtshelfer den Einsatz von Chloroform auch bei ‚natürlichen‘ Geburten als ungefährlich ein, dennoch empfahlen Vorsichtige dessen Anwendung lediglich bei „jenen Geburtsfällen […], in denen wegen grosser Empfindlichkeit und Reizbarkeit der Frauen die Wehen mit übermässigem Schmerzgefühl verbunden sind“.74 Ungeachtet dessen wurde die Chloroformnarkose zunehmend auch bei Geburten ohne Komplikationen eingesetzt. In Großbritannien sorgte die Chloroformierung von Queen Viktoria von England bei der Geburt ihres neunten Kindes durch John Snow (1813–1858) für Akzeptanz dieser neuen Intervention. Mit ihr erhielt die Chloroformnarkose den Namen „Narcose à la reine“.75 Der Geburtshelfer Karl Schroeder (1838–1887) warf in seinem Lehrbuch die ethische Frage auf, ob die Linderung des Geburtsschmerzes berechtigt sei – diese Frage

71 Vgl. Stefan Schulz, Die schwere Geburt als moralisches Problem. Das Denkkollektiv der Wiener Geburtshelfer 1754–1838, Saarbrücken 2009, 278–289. 72 Vgl. August Vogler, Ueber die Anwendung des Chloroforms in der Geburtshülfe, in: Neue Zeitschrift für Geburtskunde, 32 (1852), 145–165. 73 Hugo Hartmann, Dr. John Rowlison Pretty hülfreicher Beistand bei den Geburtswehen und die Vorschriften über die Anwendung des Chloroforms bei der Niederkunft, Weimar 1857, 3–4. 74 Peter Pomp, Ueber die Anwendung des Chloroforms in der Geburtshülfe, Inaugural-Dissertation Halle Wittenberg, Halle 1868, 22. 75 Heike Petermann u. C. Nemes, Die Entdeckung und Entwicklung der Anästhesie im 19. Jahrhundert, in: Jürgen Schüttler (Hg.): 50 Jahre Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin. Tradition und Innnovation, Heidelberg/New York u. a. 2003, 14–16.

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habe sich eben erst mit der Einführung eines wirksamen Mittels zur Betäubung des Schmerzes gestellt: „In der Geburtshülfe tritt aber eine neue Frage auf. Die Geburt ist der einzige physiologische Vorgang, der mit Schmerzen und zwar oft mit recht intensiven Schmerzen verbunden ist. Darf man auch diese auf einem physiologischen Vorgang beruhenden Schmerzen lindern oder ganz aufheben? Die Berechtigung dazu kann nach unserer Ansicht an und für sich nicht bestritten werden. Die Linderung des Schmerzes gehört zu den angenehmsten Pflichten des Arztes.“76

Auch Scanzoni kam zu dem Schluss, dass „die Vortheile, welche die Anwendung der Chloroformnarkose in der geburtshilflichen Praxis bietet, ihre Nachtheile so vielfältig überwiegen, daß es sonderbar erscheint, warum der besonders von englischen Aerzten gegebene Rath, jeder Kreissenden die Wohlthat des Chloroforms zukommen zu lassen, in Deutschland noch immer keinen rechten Eingang gefunden hat.“77

Er empfahl demzufolge die Anwendung der Chloroformnarkose in der Geburtshilfe nicht nur bei operativen Eingriffen, sondern auch, „wenn die Beendigung der Geburt den Naturkräften überlassen“78 bleibe. Allerdings beeilte er sich zu betonen, dass er Narkosen bei Geburten mit „gewöhnlichen Geburtsschmerzen“ nicht befürworte, sondern offenbar eben nur dann, wenn die Schmerzen besonders stark waren. Denn letztere würden das „Gefäss- und Nervensystem“ aufregen und daher schließlich die Gesundheit der gebärenden Frau nachhaltig schädigen.79 Wie mancher seiner Vorgänger setzte Scanzoni die Pflicht des Geburtshelfers, unerträgliche Geburtsschmerzen zu lindern oder ganz zu beseitigen, dem göttlichen Willen entgegen, demzufolge die Frau aufgrund der Erbsünde Evas unter Schmerzen gebären sollte.

6.

Resümee

Wurde im 19. Jahrhundert mit Blick auf Schmerzen die Duldsamkeit von Frauen in anderen medizinischen Kontexten ganz selbstverständlich hervorgehoben, so lässt sich zur gleichen Zeit in der universitären Geburtshilfe ein ausgeprägtes Interesse für die Schmerzen der Gebärenden feststellen. Ärztliche Geburtshelfer schilderten Schmerzen nicht nur empathisch, sondern betrachteten es als Ausweis ihrer ‚Zivilisiertheit‘ und Wissenschaftlichkeit, den Ursachen des Schmerzes auf den Grund zu gehen und Methoden zu entwickeln, um Kreißenden ihre Schmerzen möglichst zu nehmen oder zumindest zu lindern. Insofern können Beschreibungen von Geburtsschmerzen als 76 Karl Schroeder, Lehrbuch der Geburtshülfe mit Einschluss der Pathologie der Schwangerschaft und des Wochenbettes, vierte Auflage, Bonn 1874, 200. 77 Scanzoni, Ueber die Anwendung, wie Anm. 65, 67–68. 78 Scanzoni, Ueber die Anwendung, wie Anm. 65, 68. 79 Scanzoni, Ueber die Anwendung, wie Anm. 65, 72.

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geburtshilfliche Praktik akademisch ausgebildeter Ärzte begriffen werden, deren Ziel es war, weitgehende Interventionen in den Geburtsprozess zu legitimieren. Das Postulat von der ‚Natürlichkeit‘ von Geburt bedeutete demnach nicht per se, dass Geburtshelfer nicht in ihren Verlauf eingreifen wollten. Vielmehr begriffen Ärzte ihr wissenschaftlich begründetes Handeln als Beleg ihrer ‚Zivilisiertheit‘, mit dem sie sich von dem vermeintlich ‚barbarischen‘, ‚unzivilisierten‘ Handeln sogenannter Naturvölker abgrenzten, denen in rassistischer Manier eine Nähe zu Tieren unterstellt wurde. „Naturvölker“ würden Frauen bei Geburten nicht nur mit ihren Schmerzen allein lassen, sondern ihnen durch „primitive“ Versuche, das Kind auszutreiben, zudem unvorstellbare Schmerzen zufügen. Schmerzschilderungen wurden strategisch eingesetzt, so auch die Beschreibung von Schmerzen, die der Arzt selbst den Gebärenden zufügte, wenn er die Zange anlegte oder Instrumente anwendete, um eine Wendung des Kindes im Mutterleib oder eine Embryotomie zu legitimieren. Die Euphorie der medizinischen Geburtshilfe, Schmerzen während der Entbindung bekämpfen zu können, wurde aber auch in den eigenen Reihen kritisiert. Auch die Frauengesundheitsbewegung, die sich in den 1970er Jahren formierte, formulierte scharfe Kritik am ärztlichen Handeln unter der Geburt und wendete sich vehement gegen die Medikalisierung eines ‚natürlichen‘ Vorgangs wie der Geburt. Der Geburtsschmerz wurde nun als Inbegriff der „Natürlichkeit“ der Geburt definiert und als Herausforderung präsentiert, an der Frauen ‚wachsen‘ konnten. Die Kritiker*innen lehnten die ‚technisierte‘ Geburt in einer Klinik ab und stellten dieser die ‚natürliche‘ ‚sanfte‘ Geburt zu Hause oder in neu gegründeten Geburtshäusern gegenüber. Erneut waren der Geburtsschmerz und die Praktiken im Umgang mit ihm paradigmatisch für einen „neuen“ gesellschaftlichen Umgang mit Geburt.80

80 Vgl. hierzu Lotte Rose, ‚Natürliche‘ und ‚sanfte Geburt‘. Paradoxien der modernen Entbindungsformen, in: FGS – Freiburger Geschlechterstudien, 24 (2010), 208–222.

Maria Heidegger

Schmerz, Männlichkeit und Religion: Selbstbestrafungen im Fokus der Tiroler Psychiatrie im Vormärz1

1.

Einleitung

Im Jahr 1846 sahen sich die Ärzte der k. k. Provinzial-Irrenanstalt Hall in Tirol bei der Erstuntersuchung des 25-jährigen Franz Anton K. aus dem Bregenzerwald einem „wohlgebaute[n] Mann von hoher Statur, mit wohlklingender, lauter Sprache“ gegenüber. Man war offensichtlich beeindruckt von seinem Aussehen und maskulinkörperbetontem Auftreten und zugleich befremdet, ließ doch der äußerliche Eindruck eher „einen Menschen mit mehr als gewöhnlichen Geistes Anlagen“ erwarten.2 Bei der genaueren Untersuchung entdeckten die Ärzte jedoch gut verborgen unter seiner Kleidung einen locker um die Hüfte getragenen Gürtel aus Eisendraht mit siebartig durchlöcherten Blechblatten. Die raue Seite der Bleche war nach innen gekehrt und hatte einen oberflächlichen Hautausschlag verursacht. Nur mit List – so wird berichtet – gelang es den Ärzten, ihm diesen Eisengürtel abzunehmen. Auf die Frage, ob ihm jemand geraten oder befohlen habe, sich mit besagtem Gürtel selbst derart zu quälen, antwortete Franz Anton K., dass er sich diese Bußübung selbst auferlegt und den Gürtel aus Liebe zum heiligen Petrus angelegt hätte. Außerdem führte der Patient eine „ziemliche Anzahl kleinlicher ihm bedeutungsvoller Gegenstände“ mit sich, nämlich „Gebeth- und Erbauungsbüchelchen von sehr adventischer Richtung [und] Bildchen“, von denen er sich ebenfalls nicht „ohne merkbarem innerem Schmerzgefühl oder Widersetzlichkeit“ trennen wollte. Unter seinen Habseligkeiten befand sich auch eine Geißel, „welche durch die zwar vertrockneten, aber deutlichen Blutspuren bewies, daß diese ihm kein unbenütztes Geräthe war“.3 Nachdem er von all diesen Objekten 1 Dieser Beitrag ist im Rahmen eines von FWF und FWO geförderten Projekts zur Schmerzgeschichte im Katholizismus des 19. Jahrhunderts in Österreich entstanden (Laufzeit 2018–2023, Projektnummer I 3545-G28). Für hilfreiche Hinweise und kritische Nachfragen danke ich den beiden anonymen Gutachter*innen und den Heftherausgeberinnen. 2 Historisches Archiv des Landeskrankenhauses Hall in Tirol Psychiatrie (HA LKH), Krankenakten (KA), Männer 1849, Franz Anton K. I/431. Anonymisierung entspr. der Auflagen der Tiroler Landeskrankenanstalten, Identifikation über die Kopfzahl (Aufnahmebuch I/Nr.). 3 HA LKH, KA, Männer 1849, Franz Anton K. I/431.

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suspekter Frömmigkeit „befreit“ worden war, bekam Franz Anton K. eine Zelle zugewiesen. Am Kopf der Krankenakte wurde die Diagnose vermerkt: „Religiöser Wahnsinn“ beziehungsweise „Aberwitz“.4 Dieselbe Diagnose hatte wenige Jahre zuvor Andreas R. erhalten, der im Mai 1840 in die Tiroler Irrenanstalt eingewiesen wurde. Die Lebenswelt beider Patienten war geprägt von einer intensiven katholischen Religiosität und dem Revival mittelalterlicher Leidensmystik in Form von Passionen für den Schmerz. Beide Patienten hatten sich vor ihrer Anstaltseinweisung selbst kastriert und dabei angeblich keine Schmerzen empfunden. Religiös motivierte Schmerz-Praktiken sind ein vielschichtiger historischer Forschungsgegenstand.5 Es geht um in Szene gesetzte vergeschlechtlichte Körper, um Rituale und Bühnen, Heilserwartungen und Fantasien, Erregung und Begehren, um Lust und Qual.6 Ich möchte im Folgenden exemplarisch einige Aspekte aus dem breiten Spektrum religiöser Schmerzpraktiken untersuchen, das von asketischen Übungen über schmerzhafte Selbstgeißelungen des als „sündhaft“ konzipierten Körpers bis hin zu dem sozial nicht mehr akzeptablen autoaggressiven Akt der Selbstkastration reicht. Die Analyse basiert auf zwei historischen Krankenakten, die über solche ‚wahnhaften‘ Selbstverstümmelungen sowie Anwendungsspuren von Bußgürteln und Geißeln am Körper berichten. Die Akten und ihre Inhalte sind Produkte des Aufschreibesystems der sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierenden psychiatrischen Heilanstalt.7 Die sich seit etwa 1800 herausbildende neue medizinische Teildisziplin der Psychiatrie pathologisierte die exzentrische Askese und wies diese als überholte ‚mittelalterliche‘ Praxis aus – als ähnlich irrational wie der Glaube an Hexen und die Angst vor Hölle und Teufel. In diesem Kontext wurde zum Teil ausgehend von französischen Vorbildern scharfe Kritik an ‚unvernünftiger‘ und maßloser Religiosität in Form übertriebener Bußübungen, sowohl in Form ‚äußerer‘, sich auf den Körper beziehender Bußwerke als auch in Form ‚innerer‘ geistiger Gewissenserforschung formuliert. Frauen galten als besonders anfällig für religiösen Wahn, für selbstzerfleischende religiöse Skrupel oder Schwärmerei. Die bürgerlich-liberalen Ärzte in Tirol betrachteten aber auch die aus ihrer Sicht allzu katholisch-frommen Bauern in abgelegenen alpinen Bergtälern – stereotyp und geschlechterübergreifend – als exzessiven Glaubensbeweisen

4 Die von Josef Stolz am 26. 10. 1846 gestellte Diagnose lautet vollständig: „religiöser Wahnsinn (Aberwitz) mit periodischer Tobsucht.“ HA LKH, KA, Männer 1849, Franz Anton K. I/431. 5 Vgl. Alanna Skuse, „One Stroak of His Razour“: Tales of Self-Gelding in Early Modern England, in: Social History of Medicine, 3, 2 (2018), 377–393. 6 Vgl. Niklaus Largier, Lob der Peitsche. Eine Kulturgeschichte der Erregung, München 2001. 7 Vgl. Maria Heidegger u. Oliver Seifert, „Nun ist aber der Zweck einer Irrenanstalt Heilung…“. Zur Positionierung des Irrenhaues innerhalb der Psychiatrischen Landschaft Tirols im 19. und 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Region/Storia e regione, 12, 2 (2008): Psychiatrielandschaft/ Oltre il manicomio, hg. von Elisabeth Dietrich Daum u. Rodolfo Taiani, 24–45.

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zugetan.8 Einige wenige psychiatriehistorische Studien, die den Fokus auf die Konstruktion von Männlichkeiten und die Intersektionalität von Ungleichheitskategorien legen,9 haben dieses langlebige Bild vom weiblichen religösen Wahn dekonstruiert. Sie machten sichtbar, wie Schmerzpraktiken, die auf die Bekämpfung des sündigen Körpers zielten, mehrfach von geschlechtsspezifischen beziehungsweise sozial differenzierten Zuschreibungen durchdrungen waren. Mich interessiert, wie sich die Pathologisierung religiöser Schmerzpraktiken in solche Erzählungen konkret einfügte, wie sich die relationalen Kategorien des Religiösen und Säkularen in den therapeutischen Praktiken widerspiegelten und welche Facetten einer Schmerzgeschichte mit einem besonderen Fokus auf Männer und Männlichkeiten sichtbar gemacht werden können. Die Fallgeschichten von Franz Anton K. und Andreas R. handeln nicht von heroischen, den Schmerz besiegenden Männern, sondern von psychisch und sozial gescheiterten Menschen. Solche Geschichten zogen keine besondere Aufmerksamkeit auf sich und anders als einige der stigmatisierten Jungfrauen wurden sie kaum als cause célèbre gefeiert.10

2.

Konfrontationen und Irritationen im Irrenhaus

Franz Anton K. und Andreas R. wurden als „religiös Wahnsinnige“ an der 1830 errichteten Tiroler Provinzial-Irrenanstalt verpflegt. Sie wurden mit der sogenannten psychischen Kur der Zeit behandelt, die aus diätetischen und pädagogischen Maßnahmen zusammengesetzt war und aus geordnetem Tagesablauf und geregelter Ernährung, einem individuell verordneten Mix aus Isolation und Gesellschaft, Einsperrungen, Spaziergängen und Aufenthalten an der frischen Luft, einer aufheiternden Beschäftigung und Arbeit, Musik, Lektüre und religiösem Unterricht bestand.11 Ihre Krankengeschichten – und die darin thematisierten Schmerzpraktiken – eignen sich

8 Vgl. Josef Stolz, Zur fortschreitenden Parese, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, 8 (1851), 517–559, 527; Maria Heidegger, Über das Verhältnis zwischen Psychiatrie und Religion in Tirol, 1830–1850, in: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft zur Geschichte der Nervenheilkunde, 23 (2017), 73–94. 9 Vgl. Catherine Coleborne, White men and weak masculinity: men in the public asylums in Victoria, Australia, and New Zealand, 1860s–1900s, in: History of Psychiatry, 25, 4 (2014), 468–476. 10 Vgl. zu stigmatisierten Frauen als „celebrities“: Nicole Priesching, Katholische Führungspersönlichkeiten zu Besuch bei der Ekstatikerin Maria von Mörl, in: Nils Freytag u. Diethard Sawicki (Hg.), Wunderwelten: religiöse Ekstase und Magie in der Moderne, München 2006, 115–141; Tine Van Osselaer u. Andrea Graus (Hg.), On commotions and commodities. Catholic celebrities in nineteenth- and twentieth-century Europe, in: Journal of Religious History, 42, 4 (2018); Andrea Graus, A visit to remember. Stigmata and celebrity at the turn of the twentieth century, in: Cultural and Social History, 14, 1 (2017), 55–72. 11 Vgl. Ute Oswald, „Distraction from Hurtful Thoughts“. Recreational activities as agents of healing in nineteenth-century British asylums, in: Medizinhistorisches Journal, 56, 1–2 (2021), 30–57.

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für sehr weitreichende mikrohistorische Kontextualisierungen.12 Dieser Aufsatz richtet den Fokus aber auf das herausfordernde Moment in der körperlichen Face-to-FaceBegegnung zwischen dem Patienten, der sich selbst peinigte, und dem Arzt, der den Schmerz bekämpfen sollte. Es geht hier also im Rahmen einer Schmerzgeschichte um Konfrontationen und Irritationen im Spannungsfeld von Psychiatrie und Religion. Für den Bußgürtel-Träger Franz Anton K. war kultisch-religiöse Schmerzerfahrung gelebte Praxis. Dabei richtete er sein Handeln – wie er selbst sagte – am heiligen Petrus Damiani aus, einem Eremiten des Benediktinerordens, der viele Jahrhunderte früher um 1006 in Ravenna geboren war und noch im 19. Jahrhundert als Modell für asketische Selbstgeißelung figurierte.13 Der knappe Hinweis auf diesen Heiligen genügte offenbar, um dem ebenfalls katholisch geprägten Psychiater mitzuteilen, welche Bedeutung dieser Gürtel in der asketischen Religiosität des Patienten einnahm. Nicht der vorgefundene Bußgürtel an sich oder dessen Zweck überraschte den Irrenarzt. Merkwürdig erschien ihm vielmehr dessen besondere Fabrikation, die sichtbar möglichst große Pein verursachen sollte, sowie die Tatsache, dass der Patient seinem Bild eines Asketen nicht entsprach. Auch wenn das Vorhandensein des Gürtels oder einer Geißel im Handgepäck um die Mitte des 19. Jahrhunderts keine besondere Aufmerksamkeit erregte, bedeutet dies nicht, dass erst eine spätere Generation von Psychiatern und Psychoanalytikern derlei Schmerzpraktiken psychologisierten und pathologisierten. Im Gegenteil, asketische Schmerzpraktiken wurden lange schon und auch in der Theologie als ambivalent wahrgenommen, nicht zuletzt wegen des schmalen Grads zwischen Lust und Pein.14 Der Körper im Schmerz wirft Fragen zum medizinischen Körper-Wissen in der Tiroler Anstaltspsychiatrie auf. Wie deuteten die Irrenärzte die Schmerzpraktiken dieser Patienten?15 Die hier untersuchten Fallstudien machen deutlich, dass medizinisch-nervenphysiologische, psychologische und religiöse Interpretationsangebote zur Ausdeutung von Schmerz (oder Lust) zur gleichen Zeit und am gleichen Ort kursieren konnten. „Wenn wir an die psychologische Beurteilung der Aszese herantreten, so finden wir in der letzteren die praktische Lösung des Paradoxons, daß das reinste, das idealste Lustgefühl – der Schmerz ist“, formulierte der katholische Würzburger Arzt August Stöhr (1843–1890), wobei er die schmerzhafte Askese keineswegs für eine „krankhafte Laune eines überreizten Gehirns“ hielt, sondern für „ein vollkommen 12 Vgl. zur mikrohistorischen Kontextualisierung einer psychiatrischen Fallgeschichte: Jan Goldstein, Hysteria Complicated by Ecstasy. The Case of Nanette Leroux, Princeton 2011, 18–19. 13 Vgl. Largier, Lob, wie Anm. 6, 60–82. 14 Vgl. Talal Asad, Thinking About the Secular Body, Pain, and Liberal Politics, in: Cultural Anthropology, 26, 4 (2011), 657–675; Leona Toker u. Esther Cohen, Introduction: In Despite, in: Esther Cohen u. a. (Hg.), Knowledge and Pain, Amsterdam/New York 2012, VII–XVIII, X. 15 Vgl. Roy Porter, History of the Body, in: Peter Burke (Hg.), New Perspectives on Historical Writing, University Park, PA 1991, 206–323; Barbara Duden, Medicine and the History of the Body, in: Jens Lachmund u. Gunnar Stollberg (Hg.), The Social Construction of Illness. Illness and Medical Knowledge in Past and Present, Stuttgart 1992, 39–51.

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vernunftgemäßes, seelisches Bedürfnis, eine berechtigte unwiderstehliche Sehnsucht, […] freiwillig die schwersten Entbehrungen auf sich zu nehmen und sich der größten Schmerzen wie eines begehrenswerten Genusses zu freuen.“ Aber nur ein echter Heiliger könne Askese in diesem „idealsten Sinne christlicher Auffassung“16 ausüben und sinnlich als Opfergabe erfahren. Auch die Irrenärzte an der Tiroler Anstalt unterschieden zwischen ‚wahrer‘ Religiosität und ‚angemaßter‘ Heiligkeit und maßen die Grenzbereiche zwischen noch ‚gesund‘ oder schon ‚krank‘ individuell aus. In dieser Konstellation trafen religiöse Ausdeutungen von Schmerz auf medizinische Denkmuster, was Herausforderungen und Irritationen erzeugte, die im therapeutischen Alltag zahlreiche Kompromisse erforderlich machten. Überhaupt war hier die Art und Weise, wie religiöse Schmerzpraktiken psychiatrisch problematisiert wurden, oft mehr von Graubereichen als von scharfen Gegensätzen charakterisiert.17 Vor dem Hintergrund des sich ausbildenden bürgerlichen Sexualdiskurses der Moderne und beeinflusst von der antiklerikalen und insbesondere jesuitenfeindlichen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts wurde beispielsweise der Flagellantismus in der Psychiatrie als Zeichen eines verdrängten, sexuellen Begehrens wahrgenommen: Heimliche Lust statt spiritueller Transformation.18 Gleichzeitig identifizierten sich nicht nur Patient*innen mit Vorstellungen vom Leiden als Buße für Sünden, als verdienstvolle Opfergabe oder als Geschenk Gottes,19 sondern auch katholisch geprägte Ärzte. Die Irrenärzte der Tiroler Anstalt taten dies sogar noch mehr als der materialistisch-philosophischen Ideen anhängende Hauskaplan Sebastian Ruf (1802–1877).20 Auf Innerlichkeit gerichtete selbstreflexive Praktiken und Rituale, Sündenbekenntnis und Meditation, Gefühl und Glaube21 wurden weitgehend in den therapeutischen

16 August Stöhr, Handbuch der Pastoralmedizin mit besonderer Berücksichtigung der Hygiene, 5. Aufl., Freiburg i. Br. 1909, 545. 17 Vgl. zur medizinischen Begutachtung außergewöhnlicher religiöser Phänomene Sofie Lachapelle, Between Miracle and Sickness: Louise Lateau and the Experience of Stigmata and Ectasy, in: Configurations, 12 (2004), 77–105; Tine Van Osselaer u. Kristof Smeyers, Divine Hysteria. Readings of the Sacred Disease in the Late Eighteenth and Early Nineteenth Centuries, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (OeZG), 31, 3 (2020): Gutachten/Begutachtete. Expertise/Appraised, hg. von Maria Heidegger, Lisa Pfahl, Gabriele Werner-Felmayer u. Regina Thumser-Wöhs, 54–75. 18 Vgl. Largier, Lob, wie Anm. 6, 187–192. 19 Vgl. Carmen M. Mangion, „Why, would you have me live upon a gridiron?“ Pain, Identity, and Emotional Communities in Nineteenth-Century English Convent Culture, in: 19. Interdisciplinary Studies in the Long Nineteenth Century, 15 (2012), unter: https://www.19.bbk.ac.uk/articles/1 0.16995/ntn.652/, Zugriff: 8. 5. 2021. 20 Vgl. Ferdinand Lentner u. Sebastian Ruf. Irrenhaus-Kaplan zu Hall i. T. als Seelenforscher. Ein Beitrag zur Lehre von der Zurechnung im Strafrecht, Innsbruck 1902. 21 Vgl. Pascal Eitler, Bettina Hitzer u. Monique Scheer, Feeling and faith – religious emotions in German History, in: German History, 32 (2015), 343–352.

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Prozess integriert.22 Entsprechend war auch bei Franz Anton K. und Andreas R. religiöse ‚Zusprache‘ unverzichtbarer Bestandteil der psychischen Kur, in deren Verlauf die Krankheitserkenntnis, die Fähigkeit, den Schmerz zu benennen, als ein erster Schritt zur Heilung galt. Wie die beiden Fälle illustrieren, blieb Schmerz paradoxerweise ebenso eng mit Ideen der Selbstvernichtung assoziiert wie mit der Konstruktion des Selbst.23 Der katholisch geprägte Lebensraum, in dem Franz Anton K. und Andreas R. aufwuchsen und sich dem Schmerz aussetzten, war von mehrfachen Umbrüchen geprägt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfuhren die mittelalterliche Leidensmystik und die Verehrung des leidenden Christi eine Neubelebung. In der gerade anbrechenden Moderne waren eucharistische Frömmigkeitsformen auf dem Vormarsch, die es den Gläubigen ermöglichten, die durch die Sünden der modernen Welt ausgelösten Schmerzen des Heiligen Herzens Jesu durch individuelle Buße zu sühnen.24 Während zu dieser Zeit zahlreiche Menschen – überwiegend Frauen – eine besondere religiöse Passion für den Schmerz pflegten, organisierten sich zeitgleich auch Frauenorden, die sich in deutlicher Abgrenzung zu kontemplativen, von einer expliziten Leidensmystik inspirierten Ordensgemeinschaften aktiv der caritativen Schmerzlinderung in Krankenhäusern verschrieben.25 Auch dieses soziale Engagement, das ideale Geschlechterbilder reproduzierte, bildet einen „Teil des religiösen Revival und der neuen Innerlichkeit“.26 In der psychologischen Begründung für der Entstehung einer besonderen Exzentrik wurde im Fall des Franz Anton K. die fehlgeleitete Erziehung durch zwei Tanten verantwortlich gemacht. Franz Anton hatte seine Mutter bereits im Alter von zwei Jahren verloren, im Alter von sieben Jahren wurde er zusammen mit einem Bruder in das Haus zweier Schwestern seines Vaters aufgenommen. Diese schickten ihn „fleißig in die Schule“, wo er „im Lernen mehr als mittelmäßige Fortschritte“ machte und „besonders ein gutes Gedächtnis, viel Lust zum Bethen und zum Lesen erbauender, den Verstand verwirrender Bücher“ zeigte. Zu letzteren hatte er in der Bibliothek seiner

22 Vgl. Maria Heidegger, Religiöser Wahn, Identität und die psychiatrische Erzählung in der säkularisierten Anstalt (Tirol 1830–1850), in: Erna Appelt u. a. (Hg.), Identitäten verhandeln – Identitäten de/konstruieren, Innsbruck 2015, 97–120. 23 Vgl. Maria Heidegger u. Tine Van Osselaer, Patient*innen und Passionen. Eine Schmerzgeschichte des Katholizismus in Österreich im 19. Jahrhundert – Ein Kooperationsprojekt an den Universitäten Innsbruck und Antwerpen (2018–2022), in: Virus. Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin, 18 (2019): Konzepte sexueller Gesundheit vom Mittelalter bis zum 21. Jahrhundert, hg. von Marina Hilber u. a. 351–357, 356. 24 Vgl. Freytag/Sawicki (Hg.), Wunderwelten, wie Anm. 10. 25 Vgl. Andreas Holzem, Christentum in Deutschland 1550–1850. Konfessionalisierung – Aufklärung – Pluralisierung, Bd. 2, Paderborn 2015, 1076; Relinde Meiwes, „Arbeiterinnen des Herrn“. Katholische Frauenkongregationen im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2000. 26 Holzem, Christentum, wie Anm. 25, 1082.

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Tanten ungehindert Zugriff.27 Diese als „einseitig“ kritisierte Erziehung hätte das Kind „eigensinnig, streitsüchtig und rechthaberisch, stolz auf seine Kenntnisse und vermeintliche Verstandesthätigkeit“ gemacht: „Er wuchs in seiner engen Umgebung […] zum Jüngling heran, ohne daß sein Wille beherrscht oder sein Trotz gebeugt wurde, und mit ihm wuchs sein Hang zum Eigensinn, Zank und Rechthaberei“, heißt es in der Krankengeschichte.28 Nach einem Streit mit seinem jüngeren Bruder, bei dem ihm einmal mehr nachgegeben worden wäre, hätte sich „sein Verstand völlig verwirrt“, seine Fantasie „erhitzt“ und „seine Geschlechtssphäre wurde so aufgeregt, daß er große Neigung zum andern Geschlechte äußerte“. Er berauschte sich mit geistigen Getränken und verfiel „in Tobsucht“. Im Haus seines Vaters wurde er nun in Fesseln gelegt, damit „sein u. anderer Leben nicht in Gefahr kam“. Ein hinzugerufener Arzt behandelte ihn mit narkotischen, schmerzstillenden Mitteln, „selbst mit Opium“. Den Sommer brachte er ohne ärztliche Behandlung, einsam und sich selbst verpflegend „im Zustande anhaltenden Irrsinns, doch ohne sich oder andere etwas zu schaden“ zu, bis er im Herbst erneut „in die heftigste Tobsucht verfiel und in die engste Verwahrung gebracht werden mußte“. Im Winter flüchtete Franz Anton K. über die Berge zu einem Verwandten, von dort wurde er wieder in das Haus seiner Tanten zurückgebracht, wo er sich bis zum März 1846 zunächst „ruhig und gutmüthig“ verhielt, „bis er auf den Einfall kam, sich beide Hoden herauszuschneiden, was er auch wirklich mit einer erstaunlichen Kaltblütigkeit that“. Der herbeigerufene Arzt fand den Verwundeten „vier Stunden nach der Operation beinahe verblutet, sein nahes Lebensende erwartend“, konnte ihn jedoch retten „und siehe! Den folgenden Tag hatte er sich gänzlich erholt, und jetzt ist der Kranke von seiner Verletzung vollends genesen, sein Seelenzustand aber der nämliche geblieben“.29 Kaltblütig und ohne Schmerzgeschrei soll Franz Anton K. sich selbst verstümmelt haben, heißt es im ärztlichen Bericht. Was man heute – vielleicht – physiologisch als Schmerzlosigkeit im Schockzustand und psychologisch als pathologischen Lösungsversuch im Rahmen eines adoleszenten Abhängigkeitskonflikts interpretieren würde,30 erschien in der historischen psychiatrischen Krankengeschichte als „unausweichliches“ Schicksal, als Ergebnis der „einseitigen Erziehung von Seite bigotter Basen“. Da sich Franz Anton K. nicht aus deren „lästigen Behofmeisterung“ befreien konnte, um sich seiner (männlichen) Natur gemäß den „Zerstreuungen einer frohen jugendlichen 27 HA LKH, KA, Männer 1849, Franz Anton K. I/431. Vgl. zum psychiatrischen Diskurs über die Gefährlichkeit der Lektüre: Maria Heidegger, „Fromme“ Lektüre, „scharfe“ Predigt: Zur Problematisierung religiöser Praktiken in Krankenakten der k. k. Provinzial-Irrenanstalt Hall in Tirol, 1830–1850, in: Virus. Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin, 15 (2016): Medizin und Religion, hg. von Maria Heidegger u. a., 127–150; Karen Nolte, Gelebte Hysterie. Erfahrung, Eigensinn und psychiatrische Diskurse im Anstaltsalltag um 1900, Frankfurt am Main/New York 2003, 209–229. 28 HA LKH, KA, Männer 1849, Franz Anton K. I/431. 29 HA LKH, KA, Männer 1849, Franz Anton K. I/431. 30 Vgl. Ralf Gößler, Christine Vesely u. Max H. Friedrich, Selbstkastration eines psychotischen Patienten, in: Psychiatrische Praxis, 29, 4 (2002), 214–217.

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Umgebung“ zuzuwenden, griff er – so die psychiatrische Analyse – „gierig nach den überspannt-religiösen Büchern“ in den Bücherregalen der Tanten. Er hätte sich daraufhin die Beispiele und Lehren in dieser Lektüre angeeignet und sie „mit starrem u. unbeugsamem Eigensinn ins Leben“ übertragen: „Stieß er dabei auf nothwendigen u. bestimmten äußeren Gegensatz, sträubte sich zeitweise dagegen selbst seine übrige Natur“, wird der innere Konflikt sodann umschrieben, sodass man „sich nicht wundern“ dürfe, „wenn sich die Phantasie des irrsinnigen Mannes beim entdeckten Widerspruche völlig entflammte, u. ihn in Wuth u. Tobsucht versetzte, so daß er bald mit bald ohne Überlegung zu gefährlichen Handlungen gegen sich u. andere angetrieben wurde. Unter diesem Gesichtspunkte dürfte die Selbstentmannung hinreichend psychologisch erklärt erscheinen.“31 Mit einem ähnlichen Fall von Selbstkastration waren die Haller Irrenärzte bereits einige Jahre früher konfrontiert worden. Im Mai 1840 hatte der Dornbirner Stadtarzt im Auftrag des Landgerichts Dornbirn ein Gutachten zur Einweisung des Andreas R. an die Irrenanstalt verfasst. Als veranlassende Ursache für dessen geistige Erkrankung nannte er zutiefst empfundene Gewissensskrupel. Andreas R., so der Arzt, habe sich von seinem Glauben abgewandt, sich gegenüber allem, „was Gottesdienst u. Religion betraf […] höchst gleichgültig“ gezeigt und könne „nur schwer […] zum Beichten gebracht werden; besonders zu seiner letzten österlichen Beicht, welche er einem vielleicht ernsten jedoch wahrscheinlich nicht allzu strengen Geistlichen von hier ablegte, der übrigens wegen anerkannter Tüchtigkeit in seelsorglicher Beziehungen allgemein geschätzt wird.“ Mutmaßlich erfuhr er nun seitens eines gemäßigt strengen Beichtvaters einen „eindringliche[n] u. ernste[n] Zuspruch […] gegen seine geheimen Sünden [Onanie]“, hörte sodann im Anschluss „vielleicht einige strenge und eifernde Reden des hiesigen Ortspfarrers in den nachmittägigen christlichen Unterweisungen, denen er beywohnen mußte“. Als Ergebnis dieser ihm zur Osterzeit auferlegten Gewissenserforschung überzeugte sich Andreas R. selbst davon, „daß er nicht mehr selig werden könne, was er dann auch später in seiner Geistesverwirrung öfters äusserte“.32 In der Pathogenese des ‚religiösen Wahns‘ hob der Arzt den unheilvollen Einfluss des Beichtvaters und des Pfarrers auf den als labil, in religiöser Hinsicht als lau und als geschwächt durch Onanie charakterisierten Andreas R. hervor. Die eigentliche ‚Schuld‘ am Ausbruch des Seelendramas trug jedoch der Patient selbst, anders als im Fall des Franz Anton K., bei dem die Erziehungsfehler der verzärtelnden weiblichen Familienangehörigen dafür verantwortlich gemacht wurden. Das schlechte Gewissen hätte den jungen Onanisten Andreas R. ereilt und ihm die Hoffnung auf das ewige Heil geraubt. Kurz nach der Osterbeichte, in der Nacht vom 15. auf 16. April 1840, schnitt sich Andreas R. beide Hoden ab. Mit der zuvor geäußerten Absicht, in ein Kloster eintreten 31 HA LKH, KA, Männer 1849, Franz Anton K. I/431. 32 HA LKH, KA, Männer 1842, Andreas R. I/304.

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zu wollen, transformierte er seinen männlichen Körper, bestrafte sich für sexuelles Begehren und legte sich die bleibende Selbstverstümmelung als Buße auf. Der Arzt schildert die blutige Szene als dramatische Inszenierung: „Der förmliche Ausbruch der Krankheit erfolgte in der Nacht vom 15ten auf den 16ten April, bald nach Mitternacht stand er auf von seinem Bette, u. kam von seiner Schlafkammer im 2ten Stocke in die Wohnstube im 1ten Stocke herunter, wo er im Dunkeln das Rasier Messer seines Vaters suchte. Dieser, der ein Geräusch hörte, stand ebenfalls auf, u. fragte seinen Sohn, was er mache? Worauf er zur Antwort erhielt, er, der Vater möchte nur ins Bett gehen, er blute stark aus der Nase, dieses glaubend ging er wieder ins Bett u. ahndete nichts Böses, u. bald darauf ging auch der Kranke wieder ins Bett u. alles wurde ruhig. Am Morgen sah der Vater in der Wohnstube, auf der Stiege, in der Schlafkammer, kurz überall, wo sein Sohn in der Nacht stand u. ging, alles voll Blut u. erfuhr zu seinem großen Schrecken, daß er sich in der Nacht beyde Testikel weggeschnitten habe, u. erblickte selbe neben dem Bette auf dem Boden liegen. Der herbeygerufene Wundarzt heftete mit drey blutigen Heften die Wunde des Hodensackes zusammen. […] Auf die Frage, warum er sich auf diese Art verletzte, gab er zur Antwort, ‚er gehe jetzt ohnehin in ein Kloster, er könne dann schon Buße thun, denn sonst könnte er ja nicht selig werden. Schmerzen habe er so wenig beym Abschneiden gefühlt, als wenn er vom Nagel geschnitten hätte.‘“33

Wie im Fall des Franz Anton K. einige Jahre später, wird auch in diesem Bericht das angebliche Fehlen eines körperlichen Schmerzgefühls anlässlich der Selbstkastration vermerkt und von Ärzten als pathologisches Moment interpretiert.34 Aus psychiatrischer Sicht galt der fehlende Schmerz als Indiz für Wahnsinn, als Mangel an einem ‚vernünftigen‘ und ‚gesunden‘ Körpergefühl, was die Anstaltseinweisung begründete. Schmerzempfindungen wurden seit den physiologischen Experimenten zur Sensibilität im 18. Jahrhundert eindeutig dem Nervensystem zugeordnet.35 Da Andreas R. scheinbar nicht zu ‚normalen‘ Schmerzerfahrungen fähig war, musste nach physiologischen Gesichtspunkten das Nervensystem beziehungsweise das Gehirn erkrankt sein. Andreas R. sprach über den Körper, den er verstümmelte, wie von einem fremden Gegenstand. Diese Einschätzung lässt sich durchaus mit gegenwärtigen Beschreibungen von Psychosen verknüpfen, um hier Rudolf Bernets Interpretation des Körpererlebens des Psychotikers zu zitieren: „Er empfindet ihn als etwas, das sich autonom und fremdartig verhält“, als „versteinert“ und „fragmentiert“ in verschiedene, voneinander getrennte Organe, die zum Teil ihren eigenen Willen haben und nicht kooperieren.36

33 HA LKH, KA, Männer 1842, Andreas R. I/304. 34 HA LKH, KA, Männer 1842, Andreas R. I/304. 35 Vgl. Andreas-Holger Maehle, Art. Schmerztherapie, in: Werner E. Gerabek u. a. (Hg.), Enzyklopädie Medizingeschichte, Bd. 3, Berlin/New York 2007, 1302–1303. 36 Rudolf Bernet, Wahn und Realität in der Psychose, in: Gerhard Unterthurner u. Ulrike Kadi (Hg.), Wahn. Philosophische, psychoanalytische und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Wien/Berlin 2012, 9–35, 32–33.

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Schmerz ist aber nicht nur physisches Erlebnis, sondern auch verkörperte Erfahrung37 und körperliche Praxis. Die Ärzte deuteten die angeblich „schmerzlose“ und kaltblütige Selbstkastration des Andreas R. und Franz Anton K. als pathologisches Zeichen, deren auch in der Anstalt fortgesetzte Kultivierung des Schmerzes durch Bußpraktiken als religiöse Exzentrik. Diese Praktiken waren auf den männlichen Körper zugerichtet, der aus Sicht der Mediziner verstümmelt, aus der Sicht der Patienten korrigiert wurde. Die Patienten scheinen den durch die Selbstverletzung hervorgerufenen Schmerz nicht als unerwünschte Begleiterscheinung von Krankheit erfahren zu haben. Vielmehr nahmen sie den Schmerz, vielleicht auch zu einem im Vergleich noch schmerzhafter und als ‚sündhaft‘ empfundenem Begehren, als Buße in Kauf. „[S]eine Gebärden waren ein ungewöhnlicher Ausdruck der ehrfurchtsvollsten Erniedrigung vor dem Heiligen“,38 interpretierten die Ärzte die asketischen Körperpraktiken des Franz Anton K., der lange Zeit über kniend oder stehend „mit ganz zur Erde gebücktem Haupte“ und „und zwar in dem Garten ebenso wie in seiner Zelle“ ausharrte.39 Geißel und Bußgürtel waren Franz Anton K. bei seinem Eintritt in die Anstalt zwar abgenommen worden. Dennoch disziplinierte und transformierte er mit improvisierten Mitteln weiterhin seinen Körper, indem er sich als religiösen Fetisch einen Bart wachsen ließ, eine mutmaßlich schmerzhafte Körperhaltung beim Beten einnahm,40 fastete beziehungsweise Gras und Kräuter aß sowie sich als Ersatz für den Bußgürtel ein Schnupftuch um die Hüfte wickelte.41 Seinen den Anstaltsregeln unterworfenen männlichen Körper erfuhr er weiterhin nicht nur als „Ort von inkorporierten Einschreibungen und Machtbeziehungen […], sondern auch als Ort des Widerstandes und der Widerspenstigkeit, als Ort von Eigen-Sinn“.42 Der Krankengeschichte zufolge fügte er sich in die Anstaltsumgebung ein, er zeigte sich „verträglich u. machte nicht im Geringsten eine Miene jemanden zu beleidigen“, auch hätte er „im Auftrage der Anstalt zu Haus u. auf dem Felde die verschiedenartigsten Arbeiten mit anhaltendem Fleiße u. kräftiger Ausdauer“ verrichtet. Gleichzeitig zelebrierte er beharrlich seine „sonderbaren“ religiösen Ansichten: „Sich den Kinnbart scheren zu lassen, konnte er ebenso wenig vermocht werden, als die Hauskapelle zu besuchen, denn mit seinem Barte war eine hohe religiöse Bedeutung verbunden, u. in der 37 38 39 40

Vgl. Rob Boddice, Pain. A Very Short Introduction, Oxford 2016. HA LKH, KA Männer 1849, Franz Anton K. I/431. HA LKH, KA Männer 1849, Franz Anton K. I/431. Vgl. Peter J. Bräunlein, Disciplina, Transformationen des Selbst, Körpertechnik. Religionshistorische und religionsethnologische Überlegungen, in: Almut-Barbara Renger u. Alexandra Stellmacher (Hg.), Übungswissen in Religion und Philosophie. Produktion, Weitergabe, Wandel, Berlin 2018, 163–180; Niklaus Largier, Am Rand des Schweigens. Körper und Stimme in der Praxis des Gebets, in: ebd., 147–162. 41 Vgl. HA LKH, KA Männer 1849, Franz Anton K. I/431. 42 Heidrun Zettelbauer, Embodiment Verkörperungen Geschlecht, Körper, Kultur, in: Heidrun Zettelbauer u. a. (Hg.), Verkörperungen Embodiment. Transdisziplinäre Analysen zu Geschlecht und Körper in der Geschichte, Göttingen 2017, 9–43, 21.

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Hauskapelle wurde ihm nicht das wahre Opfer dargebracht.“43 Den Protokolleinträgen in der Akte zufolge gelang es dem Anstaltspersonal von Zeit zu Zeit einige Verhaltensänderungen herbeizuführen – unter anderem durch das Versprechen einer zusätzlichen Brotration. Ein Rest an Widerstand blieb. Über den Verlauf im Monat August 1846 heißt es: „K. ließ sich am 8. endlich bewegen, seinen Knebelbart, mit welchem er eine mystische Bedeutung verband, scheren zu lassen, vom 15. angefangen bequemte er sich die Messe täglich zu hören, wenn er gleich sie nicht für das wahre Meßopfer anerkannte, und vom 16. angefangen brachte man es durch die Gewährung einer Brodzulage dahin, daß er ferner nicht mehr mit ganz auf den Boden geneigtem Haupte sein oftmaliges Gebeth verrichtete. […] War man somit im Stande, manche Gewohnheit des Patienten, womit er eine abergläubische Bedeutung verknüpfte, bleibend zu entfernen, u. auf diese Art den Eintritt der Erinnerungen an seine aberwitzige Vorstellungen seltener zu machen, so bemerkte man doch kein Aufgeben derselben, K. bethete noch oft, band sich ein Tuch um die Lenden, u. sprach bei gegebener Veranlassung irre. Öfters käute er Gras.“44

Von dem Versuch, „den Kranken von seinen Irrthümern zu überzeugen“ wurde nun immer mehr Abstand genommen, ein solcher würde sich als „nutzlos erweisen, u. sogar gegen die erste Anzeige verstoßen, indem häufig nur ein desto eifrigeres Nachgrübeln dadurch erweckt wird“.45 Knapp drei Jahre später, im Juni 1849, wurde Franz Anton K. nach einer Aufenthaltsdauer von 1.054 Tagen als „gebessert“ nach Hause entlassen. Andreas R. hingegen war im Februar 1842 bereits nach vier Monaten Aufenthalt mit dem Vermerk „geheilt“ entlassen und einem Fuhrmann zur „Nachhausebringung“46 anvertraut worden. Sein Status als Wahnsinniger hatte sich verändert, nun war nur noch von einer bleibenden „psychischen Schwäche“ die Rede. Zugleich sprachen ihm die Ärzte seine Männlichkeit ab und attestierten ihm einen infantilen Geist. „Man würde sich fruchtlose Mühe geben“, heißt es am Ende seiner psychiatrischen Krankengeschichte, „wollte man am R. außer seinem albern-kindischen Wesen noch andere geistige Abnormitäten aufdecken“. Allerdings wäre die „psychische Schwäche“ in seinem Fall nicht so gravierend, dass ihm sein unleugbares männliches Recht, „auf den Genuß der Freiheit Anspruche zu machen u. seinem Handwerke ungehindert nachzugehen“ genommen werden dürfe.47

43 44 45 46 47

HA LKH, KA, Männer 1849, Franz Anton K. I/431. HA LKH, KA, Männer 1849, Franz Anton K. I/431. HA LKH, KA, Männer 1849, Franz Anton K. I/431. HA LKH, Aufnahmebuch I. HA LKH, KA, Männer 1842, Andreas R. I/304.

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3.

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Schmerz und „Religiöser Wahn“

Für einen Zugang zu Schmerz und Lust, unbewussten Fantasien, unterdrückten Emotionen oder seelischen Dramen erweist sich ein grob quantifizierender Zugriff als heuristische Sackgasse. Religion wurde „in widersprüchlicher Form für die Erklärung von Geisteskrankheit funktionalisiert, einerseits verabsolutiert, andererseits völlig marginalisiert“.48 Zeitgenoss*innen verknüpften diese Narrative mit geschlechtsspezifischen Zuschreibungen, den zu hinterfragenden Topos der besonderen Frömmigkeit und/oder Anfälligkeit von (hysterischen) Frauen für religiöse Pathologien.49 Aber auch bei männlichen Patienten der Tiroler Anstalt diagnostizierten Irrenärzte des 19. Jahrhunderts in zahlreichen Fällen einen ursächlichen Zusammenhang zwischen religiösen Zweifeln, Gewissenskonflikten oder einer exzentrischen Religiosität einerseits und dem Ausbruch oder Verlauf einer psychischen Erkrankung andererseits. Allerdings ist es wichtig, Schmerz und Wahn als komplexe vergangene Phänomene nicht durch die Anwendung moderner Rationalisierungsmodelle vorschnell zu pathologisieren.50 Joanna Bourke meint zu Recht, dass es keinen nachweislichen Grund für die Annahme gibt, historische Akteur*innen in früheren Zeitepochen wären psychisch auf dieselbe Weise ‚belastet‘ gewesen wie die von Freud um 1900 analysierten Patient*innen.51 In den Krankengeschichten von Andreas R. und Franz Anton K. aus den 1840er Jahren wird Unterschiedliches verhandelt, das Spektrum der mit Leid und Religiosität assoziierten Praktiken reicht von auffällig schmerzhaften Körperhaltungen beim Beten über asketische, auf den als „sündhaft“ konzipierten Körper bezogene „strenge“ Bußübungen (Selbstkasteiungen durch Fasten, das Tragen eines Bußgürtels, rituelle Selbstgeißelungen) bis hin zu den in beiden Fällen erwähnten Selbstkastrationen im Wahn. Gemeinsam ist beiden Fällen die situative Einbettung in die katholisch geprägte regionale Frömmigkeitskultur Tirols und Vorarlbergs. In beiden Fällen wurden außerdem – und dies ist ein zentraler Punkt – Schmerzpraktiken als Zeichen oder Symptome eines sogenannten „religiösen Wahnsinns“ medizinisch ausgedeutet.52 Die Krankengeschichten erzählen von Männern, deren Alter bei der 48 Karoline Großenbach, Fromme Quergänger in der Psychiatrie des Vormärz: Religionswahnsinn bei Patienten des großherzoglich-hessischen Hospitals Hofheim, in: Werkstatt Geschichte, 33 (2002), 5–21, 21. 49 Vgl. Edith Saurer, Religiöse Praxis und Sinnesverwirrung. Kommentare zur religiösen Melancholiediskussion, in: Richard van Dülmen (Hg.), Dynamik der Tradition, Frankfurt am Main 1992, 213–239, 220. 50 Vgl. Michael Stolberg, Möglichkeiten und Grenzen einer retrospektiven Diagnose, in: Waltraud Pulz (Hg.), Zwischen Himmel und Erde. Körperliche Zeichen der Heiligkeit, Stuttgart 2012, 209– 227. 51 Vgl. Joanna Bourke, Fear and Anxiety: Writing about Emotion in Modern History, in: History Workshop Journal, 55 (2003), 111–133, 116. 52 Zur zeitgenössischen Problematisierung religiöser Pathologien vgl. George Man Burrows, Ist die Religion eine Ursache oder eine Wirkung des Wahnsinns, in: Zeitschrift für die Anthropologie,

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Aufnahme in die Anstalt bei 23 und 25 Jahren lag. Beide kamen aus bäuerlichen Verhältnissen und wurden auf Staatskosten nach der untersten der drei Verpflegungsklassen versorgt. Der eine war Weber, der andere hatte das Schuhmacherhandwerk erlernt. Ihre Krankengeschichten lassen sich genderkritisch an der Schnittstelle von Religions- und Medizingeschichte auf Konzepte religiöser Praktiken der Kultivierung, Kontemplation und Bekämpfung von Schmerz interpretieren. Sie bereichern die mittlerweile theoretisch ausdifferenzierte Schmerzgeschichte um individuelle Facetten ‚from below‘.53 In Bezug auf die Schmerzpraktiken ist für das 19. Jahrhundert dabei eine auffällige Geschlechterdifferenz in religiösen Kontexten festzustellen, zumal es meist Frauen waren, die als weibliche „Opferseelen“ freiwillig die Via dolorosa beschritten, asketische Bußpraktiken auf sich nahmen oder/und durch Stigmata und Wunden spektakulär anzeigten, wie sehr sie in ihrer Qual Christus am Kreuz ähnlich wurden.54 Nicht nur in der Religion, sondern auch in der Medizin repräsentierte die schmerzende Wunde seit jeher das Musterbild für den Umgang mit dem Schmerz.55 Die stigmatisierte Jungfrau stellte gewissermaßen den Prototyp für den katholischen Dolorismus der Zeit dar. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rückte sie als überspannte „Hysterikerin“ in den Mittelpunkt religionskritischer psychiatrischer Aufmerksamkeit. Während diese Zusammenhänge zwischen Stigmata, weiblichem Körper, Schmerz, Religiosität und ‚Hysterie‘ in religionshistorischen Detailstudien untersucht worden sind,56 wurde der selbstgequälte männliche Körper bislang weniger in den Blick genommen. Überliefert ist er vor allem im psychiatrischen Wissensraum im Zusammenhang mit der (häufigen)

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(1820), 793–837; Karl Wilhelm Ideler, Der Religiöse Wahnsinn, erläutert durch Fallgeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart, Halle 1847; ders., Versuch einer Theorie des religiösen Wahnsinns. Ein Beitrag zur Kritik der religiösen Wirren der Gegenwart, 2 Bde., Halle 1848–1850; Philippe Huneman, From a religious view of madness to religious mania: the Encyclopédie, Pinel, Esquirol, in: History of Psychiatry, 28, 2 (2017), 147–165; Maria Heidegger, The Devil in the Madhouse. On the Treatment of Religious Pathologies in Early Psychiatry, Tyrol, 1830–1850, in: Henk de Smaele, Tine van Osselaer u. Kaat Wils-Verhaegen (Hg.), Sign or Symptom? Exceptional Corporeal Phenomena in Medicine and Religion (19th and 20th century), Leuven 2017, 23–42. Vgl. Joanna Bourke, The Story of Pain: From Prayer to Painkillers, Oxford 2014; Javier Moscoso, Pain. A Cultural History, London 2012; Robb Boddice (Hg.), Pain and Emotion in Modern History, Houndmills 2014; Boddice, Pain, wie Anm. 37. Paula Kane, „She Offered Herself up“. The Victim Soul and Victim Spirituality in Catholicism, in: Church History, 71, 1 (2002), 80–119; Richard D. E. Burton, Holy Tears, Holy Blood: Women, Catholicism, and the Culture of Suffering in France, 1840–1970, Ithaca/London 2004; Nicole Priesching, Maria von Mörl (1812–1868). Leben und Bedeutung einer „stigmatisierten Jungfrau“ aus Tirol im Kontext ultramontaner Frömmigkeit, Brixen 2004. Vgl. Esther Fischer-Homberger, Zum klassisch-neuzeitlichen Umgang mit dem Schmerz: Die Schmerz-Bekämpfung und ihr Preis, in: Heinz Barta u. Elisabeth Grabner-Niel (Hg.), Wissenschaft und Verantwortlichkeit 1996. Die Wissenschaft – eine Gefahr für die Welt?, Wien 1996, 290–320. Vgl. zuletzt Tine Van Osselaer u. a., The Devotion and Promotion of Stigmatics in Europe, c. 1800– 1950, Brill 2021.

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Diagnose des „religiösen Wahns“, wobei in der zeitgenössischen psychiatrischen Literatur prominent der seltene Fall der imitatio crucis, der Selbstkreuzigung, diskutiert wurde.57 Angesichts des komplexen Nebeneinanders und der Wechselwirkungen von Religion, Geschlecht und psychiatrisch-medizinischen Deutungen in den beiden Fällen von Männern, die sich mutmaßlich aus spirituellen Gründen selbst Schmerz zufügten, werden außerdem eindimensionale Narrative, die von linearen Prozessen der Säkularisierung und Medikalisierung des Schmerzes ausgehen und ein Abnehmen religiöser Sinndeutungen von Schmerz und eine Zunahme von schmerzlindernden Behandlungen postulieren, sowie deren vermeintlich direkte Relevanz für den therapeutischen Alltag in Frage gestellt. Die Fallbeispiele verdeutlichen stattdessen die Art und Weise, wie konkrete soziale Konstellationen und Erfahrungen im Rahmen psychiatrischer und geschlechtsspezifischer Zuschreibungen pathologisiert wurden. Aus heutiger Perspektive wird Schmerz disziplinenübergreifend überlicherweise in den Kategorien ‚Gesundheit‘ und ‚Krankheit‘ gedacht; dies sind jedoch deskriptive, relative und normative Begriffe, die einem historischen Wandel und als gesellschaftliche Phänomene unterschiedlichen Deutungen unterliegen und mit einer Reihe von Werturteilen besetzt sind.58 Wie die Analyse der beiden Fallgeschichten verdeutlicht, ist Schmerz beziehungsweise die Diagnose oder Zuschreibung von Schmerzunempfindlichkeit allerdings immer in die kommunikativen, kulturellen, ethischen und politischen Zusammenhänge der Zeit eingebettet. Vor diesem Hintergrund wird auch aus aktueller emotionshistorischer Perspektive die immer wieder postulierte Trennung zwischen körperlichem und seelischem Schmerz als eine kulturelle Konstruktion, als eine Rückprojektion spätmoderner Konzepte auf die Vergangenheit und als fehlende Historisierung von Körper- und Schmerzwahrnehmungen kritisiert. Diese Differenzierung beruht auf einem normativen, bio-mechanischen Schmerzmodell, das den in den beiden Fallgeschichten beschriebenen Schmerzpraktiken nicht gerecht wird.59 In der 1803 publizierten Schrift Johann Christian Reils (1759–1813) „Rhapsodiien auf die psychische Curmethode“, die für die Therapeutik in der deutschsprachigen Anstaltspychiatrie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts programmatisch wurde, galt körperlicher Schmerz als ein nützliches Werkzeug in der Hand des Irrenarztes: „Endlich können wir noch dadurch angenehme Körper-Gefühle wecken, dass wir die vorhandenen Schmerzen wegnehmen. Wir kühlen, erquicken den matten, schaffen Ruhe dem angestrengten Kranken. Zu diesem Behuf kann es zweckmäßig seyn, ihm 57 Vgl. Maria Böhmer, The Man Who Crucified Himself. Readings of a Medical Case in NineteenthCentury Europe, Leiden/Boston 2019. Böhmer untersucht die Zirkulation der berühmten Fallgeschichte des Venetianers Mattio Lovat, der sich 1805 selbst kreuzigte und als „religiös Wahnsinniger“ in die Anstalt San Servolo eingewiesen wurde. 58 Dietrich von Engelhardt, Krankheit, Schmerz und Lebenskunst: Eine Kulturgeschichte der Körpererfahrung, München 1999, 7. 59 Zur politischen Dimension der Geschichte des Schmerzes vgl. Boddice, Pain, wie Anm. 37.

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absichtlich Schmerzen zu erregen, um nachher als Erlöser von denselben auftreten zu können.“60 Absichtlich zugefügter Schmerz und Schmerzlinderung spielten auch im therapeutischen Alltag der Tiroler Psychiatrie eine wichtige Rolle. Gleichzeitig agierten die Tiroler Irrenärzte auf der Höhe ihrer Zeit, indem sie eine komplexe Einschätzung übernahmen, nach der Schmerz nicht nur als unliebsame Erscheinung behandelt, sondern individuell in einen „gesunden Rahmen“ eingeordnet wurde. Dabei beurteilten sie das vielschichtige Phänomen des Schmerzes aus diagnostischer Sicht ambivalent: Einerseits wurde die von den Patient*innen mitgeteilte Erfahrung von Schmerz geschlechtsspezifisch different als Krankheitszeichen anerkannt. Andererseits galt auch die Unfähigkeit, überhaupt „normal“ Schmerz zu empfinden, als ein Symptom für Wahnsinn. Das Verebben von Schmerzempfinden konnte sowohl als Kriterium für eine erfolgreiche „Heilung“ gelten, als auch den kontinuierlichen Übergang zum „unheilbaren“ Zustand des sogenannten „Blödsinns“ markieren. Schmerz diente also der Grenzwertüberprüfung, wie Sander Gilman schreibt, „whether as a reason for intervention or as a perceived source for greater insight into the mad and their creative capacities“.61

4.

Fazit: Psychiatrische Aufzeichnungen von Schmerz und Männlichkeit

Konfrontiert mit männlichen ‚religiös Wahnsinnigen‘, die wie Franz Anton K. und Andreas R. selbst ihr männliches Geschlecht verletzten, reagierten die ‚psychischen‘ Ärzte in der Irrenheilanstalt einerseits irritiert, andererseits mit therapeutischen Interventionen. Die psychisch-moralische Behandlung des ‚religiösen Wahnsinns‘ bestand im Fall des Franz Anton K. aus Arbeitstherapie und einer klinischen Beobachtung von Körperpraktiken, und – da er ‚eigensinnig‘ auf seinem Wahn beharrte – aus mehr oder weniger geduldigem Zuwarten. Währenddessen entfernte man heimlich „von Zeit zu Zeit einen Gegenstand seines religiösen Wahnes“ und ersetzte diesen jeweils durch einen anderen, der ihn zu einer „nützlichen Thätigkeit“ anregen sollte.62 Bei den aus dem Eigentum des Patienten und nach Möglichkeit auch aus seinem Gedächtnis entnommenen persönlichen Dinge handelte es sich unter anderem um Schmerz-‚Objekte‘ mit symbolischen, psychologischen und emotionalen Bedeutungen.63 Psychische und physische Schmerzen und Schmerzlosigkeit, die sich auf den

60 Johann Christian Reil, Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, Halle 1803, 187. 61 Sander L. Gilman, Madness as disability, in: History of Psychiatry, 24, 4 (2014), 441–449, 442. 62 HA LKH, KA, Männer 1849, Franz Anton K. I/431. 63 Vgl. Karen Harvey, Introduction. Historians, Material Culture and Materiality, in: dies. (Hg.), History and Material Culture. A student’s guide to approaching alternative sources, Milton Park/

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männlichen Körper bezogen, wurden als Zeichen und Symptome interpretiert oder im Gegenteil ausgeblendet beziehungsweise nicht zur Sprache gebracht und zum Teil tabuisiert. Die Irritationen und Ausblendungen lassen sich durch die enge Verknüpfung der Phänomene Lust und Schmerz erklären. Schmerzhafte, auf den Körper bezogene Praktiken konnten zugleich als lustvoll, als Selbstbestrafung und selbstermächtigendes Handeln oder auch als pathologisch begriffen werden. Im Fall der für den Untersuchungs(zeit)raum berühmten und weit besser untersuchten stigmatisierten Jungfrauen kam der sichtbaren Inszenierung des Schmerzes eine zentrale Bedeutung zu. Im Fall der ruhmlosen männlichen Patienten Franz Anton K. und Andreas R. hingegen wurden asketische Schmerzpraktiken erst bei der Untersuchung von Körper und Habseligkeiten entdeckt. Die protokollierte Wunde am Körper verriet die Anwendung von Schmerz verursachenden Objekten, (Blut)Spuren auf dem Artefakt verwiesen auf das Körperliche. Von psychiatrischen Ärzten wurde beides als sichtbares Zeichen wahnhaft-religiöser Exzentrik gedeutet. Die Fälle von Selbstkastration wurden in den 1840er Jahren als Selbstentmannung im Wahn erzählt. Die Patienten selbst brachten hingegen „zwischen den Zeilen“ auch den Wunsch nach Selbstbestrafung, Befreiung und Veränderung zur Sprache. Der von Franz Anton K. getragene Bußgürtel, der offenbar ähnlich konstruiert war wie jene Cilici, die heute noch von Angehörigen des Opus Dei um den Oberschenkel getragen werden, fungierte nicht nur als ein persönliches Marterinstrument. Für Franz Anton K. zählte er zu seinem Rüstzeug auf dem steinigen Weg in den Himmel, für die Psychiatrie galt er als Zeichen für den Wahnsinn exzentrischer Religiosität. Die von Franz Anton K. und Andreas R. vollzogenen Schmerzpraktiken konnten – je nach Sichtweise – als Angriff auf ‚natürliche‘ und ‚gesunde‘ Männlichkeit oder auch als Ermächtigung über den eigenen Körper gedeutet werden. Der groß gewachsene und mit tiefer Stimme ausgestattete Franz Anton K. entsprach seinem Äußeren nach den geltenden körperbezogenen Idealen von Männlichkeit. Andreas R. wurde hingegen als schwächlich, als Person mit fehlender Selbstkontrolle und zuletzt als kindlich charakterisiert. Die Irrenärzte verliehen Andreas R., der sich selbst verstümmelte, um ein zölibatäres Leben in der Kirche zu erzwingen, den Status ‚ungefährlicher‘ Albernheit. Interessanterweise wurde parallel zu diesem Prozess der Infantilisierung des jungen Mannes seine Entlassung aus der Irrenanstalt als ‚geheilt‘ in die Wege geleitet. Andreas R. hatte die physische männliche ‚Natur‘ selbst verletzt und letztlich zerstört, nachdem er für sich selbst trotz oder wegen aller Widerstände seiner Umgebung das religiöse Modell einer vergeistigten, körperlosen Männlichkeit wählte. Auch die Schmerzgeschichte des Franz Anton K. ist vom Gegensatz zwischen ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ geprägt. In seinem Fall repräsentieren jedoch die als sanft und nachgiebig beschriebenen Tanten und deren Lektürepraktiken einen ‚ungesunden‘ weiblichen und verweichlichenden kulturellen New York 20182, 1–26; Derek Hillard, Heikki Lempa u. Russell Spinney (Hg.), Feelings Materialized. Emotions, Bodies and Things in Germany, 1500–1950, New York 2020.

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Einfluss. In den Augen der Anstaltsärzte waren sie es, die den heranwachsenden Jungen von seiner männlichen ‚Natur‘ entfernten und einen selbstkontrollierten und ‚gesunden‘ wie letztlich auch schmerzlosen Umgang mit seiner Männlichkeit verhinderten. Der Blick auf Männer und ihr selbstverletzendes Verhalten zeigt ein facettenreiches Bild, indem die Ein- und Zuschreibungen von (fehlender) Männlichkeit individuell sehr unterschiedlich vorgenommen wurden. In dem einen hier diskutierten Fall opferte sich ein als schwächlich bezeichneter Mann kaltblütig selbst, im anderen Fall wurde er zum widerspenstigen Opfer stilisiert. Religiös konnotierte Schmerzpraktiken wurden abhängig von Geschlecht, Männlichkeitsvorstellungen und Vorstellungen über die (religiöse) ‚Sinnhaftigkeit‘ oder ‚Richtigkeit‘ des Schmerzes verschieden pathologisch gedeutet. Dabei wurde der Patient als solcher entweder ernst genommen oder aber dessen Schmerz als verschroben und exzentrisch charakterisiert und letztlich als kindisch und harmlos kategorisiert. Schmerz und Männlichkeit erscheinen in beiden der hier analysierten Fälle als intersektionale Kategorien am Schnittpunkt von Schmerz-, Religions- und Psychiatriegeschichte. Die gegenseitigen Verknüpfungen waren einerseits abhängig von Vorstellungen über (männliche) Natur, Kultur und rechte Frömmigkeit sowie darüber, wie ‚gesunde‘ oder ‚kranke‘ Männer aus psychiatrisch-medizinischer Sicht Schmerz erfahren beziehungsweise den Verlust ihrer Männlichkeit schmerzhaft erleben sollten. Andererseits aktualisierten sich solche Vorstellungen von Schmerz und Männlichkeit jeweils unterschiedlich vor dem Hintergrund persönlicher Charakterzuschreibungen, abhängig von kulturell konstruierten Körperbildern und den im psychiatrischen Kontext klinisch beobachteten Körperpraktiken sowie im Rahmen einer Vielzahl weiterer alltäglicher Interaktionen zwischen Ärzten und Patienten, die in den Quellen teilweise protokolliert wurden und somit in der weiteren Analyse sichtbar gemacht werden können.

Kylie Thomas

Undoing Gendered Expressions of Grief: Dora Kallmus’ Post-War ‘Slaughterhouse’ Photographs (1949−1958)* “What she calls the essence of her way of working is this. As one would have supposed, she does not set to work to compose a picture according to the dictates of the text-books, but with her eyes only.” (“Madame d’Ora on Her Methods”, 1912)1

Figure 1: Photograph by Dora Kallmus. OstLicht Collection Vienna, Inv.-Nr. 063-02145 (hare) * This research has been supported by the European Commission within the framework of H2020EU.1.3.2. for the Marie Skłodowska-Curie Individual Fellowship project Fem-Resist: Women, Photography and Resistance in Transnational Perspective, Grant agreement ID: 838864. 1 Madame d’Ora on her Methods, in: Wilson’s Photographic Magazine, 49 (1912), 485–486.

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At the Ostlicht archive in Vienna, I sit at a large table and examine a series of horrific yet compelling photographs of slaughtered animals. I am confronted by a partially-skinned hare, its feet still covered in fur, and I look as long as I can at this exposed creature, its congealed grin and albino eye encased in shadow, its posture almost like that of a sleeping baby (figure 1).

Figure 2: Photograph by Dora Kallmus. OstLicht Collection Vienna, Inv.-Nr. 063-02146 (goat’s head)

I consider a portrait of a severed goats head, two small horns and black and white fur still in place on the surface of the skull, and an eye, perfectly intact, that seems to look accusingly out at me. I wonder how a dead thing can have so much life, and I realise that this is as much a question about photography as it is about these particular images. A third image shows a bound cow, its body rests in death, its head amputated and positioned close to those who view it, in the foreground of the photograph. In front of this, a metal pan to collect the animal’s blood, which overflows and merges with the sticky mess that coats the concrete ground.2 2 I am grateful to Marie Röbl at the Ostlicht archive for allowing me to spend time there working with

Kylie Thomas, Dora Kallmus’ Post-War ’Slaughterhouse’ Photographs (1949−1958)

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Figure 3: Photograph by Dora Kallmus. OstLicht Collection Vienna, Inv.-Nr. 063-02145 (decapitated cow)

These three photographs form part of an extensive series made by Austrian-born, Jewish photographer Dora Kallmus (1881–1963) in the abattoirs of Paris over a tenyear period after the end of the Second World War. They represent a radical break from the studio portraits of artists, dancers, writers and society figures for which she is best known, made between 1907, when she opened her studio in Vienna under her artist name, Madame d’Ora, and 1942, when she was forced to stop working as a result of the Nazi occupation of Paris.3 In this article I read Kallmus’ slaughterhouse series not only these images. I began this research on Dora Kallmus in 2018 with the support of a EURIAS European Institutes for Advanced Study Junior Fellowship at the Institute for Human Sciences (IWM) in Vienna and thank the fellows and staff at the IWM for their critical engagement and support. 3 Madame d’Ora was Kallmus’ artist name which concealed her Jewish surname and evoked the glamour of Paris. Kallmus, like many other Jewish people in Austria in the nineteenth and the first part of the twentieth centuries, converted to Christianity. I would like to thank Edda Engelke for sharing an image of the Lutheran Church Taufeintrag that documents Kallmus’ conversion to Protestantism in 1919, which most likely occurred for pragmatic reasons. Charles Maier explains Gustav Mahler’s conversion by referring to how “the disabilities of being Jewish in the German lands were a powerful incentive to seek an alternative official identity”, see Charles S. Maier, Christianity

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as signifiers of her attempt to find a language to represent the horror of the death camps, but as a critique of the widespread refusal within post-war European societies to recognise the enormity of the Shoah. The slaughterhouse images are born of pain, but they are not unmediated expressions of personal grief, nor do they document the routine work of the abattoir. These stark photographs have been carefully created to offer no respite – they are deliberately painful to look at.4 In order to understand these photographs and their powerful affective charge, I argue that it is necessary to consider them not only in relation to the body of work Kallmus produced before the war, but to read them in relation to the catastrophic events that effectively destroyed both her life and the social world she inhabited.5 While there have been several major exhibitions showcasing Madame d’Ora’s studio portraits and fashion photographs, her slaughterhouse images have either, with few exceptions, been overlooked or understood as visible signs of her psychic distress after the Shoah.6 Kallmus’ slaughterhouse photographs can indeed be read as an expression of grief. More importantly, as I argue here, they signify a refusal to limit the pain of loss to the private (gendered) domestic sphere and instead allow Kallmus to use the medium of photography as a form of critique of the indifference of post-war society. Kallmus’ images can thus be understood to exceed the normative bounds of gendered expressions of grief, which conventionally individualises and feminises mourning. The slaughterhouse series can also be seen as a form of protest against the post-war erasure of the suffering of those who were deported and murdered by the Nazis. Lisa Silverman’s research on Kallmus recognises the importance of the slaughterhouse images and their relation to the Shoah, and has opened new ways of reading the

and Conviction: Gustav Mahler and the Meanings of Jewish Conversion in Central Europe. Spaces of Multiple Belonging Jewish Topographies in Modernity – The Case of Gustav Mahler, Simon Dubnow Institute, Leipzig, May 23–24, 2011, 4, at: https://dash.harvard.edu/bitstream/handle /1/33085707/Mayer_Conversion.pdf; access: 20 June 2022. 4 A large collection of images from the Slaughterhouse series is held at the Museum für Kunst & Gewerbe Hamburg, Germany. See https://sammlungonline.mkg-hamburg.de/en/search?s=Schlach thof-Serie&h=undefined&sort=scoreDesc&f[]=creator%3A%2C%20Madame%20d%27Ora, access: 20 June 2022. 5 The diaries Kallmus kept during the war years provide insight into the torment she experienced when she lost contact with her sister Anna, who was deported and murdered by the Nazis. See Eva Geber (ed.), Madame D’Ora. Tagebücher aus dem Exil, Wien/Berlin 2022. 6 The first posthumous exhibition of Dora Kallmus’ work was curated by Fritz Kempe in Hamburg in 1971. In 1983, Monika Faber published the first monograph on her work. An exhibition curated by Faber was shown at Vassar College in 1987 and two other sites in the United States. The Museum für Kunst & Gewerbe Hamburg (MK&G) exhibited the first comprehensive survey of Dora Kallmus’ work under the title “Madame d’Ora: Make Me Beautiful” between 21 December 2017 and 18 March 2018. The exhibition “Make Me Look Beautiful, Madame D’Ora!”, which displayed 330 photographs by Dora Kallmus, was shown at the Leopold Museum in Vienna from July 2018 to October 2018. Both exhibitions were curated by Monika Faber and Magdalena Vukovic. From February to March 2020, “Madame d’Ora” was on view at the Neue Galerie in New York.

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series.7 Following Silverman’s description of the slaughterhouse photographs as a “visual narrative of catastrophe” that conveys “not only a preoccupation with suffering but also a struggle with the expressive limits of photography as an art form after the cataclysmic events of the Second World War”,8 I suggest here that Kallmus’ post-war images are the most interesting in her oeuvre because they provide insight into how she thought about photography and its effects, using the medium to express personal pain and to translate it into a powerful form of social critique. In the first section of the article, I provide a brief introduction to the life and work of Kallmus, who worked under the name ‘Madame d’Ora’, and who is widely regarded as one of the most significant photographers of the last century, not only because of the images she created but also because she opened the way for the many other women photographers in Europe who followed her. In the second section, I compare Kallmus’ slaughterhouse images to the post-war thought of political theorist Hannah Arendt, discussing how both Kallmus and Arendt approach grief and loss in ways that veer decidedly away from the gendered script that conflates women’s bodies and mourning. The representation of grieving women as symbols of loss and of mourning is a key trope in the history of art – from Michelangelo’s Pietà, which depicts the Virgin Mary holding the crucified body of Jesus after he was removed from the cross, to contemporary photographs of the effects of war and conflict. Public expressions of grief are similarly gendered as female in literary works from antiquity to the present, and entail performative practices that take place in and through the weeping, wailing and (usually) maternal, bodies of women.9 War memorials and monuments often foreground men who have lost their lives in battle, while commemorations of civilian losses often centre on women, sometimes accompanied by babies or children. I focus here on how Kallmus translated the painful experience of the loss of her sister, who was murdered by the Nazis, through a very different lens, one that eschews the conventions of gendered expressions of grief. By painstakingly documenting hundreds of individual instances of animal slaughter, she honed in on the horror of the manner of each single killing, producing a clinical dissection of slaughter that refuses to be cast in tragic or sentimental 7 For critical perspectives on the slaughterhouse images see Lisa Silverman, Art of Loss: Madame d’Ora, Photography and the Restitution of Haus Doranna, in: Leo Baeck Institute Year Book, 60, 1 (2015), 173–190; Savannah Dearhammer, The Corpse Ballet: Existentialism in Madame d’Ora’s Slaughterhouse Photographs. Unpublished MA thesis, University of California Riverside 2020; Julia Lutz, Madame d’Ora: Schlachthoffotografie der 1950er. Versuch einer gesellschaftspolitischen und psychologischen Lesart, Unpublished MA thesis, University of Vienna 2015; Julia Lutz, Jenseits des Illustrativen: Eine Relektüre der Schlachthoffotografien von Madame d’Ora, in: Rundbrief Fotografie, 24, 3 (2017), 22–23; Katharina Sykora, Das Morbide und das Exzentrische, in: Machen Sie mich schön, Madame d’Ora – Dora Kallmus Fotografin in Wien und Paris, 1907–1957, Vienna 2017; Magdalena Vuković, Coming to A Close: D’Ora’s Final Creative Phase, in: Madame d’Ora, Prestel 2020, 159–169. 8 Silverman, Art of Loss, see note 7, 186. 9 See the article by Eftychia Kalaitzidou in this issue. On gender and mourning in ancient Greece, see Nicole Loraux, Mothers in Mourning, Ithaca 1998.

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terms. Her photographs do not directly convey the suffering and pain inflicted on those who were murdered in the Shoah, but evoke the brutal conditions of the cattle cars and camps in which people were reduced to less than animals. The photographs seek to make the vast hidden world of slaughter visible, and in this way, serve as reminders of the violence and pain inflicted by the Nazis and their collaborators. Finally, I situate the slaughterhouse series within the contested memoryscape of the Shoah in Austria. While the photographs Kallmus produced of dying and dead animals were not widely exhibited or published in her lifetime, the disruptive capacity of their latent political force continues to trouble attempts at Wiedergutmachung in the present.10

1.

From the studio to the slaughterhouse

Dora Philippine Kallmus was born on 20 March 1881 in Vienna, the second daughter of Malvine Kallmus (born Sonnenberg) and Dr Philipp Kallmus, a lawyer. Dora’s elder sister Anna Malvine was born on 28 February 1878, and the sisters were very close. Their mother died when Dora was just eleven years old. In 1900, at a time when women were largely excluded from higher educational institutions and participation in professions, Dora Kallmus decided to become a photographer. In 1905, she was one of the first women to attend classes at the Graphische Lehr- und Versuchsanstalt (Graphic Training Institute) in Vienna. She received special permission to attend lectures, but was not permitted to take courses on photographic techniques, as these were not open to women until 1908. Determined to become a professional photographer, she went to Berlin to take up an apprenticeship in the portrait studio of Nicola Perscheid.11 There she met Arthur Benda, an assistant to Perscheid, who was proficient in the technical aspects of photographic production. When she decided to open a studio in Vienna, Benda joined her as her assistant, and they worked successfully together for the next twenty years. When Kallmus opened her Atelier d’Ora in Wipplingerstraße in the centre of Vienna in 1907, she was 26 and Benda just 22 years old.12 Kallmus was the first woman to be accepted into the Photographic Society in Vienna.13 She became a 10 A retrospective exhibition of Madame d’Ora’s work that included images from her slaughterhouse series was supported by UNESCO and held at the Galerie Montaigne in Paris from 17 November 1958 to 3 January 1959. See Geber, Madame, see note 5, 225. 11 Margaret Denny notes that Perscheid agreed to become Kallmus’ mentor for a five-month period because he was paid a “hefty sum” by her father. Margaret Denny, Madame d’Ora, in: Lynne Warren (ed.), Encyclopaedia of Twentieth-Century Photography, New York 2006, 990. 12 On the establishment of Atelier d’Ora, see Monika Faber, “… mein Wunsch und meine Aufgabe …”. Die Gründung des Photoateliers von Dora Kallmus, in: Frauen Kunst Wissenschaft, 14 (1992), 15−27. 13 See Anna Auer, The Photographic Society founded 1861 in Vienna, in: Photography and Research in Austria – Vienna, the Door to the European East. The Proceedings of the Vienna Symposium, Austrian National Library, Vienna, 2001, 201−206.

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role model for numerous young women photographers, including Grete Kolliner, Edith Barakovich, Trude Fleischmann, Pepa Feldscharek, Edith Glogau, Hella Katz, Trude Geiringer and Dora Horovitz, Margaret Michaelis, Marianne Bergler and Lotte Meitner Graf, several of whom held apprenticeships at her studio.14 The inter-war years saw a proliferation of photography studios in Vienna, Paris and Berlin, many of which were run by Jewish women. Madame d’Ora was the leader in this field and excelled as a portrait photographer of the aristocracy, as well as of artists, writers, dancers and musicians, including Gustav Klimt, Arthur Schnitzler, Anna Pavlova, Anita Berber and Josephine Baker. In 1916, she photographed the coronation of Emperor Charles I (Kaiser Karl) as the King of Hungary, the last reigning monarch of the Austro-Hungarian Empire. She also produced a portrait series of the Imperial family as well as numerous studio portraits that provide a chronicle of Viennese high society just before the collapse of the Hapsburg Empire.

Figure 4: Tina Blau, 1915. Photograph by Madame d’Ora (Dora Kallmus). Image Courtesy of the Austrian National Library.15

14 On women photographers in Vienna in the interwar years, see Iris Meder, Andrea Winklbauer and Ulla Fischer Westhauser, Vienna’s Shooting Girls. Jü dische Fotografinnen aus Wien, Wien 2012. 15 Thanks to Bethany Warner for assistance with obtaining image permissions for this article.

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Alongside the hundreds of exemplary Pictorialist portraits, in which the individual sometimes seem subsumed by the trappings of their time, Dora Kallmus produced many photographs that indicate how she was already experimenting with a new approach to capture a sense of the person she portrayed.16 Her 1915 portrait of Austrian painter Tina Blau, for instance, breaks with the conventions of Pictorialism to convey the formidable presence of the artist, who, as Sophie Vitovec notes, seems to have just turned away from her work to look towards the photographer (figure 4).17 Kallmus’ images, in which the photographic medium is used to push against convention, prefigure the work she was to make in refugee camps in Austria in 1946,18 as well as the disturbing series of photographs she took in the abattoirs of Paris in the late 1940s and 1950s, which mark the final phase of her career. In 1925, Madame d’Ora opened a studio in Paris together with Benda. Two years later Benda returned to Vienna to run her studio there.19 A short while later, their partnership came to a bitter end. Following legal proceedings, it was decided that the studio in Vienna would operate under the name d’Ora-Benda-Wien’ and the studio in Paris as d’Ora-Paris.20 Kallmus was to remain in Paris until the Nazi occupation in 1940, when she was forced to go into hiding in the Ardèche in south-eastern France. After the war, she rented a small darkroom in Paris, but as many of her former customers had emigrated or had been murdered, Kallmus had to work under what Magdalena Vuković describes as “much more modest conditions” than before.21 As her post-war photographs show, there could be no return to the world that existed before the death camps. If the early portraits Kallmus produced in her studio in Vienna affirmed the stability of the social world of well-to-do European citizens before the First World War, and if 16 Pictorialism describes the international movement that advocated for understanding photography as a form of art. This approach, in which photographers sought to create a painterly effect in their images, was popular in the late nineteenth and early twentieth centuries. 17 See Sophie Dorothée Vitovec, Anita Berber im fotografischen Blick von Madame d’Ora, unpublished MA thesis, University of Vienna 2013, 30. 18 In the United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) camps in Vienna and Salzburg, Kallmus made use of photography as a mode of bearing witness to the vast number of people who had been displaced by war. In December 1946, there were 29,156 displaced persons in camps in the US-zone in Austria. See Abraham S. Hyman, Displaced Persons, in: The American Jewish Yearbook, New York 1950, 315−324, 315. On the images Kallmus made in the refugee camps, see Magdalena Vuković, Porträts der Entwurzelung: D’Oras Fotografien in österreichischen Flüchtlingslagern 1946−149, Wien 2018; Geber, Madame, see note 5, 174−186. 19 On the successful studio Kallmus set up and ran in Paris as well as the wider context in which she worked, see Françoise Denoyelle, Paris, Capitale Mondiale de la Photographie, 1919−1939, in: Guerres mondiales et conflits contemporains, 169 (1993), 101−116. 20 The reason for the breakdown in their relationship is not known, but by all accounts, it was unpleasant. Monika Faber, the leading expert on Kallmus’ life and work, maintains that it was due to a financial disagreement. 21 Vuković, Porträts, see note 18, 43. In a letter to Oskar Kokoschka, Kallmus describes her post-war studio as a prison. See Geber, Madame, see note 5, 205.

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the images she produced in the interwar years can be understood as a world-making practice, the photographs she made after 1945 signal the unmaking of the world. In this sense, Kallmus’ post-war images can be read as a theory of photographic praxis in the aftermath of the Shoah, a visual complement to the writings of Hannah Arendt and her views about how “the fabrication of corpses” in the death camps opened an abyss in understanding.22 Like Arendt, Kallmus was not only concerned with reminding society of the horrors of the camps but also with trying to explain what made such horror possible in the first place. The work of both women indicates their refusal of the role ordinarily ascribed to grieving women, to quietly bear the pain of loss. It equally signals their refusal to allow genocide to be rendered as ‘senseless tragedy’ to which no one could be held to account.

2.

The pain of denial

Figure 5: “3 Philosophes” [Three Philosophers]. Photograph by Dora Kallmus, c. 1955. © Nachlass (estate) Madame d’Ora, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg

22 Hannah Arendt, The Portable Hannah Arendt, edited by Peter Baehr, New York 2000, 14.

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Kallmus’ image of three, blinded, decapitated calves’ heads (figure 5), titled “3 Philosophes” [Three Philosophers], has an uncanny resonance with the work of Arendt and her conviction that western philosophy had, at best, led to a form of blindness and disengagement from the world, and at worst, was complicit in the profound moral failure that led to the extermination camps. In “Approaches to the ‘German Problem’”, Arendt writes of how the conventional frames of reference for approaching social phenomena and understanding human history no longer hold in the aftermath of the Shoah: “The very monstrosities of the Nazi regime should have warned us that we are dealing here with something inexplicable even by reference to the worst periods of history. For never, neither in ancient nor medieval nor modern history, did destruction become a well-formulated program or its execution a highly organized, bureaucratized, and systematized process.”23

The events of the Second World War, and in particular the industrialised slaughter of millions of people, led to a rupture in Arendt’s thinking. Jerome Kohn writes of how, for her, “political thought in the twentieth century had to break with its own tradition in as radical a sense as the systematic mass murder enacted by totalitarian regimes broke with the traditional understanding of political action”.24 Arendt argues that the industrialised killing and processing of the bodies of the dead who were murdered in the camps “goes beyond hostility and cannot be comprehended by political categories”.25 After the end of the war, Arendt devoted her thinking to understanding how it was possible for the events that took place in the camps to occur and critiqued the unthinking obedience to authoritarian rule that characterised the Nazi state. On her return to Germany in 1949, she wrote about the widespread refusal to acknowledge those who had been murdered and to recognise the suffering and losses of those who survived: “But nowhere is this nightmare of destruction and horror less felt and less talked about than in Germany itself. A lack of response is evident everywhere, and it is difficult to say whether this signifies a half-conscious refusal to yield to grief or a genuine inability to feel. Amid the ruins, Germans mail each other picture postcards still showing the cathedrals and market places, the public buildings and bridges that no longer exist. And the indifference with which they walk through the rubble has its exact counterpart in the absence of mourning for the dead, or in the apathy with which they react, or, rather, fail to react, to the fate of the refugees in their midst. This general lack of emotion, at any rate this apparent heartlessness, sometimes covered over with cheap sentimentality, is only the most conspicuous outward symptom of a deep-rooted, stubborn, and at times vicious refusal to face and come to terms with what really happened.”26 23 Hannah Arendt, Approaches to the “German Problem” (1945), in: Jerome Kohn (ed.), Essays in Understanding, 1930−1954: Formation, Exile and Totalitarianism, New York 1994, 109. 24 Jerome Kohn, Introduction, in: Essays, see note 23, xxvi. 25 Hannah Arendt, Dedication to Karl Jaspers (1948), in: Essays, see note 23, 215. 26 Hannah Arendt, The Aftermath of Nazi Rule: A Report from Germany , in: Commentary, 10 (1950), 342−353, 342.

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Arendt interprets the ongoing circulation of images of the pre-war world as signs of the wilful myopia of those who wander through the ruins as if nothing has changed. Even though accounts of the genocide were widely published after the end of the war, Arendt observed that the dominant response was either indifference or denial. Just as Arendt’s writings sought to render visible what seemed to be so easily forgotten, Kallmus’ slaughterhouse series can be read as an attempt to rupture the ‘cheap sentimentality’ intended to cover over the unbearable past. In portraying the painful deaths of animals, Kallmus sought a visual language to convey the suffering of those who were murdered in the death camps. The images Kallmus produced after the war were directed by her grief at the death of her sister, and by her anger at the way in which suffering and death could be so quickly forgotten, allowing so many of those responsible to go unpunished. Reading Arendt’s post-war writings in conjunction with Kallmus’ photographs, it is almost as if the photographer and writer had been in conversation: “Watching the Germans busily stumble through the ruins of a thousand years of their own history, shrugging their shoulders at the destroyed landmarks or resentful when reminded of the deeds of horror that haunt the whole surrounding world, one comes to realize that busyness has become their chief defense against reality. And one wants to cry out: But this is not real – real are the ruins, real are the past horrors, real are the dead whom you have forgotten.”27

The events of the war not only shaped the course of the lives of both Arendt and Kallmus but also the work they were to produce for the remainder of their lives. From 1946 until 1959, when Kallmus was struck by a motorcycle and so badly injured that she could no longer take photographs, she created images that insisted that people take note of the dead. Kallmus was not a concentration camp survivor, but she experienced the terror of antisemitism, was dispossessed of the house she shared with her sister in Austria, and was forced to close her studio in Paris and flee Nazi persecution. Kallmus survived the war in hiding, but her sister was murdered by the Nazis. Her decision to document events outside her studio, and in particular, in the gruesome sites of industrial slaughter, indicate how, for her, the stark reality of the horrors of the Second World War superseded and obliterated the ‘unreal’ world of the pre-war era.

3.

Reading Kallmus’ post-war photographs

In an interview with Günter Gaus in Germany in 1964, Arendt spoke of learning about Auschwitz and how this fundamentally changed how she thought about the events of the war and its consequences:

27 Arendt, Aftermath, see note 26, 345.

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“It was really as if an abyss had opened. Because we had the idea that amends could somehow be made for everything else, as amends can be made for just about everything at some point in politics. But not for this. This ought not to have happened. And I don’t mean just the number of victims. I mean the method, the fabrication of corpses and so on – I don’t need to go into that. This should not have happened.”28

While Arendt’s statement, “I don’t need to go into that” implies both that she does not need to tell her interlocutor and her audience what it is they already know, this statement also reveals the pain she experienced in thinking about the grim details of the deaths of every person who died in the camps. This seemingly impossible task of careful description of individual deaths in the context of mass slaughter is what Kallmus took up in her slaughterhouse series. Kallmus’ decision to take photographs outside of the carefully controlled, constructed space of her portrait studio can be read as a shift in her thinking about the usevalue of photography and her own role as a photographer. Her vast series of photographs of butchered animals can be seen as an attempt to create a visual language to convey the horrors of the mass killings that took place in the death camps, and in this sense to use photography as a way to bear witness to what she herself did not see. Creating the series required her to spend long periods of time at the abattoirs and to immerse herself in these industrial places of death, closely observing the mechanised killings and photographing the corpses of animals, day after day. Kallmus’ works raise the contentious question of the comparability of the Shoah to the slaughter of animals.29 However, while the infamous People for the Ethical Treatment of Animals (PETA) campaign against animal cruelty (“Holocaust on Your Plate”) instrumentalises images of the corpses of those who were murdered in the death camps and positions them alongside photographs of dead animals, Kallmus’ slaughterhouse photographs draw attention to the industrial scale of murder in the death camps and the obliteration of individual life in a more oblique way.30 Her images also show that Kallmus sometimes brought the corpses of animals to her studio, where she positioned them carefully on sheets of white paper before photographing them. While the photographs include no overt reference to the Shoah, these detailed gruesome portraits insist on making known what is ordinarily hidden from view. Very few of Kallmus’ photographs show those who worked in the abattoir, and those that do include their presence at the site of the slaughter through a documentary

28 Hannah Arendt, What Remains? The Language Remains. A Conversation with Günter Gauss, in: Essays, see note 23, 14. 29 See Charles Patterson, Eternal Treblinka: Our Treatment of Animals and the Holocaust, New York 2002. 30 For an incisive analysis of the PETA campaign, see Mark Webber, Metaphorizing the Holocaust: The Ethics of Comparison, in: Images. The International Journal of European Film, Performing Arts and Audiovisual Communication, 8, 15−16 (2011), 1−30.

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Figure 6: Rind mit aufgeschnittener Kehle (Cow with sliced throat). Photograph by Dora Kallmus, © Nachlass (estate) Madame d’Ora, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg

lens.31 For instance, her image of a cow that has just been killed portrays a group of men surrounding the animal, three men in the background holding what appears to be a skinned animal and looking out towards the photographer from the dark interior of the meat-yard. The pale body of the cow, the dark cavity of its mouth, and the glutinous substance beneath it dominate the image. I study their hands for evidence of blood, and my eye is drawn to and repelled by the stained fingers of the man who is shown striding purposely towards the slain animal. The pale body of the cow, the dark cavity of its mouth, and the sticky dark mess beneath it dominate the image. I trace a line between the face of the writhing animal in its death throes, and the faces of the three men, who seem to be smiling from the doorway, holding another slain animal. I read Kallmus’ obsessive documentation of the bodies of dead animals in the abattoirs of Paris (she spent ten years working on this series in these sites of continual slaughter) as evidence of her attempt to provide visual form to what Arendt has termed “the abyss” that opened in the wake of knowledge about the death camps and the 31 This shift in Kallmus’ photographic practice away from studio portraiture also reflects wider societal trends in the aftermath of the war, including the rise of picture magazines and the emergence of social documentary photography.

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Figure 7: Portrait of Sybille Binder. Photograph by Madame d’Ora (Dora Kallmus), 1917. Image Courtesy of the Austrian National Library

genocide that took place there.32 It is not difficult to understand why close examinations of these images have largely been avoided – in their grotesque depictions of the freshly slaughtered corpses of animals, these images confront us with a monstrous vision – the affluent glittering world of light to which Kallmus devoted her life to producing and documenting, is here shown to be eviscerated, its vitality permanently extinguished. These photographs, which expose the innards of animals, present a perverse, inverted mirror image of the hundreds, if not thousands, of portraits Kallmus took in her studios in Vienna and Paris of affluent women, many of them Jewish, bedecked from head-to-toe in furs. Kallmus’ beautifully composed portrait of actress Sybille Binder (figure 7) sheathed in fur, holding a pair of leather gloves in her im32 Reports about the fact that thousands of Jewish people were being murdered at Chelmno emerged in the beginning of June 1942, and were published in the “Liberty Brigade”, the Warsaw-based newspaper of the Polish underground, but it was not until after 1945 that Kallmus would learn about the fate of her sister.

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Figure 8: “La Dentelle”. Photograph by Dora Kallmus, c. 1955. © Nachlass (estate) Madame d’Ora, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg

maculate hands, is in sharp contrast to the swirling noise, mutilated, dying animals, and bloodstained aprons and hands shown in her photograph of the abattoir (figure 6). The connections between Madame d’Ora’s pre-war portraits and her post-war series of slaughtered animals are amplified through the titles Kallmus inscribed in pencil on the back of some of the images. “La Dentelle” (lace), is the verso inscription that appears on her photograph of caul fat, the membrane that surrounds the internal organs of cows and pigs (figure 8). The title evokes the intricate fabric traditionally associated with wealth and worn by many of the photographer’s sitters, while the image presents a hideous replacement for their dresses, a graphic, literal, rendering of the ruptures caused by the events of the war (figure 9). Seeing Kallmus’ sumptuous portraits of women in beautiful clothing and draped in fur coats in the light of her photographs of dead animals conjures images of the frightened people who were taken from across Europe to the extermination camps (figures 10 and 11). These images, in turn, call to mind the photographs of the mounds of clothing that were taken from people when they arrived at the camps and were divested of their belongings. And they return us to Kallmus’ sister Anna, who, on 2 November 1941, was among the approximately 1,000 Jewish people taken on Transport 10 from Vienna to the Lodz Ghetto in Poland.33 On the same day that Anna Kallmus was deported from Vienna, the Jewish Council of the Lodz Ghetto had to issue an order that informed the new arrivals that “it is

33 In November 1941, when Anna Kallmus arrived in Lodz, the ghetto population consisted of approximately 145,992 people.

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Figure 9: Portrait of Fräulein Fellner. Photograph by Madame d’Ora (Dora Kallmus), 1911. Image Courtesy of the Austrian National Library

forbidden to wear fur coats, collars and garments in the Ghetto”.34 The injunction marked the start of an extremely cold winter – in January 1942 temperatures in Lodz dropped to -27 degrees centigrade. Between January 1942 to July 1944 approximately 80,000 people from the Lodz ghetto were murdered at the Chelmno death camp situated 70 kilometres away to the north. It is possible that Anna Kallmus was murdered in May 1942 during the third phase of deportations from Lodz to Chelmno, as most of those living in the Ghetto who were taken to be killed at that time were reportedly from

34 Mordechai Chaim Rumkowski, The Elder of the Jews in Litzmannstadt. Announcement for new arrivals in the ghetto: Concerning the purchase of fur coats, fur collars and all manner of fox skins, Litzmannstadt Ghetto, 2 November 1941. A copy of the ‘fur action’ order is included in the collection of photographs taken in the Ghetto by Polish Jewish photographer Henryk Ross between 1940 and 1945, at: http://agolodzghetto.com/view/objects/asitem/search@/1/title-asc?t:state:flow =479aa24b-f 756-45f5-a456-4d2226ec724b; access: 20 June 2022.

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Figure 10: A calf chained to a wall. Photograph by Madame d’Ora (Dora Kallmus), From the Madame d’Ora Collection, Preus Museum Collection

Western Europe.35 In May 1944, Heinrich Himmler ordered the liquidation of the Lodz Ghetto – at that time, there were still 77,000 people living there. By the end of August 1944, over 70,000 people had been transported to Auschwitz and murdered. Lisa Silverman observes that “in spite of these traumatic wartime experiences and the profound loss of her family and possessions, accounts of Madame d’Ora’s post-war photography have not fully engaged with the significance of these traumas to her images”.36 Silverman has drawn attention to the critical matter of the restitution claim Kallmus filed in 1946 to reclaim Haus Doranna, the house she had shared with her 35 The date of Anna Kallmus’ death is unknown. The date 5-8-1944 recorded on the memorial stones installed for the sisters in Frohnleiten refers to the start of the liquidation of the Lodz Ghetto, two days after Anna was presumably deported to Auschwitz. According to historian Edda Engelke, this date was selected as a friend of Dora Kallmus reportedly told her after the war that they had seen her sister just before the Ghetto was liquidated. If Anna Kallmus was deported from Lodz at that time, she would have been murdered in Auschwitz and not, as most have asserted, in Chelmno. 36 Silverman, Art, see note 7, 182.

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sister. Silverman also shows how Kallmus’ pain of loss was intensified on her return to Austria, where she found attitudes not unlike those Arendt encountered when she visited Germany in the immediate aftermath of the war.37 Silverman writes: “Not only were most Austrians unwilling to admit responsibility for and recognize their country’s participation in the Holocaust, but they also resented those Austrian victims of National Socialist persecution who, like d’Ora, came back to reclaim what had been taken from them.”38

Figure 11: Rose Dolly with white fur. Photograph by Madame d’Ora (Dora Kallmus), From the Madame d’Ora Collection, Preus Museum Collection39

37 On the emotional impact of property loss see Hinke Piersma and Jeroen Kemperman, Robbed and Dispossessed: The Emotional Impact of Property Loss during the German Occupation of the Netherlands, 1940–1945, in: Journal of Modern European History, 20, 2 (2022) 183−198. 38 Silverman, Art, see note 7, 183. 39 I am grateful to Hege Oulie and Monika Sjue for their assistance with images from the Preus Museum collection and to Hanne Holm-Johnsen for corresponding with me about Kallmus’ work.

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While Kallmus regained ownership of Haus Doranna, she only returned to the house when she was forced to do so after she suffered an accident in Paris that affected her memory and rendered her unable to work. She returned to Austria, where she lived in the house in Frohnleiten, alongside several other occupants, and died there in 1963. To understand the ongoing relevance of Kallmus’ post-war images, it is instructive to read them alongside the drive to reconstruction that held sway over the defeated countries after the war and in the knowledge that the arrogance of nationalist sentiment in Austria has never been entirely overcome.40 Instead, virulent nationalism occupies a place alongside what Gillian Rose has termed “Holocaust piety”, hollow and often sanctimonious forms of commemoration that work to “mystify something that we dare not understand” – against which Kallmus’ photographs are directed.41 Her post-war images insist that to adopt a position of pious reverence towards the dead is not adequate to do justice to their memory. Instead, her work shows that the disquieting glare of exposure is needed to confront the painful truth about the past, and to understand how it continues to affect the present. In this sense Kallmus’ slaughterhouse series can be understood as a precursor to the work of contemporary Austrian artists and activists, such as Eduard Freudmann, who seek to contest historical amnesia with regards to the Nazi past, and whose work troubles dominant forms of memorialisation.42 Kallmus’ critique of the post-war social order is perhaps most clear and powerful when her slaughterhouse photographs are viewed alongside those produced by her former studio partner, Arthur Benda, during the time Kallmus herself was in hiding and could not take photographs. All through the war and after, Benda made use of the excellent reputation of the d’Ora studio and ran a lucrative business in Vienna until his retirement in 1965.43 The disappearance of Jewish competitors served him well, and in 1938 he opened a new studio on the Kärntner Ring in the centre of Vienna, which he operated under his own name after the end of the war. However, he continued to make use of the signature “d’Ora-Benda-Wien” until at least 1958. While some of his photographs resemble those that he and Kallmus produced together in the early years of the studio in Vienna, Benda’s technical skill could not compensate for his lack of imagination. The more than 600 photographs by Benda held at the Austrian National 40 See Peter Pirker, Johannes Kramer and Mathias Lichtenwagner, Transnational Memory Spaces in the Making: World War II and Holocaust Remembrance in Vienna, in: International Journal of Politics, Culture, and Society, 32 (2019), 439−458. See in particular their discussion of memorial practices at Heldenplatz, 465. 41 Gillian Rose, Mourning Becomes the Law: Philosophy and Representation, New York 1996, 43. Thanks to Dora Carpenter-Latiri, Alastair Douglas, Amanda Hopkinson, Kees Ribbens and Julia Winckler for engaging with me about the arguments I am making here about history and memory after the Shoah. 42 Further information about Freudmann’s work can be seen on his website, at: http://www.eduardfre udmann.com; access: 20 June 2022. 43 In 1935, Kallmus was banned from publishing her photographs in Germany by the Nazis.

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Library provide a chilling visual record of the effects of National Socialism on Austrian culture (figure 12).

Figure 12: Heinrich IV, Prince of Reuss. Photograph by Arthur Benda bearing the imprint of “d’OraBenda-Wien”. Image courtesy of the Austrian National Library

Benda’s unthinking replication of the photographic style used in fashion shoots in his portraits of his new Nazi clientele reveals how easy it was for him to practice the unthinking obedience of which Arendt was so critical, and which Kallmus’ post-war work seeks to contest.44 It is instructive to note that while Kallmus’ images have now been reclaimed and celebrated in both Austria and Germany, Benda’s photographs from the Nazi-period and those he continued to make in Vienna in the decades that followed, have gone unremarked. I consider Benda’s photographs of Nazis to be shameful objects in multiple ways: they document Benda’s exploitation of Madame d’Ora’s name; they record his own complicity with the Nazi regime; and they convey how Nazism was both glorified and normalized in Austria. Positioning Benda’s images within the larger story of Kallmus’ life and work makes it possible to insist upon

44 See Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. A Report of the Banality of Evil, New York 1964.

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uncomfortable – even painful – truths that mitigate the redemptive politics of commemoration. In a similar way, while the story of the Kallmus sisters’ dispossession and the murder of Anna Kallmus has, finally, been recognised in the town where they lived,45 the wider history of the terrible events that took place, not only in Lodz and Chelmno but in the provincial town of Frohnleiten itself, remains largely unacknowledged. In June 1942, in response to an order from Heinrich Himmler, 430 children from Yugoslavia were separated from their families and transported to a holding camp at Frohnleiten, one of 1,500 camps of the ‘Volksdeutsche Mittelstelle’ (VoMi) which were spread across the Reich.46 These children were subjected to tests to evaluate their ‘racial purity’ by “racial examiners”, and if they were found to be suitable for ‘Re-Germanisation’, were assimilated into German families.47 The site of the former camp remained unmarked for more than seventy years. In 2020, the Gruppe Erinnerungskultur Frohnleiten (Frohnleiten Memorial Culture Group) placed an information board there to commemorate the victims of the camp, including the stolen children who were subject to the infamous Lebensborn programme.48 In October 2019, Dora Kallmus’ remains were exhumed from her grave in Frohnleiten and reburied in an Ehrengrab (honorary grave) by the Jewish community in Graz.49 One year later, Stolpersteine (‘stumbling stones’) for Dora and Anna Kallmus were installed outside of their former home in Frohnleiten, commemorating their lives and their deaths.50 A ‘gravesite’ for the Kallmus sisters was installed in Frohnleiten to honour their wish to be buried there, although, of course, the grave is empty (figure 13). It is perhaps this memorial – a false grave that both commemorates their lives and, at the same time, omits how, where and why they died – that best conveys the tension between the attempts to repair past wrongs, which since the 1990s have been a feature of Austrian

45 Robert Preis, ‘Frohnleiten: Stolpersteine vor dem Haus ‘Doranna’, in: Kleine Zeitung, 18 October 2020, at: https://www.kleinezeitung.at/steiermark/graz/grazumgebung/5884139/Frohnleiten_Sto lpersteine-vor-dem-Haus-Doranna; access: 15 August 2021. 46 See Judith Haran, ‘Re-Germanization’ and the Volksdeutsche Mittelstelle Camps: The Geography of Expulsion, EHRI blog (2018), at: https://blog.ehri-project.eu/2018/09/04/vomi/; access: 15 August 2021. 47 “Trials of War Criminals before the Nuernberg Military Tribunals Under Control Council Law No. 10”, Vol. IV, Nuernberg, October 1946−April 1949. 48 On the Lebensborn programme, see Ingrid Von Oelhafen and Tim Tate, Hitler’s Forgotten Children: A True Story of the Lebensborn Program and One Woman’s Search for Her Real Identity, New York 2016. I am grateful to Edda Engelke for the information she shared with me about the commemoration of the camp in Frohnleiten. Edda Engelke, email correspondence with the author, 19 August 2021. 49 Kallmus’ original grave was dissolved and the original gravestone was destroyed as there was no one to tend her grave. 50 Preis, Frohnleiten, see note 45.

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society, and the “deep-rooted, stubborn, and at times vicious refusal to face and come to terms with what really happened”51 which persists in Austria today. The slaughterhouse series is a clear indication of Kallmus’ refusal to participate in the project of the artificial restoration of the shining world of the past through the erasure of that dark underworld from which, as Auschwitz survivor Charlotte Delbo has written, “none of us will return”.52 In breaking from gendered forms of the representation of grief, Kallmus’ images offer a mode of mourning that works through confrontation. Through graphic depictions of animals that have been tortured in life and death, the slaughterhouse series refuses recourse to images of maternal solace or feminised sorrow. Kallmus’ photographs of dying and dead animals were made prior to the consolidation of the visual tropes that are now central in representations of the Shoah, and then, as now, her images defy established forms of memorialisation.

Figure 13: Image of the memorial ‘grave’ for Dora and Anna Kallmus, Frohnleiten.53 Photograph courtesy of Edda Engelke.

51 Arendt, Aftermath, see note 26, 249. 52 Charlotte Delbo, None of Us Will Return, New York 1968. 53 The inscription reads: “In Memory of Anna Kallmus; 28. 2. 1878–5. 8. 1944; Dora Kallmus 20. 3. 1881–30. 10. 1963. The smaller ‘tombstone’ is inscribed with the words of a poem Dora Kallmus wrote after her sister’s murder.

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In “Camera Lucida”, his now-classic meditation on photography and loss, Roland Barthes writes of the distinction between what he terms the studium, images that are readily recognisable and that do not arouse emotion , and the punctum, an element in a photograph “which rises from the scene, shoots out of it like an arrow, and pierces” the viewer.54 The concept of the punctum is Barthes’ attempt to explain how photographs move us, how certain images can cause those who view them to feel and think, and how they can cause us pain. In the vast archive of photographs that constitute her sixty-year career, Kallmus’ slaughterhouse series operates like Barthes’ punctum, provoking a reckoning with the Nazi past that insists on the pain suffered by victims of the camps, as well as the pain endured by survivors. In Austria, as in other places across Europe, the recent proliferation of sites of commemoration for the victims of the Shoah has coincided with the resurgence of antisemitism, fascism and Nazism. As I have sought to show here, the painful charge in Kallmus’ slaughterhouse series lies not only in the gruesome scenes they depict, but in the fact that their disruptive force remains necessary in the present.

54 Roland Barthes. Camera Lucida: Reflections on Photography, New York 1980, 26.

Rosemarie Brucher

Von Valie Export bis Cassils: Selbstverletzung als Self-Empowerment in der Performance Art zwischen Feminismus und Postidentität

Die Verletzung des eigenen Körpers beziehungsweise das Ertragen physischer Belastungssituationen sind seit den 1960er-Jahren Bestandteile der Body Art, das heißt körperzentrierter Performances, bei denen Künstler_innen meist ihren eigenen Körper als ‚Material‘ wählen. Dabei kann diese offensive Auseinandersetzung mit Verletzung, Schmerz und den eigenen physischen Grenzen oft als Geste des Self-Empowerments verstanden werden, die auf politische Machtverhältnisse, gesellschaftliche Diskriminierung und Gewalt repliziert sowie diese künstlerisch reflektiert. In diesem Sinne kam und kommt künstlerische Selbstverletzung häufig auch im Kontext queer-feministischer Performance Art zum Einsatz, wo sie meist ebenfalls mit einem emanzipatorischen Anspruch einhergeht. Der nachfolgende Artikel untersucht Formen des radikalen Körpereinsatzes anhand zweier explizit politischer Positionen. Einerseits anhand der Performancekünstlerin Valie Export, der wichtigsten Vertreterin des sich in den 1970er-Jahren etablierenden feministischen Aktionismus in Österreich, und andererseits der kanadischen Transgender-Künstler_innen Cassils1, die sich seit den 2000er-Jahren zu einer der relevantesten Künstler_innen international im Kontext Performance und Visual Arts entwickelt haben. In der Gegenüberstellung der beiden Künstler_innen sollen vor der historischen Spannbreite von vierzig Jahren Parallelen und Differenzen dieser Ausdrucksform in den Blick genommen werden. So wählten beide Künstler_innen ihre häufig nackten Körper als primäres Ausdrucksmittel und fügten diesen Verletzungen zu beziehungsweise brachten sie bewusst in potenzielle Verletzungssituationen. Dabei stand bei beiden Künstler_innen nicht der Schmerzausdruck im Zentrum, sondern vielmehr die funktionalisierte Schmerzkontrolle. Ein Aspekt, der insgesamt für künstlerische Selbstverletzung charakteristisch ist, denn gerade das unbewegte Ertragen von offensichtlich schmerzhaften Handlungen, das heißt die Abwesenheit von Schmerzsignalen, stellt eine wesentliche Komponente bei Versuchen des Self-Em-

1 Cassils benützen für sich das Pronomen „they“, daher verwende auch ich im Folgenden das Pluralpronomen „sie“.

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powerments dar.2 In beiden Fällen wurden die vollzogenen Selbstverletzungen in den Kontext struktureller Diskriminierung sowie Gewalterfahrungen bestimmter Identitätsgruppen – so vor allem von Frauen, Homosexuellen und Trans-Personen – gestellt. Dadurch wurden sowohl in Exports als auch in Cassils Arbeiten über den Akt der Selbstverletzung beziehungsweise der Selbstgefährdung Fragen von Identität, von Subjektivierungs- und Desubjektivierungsprozessen, der politischen Besetzung des Körpers, aber auch von Geschlechternormen verhandelt. Gerade diese Fragestellungen lassen jedoch auch notwendige Differenzen zwischen den Künstler_innen erahnen, wurden doch gerade die Vorstellungen von Identität, von Agency und Subjektivität seit den 1970er-Jahren einem radikalen Wandel unterzogen. Während Export Anfang der 1970er-Jahre die Verletzung ihres Körpers im Geiste der zweiten Frauenbewegung noch als Weg sah, die Frau zu einem selbstbestimmten Subjekt zu machen, verorten Cassils ihre Körperperformances in einem überwiegend subjekt- und identitätskritischen trans-theoretischen/aktivistischen Kontext, den man auch als postidentitär bezeichnen kann. Auch hier kann der mitunter verletzende Zugriff auf den Körper als Empowerment verstanden werden, dies jedoch vor dem Hintergrund einer umfassenden Dekonstruktion dessen, was ein Subjekt, was (Geschlechts‐)Identität oder ein ‚authentischer Körper‘ sei. Im Folgenden wird diesem Spannungsverhältnis aus inhaltlicher sowie ästhetischer Nähe und Differenz auf den Grund gegangen.

1.

Selbstverletzung als Self-Empowerment

Die gezielte Verletzung des Körpers als Teil einer künstlerischen Aktion hat ihre Anfänge in den 1960er-Jahren. Bereits Mitte der 1970er-Jahre war künstlerische Selbstverletzung international prägend für die Kunstform Body Art geworden. Mit diversen Gegenständen fügten sich Künstler_innen wie Vito Acconci, Marina Abramović, Petr Štembera, Chris Burden, Gina Pane, Paul McCarthy oder Günter Brus Schnitt-, Stich-, Brand- und sogar Schussverletzungen zu, hungerten, wiederholten Bewegungsabläufe oder verharrten bewegungslos bis zur völligen Verausgabung. Gemeinsam ist den aus unterschiedlichen Ländern und Kontexten stammenden Künstler_innen die radikale Auseinandersetzung mit der Abhängigkeit, Normierung und Verletzlichkeit des Körpers, der nun zum Experimentierfeld und Gestaltungsmaterial avancierte.3 Lassen sich auch die grundsätzliche Ästhetisierung von Krankheit und Versehrtheit sowie das daraus resultierende Verständnis von Leiden als künstlerische Disposition bis 2 Vgl. hierzu Rosemarie Brucher, Stille Größe. Zur Performativität des Schweigens in Ästhetiken des 18. Jahrhunderts und in der zeitgenössischen Performance Art, in: Wolf-Dieter Ernst u. a. (Hg.), Sound und Performance, Würzburg 2015, 695–712. 3 Vgl. hierzu Tracey Warr u. Amelia Jones, The Artist’s Body, London 2000.

Rosemarie Brucher, Selbstverletzung in der Performance Art

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über das 19. Jahrhundert hinaus historisch zurückverfolgen, so stellt der tatsächlich vollzogene künstlerische Akt der Verletzung ein Novum dar und erfährt bis heute Kritik. Der Grund hierfür liegt primär in der Freiwilligkeit der Verletzung. Wurde und wird bereits die künstlerische Auseinandersetzung mit eigenen Krankheits- und Sterbeprozessen – wie etwa prominent in den Arbeiten von Christoph Schlingensief oder Hanna Wilke, die beide an den Folgen ihrer Krebserkrankungen starben und dieses Sterben bis zuletzt künstlerisch verarbeiteten, – in der Rezeption häufig unter dem Gesichtspunkt von Exhibitionismus, Provokation oder auch Plakativität diskutiert, so nimmt diese Art von Kritik zu, wenn der scheinbar intakte Körper mutwillig Verletzungen erfährt, was in Bezeichnungen wie „Extrem-Aktionismus“ und „S/M artists“4 seinen Ausdruck findet. Zudem wird häufig Unverständnis geäußert, nicht nur den künstlerischen ‚Wert‘, sondern vor allem auch die Motivation der Künstler_innen betreffend. Denn es fehlen in einer säkularisierten westlichen Gesellschaft eindeutige kulturelle Bezugsrahmen, wie etwa politisch motivierte oder religiöse Praktiken des Leidens und der Selbstverletzung, wenngleich solche historisch durchaus gegeben waren.5 Als jüngere Beispiele sind etwa die Selbstverbrennungen als politischer Protest während des Vietnamkriegs oder des Prager Frühlings zu nennen. Dieser Ratlosigkeit vieler Rezipient_innen stehen Selbstexplikationen von Künstler_innen beziehungsweise wissenschaftliche, kuratorische sowie journalistische Auseinandersetzungen mit diesem Themenfeld gegenüber, zu denen auch ich in den letzten Jahren beigetragen habe. Dabei habe ich versucht, das Phänomen unter verschiedenen Gesichtspunkten zu beleuchten, vor allem in Hinblick auf Aspekte der Stellvertretung und der Verortung innerhalb einer Ästhetik des Erhabenen, wie sie vornehmlich Immanuel Kant in seiner „Kritik der Urteilskraft“ (1790) dargelegt hat.6 Dabei standen insbesondere gesellschaftskritische Dimensionen sowie Fragen des SelfEmpowerments im Fokus. So verfolgte ich die grundlegende These, dass die selbst gewählte künstlerische Verletzung in vielen Fällen als Replik auf eine vorhergehende Verletzung oder auf die Drohung einer solchen verstanden werden kann, die das betroffene Individuum die Grenzen seiner (Handlungs‐)Macht erleben lässt. Die Beispiele hierfür reichen von individuellen traumatischen Erlebnissen über persönliche Krankheiten, wie etwa bei Bob Flanagan sowie Ron Athey, oder dem prinzipiellen Bewusstsein der unabwendbaren Sterblichkeit, wie etwa bei Stelarc, bis hin zu politi4 Amelia Jones, Body Art. Performing the Subject, Minneapolis 1998, 125. Vgl. u. a. auch Francesca Alfano Miglietti, Extreme Bodies. The Use and Abuse of the Body in Art, Milano 2003. 5 Vgl. etwa den Beitrag von Maria Heidegger im vorliegenden Band. 6 Vgl. u. a. Rosemarie Brucher, Subjektermächtigung und Naturunterwerfung. Künstlerische Selbstverletzung im Zeichen von Kants Ästhetik des Erhabenen, Bielefeld 2013; dies., „Durch seine Wunden sind wir geheilt“. Selbstverletzung als stellvertretende Handlung in der Aktionskunst von Günter Brus, Wien 2008; dies., Self-injuring Body Art: Strategies of De/Subjectivation, in: New German Critique, 46, 2 (2019), 151–170; dies., Günter Brus’ Zerreißprobe und die Tradition christlicher Selbstopfer, in: Studia Austriaca, 21 (2013), 155–174.

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scher Ohnmacht oder gesellschaftlichen Diskriminierungserfahrungen sowie der damit häufig einhergehenden Verletzung des Selbstbestimmungsanspruchs als politisches Subjekt. Anstatt jedoch diesen Zustand der Ohnmacht zu akzeptieren, wird der erlebten Verletzung in der künstlerischen Aktion eine selbstgewählte Verletzung entgegengesetzt, um erstere zu ‚neutralisieren‘ beziehungsweise um ein Gefühl von Handlungsmacht (zurück) zu erlangen. Zudem wird die erlebte Verletzung durch den Akt der Selbstverletzung für das Publikum sichtbar gemacht, worin ebenso eine Form des Widerstands, nämlich die ersehnte Überwindung diskriminierender Strukturen durch deren Öffentlich- und Bewusstmachung, erkennbar wird. So sorgte der russische Aktionskünstler Pjotr Pawlenski für Schlagzeilen, als er sich, wohl in Anlehnung an Van Gogh, 2014 nackt auf dem Dach des Moskauer Serbski-Instituts für forensische Psychiatrie ein Ohrläppchen abtrennte, um auf die strategische Pathologisierung kritischer Stimmen in Russland aufmerksam zu machen. In Beispielen wie diesem kann künstlerische Selbstverletzung somit als Krisenbewältigungsversuch verstanden werden, der die_den handelnde_n Künstler_in als Individuum sowie die politische Opposition als Kollektiv ermächtigen soll. Interpretiert man künstlerische Selbstverletzung nicht ausschließlich als individuelle, sondern auch als auf soziale Strukturen abzielende Handlung, so liegt nahe, dass sie als Strategie der Selbstermächtigung insbesondere dann an Relevanz gewinnt, wenn bestimmte Identitätsgruppen strukturell diskriminierende Gewalt erfahren, gegen die sie sich zur Wehr setzen. So etwa im Rahmen historischer Empowerment-Bewegungen, wie der zweiten Frauenbewegung, der Lesben- und Schwulenbewegung oder antirassistischen Bewegungen. Im Zuge dieser Protestbewegungen und ihren je spezifischen theoretischen Positionen formierte sich ein Bewusstsein für die in erster Linie über den Körper stattfindende Fremdbestimmung durch Normierung, Ausgrenzung, Regulierung und Tabuisierung. Der Körper wurde folglich als primärer Ort identifiziert, über den sich die soziale Ordnung und mit ihr Mechanismen der Repression und Exklusion konstituieren. Diese „Materialität der Macht über den Körper“7 hat auch Michel Foucault angesprochen. Nicht zuletzt mit dem Verweis auf seine theoretischen Zugänge lässt sich das forcierte Streben nach Selbstermächtigung, insbesondere durch ein selbstbestimmtes Verfügen über den eigenen Körper, auch in feministischen Kontexten als Widerstand interpretieren – beispielhaft ablesbar an dem feministischen Slogan „Mein Bauch gehört mir“. Der Akt der Selbstverletzung diente dabei vielen Künstler_innen als Ausdruck eines vehementen Selbstanspruchs, was im Folgenden anhand der beiden Künstler_innen Valie Export und Cassils in den Blick genommen werden soll.

7 Michel Foucault, Macht und Körper. Ein Gespräch mit der Zeitschrift Quel Corps?, in: ders., Mikrophysik der Macht. Michel Foucault über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, 105–113, 105.

Rosemarie Brucher, Selbstverletzung in der Performance Art

2.

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Valie Export8

Valie Export beginnt Ende der 1960er-Jahre mit ihrer aktionistischen Arbeit, die sie explizit als feministischen Aktionismus versteht. Bezug nehmend auf den Wiener Aktionismus und sich zugleich von ihren männlichen Kollegen abgrenzend, definiert sie diesen als einen solchen, der sich dem „Takt des Schwanzes“9 widersetzt und sich stattdessen auf die „Suche [macht, R. B.] nach der neuen und autonomen Identität der Frau, frei von den sogenannten ‚natürlichen‘ Charaktermerkmalen, die der Mann der Frau als ihre ‚innere Natur‘ oktroyiert hat“.10 Diese Suche erfolgt in ihren frühen Arbeiten vornehmlich über den Einsatz von Selbstverletzung. In ihrer ersten Performance dieser Art, der „Körper-Material-Interaktion“ „Eros/ ion“ (1971), rollt sich Export nackt über drei verschiedene am Boden arrangierte Flächen: eine Glasplatte, eine Fläche aus Glasscherben sowie eine Papierbahn. Die durch den Kontakt mit den Scherben resultierenden Schnitte hinterlassen Blutspuren auf dem Papier. Auf diese erste Selbstverletzungs-Performance folgen im Jahr 1973 vier weitere Arbeiten: Die Performances „Kausalgie“, „Hyperbulie“ und „Asemie“ sowie der Aktionsfilm „Remote…Remote“. Die Formen der Verletzung und Schmerzerfahrung sind in erster Linie Verbrennungen, Schnitte und Stromschläge. So ‚manikürt‘ sich Export in „Remote…Remote“ mit einem Kartonmesser ihre Fingernägel, bis diese zu bluten beginnen, übergießt in „Asemie“ ihre Hände und Füße mit heißem Wachs oder fügt ihrem Gesicht und Körper in „Kausalgie“ und „Hyperbulie“ Stromschläge zu. Die emanzipatorische Absicht dieses Handelns bringt Export in zahlreichen Begleittexten zum Ausdruck, die den Körper als Ort der Unterdrückung der Frau entlarven. Deren biopolitische Festlegung auf Reproduktion, die binär zum ‚Männlichen‘ argumentierte Definition von ‚Weiblichkeit‘ als emotional, irrational, natürlich, passiv oder sinnlich und nicht zuletzt die Reduktion von Frauen auf Objekte des Besitzes und des Begehrens hätten den systematischen Ausschluss von Frauen von gesellschaftlichproduktiven Tätigkeiten und damit die Konstituierung männlicher Herrschaft zur Folge gehabt. Indem dieser Ausschluss biologisch argumentiert wurde, erschien er ‚natürlich‘ und damit ahistorisch. Auf diese Weise wurde die Frau, so Export, zur Gefangenen ihres Körpers gemacht. Vor diesem Hintergrund thematisieren ihre Aktionen den Weg der Frau vom fremdbestimmten „Objekt der männlichen Naturgeschichte zum Subjekt seiner eigenen Geschichte […].“11 Hierbei spielt der Akt der Selbstverletzung in mehrfacher Hinsicht eine Schlüsselrolle.

8 Der nachfolgende Abschnitt basiert in Teilen auf meiner Monografie Subjektermächtigung und Naturunterwerfung, wie Anm. 6. 9 Valie Export, Feministischer Aktionismus. Aspekte, in: Gislind Nabakowski, Helke Sander u. Peter Gorsen (Hg.), Frauen in der Kunst, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1980, 139–176, 152. 10 Export, Feministischer Aktionismus, wie Anm. 9, 156. 11 Export, Feministischer Aktionismus, wie Anm. 9, 141.

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So dienen ihre Selbstverletzungen zunächst dem Aufzeigen verletzender gesellschaftlicher Strukturen und Mechanismen, um das Bewusstsein für diese zu schärfen. Ähnlich argumentiert auch die Literaturwissenschafterin Juliane Vogel: „Wenn sich aber der weibliche Körper selbst ans Messer liefert, dann nicht nur, um die Macht der symbolischen Ordnung und ihrer Zeichen vorzuführen, sondern auch in einer blutigen, doch eigenmächtigen Rekonstruktion gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse. Wenn er sich selbst zum Material erwählt, arbeitet er die unsichtbaren Zurichtungsmaßnahmen durch, die ihn entmachten und stillstellen.“12

Die Verwundung des Körpers hat somit immer auch symbolischen Charakter, hat sie doch zum Ziel, „die Wunden d[ies]er tatsächlichen historischen Submission unter den Mann zu offenbaren“.13 Dementsprechend definiert Export ihre Selbstverletzungen als „Male der Geschichte, als Spur der Begriffe am Körper, als Körpermale, die in Aktionen mit dem Körper aufgedeckt werden“.14 Dabei übersetzt sie gesellschaftliche Benachteiligung in eine konkrete körperliche Erfahrung und macht damit deren verletzende Auswirkungen nicht nur für sich, sondern auch für ihr Publikum physisch nachvollziehbar. Dies jedoch nicht, wie eingangs erwähnt, durch Schmerzausdruck, sondern durch das Zeigen des Verletzungsakts und dessen Folgen für den Körper. Das Zugegensein bei der Aktion soll eine affektive Partizipation an der Verletzung der Künstlerin evozieren und zugleich die Zuseher_innen zu Co-Akteur_innen sowie zu Zeug_innen des Geschehens machen. Denn, so die Theaterwissenschafterin Erika Fischer-Lichte, im Gegensatz zum traditionellen Theater, wo der Körper, Gesten und Objekte in Zeichen transformiert werden, ist selbstverletzende Body Art durch bloße Selbstreferenzialität gekennzeichnet, was einen „Einbruch des Realen“15, das heißt eine Aufhebung der symbolischen Distanz zwischen Subjekt und Objekt, damit aber zugleich auch der rationalen Distanz zwischen den anwesenden „Ko-Subjekten“, zur Folge hat. Dadurch avanciere der Zuschauer, so die Theaterwissenschafterin Doris Kolesch, zum „Teilhaber, zum konstitutiven Bestandteil der Performance“16. Künstlerische Selbstverletzung intendiert jedoch nicht nur Bewusstseinsbildung, sondern fungiert zugleich immer auch als ein Akt des Widerstands. Wie bei politischen Hungerstreiks, wo mit unterschiedlichen Zielsetzungen erprobt wird, wer länger 12 Juliane Vogel, CUTTING. Schnittmuster weiblicher Avantgarde, in: Thomas Eder u. Klaus Kastberger (Hg.), Schluß mit dem Abendland! Der lange Atem der österreichischen Avantgarde, Wien 2000, 110–131, 111. 13 Export, Feministischer Aktionismus, wie Anm. 9, 144. Export thematisiert dabei primär strukturelle Formen der Gewalt und weniger körperliche Gewalt in Partnerschaften oder in der Sexualität. Auch die in den 1960er-Jahren aufkommende Debatte um Gewaltdarstellungen in der Pornografie findet in ihren Arbeiten keinen unmittelbaren Niederschlag. 14 Export, Feministischer Aktionismus, wie Anm. 9, 143. 15 Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, 102. 16 Doris Kolesch, Die Schmerzen Anderer betrachten. Zur Wahrnehmung von Performances, in: Corina Caduff u. Tan Wälchli (Hg.), Schmerz in den Künsten. Jahrbuch Zürcher Hochschule der Künste, 5, Zürich 2009, 88–101, 94.

Rosemarie Brucher, Selbstverletzung in der Performance Art

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durchzuhalten vermag – das Individuum oder ‚das System‘ –, findet auch bei politisch motivierter künstlerischer Selbstverletzung immer ein Kräftemessen statt. Der Körper gerät dabei zum „battleground“, so das politische Schlagwort, auf dem die Künstlerin ihren Willen der Macht der Gesellschaft entgegenstellt und zwar so, dass sie ihre eigene Überlegenheit anhand der selbstbestimmten Unterwerfung des eigenen Körpers und der Kontrolle von Schmerz zu demonstrieren versucht. Auf dieses relationale Machtverhältnis von Wille und Körper und damit von Subjekt und Gesellschaft Bezug nehmend fragt Export: „Ein unerbittlicher Prozeß mit sich selbst, den man gewinnt, ist das nicht die beste Anklage, der wirklich sieghafte Prozeß gegen die anderen?“17 Innerhalb dieser kompetitiven Logik soll die Selbstverletzung somit in zweifacher Hinsicht wirksam werden: Der Fokus auf den eigenen Körper reagiert zum einen auf die Erkenntnis, dass sich gesellschaftliche Machtstrukturen zuvorderst über Körper etablieren, was aus feministischer Sicht vor allem für den weiblichen Körper gilt. Der Körper eignet sich daher im Umkehrschluss besonders als Austragungsort, um als Individuum gesellschaftliche Machtstrukturen zu verhandeln. Zum anderen dient und diente der Körper über konkrete gesellschaftliche Anliegen hinaus jedoch auch in anderen historischen und kulturellen Kontexten als bevorzugter Ort der Willenserprobung; man denke etwa an asketische oder religiöse Praktiken. Die Kontrolle oder gar freiwillige Verletzung des Körpers können daher mit Foucault insgesamt als Subjektivierungstechniken respektive als Strategien der Selbstermächtigung verstanden werden. Denn indem der Mensch dazu in der Lage ist, sich Schmerz und Verletzung gezielt auszusetzen, erweist er sich der Theorie nach als bis zu einem gewissen Grad unabhängig von seiner eigenen Natürlichkeit und damit als ‚frei‘. Auf diese Vorstellung, durch Selbstverletzung sich selbst sowie dem Publikum die Stärke des eigenen Willens zu demonstrieren, verweist Export wiederholt. Ob als Wille, als Bewusstsein, als Person oder als Geist verstanden, immer wieder sind es jene ‚geistigen‘ Vermögen, die als Bedingung von Selbstbestimmung den Körper überwinden, beherrschen, aufgeben, ja sogar auslöschen sollen. Diese Distanzierung vom eigenen Körper gewinnt in feministischen Arbeiten besondere Relevanz, als sie programmatisch die historische Gleichsetzung von Frau und Natur in Frage stellt. Der Akt der Selbstverletzung soll die Frau aus ihrem Objektstatus befreien. So auch Export: „In freier Verfügung über ihren Körper versucht die Frau, ihre Identität selbständig zu bestimmen: der erste Schritt vom Objekt zum Subjekt.“18 Insofern appelliert sie an „den Willen und Geist der Frau […], über ihre körperliche Fixierung zu steigen, den Ort der Unterdrückung hinter sich zu lassen“.19 Dem „dunklen Schmerz der Unterdrückung“20, von Export auch als „schwarze[…] Kaus17 18 19 20

Export, Feministischer Aktionismus, wie Anm. 9, 144. Export, Feministischer Aktionismus, wie Anm. 9, 166. Anita Prammer, Valie Export. Eine multimediale Künstlerin, Wien 1988, 121. Valie Export, Begleittext zu Kausalgie, zit. nach Andrea Zell, Valie Export. Inszenierung von Schmerz: Selbstverletzung in den frühen Aktionen, Berlin 2000, 159.

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algie“ bezeichnet, gilt es folglich die „weiße Kausalgie“ als den „hellen Schmerz der Befreiung“21 entgegenzusetzen. Wie lässt sich nun Cassils Versuch eines künstlerischen Self-Empowerments in dieser Tradition verorten?

3.

Cassils „If I can use my role as an artist to open people’s minds, then I am serving my purpose. I am interested in performative actions that create a ripple effect in the minds and bodies of those who experience them.“22

Empowerment, vor allem aber auch das gesellschaftskritische Engagement für häufig Gewalt und Diskriminierung ausgesetzte Identitätsgruppen spielen in allen Arbeiten der kanadischen Künstler_innen Heather Cassils, kurz Cassils, eine wesentliche Rolle. Im Fokus steht dabei die Auseinandersetzung mit den Feldern LGBTQI+, wobei der Themenkomplex „Trans“ das Zentrum bildet. Cassils, die sich selbst als transgender definieren, positionieren sich ästhetisch an der Schnittstelle zwischen visueller Kunst, Performance Art, Skulptur und Film, wobei sie explizit ihren Körper als ihr primäres Material definieren.23 So die Künstler_innen: „I use my physical body as sculptural mass to rupture societal norms […]. Drawing on conceptualism, feminism, body art, gay male aesthetics, and Hollywood cinema, I forge a series of powerfully trained bodies for different performative and formal purposes. It is with sweat, blood and sinew that I construct a visual critique and discourse around physical and gender ideologies and histories.“24

Durch die Verwendung des eigenen Körpers als Gestaltungs- und Ausdrucksmittel stehen Cassils in der Tradition von Body Art-Künstler_innen wie Valie Export. Eine Nähe, auf die sie, wie am obigen Zitat ersichtlich, selbst wiederholt verweisen, wenn sie auch als Referenzen andere Vertreter_innen nennen, wie etwa Ron Athey, Adrian Piper oder Eleanor Antin. Damit stellen Cassils nicht nur einen Bezug zur Kunstform Body Art generell her, sondern vor allem zu deren queer-feministischen Ausrichtungen, die häufig, wie bei Athey, Selbstverletzungen implizieren. Dass auch ihr Körpereinsatz in erster Linie politisch und vor allem genderreflexiv zu verstehen ist, machen nicht nur 21 Export, Begleittext zu Kausalgie, wie Anm. 20, 159. 22 Heather Cassils, Bashing binaries along with 2000 pounds of clay, in: Huffington Post, 9. 9. 2013, unter: https://www.huffpost.com/entry/bashing-binaries-along-with-2000-pounds-of-clay_b_386 1322, Zugriff: 11. 10. 2021. 23 Neben ihrer künstlerischen Tätigkeit waren und sind Cassils auch als Personal Trainer in Los Angeles tätig. 24 Heather Cassils zit. nach Frank Priscilla, 10 transgender artists who are changing the landscape of contemporary art, in: Huffington Post, 27. 3. 2014, unter: https://www.huffpost.com/entry/trans-a rtists_n_5023294, Zugriff: 11. 10. 2021.

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ihre Arbeiten, sondern zahlreiche Statements, Begleittexte und Interviews deutlich. So präsentieren sich Cassils auf ihrer Homepage mit folgender Selbstbeschreibung: „Cassils’s art contemplates the history(s) of LGBTQI+ violence, representation, struggle and survival. For Cassils, performance is a form of social sculpture: Drawing from the idea that bodies are formed in relation to forces of power and social expectations, Cassils work investigates historical contexts to examine the present moment.“25 Dieser Kurztext lässt in mehrfacher Hinsicht Parallelen zu den bisherigen Ausführungen erkennen: Auch in Cassils Arbeiten wird der Körper, den sie als „soziale Skulptur“ bezeichnen, als Ort des Sozialen und damit zugleich der Identitätskonstruktion und -dekonstruktion ausgemacht. Gemein ist Export und Cassils die Erkenntnis, dass es sich hierbei um Prozesse der Gewalt, um Mechanismen des Aus- und Einschlusses handelt, denen bestimmte Identitäten in besonderem Maße ausgesetzt sind. Nicht zuletzt setzen sowohl Cassils als auch Export auf die (historische) Erkundung der gewaltvollen Beziehung zwischen Körpern, Gesellschaft und Identität mittels Kunst. Sie verfolgen also beide einen explorativen Zugang, um diskriminierende Strukturen, Vorstellungen und Gesetzgebungen sichtbar zu machen.26 Nimmt man zunächst die augenscheinlich verbindenden Aspekte von „violence, representation, struggle and survival“ in den Blick, so zielen beide Künstler_innen darauf ab, die als gewalttätig erfahrenen gesellschaftlichen Strukturen durch eigene Choreografien der Gewalt sichtbar zu machen. Während Export hierfür die gezielte Verletzung ihres Körpers wählte, sind Cassils Performances vor allem durch Momente der Endurance unter teils Extrembedingungen, wie großer Hitze oder Kälte, sowie durch einen stark formenden Eingriff auf den Körper, vornehmlich durch Body Building und diätetische Maßnahmen, gekennzeichnet. In beiden Fällen kann von einem potenziell selbstverletzenden Verhalten gesprochen werden, da der Körper dabei nicht nur wiederholt eine reale Gefährdung erfährt, das heißt, seine Integrität bewusst riskiert wird, sondern darüber hinaus gezielt an seine Grenzen der Belastbarkeit gebracht wird. So etwa in der „durational performance“27 „Tiresias“ (2011), bei der Cassils ihren nackten Oberkörper über Stunden hinweg mit einem an ihrer Körperwärme langsam schmelzenden Torso aus Eis in Berührung bringen; eine Performance, die notwendige dramaturgische Unterbrechungen impliziert, um eine dauerhafte Schädigung des Gewebes durch Erfrierung zu verhindern. Die zunehmende Rötung 25 Heather Cassils, About the Artist, unter: https://www.cassils.net/cassils-about-the-artist, Zugriff: 11. 10. 2021. 26 Im Gegensatz zu Export, die mit ihren Performances allgemein auf die Benachteiligung von Frauen aufmerksam zu machen versuchte, reagieren Cassils in ihren künstlerischen Explorationen wiederholt auf konkrete historische Bezüge. So beispielsweise mit dem Film „103 shots“ (2016), der als Reaktion auf das 2016 von Omar Mateen im LGBTQI+-Club „Pulse“ in Orlando verübte Attentat gedreht wurde, oder in der Performance und Installation „Pissed“ (2017), die auf die von Donald Trump 2017 erlassene Aufhebung einer Richtlinie Barack Obamas repliziert, wonach TransgenderPersonen in öffentlichen Schulen und Universitäten die Toilette ihrer Wahl benutzen können. 27 Cassils, Bashing binaries, wie Anm. 22.

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der Haut signalisiert die Herausforderung der Künstler_innen, dieses Setting bis zu fünf Stunden bewegungslos aufrechtzuerhalten. Hatte ich bei Export zunächst den Aspekt der Bewusstmachung struktureller Macht- und Gewaltverhältnisse und die sich daraus ergebende Rolle des Publikums hervorgehoben, so zeigen sich auch hier deutliche Parallelen zu Cassils. Auch in ihren Performances fungiert das Publikum nicht nur als Zeugenschaft. Vielmehr soll es durch Cassils intensiven Körpereinsatz unter Extrembedingungen die (physischen) Leiden und Traumata anderer spüren, die ansonsten abstrakt bleiben. Sowohl Export als auch Cassils verhandeln somit über einen Gestus der Aufklärung hinaus Fragen der Empathie und Nachvollziehbarkeit. Ein Beispiel hierfür ist die Arbeit „Inextinguishable Fire“, die Cassils zwischen 2007 und 2015 sowohl als Film als auch als Live-Performance sowie als Skulptur umsetzen. Dabei handelt es sich um einen Stunt, bei dem die Künstler_innen für 14 Sekunden in Brand gesetzt werden. 14 Sekunden ist die Zeitspanne, in der Cassils langsam ausatmen, bis ihr Team ihren brennenden Körper löscht, bevor ein erneutes Einatmen die Atemwege verletzen würde. Um das Verdampfen von Schweiß und damit einhergehende Brandverletzungen zu verhindern, trugen Cassils unter dem feuerresistenten Ganzkörperanzug in Gefrierlösung getränkte Unterwäsche, die den Körper in einem unterkühlten Zustand halten sollte. Die physische Herausforderung der Aktion bestand folglich, neben der bei einem Feuerstunt immer drohenden Unfallgefahr, darin, der Kälte standzuhalten. Der Titel der Arbeit stellt eine Referenz zu Harun Farockis Film „NICHT löschbares Feuer“ aus dem Jahr 1969 her, in dem sich der deutsche Filmemacher mit dem Einsatz von Napalm während des Vietnamkriegs auseinandersetzte. Dabei stellte er sich und seinem Publikum die Aufgabe, „das Leid, das die vom US-Militär abgeworfenen Napalmbomben über Vietnam bringen, nicht nur zu zeigen, sondern spürbar werden zu lassen“.28 Denn, so Farocki im Film: „Wie können wir Ihnen Napalm im Einsatz und wie können wir Ihnen Napalmverletzungen zeigen? Wenn wir Ihnen ein Bild von Napalmverletzungen zeigen, werden Sie die Augen verschließen. Zuerst werden Sie die Augen vor den Bildern verschließen. Dann werden Sie die Augen vor der Erinnerung daran verschließen. Dann werden Sie die Augen vor den Tatsachen verschließen. Dann werden Sie die Augen vor den Zusammenhängen verschließen. Wenn wir Ihnen einen Menschen mit Napalmverletzungen zeigen, werden wir Ihre Gefühle verletzen. Wenn wir Ihre Gefühle verletzen, dann kommt es Ihnen vor, als führten wir Napalm an Ihnen und auf Ihre Kosten vor. Wir können Ihnen nur eine schwache Vorstellung davon geben, wie Napalm wirkt.“29

28 Ludger Schwarte, ‚NICHT löschbares Feuer‘. Harun Farocki und die Figuration des Schmerzes, in: Sybille Krämer u. Sibylle Schmidt (Hg.), Zeugen in der Kunst, Paderborn 2016, 163–175, 163. 29 Harun Farocki, NICHT löschbares Feuer, in: ders., Filme 1967–2005, Berlin 2009, DVD 1, min 1:15.

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Dies tut Farocki, indem er eine brennende Zigarette auf seinem Unterarm ausdämpft; eine Handlung, die er mit den Worten kommentiert: „Eine Zigarette verbrennt mit etwa 400 Grad. Napalm verbrennt mit etwa 3000 Grad Hitze.“30 Farockis Selbstverletzung ist in direkter Analogie zu jenen von Export zu sehen. Denn auch hier ist die Verletzung stellvertretend für Verletzungen viel größeren Ausmaßes, die aber als solche potenziell unvermittelbar sind. Sie dient folglich dazu, abstraktes Wissen in Erfahrungswissen zu übersetzen, sowohl für sich selbst als auch für die Rezipient_innen. Dahingehend schreibt auch der Philosoph Ludgar Schwarte auf Farocki Bezug nehmend: „Die Zuschauer sollen die Relevanz ermessen, die Dimension des Leids derjenigen, die von einem Ereignis betroffen sind, sie sollen (leiblich) verstehen, was es heißt, in der gezeigten Situation zu sein. Das Wissen soll unter die Haut gehen. Die Bilder sollen abfärben. Sie sollen nicht nur ‚benennen‘, sondern die Realität erschließen.“31 Auch Cassils thematisieren in „Inextinguishable Fire“ „the radical unrepresentability of certain forms of trauma and violence“32 und zugleich den paradoxen Versuch, trotz dieser proklamierten radikalen Undarstellbarkeit Formen der Darstellung zu finden und zwar nicht nur in Form von Bildern,33 sondern im performativen Akt. In diesem Zusammenhang führen Cassils in einem Interview aus: „My act of self-immolation gestures toward the desire to know and understand this horror, as well as the impossibility of doing so. How can I enact empathy when my own situation is so removed from the immediacy of torture and war?“34 Im Gegensatz zu den stellvertretenden Verletzungen von Export und Farocki bleibt Cassils Körper jedoch letztlich unversehrt: Cassils brennen, aber verbrennen nicht. Der Schmerzeindruck, den der brennende Körper auf Seiten der Zuschauer_innen evoziert, ist nicht echt. Durch die körperlichen Herausforderungen und vor allem durch die reale Gefahr, die der Stunt mit sich bringen, verfehlt aber auch der Begriff der inszenierten Selbstverletzung seinen Gegenstand. Entsprechend betonen auch die Künstler_innen: „Though the stunt is a simulation of violence it still presents real danger. This possibly volatile situation as well as the attempt to control it are captured to create an image where danger, empathy for those experiencing violence, and the privilege of removal all operate simultaneously in one transparent performance.“35 Gerade aber diese Simultanität einander scheinbar widersprechender Aspekte beziehungsweise die Unbestimmbarkeit dessen, was man sieht, sind es, die Cassils Ar30 Farocki, NICHT löschbares Feuer, wie Anm. 29. 31 Schwarte, ‚NICHT löschbares Feuer‘, wie Anm. 28, 163. 32 Kris Grey, Fire In The Belly: Trans Artist Cassils Immolates For Art. Interview with Cassils, in: Huffington Post, 6. 12. 2017, unter: https://www.huffpost.com/entry/cassils-inextinguishable-fire _n_7505500, Zugriff: 11. 10. 2021. 33 Der Film wurde mit einer Hochgeschwindigkeits-Phantom-Kamera mit tausend Bildern pro Sekunde gedreht, wodurch die 14 Sekunden zu 14 Minuten ausgedehnt wurden. 34 Kris Grey, Fire In The Belly, wie Anm. 32. 35 Kris Grey, Fire In The Belly, wie Anm. 32.

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beiten insgesamt charakterisieren und trotz aller Parallelen auch eine Differenz zu Exports Selbstverletzungen ausmachen. Dem im Geiste der politischen Empowerment-Bewegungen der 1960er-Jahre häufig bewusst eindeutig und „didaktisch“ gehaltenen Einsatz künstlerischer Selbstverletzung stellen Cassils „a queer strategy to combat the trappings of representation“36 entgegen, die auch und vor allem den Einsatz des Körpers und die durch diesen vermittelten Bilder betrifft. Mit der Queertheoretikerin Antke Engel lässt sich diese Strategie als eine solche der VerUneindeutigung lesen, die klaren identitätspolitischen Anliegen, so auch feministischen, entgegenstehen. Stattdessen basiere eine solche Strategie auf Verfahren der Ambiguität, der Polysemie und des Paradoxes, die darauf abzielen, identitätslogisches Denken zu durchbrechen und Konstruktivität als Eigenschaft jeder Wahrnehmung und Erkenntnis offenzulegen: „A queer strategy of equivocation (VerUneindeutigung) intervenes into regimes of ‚normality‘ and processes of normalization by revealing ambiguity where a single truth is claimed, where a clear line is drawn, or an entity is stabilized. It functions as an answer to the critique of identity politics as it subverts the principle of identity. Therefore a queer strategy of equivocation favours representations and practices, which resist being pinned down to a single meaning, but materialize the processes of the construction of realities and the conditions of power at work in these processes.“37

Die unhintergehbare Konstruktion von Bildern, aber auch von Körpern und Körperwahrnehmungen, selbst in Momenten der Verletzung und des Schmerzes, sind es auch, die „Inextinguishable Fire“ in einem ununterscheidbaren Nebeneinander von ‚Realität‘ und ‚Inszenierung‘ zu thematisieren versucht, wie Cassils verdeutlichen: „My hope is that by creating a film where at first you think you are looking at a traumatized body, but at the end of the film you realize you are looking at an image constructed to manipulate you into thinking you are looking at a traumatized body, that people will think more critically about the construction of such imagery and pay closer attention. I was inspired by Farocki’s concept of using images to critique images.“38

Statt folglich den Akt der Selbstverletzung politisch zu vereindeutigen, eröffnet das Nebeneinander von Körpereinsatz und Körperinszenierung einen Möglichkeitsraum, der die Binarität von Wahrheit und Fiktion durchbricht und dabei zugleich die Konstruiertheit scheinbarer Realität offenlegt. Dass diese Strategie der VerUneindeutigung auch und vor allem Fragen der Identität einschließt, soll abschließend dargelegt werden.

36 Kris Grey, Fire In The Belly, wie Anm. 32. 37 Antke Engel, Desiring Tension: Towards a Queer Politics of Paradox, in: Christoph Holzhey (Hg.), Tension/Spannung, Wien 2010, 227–250, 231; vgl. hierzu auch: dies., Wider die Eindeutigkeit: Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation, Frankfurt a. M. 2002. 38 Kris Grey, Fire In The Belly, wie Anm. 32.

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Trans*-Empowerment

„I see my practice as a process of creating images that empower, but also those that point to the atrocities and hate crimes that are still happening every day. This is personal for me.“39 Analog zu Exports Performances thematisieren auch Cassils Arbeiten Möglichkeiten des Empowerments angesichts der strukturellen Gewalt, der Trans-Personen in vielfacher Weise ausgesetzt sind. Dabei spielen auch hier Momente der Selbsterprobung durch das Ertragen von Schmerz und Erschöpfung, aber auch das bewusste Eingehen von Risiken eine zentrale Rolle, zeugen diese doch traditionell von Widerstandsfähigkeit und Willensstärke. In Arbeiten wie „Tiresias“ oder „Inextinguishable Fire“ präsentieren sich die Künstler_innen dementsprechend mit stoischem Gesichtsausdruck von Schmerz und Angst scheinbar nicht tangiert. So erinnert sich ein_e Zuschauer_in von „Tiresias“ an Cassils „refusal to shiver“40 und setzt fort: „Cassils interacted with no one: the spectacularly carved face, hair cut close and severely, was all inward concentration.“41 Neben diesen für Body Art klassischen Momenten der Endurance und des Risk-takings sind für Cassils Arbeiten insbesondere die körperliche Ertüchtigung durch gezieltes Krafttraining und die Gestaltung des Körpers durch Bodybuilding charakteristisch. Das Ergebnis ist ein hypermaskulin muskulöser Körper, dessen ‚Power‘ die Künstler_innen unter anderem durch den Einsatz von Kampftechniken, vor allem Mixed Martial Arts und Muay Thai, wiederholt performativ unter Beweis stellen. So etwa in „Becoming an Image“ (2012-present), wo Cassils in Dunkelheit bis zur völligen Erschöpfung auf einen etwa neunhundert Kilo schweren Block aus Lehm einschlagen. Die Performance wird von einer Fotograf_in begleitet, deren Blitzlicht für kurze Momente das Geschehen sichtbar macht. Übrig bleibt ein unförmiger Klumpen Lehm, in den sich die Spuren der Gewalt eingeschrieben haben. Wenn Cassils in dem einleitenden Zitat feststellen, sie möchten selbstermächtigende Bilder produzieren, dann sind es dementsprechend solche einer Kämpfer_in, die nicht nur gefährdet ist, sondern durch ihre physische Stärke und Härte selbst eine potenzielle Gefahr darstellt und sich nicht unterkriegen lässt. Cassils wollen nicht (nur) Opfer sein, sondern leisten Widerstand, worin sich eine weitere Parallele zu Export zeigt. Im Gegensatz zu dieser richten Cassils ihre Handlungen aber trotz aller physischen Herausforderungen nicht gezielt gegen den Körper, sondern versuchen sich vielmehr mit und durch diesen zu ermächtigen, auch wenn dieser Prozess physische Extrembelastungen, Schmerz sowie eine rigide Disziplinierung des Körpers mit sich bringt.

39 Cassils, Bashing binaries, wie Anm. 22. 40 Maurya Wickstrom, Desire and Kairos: Cassils’s Tiresias, in: The Drama Review, 58, 4 (2014), 46– 55, 49. 41 Wickstrom, Desire and Kairos, wie Anm. 40, 48.

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Dieses Zusammenspiel aus Willenskraft und physischer Kraft zeigt sich exemplarisch in der Performance, Fotoserie und Videoarbeit „Cuts: A Traditional Sculpture“ (2011−2013), wo sich die Künstler_innen einem rigiden Muskelaufbauprogramm mittels Gewichthebens unterzogen, das sie durch massive diätetische Eingriffe sowie die Einnahme leichter Steroide ergänzten.42 Ziel war es, zehn Kilo Muskelmasse in 23 Wochen aufzubauen und dadurch „a transformation into traditionally masculine, muscular form“43 zu vollziehen. Auch wenn das Erreichen dieses Ziels in mehrfacher Hinsicht eine Form des Empowerments darstellt,44 die nicht zuletzt auf der geschlechtlich-physiologischen Konnotation von Macht basiert, griffe es zu kurz, die gezielte Maskulinisierung als eine über den Körper vollzogene performative Aneignung der traditionell männlichen Subjektposition zu lesen. Ebenso würde man „Becoming an Image“ missverstehen, wollte man Cassils Einsatz von Gewalt als bloßen Akt der Selbstermächtigung deuten.45 Vielmehr steht auch in diesen Performances die Auseinandersetzung mit Ambiguität und Uneindeutigkeit im Zentrum, hier aber mit dem Fokus auf (Geschlechts‐)Identität. Denn die performative Konstruktion und Manipulation von Körperzeichen und die damit einhergehende Dekonstruktion einer biologistisch argumentierten Geschlechtsidentität stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang zu Cassils Selbstdefinition als „Trans“. Dabei begreifen die Künstler_innen „Trans“ nicht als stabile Identitätskategorie, sondern als einen radikal offenen und unabschließbaren Zustand, wie sie wiederholt ausführen: „[…] I perform trans not as something about a crossing from one sex to another but as a continual becoming, a process-oriented way of being that works in a space of indeterminacy, spasm and slipperiness.“46 Cassils Konzept von „Trans“ lässt sich in einem größeren poststrukturalistisch informierten transtheoretischen Verständnis von Identität verorten, wie etwa auch der amerikanische Theoretiker Jack Halberstam in seiner Studie „Trans*. A Quick and Quirky Account of Gender Variability“ (2017) aufzeigt. Dabei 42 „Cuts“ ist eine Auseinandersetzung mit Eleanor Antins Performance „CARVING: A Traditional Sculpture“ (1972), in der die Künstlerin mehrere Tage lang eine Crash-Diät machte und täglich Fotos von ihrem Körper anfertigte. Antins feministische Arbeit analysierte sowohl den männlichen Blick in der Kunstgeschichte als auch die Idee vom weiblichen Körper, insbesondere die gesellschaftlichen Erwartungen und den Druck, sich an eine bestimmte Form zu halten. 43 Cassils, Bashing binaries, wie Anm. 22. 44 So führen Cassils in einem Interview aus: „It was also empowering. At the peak days of my transformation, I could perform a 650-pound leg press, and I could bench press 165 pounds. I got respect from the serious meatheads in the gym, and I was able to split the seams of my shirts (IncredibleHulk-style). People took notice of me.“ (Artsy Editors, Bodybuilder Artist Heather Cassils Channels Lynda Benglis and Eleanor Antin. Interview with Cassils, in: Artsy, 14. 10. 2013, unter: https:// www.artsy.net/article/editorial-bodybuilder-artist-heather-cassils-channels-lynda-benglis, Zugriff: 11. 10. 2021). 45 Vgl. hierzu auch: Cath Lambert, Queering identity: Becoming queer in the work of Cassils, in: Nicholas Monk u. a. (Hg.), Reconstructing Identity: A Transdisciplinary Approach, London 2017, 131–155. 46 Cassils, Bashing binaries, wie Anm. 22.

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wählt Halberstam den Asterisk als Symbol, nicht um ein alternierendes Geschlecht zu markieren, sondern um die prinzipielle Konstruiertheit und Instabilität jeglicher (Geschlechts‐)Identität offenzulegen, wofür auch Cassils Arbeiten exemplarisch sind. Halberstam erklärt: „[T]he asterisk modifies the meaning of transitivity by refusing to situate transition in relation to a destination, a final form, a specific shape, or an established configuration of desire and identity. The asterisk holds off the certainty of diagnosis; it keeps at bay any sense of knowing in advance what the meaning of this or that gender variant form may be […].“47

„Trans*“ wäre demnach weder als ein Seinszustand noch als ein zielgerichteter Übergang zu verstehen, sondern als genuine Unabgeschlossenheit ungewisser Seinsweisen, als welche in letzter Konsequenz alle Identitäten aus einer queer-dekonstruktivistischen Perspektive betrachtet werden müssen. Welche emanzipatorische Strategie können Cassils Performances aber vor diesem Hintergrund eröffnen und in welchem Verhältnis steht diese zu dem spezifischen Einsatz ihres Körpers? Eine Antwort scheint erneut in der unauflösbaren Gleichzeitigkeit von Ermächtigung und Gefährdung zu liegen. Denn, so der Theaterwissenschafter Fintan Walsh: „Despite the obvious strength of Cassil’s body in action, their performances are equally invested in exploring its fragility by testing the limits of capacity for self-definition and endurance.“48 Dass dies gerade in einer scheinbar so ermächtigenden Arbeit wie „Cuts“ der Fall ist, verdeutlichen Cassils Ausführungen. So reflektieren die Künstler_innen „Cuts“ retrospektiv: „I assumed […] that my act of muscle gain would be empowering. This turned out to be far from the truth: The project took over my life. I had to force-feed myself to get the nutrients in. […] Within the training I pushed past what I thought was humanly possible for my body and I reached new terrains of strength and power. It was alarming for me, a person so centered and aware in my body, to all of a sudden grow this new flesh, which also grew these new nerve endings. I felt disoriented by it −I needed to learn to use this new body so quickly. It became difficult to sense my limits: what was too much weight? The muscles could handle it, but what about the stabilizing joints and tendons? This dysphoria spread to other parts of my life. I felt ungrounded and in flux − like my inner compass was off.“49

Gerade diese Dysphorie, die immer auch als Geschlechtsdysphorie zu denken ist – ein Begriff, der seit 2013 im amerikanischen psychiatrischen Diagnosehandbuch „DSM5“ die Diagnose Geschlechtsidentitätsstörung ersetzt – und das Individuum seine eigene Orientierungslosigkeit und Fluidität erfahren lässt, ist es jedoch, die dieses paradoxerweise zugleich zu ermächtigen vermag. Nicht jedoch in Form eines Subjektivierungsversprechens, wie es Export verfolgte, sondern vielmehr in der konse47 Jack Halberstam, Trans*. A Quick and Quirky Account of Gender Variability, Berkeley 2018, 4. 48 Fintan Walsh, Pugilistic Queer Performance: Working Through and Working Out, in: GLQ: A Journal of Lesbian and Gay Studies, 26, 4 (2020), 701–722, 709. 49 Bodybuilder Artist Heather Cassils Channels Lynda Benglis, wie Anm. 44.

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quenten Anerkennung, dass alle Identitäten und alle Körper gleichermaßen ‚falsch‘ beziehungsweise fremd sind, worin eine andere Form der Befreiung liegt als Export sie durch die Überwindung des weiblich konnotierten Körpers anstrebte. Denn ‚falsch‘ ist nicht als Abwertung des Körpers oder als Distanzierung von diesem zu verstehen, sondern als Bekenntnis zu einer queeren Affirmation von Scheitern,50 das jedoch nicht eine bestimmte Identitätsgruppe, sondern alle Identitäten, in ihrem Versuch einschließt, Idealen von Geschlecht, aber auch von Subjektivität zu entsprechen. Für dieses affirmative Scheitern, so machen Cassils Arbeiten deutlich, kann gerade die ästhetische sowie inhaltliche Auseinandersetzung mit „Trans*“ produktiv gemacht werden, wie Halberstam argumentiert: „Trans* embodiment, rather, is the visual confirmation that all bodies are uncomfortable and wrong-ish, situated as they are within confining grammars of sense and security. The wrong body […] now comes not to claim rightness but to dismantle the system that metes out rightness and wrongness according to the dictates of various social orders. Trans* bodies, in other words, function not simply to provide an image of the non-normative against which normative bodies can be discerned, but rather as bodies that are fragmentary and internally contradictory; bodies that remap gender and its relations to race, place, class, and sexuality; bodies that are in pain; bodies that sound different from how they look; bodies that represent palimpsestic identities or a play of surfaces; bodies that must be split open and reorganized, opened up to chance and random signification.“51

Gerade Cassils intensiver Einsatz des Körpers zwischen Stärke und Fragilität, Endurance und Flexibilität beziehungsweise zwischen Gewalt und Verletzbarkeit macht dessen inhärente Widersprüchlichkeit und Fragmentiertheit erfahrbar, worin jedoch die Chance liegt, sich von der gewaltförmigen Normierung und Idealisierung des Körpers zu emanzipieren, ohne diesen normierten Vorstellungen alternative Identitätsentwürfe entgegensetzen zu müssen. Während also bei Export die Verletzung des Körpers die Künstlerin stärken soll, macht die Stärkung des Körpers Cassils und ihrem Publikum ihre Verletzlichkeit gewahr, deren Anerkennung aber wiederum auch eine Form der Selbstermächtigung ermöglichen kann. Die Auseinandersetzung mit Export hat gezeigt, dass in ihren Arbeiten weniger die Kritik am abendländischen Subjekt- und Identitätsdenken als vielmehr an einer erlebten Subjektivierungsverweigerung als Frau im Vordergrund steht. Anstatt folglich die Konzepte von subjektiver Handlungsmacht oder von Identität zu dekonstruieren oder deren Problematik offenzulegen, ist das primäre Ziel von Valie Exports frühen künstlerischen Auseinandersetzungen, dieser Verweigerung emanzipatorisch entgegenzutreten. Obwohl auch Cassils ein Empowerment für sich und bestimmte Identi-

50 Vgl. Judith Halberstam, The Queer Art of Failure, Durham 2011. 51 Jack Halberstam, Unbuilding Gender. Trans* Anarchitectures In and Beyond the Work of Gordon Matta-Clark, in: Places Journal, Oktober (2018), unter: https://placesjournal.org/article/unbuildi ng-gender/#0, Zugriff: 11. 10. 2021.

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tätsgruppen anstreben, haben ihre Arbeiten vielmehr zum Ziel, „den Blick für die Komplexität des Geschlechts zu öffnen“52 und gerade jene Vorstellungen von Subjektivität und Identität zu unterminieren, die traditionell, und so auch bei Export, als Voraussetzung von Selbstermächtigungsprozessen verstanden wurden. Folgerichtig warnen die kanadischen Künstler_innen trotz ihres politischen Engagements immer wieder vor den Gefahren des Konkreten und Eindeutigen, die nicht zuletzt aus dem Kontext von Aktivismus und Identitätspolitik hervorgehen können. Dass in diesem Wechselverhältnis aus Identitätspolitik und Identitätsdekonstruktion eine bis zu einem gewissen Grad unauflösbare Spannung liegt, ist nicht als Schwäche, sondern als Qualität ihrer künstlerischen Arbeiten zu verstehen, laden diese doch dazu ein, der komplexen und paradoxen Beschaffenheit von Welt und Gesellschaft standzuhalten.

52 Paula-Irene Villa im Interview mit Andrea Roedig: Gender Studies „Sollen Unis helfen, exzellent zu werden“, in: dieStandard.at, 31. 1. 2010, unter: https://www.derstandard.at/story/126370627796 0/gender-studies-sollen-unis-helfen-exzellent-zu-werden, Zugriff: 11. 10. 2021.

„Man sagt, college girls heiraten spät, aber sie heiraten gut.“ Imaginationen von Frauenemanzipation zwischen Deutschland und den USA bei Hugo Münsterberg (1863−1916)

1922 erschien in New York die Biografie des 1916 verstorbenen Psychologieprofessors Hugo Münsterberg.1 Verfasserin war seine Tochter Margaret Münsterberg, die ihren Vater darin als Pionier der Experimentalpsychologie und angesehenen Universitätslehrer ebenso würdigte wie als erfolgreichen deutschen Immigranten in den Vereinigten Staaten. Neben seiner fachspezifischen wissenschaftlichen Tätigkeit an der Harvard University setzte er sich in zahlreichen Schriften mit einem Kulturvergleich zwischen ‚Amerika‘ und Deutschland auseinander und brachte es damit auf beiden Seiten des Atlantiks zu großer Popularität. Ein zentrales Thema seiner Studien bildete die Frage der Frauenbildung, die ihm – so die These – als Gradmesser nicht nur für Frauenemanzipation, sondern auch für eine als ambivalent verstandene Modernisierung der beiden Gesellschaften diente. In diesem Beitrag fungieren Hugo Münsterbergs Biografie und seine Schriften als Sonden für Fragen nach der Geschlechterordnung2 und deren Wandel in und vor dem Ersten Weltkrieg. Im Folgenden frage ich zum einen danach, in welcher Weise Hugo Münsterberg über Frauenbildung und gebildete Frauen nachdachte3 und inwiefern sich seine Überlegungen im Kontext eines deutsch-amerikanischen Kulturvergleichs lesen lassen. Zum anderen werden Münsterbergs Positionierungen sowohl als autobiografische Praktiken4 als auch im Kontext seiner Performance als Scientific 1 Margaret Münsterberg, Hugo Münsterberg. His Life and Work, New York/London 1922. 2 Zu verschiedenen grundlegenden Aspekten einer modernen Geschlechterordnung vgl. etwa Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991; Brigitte Studer, Familiarisierung und Individualisierung. Zur Struktur der Geschlechterordnung in der bürgerlichen Gesellschaft, in: L’Homme. Z. F. G., 11, 1 (2000), 83–104; Raewyn Connell, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Wiesbaden 20154. 3 Vgl. zum titelgebenden Zitat: Hugo Münsterberg, Das Frauenstudium in Amerika, in: Arthur Kirchhoff (Hg.), Die Akademische Frau. Gutachten hervorragender Universitätsprofessoren, Frauenlehrer und Schriftsteller über die Befähigung der Frau zum wissenschaftlichen Studium und Berufe, Berlin 1897, 343–354, 349. 4 Zu einer programmatischen Ausrichtung der aktuellen Auto/Biografieforschung vgl. exemplarisch Johanna Gehmacher u. Elisa Heinrich, Biografie als Koproduktion, in: Johanna Gehmacher, Elisa Heinrich u. Corinna Oesch, Käthe Schirmacher. Agitation und autobiografische Praxis zwischen radikaler Frauenbewegung und völkischer Politik, Wien u. a. 2018, 513–528. Zur Frage unter-

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Persona5 analysiert, die nicht nur von ihm selbst, sondern auch von seiner Familie und über seinen Tod hinaus betrieben wurde. So schrieb Margaret Münsterberg nicht nur die genannte Biografie des Vaters; seine Ehefrau, die Künstlerin Selma Oppler (geb. 1867),6 mit der er seit 1887 verheiratet war, übergab zudem 1944 den geordneten Briefnachlass ihres verstorbenen Mannes der Boston Public Library.7 Aufbauend auf den Überlegungen, die in den letzten Jahren ein „doing or performing science“ verstärkt mit dem Konzept des „doing or performing gender“ zusammengedacht haben,8 werden Münsterbergs Texte auch mit Blick auf den Einsatz von Männlichkeitsbildern und -konstruktionen untersucht. Die Biografien von erfolgreichen männlichen Wissenschaftlern werden häufig immer noch als Abfolge institutioneller Kontexte und Netzwerke erzählt und reflektieren kaum die geschlechtsspezifischen Bedingungen, die Karriereverläufe männlicher Wissenschaftler wesentlich mitbestimmten.9 Dieser konventionellen Vorgehensweise stellt sich eine Geschichte der Männlichkeiten10 ebenso entgegen wie eine feministisch orientierte Wissens- und Wissenschaftsgeschichte11: In beiden Feldern werden männliche Akteure, deren

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schiedlicher Materialitäten von Selbstzeugnissen in geschlechtergeschichtlicher Perspektive vgl. Christa Hämmerle u. Edith Saurer (Hg.), Briefkulturen und ihr Geschlecht, Wien 2003. Zum autobiografischen Schreiben von Männern vgl. Wolfgang Schmale, Der „Neue Adam“ über sich selbst – Autobiografisches Schreiben, in: ders., Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450– 2000), Wien u. a. 2003, 32–41. Vgl. etwa Mineke Bosch, Scholarly persona and twentieth-century historians: explorations of a concept, in: BMGN – Low Countries Historical Review, 131, 4 (2016), 33–54; Lorraine Daston and H. Otto Sibum, Introduction: Scientific Personae and Their Histories, in: Science in Context, 16, 1–2 (2003), 1–8. Selma Oppler kam aus Strassburg und hatte Kunst in Baden und Freiburg studiert. Dabei ging diese Praxis weit über Münsterbergs engste Familie hinaus. Als Beispiel für die biografische Praxis in Münsterbergs erweitertem familiären Umfeld vgl. William Harbutt Dawson 1860–1948. Biographical Memoir by Else Münsterberg Dawson and William Siegfried Dawson. Hg. von Else Pickvance, (geb. Dawson), Birmingham 1998. Mineke Bosch, Persona and the Performance of Identity. Parallel Developments in the Biographical Historiography of Science and Gender, and the Related Uses of Self Narrative, in: L’Homme. Z. F. G., 24, 2 (2013), 11–22. Die zentrale Stellung von Geschlecht für die Genese der Geschichtswissenschaft herausgearbeitet hat Falko Schnicke, Die männliche Disziplin. Zur Vergeschlechtlichung der deutschen Geschichtswissenschaft 1780–1900, Göttingen 2015. Dies trifft sowohl auf klassisch wissenschaftliche Biografien als auch auf solche zu, die den Anspruch erheben, den jeweiligen Wissenschaftler ‚als Menschen‘ abseits des Berufs zu beleuchten. Vgl. stellvertretend die Monografien-Reihe bei Rowohlt, in der zahlreiche Wissenschaftler-Biografien veröffentlicht sind. Vgl. Jürgen Martschukat, Geschichte der Männlichkeiten. Akademisches Viagra oder Baustein einer relationalen und intersektionalen Geschlechtergeschichte?, in: L’Homme. Z. F. G., 26, 2, (2015), 119–127; L’Homme. Z. F. G., 19, 2 (2008): Krise(n) der Männlichkeit?, hg. von Christa Hämmerle u. Claudia Opitz; Schmale, Geschichte der Männlichkeit in Europa, wie Anm. 4; Thomas Kühne (Hg.), Männergeschichte – Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt a. M. u. a. 1996. Vgl. etwa Muriel González Athenas u. Falko Schnicke, Popularisierungen von Geschlechterwissen seit der Vormoderne, Berlin/Boston 2020; Ulrike Auga, Claudia Bruns, Levke Harders u. Gabriele

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Praktiken und Subjektivierungsprozesse in ihrer vergeschlechtlichten Dimension untersucht. An diese Zugänge anschließend geht es im Folgenden (auch) darum, die wechselseitige Konstitution von Männlichkeit und Wissenschaftlichkeit in den Blick zu nehmen. Wenn Männlichkeit auch zentral gesetzt wird, soll dieser Aspekt im Folgenden ebenso als Teil einer intersektionalen Konstellation sichtbar gemacht werden. Wie Jürgen Martschukat festhält, „[kann] Männlichkeit […] Fluchtpunkt einer Analyse sein, […] ist zugleich aber immer changierend und ohne die vielfältigen anderen Relationen und Intersektionen nicht zu verstehen“.12 In Münsterbergs Biografie überlagern sich vielfältige Selbst- und Fremdpositionierungen als weißer, jüdischer, bürgerlicher Mann mit einem hohen Bildungsgrad, der nicht nur ein transnationales Leben führte, sondern mit seinen Arbeiten auch in zwei nationale Kontexte intervenierte. Seine Schreib- und Textpraktiken lassen sich demnach nicht nur über die unterschiedlichen Differenzkategorien analysieren, die sich in seiner Biografie überschnitten; als historischer Akteur interessant ist er auch, weil er darüber hinaus Differenzen (zwischen den Geschlechtern, zwischen Deutschland und den USA) in den Mittelpunkt seiner Arbeiten stellte.

1.

Von Danzig nach Harvard

Der 1863 geborene Hugo Münsterberg wuchs mit drei Brüdern in einer jüdischen Familie in Danzig auf; sein Vater Moritz Münsterberg war als Holzgroßhändler und -exporteur tätig, seine Mutter Anna Bernhardy war Malerin.13 Alle vier Brüder profitierten von den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Deutschen Reich vorrangig für männliche Jugendliche zur Verfügung stehenden Bildungsmöglichkeiten und reüssierten in ihren jeweiligen beruflichen Feldern. Damit stellen sie nicht nur ein Beispiel für den gestiegenen Bildungsgrad des deutschen Wirtschaftsbürgertums, sondern auch für den kulturellen Verbürgerlichungsprozess deutscher Jüdinnen und Juden ab Mitte des 19. Jahrhunderts dar.14 Hugos Bruder Otto (1854–1915) übte zunächst erfolgreich den Beruf des Vaters aus, war dann als Politiker tätig und verfasste historische und sozialpolitische Schriften, Jähnert (Hg.), Das Geschlecht der Wissenschaften. Zur Geschichte von Akademikerinnen im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2010. 12 Martschukat, Geschichte der Männlichkeiten, wie Anm. 10, 126. 13 Otto und Emil Münsterberg waren die Söhne aus der Verbindung von Moritz Münsterberg (1825– 1880) mit Rosalie Bernhardy (?–1857). Nach dem frühen Tod Rosalies heiratete Moritz deren Cousine, die Malerin Anna Bernhardy (?–1875), und bekam auch mit ihr zwei Söhne: Hugo und Oskar. 14 Vgl. Gunilla Budde, Blütezeit des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Darmstadt 2009, 11, 116; Simone Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004.

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etwa zur Handelsgeschichte Danzigs oder zur Prostitutionsfrage. Emil Münsterberg (1855–1911) arbeitete als Sozialreformer sowie als Experte für Fürsorge und Wohlfahrtspflege. Darüber hinaus trug er als Leiter der Armenverwaltung in Berlin zur Verwissenschaftlichung und transnationalen Vernetzung des Feldes der sozialen Arbeit bei. Oskar Münsterberg (1865–1920) war Unternehmer und Kunstsammler und veröffentlichte ein dreibändiges Werk zur japanischen Kunstgeschichte.15 Hugo Münsterberg studierte Psychologie bei Wilhelm Wundt in Leipzig und Medizin in Heidelberg. Nach seiner Habilitation baute er an der Universität Freiburg ein Laboratorium auf, das sich auf Experimentalpsychologie spezialisierte. Hier positionierte er sich als strenger Empiriker sowie als Gegner Sigmund Freuds und der Psychoanalyse. 1892 erhielt Münsterberg eine Gastprofessur an der Harvard University, wohin er 1897 schließlich als Full Professor wechselte. Er profitierte dabei zu unterschiedlichen Zeitpunkten seiner beruflichen Karriere von männlichen Netzwerken. So hatte etwa der Gründer des Psychologie-Instituts in Harvard, William James, persönlich Münsterbergs Gastprofessur erwirkt, nachdem sich die beiden auf einem Kongress kennengelernt hatten und Münsterberg den Kontakt nicht hatte abreißen lassen.16 Ob er als Wissenschaftler in die USA wechselte, um einem im Deutschen Reich zunehmenden Antisemitismus zu entgehen, lässt sich nicht eindeutig sagen. Dass Münsterberg, ebenso wie alle seine Brüder, im Laufe seines Lebens zum evangelischen Glauben konvertierte17 – Otto Münsterberg ließ etwa auch seine Kinder taufen18 –, stellte zumindest kein ungewöhnliches Phänomen im jüdischen Bildungsbürgertum am Ende des 19. Jahrhunderts dar. In Harvard richtete er ebenfalls ein experimentalpsychologisches Labor ein, in dem er unter anderem die sogenannte Münsterberg-Illusion entdeckte, eine visuelle Wahrnehmungstäuschung, deren Parameter er definierte.19 Schließlich wandte er sich der praktischen Anwendung der Psychologie zu, die er unter dem Begriff der Psychotechnik fasste. Darüber hinaus lässt er sich als früher Filmtheoretiker einordnen, seine Schrift „A Photoplay“20 gilt als bedeutendes Frühwerk der Filmtheorie.21

15 Oskar Münsterberg, Japanische Kunstgeschichte I–III, Braunschweig 1904–1907. 16 Vgl. Rena Sanderson, Gender and Modernity in Transnational Perspective: Hugo Münsterberg and the American Woman, in: Prospects, 23 (1998), 285–313, 286. 17 Vgl. Florian Tennstedt, „Münsterberg, Emil“, in: Neue Deutsche Biographie, 18 (1997), 541; Helmut E. Lück, „Münsterberg, Hugo“, in: Neue Deutsche Biographie, 18 (1997), 542–543; Gert Naundorf, „Münsterberg, Oskar“, in: Neue Deutsche Biographie, 18 (1997), 544. 18 Vgl. Otto Mü nsterberg an Käthe Schirmacher, 8. 8. 1886, Nachlass Käthe Schirmacher (Nl Sch) 313/012. 19 Vgl. Hugo Münsterberg, Die verschobene Schachbrettfigur. Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 15 (1897), 184–188. 20 Hugo Münsterberg, A Photoplay: A Psychological Study, New York 1916. 21 Vgl. Lück, „Münsterberg Hugo“, wie Anm. 17.

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In Münsterbergs Briefnachlass finden sich zahlreiche Korrespondenzen mit USamerikanischen und europäischen Intellektuellen und Kollegen aus den Sozial- und anderen Wissenschaften, so etwa mit dem Sexualwissenschaftler Havelock Ellis, mit Georg Simmel oder Max Weber, den Münsterberg 1904 in die USA einlud.22 Anlass war ein großer wissenschaftlicher Kongress, der parallel zur Louisiana Purchase Exhibition, also der Weltausstellung, 1904 in St. Louis stattfand und den Münsterberg mitinitiiert hatte.23 Um Einladungen an hochrangige Wissenschaftler auszusprechen, reiste Münsterberg selbst nach Europa – sein ausgedehntes Netzwerk war ihm auch in diesem Zusammenhang nützlich. Die Weltausstellung sollte ein modernes, fortschrittliches Amerika zahlreicher kommerzieller und technologischer Errungenschaften repräsentieren und bildete zugleich einen der Höhepunkte der Exotisierung und Objektivierung Schwarzer Menschen in den USA um 1900. An diesen rassistischen Praktiken partizipierte Münsterberg über den die Weltausstellung begleitenden Kongress.24 Genoss er seit seiner Zeit als Professor einen untadeligen Ruf als Wissenschaftler in den USA, so führten Münsterbergs prodeutsche Haltung und seine zu Beginn des Ersten Weltkrieges öffentlich geäußerte Meinung, die Vereinigten Staaten mögen sich neutral verhalten, zu Distanzierungen und sogar Anfeindungen unter Wissenschaftlerkollegen. Dass sich als Bezeichnung für eine deutschfreundliche Haltung der Begriff „Münsterbergism“ durchsetzte, zeugt davon, wie kontrovers diese Debatte geführt wurde.25 Diese politischen Kontroversen und Münsterbergs früher Tod – er brach 1916 während einer Vorlesung zusammen und verstarb wenig später – mögen Gründe dafür sein, dass seine Bedeutung sowohl als Wissenschaftler als auch als intellektueller Kommentator seiner Zeit nach dem Ersten Weltkrieg rapide abnahm.

22 Vgl. die jeweiligen Briefe im digitalisierten Bestand der Hugo Münsterberg Collection, 1890–1916 an der Boston Public Library, unter: https://www.digitalcommonwealth.org/collections/common wealth:736670755, Zugriff: 28. 4. 2022. 23 Vgl. Margaret Münsterberg, The World’s Scholars at the World’s Fair, in: dies., Hugo Münsterberg, wie Anm. 1, 90–129. 24 Für die Ausstellung wurden hunderte People of Color aus verschiedenen Teilen Afrikas und von den Philippinen nach St. Louis gebracht, um dort in Nachbildungen von vermeintlich natürlichen Umgebungen in erniedrigenden, rassifizierten Performances zu partizipieren. Vgl. z. B. Walter Johnson, The Largest Human Zoo in World History. Visiting the 1904 World’s Fair in St. Louis, in: Lapham’s Quarterly, 14. 4. 2020, unter: https://www.laphamsquarterly.org/roundtable/largest-hu man-zoo-world-history, Zugriff: 15. 04. 2022. 25 Vgl. Lück, „Münsterberg, Hugo“, wie Anm. 17.

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2.

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Point of View

Hugo Münsterberg sei lebenslang von der Frage der Perspektive, des „point of view“, fasziniert gewesen, so Rena Sanderson in einem der wenigen kulturhistorischen Aufsätze, die Münsterberg thematisieren.26 Tatsächlich finden sich nicht nur in zahlreichen seiner psychologischen und filmwissenschaftlichen Forschungsarbeiten Fragestellungen, die mit Standpunkten und Perspektive zu tun haben. Auch in seinen kulturkritischen Arbeiten zum Verhältnis der Vereinigten Staaten und Deutschland brachte er durchwegs die Frage der Perspektive ins Spiel. In mehreren Werken – „American Traits from the Point of View of a German“ (1901), „Die Amerikaner“ (1904) oder „American Problems from the Point of View of a Psychologist“ (1910) – arbeitete er an einer Analyse der amerikanischen Gesellschaft, zu der er sich als in die USA ausgewanderter Deutscher besonders berufen sah. So heißt es im Vorwort zu „American Traits“: „It is the contrast which brings out the lines, and that fact alone excuses my speaking to Americans on American subjects after so short a period of acquaintance, had I waited longer I should have seen my surroundings more nearly with American eyes and should have perceived less the characteristic differences.“27

In den genannten Publikationen – meist Sammlungen von Essays, die zuvor in populären Magazinen wie „Atlantic Monthly“, „Good Housekeeping“ oder „Metropolitan Magazine“ erschienen waren – inszenierte er sich sowohl in Deutschland als auch in den Vereinigten Staaten als idealer Botschafter der jeweils anderen Kultur. So baute er ab 1910 das Berliner Amerika-Institut mit auf, eine Einrichtung, die den Kulturaustausch mit den USA fördern sollte, und wurde dessen erster Direktor. In seinen Schriften beanspruchte er auch, zu wissen, welche Inhalte über die amerikanische Gesellschaft dem jeweiligen Publikum zuzumuten seien. So sah er „American Traits“ explizit für eine amerikanische und „Die Amerikaner“ für eine deutsche Leser:innenschaft vor – eine Übersetzung in die jeweils andere Sprache sollte es keinesfalls geben. Im Vorwort zu „American Traits“ betont er: „So far as I can help it, no copy of the book shall reach the European continent“.28 Wenn er „Die Amerikaner“ dort als sein nächstes Werk ankündigt, heißt es in umgekehrter Weise: „Its purpose is to illuminate and to defend a culture which I have learned to admire and which is so greatly misunderstood over there; it seeks to interpret systematically the democratic ideals of America. It will be written for Germans only.“29 Dass das Buch schließlich als „The

26 Sanderson, Gender, wie Anm. 16, 288. 27 Hugo Münsterberg, American Traits from the Point of View of a German, Boston/New York 1901, vii. 28 Münsterberg, American Traits, wie Anm. 27, xii. 29 Münsterberg, American Traits, wie Anm. 27, x.

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Americans“ doch auf Englisch erschien, hatte wohl mit der positiven Rezeption in den USA zu tun, die es auch bereits vor der Übersetzung erfuhr.30 Bemerkenswert ist, dass Münsterberg aus seiner Positionierung als Deutscher in Amerika nicht ableitete, er habe einen perspektivischen und in gewisser Weise eingeschränkten Blick auf die Verhältnisse. Im Gegenteil: Da er die USA aus Sicht eines Deutschen und Deutschland aus Sicht eines in den USA Lebenden betrachte, ergebe sich ein vollständiges Bild. Münsterberg behielt trotz seines langjährigen Lebensmittelpunkts in den USA stets die deutsche Staatsbürger:innenschaft bei und betonte damit auch in biografischer Hinsicht seine Position als ‚Botschafter‘. Einen nicht unwesentlichen Teil dieser Arbeit als ‚Botschafter‘ verwandte Münsterberg auf Fragen der Frauenbildung oder des Einflusses von Frauen auf das gesellschaftliche Leben, etwa im Kontext von Moralisierungskampagnen. So widmete er eine Reihe von Aufsätzen und Buchkapiteln dem Vergleich der Möglichkeiten für Frauen, höhere Bildung zu erhalten, und einer Analyse der Konsequenzen für die jeweiligen Gesellschaften.31 Auch in dieser Hinsicht sah sich Münsterberg zu pointierten Aussagen berufen, die sich aus seiner spezifischen Blickrichtung speisten: Er verfüge nicht nur über Expertise zu den Bildungssystemen in beiden Ländern; als Universitätsprofessor und als Psychologe in den USA und Deutschland könne er auch die Leistungsbereitschaft und die intellektuellen Fähigkeiten junger Frauen bestens beurteilen: „Aus dem Hotelfenster kann man es nicht kennen lernen; mehr als von einem anderen Volke gilt es von den Amerikanern, daß man mitarbeiten muß, um sie verstehen zu lernen. […] Drei Jahre lang habe ich an der größten Universität des Landes, in Harvard, als Professor gewirkt und mit Vorliebe die sechssemestrige Urlaubsreise ausgenutzt, um das Unterrichtswesen des Landes kennen zu lernen. Ich habe zwischen New York und San Francisco alle wichtigeren Frauencolleges und die charakteristischsten Hochschulen mit gemischter Studentenschaft besucht.“32

Wenn er weiters schreibt, er habe die „studierenden Damen in den Kollegien, in den Laboratorien, in den Seminarien, in den Prüfungen und im geselligen Leben beobachtet“, weckt auch dies Assoziationen mit einer Laborsituation. Darüber hinaus ist in dieser Aussage der Blickwinkel zentral: Während andere vielleicht annahmen, man könne ‚die Amerikaner‘ während kurzer Reisen aus dem Hotelfenster kennenlernen, habe er verstanden, dass man mit ihnen in Interaktion treten müsse, um sie zu verstehen. Hier betonte er also erneut seine Perspektive als Insider, dem spezielle Einblicke – auch im Sinne einer Nahaufnahme – möglich seien. Münsterbergs Beschreibung 30 Hugo Münsterberg, The Americans, New York 1904. Vgl. auch Sanderson, Gender, wie Anm. 16, 290. 31 Vgl. die Kapitel „Women“ in „American Traits“, wie Anm. 27, „The Self-Assertion of Women“ in „The Americans“, wie Anm. 30, oder „The Intemperance of Women“ in: Hugo Münsterberg, American Problems from the Point of View of a Psychologist, New York 1910. 32 Münsterberg, Frauenstudium, wie Anm. 3, 344.

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evoziert allerdings zugleich Vorstellungen eines von oben auf die Verhältnisse sehenden Wissenschaftlers, dessen Blick nichts entgeht. Dass er als männlicher Professor Studentinnen beobachtet, hierarchisiert die Textpassage in zweifacher Hinsicht: zwischen einem Mann und Frauen und in Bezug auf den akademischen Status.

3.

Wissenschaftliche Männlichkeit und ihr Gegenüber

Das Thema Frauenbildung beschäftigte Hugo Münsterberg bereits als jungen Erwachsenen. Besonders intensiv befasste er sich mit dieser Frage in einem sich über mehrere Jahre erstreckenden Briefwechsel mit Käthe Schirmacher (1865–1930), die mit seinem Bruder Otto verschwägert war. Otto Münsterberg war seit den frühen 1880er Jahren mit Charlotte Schirmacher33 verheiratet. Da der jüngere Bruder offenbar viel Zeit im Haus der beiden Jungverheirateten verbrachte, lernte er dort Charlottes Schwester Käthe kennen.34 In Schirmachers umfangreichem Nachlass35 finden sich zahlreiche Briefe Münsterbergs, in denen der gerade erst 19-Jährige der 17-jährigen Schirmacher, die bereits früh ihre Ausbildungsoptionen abwog und eingehend im familiären Raum diskutierte, Ratschläge für ihren Bildungsweg erteilte. Wenn die im Folgenden herangezogenen Korrespondenzen als autobiografische Praktiken analysiert werden, geraten nicht nur die Äußerungen Münsterbergs über sein Gegenüber Käthe Schirmacher, sondern auch seine Selbstpositionierungen als angehender Wissenschaftler in den Blick. Eine solche Analyse eröffnet auch Anknüpfungspunkte zu einem Konzept der Scientific Persona als modellhaftem biografischen Entwurf für Personen in der Wissenschaft: „Scientific personas are historical constructions; they are not just a mask or a role that individuals assume or shape and are shaped by. They are collective entities, a kind of cultural and social repertoires on how to be a person of science.“36 Dieses Konzept bietet sich an, um besonders nach der Kategorie Geschlecht in den Subjektivierungsprozessen von Wissenschaftler:innen zu fragen.37 Auch wurden autobiografische Repräsentationen zuletzt als ergiebiges Material ausgemacht, um zu untersuchen, in welcher Weise Scientific Personas performativ hergestellt werden.38

33 Lebensdaten unbekannt. 34 Zum Briefwechsel zwischen Münsterberg und Schirmacher vgl. Johanna Gehmacher, Das Begehren nach Wissen oder die Frauenbildungsfrage, in: Gehmacher/Heinrich/Oesch, Käthe Schirmacher, wie Anm. 4, 42–55, 49–55. 35 Nachlass Käthe Schirmacher, Universitätsbibliothek Rostock, verfilmt durch Harald Fischer Verlag. 36 Kirsti Niskanen, Mineke Bosch u. Kaat Wils, Scientific Personas in Theory and Practice. Ways of Creating Scientific, Scholarly and Artistic Identities, in: Persona Studies, 4, 1 (2018), 1–5, 1. 37 Vgl. Mineke Bosch, Persona and the Performance, wie Anm. 8. 38 Vgl. Rozemarijn van de Wal, Constructing the persona of a professional historian: On Eileen Power’s early career persona formation and her year in Paris, 1910–1911, in: Niskanen/Bosch/Wils, Scientific Personas, wie Anm. 36, 32–44.

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Im Jahr 1882 schrieb Hugo Münsterberg einen fast 50 Seiten langen Brief, in dem er – obwohl nur wenige Jahre älter – als Ratgeber und vor allem als strenger Kritiker der Bildungsvorhaben Schirmachers auftrat.39 Auch in den folgenden Briefen stellte er immer wieder in Frage, ob es sich für die junge Frau lohnen würde, eine höhere Bildung anzustreben: „[…] thatsächlich sind Sie, wie sie mir selbst schreiben, noch vollkommen unschlüssig; vielleicht trägt es also zur Klärung bei, wenn wir die verschiedenen Möglichkeiten auf rein praktischer Grundlage etwas näher ins Auge fassen. […] Doch eine Vorfrage, Käthe, Sie sind jetzt 17 oder 18 Jahre alt geworden – was wissen Sie? Ich möchte da nicht die platonische Phrase zur Antwort, daß Sie wissen, dass Sie nichts wissen. […] Ich meine so das rechte positive Wissen, wie es der Mann auf die Universität bringt, ehe er sich dem Fachstudium zuwendet, bestehend aus: Geschichte, Naturgeschichte, Mathematik, alte Sprachen, Philosophie, etc. etc. Käthe, seien Sie offen! […] Ihr positives Wissen steht lange nicht auf der Höhe des schlechtesten Gymnasialprimaners.“40

Obwohl selbst kaum älter, maßte sich Hugo Münsterberg hier ein weitreichendes Urteil über die Bildungsmöglichkeiten und aus seiner Sicht wenig realistischen Bildungsziele seines Gegenübers an. Die rhetorischen Strategien changieren zwischen der Einladung zu gemeinsamen Überlegungen, dem Angebot, sich von Münsterberg beraten und führen zu lassen, bis hin zur expliziten Deklassierung weiblicher Bildungsbestrebungen. Neben den schlechteren Ausgangsbedingungen, die bereits durch die mangelhafte Mädchenbildung hervorgerufen würden und die kaum mehr aufzuholen seien, führte Münsterberg weitere, zeitgenössisch verbreitete Argumente gegen ein Universitätsstudium von Frauen an, die sich auch in seinen späteren Schriften finden: So sei es den Eltern nicht zuzumuten, eine junge Frau, die zu diesem Zeitpunkt bereits verheiratet sein könnte, weiter zu finanzieren, ohne zu wissen, mit welchem Ausgang. Denn weder Professoren noch Kommilitonen würden weibliche Studentinnen als ebenbürtig neben sich akzeptieren und selbst wenn ein Studium abgeschlossen werden könne, sei es mehr als fraglich, ob dieses dann zu einem entsprechenden Beruf, etwa als Medizinerin oder Juristin, führen würde.41 Wenn Münsterberg die Bildungsziele Schirmachers auch mehrheitlich als unrealistisch abtat, gab er ihr zugleich Ratschläge, mit welch anderen Optionen sie zumindest beginnen könne, sich in der wissenschaftlichen Arena zu positionieren. So schlug er ihr vor, nach England zu gehen, dort Englisch zu lernen, um dann wichtige anthropologische oder geografische Publikationen ins Deutsche übersetzen zu können. Nicht zufällig sah er darin eine Möglichkeit, Werke, die für seine eigenen Studien potenziell

39 Hugo Mü nsterberg an Käthe Schirmacher, 9. 7. 1882, Nl Sch 522/004. 40 Hugo Münsterberg an Käthe Schirmacher, 6. 8. 1882, Nl Sch 522/007. 41 Vgl. zu diesen Argumenten z. B. Edith Glaser, „Sind Frauen studierfähig?“ Vorurteile gegen das Frauenstudium, in: Claudia Opitz u. Elke Kleinau (Hg.), Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 2: Vom Vormärz bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M./New York 1996, 299–309.

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wichtig waren, in deutscher Übersetzung zur Verfügung zu haben – er selbst sprach zu diesem Zeitpunkt noch kein Englisch. Während Münsterberg also für Schirmacher nur äußerst beschränkte Möglichkeiten sah, den Weg eines Universitätsstudiums einzuschlagen, inszenierte er sich selbst bei zahlreichen Gelegenheiten als aufstrebender Jungwissenschaftler. Nicht nur werde er an der Universität brillieren, er entwickle auch bereits eigenständige Forschungsgebiete – so sprach er Schirmacher gegenüber immer wieder vom Fachgebiet der Kulturgeschichte, das zwar an Universitäten noch nicht gelehrt würde, sich aber als zukunftsträchtiges, zwischen unterschiedlichen Disziplinen angesiedeltes Forschungsgebiet durchsetzen werde. Auch auf anderen Ebenen betonte er immer wieder seine Überlegenheit gegenüber Schirmacher, etwa was seine zahlreichen Korrespondenzpartner:innen und seine Schreibkapazität betraf: „Sie würden sich wundern, wenn Sie sehen würden, mit wem aller ich Briefe wechsle; ja während Ihr letzter Brief mit einem Dutzend Seiten wohl ziemlich vereinzelt in der Geschichte Ihrer Correspondenz dasteht, betreibe ich den berüchtigten Zwanzigseitenbriefwechsel mit etwa zehn Personen, von der Familie abgesehen, da werden Sie dann entschuldigen, daß Sie auch diesmal wieder etwas haben warten müssen.“42

Als Münsterberg 1885 promovierte, erhielt Schirmacher noch am selben Tag darüber Nachricht: „Liebe Käthe! In Anbetracht, daß ich vor einer halben Stunde mein Doktorexamen (Prädikat: vorzüglich) bestanden, verzeihst du – nein Sie (wissen Sie eigentlich einen Grund weshalb du und ich uns siezen?), wenn ich heut Abend etwas anderes thue als Briefschreiben. Ich beschränke mich daher heut auf herzliche Glückwünsche zum Geburtstag und danke für den ausführlichen Brief.“43

In den hier zitierten Passagen wird Hugo Münsterberg zunächst als jemand sichtbar, der seine eigenen Bildungsbestrebungen aufgrund seines Geschlechts und der ihm dadurch zur Verfügung stehenden Möglichkeiten über die Bildungsbestrebungen der nahezu gleichaltrigen Verwandten stellte. Er bewertete dabei sein eigenes Studieren, Lesen, Schreiben und Verzeichnen konsequent als bedeutsamer als das von Käthe Schirmacher. Zugleich wird deutlich, dass er sie rhetorisch als Gegenüber nutzte, um sich und seine Vorhaben sichtbar zu machen. Wenn er von den vielen Personen spricht, mit denen er zwanzig Seiten lange Briefe wechselt, oder sich eigene Forschungsfelder entwirft, deren innovatives Potenzial bisher nur er erkannt habe, scheint Münsterberg auch mit einer erheblichen Portion Größenwahn ausgestattet, die womöglich bestimmte Unsicherheiten über seinen eigenen Bildungsweg überdecken sollte. Woher diese Unsicherheiten rühren könnten, lässt sich nur spekulieren, doch könnte auch hier die jüdische Herkunft eine Rolle gespielt haben. Wenn Münsterberg in einem frühen 42 Glaser, „Sind Frauen studierfähig?“, wie Anm. 41. 43 Hugo Münsterberg an Käthe Schirmacher, 4. 8. 1885, Nl Sch 522/012.

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Brief Schirmacher vorwarf, ihre Ideen würden nach einer „Judenbrochüre“ klingen, in der immer andere für die eigenen Fehler verantwortlich gemacht würden, wird jedenfalls deutlich, dass er sich antisemitischer Rhetorik zu bedienen wusste.44 In den über die Hochzeit von Charlotte und Otto verbundenen Familien Schirmacher und Münsterberg wurde das Thema Judentum höchst ambivalent verhandelt. In der deutschnational orientierten Familie Schirmacher wurden nicht nur antipolnische und antislawische Ressentiments, sondern auch eine antisemitische Grundhaltung gepflegt, über die den angeheirateten jüdischen Familienmitgliedern gegenüber mehrheitlich beziehungsweise situativ geschwiegen wurde. Dieser innerfamiliäre Zwiespalt schien allerdings über Hinweise auf einen geteilten Deutschnationalismus sowie die Differenzierung zwischen „[e]dle[n] Juden“ auf der einen und einem zu bekämpfenden „internationalen Judentum“ auf der anderen Seite überwindbar.45 Acht Jahre später – die beiden korrespondierten weiterhin in unregelmäßigen Abständen – schrieb Münsterberg an Schirmacher mehr als ermutigender Ratgeber, denn als Kritiker. Weiterhin trat er jedenfalls als Experte in Sachen Frauenbildung auf. So wurde Schirmacher, als sie 1893 für die Weltausstellung nach Chicago reiste, von ihm brieflich mit Hinweisen und Ratschlägen empfangen: „Liebe Käthe! Willkommen in Amerika! Denken Sie einmal, wie komisch es mir mit Ihnen ergangen ist. Als vor einiger Zeit, ich glaube, zuerst Mrs. George uns erzählte, daß Sie nach Amerika kommen würden, da sagten meine Frau und ich einstimmig, daß wir uns freuten Ihnen behilflich zu sein, Ihnen Boston zu zeigen, Ihnen Empfehlungen zu verschaffen u.s.w. […] Miss George sagt mir auch, daß Sie […] sich um eine Stelle in Amerika bemühen würden; ich glaube in der That, Sie könnten Sich hier einen schönen Wirkungskreis erobern. Aber gerade dabei würde ich Ihnen gerne mit Rath und Tat zur Seite stehen. Ich habe viele Beziehungen und kann viel machen (Soeben erst habe ich einen deutschen Freund nach Harvard berufen), vor allem kenne ich [die] pädagogischen Verhältnisse des Landes. Sie können da ohne sachkundigen Rath schwere Fehler machen.“46

Obwohl der Ton amikal und wohlwollend war, wich Münsterberg auch hier nicht von der Performanz elitärer, wissenschaftlicher Männlichkeit ab, die sich offenbar aus der Abgrenzung von seinem Gegenüber speiste. Da er Amerika kenne, könne er Schirmacher vor schweren Fehlern bewahren. Da er über ein hervorragendes Netzwerk verfüge, könne er ihr beim Knüpfen von Beziehungen zur Seite stehen. Wenn er Schirmachers Bildungsziele und ihre wissenschaftlichen Agenden auch nicht mehr abwertete, blieb es bei der bereits zehn Jahre zuvor etablierten Hierarchisierung.

44 Hugo Münsterberg an Käthe Schirmacher, 6. 8. 1882, Nl Sch 522/007. 45 Käthe Schirmacher an Clara Schirmacher, 12. 5. 1909, Nl Sch 13/002; Oscar Münsterberg an Käthe Schirmacher, 5. 8. 1915, Nl Sch 280/007. Vgl. dazu auch Elisa Heinrich, Familiäre Netzwerke, in: Gehmacher/Heinrich/Oesch, Käthe Schirmacher, wie Anm. 4, 159–193, 186–191. 46 Hugo Münsterberg an Käthe Schirmacher, 15. 5. 1893, Nl Sch 522/019.

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Auf das Konzept der Scientific Persona rekurrierend, lässt sich zweierlei in Hinblick auf das hier vorgestellte Korrespondenzmaterial feststellen: Zum einen ist Münsterbergs Briefen eine zukünftige Identität eingeschrieben, die er performt, noch ehe er sie erreicht hat. So stellt er sich schon im Alter von neunzehn Jahren als Wissenschaftler, Gelehrter und Ratgeber dar und nutzt den Austausch mit Schirmacher als Bühne für diese Inszenierung. Zum anderen wird Münsterbergs Arbeit an seiner Persona gerade dann sichtbar, wenn er mit Schirmacher über ihren Status als potenzielle Wissenschaftlerin verhandelt beziehungsweise ihr direkt einen anderen Status zuweist. Münsterbergs Schreiben über Frauen(‐Bildung) lässt sich damit als Teil der Performance seiner Scientific Persona verstehen. Diese Beobachtung lässt sich nun nicht nur im Briefwechsel mit Schirmacher, sondern auch in seinen veröffentlichten Texten über das Frauenstudium machen.

4.

Experte in Sachen Emanzipation

Auch in seinen Publikationen zur Frage der Frauenbildung, die er im Zentrum eines deutsch-amerikanischen Kulturvergleichs positionierte, inszenierte Münsterberg seinen Status als Wissenschaftler und Experte. So betonte er immer wieder, dass sich deutsche Universitäten und US-amerikanische Colleges so deutlich voneinander unterscheiden würden, dass eben nur ein Experte einen differenzierten Vergleich anstellen könne. In den USA hatte sich – im Gegensatz zu Deutschland – das Hochschulwesen und die akademische Ausbildung derart diversifiziert, dass Frauen nicht nur studieren, sondern sich auch für akademische Berufe qualifizieren konnten.47 Auch wurden in den USA bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts privat, später staatlich finanzierte Frauencolleges gegründet. Über die Unterscheidung zwischen undergraduate und graduate studies, die sich institutionell in der Trennung zwischen College und University abbildete, gab es allerdings häufig dennoch eine vergeschlechtlichte Separierung innerhalb des Hochschulsystems. Während viele Frauen Colleges besuchten, war ihre Zahl in den Universities deutlich geringer. In Deutschland wurde Frauen erst ab Ende des 19. Jahrhunderts, zunächst oft nur als Gasthörerinnen in einzelnen Fächern, der Zugang zu Universitäten gewährt.48 Die hohe Anzahl an College-Absolventinnen in den USA habe, so Münsterberg, nun viel mehr mit dem meist niedrigeren Niveau der US-amerikanischen Einrichtungen zu tun, die zwar für eine gute Allgemeinbildung sorgen würden, auf eine Spezialisierung oder eine Berufstätigkeit aber nicht ausgerichtet seien: 47 Vgl. Levke Harders, American Studies. Disziplingeschichte und Geschlecht, Stuttgart 2013, 13. 48 Vgl. etwa Patricia M. Mazón, Gender and the Modern Research University: The Admission of Women to German Higher Education, 1865–1914, Stanford 2003; Gunilla Budde, Geglückte Eroberung? Frauen an Universitäten des 20. Jahrhunderts. Ein Forschungsüberblick, in: Feministische Studien, 20, 1 (2002), 98–113.

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„Wenn die Frage des Frauenstudiums in Deutschland nur darauf zielt, ob die Frauen zu den bestehenden deutschen Universitäten zwecks späterer Berufstätigkeit zugelassen werden sollen, so ist es mithin ein Mißbrauch, wenn sich die Freunde oder die Gegner der Bewegung auf Amerika berufen. Das College ist keine Universität, die besten Universitäten sind den Frauen fast ebenso ausnahmsweise nur zugänglich wie in Deutschland […].“49

Münsterberg argumentierte an keiner Stelle explizit gegen eine höhere Bildung für Frauen; vielmehr war er ohnehin davon überzeugt, „daß die Frau mit wenigen glänzenden Ausnahmen sich zur wissenschaftlichen Forschung nicht eignet“.50 Eine solch glänzende Ausnahme stellte aus Münsterbergs Sicht offenbar die junge Gertrude Stein dar: Noch in seiner Zeit als Gastprofessor in Harvard hatte Stein am Radcliffe College bei ihm studiert und dann an den „Automatic Writing“-Klassen in seinem psychologischen Labor teilgenommen.51 In einem an Stein überlieferten Brief von 1895 beschrieb Münsterberg sie als „the ideal student“, von der er nur das Beste erwarte.52 Generell sei das amerikanische Bildungssystem nicht darauf ausgerichtet, alle Frauen, die ein College besuchten, auf akademische Karrieren vorzubereiten. Im Gegenteil sollten sie als „frische“ und „gesunde“ junge Frauen in Richtung Ehe gelenkt werden. Zweck der Women Colleges sei es schließlich, „die Frau gerade als einstige Gattin und Mutter vertiefen und veredeln [zu] wollen“.53 An eben diesen Programmen amerikanischer Colleges – so argumentierte er 1897 noch – könne sich Deutschland ein Beispiel nehmen, da mit deren Hilfe junge Frauen ausgezeichnet auf die Ehe vorbereitet würden: „Man sagt, college girls heiraten spät, aber sie heiraten gut.“54 Wenige Jahre später war Münsterberg allerdings bereits besorgt, welchen Einfluss die „modern American woman“, deren Handlungsräume sich auch durch ihre CollegeAusbildung sukzessive erweiterten, auf die US-amerikanische Gesellschaft nehmen würde. In Hinblick auf ein Bildungssystem, das nun offenbar mehr und mehr Frauen von einer Ehe abhalten würde, betonte er in „American Traits“: „The [educated] woman has not become less attractive as regards marriage; but has not marriage become less attractive to the woman?“55 Als problematisch sah Münsterberg besonders die in den USA verbreitete Koedukation sowie die zahlreichen weiblichen Lehrkräfte an. Der gemeinsame Schulunterricht von Mädchen und Jungen sei im Prinzip begrüßenswert: „it strenghtens the girls; 49 Münsterberg, Frauenstudium, wie Anm. 3, 351. 50 Münsterberg, Frauenstudium, wie Anm. 3, 349 (Hervorhebung im Original). 51 Vgl. Steven Meyer, Irresistible Dictation. Gertrude Stein and the Correlations of Writing and Science, Stanford, CA 2002. 52 Vgl. Hugo Münsterberg an Gertrude Stein, 10. 6. 1895, Gertrude Stein and Alice B. Toklas Papers, box 117, folder 2494, Yale Collection of American Literature, Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Yale University, zit. nach: Linda Martin, The Making of Men and Women: Gertrude Stein, Hugo Münsterberg, and the Discourse of Work, in: Modernism, 26, 1 (2019), 43–65, 43. 53 Münsterberg, Frauenstudium, wie Anm. 3, 352. 54 Münsterberg, Frauenstudium, wie Anm. 3., 349 (Hervorhebung im Original). 55 Münsterberg, American Traits, wie Anm. 27, 140.

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it refines the boys; it creates a comradeship between the two sexes“.56 Doch wenn dieser gemeinsame Unterricht im Erwachsenenalter fortgeführt würde, fördere Koedukation nicht mehr Gleichheit, sondern „the superiority of women“.57 So sei die gebildete Frau auch nach der Eheschließung in der Lage, sich ihrer eigenen Weiterbildung zu widmen, da sie weit weniger mit Lohnarbeit oder politischen Tätigkeiten beschäftigt sei. Ihr Ehemann hingegen würde von Beruf und Politik meist derart in Beschlag genommen, dass er kaum Zeit habe, die Zeitung zu lesen.58 Aus dieser Konstellation ergebe sich unweigerlich eine Überlegenheit der Frau in der Ehe. Andere Frauen würden die Ehe ganz ausschlagen. Eine solche Überlegenheit zeige sich schließlich auch darin, dass mehr und mehr Frauen als Lehrkräfte tätig seien. In düsteren Farben malte Münsterberg eine Welt, in der Frauen nicht nur den Lehrberuf übernehmen, sondern auch die Oberhand in anderen gesellschaftlichen Bereichen erlangen würden. „Must we not expect that in the same way in which the last thirty years have handed the teacher’s profession over to the women, the next thirty years will put the ministry, the medical calling, and, finally the bar, also into her control? To say that this is not to be feared because it has never happened anywhere before is no longer an argument, because this development of our schools is also new in the history of civilization. There was never before a nation that gave the education of the young into the hands of the lowest bidder.“59

Mit diesen Positionen bediente sich Münsterberg nicht nur ausgesprochen misogyner Argumente, sondern schrieb sich auch in eine Debatte um die „feminization“ der amerikanischen Kultur ein, die der Gesellschaft der USA – ausgelöst etwa durch das Drängen von Frauen an die Universitäten oder einer Konsumkultur, die vor allem „Mrs. Consumer“60 adressierte – einen intellektuellen Niveauverlust attestierte.61 Verbunden mit der Figur der „New Woman“, die seit den 1880er Jahren Projektionsfläche teils widersprüchlicher Zuschreibungen war, ging in den USA die Angst vor einem kulturellen Niedergang durch die Emanzipation von Frauen um.62 Die viel56 Münsterberg, American Traits, wie Anm. 27, 140. 57 Münsterberg, American Traits, wie Anm. 27, 140. 58 Vgl. Münsterberg, American Traits, wie Anm. 27, 142f. Vgl. auch Münsterberg, Hugo Münsterberg, wie Anm. 1, 330f. 59 Münsterberg, American Traits, wie Anm. 27, 165f. 60 Die National Consumers’ League (NCL) strebte seit ihrer Gründung 1899 – Vorsitzende war die Sozialreformerin und Aktivistin Florence Kelley (1859–1932) – eine Reformierung und Verbesserung von Arbeitsbedingungen für die fast ausschließlich weiblichen Angestellten im Handel und in der Textilbranche an. Vgl. Wendy A. Wiedenhoft Murphy, An Analytical Framework for Studying the Politics of Consumption. The Case of the National Consumers’ League, in: Sociology, 15 (2008), 281–303; Kathryn Kish Sklar, Florence Kelley and the Nation’s Work. The Rise of Women’s Political Culture, 1830–1900, New Haven, CT 1995. 61 Vgl. Sanderson, Gender, wie Anm. 16, 299. 62 Martha H. Patterson, Introduction, in: dies. (Hg.), The American New Woman revisited: A Reader, 1894–1930, New Brunswick 2008, 1–26, 1. Vgl. auch z. B. Carroll Smith-Rosenberg, Disorderly Conduct: Visions of Gender in Victorian America, New York 1986, 245.

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fältigen Zuschreibungen reichten von „suffragist“ und „college girl“ über „bicylist“ und „mannish woman“ bis „birth-control advocate“ und „eugenicist“, reagierten zugleich aber alle auf die Herausforderungen, die etwa die Frauenbewegung seit dem späten 19. Jahrhundert für vergeschlechtlichte Machtverhältnisse bedeutete: „Signifying at once a character type and a cultural phenomenon, the term New Woman described women more broadly than suffragist or settlement worker, while connoting a distinctly modern ideal of self-refashioning. Not simply shorthand for a commitment to greater female liberation, the term could signal multiple and contradictory positions on the most pressing issues of the day.“63

Darüber hinaus partizipierte Münsterberg mit seinen Äußerungen an einem rassistischen und eugenisch unterlegten Diskurs, in dem die Angst vor einer sinkenden Geburtenrate weißer College-Absolventinnen sich mit jener vor steigenden Geburten bei Einwander:innen und Schwarzen Amerikaner:innen verband.64 Während Frauen auf individueller Ebene von den erweiterten Bildungsmöglichkeiten profitierten, müsste eine ganze Gesellschaft den Preis dafür bezahlen: „[T]he circumstance must not be overlooked, that the increased pressure of women into wageearning occupations lessens the opportunities of the men, and so contributes indirectly to prevent the man from starting his home early in life. In short, from whatever side we look at it, the self-assertion of woman exalts her at the expense of the family – perfects the individual, but injures society; makes the American woman perhaps the finest flower of civilization, but awakens at the same time serious fears for the propagation of the American race.“65

Deutschland diente Münsterberg immer wieder als ambivalente Kontrastfolie für ein solches Szenario. Zum einen fände man in Deutschland hauptsächlich den „Typus der abgearbeiteten, hungrigen, hohlwangigen Seminaristin, die sich mit Nachtarbeit bis zum Lehrerinnenexamen durchquält“, während dieser „Typus des Blaustrumpfs oder der exzentrischen Nihilistin“ unter Studentinnen in den USA völlig unbekannt sei.66 Zum anderen führten die breiten Bildungsmöglichkeiten für Frauen in den Vereinigten Staaten nicht nur zu der bereits erwähnten Überlegenheit von Frauen in sozialen Beziehungen, sondern zu einer Feminisierung ganzer Gesellschaftsbereiche mit unabsehbar negativen Folgen. Während in zahlreichen von Münsterbergs Schriften der wohlwollende Vergleich zwischen der deutschen und der US-amerikanischen Gesellschaft im Vordergrund stand, sah er Deutschland in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zunehmend von 63 Patterson, Introduction, wie Anm. 62, 2. 64 Vgl. Hugo Münsterberg, Problems of Population, in: ders., The Americans, wie Anm. 30, 155– 184. Vgl. auch z. B. Charles Franklin Emerick, College Women and Race Suicide, in: Political Science Quarterly, 24 (1909), 269–283, der die These vom „race suicide“ allerdings mittels statistischer Daten kritisierte. 65 Münsterberg, The Americans, wie Anm. 30, 583. 66 Münsterberg, Frauenstudium, wie Anm. 3, 350.

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einer Amerikanisierung betroffen.67 Nach einem Aufenthalt als Gastprofessor in Berlin 1910/11 veröffentlichte Münsterberg jedenfalls mehrere Artikel, die sich darum sorgten, der Typus der „restless, fashion-chasing, candy-eating wom[a]n“68 würde sich auch diesseits des Atlantiks durchsetzen. In Aufsatzsammlungen wie „American Patriotism“ (1913) teilte er seine Beobachtungen über eine deutsche Gesellschaft, die sich zunehmend einer amerikanischen Consumer Culture anpasse und damit insbesondere einer Feminisierung des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens Vorschub leiste. Münsterberg sah nun zunehmend seine Pflicht darin, das intellektuelle Deutschland vor einer solchen Transformation von Geschlechterbeziehungen und deren Konsequenzen für die Nation zu warnen. In ihrer Biografie erwähnte Margaret Münsterberg, ihr Vater habe – obwohl noch keine 55 Jahre alt – mit einer Autobiografie begonnen. Von „Twenty-five Years in America“, wie sie heißen sollte, existierte zum Zeitpunkt seines Todes nur ein erster Abschnitt und eine Inhaltsübersicht. Wenig überraschend sollte es mit „A Woman’s Mind“ auch darin ein eigenes Kapitel über Frauen(‐Bildung) geben.69

5.

Schlussbemerkung

Die Bildungsmöglichkeiten und die Emanzipation von Frauen fungierten im Werk Hugo Münsterbergs als spezifischer Schauplatz der Aushandlung deutsch-amerikanischer Beziehungen. Für seine Arbeit über die Verbindungen und Grenzziehungen zwischen der deutschen und der US-amerikanischen Gesellschaft bildeten das Frauenstudium und der Einfluss von Frauen auf das kulturelle und gesellschaftliche Leben nicht nur einen zentralen Bezugspunkt, sondern auch einen Gradmesser für die Modernisierung einer Gesellschaft. Die zunächst positiv gezeichnete College-Absolventin, die zwar spät, aber mit Allgemeinbildung ausgestattet, in die Ehe eintritt, stand aus Münsterbergs Perspektive für eine moderne Gesellschaftsordnung, in der Frauen zwar gefördert würden, deren essentialistisch gedachte Geschlechtsidentität zugleich aber nicht in Frage gestellt würde. An einer solchen, von ihm als fortschrittlich gedachten Gesellschaft, in der – so ließe sich ergänzen – eine Studentin nicht gleich eine Frauenrechtlerin sein müsse, sollte sich Deutschland orientieren. Mit der als „Feminisierung“ beschriebenen, zunehmenden Präsenz von Frauen in US-amerikanischen Öffentlichkeiten veränderte sich auch Münsterbergs Blick auf die beiden Gesellschaften und deren Geschlechterordnungen. Wenn die amerikanische 67 Studien mit ähnlicher Stoßrichtung waren etwa Fritz Voechting, Über den amerikanischen Frauenkult, Jena 1913; Adolf Halfeld, Amerika und der Amerikanismus. Kritische Betrachtungen eines Deutschen und Europäers, Jena 1927. 68 Münsterberg, Hugo Münsterberg, wie Anm. 1, 415. 69 Münsterberg, Hugo Münsterberg, wie Anm. 1, 297f.

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Moderne einer von Frauen dominierten Gesellschaft gleichkam, sollte sich Deutschland keinesfalls ein Beispiel an den USA nehmen. Dabei war diese Entwicklung aus Münsterbergs Sicht bereits absehbar. Das Amerika und seine ‚moderne‘ Geschlechterordnung von heute war – so stand zu befürchten – das Deutschland von morgen. Hugo Münsterbergs lebenslange Beschäftigung mit Frauenbildung war darüber hinaus – so lässt sich an der Korrespondenz mit Käthe Schirmacher zeigen – eine Möglichkeit, sich des eigenen Status’ – als männlicher Wissenschaftler, als Psychologe, als Deutscher in ‚Amerika‘ – zu versichern. Münsterbergs Schreib- und Textpraktiken erwiesen sich nicht nur als Ort der gegenseitigen Konstituierung von Wissenschaftlichkeit und Männlichkeit; sein Schreiben über Emanzipation und Bildung von Frauen kann auch als Teil der Herstellung seiner eigenen wissenschaftlichen Persona verstanden werden. Zugleich wird deutlich, dass für eine Einordnung von Münsterbergs Texten in Debatten um Frauenbildung, Modernisierung und Fortschritt zwischen Deutschland und den USA immer auch andere soziale Kategorien einbezogen werden müssen, um ein differenziertes Bild seiner Positionierungen zu erhalten. Seine jüdische Herkunft, aber auch seine Partizipation an eugenischen und rassistischen Diskursen lassen Hugo Münsterbergs Selbstpositionierung als erfolgreicher Wissenschaftler als Teil einer komplexen intersektionalen Konstellation erscheinen. Der Beginn des Ersten Weltkriegs verlieh Münsterbergs Studien zur US-amerikanischen Gesellschaft und dem Kulturvergleich mit Deutschland verstärkte Aufmerksamkeit. Seine bereits erwähnten Äußerungen, die USA sollten sich neutral verhalten und nicht an die Seite Englands stellen, positionierten den viele Jahre über sein Fach hinaus geschätzten Experten in den Vereinigten Staaten im Abseits. Als er 1916 während einer Vorlesung vor Studentinnen am Radcliffe College mit einer Gehirnblutung zusammenbrach und starb, berichteten zahlreiche Zeitungen darüber. Hugo Münsterbergs stets aufgerufene Hierarchie zwischen dem Universitätsprofessor und seinen in der Masse nicht für höhere akademische Weihen bestimmten College-Studentinnen kehrt sich auf ironische Weise in ihr Gegenteil, wenn es in einer zeitgenössischen Zeitungsmeldung der „New York Times“ heißt: „Muensterberg dies addressing class. Harvard Psychologist Falls Unconscious Before Sixty Radcliffe Girls.“70

70 Muensterberg dies addressing class. Harvard Psychologist Falls Unconscious Before Sixty Radcliffe Girls, in: New York Times, 17. 12. 1916.

To Cry One’s Fate: Female Expressions of Pain in the Lamentation Songs of Mani in Modern Greece

Mani peninsula, located in southern mainland Greece, used to hold a fierce reputation. It was an isolated place ridden with vendettas between local clans who strived to overpower each other. “Since the clan rather than the village has been the central component of Maniot social identity”, Nick Nicholas argues, “conflict between clans has long been a characteristic of the region.”1 Maniot clans were organised as a strict patriarchal hierarchy. Each clan was led by a council of male elders, the yerontiki. The elders decided whether a blood feud should be declared, determined the possibility of a truce and the punishment of treacherous behaviours, and settled property disputes, marital conflicts and kin obligations.2 Both complementing and opposing the political institution of yerondiki was the klama, the female mourning ritual.3 Klama performed an informal and indirect power over clan matters: women would either oppose or support the decisions of the yerontiki through their lament songs. The equivalent Greek word for a lamenting song is moiroloi – a composite from the words moira (fate) and logos (speech, word). Moiroloi can be literally translated as “to speak about one’s fate”4, or more loosely as “crying one’s fate”5. Lament songs can be found everywhere in Greece, but the ones coming from Mani are distinctive and very particular. They are lengthy compositions of eight-syllable verses with an improvisational character.6 These songs possess a strong biographical element that showcases the life of the deceased, the identity of the lamenter and the bonds that tie them together. They often portray historical incidents or kin lore, providing proof of ties between families and clans. Thus, lamenting songs also have an important record-keeping 1 Nick Nicholas, A History of the Greek Colony of Corsica, in: Journal of the Hellenic Diaspora, 31 (2005), 33–78. 2 See Nadia Seremetakis, The Ethics of Antiphony: The Social Construction of Pain, Gender, and Power in the Southern Peloponnese, in: Ethos, 18, 4 (1990), 481–511; Gareth Morgan, The Laments of Mani, in: Folklore, 84, 4 (December 1973), 265–298. 3 See Seremetakis, Ethics, see note 2, 503. 4 Christos Varvantakis, Mourning Deaths, Lamenting Lives: Grief and Transformation in Inner Maniot Laments, in: Paragrana, 20, 2 (2011), 141. 5 Seremetakis, Ethics, see note 2, 482. 6 See Seremetakis, Ethics, see note 2, 482.

FORUM

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character: through the songs’ narratives the lamenters claim and confirm their role and social status in the clan.7 According to Christos Varvantakis, “the lament has the function of a flame that burns in the heart of vendettas”, since the kinship thematic of the narratives is the main aspect of the blood feud killing code.8 Thus, lament songs were not only testaments to how and why a blood feud begun, but they would also keep the hatred alive, reminding future generations of their duty to continue it.

1.

Woman challenging the social order

In the Maniot context, the lament song has a strong antiphonal structure. The korifea (soloist) leads the main song with the help of the chorus, the women surrounding the mourner who repeat, respond to and validate her declarations of pain and loss.9 Laments were performed during the klama, the pre-burial wake ceremony, that would typically start right after someone’s death and continue up to the funeral that – if circumstances allowed – would take place the day after.10 The end of the wake was signalled by the arrival of the priests, who would come to the house to escort the corpse to the church. However, if the women were not finished with their lamenting ritual, the priests would typically wait outside without interrupting them.11 Although the vast majority of Maniots are Greek Orthodox Christians, the lamentation rituals are decisively not a part of the Christian dogma. Priests have viewed them as paganistic but have nevertheless respected them as an ancient tradition. Researchers such as Christos Varvantakis, Anna Caraveli-Chaves, Nadia Seremetakis and Evy Håland describe the lamentation process as deeply gendered because, for Maniots, the wake is “a female ritual praxis while Orthodox Christian burial is an area of male ceremonial authority.”12 It could be argued that the tension between the female aspect of the wake and the male aspect of the funeral mirrors a generalised tension between central church power and the women’s traditional practices. Evy Håland argues that the

7 See Varvantakis, Deaths, see note 4, 142; Serematakis, Ethics, see note 2, 482, 487, 508. 8 Varvantakis, Deaths, see note 4, 142. 9 See Lada Stevanović, Funeral Ritual and Power: Farewelling the Dead in the Ancient Greek Funerary Ritual, in: Гласник Етнографског Института САНУ [Bulletin of the Ethnographic Institute SANU], 57, 2 (2009), 37–52; Seremetakis, Ethics, see note 2, 489–490. 10 Klama is directly translated to crying, wailing, metaphorically: lamenting. 11 See Evy Johanne Håland, Emotion and identity in connection with Greek death-cult, modern and ancient, in: Etnološka istraživanja [Ethnological research], 16 (2011), 191; Stevanović, Funeral, see note 9. 12 Christos Varvantakis, Emotion, Performance & Death Ritual in Inner Mani, Doctoral dissertation, Berlin 2014, 24 (footnotes); see Anna Caraveli-Chaves, Bridge between Worlds: The Greek Women’s Lament as Communicative Event, in: The Journal of American Folklore, 93, 368 (1980), 129−157, 143–144; Seremetakis, Ethics, see note 2, 503; Håland, Emotion, see note 11, 192.

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Church “also struggled against a female way of expression which gave women a considerable power over the rituals of death.”13 The segregation of the male and female spheres during lamenting also manifests itself in the men’s silence and physical distance from the dead body during the wake. Their presence is acknowledged by the lamenting women, but men are not allowed to participate or even just approach the lamenting circle. Nadia Seremetakis very eloquently points out that “the men do not cross the boundary set by gender and by death.”14 The gender segregation during this vital death ritual demonstrates the intimate role Maniot women play in all matters concerned with the dead.15 The general male view on the lament ritual has been quite ambivalent. Ethnographers and anthropologists researching lament songs mention reactions such as fear, hostility or uneasy mocking, but also in some cases disguised admiration.16 Moreover, from the 1960s, the rising middle class and those that had abandoned their villages for the urban centres would look with embarrassment upon their female kin who continued to lament the dead in the traditional form.17 This feeling of male uneasiness and fear described above was arguably amplified by the misperception that the laments were inherently chaotic. Although the lamenting process during the wake might indeed appear chaotic, the ritual was strictly organised: gestures of sorrow, such as screaming or chest-pounding, should not disrupt the narrative of the lament song. Moreover, the lamenting “turn-taking” expressed positions of power and social order stratification: close female kin had the right to lament first, and blood ties would override marital or more distant kinship relations. A woman of distant kin could interject and take over the lament if she could provide evidence of her own losses and sorrows or prove her proximity to the deceased. Her claims would be incorporated in the narrative of the lament.18 It was through this antiphonal validation of pain that women could find their voice and make social claims. Pain, in the Maniot context, would transcend the personal and emotional level and incorporate aspects of collectivity and legal validation. This was pivotal for the truth-claiming of women’s plights: their claim was coming from a place of pain, so it constituted the truth. At the very least, it should be heard and maybe even considered. Such claims, if voiced outside mourning premises, could be deemed a transgression. During the wake, though, they were justified and validated because they 13 Håland, Emotion, see note 11, 192. 14 Seremetakis, Ethics, see note 2, 489. 15 See Margaret Alexiou, Yatromanolakis Dimitrios, and Roilos Panagiotis, The Ritual Lament in Greek Tradition, in: Dimitrios Yatromanolakis and Panagiotis Roilos (eds.), Greek Studies, Lanham 2002, 47. 16 See Caraveli-Chaves, Bridge, see note 12, 130; Varvantakis, Emotion, see note 12, 147; Alexiou, Ritual, see note 15, 44. 17 See Jill Dubisch, Death and Social Change in Greece, in: Anthropological Quarterly, 62, 4 (1989), 191; Caraveli-Chaves, Bridge, see note 12, 131; Varvantakis, Emotion, see note 12, 147. 18 See Seremetakis, Ethics, see note 2, 487.

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were expressed through the form of lamenting.19 Within the confines of a strict patriarchal and male-dominated environment, the women could vocalise their particular problems and afflictions which resulted from their social position. Widowhood and the subsequent loss of social status, the pains of motherhood or the abandonment by male relatives who should act as protectors were some of the common grievances aired in laments.20 The lament songs functioned as a shield of protection that allowed Maniot women to rage against institutionalised religion, which – as discussed previously – looked with suspicion on their lamenting rituals. The lament songs questioned salvation promises of eternal life to the pious. They would criticise doctors and modern medicine since these had often failed to protect and save their loved ones.21 The songs also served as a platform to express political views or challenge gender norms. Through their lament narratives, women would also reinforce cultural beliefs about the value of male and female children, an element that merits further discussion.

2.

Boys and girls: The “keys” and the “weeds”

The language used in lament songs to describe boys and girls is very interesting. It illustrates the ‘worth’ assigned to each sex and thus illustrates the mindsets and practices in Mani during the early twentieth century. In everyday speech, the term “children” was a term only applied to boys. Girls were just “girls”. A certain “worth-assigning” language, pertaining to each sex, is prevalent in lament songs: boys are described as the “keys”, the “crowns”, the “little lords” while the terms used for girls are the “wild weeds”, the “straw”, the “females”.22 Lament songs from the late nineteenth to the early twentieth centuries mourn the death of older people with no male heirs as a disaster. The death meant the extinction of a kin, and the dead were therefore often depicted as a house with no keys. In a similar way, songs would also draw an analogy between the loss of an only son and the “loss of the keys to one’s house”. A man dying without any male heirs was described as “a paper with no writing on”.23 The loss of a boy was considered disastrous since the strength of a family heavily depended on the number of male members. The death of a boy meant the loss of a potential warrior and disrupted the patrilineal kinship system. In this 19 20 21 22

See Seremetakis, Ethics, see note 2, 483; Varvantakis, Emotion, see note 12, 144. See Caraveli-Chaves, Bridge, see note 12, 138. See Håland, Emotion, see note 11, 191. “[…] I was not lucky to have a male child, I would have been a good house mistress And I would have a secure key to my house. But instead, a wild weed was born”, Varvantakis, Emotion, see note 12, 24. 23 Morgan, Laments, see note 2, 273.

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context, boys were called “rifles” or “canons” since they were seen as future warriors who defended the family honour and bolstered the clan’s strength and respectability.24 By the mid-twentieth century, however, the attitudes towards girls began to change, and the language of the lament songs mirrors this shift. An illustrative example is a lament song from approximately the 1940s, which was sang by a mother at the wake of her little daughter.25 The girl had been accidentally killed by her father and another male relative while examining a new gun. In this song, the girl is no longer just a “female” or a “wild weed”. She is not insignificant. She is her mother’s “little girl”, a “good child” that was well-loved. Nadia Seremetakis who recorded this lament was told by witnesses of the lament ritual that it seemed as if the mother was trying to instigate a blood feud.26 It is possible that the elders of the clan accepted the life of the little girl as equally “valuable” and thus followed the mother’s demands for declaring a feud. Another interesting aspect of the lament is that the mother, who mourned her daughter’s tragic fate, requested a divorce. She presented her husband as the culprit in her daughter’s killing and did not hesitate to accuse him publicly. While such an act would have been perceived as a major transgression during the 1940s, it was justified by her pain and the fact that the accusation was voiced through a lament song. The ceremonial form of the lament also justified the woman’s possible instigation of revenge acts. Pain thus not only gave women the right to provoke a blood feud, but it also ‘legitimised’ their avenging role in the context of clan-law.

3.

Women as instigators and avengers

Although early laments describe women and girls in a language that could be perceived as derogatory, women are presented quite differently in laments of vengeance. In this particular type of lament songs, women would motivate the men of their kin to commit acts of revenge against enemy clans. They called on them to avenge the death of their kinsmen and thus abide by the unwritten laws of the clan. If the men were unwilling to avenge someone’s death, women would shame them into doing so by threatening to take up guns and behave themselves like men, the ultimate transgression of the gender order.27 After all, in the context of Maniot society, the division of labour was gendered, and men and women assigned distinct roles. The women’s task was to work in the fields and take care of the household and their children. Men were freed from such toil so they 24 25 26 27

See Morgan, Laments, see note 2, 280. See Seremetakis, Ethics, see note 2, 509. See Seremetakis, Ethics, see note 2, 509. “If only I was a male, to wear the trousers and have weapons, To play with my rifle, To go in the Argilia [the village of the enemy clan], To take out my sword, To cut everyone behind me and in front of me, Every winged eagle, every grandson of ________ [enemy’s name]”, Anargyros Koutsilieris, in: Μοιρολόγια Της Μάνης [Laments of Mani], Bekakos, Athens 1997, 34.

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could devote themselves to their role as warriors, wielding guns and defending the honour of the clan.28 Interestingly, in times of need, such as during wars and full-blown blood feuds, especially in the mid-1800s, women assisted and participated in the fight.29 Nevertheless, the notion of a woman taking up guns and stepping out of her traditional role was considered extreme. It was only acceptable under very specific circumstances, namely when she had no male ‘protectors’ who could defend her honour, or when her male kin failed – or was unwilling – to fulfil their duty.30 The very popular “Song of Lighorou” is such a lament of vengeance. It was originally composed by Lighorou, a Maniot woman, probably around 1828 to 1830.31 The song describes an incident in her life when she instigated a blood feud, calling on her family to avenge a male member of her kin who had no brothers of his own to avenge him. Through her lament, she shames her brothers into taking revenge by implying that they are neither family nor men if they do not heed the call. She seeks to galvanise them into action by symbolically transforming herself into a man and thereby forcing them to “honour” their gendered roles as “men” and “brothers”.32 In other popular laments from the same period, women describe how they themselves took up arms to avenge the death of their kin, especially of their brothers. These songs refer to actual incidents that took place in Mani and became immortalised through subsequent generations of female lamenters. The heroic tone of these laments and their elaborate lyricism demonstrate how Maniot society assigned women the role of moral gatekeepers. Although women in such narratives committed the ultimate gender transgression by “becoming” men, the folk muse attributed a heroic value to them. These laments praised the women’s loyalty to their kin and their love for their brothers. While it was highly uncommon and inappropriate for women to commit revenge murders in Mani society,33 it was seen as justified if women had no male siblings who could fulfil this moral obligation. In such instances, the “weeds” transformed into avengers, into instigators of blood feuds. The lament songs thus also function as a ‘user’s manual’ that stipulate proper conduct under the clan blood feuding laws.

28 See Eleftherios Aleksakis, Τα γένη και η οικογένεια στην παραδοσιακή κοινωνία της Μάνης [The clans and the family in the traditional society of Mani], Athens 1979, 231. 29 See Aleksakis, Clans, see note 28, 107, 233. 30 See Morgan, Laments, see note 2, 280. 31 See Kiriakos Kassis, Μοιρολόγια Της Μέσα Μάνης Ανέκδοτα Κείμενα Και Άγνωστα Ιστορικά Μοιρολογιών Και Οικογενειών [Lament Songs of Inner Mani, Unpublished Texts and Unknown Histories of Laments and Families], Athens 1980, 178−181. 32 See Varvantakis, Emotion, see note 12, 139. 33 See Morgan, Laments, see note 2, 280, 290.

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4.

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Lamenters as morality keepers and life strategists

Lamenting allowed women to bond over shared experiences of pain. It also served as means to define and enforce moral codes of conduct which could function as survival strategies. In a society where even a minor misconduct could lead to a woman being killed or ostracised, a lament song that showcased the consequences of a violation of moral norms could have a preventive function. It was shown above that heroic laments of vengeance gave credit to women who killed in order to avenge the death of a kin. Nevertheless, such a murder was not justified if it involved what was perceived as a moral transgression on the part of a woman or a girl. In such cases, the laments took the form of cautionary tales that warned against a certain conduct to secure the social order. Maniots considered girls a moral liability, “a keg of gunpowder in the foundations of the house”.34 A great number of blood feuds started because a girl or a woman was “insulted”, for example through rape, abduction, infidelity or the breaking of an engagement without serious reasons.35 Even if it was the woman who suffered the insult, it was often she who was blamed since women were considered morally weaker than men and thus more susceptible to moral transgressions. If an unmarried girl had a sexual relationship, or if a married woman was accused of infidelity, then the unwritten moral law was strict: she had to be killed by her brothers or her father. Although this was not always the case in practice, there have been many instances of honour killings in Mani.36 Since a woman’s moral transgression had such dire consequences, lamenters always reminded women to stay on the path of virtue. Illustrative of this mindset is the lament song of “Stavriani and Giorgantzas” from the late nineteenth century. It narrates how a young girl named Stavriani eloped with her lover Giorgantzas, but was found by her kin, who killed her lover. They spared her life, but she was driven away from her family’s home and prompted to commit suicide: “Oh mother, oh poor mother, and what shall I do with myself ?” “Go and drown yourself, go and throw yourself over a cliff.”37

Warnings and life strategies are also imparted in laments where the performers address a widow. In the patriarchal society of Mani, widowhood was considered a living death because the loss of a husband meant the loss of social status and social isolation.38 Most lament songs advice young widows to stay in the house and accept no visitors. Widows were especially vulnerable to gossip and scrutiny of their behaviour, as this lament song illustrates:

34 35 36 37 38

Aleksakis, Clans, see note 28, 104. See Aleksakis, Clans, see note 28, 104. See Aleksakis, Clans, see note 28, 274. Koutsilieris, Laments, see note 27, 53–54; Kassis, Lament, see note 31, 40–42. See Caraveli-Chaves, Bridge, see note 12, 137–138.

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“The widow sits inside, and outside people talk behind her back, If she walks meekly, they say that she is full of pride, If she walks quickly, they say that she got mad, If she talks to another man, they say that she looks for a new husband, […], And if one falls sick, they say that she got pregnant.”39

This lament, sung all over Greece and not exclusively in the region of Mani, illustrates the precarious social situation of widowhood. Irrespective of how widowed women behaved, they were caught in a ‘damned if you do, damned if you don’t’ duality. In later lament songs, from approximately the mid-twentieth century, women would not only keep other women in check but also start to chastise men for improper moral conduct. Some of these songs voice particular concern about widowers who choose to remarry. A new wife was presented as a threat to the young children, especially girls, who were in danger of being neglected:40 “Beware Skilakoyianni do not do an unthoughtful job to gather me a fox here [another wife] to spoil the nest and scatter the birds [children]”41

In this lament, collected by Nadia Seremetakis, we can see how the lamenter, mourning for her dead sister, warns her brother-in-law against remarrying. It voices concern about how his children will fare with a stepmother.

5.

Concluding remarks

The life of Maniot women was harsh and unforgiving. They lived in a strict patriarchal environment that controlled every aspect of their lives from birth to death. Although they dared not to speak about their tribulations and desires in public, they could find their voice through the lamentation process. The lament songs gave them an undeniable power. In the formalised context of lamentation, their opinion was heard and considered. Through the songs, women could instigate blood feuds by extolling avenging practices and describe and thereby enforce proper moral conduct. Their lives might have been controlled by the male members of their kin, but the women also exerted control over them in a very potent way. Lament songs created a space for women to challenge male authority while, at the same time, allowing them to control and monitor other women’s behaviour, thus asserting the patriarchal social order. 39 Myriobiblos database, Μοιρολόγια [Lament Songs], in: Atropos, at: http://www.myriobiblos.g r/afieromata/dimotiko/txt_moirologia_next.html#1; access: 22 April, 2022. 40 See Varvantakis, Emotion, see note 12, 144–148. 41 Seremetakis, Ethics, see note 2, 505.

Eftychia Kalaitzidou, To Cry One’s Fate

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In the Maniot context, the expression of pain belonged to the female domain. The formalised lamenting process legitimised women’s point of view. The expressions of anguish and sorrow validated their truths, and they could undertake or threaten actions which were usually perceived as unacceptable or out of their assigned gender roles. Female rituals of lamenting have a deeply liminal character: they bridge the distance between life and death, between the present and the past, between the male and female spheres of influence. The latter goes particularly for the vengeance lament songs. They temporarily bridged the gap between the gendered duality of female emotion and male action by showcasing women who undertook actions of vengeance instead of just resigning themselves to their assigned role as mourners. Nevertheless, it could be argued that the songs further confirmed the gendered social order of the Maniot society since it presented such acts of female vengeance as exceptions and only permissible in extraordinary circumstances.

Looking at History through the Lens of the Body

Kathleen Canning’s scholarly work is not only characterised by a deep understanding of cultural and gender theory but also by a distinctive linguistic-analytical view of history. Her main field of research is modern German and European history with an emphasis on the history of democracy and citizenship, gender and family, the state, labour and social movements in the late nineteenth and twentieth centuries. Canning is the author of several groundbreaking theoretical studies. She won the article prize of the Conference Group for Central European History, American Historical Association (AHA) (1996) for “Feminist History after the ‘Linguistic Turn:’ Historicizing Discourse and Experience”1, published in “Signs” (1994). In this work Canning dealt with the experience between narrativity and materiality, anticipating in many ways what shaped feminist and gender theory in the context of the linguistic turn around the turn of the millennium. Canning’s profound theoretical understanding also informed her first book, “Languages of Labor and Gender”2 (1996/2002), where she examined the transformation of women’s labour in Imperial Germany around 1900. Focusing on the transition from an agrarian to an industrial economy, she examined the rhetoric and images of female factory work and how women workers themselves perceived their experiences. For this study, she was granted the Hans Rosenberg Prize of the Central European History Society (CEHS). Her article “The Body as Method. Reflections on the Place of the Body in Gender History”3, published in “Gender & History” (1999), became seminal for feminist historians concerned with the possibilities and limitations of discourse analysis in relation to the (historical) body. With her concept of “embodiment,” she drew attention to “lived corporeality”, being interested in analysing the “culturally perceiving and acting body”. She did not support essentialist body theories or radical constructivist 1 Kathleen Canning, Feminist History after the Linguistic Turn: Historicizing Discourse and Experience, in: Signs, 19, 2 (1994), 368–404. 2 Kathleen Canning, Languages of Labor and Gender. Female Factory Work in Germany, 1850–1914, Ithaca 1996. 3 Kathleen Canning, The Body as Method? Reflections on the Place of the Body in Gender History, in: Gender & History, 11, 3 (1999), 499–513.

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Kathleen Canning interviewed by Heidrun Zettelbauer

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positions, but was rather interested in the historical processes “of making and doing the work of bodies – of becoming a body in social space”.4 Canning argued that the body is not only a site of inscription, power relations or the internalisation of bodily norms but also a site of potential resistance, unruliness, self-inscription or self-representativity. Historical subjects do not simply reproduce socially and culturally prescribed normative body images, but live, experience, judge, internalise and thereby change them. As a “fluid and porous concept”, embodiment enables the analysis of historical transformations through the body and is thus able to break through the often claimed “stability of the body”.5 Kathleen Canning is considered one of the most distinguished experts on the German Weimar Republic and has enriched the field by bringing a women’s and gender history as well as body history perspective to this topic. Her publications include “Gender, Citizenships, and Subjectivities”6, co-edited with Sonya O. Rose (2002), “Gender History in Practice: Historical Perspectives on Body, Class and Citizenship”7 (2006) or “Weimar Subjects/Weimar Publics”8, co-edited with Kerstin Barndt and Kristen McGuire (2010). Her current project “Citizenship Effects: Gender and Sexual Crisis in the Aftermath of War and Revolution in Germany, 1914–1930” examines interconnections between citizenship, gender and sexuality in Germany during the First World War and the Weimar Republic. By connecting the (gendered) body to the socio-political efforts of the German state and its aims to reintegrate World War I veterans into families, Canning links the question of reassessing the reproductive function of families to the regulation of sexuality, lust, birth or abortion. Looking at history through the lens of the body, she connects the restriction of women’s participation in central public spheres such as entertainment, consumption and politics to women’s access to the labour market. She argues convincingly that the body has been instrumentalised during the first half of the twentieth century to restore the bourgeois gender order of the nineteenth century, a development that was drastically exacerbated when the National Socialists came to power. Kathleen Canning holds a BA in history from the University of Oregon and a MA in history from Ruprecht Karls University in Heidelberg. At John Hopkins University she completed a second MA as well as a PhD in history. She spent more than ten years living, researching and teaching in Germany and held a number of research fellowships including the Helmut F. Stern Fellowship at the University of Michigan’s Institute for 4 Canning, The Body, see note 3, 505. 5 Canning, The Body, see note 3, 502–503, 506. 6 Kathleen Canning and Sonya O. Rose (eds.), Gender, Citizenships & Subjectivities, Oxford 2002. The book was first published as a special issue of “Gender & History” (2001). 7 Kathleen Canning, Gender History in Practice. Historical Perspectives on Bodies, Class, and Citizenship, Ithaca/London 2006. 8 Kathleen Canning, Kerstin Barndt and Kristin McGuire (eds.), Weimar Publics/Weimar Subjects. Rethinking the Political Culture of Germany in the 1920s, New York/Oxford 2010.

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the Humanities (2012–2013), a senior fellowship at the Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) at Albert Ludwigs University in Freiburg and a University of Michigan Humanities Award (2009–2010). She received fellowship awards from the German Marshall Fund of the United States (1998–1999), the National Endowment for the Humanities (1996–1997), the Stanford University Humanities Center and the American Council for Learned Societies (1991–1992). From 1988 to 2017, she was Professor of History, Women’s Studies and German at the University of Michigan, where she also served as chair of the History Department. She was director of the Eisenberg Institute for Historical Studies (2006–2009) and founding director of the UM Center for European Studies (1995–1998). Currently, Kathleen Canning is the Andrew W. Mellon Professor of History at Rice University in Houston, Texas, where she has been serving as dean of the School of Humanities since 2018. For many years, she has been associated with “L’Homme. Z. F. G.” as a member of the Scientific Advisory Board. The following conversation between Kathleen Canning and Heidrun Zettelbauer9 was conducted via email.10 Heidrun Zettelbauer: The current issue of “L’Homme. Z. F .G.” is dedicated to the subject of pain and gender in history. Our conceptual approaches as well as those of some of our contributors are strongly informed by theories and methods within the field of body history. Your seminal work “The Body as Method” has had a profound impact on research on the body in history and (historical) processes of embodiment. Your article not only offered a critical reflection on approaches that understand historical bodies as ‘authentic’ and ‘stable’ entities, but you also examined the (gendered) body as an ambivalent and fluid historical concept. You anticipated in many ways a topic that would become central to Feminist and Gender Theory: the ‘place of the body’ against the background of the linguistic turn and processes and ways of appropriating body norms. Looking back on those twenty years that have passed since the publication of “The Body as Method”, how, in your opinion, has the field of body history changed with regard to theoretical or methodological approaches? Did the foci shift in this field of research, and if so, in what directions? Kathleen Canning: This question creates a dilemma of sorts for me, because I think I have always skirted around the declaration of the history of the body as a field. In my article “The Body as Method?” and in subsequent book chapters I pursued the question

9 Heidrun Zettelbauer is Associate Professor of “Modern/Contemporary History” at the Institute of History at Graz University, where she heads the work area of Cultural and Gender History, which was newly established in 2020. Her research interests lie in the field of Gender History of the Modern, nationalism, war, violence, body history and auto/biographical research from a Cultural and Gender History perspective. 10 I am grateful to co-editor Maria Fritsche for her careful reading of and illuminating comments on the interview.

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of the meaning of the body in specific historical settings, usually those involving social conflict, transformation or even violent upheaval. The article “Body as Method” had a longer (or recurrent) afterlife than I expected, possibly because I had the good fortune to pose a provocative question that was very difficult to answer. It was a question to think with, much more than it was a suggestion that the body could be solidified into the object of a field of scholarly study. At that time in my own scholarly trajectory, I found myself contending with bodies as symbols, at the same time that material bodies surfaced in my historical documents, for example, as objects of violence, discipline or sites of social intervention. The body thus calls up different methodological sensibilities depending on how and why it appears significant at particular historical junctures. Even if I had the good fortune to have posed a meaningful question, I was not able to provide the kind of answer to that question that might have invited the solidification of a history of the body. Because historians work in such highly specific arenas, we refrain from generalisations that could somehow meld these different (incomparable) objects into cohesive historical or theoretical categories like “the body.” I suggested that methods once coded as social history, cultural or intellectual history, visual or material history, were difficult to disentangle from one another in analysing bodies in history. Rather social, cultural, symbolic, material bodies were present all at once. At best, we might be able to distinguish layers of meanings or bodily figurations that could scarcely be pried apart. For example, one of the rare studies I would describe as a ‘body history’ is Barbara Duden’s “The Woman Beneath the Skin”.11 She juxtaposes the interpretive gaze of the medical establishment with female patients’ narration of their bodily experiences and disorders in eighteenth-century Eisenach (as told to the physician Johann Storch). Sabine Kienitz’s study “Beschädigte Helden: Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914–1923”12 illuminates both the embodied male experience of catastrophic injury and disability during World War I as well the ways in which war injuries transformed the embodied representations of patriotic heroism while also enacting new social categories of value assigned to loss or injury of specific bodily functions. Your work on body and embodiment productively interacts with empirical analysis. You use the (gendered) body as a cross-sectional tool of analysis13, as an overarching concept for 11 Barbara Duden, Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1987. In English: The Woman Beneath the Skin: A Doctor’s Patients in Eighteenthcentury Germany, Harvard 1998. 12 Sabine Kienitz, Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914–1923, Paderborn 2008. 13 See for example Kathleen Canning, Sexual Crisis and the Writing of Citizenship: Reflections on States of Exception in Germany, 1914–1920, in: Alf Lüdtke and Michael Wildt (eds.), StaatsGewalt: Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes. Historische Perspektiven, Göttingen 2008, 168–213.

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discussing political culture, social disciplining and policy, mass culture or colonialism and imperialism. Negotiations on gender and body as well as debates about the restoration of traditional gender roles and gender hierarchies run, as you put it, “like a red thread through the entire history of the Weimar Republic”14. Is the body in fact a “metatheory of the cultural”, as Jakob Tanner15 once put it? Or would such a broad definition lead to a blurring of the (gendered) body as a precise analytical instrument for historical research? To put it differently: at which point do body and embodiment reach their limits as precise tools for gender history analysis? It has been too long since I engaged Jakob Tanner’s postulation of bodies as constituting a “metatheory of the cultural.” As your own summary of Jakob Tanner’s argument (in your 2017 essay collection)16 suggests, Tanner views body/bodies as formative of the way we live and work together and of the social and cultural boundaries and principles we enact. My own scholarship has sought less to postulate “metatheories” but to analyse the meanings of bodies where they were historically significant (and I meant to suggest that bodies are not always present or significant. It is, indeed, incumbent upon us as historians to explicate why and how bodies matter in the specific setting we study). I probed, for example, how analysis of a specific historical transformation or period of crisis might differ if we take seriously historical actors’ articulations of bodily experience (of harm or injury, of suffering and trauma) or if, from another angle, we consider those periods of governance claims over bodies as crucial dimensions of those transformations or crises. Claims of governance over bodies were vital aspects of reordering projects – after the First World War and again during Nazism – which sharply delineated subjects by gender, sexuality, and reproductive capacity. The presumption that family and gender hierarchies could be reconstructed was a definitive stabilising factor in the restorative project of liberal and social democratic governance after the First World War. My adoption of the language of embodiment suggests that the new female citizens of the Weimar Republic seized the opportunity to define the meanings of their embodied experiences as a foundation for the exercise of their citizenship rights. If body/embodiment is by now part of the ‘precise toolbox’ for histories of Weimar and Nazi Germany, it is likely because of the expanded social, labour, family and reproductive 14 Kathleen Canning, Der Körper der Staatsbürgerin als theoretisches und historisches Problem, in: Beatrice Bowald, Alexandra Binnenkade, Sandra Büchel-Thalmaier and Monika Jakobs (eds.), KörperSinnE. Körper im Spannungsfeld von Diskurs und Erfahrung, Bern/Wettingen 2002, 109– 133, 113. 15 Jakob Tanner, Körpererfahrung, Schmerz und die Konstruktion des Kulturellen, in: Historische Anthropologie, 2, 3 (1994), 489–502, 497. 16 Heidrun Zettelbauer, Embodiment. Verkörperungen. Geschlecht, Körper, Kultur. in: Heidrun Zettelbauer, Stefan Benedik, Nina Kontschieder and Käthe Sonnleitner (eds.), Verkörperungen. Embodiment. Transdisziplinäre Analysen zu Geschlecht und Körper in der Geschichte. Transdisciplinary Explorations on Gender and Body in History, Göttingen 2017, 9–43.

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policies that interpellated and positioned female bodies in new relationships to state power, while also explicitly sexualising femininity, masculinity and non-conforming genders and bodies. The goal of ascertaining how historical subjects situated themselves, or how they interpreted those embodying state and social mechanisms, involves both archival and interpretive challenges. For one, evidence of historical subjects’ responses is difficult to identify and interpret, and may be expressed in written, visual, material or performative terms, which are more likely to be disparate rather than cohesive acts of engagement or critique. I would also want to emphasise the importance of distinguishing between ‘body politics’ in the Weimar era and the much more coercive, violent and ultimately annihilative policies of the Third Reich. This is not to suggest that body politics in Weimar were actually more emancipatory than coercive. I try to avoid such dichotomies because they were almost certainly both simultaneously. Interrogation, instability, experimentation and fragmentation characterised the relationships between and among bodies, sexualities and genders in Weimar Germany, all of which Nazi social, family and gender policies sought to reverse and eradicate. You have repeatedly called for a more inter- and transdisciplinary approach in (gender) history and pleaded for an integration of art history, film or literary studies when dealing with female citizenship.17 Can the body as an analytical tool, with its high integrative power, achieve what Cultural Theory has postulated as important: namely to bring the humanities, which have branched out into specialised disciplines, back into dialogue with each other? Would you say that the question of female citizenship in post-World War I Germany can only be adequately discussed from an interdisciplinary standpoint? This question gives me pause because I am reluctant to view the body as a category of analysis that works in a manner we might deem ‘integrative’. I do think that new citizenships assigned and adopted in Central Europe after the First World War resonated far beyond the realms of formal politics and the exercise of new voting rights. New constitutional rights of citizenship authorized new forms of being in public, of participation in publics that were not contained by the realms of parties or parliaments, such as the expanding arenas of consumption, leisure or pleasure, the landscapes of labour and workers’ rights, or those of education and agitation around contraception, abortion and single motherhood. Our understandings of citizenship are short-sighted if we consider its meaning only in terms of how female citizens voted (even if both suffrage 17 For example, see Kathleen Canning, Between Crisis and Order: The Imaginary of Citizenship in the Aftermath of War I, in: Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel and Lutz Raphael (eds.), Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, München 2007, 215–228; idem, The Order and Disorder of Gender in the History of the Weimar Republic, in: Gabriele Metzler and Dirk Schumann (eds.), Geschlechter(un)ordnung und Politik in der Weimarer Republik, Bonn 2016, 59–79.

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and Staatsbürgerschaft tend to have quite narrow meetings in most German-language scholarship). That said, it is difficult to consider the meaning of new citizenship rights without acknowledging the aftermath of the war and revolution as inflected by the wartime bodily experiences of hunger, illness and loss, grief, mass death and trauma. The stakes of voting and social citizenship rights had everything to do with repairing ruptures that were national, local, familial and individual in scope. The aftermath of the First World War constituted one of those historical moments in which bodies can scarcely be detached from the meanings and claims of citizenship. By shifting the focus from the body to embodiment, you brought the category of experience18 back into the debates and proposed to apply a reformulated category of experience in historical analysis. What is your view on current debates and currently open discussion points on this term? I am not at all certain that younger scholars today are deeply engaged with the concept of experience or with methodological approaches to analysing the historical term ‘experience’. My own teaching of doctoral students over decades indicates that dichotomies or binaries are default modes of thinking that are deeply anchored in our psyches, and that it takes considerable effort to excavate them, to analyse how they work in a particular setting or story, or disassemble them. In the debates you reference here, I pressed against the flattening of narration/discourse into material or embodied experience while also resisting the temptation to dissolve experience that was undeniably material – pain or trauma, protest or performance – into expressible narration. I called upon historians to identify historical actors’ interpretive work, their assignment of meaning to their bodies/bodily experiences, which was sometimes undetectable in textual sources. It is this interpretive work on the part of historical subjects that we have termed ‘agency’, even if I never understood historical agents as acting autonomously or free of representative frameworks. In your studies on the Weimar Republic and citizenship after 1918, you stress the complexity and unpredictability of history, particularly reminding (gender) historians of the fact that historical breaks and revolutions spawned new societal orders, but also new ways of acting and speaking. Early on, you pleaded for a rejection of approaches that solely focus on legal norms and exclude feelings such as fear, sorrow, despair and resistance.19 Do you think the history of emotions allows for productive research on this topic? How would you classify the

18 See Kathleen Canning, Problematische Dichotomien. Erfahrung zwischen Narrativität und Materialität, in: Historische Anthropologie, 10, 2 (2002), 163–182. 19 See Canning, Problematische Dichotomien, see note 18, 165.

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ongoing gender history research on pain20, feelings21, violence22 or vulnerability23 in the context of embodiment? I think here I can rather briefly say that the presence of emotions (pain, vulnerability, fear) in historical actors’ diaries, letters, autobiographies, etc. constitutes a similar form of subject-formation and subject-articulation that is difficult to disentangle from embodiment, since most experiences of pain, fear or shock have acute and detectable dimensions of bodily experience. In my view, the history of emotions/feelings is not separable from a history of embodied experience. This is why, for example, I consider the embodied experiences of the First World War among civilians on the home front – hunger, cold, fear and mass grief – as crucial to understanding the emotional stakes of citizenship, so to speak. Similarly, in the later years of the Weimar Republic, abortion rights, birth control and labour protection for pregnant women and new mothers, became vital fields of citizenship claims that called up embodied and gendered experiences of pain, vulnerability and violence. In the 1990s, feminists celebrated cyber space and virtual reality as possibilities to leave behind essentialist body images.24 The euphoric outburst was gradually replaced by a more ambiguous stance. Nowadays, feminists underline the inclusionary and emancipatory dimensions of the digital revolution but also draw attention to its violent and excluding aspects. What insights can body history and analytical concepts of embodiment provide in the age of posthumanism and/or climate crisis? This question reminds me that Donna Haraway’s “Simians, Cyborgs, and Women: The Reinvention of Nature” (1991)25 postulated an analysis of cyborgs as a means of overcoming binaries of nature and social construction, of human and machine. The cyborg, “at once a social reality and a science fiction”, was also a hybrid of organism and machine “that represents transgressed boundaries and intense fusions of the nature/ culture split”. In her formulation that “the cyborg exists in a post-gender world, and as such holds immense possibilities for modern feminists”, Haraway suggested that the notion of cyborgs also overcomes or allows transcendence of notions of bodies rendered 20 See Gender & History, 32, 1 (2020), especially: Whitney Wood and Joanna Bourke, Conceptualizing Gender and Pain, in: Modern History, 8–12; Joanna Bourke, The Story of Pain. From Prayer to Painkillers, Oxford 2014. 21 See for example L’Homme. Z. F. G., 32, 2 (2021): Fluid Feelings, ed. by Rukmini Barua, Alexandra Oberländer, Christa Hämmerle and Claudia Kraft. 22 See Kathleen Canning, Engendering the History of War and Peace. Comment, in: Benjamin Ziemann (ed.), Perspektiven der Historischen Friedensforschung, Essen 2002, 146–152. 23 See Shani D’Cruze and Anupama Rao (eds.), Violence, Vulnerability and Embodiment. Gender and History, Hoboken/New Jersey 2005. 24 See Marie Luise Angerer, The Body of Gender. Körper. Geschlechter. Identitäten, Wien 1995. 25 Donna Haraway, Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, New York 1991.

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coherent by assigning to them gender or sexual identities. I am not certain that this was merely a “euphoric outburst”, as understandings of the fragmented body, “the body in parts” (Mazzio), had already disassembled essentialist understandings of bodies. The advancing study of sexuality, queer studies and transsexuality further undermined presumptions of bodily coherence. So, I am not sure that we needed digital and data visualisations to postulate a post-humanist body, even if digitisation undoubtedly offers a much wider variety of representations of bodies in parts, bodies dislocated in space and time, distorted, broken, reassembled or resisting wholeness. Some forms of digital representations may subvert bodily logics and render bodies immaterial, imagined entities, while others (depending on the type of digital project we invoke here) may make bodily change – aging, illness, birthing, dying – or the material effects of injury, coercion, violence, including that inflicted by climate change and weather disasters – more tangible and traceable, effectively offering a re-materialisation of bodies through digital images. You mentioned experiences of violence and injury. We are currently again confronted with the violence of war in the midst of Europe, with shocking pictures of grief and pain, speechlessness and a deep consternation, but also helpfulness and solidarity. We see gendered bodies in the media – women and children in basements or on the run, and uniformed male soldiers – regardless of the fact that the proportion of female combatants is relatively high. Old people are presented as almost genderless. Can a differentiated view on the body help us understand and explain what is happening in this moment? This conversation is taking place against the backdrop of the war in Ukraine: perhaps it is an all too banal observation that war is, by definition, a deployment and violation of bodies. And that the breaking of nations, of cities, villages, families and individuals that takes place in war is represented through bodies violated, victimised and remembered in acutely embodied ways by those who survive. The pregnant woman carried through rubble on a stretcher, begging to be killed rather than suffering the death of her baby, has become an embodied icon of this war’s horrifying violence against civilians. A history of war that foregrounds, rather than effaces or sanitises the materiality of this bodily violence, inscribes embodied experience into the memory, memorialisation and narration of war for subsequent generations. You remind us that human thinking was and is body-fixated, that we can only experience or interpret the world through our bodies, and that concepts about the (gendered) body define social and cultural organisation, as well as boundaries and freedoms. Kathleen, thank you very much for this inspiring exchange!

Anti-Genderismus und Pädophilie-Diskurs als politisch-kirchlicher Kampfplatz. Das Fallbeispiel Ungarn

Die Debatte zur „Gender-Ideologie“1 eröffnete vor mehr als einem Jahrzehnt ein neues Kapitel in der politischen, kulturellen und sozialen Geschichte – nicht nur Europas, sondern auch global. Sabine Hark und Paula-Irene Villa definieren Anti-Genderismus als „eine ‚Anti‘-Haltung, eine Abwehr gegen Gender beziehungsweise gegen das, was diesem Begriff unterstellt wird. Unterstellt wird, Gender stehe für eine nicht-natürliche, damit also postessentialistische Fassung von Geschlecht (und Sexualität)“.2 In diesem politischen Kampf, der zuerst auf der Ebene der Sprache geführt wurde, ist Gender gleichbedeutend mit der Propagierung von Homosexualität, der Werbung für eine freie Wahl des Geschlechts und der sexuellen Orientierung, der Aufhebung des biologischen Geschlechts, der Pädophilie, Sexualisierung von Kindern und sogenannten „Kultur des Todes“.3 Der Kampf gegen die ‚Gender-Ideologie‘ ist inzwischen in vielen europäischen Ländern Teil der politischen Agenda. Dabei ist dieser Kulturkampf ein strukturierender und mobilisierender Faktor, der die Massen auf die Straße bringt, den politischen Diskurs und die Gesetzgebung zu Menschen-, Frauen- und LGBTQI-Rechten beeinflusst. 1 Im Anschluss an eine frühere „L’Homme“-Beitragsserie zum Neuen Maskulinismus (in den Heften 2/2014, 1/2013 und 2/2012) sowie an Artikel über Genderbashing in Frankreich (in Heft 1/2015) und die Gender Studies in Polen (in Heft 2/2016) wurde 2017 eine Kommentarreihe zum AntiGenderismus eröffnet. Sie umfasst bisher folgende Beiträge: Judith Goetz, Traditionelle Geschlechterordnungen und importierte Unterdrückung. Die antifeministischen Geschlechterpolitiken der FPÖ, in: L’Homme. Z. F. G., 32, 1 (2021), 127–134; Anthony Castet, Reframing „Identity Politics“ to Restore America’s Greatness in the Age of Trump, in: L’Homme. Z. F. G., 30, 2 (2019), 127–133; Margit Eckholt, Notwendige Klärungsprozesse. Anmerkungen zur Gender-Debatte in der katholischen Kirche und Theologie, in: L’Homme. Z. F. G., 29, 1 (2018), 133–139; Ulrike Krampl u. Xenia von Tippelskirch, Anti-Gender-Bewegungen in Europa. Erste kritische Bestandsaufnahmen, in: L’Homme. Z. F. G., 28, 2 (2017), 101–107; Kerstin Palm, Fake Evolution. Eine biologisch basierte Kritik an Anti-Genderismusrekursen auf die Biologie, in: ebd., 109–114. 2 Sabine Hark u. Paula-Irene Villa (Hg.), Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen, Bielefeld 20152, 7. 3 Sonja A. Strube, Rita Perintfalvi, Raphaela Hemet, Miriam Metze u. Cicek Sahbaz (Hg.), Anti-Genderismus in Europa. Allianzen von Rechtspopulismus und religiösem Fundamentalismus. Mobilisierung – Vernetzung – Transformation, Bielefeld 2021.

AKTUELLES & KOMMENTARE

Rita Perintfalvi

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1.

L’Homme. Z. F. G. 33, 2 (2022)

Kurze Historisierung der Anti-Genderdebatte in Ungarn

Die politische Anti-Gender-Debatte war in Ungarn bis 2017 weniger heftig wie etwa in Polen oder der Slowakei. Der Begriff ‚Gender-Ideologie‘ tauchte im ungarischen öffentlichen Diskurs erstmals 2010 während der Regierungszeit der rechtskonservativen Koalition von Fidesz und der Christlich-Demokratischen Volkspartei (KDNP) auf. Im Rahmen einer Debatte über Geschlechterstereotypen in der Vorschulerziehung wurde das Schlagwort der ‚Gender-Ideologie‘ medial verstärkt genutzt. 2011 wurde eine staatliche Schutzpflicht für die Ehe in das Grundgesetz aufgenommen, die letztere ausschließlich als Lebensgemeinschaft von Mann und Frau definierte. Im selben Jahr wollte die ungarische Regierung während der EU-Ratspräsidentschaft den Begriff ‚Gender-Mainstreaming‘ durch ‚Family-Mainstreaming‘ ersetzen. Im Unterschied zur Slowakei und Polen spielte das im EU-Vertrag von Amsterdam verbindlich verankerte Gender-Mainstreaming als politische Strategie in der ungarischen Gesetzgebung jedoch seit 2012 keine Rolle mehr. In der Slowakei kündigte die Regierung im Juni 2013 die Implementierung einer nationalen Strategie zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte an, welche gleiche Rechte für alle sichern sollte. Viele, auch christliche Organisationen, reagierten mit einer derart heftigen und aggressiven Gegenkampagne, dass die Regierung die Einführung verschob. Eine Demonstration in Košice im September desselben Jahres, die als „Marsch für das Leben“ deklariert wurde und 80.000 Teilnehmer_innen versammelte, erkor die ‚Gender-Ideologie‘ zum mobilisierenden Schlagwort. Im Oktober warnten Vertreter_innen katholischer Schulen in einer Erklärung vor den Gefahren der ‚Gender-Ideologie‘ und der Frühsexualerziehung der Kinder in Schulen. Am 1. Dezember 2013 versandte die slowakische Bischofskonferenz einen adventlichen Hirtenbrief, der von sogenannten „Verbreitern der Kultur des Todes“ sprach, die mit der neuen Waffe der „Gender-Ideologie“ hantieren würden.4 Dieser Hirtenbrief wurde am gleichen Sonntag auch in jeder Kirche in Ungarn verlesen, womit der Kampf gegen die ‚Gender-Ideologie‘ auch im katholisch-kirchlichen Bereich Einzug hielt. Zeitgleich flammte auch in Polen die Anti-Gender-Debatte auf. Hier postulierte Bischof Pieronek im Sommer 2013, dass „die Gender-Ideologie gefährlicher sei als Nationalsozialismus und Kommunismus zusammen“.5 Im Oktober kamen in Polen mehrere skandalöse Fälle von Pädophilie in der katholischen Kirche ans Licht. Kurz darauf gab Erzbischof Michalik eine Erklärung ab, in der er Pornografie, einen Mangel 4 Hirtenbrief der Slowakischen Bischofskonferenz, 2013, unter: http://www.kbs.sk/obsah/sekcia/h/do kumenty-a-vyhlasenia/p/pastierske-listy- konferencie-biskupov-slovenska/c/pastiersky-list-na-prvuadventnu-nedelu-2013, Zugriff: 5. 2. 2022. 5 „I would like to add that the ideology of gender presents a threat worse than Nazism and Communism combined.“ Bischof Pieronek, zit. nach: Slawomir Sierakowski, The Polish Church’s Gender Problem, in: New York Times, 26. 9. 2014, unter: https://www.nytimes.com/2014/01/27/opinion/siera kowski-the-polish-churchs-gender-problem.html, Zugriff: 5. 2. 2022.

Aktuelles & Kommentare

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an Liebe in zerfallenden Familien und die Verbreitung der ‚Gender-Ideologie‘ für Pädophilie verantwortlich machte. Mit dieser gezielten Ablenkungsstrategie der Kirchenleitung begann eine breit angelegte mediale und politische Kampagne gegen den ‚Genderismus‘, die wie in der Slowakei einen aggressiven Charakter annahm und die Möglichkeit eines Dialogs schnell ausschloss.6 Rechtspopulistische Politik lebt davon, Feindbilder zu produzieren, gegen die sie das ‚Volk‘ schützen kann. Das System Orbán führte seinen polemisch als ‚Befreiungskampf‘ titulierten Feldzug seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 bis 2017 vor allem gegen Migrant_innen. Obwohl deren Anzahl im Land extrem gering ist, erklärte die Regierung sie zum Hauptfeind, der das ‚christliche Abendland‘ durch ‚Invasion‘ zerstören wolle. Ab 2017 wandten sich die Rechtspopulisten_innen zunehmend in Richtung Anti-Genderismus. Ein negativer Eckpunkt war dabei die Auflösung des Studienganges der Geschlechterstudien an der größten staatlichen Universität ELTE (Eötvös Lóránd Tudományegyetem) in Budapest.7

2.

Die jüngeren Entwicklungen des neo-homophoben Diskurses auf der legislativen Ebene in Ungarn

2.1

Interpretationen der Neo-Homophobie

LGBTQI-Menschen und -communities sind in Ungarn seit 2020 zentrale Zielscheibe andauernder aggressiver Regierungsattacken.8 Da diese Angriffe die EU-Normen zur Geschlechtergleichstellung verletzen und auch Nachahmungseffekte produzieren können, stellen sie eine Bedrohung für die gesamte Europäische Union dar. Im Folgenden werden drei Etappen des neo-homophoben Diskurses in Ungarn skizziert und analysiert, nämlich die 2020 erfolgten Änderungen im Grundgesetz, das sogenannte Anti-Pädophilie-Gesetz sowie das zukünftige Volksreferendum. „Die neokonservativen und rechtspopulistischen Diskurse“, so David Nax und Florian Schmitt, „können als neo-homophobe Abwehrstrategien auf gesellschaftliche Veränderungen verstanden werden“.9 Der Begriff Homophobie bezeichnet nicht bloß

6 Vgl. Agnieszka Graff, Report from the gender trenches. War against ‘genderism’ in Poland, in: European Journal of Women’s Studies, 21, 4 (2014), 431–442. 7 Vgl. auch Erzsébet Barát, Revoking the MA in Gender Studies in Hungary and Right-Wing Populist Rhetoric, in: L’Homme. Z. F. G., 30, 2 (2019), 135–144. 8 Vgl. Rita Perintfalvi, LGBTQI-Menschen als Zielscheiben aggressiver rechtspopulistischer und religiös-fundamentalistischer Angriffe und deren Kritik. Bedrohliche Warnsignale aus Ungarn, in: Limina – Grazer Theologische Perspektiven, 4, 1 (2021), 158–176, unter: https://limina-graz.eu/in dex.php/limina/article/view/109, Zugriff: 5. 2. 2022. 9 David Nax u. Florian Schmitt, Wie ein neo-homophober Diskurs funktioniert. Neue rechtskonservative Kämpfe gegen die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, in: Andreas Hechler u.

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eine individuelle, diffuse Angst vor (unterdrückter eigener oder fremder) Homosexualität, sondern umfasst auch „ablehnende Einstellungen, soziale Stigmatisierung und strukturelle Diskriminierung gegenüber Personen, die von Heterosexualität als Norm abweichen“.10 Während der klassische homophobe Diskurs Homosexualität noch als „Verhalten wider die Natur“ oder als Sünde gegen göttliche Gebote stigmatisierte und homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte,11 funktioniert die neo-homophobe Reaktion viel subtiler. Nax und Schmitt unterscheiden zwischen Homophobie und Neo-Homophobie parallel zu den Differenzierungen von Rassismus und Neo-Rassismus auf Grundlage des Erklärungsansatzes des französischen Philosophen Étienne Balibar. Sie interpretieren die neo-rassistische wie die neo-homophobe Reaktion als „die Abwehr einer ‚Krankheit der Vermischung‘“12. Neo-Homophobie stellt die Daseinsberechtigung gesellschaftlich marginalisierter Gruppen zwar nicht per se in Frage, verlangt jedoch, dass sie sich unbedingt in die etablierte heteronormative Kultur integrieren, „inklusive dem faktischen Verbot, ihre Interessen auch wirksam auszudrücken“.13 LGBTQI-Menschen sollen unsichtbar bleiben, auf gesellschaftliche Gleichberechtigung verzichten und den herrschenden ‚Normalzustand‘ der Mehrheit nicht in Frage stellen. Diese vermeintliche Toleranz impliziert keine Akzeptanz, sondern legitimiert die Ausgrenzung von Minderheiten mit Verweis auf ihr als ‚abweichend‘ gebrandmarktes Verhalten. Menschen mit neo-homophober Einstellung reagieren daher sehr aggressiv auf politisch-kulturelle Symbole, die Anerkennung für nicht normative Lebensentwürfe, etwa in Pride- und Regenbogenparaden, fordern. Auch Sensibilisierungsprogramme von LGBTQI-Organisationen werden zum Beispiel in Ungarn als ‚zerstörerische Propaganda‘ aus den Schulen verbannt. Der neo-homophobe Anti-Gender-Diskurs präsentiert die Familie – die Basis der Gesellschaft – als ernsthaft bedroht durch die ‚Gender-Ideologie‘, die als vermeintlich von der EU verordnete staatliche Umerziehungsmaßnahme zu einer schamverletzenden Frühsexualisierung von Kindern führe. Vorkämpfer dieser ‚Gender-Ideologie‘ seien die ‚Homolobby‘ und Regenbogenfamilien mit angeblich pädophilen Neigungen, die die traditionelle Familie zerstören und die vorgeblich natürliche Zweigeschlechtlichkeit auflösen wollen. ‚Das Volk‘ stellt für die rechtspopulistische Ideologie dabei eine identitäre Volksgemeinschaft dar. Zentrales Ziel ist es, eine starke, möglichst homogene kollektive Identität aufzubauen, wobei die wichtigsten identitätsstiftenden Marker weiße Hautfarbe, christliche Religion und eine heterosexuelle Orientierung sind. Die Ideologie der

10 11 12 13

Olaf Stuve (Hg.), Geschlechterreflektierte Pädagogik gegen Rechts unter Mitarbeit von Christian Beeck, Opladen/Berlin/Toronto 2015, 264–283, 268. Nax/Schmitt, Neo-homophober Diskurs, wie Anm. 9, 265. Vgl. Franz X. Eder, Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität, Bonn 2001, 51–90. Nax/Schmitt, Neo-homophober Diskurs, wie Anm. 9, 271. Nax/Schmitt, Neo-homophober Diskurs, wie Anm. 9, 271.

Aktuelles & Kommentare

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ungarischen Rechtspopulist_innen folgt dem typischen Kontrastschema von ‚Volk‘ und ‚Fremde‘, wobei LGBTQI-Menschen im Sinne einer Politik der Ausgrenzung als ‚Fremdkörper‘ innerhalb der eigenen Nation definiert werden. Da diese nach Ansicht der Rechtspopulist_innen den Fortbestand der Nation durch ihre vermeintliche Unfruchtbarkeit gefährden, ist es moralisch legitim, ihnen grundlegende Menschenrechte abzuerkennen. Im Folgenden werde ich anhand von drei Beispielen darstellen, wie diese neo-homophobe Abwehrstrategien auf der legislativen Ebene in Ungarn umgesetzt wurden.

2.2

Zweifache Änderung der Verfassung

Die rechtspopulistische Regierung instrumentalisierte die Corona-Pandemie politisch, indem sie am 30. März 2020 ein Notstandsgesetz einführte. Damit konnte Premierminister Viktor Orbán praktisch ohne das Parlament auf dem Verordnungsweg regieren. Schon am nächsten Tag erließ er ein Dekret, das die Rechte transsexueller Menschen massiv beschnitt, indem es „die Eintragung des Geschlechtes ab Geburt“ vorschrieb und spätere Änderungen für illegal erklärte.14 Orbáns Dekret verstieß damit gegen die vom Europarat etablierten europäischen Standards, die Transsexuellen in allen EU-Staaten das Recht garantieren, ihre Geschlechtsidentität in einem schnell zugänglichen und transparenten Verfahren anerkennen zu lassen.15 Am 15. Dezember 2020, während der zweiten Welle der Pandemie, beschloss das ungarische Parlament trotz heftiger gesellschaftlicher Proteste die neunte Änderung des Grundgesetzes, die festschrieb: „Die Grundlage der familiären Beziehung ist die Ehe und die Eltern-Kind-Beziehung. Die Mutter ist eine Frau, der Vater ist ein Mann.“16 Die Grundgesetzänderung sprach nicht nur Regenbogenfamilien die Existenzberechtigung ab, sondern diskriminierte auch trans- und intersexuelle Menschen durch das Einfügen eines Passus in Artikel 3, der „die Bewahrung und den Schutz der Selbstidentität des Kindes, die von Geburt an unveränderbar besteht, garantiert“. Und weiter: „Ungarn schützt das Recht der Kinder auf Selbstidentität entsprechend ihrem Geburtsgeschlecht und sorgt für eine Erziehung im Einklang mit jenen Werten, die auf der verfassungsmäßigen Identität Ungarns und der christlichen Kultur basieren.“17 Zu14 T/9934. Gesetzvorschlag von 31. 3. 2022, § 33. Artikel 2 und 3, unter: https://www.parlament.hu/i rom41/09934/09934.pdf, Zugriff: 5. 2. 2022. Alle im Aufsatz vorkommenden Zitate und Rechtstexte wurden von Rita Perintfalvi aus dem Ungarischen ins Deutsche übersetzt. 15 Empfehlung des Minister_innenkomitees an die Mitgliedstaaten „on measures to combat discrimination on grounds of sexual orientation or gender identity“. CM/Rec 2010 (5), Paragraph 21, unter: http://tinyurl.com/cp32kfa, Zugriff: 8. 5. 2022. 16 T/13647. Magyarország Alaptörvényének kilencedik módosításáról 1. cikk [Zur neunten Änderung des Grundgesetzes Ungarns von 15. 12. 2020, Artikel 1.], unter: https://www.parlament.hu/irom 41/13647/13647.pdf, Zugriff: 5. 2. 2022. 17 T/13647. Zur neunten Änderung des Grundgesetzes Ungarns, wie Anm. 16, Artikel 3.

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sätzlich zu den Verfassungsänderungen beschloss das Parlament auf Vorschlag der Justizministerin Judit Varga eine weitere Gesetzänderung, die alleinstehende Personen, aber auch gleichgeschlechtliche Paare von der Möglichkeit der Kinderadoption ausschloss.18 Unter dem Deckmantel des Schutzes des Kindeswohls formuliert die Verfassungsänderung also eine Norm, die für transsexuelle Menschen problematisch ist. Unter vollständiger Ausklammerung aktueller Positionen der Medizin zur Transsexualität postuliert die Verfassung, die „Selbstidentität des Kindes, die von Geburt an unveränderbar besteht“, schützen zu wollen. Bekanntlich liegt bei Transsexuellen keine Übereinstimmung der erlebten mit der anatomisch-biologischen Geschlechtszugehörigkeit vor, die verfassungsmäßig geforderte klare Selbstidentität des Kindes im Sinne einer harmonisch erlebten Geschlechtsidentität ist daher für sie höchst problematisch.19 In der ausführlichen Begründung der Gesetzesänderung heißt es zu Artikel 3, dass „die neuen, modernen ideologischen Prozesse, die in der westlichen Welt auftauchen, […] Zweifel an der Geschöpflichkeit des männlichen und weiblichen Geschlechtes auf[werfen]. […] Das Geburtsgeschlecht ist eine Gegebenheit, die man nicht ändern kann, die Menschen sind als Mann oder Frau geboren.“20 Diese Formulierung legt die biblische Geschichte über die Erschaffung des Menschen als ‚natürlich‘-biologische Tatsache aus und überführt diese Annahmen in ein säkulares europäisches Grundgesetz. Das Gesetz beruft sich auf die Bibel – wie auch viele andere Verfassungen –, aber es interpretiert den Text und zwar traditionalistisch. Es geht in Genesis 1,2721 nicht um die Definition von zwei Geschlechtern und auch nicht um ihr Zusammenleben in der Ehe, sondern um die Gottebenbildlichkeit der Menschen. Außerdem besagt die Stelle nicht, dass Gott einen Urmann und eine Urfrau erschaffen hätte, sondern dass die Menschheit als Ganzes geschaffen wird. In ihr gibt es eine einzige Differenzierung, nämlich Weiblichkeit und Männlichkeit. Im biblischen Text steht das hebräische Adjektive für männlich (sachar), das sprachlich nichts mit dem Substantiv für Mann (isch) zu tun hat, genauso unterscheidet sich weiblich (neqewa) von Frau (ischa). 18 T/13648. Törvényjavaslat az egyes igazságügyi tárgyú törvények módosításáról [Gesetzvorschlag zur Änderung bestimmter Rechtsprechungsgesetze vom 11.2020.] § 99, unter: https://www.parlamen t.hu/irom41/13648/13648.pdf, Zugriff: 5. 2. 2022. 19 Betroffene haben den „Wunsch, als Angehöriger des anderen Geschlechtes zu leben und anerkannt zu werden. Dieser geht meist mit Unbehagen oder dem Gefühl der Nichtzugehörigkeit zum eigenen anatomischen Geschlecht einher.“ Definition von GID im ICD-10 (World Health Organisation, 2006). GID steht für Gender Identity Disorder. Laut ICD-10 wird die Geschlechtsidentitätsstörung den „Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen“ zugeordnet, gilt jedoch im neuen ICD-11 nicht mehr als psychische Krankheit. 20 T/13647. Zur neunten Änderung des Grundgesetzes Ungarns, wie Anm. 16, Ausführliche Begründung zum Artikel 3. 21 Gen 1,27: „Und Gott schuf den Menschen als sein Bild. Als Bild Gottes schuf er ihn, männlich und weiblich schuf er sie.“

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Männlichkeit und Weiblichkeit werden hier also nicht bestimmten Menschen zugesprochen, sondern sie bilden zwei Pole der Menschheit. Zwei Pole, die durchaus auch Vielfalt zulassen oder zumindest nicht auf einzelne Individuen festgelegt sind.22 Gleichzeitig leugnet die Verfassung die Existenz von LGBTQI-Personen, die damit juristisch ausgrenzt und diskriminiert werden. Das demokratische Grundgesetz wird hier bewusst eingeschränkt, um den europäischen Gleichheitsgrundsatz zu untergraben. Ernsthaft verletzt wird das Recht auf Privatsphäre, das Recht auf Selbstidentität und das Recht auf die rechtliche Anerkennung des Geschlechtes sowie die Menschenwürde von Trans- und Intersexuellen-Menschen. Die Änderungen stellen einen schwerwiegenden Verstoß gegen Artikel 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dar.23

2.3

Das sogenannte Anti-Pädophilie-Gesetz und die Vermischung von Homosexualität und Pädophilie

Um die Einschränkung der Rechte von LGBTQI-Personen zu legitimieren, verfolgt Viktor Orbán eine Strategie, die Homosexualität gezielt mit Pädophilie vermischt. Dies tat er zum ersten Mal in einem Radiointerview am 4. Oktober 2020, in dem er behauptete: „Ungarn ist hinsichtlich der Homosexualität ein tolerantes, ein geduldiges Land.“ Gleichzeitig warnte er vor der Gefahr, die angeblich von Homosexuellen ausgehe: „Doch gibt es eine rote Linie, die man nicht überschreiten darf: Lasst unsere Kinder zufrieden!“24 Mit dieser Warnung reagierte er auf das von der Labrisz Lesbische Gesellschaft publizierte Kinderbuch mit dem Titel „Märchenland für alle“, das die klassischen Volksmärchen aus der Perspektive bestimmter ethnischer, sozialer und sexueller Minderheiten nacherzählt. Ein halbes Jahr nach diesem Interview trat am 23. Juni 2021 ein neues Gesetz in Kraft, das Strafverschärfungen für Pädophilie, Maßnahmen zum Kinderschutz und ein Verbot der „Propagierung von Geschlechtsumwandlung und Homosexualität bei Minderjährigen“ beinhaltet und damit sehr unterschiedliche Themen unzulässig miteinander verbindet: „Um die in diesem Gesetz festgelegten Zwecke und Rechte von Kindern zu gewährleisten, ist es verboten, pornografische oder solche Inhalte zur Verfügung zu stellen, die die Sexualität für 22 Ein gender-faire Auslegung würde besagen, indem Gott den Menschen „männlich und weiblich“ kreiert, erschaffe er alle Geschlechter und alle sexuellen Orientierungen. Vgl. Rita Perintfalvi u. Irmtraud Fischer, Der Kampf um die biblischen Fundamente, in: Strube/Perintfalvi/Hemet/Metze/ Sahbaz: Anti-Genderismus in Europa, wie Anm. 3, 253–267. 23 Vgl. unter: https://www.europarl.europa.eu/charter/pdf/text_de.pdf, Zugriff: 20. 4. 2022. 24 Das Radiointerview von Viktor Orbán ist hier auf Ungarisch anzuhören: https://mediaklikk.hu/mi niszterelnoki-interjuk/cikk/2020/10/04/orban-viktor-miniszterelnoki-interju-vasarnapi-ujsag-okt ober-4/, Zugriff: 5. 2. 2022.

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eigene Zwecke darstellen oder Abweichungen von der Identität des Geburtsgeschlechts, die Geschlechtsumwandlung und die Homosexualität propagieren oder darstellen.“25

In dem bereits Ende Mai desselben Jahres vorgelegten Gesetzesentwurf ging es zunächst nur um Strafverschärfungen für Pädophilie, wobei den Hintergrund dafür mehrere Kindesmissbrauchsskandale im Umkreis von Fidesz bildeten. Das sogenannte Anti-Pädophilie-Gesetz sollte den Verdacht ausräumen, dass Orbáns Partei nicht streng genug gegen Kindesmissbrauch auftrat. Erst später brachten Fidesz-Abgeordnete kurzfristig die genannten neuen Passagen über den Schutz von Kindern vor Homosexualität in den Gesetzesentwurf ein. Dass der neo-homophobe Diskurs in Ungarn weiterhin floriert, zeigt sich auch darin, dass Viktor Orbán am 14. Jänner 2022 in einem seiner regelmäßigen Radiointerviews feststellte, dass „die Homosexualität in der Welt präsent ist, und ob dies zu Pädophilie führt oder nicht, darüber gibt es eine sehr große Debatte“.26 Orbán rekurrierte hier auf ein altes, aber zuletzt wiederbelebtes Feindbild, nämlich das Motiv vom ‚Kinderschä nder‘, das auf homosexuelle Männer projiziert wird, um Aggression und Hass beziehungsweise gesellschaftliche Ausgrenzung zu provozieren. Orbáns Aussagen und die aktuelle Debatte zu Pädophilie und Homosexualität müssen im Zusammenhang mit der Veröffentlichung meines Buches über sexuellen Missbrauch in der ungarisch-katholischen Kirche27 und dem allerersten öffentlichen Auftreten eines ungarischen Opfers im Online-Fernsehkanal Partizán im Februar 2021 gesehen werden. Erstmals erzählten zehn Missbrauchsopfer, die durch katholische Priester sexuell misshandelt wurden, öffentlich ihre Leidensgeschichten und brachen damit ein Tabu in der ungarischen Gesellschaft. Es ist wenig verwunderlich, dass die durch diese Enthüllungen angreifbar gewordene christliche Kirche die Politik des Systems Orbán kritiklos unterstützt. Die rechtspopulistische Regierung ihrerseits benötigt eine für die Gesellschaft unangreifbare Kirche, die sie politisch instrumentalisieren und als verlängerten Arm ihrer Propaganda nützen kann. Das ÖffentlichWerden von Missbrauch würde daher sowohl die katholische Kirche als auch die Regierung schwächen. So verwundert es nicht, dass das genannte Buch schon vor seiner Veröffentlichung äußerst heftige Reaktionen in den Medien hervorrief und von vielen regierungsnahen und rechtskonservativen Medien vehement angegriffen wurde. Statt die strukturellen Missstände in der katholischen Kirche kritisch in den Blick zu neh-

25 LXXIX./2021. törvény a pedofil bűnelkövetőkkel szembeni szigorúbb fellépésről, valamint a gyermekek védelme érdekében egyes törvények módosításáról [Gesetz über härtere Maßnahmen gegen pädophile Straftäter und die Änderung bestimmter Gesetze zum Schutz von Kindern], unter: https://mkogy.jogtar.hu/jogszabaly?docid=A2100079.TV, Zugriff: 5. 2. 2022. 26 Das Interview ist hier anzuhören: https://mediaklikk.hu/miniszterelnoki-interjuk/cikk/2022/01/ 14/orban-viktor-miniszterelnoki-interju-jo-reggelt-magyarorszag-januar-14/, Zugriff: 5. 2. 2022. 27 Rita Perintfalvi, Amire nincs bocsánat. Szexuális ragadozók az egyházban [Dafür gibt es keine Vergebung – Sexuelle Raubtiere in der Kirche], Budapest 2021.

Aktuelles & Kommentare

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men, wurden die aufgedeckten Missbrauchsfälle zu Verbrechen von Homosexuellen erklärt und der neo-homophobe Diskurs dadurch weiter befeuert.

3.

Ausblick

Die vorangehenden Ausführungen machen deutlich, wie sowohl der Anti-Gender- als auch der neo-homophobe rechtspopulistische Diskurs Homosexuelle zu Sündenböcken machen und als Bedrohung von Nation und Gesellschaft präsentieren. Diese politische Strategie wurde in Ungarn mit dem sogenannten „Kinderschutzreferendum“ fortgesetzt. Es wurde am 3. April 2022 zeitgleich mit den Parlamentswahlen durchgeführt, damit die Regierung den Wahlkampf unter dem Motto ‚Kinderschutz‘ inszenieren konnte. Die Bevölkerung sollte zu vier Fragen Stellung nehmen: zum Sexualkundeunterricht an Schulen, zur Verfügbarkeit von Informationen über die sexuelle Orientierung und zur Geschlechtsidentität von Kindern sowie zur angeblich uneingeschränkten Präsentation von Medieninhalten, welche „die Entwicklung von Minderjährigen beeinflussen“. Orbáns Regierung wollte damit die Anti-GenderismusDebatte in den Mittelpunkt ihrer Wiederwahlkampagne stellen. In der Zwischenzeit brach aber der russisch-ukrainische Krieg aus. Damit schwenkte die ungarische Regierung seit Februar 2022 auf Kriegsnarrative um und präsentierte sich als Friedensschützer, wobei sie gleichzeitig bei Wähler_innen die Angst schürte, dass die Opposition, sollte sie die Wahl gewinnen, Ungarn in einen Krieg ziehen würde, der Ungarn nichts angehe. Diese Lüge wurde mit allen Mitteln der Propagandamaschine verbreitet und trug wesentlich zum vierten Sieg der Fidesz-KDNP-Regierung bei. Das Kinderschutz-Referendum konnte die Regierung aber trotz des überwältigenden Wahlsieges nicht gewinnen – eine Niederlage, welche die Regierungsmedien verschweigen, da sie deutlich macht, dass der einschüchternd-manipulative Kampf gegen LGBTQI-Menschen gescheitert ist. Dank vieler Menschenrechtsorganisationen und zivilgesellschaftlicher Aktivist_innen waren 20 Prozent der abgegebenen Stimmen ungültig. Sie konnten mittels einer gelungenen Kampagne viele Ungarn davon überzeugen, dass Referendumsfragen, welche die Menschenrechte so stark verletzen, als ungültig zu betrachten sind und nur mit einer ungültigen Antwort beantwortet werden können. Die Wähler_innen nutzten schriftliche Kommentare oder lustige beziehungsweise obszöne Zeichnungen, um der ungarischen Regierung zu vermitteln, was sie über dieses Referendum denken. Diese Aktion war eine Form des zivilen Ungehorsams und konnte die scheinbar unbesiegbare Macht der allgegenwärtigen Propagandamaschinerie durchbrechen. Das kann als kleiner Hoffnungsschimmer für die Zukunft angesehen werden.

Palpable Pain. Crucifixes, Cilices and Bloody Handkerchiefs as Sources on Modern Female Stigmatics*

1.

Heroic suffering and its material culture

Catholic devotional culture of the nineteenth and early twentieth centuries idealised the willing acceptance of physical and emotional suffering as a means of spiritual growth, as shown by scholars such as Paula Kane and Robert Orsi. Furthermore, according to Catholic teachings, “heroic suffering” could rebalance the pain economy. By voluntarily accepting pain or willingly seeking it out (for example via penitential practices) these “victim souls” – most often women – could atone for the pain afflicted to the heart of Jesus by men’s sins and blasphemies.1 While the textual sources of these ideas have been explored, the material aspect of this devotional culture has been studied less. This is somewhat surprising since Catholic devotional culture is a predominantly material culture that is well-documented and has often been preserved.2 This article addresses the material culture of a specific kind of suffering soul: the stigmatic.3 These were the devotees, predominantly women, who bore the wounds of Christ, lived through Christ’s Passion during mystical episodes and thus voluntarily accepted supernatural suffering.4 Historians have offered several explanations for the

* The research project ‘Patients and Passions. Catholic Views on Pain in Nineteenth-Century Austria’ has received funding from FWO (Flemish Research Foundation) and FWF (Austrian Research Foundation). 1 Paula Kane, “She Offered Herself up”: The Victim Soul and Victim Spirituality in Catholicism, in: Church History, 71, 1 (2002), 80–119; Robert Orsi, Between Heaven and Earth. The Religious Worlds People Make and the Scholars Who Study Them, Princeton/Oxford 2005, 21. 2 See Maureen Miller, Introduction: Material Culture and Catholic History, in: Catholic Historical Review, 101, 1 (2015), 1–17. 3 For pain as a sine qua non (a stigmatic can do without the visible wounds but not without the pain), see Antoinette Gimaret, Extraordinaire et ordinaire des croix. Les representations du corps souffrant 1580–1650, Paris 2011, 211. 4 We studied stigmatics in Italy, Spain, France, Germany and Belgium and discovered that circa 95.5% of them were women. See Tine Van Osselaer, Andrea Graus, Leonardo Rossi and Kristof Smeyers, Between Saints and Celebrities. The Devotion and Promotion of Stigmatics in Europe, c. 1800– 1950, Leiden/Boston 2020, 41.

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preponderance of women amongst the stigmatics:5 the so-called ‘feminisation’ of religion (religion as a ‘woman’s thing’); the nineteenth-century conception of women’s bodies as being predisposed to express spirituality “mehr als der Mann dazu geschaffen, das Christsein in ihrem Körper zu verwirklichen”6; the Catholic Church’s more positive stance towards women’s mystical capacities;7 and the Catholic ideal of a woman who sacrifices herself on behalf of others.8 In sum, when we study the material culture of stigmatics, we examine a devotional culture in which women could embody the Catholic idealisation of suffering. There was a private and a public side to this suffering. Stigmatics cultivated Catholic ideas and ideals on pain privately, for instance by praying to the Heart of Jesus or the Mater Dolorosa (the ideal of compassion) or through religious practices such as selfflagellation or wearing a cilice. However, what set stigmatics apart from ‘ordinary’ Catholic women practicing their religion was their public reliving of Christ’s Passion. According to their devotees, this supernatural pain raised the stigmatics to the level of “living saints”. There are various ways of getting access to the material culture of this part of lived Catholicism. Apart from studying their descriptions in ego-documents (including diaries and letters), we can gather information via photographs and paintings (for example documenting the devotional images and statues in the rooms), and explore the material sources that have been preserved. The following sections provide three entry points for the study of the suffering of these stigmatized women through material culture: (1) the material culture as it was put on display by the promoters of the stigmatics; (2) the collection of the objects by the friends and supporters of the mystic; and finally, on the most intimate level, (3) the use and creation of the objects by the stigmatics. Each level – from the most public to the most intimate – informs us about different aspects of meaning that these objects of pain (here broadly defined as emotional and physical suffering) gained. Our focus is primarily on the first two entry points.

5 I address these issues in greater detail in “Stigmatic women in modern Europe. An exploratory note on gender, corporeality and Catholic culture”, in: Michel Mazoyer and Paul Mirault (eds.), Évolutions et transformations du mariage dans le christianisme, Paris 2017, 269–289. 6 Otto Weiß, Stigmata, in: Hubert Wolf (ed.), “Wahre” und “falsche” Heiligkeit. Mystik, Macht und Geschlechterrollen im Katholizismus des 19. Jahrhunderts, Munich 2013, 111–125, 119. 7 See Nicole Priesching, Maria von Mörl (1812–1868). Leben und Bedeutung einer “Stigmatisierten Jungfrau” aus Tirol im Kontext ultramontaner Frömmigkeit, Brixen 2004, 273. 8 See Kane, “She offered”, see note 1. For the connection between women’s charismatic authority and the corporeality of their divine gifts, and the medieval precursors of this tradition, see Tine Van Osselaer, Leonardo Rossi, Kristof Smeyers and Andrea Graus, Charismatic women in religion. Power, media and social change, in: Women’s History Review, 291, 1 (2020), 1–17, 4–5.

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2.

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Displaying pain

In an ideal (albeit rare) scenario, stigmatics developed from a folk saint – regarded as such because of her wounds – to an officially blessed or canonised person.9 This could take decades, even centuries. Followers of the mystics, keen to promote their cause and keep their memory alive while the official Church studied the case, put various collections of material and visual sources on display. The selection of objects tells us something about the image they wanted to convey, and the prominence suffering had in their memory construction.10 Let us take a closer look at the exhibit dedicated to Sister Rumolda (Maria Van Beek, 1886–1948) in the Franciscan cloister St. Jozefsdal in Herentals. We will be one of the last ones to see the display, as the Rumolda collection is about to be removed and (part of) the items transported to the Ruusbroec heritage library of the University of Antwerp. Looking at the display cases allows us a final glance at what her promoters (Werkgroep Zuster Rumolda v.z.w.11) deemed important to exhibit. It is no surprise that we find objects referring to Sister Rumolda’s life as a Franciscan nun, like the crown of thorns she wore when she made her eternal vows, as well as a corded belt and “trippen” (a type of shoes). Penitential objects like a cilice, a flagellation rod and a crucifix with pins sticking out are also on display. Sister Rumolda was no ordinary nun: she bore the stigmata from 1922 until her death and felt tormented by the devil. The display cases show the material “proof” of Rumolda’s supernatural suffering: they hold bonnets and pieces of cloth with the figurative imprints of the blood of her stigmata (for example in the shape of torture material, crosses and a heart in flames) and her missal allegedly smudged by the devil. The objects are displayed together with pictures that show Sister Rumolda in a state of ecstasy, depicting the stigmata on her hands and feet as well as her cloister ring that is said to have been miraculously inscribed with “JUB” (“Jezus uw bruidegom” / “Jesus your bridegroom”) on 18 November 1922 when she first displayed her full stigmata. The display cases thus offer the visitors an interesting mixture of objects of self-induced and willingly accepted, emotional and physical, natural and supernatural pain. While the Sister Rumolda-collection was first opened to the public around fifty years after her death,12 the creation of the more permanent 9 On the difference between the official definitions of sanctity and popular perceptions, see Leonardo Rossi, Holiness & sanctity: Italian stigmatics and the Holy Office in the nineteenth and early twentieth century, unpublished PhD thesis, University of Antwerp 2020. 10 See Tine Van Osselaer, “Valued most highly and preserved most carefully”: Using saintly figures’ houses and memorabilia collections to campaign for their canonisation, in: Museum History Journal, 11, 1 (2018), 94–111. 11 The group was created in 1986 on the occasion of the 100th anniversary of Sister Rumolda’s birth. See Louisa Diels-De Busser, Zuster Rumolda. “Het heilig nonneke van Herentals”, Kasterlee 2010, 320. 12 See Zuster Rumolda werd overrompeld! [Sister Rumolda was overrun!], in: Contactblad Zuster Rumolda, 15 (1998), s.p.

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exhibit seems to have coincided with the move to a larger archival room in autumn 2002.13 It is important to keep the chronology of display in mind, especially for those collections that have attracted visitors for several decades. Collections move, exhibits change, as do the means of display.14 The visitor experience of those who once knew the stigmatic is different from those who venture to see the exhibit out of curiosity. The visitors’ meaning-making process is not limited to assigning meanings to the objects, but can even alter the exhibit, as is illustrated by the objects once owned by the German mystic Anna Katharina Emmerick (1774–1824) from Dülmen. In this exceptionally well-documented case, we can trace the collection from its original display site in the house where she died (April 1877), to the Emmerickhaus (1898), the Augustinian cloister (1987) and finally the Gedächtnisstätte in the Heilig Kreuz Kirche (2005). The Augustinian Father Thomas Wegener (1831–1919) was the driving force behind this exhibit. He wanted to support the cause for beatification of Emmerick, who had been an Augustinian nun before her cloister was secularised. Wegener started collecting the material when the centenary of Emmerick’s death drew near.15 From the perspective of visitors’ meaning-making, the bedridden mystic’s wicker bed (“Bedkorb”) was a particularly interesting exhibit. After a long odyssey, the bed came into possession of the promoters in September 1919. Exhibiting the bed proved challenging since visitors not only regarded it as proof of her humble way of life but also as an important relic.16 Photographs show that the bed grew smaller as many visitors’ broke off small pieces in their devotional enthusiasm. These fragments were taken home as devotional objects and were believed to work miracles. For instance, some devotees testified that they had been cured from a headache by putting a relic of Anna Katharina Emmerick against their forehead.17 Remnants of the stigmatic’s pain thus worked wonders for the pain of the devotees. The way in which the visitors handled the collection illustrates that they considered Emmerick a saint long before the official beatification of the mystic in 2004.

13 See Zuster Martina, Schatten op zolder [Sister Martina, Treasures in the attic], in: Contactblad Zuster Rumolda, 24 (2003), s.p. 14 See Roswitha Muttenthaler and Regina Wonisch, Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen, Bielefeld 2015. 15 See Anna Katharina Emmerick Gedächtnisstätte (AKEG), Dülmen, catalogue (1878). Wegener started the list and his successors added to it. 16 AKEG, catalogue (1878), see note 15, nrs. 68 and 142. 17 See Bistumsarchiv Münster, Sammlung Anna-Katharina-Emmerick-Archiv und Luise HenselBibliothek, 40. Stimmen über die Verehrung aus dem Volke. Gesammelt von P. Th. Wegener 1877–1883, 20, 27–9, Witwe Justizrat von Zurmühlen. For a more thorough study of these relics, see Tine Van Osselaer, Selling sensation, creating sanctity, in: Van Osselaer/Graus/Rossi/Smeyers, Between Saints and Celebrities, see note 4, 129–156, 145–151.

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3.

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Collecting and preserving evidence of pain

What visitors saw, was most often only a selection of the objects that the promoters wanted to put on display. The collection of the sources is as important as their exhibition. In an ideal scenario, as in the case of the Dülmen Gedächtnisstätte, we have an inventory of the pieces with a description of how they came into the museum’s or the memorial house’s possession. Letters provide us with similar information. Such texts inform us about the meaning these materials held for the collectors and how they were cherished and handled before they were donated. They illustrate the bond between the owners of the objects and the stigmatic,18 the networks of the devotees, their lived devotion and the efforts of collectors to preserve the memory of the mystics. Objects testifying to Emmerick’s supernatural suffering were lovingly kept by her friends, family members and those who met her. They took care to comment on the materiality of these objects when donating them to the Emmerick collection. We see this for instance in the descriptions of the devotional images that were tainted with her blood. The inventory of the collection holds the information the original owners provided about how the blood ended up on these cards (for example, by Emmerick kissing the image and leaving a trace of blood).19 The collection and description of objects illuminate the ways in which devotees actively contributed to the creation of the meaning of the stigmatic. In doing so, they stressed the importance of the mystic’s wounds and suffering for their identity as “stigmatic”. The description of no. 93 on the list for example reads “an imprint of the bleeding cross”, describing a picture of a cross a pastor had pressed against the bleeding chest of the Blessed.20 Apart from devotees who preserved material that was given to them, relicts were also preserved by collectors who avidly spotted and gathered objects related to mystics. Collectors were often the male promoters (father confessors, spiritual guides) of the stigmatics. Their collections are a selection of what they wanted to preserve from a hagiographic point of view. They chose objects that documented miraculous episodes or stressed the stigmatic’s modesty and charity. When we look at the collection of the material sources left by the Belgian stigmatic Maria Van den Broeck (1891–1928), the collector’s focus is on the objects that allegedly testify to her supernatural suffering (handkerchiefs with drops of blood) and devotion (a statue of the Virgin, medallions). The many textual sources we have on this young mystical woman from rural Flanders picture her as one of the ‘victim souls’ keen to engage in reparatory suffering. She suffered from TBC, self-flagellated and wore cilices, and also experienced supernatural pain (lived through Christ’s Passion and being attacked by the devil). The thematic 18 See AKEG, catalogue (1878), see note 15, no. 27: a bundle of knitting yarn and description by Louise Hensel. 19 See AKEG, catalogue (1878), see note 15, no. 39: image of the Mater Dolorosa, and no. 67: image of St. Francis. 20 AKEG, catalogue (1878), no. 93 imprint of the bloody cross on the chest of the “Gottselige”.

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emphasis of the collection seems to parallel that of the textual summaries of her life (both in her own words – the short autobiographies – and those of her later biographer).21

4.

Creating and using instruments of pain

Maria Van den Broeck’s collection brings us to the use and creation of these objects by the mystics themselves. In Van den Broeck’s collection we find a flagellation rod. In the short autobiography that she wrote at request of her father confessor, she described how she made the flagellation rod out of trouser buckles as she did not have a “real” one, and explained how and why she first used it as a means to atone for the sins of others.22 The rod and its description illustrates the determination with which she wanted to rebalance the pain economy. It is important to note that Maria Van den Broeck always took care to obtain permission for the self-punishment first. By doing so, she confirmed the hierarchical order of clerical men and lay (mystical) women. Other stigmatics, as shown above, also voluntarily inflicted pain upon themselves to atone for the sins of others. However, in order to be acceptable, this initiative needed to be approved and monitored by those who held the authority of office. In sum, as this short exploration of the material culture of Catholic suffering has shown, there is much to be gained from a more material approach to the history of pain. While the previous sections focused on the creation, collection and display of these objects of pain, there are many other aspects (including design, purchase, sale) that can be studied and offer new insights. Historians can thereby draw inspiration from the rapidly developing field of history and material culture, and especially the studies on its intersection with the history of emotions.23 Whilst bloody handkerchiefs and cilices might feel like a somewhat uneasy topic of interest, I hope this brief introduction has shown that they are worth a closer look.

21 See Koen Maes, Maria Van den Broeck (1891–1928). Een wonde aan Jezus’ lichaam [A wound on Jesus’ body], Wezembeek-Oppem 2007; Leuven, KADOC, Archives of the Passionist order (Passionists), Hendrik Maes, 2714, correspondence of Maria Van den Broeck and notebooks Pater Victor Clarysse; Image archives of the Passionist order, 62. Objects of Maria Van den Broeck (1923– 1925). 22 See KADOC, Passionists, Hendrik Maes, 2714, autobiography Maria Van den Broeck, 1923, 66– 67. 23 See e. g. Leonie Hannan and Sarah Longair, History through Material Culture, Manchester 2017; Stephanie Downes, Sally Holloway and Sarah Randles (eds.), Feeling Things, Objects and Emotions through History, Oxford 2018.

Benedikt Grubešić

Der Kampf um die Anerkennung von Schmerz. Frauen im Spiegel von Archivbeständen zur Irischen Revolution

Die Irische Revolution beschreibt den Zeitraum zwischen 1916 und 1923, aus der die irische Republik als Freistaat im britischen Commonwealth hervorging. Der Sieg der nationalistischen Sinn Fein in den Wahlen von 1918 und die sich daraus entwickelnden Spannungen mündeten in den Anglo-Irischen Krieg zwischen dem britischen Militär und der paramilitärischen Irisch-Republikanischen Armee (IRA) sowie ihren Vorfeldorganisationen. Dieser Konflikt endete 1921 mit dem Anglo-Irischen Vertrag. Darauf folgte der Irische Bürgerkrieg zwischen den Befürworter*innen des AngloIrischen Vertrags und dessen Gegner*innen, der sogenannten Anti-Vertrags IRA, der mit der Bombardierung des durch die IRA besetzten Four Courts durch die neue Nationale Armee am 28. 06. 1922 begann und im Mai 1923 endete.1 Im Verlauf des Konflikts gründete sich die paramilitärische Frauenorganisation Cumann na mBan (kurz: CnmB), zu Deutsch ‚Rat der Frauen‘, die sich in erster Linie um sichere Rückzugsorte für Verfolgte kümmerte, Erste Hilfe für Verletzte leistete sowie Kämpfende versorgte. Allerdings beteiligte sich die CnmB auch aktiv an den Kämpfen gegen die britischen Kräfte, die Royal Irish Constabulary (RIC) sowie gegen die Black and Tans (eine pro-britische paramilitärische Organisation).2 Frauen waren in der Irischen Revolution sowohl Opfer von Gewalt als auch Täterinnen. Aktuelle Studien, etwa von Linda Connolly, Susan Byrne, Louise Ryan und Gemma Clark thematisieren vor allem die sexualisierte Gewalt gegen Frauen sowie den allgemeinen Ausnahmezustand, den sie täglich ertragen mussten. Besagte Forschungen verdeutlichen das hohe Maß an Gewalt, dem die Frauen ausgesetzt waren.3 Die Studie 1 Vgl. Marie Coleman, The Irish Revolution: 1916–1923, London 2014; Bill Kissane, The Politics of the Irish Civil War, Oxford 2005, 1–14. 2 Vgl. Margaret Ward, Unmanageable Revolutionaries. Women and Irish Nationalism, London 1995, 4–40; 40–87; 88; Cal McCarthy, Cumann na mBan and the Irish Revolution, Cork 2007, 5–15. 3 Vgl. Susan Byrne, ‚Keeping company with the enemy‘: gender and sexual violence against women during the Irish War of Independence and Civil War, 1919–1923, in: Women’s History Review, 30, 1 (2021), 108–125; Gemma Clark, Violence against women in the Irish Civil War, 1922–3: genderbased harm in global perspective, in: Irish Historical Studies, 44, 165 (2020), 75–90; Linda Connolly, Sexual Violence in the Irish Civil War: a Forgotten War Crime?, in: Women’s History

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der irischen Historikerin Anne Dolan illustriert anhand von Zeitungsarchiven und privaten Sammlungen, wie stark Terror, Angst und Traumata das Leben der in den Konflikt involvierten Frauen und Männer prägten.4 Im vorliegenden Beitrag soll ein erst kürzlich edierter Quellenbestand diskutiert werden, der neue Erkenntnisse zu Schmerz im Kontext der Irischen Revolution verspricht und insbesondere für eine feministische Geschichtsschreibung sehr wertvoll erscheint. Im Folgenden möchte ich die Entschädigungs- sowie Pensionsakten der zwei republikanischen Veteraninnen der Irischen Revolution „Cissie“ Doherty und Delia Toolin untersuchen, um einerseits den Umgang der Armeepensionsbehörde mit den Antragsstellerinnen und andererseits deren Bemühen, Anerkennung für ihren Schmerz zu finden, zu rekonstruieren. Vorauszuschicken sind einige Bemerkungen zum hier untersuchten Quellenmaterial. In ihrem Aufsatz „Compensating Irish Female Revolutionaries, 1916–1923“ untersuchte die irische Historikerin Marie Coleman den kürzlich digitalisierten Archivbestand der Military Service Pension Collection (MSPC), der umfangreiches Material zur Entschädigung militärischer Aktivitäten irischer Nationalist*innen während der Irischen Revolution (1916–1923) enthält. Aus einer geschlechtergeschichtlichen Perspektive erscheinen dabei vor allem die Teilbestände der Military Service Pension (MSP), Disability-Pension (DP) und Special Allowances (SP) interessant, da diese die Benachteiligung von Frauen in den Entschädigungs-, Opferfürsorge- und Pensionsverfahren sichtbar machen. Die weiblichen Mitglieder der CnmB wurden vor allem durch die enge und geschlechtsspezifische Auslegung des Kriteriums der aktiven militärischen Beteiligung (active service) diskriminiert. Aber auch das Entscheidungskriterium der Bedürftigkeit grenzte Frauen gezielt aus, weil nicht nur ihr eigenes, sondern auch das familiäre Einkommen als Grundlage für die Berechnungen herangezogen wurde.5 Mit den Army Pension Acts (1923–1953) sowie den Military Service Pension Acts von 1924, 1934 und 1949 gewährte der Gesetzgeber Kombattanten der Irischen Revolution sowie deren Hinterbliebenen zunächst eine Entschädigung, später dann auch Rentenleistungen für Schäden und die aktive Teilnahme am Militärdienst.6 Für diesen Beitrag wurde der Aktenbestand der Disability-Pension (DP) untersucht. Voraussetzung für eine solche Verwundeten-Pension war der Nachweis, dass eine Verletzung beziehungsweise Beeinträchtigung eine direkte Folge des aktiven MilitärReview, 30, 1 (2021), 126–143; Louise Ryan, ‚Drunken Tans‘: Representations of Sex and Violence in the Anglo-Irish War (1919–21), in: Feminist Review, 66, (2000): Political Currents, 73–94. 4 Vgl. Anne Dolan, ‚The shadow of a great fear‘: terror and revolutionary Ireland, in: David Fitzpatrick, Terror in Ireland, 1916–1923, Dublin 2012, 26–28. 5 Vgl. Marie Coleman, Compensating Irish Female Revolutionaries, 1916–1923, in: Women’s History Review, 26, 6 (2017), 923; Marie Coleman, Military Service Pensions for Veterans of the Irish Revolution, 1916–1923, in: War in History, 20, 2 (2013), 207. 6 Vgl. Patrick Brennan, Origins, Scope, and Content of the Collection, in: Guide to the Military Service (1916–1923) Pension Collection, Dublin 2012, 15.

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dienstes war.7 Als aktiver Militärdienst galten Angriffe auf den Feind, die Zerstörung feindlicher Infrastruktur, Akquise und/oder Herstellung von Waffen und Munition, nachrichtendienstliche Tätigkeiten beziehungsweise eine Ausbildung zu den genannten Aktivitäten.8 Der Military Service Pension Act von 1934 erweiterte den Kreis der Berechtigten auf weibliche Mitglieder von CnmB.9 Marie Coleman hält fest, dass die Kompensation jedoch auf Männer zugeschnitten war. So erhielten verheiratete Männer extra Kompensationen und auch das bereits erwähnte Bedürftigkeitskriterium wirkte sich negativ auf Antragstellerinnen aus.10 Nachteilig war auch, dass weibliche Dienstgrade generell den männlichen unterstellt waren und Frauen, welche Spionagetätigkeiten ausgeführt hatten, oftmals nicht Teil der offiziellen Organisationsstrukturen der IRA oder CnmB gewesen waren. Die beiden hier behandelten Fallbeispiele Cissie Doherty und Delia Toolin wurden ausgewählt, weil sich anhand der Army Pensions-Archivbestände die erlittenen Verletzungen und Traumata beleuchten lassen. Der Fall Doherty veranschaulicht, wie physische Verletzungen während des Militärdienstes dokumentiert und später im Rahmen ihres Pensionsantrages von den Militärbehörden bewertet wurden. Über Toolins Fall lassen sich die Spuren traumatischer Erfahrungen und ihrer Auswirkungen auf Veteraninnen nachzeichnen.

1.

Die Kompensation physischer Folgeschäden erlittener Gewalt: „Cissy“ Doherty

Margaret Mary „Cissie“ Doherty wurde 1897 in der Grafschaft Donegal geboren und trat 1919 der lokalen Abteilung der CnmB in Dungloe bei. Das vorhandene Archivmaterial dokumentiert nicht nur Dohertys Beitrag zur Revolution, sondern ermöglicht auch eine Rekonstruktion der physischen Gewalterfahrungen, die sie dabei erlitt. Dohertys Fall erlangte öffentlich-mediale Aufmerksamkeit, weil sie während ihrer Internierung durch den Irischen Freistaat mehrfach notoperiert werden musste. Die Journalistin und spätere Schriftstellerin Dorothy MacArdle11 schrieb etwa in der republikanischen Propagandazeitung „Eire“ über den Vorfall: „Still weak, recovering from a grave operation is Cissie O’Doherty, who lies in bed by the other window, dreaming the days away. It was through a reckless act of her own that the misfortunes began which so nearly cost her, her life. One day last spring in Buncrana, she came upon a Free 7 Vgl. Patrick Brennan, ‚Active Service‘: Changing definitions, in: Guide to the Military Service (1916–1923) Pension Collection, Dublin 2012, 64–65. 8 Vgl. Brennan, Active Service, wie Anm. 7, 66. 9 Vgl. Brennan, Active Service, wie Anm. 7, 67. 10 Vgl. Coleman, Military Service Pensions, wie Anm. 5, 201–221, 207–208. 11 Vgl. Leeann Lane, Constructions of civil war masculinities in the writings of Dorothy Macardle, in: Irish Studies Review, 29, 2 (2021), 244–245.

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State Brigadier who had arrested a boy and was mercilessly beating him. Cissie was too young for caution. She rushed forward and cried out to him to stop hurting the boy. The answer was a heavy kick which caught her in the side and stretched her in agony on the road. She was put into the local prison, then taken to Klimainham, where all summer, she lay in the prison hospital.“12

MacArdles Artikel beschreibt die Verletzungen, die Doherty erlitt, sowie die Umstände ihrer Verhaftung. 1935 stellte sie einen Antrag auf eine Disability Pension und eine Military Service Pension. Aus ihrem Entschädigungsansuchen geht hervor, dass Cissie Doherty sich zwischen einen republikanischen Gefangenen und ihren Verwandten, Brigadier James McCole, gestellt hatte, um den Gefangenen vor weiteren Misshandlungen durch McCole zu schützen. Die spätere offizielle Untersuchung stützte zwar Dohertys Angaben, doch während des Konflikts bemühte sich die Armee, die Gewalt gegen Republikanerinnen gezielt zu verschleiern. So hielt der kommandierende Offizier Joe Sweeney in seiner Stellungnahme zu den Ereignissen lediglich fest, dass am 4. Juli 1922 eine Verhaftung in Dungloe im County Donegal eskaliert sei: „Then the Brigadier James McCole made an arrest, and was experiencing some difficulty in bringing the prisoner to the Barracks, when Miss Cissie Doherty stepped in and endeavoured to rescue the prisoner. In the course of the scuffle, Miss Doherty was kicked on the leg. She was not kicked on the side, thereby having a rib broken; nor was there any serious injury inflected on her, nor was she arrested on that occasion.“13

Doherty selbst sagte vor dem Board, das über die Zuerkennung der Pensionen entschied, aus, dass sie von Brigadier James McCole bei der Verhaftung geschlagen und getreten worden sei. Sweeneys Darstellung jedoch suggeriert, dass Doherty in ihrer Schilderung übertreibe, und spricht von einem einzigen Tritt auf ihr Bein. Das offiziellbehördliche Narrativ weicht somit deutlich von Dohertys Bericht ab.14 Nach dem Vorfall vom 4. Juli wurde Doherty verhaftet und war während ihrer Haft weiteren Misshandlungen sowie schweren sexuelle Übergriffen durch Soldaten und Wärterinnen der neu aufgestellten National Army des Irischen Freistaats ausgesetzt.15 Erst Ende 1923 wurde Doherty nach verschiedenen öffentlichen Appellen anderer CnmB-Frauen und Republikaner*innen aus der Haft entlassen und in eine medizinische Einrichtung überstellt, wo sie zwei Monate lang in Behandlung blieb. Die erhaltenen Krankenakten aus dem Jahr 1953 illustrieren die gravierenden gesundheitlichen Folgeschäden, unter denen die Patientin dreißig (!) Jahre nach ihrer In12 Dorothy MacArdle, Thoughts in a Hospital, in: Eire – The Irish Nation, Oct. 20th, 1923, 5. 13 Maschinengeschriebener Bericht von Seosam MacSweeney, 13. Juli 1923, in: MSP34, Ref. No. 24747, DP 2099. 14 Vgl. Beeidete Aussage von Margaret M. Doherty, in: MSP34, Ref. No. 24747, 8. 15 Vgl. Laura Mcatackney, Gender, Incarceration, and Power Relations During the Irish Civil War (1922–1923), in: Victoria Sanford et al., Gender Violence in Peace and War, New Brunswick 2019, 55. Maschinengeschriebene Aussage von Eilis ni Mhurchadha, in: MSP34, Ref. No. 24747, DP 2099.

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haftierung immer noch litt und die der behandelnde Arzt Dr. McLaverty schon 1936 dokumentiert hatte: eine chronische Entzündung des Abdomens, eine Verschiebung des Uterus als Resultat erlittener Tritte sowie „Nervenschwäche“ und einen Reizmagen.16 Die in den 1950er Jahren von der militärischen Pensionsbehörde in Auftrag gegebenen medizinischen Untersuchungen und Gutachten attestierten Doherty hingegen lediglich „stomach troubles“.17

2.

Psychische Gewalterfahrungen: der Fall Delia Toolin

Während Doherty – soweit rekonstruierbar – vor allem unter denen Folgen physischer Gewalt litt, verdeutlicht der Fall von Delia Toolin, geborene Lyons, enorme psychische Folgeschäden. Toolin war Branch Secretary in der lokalen Organisation der CnmB in Ballyrush,18 unter ihrem Kommando standen rund 30 junge Frauen. Toolin selbst war zum Zeitpunkt der geschilderten Ereignisse etwa 28 Jahre alt.19 Ihr Army-Pensionsansuchen aus den 1950er Jahren belegt, wie Veteraninnen oftmals jahrzehntelang vergeblich versuchten, eine Anerkennung ihrer psychischen Traumata sowie entsprechender Diagnosen und Behandlungen zu erreichen. Toolins Rentenanträge geben Einblick in eine dramatische Leidensgeschichte, welche während des gewaltsamen Konflikts begann und lange darüber hinaus andauerte. Nach einer bewaffneten Auseinandersetzung bei Annagh Castle in Castlebaldwin im County Sligo, bei dem ein RIC-Constable namens Rush von Mitgliedern der IRA erschossen worden war, geriet Toolin ins Visier der Royal Irish Constabulary, weil sie die Flucht zweier IRA-Männer aufgrund falscher Angaben erleichtert hatte. Aufgrund dessen wurde Toolins Familie wiederholt Ziel von Razzien und gewaltsamen Hausdurchsuchungen, bei denen die Angreifer die Möbel zerstörten und ihren Vater misshandelten.20 Nachdem Toolin mehrfach selbst bedroht worden war, floh sie und kehrte erst nach dem Waffenstillstand wieder nach Hause zurück.21 Diese Ereignisse beschreibt Toolin detailliert in ihren Anträgen und in ihrer Korrespondenz mit der Pensionskommission. Um ihre Chancen auf Zuerkennung einer monetären Entschädigung zu erhöhen, bediente sie sich des Narrativs marodierender Briten und unterstrich ihr eigenes fortlaufendes Leid. Toolin stützte ihre Schilderungen gezielt mit medizinischen Befunden, welche die erlittenen Schmerzen und Gewaltakte 16 Vgl. handgeschriebene Aussage von M.B. Hallaghan, 8. März 1953 sowie handgeschriebener Bericht von M. B. McLaverty, 23. Nov. 1936, in: MSP34, Ref. No. 24747, DP 2099. 17 Vgl. Medizinischer Bericht von Margaret Doherty, 25. . Juli 1953, in: MSP34, Ref. No. 24747, DP 2099, 2. 18 Coleman, Compensating Irish Female Revolutionaries, wie Anm. 5, 921. 19 Vgl. die Zusammenfassung der beeideten Aussage von Delia Toolin, in: MSP34, Ref. No. 4884. 20 Vgl. handgeschriebenener Brief von Delia Toolin, 17. April 1941, in: MSP34, Ref. No. 4884, 1–2. 21 Vgl. handgeschriebener Brief von Delia Toolin, wie Anm. 20, 2f.

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sowie deren Nachwirkungen belegen sollten. Die Quellen machen dabei vor allem die psychischen Folgeerscheinungen der Gewalterfahrung sichtbar. Ab 1928 war Toolin wegen anhaltenden Gedächtnisverlusts sowie wiederkehrender Kopfschmerzen in Behandlung. Ihr Arzt, Dr. Kilgallen, hielt in einem Brief an die Pensionskommission fest: „Mrs. D. Toolin was a patient under my care during the year 1928. At that time she was suffering from nervous debility on occasion.“22 Toolin äußerte etwa Angst vor vorbeifahrenden LKWs und durchlebte ihrer eigenen Aussage zufolge das Erlebte immer wieder aufs Neue: „Each time I heard a lorry on the road I was so much in fear of them that I had to attend a Doctor and I feel the ill effects of it yet.“23 Einen direkten Zusammenhang zwischen ihrer Verfolgung und ihren Beschwerden, die heute wohl als posttraumatische Belastungsstörung gefasst werden würden, konnte der Arzt aber nicht belegen. Der Archivbestand dokumentiert, wie sich Toolin jahrzehntelang vergeblich um Entschädigungen und die Anerkennung ihrer Symptome durch die Pensionskommission sowie den Referee bemühte. Ihre Ansuchen wurden allerdings abgelehnt, ebenso wie ihre Einsprüche gegen diese Bescheide. Dies erstaunt umso mehr, als andere Quellen belegen, dass Toolins Schmerzen und ihre psychischen Erkrankungen wohl direkt in Zusammenhang mit der Gewalterfahrung standen, die sie im Zuge ihres Einsatzes für die IRA erlitten hatte. Dies untermauern etwa die erhaltenen medizinischen Untersuchungsberichte, die Dr. T. J. Maguire im Auftrag der Pensionsstelle angefertigt hatte. Sein Bericht hielt unmissverständlich fest, dass Toolins Symptome psychischer und nervlicher Natur und als direkte Folgen ihres Einsatzes für die IRA anzusehen seien.24 Ungeachtet dessen argumentierte die Kommission die Ablehnung von Toolins Antrag damit, dass Toolins psychische Erkrankungen eben nicht direkt auf Militärdienst zurückzuführen seien: Per Definition der Behörde umfasste dieser keine Durchsuchungen der Häuser von Aktivistinnen. Die eingangs erwähnte enge und geschlechtsspezifische Definition von Militärdienst stand in ihrem Fall somit einer Anerkennung psychischer Erkrankungen als Folgeschäden des Krieges von Seiten der Kommission im Weg. Toolins Schicksal stellt im Kontext des militärischen Entschädigungssystems des Irischen Freistaats dabei keine Ausnahme dar.25

22 23 24 25

Medizinisches Zertifikat ausgestellt von Dr. Kilgallen, 13. Jänner 1934, in: MSP34, Ref. No. 4884, 1. Handgeschriebener Brief von Delia Toolin, 21. Jänner 1933, in: DP6745, 2. Vgl. Medical Report by T. J. Maguire, in: MSP34, Ref. No. 4884, DP6745, 1. Vgl. Coleman, Compensating Irish Female Revolutionaries, wie Anm. 5, 923.

Aus den Archiven

3.

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Fazit

Die beiden skizzierten Fallbeispiele veranschaulichten das Potenzial der behandelten irischen Archivbestände der Military Service Pension Collection, die Schmerzen und Leiden von Veteraninnen der irischen Revolution zu beleuchten. Wie die Studien von Coleman, Dolan, Clark und auch Connolly zeigen, waren die weiblichen Mitglieder der CnmB besonders exponiert. Anne Dolan spricht im Kontext der Irischen Revolution sogar von einem kollektiven gesellschaftlichen Trauma.26 Wie sehr kollektive (sexuelle) Gewalterfahrungen während des skizzierten Konfliktes auch auf individueller Ebene traumatisierend waren, dokumentieren die beiden hier dargelegten Fälle. Die untersuchten Dokumente der Pensionskommission eröffnen Einblicke in verschiedene Formen von (zugefügten und erlittenen) Verletzungen, temporäre und dauerhafte Folgeschäden, Schmerzen und Traumata. Sie zeigen, auf welche Weise die von Gewalt betroffenen Frauen versuchten, eine offizielle Anerkennung der ihnen zugefügten Schmerzen durch Entschädigungen und Pensionen zu erreichen. In diesem Sinn legen die Quellen die Handlungsfähigkeit der irischen Revolutionärinnen offen, aber auch ihr häufiges Scheitern als aktive Kämpferin anerkannt zu werden. Doch genau dieses wiederholte Scheitern produzierte zugleich einen „paper trail“, der einer feministischen Geschichtswissenschaft Einblicke in Formen und Folgen von Gewalt an und Schmerz von weiblichen Veteraninnen ermöglicht. Sichtbar wird zugleich die Geschlechterblindheit des irischen Entschädigungssystems, welches die Schmerzerfahrungen und die erlittene (sexuelle) Gewalt verharmloste oder negierte. Die enge Auslegung des Begriffs Militärdienst diente wohl auch dem Ziel, die direkte Involvierung von Frauen in den bewaffneten Auseinandersetzungen zu vertuschen und die politische Agenda von Aktivistinnen auszublenden. Auch insofern bieten die genannten Quellen – wenn auch unbeabsichtigt – einzigartige und wertvolle Einblicke in die Sichtweisen der betroffenen Frauen und machen zugleich weibliche agency sichtbar.

26 Vgl. Dolan, The shadow, wie Anm. 4, 26–38.

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Nina Lükewille, Georg Wilhelm Stein d. Ä. (1737–1803) in Kassel. Ein früher Repräsentant der akademischen Geburtsmedizin (= Beiträge zur Wissenschafts- und Medizingeschichte, Marburger Schriftenreihe 8), Berlin u. a.: Peter Lang 2020, 274 S., 27 Abb., EUR 58,60, ISBN 978-3-631-80121-5. Die Medizinerin Nina Lükewille legt mit ihrer Dissertation eine erste ausführliche Biografie Georg Wilhelm Steins d. Ä. (1737–1803) vor, der zu den wichtigsten akademisch gebildeten Geburtshelfern des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum gehörte. Lükewille nähert sich ihm zunächst durch die wissenschaftliche Einbettung des Geburtshelfers im Fach an. Neben der allgemeinen Entwicklung der Geburtshilfe wird auch Steins Engagement im Rahmen des Collegium Medicum, der führenden Institution der landgräflichen Medizinalbehörde, und in der Freimaurerei behandelt. Insgesamt versucht Lükewille einen differenzierten Blick auf die Biografie Georg Wilhelm Steins d. Ä. zu werfen. Denn während die traditionelle Medizingeschichte ihn in positivistischer Manier als Begründer einer neuen geburtshilflichen Tradition feierte, prangerte die frühe feministische Geschichtswissenschaft Stein und seine Zeitgenossen als skrupellose Ausbeuter wehrloser Frauen in den Entbindungsanstalten an. Lükewille selbst orientiert sich in ihren Ausführungen an der Sozialgeschichte der Medizin – zu nennen sind etwa die grundlegenden Arbeiten Jürgen Schlumbohms zum Göttinger Accouchierhaus,1 Christina Vanjas Studie zum Kasseler Accouchier- und Findelhaus2 sowie die zahlreichen Arbeiten ihrer Doktormutter Irmtraut Sahmland zur hessischen Medizin- und Regionalgeschichte. In fünf Kapiteln wird das Leben und Wirken Georg Wilhelm Steins d. Ä. rekapituliert, wobei seine rund 30-jährige Schaffensperiode in Kassel (1761–1792) klar im Fokus steht. Als Quellengrundlage dienen primär Steins wissenschaftliche Publikationen. Ob ein Nachlass Steins (Korrespondenzen, Manuskriptentwürfe, private Dokumente) existiert, geht aus der Monografie nicht hervor. Archivalische Quellen werden allerdings nur am Rande miteinbezogen und es bleibt insgesamt unklar, mit welcher Systematik die Archive auf der Suche nach möglichen Ego-Dokumenten des Geburtshelfers konsultiert wurden. Georg Wilhelm Stein kam schon früh mit der Geburtshilfe in Kontakt. Während seines Studiums erlebte er Johann Georg Roederers (1726–1763) Unterricht im 1751 gegründeten Göttinger Accouchierhaus und lernte bei ihm eine konservative Geburtshilfe kennen. Im Accouchierhaus wurden unter Roederers Leitung noch 88 Prozent der Geburten auf natürlichem Wege unter Begleitung einer Hebamme beendet. 1 Jürgen Schlumbohm, Lebendige Phantome. Ein Entbindungshospital und seine Patientinnen 1751– 1830, Göttingen 2012. 2 Christina Vanja, Das Kasseler Accouchier- und Findelhaus 1763 bis 1787: Ziele und Grenzen vernünftigen Mitleidens mit Gebärenden und Kindern, in: Jürgen Schlumbohm u. Claudia Wiesemann (Hg.), Die Entstehung der Geburtsklinik in Deutschland 1751–1850, Kassel–Braunschweig–Göttingen, Göttingen 2004, 96–126.

REZENSIONEN

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Besonderes Augenmerk legte Roederer als Professor für Anatomie und Geburtshilfe aber auf anatomische Beckenmessungen, ein Thema, das auch Stein als Lebensaufgabe definieren sollte. Steins peregrinatio academica führte ihn nach Strassburg und Paris, wo besonders André Levret (1703–1780), Begründer der rationalen Geburtshilfe, massiven Einfluss auf seine weitere Entwicklung hatte. „Stein wurde ein glühender Anhänger Levrets“ (S. 47), der den Einsatz geburtshilflicher Instrumente wie der Geburtszange popularisierte und die Geburtshilfe an streng physikalischen und mechanischen Gesetzmäßigkeiten orientierte. Zurück in Kassel wurde Stein nach Roederers Tod rasch an das dortige Accouchierhaus berufen und wirkte gleichzeitig als außerordentlicher, später ordentlicher Professor für Entbindungskunst und Chirurgie. Er durchlief eine Bilderbuchkarriere, wurde 1782 zum Hofrat ernannt, stand dem Collegium Carolinum vor und erhielt ein respektables Gehalt, das er zusätzlich noch durch seine insbesondere ab 1770 florierende Privatpraxis aufbesserte. Steins privatärztliches Engagement lässt sich allerdings weder quantitativ noch qualitativ fassen, Quellen dazu sind offenbar nicht erhalten. Seine Tätigkeit im gut frequentierten Accouchierhaus (Findelhaus als Pull-Faktor) lässt sich hingegen anhand von Aufnahmebüchern nachverfolgen, allerdings liefert Lükewilles Arbeit hier keine neuen Erkenntnisse, sondern gibt lediglich die Befunde Christina Vanjas wieder. Sie hatte anhand der Register bereits 2004 erhoben, dass 83 Prozent der Geburten im Kasseler Accouchierhaus weiterhin von der Hebamme betreut wurden. Trotz seiner Verehrung für den operationsfreudigen Levret praktizierte Stein somit ein deutlich konservativeres Konzept der Geburthilfe als sein französisches Vorbild. Aus einer wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive hat Lükewilles Arbeit einiges zu bieten. Detailliert zeichnet sie die Entstehung, Rezeption und Wirkmacht der Stein’schen Schriften nach. Seine „Theoretische Anleitung zur Geburtshilfe“ (1770) ebnete der rationalen Geburtshilfe den Weg im deutschsprachigen Raum und erlebte ganze sieben Auflagen und Übersetzungen in andere Sprachen. So markiert das Werk auch einen Wendepunkt in der Geburtshilfe: Stein zufolge sei das Fach nicht länger eine tradierte „Kunst“ im Status eines Handwerks, sondern wurde in den Rang einer Wissenschaft erhoben. Dies sei – so Lückewilles Argumentation – nicht allein durch die Integration der Anatomie, sondern ganz wesentlich durch jene der Mathematik, Physik und Mechanik, die nunmehr die wissenschaftlichen Grundlagen des Faches bildeten, möglich geworden. „Stein betrachtete den Geburtsvorgang als rein physikalischen Vorgang, dem Kräfte und Gegenkräfte zu Grunde lägen“, so ihr Fazit (S. 105). Damit einher ging eine zunehmende Pathologisierung des Geburtsverlaufes. Anklang fand Stein auch als Lehrer. Zu seinen Schülern zählten unter anderen Friedrich Benjamin Osiander, Bernhard Christoph Faust und nicht zuletzt sein Neffe Georg Wilhelm Stein d. J. Nina Lükewille betrachtet diese Schulenbildung aus einer biografischen Perspektive und versucht die Beziehungen und prägenden Elemente in den Lehrer-Schülerbeziehungen zu eruieren. Steins Tätigkeit als Hebammenlehrer

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bleibt jedoch weitgehend im Dunkeln, lediglich der von ihm verfasste Hebammenkatechismus liefert einige Anhaltspunkte. Darüber hinaus enthüllt ein von Lükewille analysierter Kunstfehlerprozess ein stark konfliktbehaftetes Verhältnis Steins zu den Hebammen, gegen die er offen polemisierte. Steins Erfindungen von geburtshilflichen Instrumenten und seine Bemühungen in der Popularisierung der Levret’schen Geburtszange, die in seiner Generation zum unumstrittenen Symbol männlicher und wissenschaftlich legitimierter Geburtshilfe avancieren sollte, finden ebenfalls Berücksichtigung. Lükewille beschreibt Stein als Motor für die weitere Entwicklung im Feld der Geburtsmedizin, in deren Rahmen versucht wurde, die Indikation zur Anlegung der Geburtszange deutlich auszuweiten und durch naturwissenschaftliche Messungen zu stützen. Eigens entwickelte Geräte wie der Baromacrometer, Cephalometer, Pelvimeter oder Labimeter dienten „zur nachträglichen mathematischen Demonstration der Notwendigkeit bei Eingriffen seitens des Geburtshelfers“ (S. 155). Zudem versuchte Stein aus den empirisch gewonnenen Daten statistische Grenzwerte abzuleiten, die ein bestimmtes (chirurgisches) Vorgehen legitimierten. In geschlechtergeschichtlicher Perspektive bleibt Lükewilles Arbeit größtenteils an der Oberfläche. Obwohl Lükewille feststellt, dass der Vorwurf, Stein habe das Accouchierhaus als Experimentierfeld genutzt, bereits durch Vanjas Daten entkräftet worden sei, zeichnen ihre eigenen qualitativen Analysen – etwa von drei Kaiserschnittoperationen, die im Accouchierhaus sowie in der Privatpraxis vorgenommen wurden – doch ein recht eigenwilliges Bild des Karrieristen Stein. Obwohl der Geburtshelfer diese maximalinvasiven Operationen als prinzipiell überlebbar bezeichnete, starben alle drei Patientinnen kurz nach dem Eingriff. Die detaillierten Berichte schockieren: Stein bedrängte eine der Frauen, ihm ihr Einverständnis zu geben und drohte gar, ihr andernfalls weitere Hilfe zu versagen. Für die von ihm verursachten Todesfälle machte er äußere Umstände verantwortlich: So habe eine Frau aus Eigensinn seine Therapieanweisungen abgelehnt, eine andere schon zuvor an einer Infektion gelitten. Derartige Berichte stehen laut Lükewille jedoch neben Befunden, die nahelegen, dass Stein Wert auf die Übungen der Studenten am sogenannten Phantom, einer künstlichen Nachbildung des weiblichen Beckens, legte. Die Schwangeren und Gebärenden sollten demnach nicht deren erste ‚Versuchsobjekte‘ sein. Ein eindeutiges Urteil über das Verhältnis des Geburtshelfers zu den ihm anvertrauten Frauen kann anhand der wenigen analysierten Beispiele aber nicht gefällt werden. Insgesamt liefert Nina Lükewille mit ihrer Biografie vor allem neue Aufschlüsse zur wissenschaftlichen Kontextualisierung Georg Wilhelm Steins in der frühen Geburtshilfe. Seine Bedeutung für die Ausformung des Faches wird anhand seiner wirkmächtigen Schriften nachvollziehbar. Doch Lükewilles Ziel „Steins persönliche Einstellung zu den Frauen“ (S. 217) herauszuarbeiten, scheint von vornherein fehlgeleitet zu sein. Zu unterschiedlich waren die sozialen Settings, die sich in Steins Praxis offenbaren, zu unterschiedlich auch die Frauen, denen Stein begegnete: von der ledigen

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Schwangeren im Accouchierhaus, der gutsituierten Bürgersgattin bei der Hausgeburt bis hin zur Hebamme, mit der Stein in professioneller Konkurrenz stand. Um tatsächlich die relevanten geschlechtergeschichtlichen Dimensionen ergründen zu können, müsste wohl eine am aktuellen Forschungsstand orientierte, stärker quellenbasierte und intersektionale Herangehensweise gewählt werden. Marina Hilber, Innsbruck

Gundula Gahlen, Ralf Gnosa u. Oliver Janz (Hg.), Nerven und Krieg. Psychische Mobilisierungs- und Leidenserfahrungen in Deutschland (1900–1939) (= Krieg und Konflikt 10), Frankfurt a. M.: Campus Verlag 2020, 428 S., 28 Abb., EUR 45,–, ISBN 978-3-593-51290-7. In seinem vielbeachteten Werk „Die Schlafwandler“ zu den diplomatischen Vorbedingungen des Ersten Weltkrieges charakterisiert der Historiker Christopher Clark die verantwortlichen Akteur_innen folgendermaßen: „Die Nervosität, die viele als das Kennzeichen dieser Ära ansahen, manifestierte sich in diesen mächtigen Männern nicht nur in Ängsten, sondern auch in einem manischen Trachten nach dem Triumph über die ‚Schwäche‘ des eigenen Willens, danach, eine ‚Person der Courage‘ zu sein […] statt eine ‚Person der Angst‘.“1 Diese Häufung der Begriffe ‚Nerven‘ und ‚Nervenschwäche‘ im zeitgenössischen Diskurs hat bis heute geschichtswissenschaftliche Untersuchungen beflügelt. Die Auseinandersetzung mit dem Nervenbegriff vollzog sich vor allem in der Psychiatriegeschichte − wobei die (Er‐)Findung der Neurasthenie besondere Beachtung fand2 − aber auch in geschichtswissenschaftlichen Arbeiten über den Ersten Weltkrieg, da dieser in den kriegsteilnehmenden Staaten nicht nur zur Mobilisierung von Menschen und Material führte, sondern auch zur propagandistischen Beschwörung der vermeintlich stärkeren Nerven der eigenen Nation. Waren die Nerven um 1900 noch ein vorrangig ziviles Thema gewesen, deren ‚Schwäche‘ oder ‚Überreizung‘ als Metapher für das Leiden des Menschen an Moderne und Urbanisierung herangezogen wurde und in die Unterhaltungs- und Ratgeberliteratur ebenso Eingang fand wie in medizinische und psychiatrische Fachbeiträge, so wurden sie seit Beginn des militärischen Konflikts auch als kriegswichtiges Kapital wahrgenommen, das über Sieg oder Niederlage entscheiden konnte. Durch die kollektivistische Aufladung der ‚Nervenstärke‘ war diese nicht mehr allein die Sache der Soldaten in den Schützengräben, sondern auch eine Ressource, die die Hinterbliebe1 Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2014, 467. 2 Besonders hervorzuheben ist hier Hans-Georg Hofer, Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie (1880−1920), Wien 2004.

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nen – darunter vor allem Frauen in ihrer gesellschaftlichen Rolle als Ehepartnerinnen, Töchter und Schwestern – aufzubieten hatten. Diese Vielgestaltigkeit des Nervendiskurses, der über die rein medizinische und propagandistische Auseinandersetzung mit der Psyche hinausreichte und kulturell, politisch, gesellschaftlich sowie militärisch nutzbar gemacht wurde, zu ergründen, war das Ziel einer Tagung an der Freien Universität Berlin vom Oktober 2017, deren Resultate Gundula Gahlen, Ralf Gnosa und Oliver Janz in dem hier besprochenen Sammelband präsentieren. Die Beiträge sind darin drei thematischen Abschnitten zugeordnet: „I. Medizinische Diskurse über Nerven und Krieg, II. Die Nerven der Kriegsteilnehmer an Front und Heimatfront, III. Fortwährende Leiden, Nervendiskurse und mediale Deutungsmuster in der Nachkriegszeit“. Die Nerven – so die zentrale These des Bandes – fungierten als Chiffre zur Verarbeitung von Kriegs- und Leidenserfahrungen. Im Folgenden soll nun kurz auf ausgewählte Beiträge der Publikation eingegangen werden. Im ersten Teil zu den medizinischen Diskursen über Nerven und Krieg sind die Beiträge von Bernd Ulrich, Joachim Radkau und David Freis hervorzuheben. Während Bernd Ulrich eine – wie er es formuliert – „kursorische Skizzierung“ (S. 21) der Nervosität und der damit verbundenen psychiatrischen Krankheitskonzepte vornimmt und somit die historischen Kontinuitäten im Nervendiskurs sowie die Uneinigkeit in der psychiatrischen Diagnostik herausarbeitet, kritisiert Joachim Radkau, der sich bereits in den späten 1990er Jahren mit dem „Zeitalter der Nervosität“3 auseinandersetzte, die Hauptthese des Sammelbandes. Er führt in seinem Beitrag sowohl die historisch-psychiatrischen als auch die zeitgenössisch-historiografischen Debatten über die Bedeutung der Nerven zusammen und stellt zur Diskussion, ob Nerven tatsächlich als „Chiffre und Konstrukt“ zu verstehen seien. David Freis wiederum spürt dem Begriff des „Traumas“ nach und setzt diesen – an der Schnittstelle zwischen Kollektiv und Individuum – in Beziehung zur Tendenz mancher Psychiater_innen, nicht nur Personen, sondern Nationen und „Völker“ psychiatrisch zu verorten und so die Psychiatrie als Gesellschaftsanalyse zu betreiben. Im zweiten Teil des Sammelbands, der sich mit den Nerven der Kriegsteilnehmer_innen auseinandersetzt, sticht besonders der Beitrag von Silke Fehlmann über „Die Nerven der ‚Daheimgebliebenen‘ – Die Familienangehörigen der Soldaten in emotionshistorischer Perspektive“ hervor. Fehlmann ergründet in ihrem Aufsatz nicht nur die Emotionen der an der ‚Heimatfront‘ verbliebenen Frauen, sondern setzt sich auch mit den auf Diskursebene verhandelten Geschlechterunterschieden auseinander. Leid und Schmerz von Gattinnen, Töchtern und Müttern wurden sowohl in Selbstzeugnissen als auch in Propagandaschriften über die Metapher des Herzens transportiert, das somit den männlich konnotierten Chiffren der Nerven und des Willens 3 Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München/Wien 1998.

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gegenüberstand. Der Beitrag analysiert überzeugend die Verarbeitung von Leidenserfahrungen und ergänzt damit die oft zu kurz kommenden Analysen der Lebens- und Leidensrealitäten der Daheimgebliebenen. Eine wertvolle Differenzierung der Psychiatrie des Ersten Weltkrieges gelingt wiederum Philipp Rauh, der in seinem Beitrag die Kluft zwischen Diskurs und Praxis in der Behandlung der „Kriegszitterer“ herausarbeitet und so verdeutlicht, dass selbst die Wortführer einer rigiden „ElektroschockTherapie“ im Einzelfall zu nuancierten Behandlungen bereit waren. Im dritten Teil des Bandes, der von den medialen Deutungsmustern der Nervendiskurse in der Nachkriegszeit handelt, verdienen die beiden Beiträge von Dennis Werberg und Olga Lantukhova besondere Beachtung. Werberg analysiert den Stellenwert, den die Nerven in den Weltkriegserinnerungen der Mitglieder des „StahlhelmBundes“ einnahmen, und kontrastiert die Idealisierung eines soldatischen Männlichkeitsbildes durch den Stahlhelm mit jener des aufkommenden Nationalsozialismus. Während der Stahlhelm-Bund eine Heroisierung des „stillen Heldentums“ vollzog, verabsolutierte der Nationalsozialismus – so Werberg – die „aktivistische“ Idee des Stoßtrupps. Diese Heroisierung des ungestümen „Vorpreschens“ wurde von den „Stahlhelmen“ als ein Mangel an Affektkontrolle und als jugendlicher Leichtsinn interpretiert und in die Nähe der „Nervenschwäche“ gerückt. Auf Basis der deutschen Zeitzeug_innenliteratur setzt sich Olga Lantukhova mit Auffassungen des Krieges als ‚Nervenprobe‘ auseinander. Ihre Analyse zeigt, wie sehr eine pazifistische Grundhaltung, vor allem dann, wenn sie von Männern und insbesondere von Soldaten eingenommen wurde, pathologisiert wurde. Zwar stellte auch die nationalkonservative, kriegsbegeisterte Literatur – etwa das Frühwerk Ernst Jüngers – emotionale Ausnahmesituationen im Kriegseinsatz dar, es überwog jedoch das vermeintlich ‚erzieherische‘ Element des Krieges als ‚Schmiedefeuer gestärkter Nerven‘. Eine Stärke des rezensierten Bandes ist zweifellos, dass einige Beiträge sich nicht mit einer Analyse der Diskursebene begnügen, sondern die Verbindung von Diskursen und sozialen respektive politischen Praktiken in den Blick nehmen. Auf diese Weise vermag der Band gängige Erklärungsmuster zur Elektrokrampftherapie der „Kriegszitterer“ neu zu positionieren und insgesamt zu einem differenzierteren Bild der gesellschaftlichen Funktion der Psychiatrie im Krieg beizutragen. Ein weiteres Verdienst der vorliegenden Publikation besteht in der Erweiterung der Perspektive: Nerven werden nicht nur vom Standpunkt einer Historiografie der ‚PsyWissenschaften‘ betrachtet, sondern in ihrer Verflechtung mit Kultur, Gesellschaft und Politik analysiert. Vor allem die Untersuchung der Nerven der Daheimgebliebenen liefert höchst wertvolle Impulse für die Sozial-, Emotions- und Geschlechtergeschichte. Der Sammelband stellt somit wichtige Bausteine für künftige Forschungen zu diesem Thema zur Verfügung. Clemens Ableidinger, Wien

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Monica Black, Deutsche Dämonen. Hexen, Wunderheiler und die Geister der Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland. Aus dem Englischen von Werner Roller, Stuttgart: Klett Cotta 2021 (englisches Original: A Demon-Haunted Land, New York: Metropolitan Books 2020), 423 S., EUR 27,−, ISBN 978-3-608-98415-6. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft war eine kranke Gesellschaft. Die Gesundheit der Bevölkerung war aufgrund von Unterernährung und Mangelerscheinungen schlecht. Neben Kriegsbeschädigungen waren es vor allem Kopfschmerzen und chronische Magen-, Darm-, Herz- oder Atembeschwerden, welche die Deutschen belasteten. Auffallend war auch die Häufigkeit von Lähmungen und Erblindungen. Monica Blacks bemerkenswerte Studie „Deutsche Dämonen“ geht unter anderem der für dieses Themenheft besonders relevanten Frage nach, wie die Gesellschaft und die Erkrankten mit diesen Schmerzen umgingen und sie deuteten. Dass diese Leiden und Leidensgeschichten (auch) psychosomatische Ursachen hatten und mit dem Krieg in Verbindung standen, lag für viele Betroffene auf der Hand. Dennoch machten die Menschen nicht (allein) den Krieg, sondern eher die allgemeine Nachkriegsmisere, die Niederlage Deutschlands und die Demütigung durch die alliierte Besatzung für die Erkrankungen verantwortlich. „Nicht der Nationalsozialismus, sondern die Niederlage, die Besetzung des Landes“ wurde als Auslöser für „das ‚Unheil‘, das Unglück, das über einem schwebte“ (S. 104) gesehen. Medizinische Experten, wie der Psychologe und Arzt Gerhard Fischer, sprachen gar von einem spezifisch „deutschen Leiden“, mit dem die Menschen auf die kollektiv erlebte Niederlage und Besatzung reagierten. Die Geschichte Nachkriegsdeutschlands wurde bislang vor allem aus zwei Blickwinkeln betrachtet: Einerseits richtete sich das Interesse der Geschichtswissenschaft auf die verheerenden Folgen der NS-Herrschaft und des Krieges, insbesondere das Unvermögen der Deutschen, sich kritisch mit ihrer Mitverantwortung auseinanderzusetzen. Andererseits, und davon nicht abzutrennen, lag der Fokus auf dem ‚Wirtschaftswunder‘ der jungen Bundesrepublik und deren Reintegration in das westliche Staatenbündnis. Black lenkt jedoch den Blick auf andere ‚Wunder‘: In der eben erst entstandenen Bundesrepublik erlebten Wunderheiler, Gesundbeter und Wanderprediger einen Boom, der über Jahre hinweg zigtausende Menschen in ihren Bann zog und erst Ende der 1950er Jahre abebbte. Dass diese Heilsbringer scheinbar allesamt Männer waren, ist ein interessanter Aspekt, auf den Black leider nicht näher eingeht. Welche Rolle spielte das Geschlecht für ihren Aufstieg? War die Sehnsucht nach körperlicher wie spiritueller Heilung geschlechtsspezifisch konnotiert? Die schillernde Figur eines Bruno Gröning, der 1949 scheinbar aus dem Nichts auftauchte und innerhalb weniger Monate zu einer über die Staatsgrenzen hinaus bekannten Erlöserfigur für viele Leidende wurde, steht im Zentrum des ersten Teils des Buches. In Grönings Fahrwasser tauchten noch andere Wunderheiler und Gesundbeter auf, Gebetskreise (mit und ohne Teufelsaustreibungen) erfreuten sich enormer Beliebtheit, Marienerscheinungen

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lockten zahlreiche Pilger*innen an. Dieses spirituelle Revival, das beträchtliche Bevölkerungsteile Deutschlands erfasste, hatte aber auch eine dunklere Seite, der sich der zweite Teil des Buches widmet. Verdächtigungen, wonach die Nachbarin oder der Bürgermeister mit dem ‚Bösen‘ im Bunde stehe, häuften sich und führten zu einem deutlichen Anstieg von gerichtlichen Verleumdungs- und Rufschädigungsklagen, mit denen sich die Beschuldigten gegen den Vorwurf der Hexerei zur Wehr setzten. Black untersucht diese Phänomene aus einer historisch-anthropologischen Perspektive. Für ihre Studie wertete sie die umfangreiche zeitgenössische Medienberichterstattung aus und recherchierte Dokumentsammlungen von (männlichen) Gutachtern sowie gerichtliche Ermittlungsverfahren zu Verstößen gegen das bestehende Heilpraktikergesetz, zur Teilnahme an Teufelsaustreibungen oder Verleumdungsklagen. Die Studie betont die tiefe Verunsicherung und „moralische(n) Verwirrung“ (S. 22) in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, in der Fakten nur noch als Meinungen galten. Die Schulmedizin und Wissenschaft waren durch den Nationalsozialismus korrumpiert – mit eine Erklärung dafür, wieso alternative Heilmethoden, Wunderheiler und Gebetskreise so regen Zuspruch fanden. Gleichzeitig war die Sehnsucht nach Heilung von Krankheiten und Schmerzlinderung größer denn je. Im Schmerz manifestierten sich seelische Erschütterungen, die in der Erfahrung des Krieges, der NS-Herrschaft und Nachkriegswirren wurzelten. Die Betonung der eigenen Leiden war aber auch eine bewusste Strategie, um die Frage der Mitschuld an den Naziverbrechen von sich zu weisen, die durch die alliierten Nachkriegsprozesse, aber auch durch die jüdischen Rückkehrer*innen aufgeworfen wurde, deren Präsenz viele Deutsche als Affront empfanden. Möglicherweise, so fragte ich mich bei der Lektüre, lenkte der Schmerz die Menschen tatsächlich davon ab, sich kritisch mit ihrem eigenen Handeln in der NS-Zeit auseinanderzusetzen? Black argumentiert, dass sich unter dem gefühllosen Verhalten der Deutschen, das schon Hannah Arendt bei ihrem ersten Besuch in Deutschland verblüffte, „Ängste, die nicht einmal einen Namen hatten“ (S. 32) verbargen. Das präsente Unvermögen, Gefühle zu artikulieren und sich mit den Seinen über das Erlebte zu verständigen, war allerdings, so Black, gepaart mit einem ausgeprägten Redebedürfnis, das sich nach Jahren des im Nationalsozialismus antrainierten Stoizismus und stummen Leidens offenkundig nicht mehr länger unterdrücken ließ. So erklärt sich, wieso die simplen ‚Heilmethoden‘ Grönings verblüffend wirksam waren: Er hörte zu, begegnete den Menschen auf Augenhöhe, redete mit ihnen und machte Witze. Das einzige ‚Wundermittel‘ waren die aus dem Stanniolpapier seiner Zigarettenschachteln zusammengeknüllten Kugeln, die er den Heilsuchenden in die Hand drückte, um die „therapeutische Energie“ (S. 125) zu leiten. Black schreibt Grönings Aussagen, dass er nur „guten“, nicht aber „bösen Leuten“ (S. 93f.) helfe, besondere Bedeutung für die Heilung zu. Gröning präsentierte sich als Wissender, der in die Menschen hineinsehen konnte und in der Lage war, sie als ‚gut‘ und ‚böse‘ zu identifizieren. Am Beispiel der Geschichte einer erblindeten Frau, die nach der Be-

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gegnung mit Gröning wieder sehen konnte, illustriert das Buch die Deutungsmacht des Heilers. Die Erklärung der Frau, dass ihre Erblindung mit ihrem im Krieg gefallen Sohn in Verbindung stünde, wies er zurück und behauptete stattdessen, dass es die Schläge des sie begleitenden Ehemannes waren, die sie hatten erblinden lassen. Black argumentiert, dass Grönings Benennung der Misshandlung und des Zufügens von Schmerz durch den (‚bösen‘?) Ehemann der Kranken Heilung brachte. Aus einer Geschlechterperspektive betrachtet springen zwei Aspekte ins Auge: erstens der Topos des guten Ritters, der die hilflose Frau aus den Klauen des Drachen rettet. Zweitens das angebliche Erbleichen des Ehemanns, der durch Grönings Bloßstellung in der Männlichkeitshierarchie nach unten rutscht. Auch andere Heiler und Gesundbeter beanspruchten für sich, das ‚Gute‘ und das ‚Böse‘ zu erkennen. ‚Das Böse‘, das waren der Teufel oder Hexen beiderlei Geschlechts, die als Ursache für Krankheiten und Unheil aller Art identifiziert wurden. Anhand einiger dörflicher Fallstudien illustriert Black, dass schon die Andeutung, dass eine Person ‚böse‘, also eine Hexe sei, für die Betreffenden fatale Folgen haben konnte. Hinter den Verdächtigungen der Hexerei standen, wie schon in der Neuzeit, auch in der Nachkriegszeit oft nachbarschaftliche oder familiäre Konflikte, die durch die sozialen Verwerfungen der NS-Zeit und die neuerliche Umdrehung der Machtverhältnisse nach der Befreiung befeuert wurden. Black verweist zwar auf historische Parallelen und diskutiert die volkskundliche Forschung zum Aberglauben und Hexenängsten, taucht jedoch nicht tiefer in die Geschichte der Hexenverfolgung ein. Vielmehr betont sie die Zusammenhänge mit dem Nationalsozialismus. So wie die Wunderheiler für viele Deutsche die vakant gewordene Position des ‚Führers‘ einnahmen, so scheinen die der Hexerei bezichtigten Mitbürger*innen den Platz der Jüdinnen und Juden eingenommen zu haben, die noch kurze Zeit davor für Krankheit oder Missgeschicke aller Art verantwortlich gemacht worden waren. Obwohl die Medien die symbolische Führerfunktion der Wunderheiler erkannten und kritisierten, so schien die deutsche Gesellschaft die Parallelen zwischen der Judenverfolgung in der NS-Zeit und den zu Sündenböcken erklärten Mitbürger*innen nicht zu erkennen oder benennen zu wollen. Die Wunderheiler oder Gesundbeter bilden die Klammer, welche die beiden thematischen Hälften der Studie zusammenbinden. Sie konnten ‚heilen‘, aber auch soziale Ausgrenzungsprozesse in Gang setzen, indem sie jemanden als ‚böse‘ benannten. Unter den von Black untersuchten Wunderheilern fanden sich sowohl Personen, die im Nationalsozialismus verfolgt worden waren, als auch – wie im Falle Bruno Grönings – ehemalige Parteigänger und Wehrmachtsoldaten. Es handelte sich allesamt um Männer, die aber nicht den dominanten Männlichkeitsidealen entsprachen. Die Skepsis der meist männlichen Journalisten gegenüber dem Wunderheiler Gröning, der auf eine breite weibliche Anhängerschaft zählen konnte, verweist auf die zentrale Bedeutung von Geschlecht. Dieses thematisiert Black jedoch selten explizit und nur im Blick auf das Aussehen Grönings. Auch die geschlechtsspezifische Dimension des

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Schmerzes, der ein zentrales Leitmotiv bildet, bleibt leider ausgespart. So wäre es interessant gewesen zu erfahren, inwieweit sich weibliche von männlichen Leiden unterschieden und ob die spirituelle Akzentuierung des Schmerzes auch traditionelle Geschlechterzuschreibungen aufbrach. Ungeachtet dieser Kritikpunkte ist „Deutsche Dämonen“ ein fesselndes Buch, das die Geschichte der jungen Bundesrepublik neu beleuchtet. Mit ihrem historisch-anthropologischen Ansatz gelingt es Black überzeugend darzulegen, dass es im Nachkriegsdeutschland eine „säuberliche Trennung zwischen einem sich modernisierenden Land und scheinbar archaischen Ängsten vor göttlicher Gerechtigkeit und Krankheit als Strafe für Sünden“ (S. 227) nicht gab. Klar und flüssig geschrieben, von Werner Roller vortrefflich ins Deutsche übersetzt und unter weitgehendem Verzicht auf Fachjargon gelingt es der Autorin, einem breiten Leser*innenkreis den aktuellen Forschungsstand zur Thematik zu vermitteln und komplexe soziokulturelle und mentalitätshistorische Zusammenhänge zu erklären, ohne dabei zu sehr zu vereinfachen. Blacks Studie ist damit ein populärwissenschaftliches Buch im besten Sinne, dessen Lektüre auch für Wissenschafter*innen höchst lohnenswert ist. Maria Fritsche, Trondheim

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Gabrielle Houbre, Les deux vies d’Abel Barbin, né Adélaïde Herculine (1838–1868). Édition annotée des Souvenirs d’Alexina Barbin, Paris: Presses universitaires de France/Humenis 2020, 305 S., EUR 21,–, ISBN 978-2-13-081832-8. Der Name Barbin, die Elemente der Erzählung zu seiner_ihrer Lebensgeschichte sind bekannt, ja berühmt, und müssen für Expert_innen der Geschlechtergeschichte kaum näher erläutert werden. Barbin wurde 1838 als Kind einer Handwerkerfamilie in einem kleinen Ort in Südwestfrankreich geboren und wuchs als Mädchen unter dem Namen Adélaïde Herculine auf, Rufname Alexina. Alexina durchlief verschiedene Arbeits- und Ausbildungsstellen und lebte schließlich als Lehrerin in einem Mädchenpensionat. Unter Einbeziehung und auf Anraten von Ärzten, Klerikern und Juristen wurde Barbin auf der Basis ihrer_seiner uneindeutigen Geschlechtsorgane 1860 der Personenstand als Mann, Vorname Abel, zugewiesen. Abel Barbin zog nach Paris, arbeitete kurz als Buchhalter und beging mit knapp dreißig Jahren in seiner Wohnung Suizid mittels Gasvergiftung. An die Öffentlichkeit gelangte 1872 ein unter Barbins Namen figurierender Text mit dem Titel „Mes souvenirs“ – „Meine Erinnerungen“.1 „Mit jenem eleganten, gezierten, anspielungsreichen, ein wenig emphatischen und altmodischen Stil, der für die damaligen Pensionate nicht nur eine Weise zu schreiben darstellte, sondern auch eine Art zu leben“,2 hält der Text die Verliebtheiten und Schwärmereien fest, die innige und sexuelle Bindung an eine Kollegin, die schmerzliche Auseinandersetzung mit dem eigenen, zunehmend weniger ‚weiblich‘ markierbaren Körper, die Zugriffe der Mediziner und die zuletzt unvermeidbare Trennung von der Geliebten, mit der es nunmehr zwar eine heterosexuelle Konstellation gab, aber eben auch die Sünde der vorehelichen Intimität. Der_die Autor_in schreibt in Ich-Form, nennt den_die Protagonist_in Camille und behält die im Französischen grammatikalisch weiblichen Formen unter grafischer Hervorhebung bei. Die Erzählung zu den letzten Lebensjahren in Paris enthält einiges an Schwermut und Verzweiflung. Im Zuge sexualitäts-, geschlechter- und begehrensgeschichtlicher Debatten seit den 1970er-Jahren wurden Barbins „Erinnerungen“ wiederentdeckt und erfuhren zahlreiche kommentierte Editionen. Michel Foucault veröffentlichte den Barbin-Text 1978 zusammen mit einigen wenigen zeitgenössischen Dokumenten bei Éditions Gallimard. In der zwei Jahre später erschienenen US-amerikanischen Fassung kamen seine Einleitung (beginnend mit dem Satz „Do we truly need a true sex?“) neu hinzu und die auf Barbin bezugnehmende Erzählung „Ein skandalöser Fall“ von Oskar Panizza von 1893. Der Verlag 1 Ambroise Tardieu, Histoire et souvenirs d’Alexina B., in: ders., Question médico-légale de l’identité dans ses rapports avec les vices de conformation des organes sexuels contenant les souvenirs et impressions d’un individu dont le sexe avait été méconnu, Paris 1872, 48–159. 2 Michel Foucault, Das wahre Geschlecht, in: Wolfgang Schäffner u. Joseph Vogl (Hg.), Herculine Barbin. Michel Foucault. Über Hermaphrodismus, Frankfurt am Main 1998, 7–18, 12.

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La Cause des Livres publizierte 2008 ein Reprint der französischen Ausgabe; 2014 schließlich gab Gallimard diese Textsammlung mit einem ausführlichen Nachwort von Eric Fassin heraus und macht sie seit 2021 als E-Book zugänglich. Bei Suhrkamp gibt es unter dem Titel „Über Hermaphrodismus“ eine deutschsprachige Version mit den Texten von Barbin, Foucault, Panizza, einigen weiteren Quellen und einem Nachwort der Herausgeber.3 Die Geschichte „continues to glow“, wie es in einem Kommentar von 2013 heißt.4 Dies mag nicht zuletzt daran liegen, dass der_die Autorin medizinische und juristische Normierungserfahrungen mit einer herzergreifenden Liebesstory verquickte. Aber wessen Geschichte ist dies eigentlich? Wer hat sie geschrieben; wer liest sie wie? Von Anfang an geht es um Fragmente, Anmerkungen, Auslassungen. Barbins Schrift ist im Original nicht erhalten. Der Arzt, der Barbins Tod feststellte, notierte, er habe unter anderem ein autobiografisches Manuskript neben der Leiche gefunden; durch ihn gelangte es an den prominenten Rechtsmediziner Auguste Ambroise Tardieu. Dieser wiederum veröffentlichte 1872 „Mes souvenirs“ als Teil einer eigenen Studie zum Thema „Geschlechtsverkennung“ – allerdings gab er an, sie um Passagen gekürzt zu haben, die ihm zu ausschweifend erschienen. In gewisser Weise sind Barbins Memoiren also ein Text von Auguste Ambroise Tardieu.5 Im vorliegenden Band, 2020 herausgebracht von der Geschlechterhistorikerin Gabrielle Houbre, ist es nicht ganz leicht, herauszufinden, wie diese neue Edition des Barbin-Textes nun genau begründet ist. Tatsächlich vermochte Gabrielle Houbre mittels minutiöser Recherchen die Pseudonyme von Personen und Orten aufzudecken, die der Originaltext und alle bisherigen Veröffentlichungen noch beinhalteten. Wir kennen nun beispielsweise den richtigen Namen von Barbins geliebter „Sara“, nämlich Marthe Élisabeth Dubreuilh, Rufname Alida, und weitere Stationen ihrer Biografie (vgl. S. 235–237). Als Tochter der Besitzerin des Internats, in dem sich die leidenschaftliche, heimliche Beziehung mit Barbin entwickelte, war sie auch von den ökonomischen Folgen des Skandals nach dem Bekanntwerden der männlichen Geschlechtszuweisung ihres_ihrer Liebhabers_in betroffen. Die Schule musste schließen, Alida ging ins Kloster und starb 1925 in Paris als Nonne. Der Kommentarteil von Houbres Edition enthält einen sehr umfangreichen Anmerkungsapparat zu Details und zu Kontexten des Erzählten, eine biografische Übersicht sowie eine Zusammenstellung der familienähnlichen Netzwerke im Leben Barbins. Der Band schließt mit einem Aufsatz der Herausgeberin (S. 239–281) über „erreurs de sexe“ seit der Antike (der Terminus der deutschsprachigen Sexualwissenschaft war 3 Vgl. Schäffner/Vogl, Barbin, wie Anm. 2. 4 Andrea Rossi, Review: Herculine Barbin, Mes souvenirs. Histoire d’Alexina/Abel B. (Paris: La cause des Livres, 2008), in: Foucault Studies, 15 (2013), 187–189,187. 5 Darauf gehen die mir bekannten Editionen so gut wie gar nicht ein.

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lange Zeit „Fälle irrtümlicher Geschlechtsbestimmung“). Die Einordnung uneindeutig gegenderter Körper changierte zwischen „Monster“ und Objekten wissenschaftlicher Neugier. In Frankreich konnten sich mindestens bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Personen, deren Geburtsgeschlecht nicht eindeutig erschien, bei Großjährigkeit frei für ein männliches oder weibliches entscheiden, an dessen Regeln – darunter nicht zuletzt: Bekleidungsregeln – sich dann aber konsistent zu halten war. Zunehmend verschärfte der Staat seinen Zugriffsanspruch; der „Code civil“ von 1804 schließlich schrieb geschlechtliche Binarität (und die entsprechende Hierarchie zwischen Männern und Frauen) deutlich fest. Gabrielle Houbre arbeitet hier mit Quellen wie französischen Personenstandsregistern und Berichten in medizinischen wie auch juristischen Fachzeitschriften vom späten 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert. Sie erzählt die einzelnen Fallgeschichten und dokumentiert, was sie über die weitere Biografie der dort aufscheinenden Personen eruieren konnte. Auf diese Weise wird zum Beispiel deutlich, dass bei weitem nicht alle der Diagnose folgten, ihr Körper entspreche nicht ihrem bisher wahrgenommenen Geschlecht, sondern oft in diesem ‚Ausgangsgeschlecht‘ weiterlebten. Sichtbar wird die lange Geschichte des Schweigens und der Scham der Mütter, die wussten, dass ‚etwas‘ mit der Anatomie ihres Kindes nicht der Norm entsprach und die sich schuldig fühlten. Insgesamt will die Autorin mit ihrem sehr flüssig geschriebenen Aufsatz unterstreichen, dass sich die Geschichte von Barbin „in eine Landschaft der Transidentitäten einfügt, die unerwartet dicht bevölkert ist“ (S. 281, Übersetzung H. H.). Eine genauere Rückbindung an queer-, trans- und inter*theoretische Ansätze nimmt sie allerdings nicht vor. Inspirierendes findet sich in den Annotationen immer wieder, etwa, wenn die Herausgeberin unterstreicht, dass sich Barbin im (überlieferten) Manuskript letztlich an keiner Stelle ausdrücklich als Frau oder als Mann und ebenso wenig als irgendwie anders vergeschlechtlicht bezeichnet. „In dieser Frage sind seine_ihre Äußerungen recht widersprüchlich und können unterschiedlich verstanden werden.“ (S. 163, Übersetzung H. H.) Wie wäre dies weiterzudenken? Wie wurde es weitergedacht? „L’Homme. Z. F. G.“ hat 1998 eine Besprechung der deutschen Ausgabe von Barbins Text veröffentlicht.6 Es ist spannend zu sehen, wie diese Figur in der Österreich-basierten Geschlechtergeschichte präsentiert wurde. Der Rezensent Wolfgang Schmid löste damals das nonbinäre Dilemma, indem er Personalpronomen für Barbin unter Anführungszeichen setzte („er“, „sie“), und verwendete für ihn_sie noch ganz selbstverständlich die heute eher befremdlich anmutende Bezeichnung „der Hermaphrodit“. Diese Rezension kommt ausführlich auf damals aktuelle Sex/Gender-Debatten zu sprechen, insbesondere auf Judith Butlers Auseinandersetzung mit dem

6 Wolfgang Schmid, Michel Foucault – Herculine Barbin, Über Hermaphrodismus, hg. von Wolfgang Schäffner u. Joseph Vogl, in: L’Homme. Z. F. G., 9, 2 (1998), 293–298.

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Foucault’schen Einleitungstext, der die geschlechtliche „Nicht-Identität“ in Barbins Lebenserzählung vielleicht allzu romantisierend verhandelte.7 Seither hat die politische Artikulation intergeschlechtlicher Aktivist_innen – die Bewegung reklamiert übrigens Barbins Geburtstag, den 8. November, als ihren Aktionstag – Theoriebildung, historische Befunde und rechtliche Forderungen vorangebracht, binäre Verständnisse massiv aufgebrochen und Effekte erzielt wie etwa den dritten Geschlechtseintrag. Es ist schade, dass Gabrielle Houbre Barbins Geschichte nicht explizit(er) vor der Folie dieser Interventionen präsentiert.8 Hanna Hacker, Wien

Irene Messinger u. Katharina Prager (Hg.), Doing Gender in Exile. Geschlechterverhältnisse, Konstruktionen und Netzwerke in Bewegung, Münster: Westfälisches Dampfboot 2019, 200 S., EUR 25,70, ISBN 978-3896912763. Die Bedeutung von Geschlecht und Geschlechterkonstruktionen in Prozessen der Flucht, Emigration und des Ankommens spielt in der Exilforschung immer wieder eine Rolle. Dabei geht es zumeist um die Frage, inwiefern Netzwerke sowie die damit verknüpften Möglichkeiten sich am neuen Lebensort zu orientieren und Fuß fassen zu können, geschlechtsspezifisch in dem Sinn waren, dass vordefinierte Geschlechterrollen oder geschlechtsspezifische Arbeitsmarktstrukturen in der jeweiligen Aufnahmesituation die Handlungsspielräume insbesondere für Frauen entweder einengten, veränderten oder erweiterten. Der von der Politikwissenschaftlerin Irene Messinger und der Historikerin Katharina Prager herausgegebene Band greift dieses Thema auf und fragt, inwieweit Geschlechterverhältnisse und Geschlechterordnungen sich während Flucht oder Emigration transformierten. In der Einleitung weisen die Herausgeberinnen zurecht darauf hin, dass die Bedeutung der Kategorie Geschlecht für die Art und Weise, wie die Lebenswege von Geflohenen sich konkret gestalten, offensichtlich von Bedeutung ist, dass dies in der Forschung bisher aber nur wenig reflektiert wurde. Sie argumentieren, dass die Exilforschung lange mit einer von Bertold Brecht entlehnten Definition von Exil arbeitete, die den Begriff in der Regel auf die Biografien von prominenten Männern engführt und primär als erzwungenen Aufenthalt im Ausland aufgrund von politischer Verfolgung versteht. Diese Perspektive, so die Herausgeberinnen, ist deswegen problematisch, weil sie viele Fluchtbewegungen, und hier insbesondere die von Frauen, sowie die alltägliche Lebenswelt von Geflohenen kon7 Vgl. Schmid, Michel Foucault, wie Anm. 6; Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991, 142–159. 8 Gabrielle Houbre ist durchaus in diesem Aktivismusfeld engagiert, vgl. z. B. den Videoclip „Intersexe: de quoi parle-t-on?“ auf ihrer Website, unter: https://www.gabriellehoubre.com/videacuteos.html, Zugriff: 5. 3. 2022.

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zeptionell nicht berücksichtigt – was dazu führte, dass die Lebenswege von Frauen in der Exilforschung lange unterrepräsentiert waren. Entsprechend konzipieren sie „Flucht“ in geschlechterhistorischer Perspektive als einen offenen Raum, in dem divergierende Tendenzen aufeinander prallen können: Auf der einen Seite das Aufbrechen und die Neudefinition von etablierten Geschlechterrollen und auf der anderen Seite das, was sie als „Backlash“ (S. 8) bezeichnen, also das Ankommen in geschlechtsspezifischen Settings, die das Erstarken von traditionellen Geschlechterrollen bewirken, auch wenn diese zuvor in oder durch die Flucht aufgeweicht und verhandelbar geworden waren. Schließlich weisen die Herausgeberinnen darauf hin, dass ein solcher Zugriff immer mit Geschlecht als übergeordneter Kategorie arbeiten muss, die nicht nur auf Frauenrollen oder Vorstellungen von Männlichkeit blickt, sondern transsexuelle und queere Perspektiven bewusst einschließt. Der Band stellt sich dieser Herausforderung in interdisziplinärer Perspektive und mit einem Fokus auf die 1930er und 1940er Jahre. Um es vorwegzusagen: Er kann die selbst gesteckten Ziele nicht in voller Gänze einlösen, was mit dem Fokus auf den ‚traditionellen‘ Analysezeitraum der 1930er und 1940er Jahre, auf Frauengeschichte und mit einer primär metaphorischen Verwendung des Konzepts des „Doing Gender“ zu tun hat. Der Sammelband ist in drei Kapitel aufgeteilt. Das erste versammelt vier Aufsätze über die Konstruktion von Geschlecht „in Wort und Bild“: Anthony Grenville reflektiert über eine Kurzgeschichte von Anna Seghers, Andreas Enderlin-Mahr über Erzählungen von Joseph Roth, Katharina Strasser über den österreichischen Kabarettisten und Schauspieler Karl Farkas und Pnina Rosenberg analysiert Graphic Novels, gezeichnet von zwei Frauen in einem Internierungslager in Südfrankreich. Rosenbergs Aufsatz sticht heraus, weil es ihr gelingt, die Bandbreite der sozialen und alltaghistorischen Aspekte sichtbar zu machen, die die Flucht- und Internierungserfahrungen für Frauen prägten. Die abgebildeten Graphiken eröffnen eine andere Perspektive auf die alltäglichen Situationen des Lagerlebens, weil sie die spezifischen Gefahren, denen Frauen ausgesetzt waren, die spezifischen Formen der Solidarität und des Zusammenhalts sowie die Bandbreite des emotionalen und kognitiven Erlebens durch die Betroffenen plastisch sichtbar machen. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit Strukturen und Institutionen. Die Beiträge von Barbara Sauer und Christine Hartig zeigen anschaulich, dass Frauen nicht nur lange keinen Platz in der Migrationsgeschichte zugewiesen bekommen haben, sondern dass sie auch von staatlichen Akteuren durch bürokratische Prozedere in traditionelle Rollenmodelle gezwungen wurden. Christine Hartig verdeutlicht anhand eines britisch-US-amerikanischen Vergleichs überzeugend, dass sich hier zwei Ausgrenzungslogiken überschnitten, die geflohene Frauen auf gewisse Weise stigmatisierten und sie zugleich in vordefinierte Geschlechterrollen pressten. Sie waren einerseits mit kulturell begründeten Vorurteilen gegenüber den vermeintlich patriarchalisch organisierten jüdischen Familien konfrontiert, andererseits erschwerten staatliche Unterstützungs-

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strukturen die Frauenerwerbsarbeit, so dass erwerbstätige jüdische Ehefrauen in traditionelle Familienrollen gedrängt wurden, die analog zu denen der eigenen sozialen Schicht konstruiert waren. Marion Röwekamp fügt dem Skizzen von Frauen hinzu, die nach der republikanischen Niederlage im Spanischen Bürgerkrieg im mexikanischen Exil lebten, wo ihr Beitrag zum antifaschistischen Kampf aber in Vergessenheit geriet, weil die spanische Exilgemeinschaft von Männern dominiert blieb, die einen geschlechtsspezifischen Erinnerungskanon formten und durchsetzten. Die Künstlerin Ruth Jenrbekova schließt das Kapitel mit einer persönlichen Reflexion ab, wie ihr Aufwachsen im sowjetischen/postsowjetischen Raum sie zum Konzept der creolité als Alternative zu ethnisierenden Zugehörigkeitsbeschreibungen führte, und sie dieses mit Kolleg*innen im Rahmen des kreolex zentre künstlerisch umsetzt. Das letzte Kapitel analysiert geschlechtsspezifische Netzwerke, die im Kontext von Flucht und Emigration eine Rolle spielten. Andreas Brunner untersucht die vorwiegend lesbischen Netzwerke um die österreichische Fotografin und Filmemacherin Erica Anderson, die ihr den Weg in das US-amerikanische Exil bahnten. Charmian Brinson zeigt, wie Frauen im britischen Exil ab den 1930er Jahren spezifische Hilfsstrukturen aufbauten, die ihnen Vergemeinschaftung, Pflege einer mitgebrachten Kultur sowie die aktive Einbindung in den britischen war effort und damit eine Form der schrittweisen Integration in die britische Gesellschaft ermöglichten. Susanne Korbel zeigt anhand von drei Adaptionen der Operette „Im weißen Rößl“, wie im New York der 1930er Jahre eine spezifische Unterhaltungskultur der Emigrierenden entstand, die sich räumlich in konkreten Stadtvierteln verortete. Die Adaption und Anpassung der Inhalte an die neue Lebenssituation definierte die tradierten Geschlechterrollen, wie sie das ursprüngliche Libretto vorsah, neu und förderte zugleich das aktive Verarbeiten der Exilsituation, wobei die Beteiligten diesen Prozess als einen geschlechtsspezifischen inszenierten, indem sie den Frauen mehr Kompetenz und Anpassungsfähigkeit zuwiesen. Diana Sherzada schließt den Band mit einer Reflexion über individuelle Strategien der Selbstverortung afghanischer Frauen in Deutschland, die zwischen mehrfachen Fremd- und Selbstzuschreibungen navigieren müssen und eigene Rollenverständnisse auszuarbeiten versuchen. Der Band versammelt eine Reihe von instruktiven Fallstudien. Den selbst gesetzten Anspruch, das Herstellen von Geschlecht im Sinne des Doing Gender in den Interaktionen des Alltags von Geflohenen zu analysieren, kann er aber nicht einlösen. Die meisten Beiträge beschreiben Netzwerke oder skizzieren Biografien. Den zentralen Aspekt des Doing Gender-Ansatzes, Weiblichkeit und Männlichkeit als Ergebnis einer aktiven Herstellungsleistung zu begreifen, die in der alltäglichen Interaktion und durch institutionelles Handeln immer wieder neu ausgeführt wird, analysiert dagegen keiner der vorliegenden Artikel. Sie alle ordnen sich diesem Denken zwar zu, bleiben jedoch an der Oberfläche. Eine Reflexion des jeweiligen methodischen, konzeptionellen und begrifflichen Instrumentariums fehlt ebenso wie der Versuch an die einschlägigen Forschungsdiskussionen anzuschließen. Im Einzelnen sind die Fallstudien durchaus

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interessant. Aber in der Tendenz beschreiben sie ihren Gegenstand primär, sie stehen für sich und weisen nur bedingt über sich selbst hinaus. Das ist eine verpasste Chance. Denn es wäre dringend an der Zeit, dass die Exilforschung den Anschluss an die Fluchtund Migrationsforschung findet, um die selbstgewählte thematische Isolation endlich zu verlassen. Isabella Löhr, Berlin

Helga Amesberger, Brigitte Halbmayr u. Elke Rajal, Stigma Asozial. Geschlechtsspezifische Zuschreibungen, behördliche Routinen und Orte der Verfolgung im Nationalsozialismus, Wien/Berlin: Mandelbaum Verlag 2020, 400 S., zahlreiche Tabellen und Bilder, ISBN 978-3854768869. Obwohl seit den Pionierstudien über ‚Asozialität‘ im Nationalsozialismus viel Zeit vergangen ist, bleibt nach wie vor Raum für weitere Forschungen.1 Umso mehr ist Helga Amesberger, Brigitte Halbmayr und Elke Rajal vom Institut für Konfliktforschung Wien (IKF) zu danken, die 2019 und 2020 zwei Bände insbesondere zu als ‚asozial‘ verfolgten Frauen in Österreich publizierten. Einen Teil der Ergebnisse zeigt eine (Wander‐)Ausstellung, die analog und digital zugänglich ist.2 Die Bände richten den Blick auf die Geschlechterstereotype der NS-Behörden, die gemeinsam gegen Frauen und Mädchen, auch gegen Männer, vorgingen, wenn sie sich nicht gänzlich den NS-Prämissen unterwarfen; Menschen, denen durch Armut, Krankheit oder große Kinderzahl die Ressourcen fehlten, um in der unerbittlich marschierenden ‚Volksgemeinschaft‘ mitzuhalten. Beide Bände sollten gemeinsam gelesen werden; hier wird der 2020 publizierte besprochen. Der erste Band demonstriert besonders für die Gaue Niederdonau und Wien den Beginn der ‚Asozialen‘Verfolgung, geht den Wegen der Betroffenen in die Konzentrationslager Ravensbrück und Uckermark nach und zeichnet ein bedrückend schlüssiges Bild auch von den über das Jahr 1945 hinaus wirkenden Geschlechterverhältnissen.3 Der zweite Band thematisiert für die Gaue Oberdonau und Steiermark speziell die geschlechtsspezifischen Zuschreibungen, behördlichen Routinen und Repressions-Orte, insbesondere in den 1 Vgl. Detlev Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982; Wolfgang Ayaß, Asoziale im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995; Michael Zimmermann, Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg 1996; Christa Schikorra, Kontinuitäten der Ausgrenzung. „Asoziale“ Häftlinge im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück, Berlin 2001. 2 Vgl. ÖsterreicherInnen im KZ Ravensbrück, unter: https://www.ravensbrueckerinnen.at/?page_id =6866, Zugriff: 13. 4. 2022. 3 Vgl. die Rezension von Wolfgang Ayaß, unter: https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb -28596, Zugriff: 13. 4. 2022.

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Kriegsjahren, als die ‚Heimatfront‘-Kämpfer mit biologistisch-sozialrassistischen Argumenten gegen Auffällige vorgingen. Die ‚Asozialen‘-Verfolgung war durch das am 14. Juli 1933 in Deutschland verabschiedete Sterilisationsgesetz und den Erlass zur „vorbeugenden Polizeihaft gegen Berufsverbrecher“4 vorbereitet worden. Letzterer wurde in Österreich seit 1938 angewandt, doch die „Grenze zwischen kriminellen und politischen Vergehen“ war schon seit 1936 gefallen, als sich die politische Polizei mit der Kriminal- zur Sicherheitspolizei vereinigt hatte.5 Längst hatte die Kriminalpolizei neben den Kriminalbiologen und Rassetheoretikern die „Asozialen“ „erschaffen“ (S. 53, 141), gefolgt von Gesundheits-, Fürsorge- und Arbeitsämtern (Kap. III). Die Gesundheitsämter legten seit spätestens 1938 ‚Asozialenkarteien‘ an und pressten dort denunzierende, meist unbewiesene oder unverhältnismäßige Anschuldigungen in einen normalisierenden, legitimierenden Rahmen. Die ursprünglich beratende ‚Jugendfürsorge‘ wandelte sich zur überwachenden ‚Polizeifürsorge‘ und führte seit 1939 als ‚Weibliche Kriminalpolizei‘ ‚Jugendkarteien‘ gegen Mädchen und junge Frauen. Bei der Erfassung Erwachsener spielten die NSDAP beziehungsweise das Rassenpolitische Amt eine zentrale Rolle; involviert waren Gendarmerie und Polizei, Krankenkassen und Verwaltung sowie die NS-Frauenschaft. Im April 1938 verhaftete die Gestapo in Österreich sogenannte Arbeitsscheue; die Kriminalpolizei ging mit ähnlichen Blitzaktionen im Juni 1938 gegen ‚Asoziale‘ vor (S. 86–88); es folgten Repressionsspiralen. Das NS-Regime dehnte mit diesen als „Prävention“ verharmlosten Gewaltaktionen rechtsfreie Räume auf immer weitere Bevölkerungsgruppen aus. Diesen Zusammenhängen geht das Buch in fünf Kapiteln nach. Zunächst werden die diskursiven und justiziellen Grundlegungen diskutiert, es folgen die Verdichtungen durch die Institutionalisierung samt der rechtlichen und sozialen Praxis, die Repressions-Orte sowie die Wege der Opfer mit Schwerpunkt auf den Einweisungen. Die Studie basiert auf Quellen aus dem österreichischen Staatsarchiv, den Landesarchiven von Wien, Ober- und Niederösterreich, der Steiermark, weiteren Wiener Archiven sowie des International Tracing Archiv Bad Arolsen. Hervorzuheben ist die Überlieferung der Kriminalpolizei Graz, welche bis vor kurzem als verschollen galt. Diese Quellengruppe umfasst insgesamt 1615 Fallakten, von denen 46 Fälle hier eingegangen sind. Zu bedauern ist, dass Einzelfälle nicht zumindest paradigmatisch ausführlicher und über längere Zeitabschnitte dargestellt werden, was jedoch nachvollziehbar mit der defizitären Quellenbasis begründet wird. Gemildert wird dies durch den Einbezug der verfolgenden Institutionen (Kap. III und IV). Deutlich wird das engmaschige ‚Präventiv‘-Netz gegen ‚Abweichende‘.6 Sekundär intervenierende Anstalten wie Kran4 Ulrich Herbert, BEST. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903−1989, Berlin 1996³, 174. 5 Vgl. Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, 336. 6 Vgl. Christa Schikorra, Kontinuitäten der Ausgrenzung. „Asoziale“ Häftlinge im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück, Berlin 2001.

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kenhäuser oder Gefängnisse würden einmal mehr das Panorama einer sich selbst zerstörenden Gesellschaft eröffnen, wurden aber aus pragmatischen Gründen ausgespart. Die wenigen erhaltenen Ego-Dokumente zeigen die Engführung und Brutalität, mit denen ressourcenschwache Frauen wie auch Männer abgewertet und ausgegrenzt wurden. Sie verdeutlichen, dass die Behörden vielfach aktiv und über den eigenen Kompetenzrahmen hinaus handelten, um den „Volkskörper“ zu „bereinigen“ (S. 371). Überzeugt von der angeblichen Erblichkeit der ‚Arbeitsscheu‘ oder (‚geheimer‘) Prostitution nahmen die Ämter auch Angehörige ‚asozialer Großfamilien‘ in ‚Sippenhaft‘,7 um sie zwangsweise zu sterilisieren, was schwere Gesundheitsschäden, wenn nicht den qualvollen Tod nach sich zog. Zahlreiche Verfolgte stammten aus Wien, Niederösterreich und der Steiermark, was im Zusammenhang mit den dortigen ‚Asozialenkommissionen‘ steht. Diese gingen nicht nur in Wien und Niederdonau, sondern, was bislang unbekannt war, auch in der Steiermark konzertiert vor.8 In ihnen wirkten Kriminalpolizei und Gestapo, Arbeits-, Gesundheits- und Wohlfahrtsamt sowie die Rechtsabteilungen der Gemeinden mit. Letztere arbeiteten mit Psychiatrien, Heil- und Pflegeanstalten zusammen, die Schutzbefohlene als potenziell ‚Asoziale‘ internierten, weshalb vielfach Menschen in Arbeitsanstalten gezwungen wurden, die krank und arbeitsunfähig waren (S. 291). In Wien entstand die Kommission Ende 1940 und befasste sich offenbar ausschließlich mit weiblichen ‚Asozialen‘. Medizinische Gutachter begründeten und legitimierten die Einweisungen, was deren Schlüsselfunktion andeutet. Mit dem besonders gegen Männer gerichteten Vorwurf von Vagabondage, Wandertrieb und Bettelei schließt sich der Kreis zu den tradierten Vorwürfen gegen Sinti und Roma, die sich als angeblich ‚asoziale Rasse‘ bereits seit 1935 in einem Repressionsnetz gefangen sahen.9 Allerdings produzierte die Bürokratie somit erst Probleme, die sie zu bekämpfen meinte. Dies zeigt der Fall einer Mutter, die ihren blinden und teilgelähmten Mann pflegte. Umfeld und Behörden verfemten die Eheleute samt Kind als ‚asozial‘, da sie nicht im Arbeitsalltag mithalten konnten, rissen die Familie auseinander und sperrten sie in Anstalten, um nebenbei die Fürsorgeunterstützung einzusparen. Die Frau wurde entlassen, als sie an einer Gesichts-Tuberkulose erkrankte. Zugleich entledigte sich die Anstalt des teilgelähmten, doch laut Behörden arbeitsfähigen Mannes, den sie nun

7 Vgl. Wolfgang Knorr, Vergleichende erbbiologische Untersuchungen an drei asozialen Großfamilien, Berlin 1939. 8 Diese Kommissionen sind selten thematisiert worden, vgl. Wolfgang Ayaß: Nicht der Einzelne zählte… „Gemeinschaftsfremd“ im nationalsozialistischen Österreich, in: Verein zur Förderung des DOWAS (Hg.), Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden, Innsbruck 2006, 77−87. 9 Vgl. Carola Fings, Sinti und Roma. Geschichte einer Minderheit, München 2016, 67−69; Brigitte Halbmayr und Gerlinde Schmid, „Zigeunerinnen“ aus Österreich in Ravensbrück, in: Insa Eschebach (Hg.), Das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück. Neue Beiträge zur Geschichte und Nachgeschichte, Berlin 2014, 94−112.

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trotz eigener Krankheit weiterpflegte. Dennoch endeten die in der unvollständigen Überlieferung angedeuteten Torturen nicht (Kap. II.4). Obwohl sich die meisten Verfolgten kaum wehren konnten, zeigen einige Behördeneingaben, dass insbesondere für Frauen in prekären Lebenslagen der Beistand des Umfelds umso nötiger wurde (Kap. III.7 und IV). So wehrte sich 1942 eine Frau gegen das Etikett der „Arbeitsscheu“. Dass sie ihre voll entmündigte, taube Mutter pflegte, keine Fürsorgeunterstützung erhielt und freiwillig beim Deutschen Roten Kreuz arbeitete, wurde nicht akzeptiert. Erst nach zahlreichen Einsprüchen der Familie entkam sie der Anstalt (S. 177−181). Deutlich wird die Geschlechtsspezifik der Asozialen-Topik: Männern wurden meist Kleinkriminalität und versäumter Unterhalt vorgeworfen, während Frauen der (Geheim‐)Prostitution verdächtigt wurden; seit Kriegsbeginn kam „asoziales Arbeitsbummelantentum“ hinzu.10 Die durch die Unterstellungen produzierten sprachlichen Engführungen der Akten lösen die Autorinnen auf, indem sie den Blick für die Vielfalt der Lebenslagen von Frauen öffnen, die als junge, gesunde, sozial und zeitlich unbegrenzt verfügbare Arbeitskräfte funktionieren sollten, was jedoch mit ihren tatsächlichen Verhältnissen kollidierte. Es traf oft arme, kranke, mit Sorgearbeit überlastete Frauen und Mädchen. Dass persönliche Schicksale wenigstens in Umrissen sichtbar werden, ist ein wichtiges Verdienst der Studie. Denn neben den Quellendesiderata ist es die Wissensproduktion nach 1945, die das Stigma ‚asozial‘ durch die Ausblendung der Einzelfälle aufrechterhielt. Erst 2020 wurden die so Verfemten durch einen Bundestagsbeschluss als NS-Verfolgte anerkannt. Nach 1945 hatten sich die Geschlechterbilder und Vorstellungen von „sinnvollem“ Leben, Freizeit und „richtigem“ Arbeiten in der DDR und weiteren Ostblockstaaten zu Gesetzen gegen „Asoziale“ und „Parasiten“ verfestigt. Deren Analyse steht ebenso weithin aus.11 Dass im Schlaglicht der einseitigen Überlieferungen die Geschlechterverhältnisse erhellt werden, ist zweitens hervorzuheben. Drittens wird mit der Thematisierung der ‚Asozialenkommissionen‘ das gemeinsame und systematische Vorgehen der Behörden konturiert. Mit dem Hinweis auf das Zusammenwirken der Behörden zeigen die Autorinnen viertens, dass die Ämter für Vorurteile anfällig waren (und sind). Die daraus abgeleiteten Handlungsschablonen existieren bis heute vielfach fort, was sich in der SGB-II beziehungsweise Hartz-IVDebatte zeigt. Es ist hier ein wichtiger geschlechterhistorischer Beitrag zur inneren Dynamik der ‚Volksgemeinschaft‘ gelungen, der in dieser Quellendichte für

10 Michael Löffelsender, Frauen vor Gericht. Geschlechtsspezifische Zuschreibungspraktiken in der nationalsozialistischen Strafrechtssprechung im Krieg, in: Gaby Temme (Hg.), Hat Strafrecht ein Geschlecht? Zur Deutung und Bedeutung der Kategorie Geschlecht in strafrechtlichen Diskursen vom 18. Jahrhundert bis heute, Bielefeld 2010, 195−209. 11 Vgl. Sven Korzilius, „Asoziale“ und „Parasiten“ im Recht der SBZ/DDR. Randgruppen im Sozialismus zwischen Repression und Ausgrenzung, Köln/Weimar/Wien 2005.

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Deutschland fehlt und grundlegend dazu beiträgt, den Topos der ‚Asozialität‘ zu dekonstruieren. Katharina Lenski, Jena Regine Othmer, Dagmar Reese u. Carola Sachse (Hg.), Annemarie Tröger. Kampf um feministische Geschichten. Texte und Kontexte 1970−1990, Göttingen: Wallstein 2021, 432 S., 21 Abb., EUR 39,00, ISBN 978-3-8353-3788-6. Das Buch von Regine Othmer, Dagmar Reese und Carola Sachse mit Beiträgen weiterer neun Forscherinnen und eines Forschers ist Sammelband und Quellenedition in einem und damit eine anspruchsvolle Textgattung. Als Anthologie versammelt es erstmals die wichtigsten Publikationen der feministischen Intellektuellen Annemarie Tröger (1939−2013), einer Vorreiterin der Oral History und frühen Vertreterin der feministischen Faschismusforschung. Als Quellenedition konzipierten ihn die Herausgeberinnen, weil Trögers Beiträge nicht als „Basistexte oder frühe Meilensteine einer neuen Wissenschaftsdisziplin“, sondern „als historische Dokumente eines Forschungsanliegens oder auch einer Denkweise“ (S. 9) verstanden werden sollen. Eine Denkweise – und hier wird das Buch zum historiografischen und wissenschaftsgeschichtlichen Beitrag –, die eben nicht Eingang in die Gender Studies fand, aber auch kaum von der Frauen- und Geschlechtergeschichte oder der Geschichtswissenschaft generell rezipiert wurde. Vier Teile, die chronologisch und inhaltlich dem Schaffen Annemarie Trögers zwischen 1970 und 1990 folgen, geben die Struktur vor. Ein Werkverzeichnis, Bilder und eine biografische Skizze von Regine Othmer machen Tröger als Akteurin der 1968er- und der Frauenbewegung greifbar. Jeder ihrer Texte wird von einem Weggefährten oder einer Mitstreiterin aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven in seinen Entstehungskontext eingeordnet. Unter dem Titel „Revolutionäre Zeiten“ versammelt der erste Abschnitt Arbeiten, die zwischen 1970 und 1975 entstanden sind, als sich Tröger in den USA und Südamerika aufhielt: ein Radiofeature für den Westdeutschen Rundfunk über die Slums der lateinamerikanischen Städte aus dem Jahr 1970; das erstmals veröffentlichte Fazit eines längeren Entwurfs für eine marxistische Zeitschrift über die neo-imperiale Außenwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland seit dem Zweiten Weltkriegs mit dem provokanten Titel „The New Reich“; eine Analyse der 1973 in den USA gegründeten Coalition of Labor Union Women (CLUW), in der sich autonome Frauenbewegung und Gewerkschaftsfrauen zusammenfanden und deren Potenzial einer substanziellen Veränderung der Arbeits- und Lebensbedingungen von Blue Collar-Frauen Tröger hoffnungsvoll stimmte; schließlich Überlegungen zum Feminismus und dessen sozialistische Limitierung im Denken von Alexandra Kollontai. Wenngleich diese Texte kein leichter Einstieg sind, so zeigen sie bereits die Analysehebel, die Tröger ansetzt, ausgehend von der Überzeugung, dass Kritik zu

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Veränderung führen kann und diese der kritischen Analyse bedarf. So seziert sie etwa die scheinbar selbstverständliche Unterscheidung zwischen qualifizierter und unqualifizierter Arbeit und sieht in ihr die Grundlage für die Geringschätzung weiblicher Arbeit. Die Thesen von Kollontai weiterentwickelnd argumentiert Tröger, dass die Eingliederung der Frauen in die Waren- und Dienstleistungsproduktion nicht a priori befreiend sei, sondern mitunter bloß einen Arbeitszwang kaschiere. Der zweite Teil „Feministische Wissenschaft: Primat der Praxis und methodische Ansätze einer Geschichte von unten“ versammelt Texte, die zwischen 1978 und 1983 erschienen sind und um Trögers Verständnis von Wissenschaft kreisen. So war es ihr als eine der Organisatorinnen der ersten Sommeruniversitäten an der Freien Universität (FU) in Berlin 1976 und 1977 ein besonderes Anliegen, Forschung für nicht-akademische Frauen zugänglich zu machen und die Veranstaltung als bezahlten Bildungsurlaub für Arbeitnehmerinnen anzubieten. In gleichem Maß reflektiert Trögers Arbeit mit Interviews („Ich komme da mit den feministischen Gedanken nicht mit“; „Zwischen Kunst und Zeitungsmarkt“; „Mündliche Geschichte“) ihr Bemühen, Wissenschaft in Auseinandersetzung mit dem ‚Objekt‘ zu betreiben, indem sie etwa Interviewauswertungen mit ihrer Interviewpartnerin besprach, aber auch eigene Forschungsfragen gegen die (notwendigerweise) anderen Interessen ihres Gegenübers verteidigte. Solche Projekte machen zum einen die Schwierigkeiten mündlicher Geschichte sichtbar: die Verletzlichkeit und Widerständigkeit der Interviewpartnerinnen, das der Interviewsituation inhärente Konfliktpotenzial, aber auch die Verletzlichkeit der Forscherin – etwa aufgrund der von Tröger erlebten chronischen Unterfinanzierung feministischer Forschungsprojekte. Zum anderen unterstreichen sie Trögers Verbundenheit mit ihrem Gegenüber und die politische Dimension ihrer wissenschaftlichen Leistung. Ab 1975 bauten Annemarie Tröger und Tilla Siegel, ebenfalls Kommentatorin im Buch, am Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung (ZI6) an der FU Berlin den neuen Schwerpunkt „Vergleichende Faschismusforschung“ auf. Im Zuge dieser Arbeit realisierte Tröger mit Studentinnen ein Oral History-Projekt über einen Berliner Kiez, das die Gruppe während der Sommeruniversität 1977 vorstellte. Obwohl es letztlich scheiterte (die Gruppe brach auseinander, die Einzelstudien wurden nicht publiziert), unterstreicht Dagmar Reeses Kommentar zum abgedruckten Schlussbericht den Pioniercharakter dieser Oral History-Studie, die in der Rezeption neben dem fast gleichzeitig durchgeführten ambitionierten Projekt über die „Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930−1960“ (LUSIR) von Lutz Niethammer unterging. In die Zeit der frühen Faschismusforschung fallen auch Trögers Texte, die im dritten Teil unter dem Titel „Vorgeschichte der neuen Frauenbewegung: Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus“ zusammengefasst werden. Diese Arbeiten sind besonders lesenswert, weil hier die analytische Schärfe Trögers und ihre mitunter provozierenden Schlussfolgerungen deutlich hervortreten – etwa in ihrer Kritik an der „Dolchstoßlegende der Linken“, wonach Frauen Hitler an die Macht

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gebracht hätten, oder in ihrer Analyse „Die Frau im wesensmäßigen Einsatz“. Hier zeigt Tröger, dass die nationalsozialistische Arbeitsteilung und Geschlechterideologie die Frauen und Mütter keineswegs grundsätzlich aus der bezahlten Arbeit fernhielten, sondern sie vielmehr in einem Prozess der Dequalifizierung in repetitive, gesundheitsschädigende und schlecht entlohnte Jobs drängten. Tröger vertritt die These, dass die damit einhergehende Arbeitsmarktregulierung erst in der Nachkriegszeit ihre volle Wirkung entfaltete und schreibt damit gegen ein Fortschrittsnarrativ an, wonach Frauen im Verlauf des 20. Jahrhundert immer mehr Freiheiten und Rechte erhalten hätten. Wie Mary Nolan in ihrem Kommentar erläutert, zeigte Tröger damit als eine der Ersten, dass die NS-Zeit keinen Bruch in der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands darstellte, sondern moderne Rationalisierungsideen der Weimarer Republik weiterentwickelte, die für die Bundesrepublik prägend blieben. Auch Trögers Text „Between Rape and Prostitution“, den Atina Grossmann kritisch kontextualisiert, regt noch heute zum Nachdenken über agency beziehungsweise sexuelle Befreiung und strukturelle Gewalt an. Im vierten Abschnitt des Bandes, der den Titel „Rückblicke, Ausblicke“ trägt, ist insbesondere Trögers 1990 publizierter Beitrag für die „Feministischen Studien“ hervorzuheben, die sie gemeinsam mit Regine Othmer herausgab. Es handelt sich hier um eine hellsichtige Analyse, die zeigt, wie nach dem Fall der Berliner Mauer staatliche Ausgleichszahlungen im Namen des Fortschritts in den neuen Bundesländern zu Ungunsten von Frauen und unteren Einkommensgruppen gestrichen wurden. Wohltuend ist, dass die meisten Kommentare das Geschriebene in ihrem Entstehungszusammenhang situieren, ohne es zu bagatellisieren, weil es einem revolutionären Weltbild verpflichtet ist. Trögers Beiträge verdeutlichen zudem, welche theoretischen Grundlagen struktureller Analysen seit den 1990er Jahren – auch in der Ausbildung – verloren gegangen sind. Das Buch wirft darüber hinaus Fragen auf, die weiterhin hochaktuell sind: Fragen nach der Organisation der Frauenarbeit, der Mittäterschaft von Frauen an/in autoritären Regimen, den Möglichkeiten und Grenzen mündlicher Erfragung, aber auch nach dem Verhältnis zwischen Geschichte, politisch-kritischem Denken und Moral. Die Leichtigkeit, mit der sich Annemarie Tröger in unterschiedlichen Sprach- und Kulturkreisen bewegte, mit der sie Grenzen überschritt, sowohl zwischen Disziplinen (Tröger war eigentlich Psychologin) als auch zwischen Forschungssubjekt und -objekt und schließlich die politischen Implikationen ihres Denkens lassen die haptischen Dimensionen ihres Forschens hervortreten: die konkrete Begegnung, teilweise harte Konfrontation, aber auch die berührende Verbindung, etwa mit den schwarzen Aktivistinnen im CLUW, den alten Frauen in den Slums von Medellín oder den nicht-akademischen Besucherinnen der Sommeruniversitäten. All diese Aspekte sind Ausdruck eines Forschungsbegehrens, das nicht (akademische) Versicherung, sondern kritische Auseinandersetzung suchte und wohl gerade in Begegnungen fand, welche die politisch internationalistische Positionierung der Forscherin voraussetzte – ohne diese Begegnungen darauf zu reduzieren.

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Die nicht zuletzt generationsbedingten Schwierigkeiten, Kommentatorinnen zu finden, zeigen, dass die Zeit für dieses Buchprojekt drängte. Der Kampf um feministische Geschichten ist auch ein Kampf um feministische Geschichtsschreibung als Bezugspunkt für eine stets zu schaffende, kollektive, politische Identität, die mit der vorliegenden Studie um eine wichtige Dimension erweitert wird. Ruth Ammann, Bern

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Karen Nolte, Pain in Childbirth: Praxeological Approaches to Pain and Gender in the Nineteenth Century Shortly after chloroform anesthesia was first performed, it was used experimentally on childbearing women in the mid-nineteenth century. Pain during childbirth posed a particular challenge to obstetricians. According to some contemporary theories of pain, women were considered particularly sensitive to pain, others, however, regarded women being able to bear pain easily. In obstetrics, special attention was paid to the pain women endured in labour. Academic obstetricians set out to alleviate the pain of childbirth or to take it away altogether. This article uses an intersectional and praxeological theoretical perspective to reconstruct the meaning attributed to pain during childbirth in the still young academic obstetrics and explore how the handling of birth pain was portrayed.

Maria Heidegger, Pain, Masculinity and Religion: Self-Punishment in the Focus of Tyrolean Psychiatry during the Pre-March Period Pain practices in the form of self-harm are a multilayered subject of historical research. It entails gendered bodies, rituals and staging, expectations of salvation and fantasies, arousal and desire, pleasure and agony. This article investigates two psychiatric cases to exemplify the broad spectrum of self-harming practices ranging from ascetic exercises to painful self-flagellations to cases of autoaggressive acts of self-castration to punish or “cleanse” the “sinful” body. In the 1840s two young men were admitted as patients to the insane asylum in Hall in Tyrol after having castrated themselves. In Tyrol, the premarch period saw an upsurge of religiousness and the revival of the medieval mystification of suffering. At the same time, psychiatrists criticised excessive penances while observing the patient’s pain as a religious bodily practice. Medical files often contain reports of delusional self-mutilations and self-punishments, occasionally mentioning penitential belts and scourges as the material belongings of patients. The article adopts a

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gender-critical perspective to examine the connections between pain, masculinity and religion.

Kylie Thomas, Undoing Gendered Expressions of Grief: Dora Kallmus’ Post-War ‘Slaughterhouse’ Photographs (1949−1958) 1907, the Jewish Austrian photographer Dora Kallmus, also known as Madame d’Ora, established what was to become one of the most important photography studios in Vienna. In the 1920s, Kallmus opened a studio in Paris, where she excelled as an innovative fashion photographer, creating portraits of the leading cultural figures of her time. This article centres on the dramatic shift in the images Kallmus created in the aftermath of the Second World War, when she photographed people in refugee camps in Austria and dying and dead animals in the abattoirs of Paris where she spent the final decade of her life. In order to understand these photographs and their powerful affective charge, it is necessary to consider them not only in relation to her pre-war works, but to read them in the context of the Holocaust, an event that effectively destroyed both her life and her social world. I read these images as an expression of Kallmus’ views on society and the practice and meaning of photography in the aftermath of the death camps, and compare them to Hannah Arendt’s post-war thought. Kallmus’ ‘slaughterhouse’ series not only reveals the photographer’s own psychic pain but also insists on a confrontation with the painful truth of the Shoah. Society’s desire to avoid this painful reckoning, I argue, provides a reason for why this series has been largely ignored for the last six decades.

Rosemarie Brucher, From Valie Export to Cassils: Self-Injury as Self-Empowerment in Performance Art between Feminism and Post-Identity Since the 1960s the violation of one’s own body or the endurance of physically stressful situations have been components of performance art. This self-selected confrontation with injury, pain and one’s own physical limits can often be understood as a gesture of self-empowerment that replicates and artistically reflects upon political power relations, social discrimination and violence. In this sense, artistic self-injury was and is often used in the context of queer-feminist performance art to support an emancipatory claim. This article examines forms of self-injury on the basis of two explicitly political artists: first the performance artist Valie Export, the most important representative of 1970s feminist actionism in Austria, second the Canadian transgender artist Cassils, one of the most relevant contemporary artists in the context of performance and visual arts. By juxtaposing the two artists, the article will explore parallels and differences of artistic self-injury against the historical backdrop of forty years.

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Elisa Heinrich, “It is said that College Girls Marry Late but Marry Well.” Imaginations of Women’s Emancipation between Germany and the United States from Hugo Münsterberg (1863−1916) This article uses the biography of Hugo Münsterberg (1863−1916) and his writings to chart issues of gender order and its changes during and before World War I. Born in Danzig in 1863, Hugo Münsterberg studied in Germany and then emigrated to the United States, where he made a career as a psychology professor at Harvard. In addition to his scholarly activities, he dealt extensively with the relationship between the United States and Germany and with the topic of women’s education in both countries. In several publications he analysed US society and the status and role of American women, to which he, as a German newcomer, felt particularly qualified. This article asks in what ways the topic of women’s education functioned as an arena for negotiating GermanAmerican relations. In addition, Münsterberg’s writings are analysed both as autobiographical practices and in the context of his performance as Scientific Persona.

Anschriften der Autor*innen

Clemens Ableidinger, DLE Lehrinnovation und Digitale Kompetenzentwicklung Donau-Universität Krems, Universität für Weiterbildung Krems, Dr.-Karl-DorrekStraße 30, 3500 Krems, Österreich − [email protected] Ruth Ammann, Historisches Lexikon der Schweiz, Gerberngasse 39, 3011 Bern, Schweiz − [email protected] Rosemarie Brucher, Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien, Johannesgasse 4a, 1010 Wien, Österreich − [email protected] Kathleen Canning, Dean School of Humanities, Andrew W. Mellon Professor of History, Rice University, MS 33, 6100 Main St. Houston, Texas 77005 − kcanning@ rice.edu Bożena Chołuj, Ul. Nieporęcka 12 m 14, Pl-03–745 Warszawa, Polen − Choluj@ europa-uni.de Maria Fritsche, Department of Modern History and Society, NTNU Norwegian University of Science and Technology, 7491 Trondheim, Norway − maria.fritsche@ ntnu.no Benedikt Grubešić, Magdalenenstraße 25/8–9, 1060 Wien, Österreich − benedikt. [email protected] Hanna Hacker, c/o Institut für Soziologie der Universität Wien, Rooseveltplatz 2, 1090 Wien, Österreich − [email protected] Maria Heidegger, Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Universität Innsbruck, Innrain 52, 6020 Innsbruck, Österreich − Maria.Heidegger@ uibk.ac.at

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Elisa Heinrich, Institut für Zeitgeschichte, Unicampus, Spitalgasse 2–4, Hof 1.13, 1090 Wien, Österreich – [email protected] Marina Hilber, Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Universität Innsbruck, Innrain 52, 6020 Innsbruck, Österreich − Marina.Hilber@ uibk.ac.at Eftychia Kalaitzidou, Department of Modern History and Society, NTNU Norwegian University of Science and Technology, 7491 Trondheim, Norway – eftychia. [email protected] Katharina Lenski, Historisches Institut, Friedrich-Schiller Universität Jena, Der Präsident Fürstengraben 1, 07743 Jena, Deutschland − [email protected] Isabella Löhr, Centre Marc Bloch, Friedrichstraße 191, 10117 Berlin, Deutschland – [email protected] Karen Nolte, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Im Neuenheimer Feld 327, 69120 Heidelberg, Deutschland − [email protected] Tine Van Osselaer, Ruusbroec Institute, University of Antwerp, Grote Kauwenberg 34, 2000 Antwerpen, Belgium − [email protected] Rita Perintfalvi, Institut für Alttestamentliche Bibelwissenschaft, Universität Graz, Heinrichstraße 78B/EG, 8010 Graz, Österreich − [email protected] Kylie Thomas, NIOD Institute for War, Holocaust and Genocide Studies, Herengracht 380, 1016 CJ Amsterdam, Netherlands − [email protected] Heidrun Zettelbauer, Institut für Geschichte, Universität Graz, Heinrichstraße 26/2, 8010 Graz, Österreich − [email protected]

Weitere Hefte von „L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft“ 33. Jg., Heft 1 (2022)

32. Jg., Heft 2 (2021)

hg. von Almut Höfert und Xenia von Tippelskirch

hg. von Rukmini Barua, Alexandra Oberländer, Christa Hämmerle und Claudia Kraft

Göttinnen

Fluid Feelings

180 Seiten, kartoniert € 25,– D / € 26,– A ISBN 978-3-8471-1401-7 eBook: € 23,– ISBN 978-3-8470-1401-0

177 Seiten, kartoniert € 25,– D / € 26,– A ISBN 978-3-8471-1325-6 eBook: € 23,– ISBN 978-3-8470-1325-9

Vorschau:

34. Jg., Heft 1 (2023)

34. Jg., Heft 2 (2023)

hg. von Anelia Kassabova und Sandra Maß

hg. von Caroline Arni, Anna Becker und Claudia Opitz-Belakhal

Kinder in Heimen

Natur

Erscheint im Frühjahr 2023

Erscheint im Herbst 2023

L’Homme Schriften Bd. 28: Veronika Helfert

Frauen, wacht auf!

Eine Frauen- und Geschlechtergeschichte von Revolution und Rätebewegung in Österreich, 1916–1924 2021. 399 Seiten mit 15 Abbildungen, gebunden € 50,– D / € 52,– A ISBN 978-3-8471-1184-9 eBook: € 50,– D ISBN 978-3-8470-1184-2

Bd. 27: Li Gerhalter

Tagebücher als Quellen

Forschungsfelder und Sammlungen seit 1800 2021. 459 Seiten, gebunden € 40,– D / € 42,– A ISBN 978-3-8471-1179-5 eBook: € 40,– D ISBN 978-3-8470-1179-8

www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

Ältere Ausgaben von „L’Homme. Z. F. G.“ (1990 bis 2015) sind im Böhlau Verlag erschienen und über die Redaktion erhältlich: https://lhomme.univie.ac.at/ und [email protected] Heft 26, 2 (2015) Maria Fritsche, Anelia Kassabova (Hg.) Visuelle Kulturen

Heft 20, 2 (2009) Ingrid Bauer, Hana Havelková (Hg.) Gender & 1968

Heft 26, 1 (2015) Ulrike Krampl, Xenia von Tippelskirch (Hg.) mit Sprachen

Heft 20, 1 (2009) Ulrike Krampl, Gabriela Signori (Hg.) Namen

Heft 25, 2 (2014) Gabriella Hauch, Monika Mommertz, Claudia Opitz-Belakhal (Hg.) Zeitenschwellen Heft 25, 1 (2014) Margareth Lanzinger, Annemarie Steidl (Hg.) Heiraten nach Übersee Heft 24, 2 (2013) Claudia Ulbrich, Gabriele Jancke, Mineke Bosch (Hg.) Auto/Biographie Heft 24, 1 (2013) Ingrid Bauer, Christa Hämmerle (Hg.) Romantische Liebe Heft 23, 2 (2012) Almut Höfert, Claudia Opitz-Belakhal, Claudia Ulbrich (Hg.) Geschlechtergeschichte global Heft 23, 1 (2012) Mineke Bosch, Hanna Hacker, Ulrike Krampl (Hg.) Spektakel Heft 22, 2 (2011) Sandra Maß, Kirsten Bönker, Hana Havelková (Hg.) Geld-Subjekte Heft 22, 1 (2011) Karin Gottschalk, Margareth Lanzinger (Hg.) Mitgift Heft 21, 2 (2010) Caroline Arni, Edith Saurer (Hg.) Blut, Milch und DNA. Zur Geschichte generativer Substanzen Heft 21, 1 (2010) Bożena Chołuj, Ute Gerhard, Regina Schulte (Hg.) Prostitution

Heft 19, 2 (2008) Christa Hämmerle, Claudia Opitz-Belakhal (Hg.) Krise(n) der Männlichkeit? Heft 19, 1 (2008) Ute Gerhard, Karin Hausen (Hg.) Sich Sorgen – Care Heft 18, 2 (2007) Caroline Arni, Susanna Burghartz (Hg.) Geschlechtergeschichte, gegenwärtig Heft 18, 1 (2007) Gunda Barth-Scalmani, Regina Schulte (Hg.) Dienstbotinnen Heft 17, 2 (2006) Margareth Lanzinger, Edith Saurer (Hg.) Mediterrane Märkte Heft 17, 1 (2006) Ingrid Bauer, Christa Hämmerle (Hg.) Alter(n) Heft 16, 2 (2005) Mineke Bosch, Hanna Hacker (Hg.) Whiteness Heft 16, 1 (2005) Ute Gerhard, Krassimira Daskalova (Hg.) Übergänge. Ost-West-Feminismen Heft 15, 2 (2004) Erna Appelt, Waltraud Heindl (Hg.) Auf der Flucht Heft 15, 1 (2004) Caroline Arni, Gunda Barth-Scalmani, Ingrid Bauer, Christa Hämmerle, Margareth Lanzinger, Edith Saurer (Hg.) Post/Kommunismen Heft 14, 2 (2003) Susanna Burghartz, Brigitte Schnegg (Hg.) Leben texten

Heft 14, 1 (2003) Gunda Barth-Scalmani, Brigitte Mazohl-Wallnig, Edith Saurer (Hg.) Ehe-Geschichten

Heft 7, 2 (1996) Andrea Griesebner, Claudia Ulbrich (Hg.) Gewalt

Heft 13, 2 (2002) Mineke Bosch, Francisca de Haan, Claudia Ulbrich (Hg.) Geschlechterdebatten

Heft 7, 1 (1996) Gunda Barth-Scalmani, Ingrid Bauer, Christa Hämmerle, Gabriella Hauch, Waltraud Heindl, Brigitte Mazohl-Wallnig, Brigitte Rath (Hg.) Tausendundeine Geschichten aus Österreich

Heft 13, 1 (2002) Karin Hausen, Regina Schulte (Hg.) Die Liebe der Geschwister Heft 12, 2 (2001) Waltraud Heindl, Claudia Ulbrich (Hg.) HeldInnen? Heft 12, 1 (2001) Susanna Burghartz, Christa Hämmerle (Hg.) Soldaten Heft 11, 2 (2000) Ute Gerhard, Edith Saurer (Hg.) Das Geschlecht der Europa Heft 11, 1 (2000) Christa Hämmerle, Karin Hausen, Edith Saurer (Hg.) Normale Arbeitstage Heft 10, 2 (1999) Hanna Hacker, Herta Nagl-Docekal, Gudrun Wolfgruber (Hg.) Glück Heft 10, 1 (1999) Erna Appelt (Hg.) Citizenship Heft 9, 2 (1998) Christa Hämmerle, Karin Hausen (Hg.) Heimarbeit Heft 9, 1 (1998) Susanna Burghartz, Edith Saurer (Hg.) Unzucht Heft 8, 2 (1997) Waltraud Heindl, Regina Schulte (Hg.) Höfische Welt Heft 8, 1 (1997) Hg. vom Herausgeberinnen-Gremium der L’Homme. Z. F. G. Vorstellungen

Heft 6, 2 (1995) Gudrun-Axeli Knapp, Edith Saurer (Hg.) Interdisziplinarität Heft 6, 1 (1995) Erna Appelt, Verena Pawlowsky (Hg.) Handel Heft 5, 2 (1994) Susan Zimmermann, Birgit BologneseLeuchtenmüller (Hg.) Fürsorge Heft 5, 1 (1994) Herta Nagl-Docekal (Hg.) Körper Heft 4, 2 (1993) Christa Hämmerle, Bärbel Kuhn (Hg.) Offenes Heft Heft 4, 1 (1993) Hanna Hacker (Hg.) Der Freundin? Heft 3, 2 (1992) Waltraud Heindl, Jana Starek (Hg.) Minderheiten Heft 3, 1 (1992) Hg. vom Herausgeberinnen-Gremium der L’Homme. Z. F. G. Krieg Heft 2, 2 (1991) Brigitte Mazohl-Wallnig, Herta NaglDocekal (Hg.) Intellektuelle Heft 2, 1 (1991) Erna Appelt, Edith Saurer (Hg.) Ernährung Heft 1, 1 (1990) Christa Hämmerle, Edith Saurer (Hg.) Religion

Diese Hefte sind Open Access unter https://lhomme-archiv.univie.ac.at abrufbar.

Herrschafts- und Geschlechterordnungen bestimmen das menschliche Zusammenleben

Matthias Becher / Achim Fischelmanns / Katharina Gahbler (Hg.) Vormoderne Macht und Herrschaft Geschlechterdimensionen und Spannungsfelder

Macht und Herrschaft, Band 12. 2021. 403 Seiten mit 13 Abb., gebunden € 60,- D ISBN 978-3-8471-1338-6 Auch als e-Book erhältlich. Die dreizehn Beiträge dieses Bandes widmen sich Fragestellungen zu Macht, Herrschaft und Geschlechterordnungen in der Vormoderne. Eheliche Beziehungen von Herrschenden oder Fragen nach der Funktion und Stabilität von Herrschaftssystemen werden ebenso unter die Lupe genommen wie das Patriarchat als überdauerndes Herrschaftssystem für sich. So bietet der Band sowohl konkrete Einzelfallstudien als auch theoretische Überlegungen zu Machtausübungen und Herrschaftsstrukturen und die kritische Überprüfung von Forschungsansätzen; er zeichnet so ein hochkomplexes, vielfältiges und teils auch widersprüchliches Bild, das aus vergangenen Macht- und Herrschaftskonfigurationen überliefert ist.

Sexualitätsbezogene Objekte in Sammlungen und Museen

Maria Bühner / Rebekka Rinner / Teresa Tammer / Katja Töpfer (Hg.) Sexualitäten sammeln Ansprüche und Widersprüche im Museum

Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden, Band 15. 2022. 200 Seiten mit 17 farb. Abb., Paperback € 30,- D ISBN 978-3-412-52347-3 Auch als e-Book erhältlich. Sobald sich Museen mit Sexualitäten anhand von Objekten beschäftigen, stellen sich Fragen nach Repräsentation, Macht und Verantwortung. Wie können Museen dem Anspruch gerecht werden, möglichst viele Perspektiven aufzunehmen und abzubilden? Wie kann damit umgegangen werden, dass sich mit der Entscheidung für ein Objekt eine andere Leerstelle öffnet? Und welche Rolle spielen dabei die Gefühle der Mitarbeiter*innen des Museums? Der Sammelband lässt Praktiker*innen zu Wort kommen, die über Ansprüche und Herausforderungen in der Arbeit mit sexualitätsbezogenen Objekten reflektieren.

Frauen mit Macht in vormodernen Kulturen – eine erklärungsbedürftige Ausnahme

Ludger Körntgen / Heide Frielinghaus / Sebastian Grätz / Heike Grieser / Johannes Pahlitzsch / Doris Prechel (Hg.) Dominant, verführend, ewig schuld Frauen im Umfeld des Herrschers Kraftprobe Herrschaft, Band 2. 2022. 328 Seiten mit 11 Abb., gebunden € 50,- D ISBN 978-3-8471-1404-8 Auch als e-Book erhältlich.

In Antike und Mittelalter sind im euromediterranen Raum nur vereinzelt Frauen als Herrscherinnen nachweisbar, die Regierungsgeschäfte aktiv und eigenständig führten. Andererseits lässt sich eine Vielzahl weiblicher Figuren feststellen, die durch eine besondere Nähe zum männlichen Herrscher großen politischen Einfluss erlangen konnten. Solche Frauen werden in den Beiträgen dieses Bandes sowohl unter quellenreferenzierten als auch figurativen Perspektiven betrachtet. Die Untersuchungen reichen vom Mesopotamien des 24. Jhdts. v. Chr. bis zum byzantinischen Reich des 14./15. Jhdts. n. Chr.

Der Tod widerfährt uns in unserer Leiblichkeit, die aber trägt eine geschlechtliche Signatur

Angela Berlis / Magdalene L. Frettlöh / Isabelle Noth / Silvia Schroer (Hg.) Die Geschlechter des Todes Theologische Perspektiven auf Tod und Gender

2022. 484 Seiten mit 35 Abb., gebunden € 140,- D ISBN 978-3-525-56066-2 Auch als OA erhältlich.

Der Tod widerfährt uns in unserer Leiblichkeit, die aber trägt eine geschlechtliche Signatur. Wussten Sie, dass in der Bibel keine einzige Frau Suizid begeht, dass aber heute mehr Frauen als Männer aktive Sterbehilfe in Anspruch nehmen? Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, ob sich über den Tod Jesu genderspezifische Aussagen machen lassen und ob das (Nicht-) Trauern-Können mit der je eigenen geschlechtlichen Identität zu tun hat? Würden Sie für Ihre Beerdigung eher einen Bestatter oder eine Bestatterin wählen? Fragen wie diesen und vielen anderen rund um den Zusammenhang von Tod und Gender in Geschichte und Gegenwart gehen die Beiträge dieses Bandes nach, die aus allen theologischen Disziplinen sowie aus Philosophie, Religions- und Kulturwissenschaften stammen. Sie zielen auf eine neue Wahrnehmung von gender diversity im Umgang mit Sterben und Tod und damit zugleich auf die Befreiung aus normativen Männer- und Frauenbildern im Horizont einer realistischen Anthropologie.

Wie verändert sich die Politik, wenn Frauen an der Macht sind?

Anton Pelinka Der politische Aufstieg der Frauen Am Beispiel von Eleanor Roosevelt, Indira Gandhi und Margaret Thatcher

2020. 252 Seiten mit 3 s/w-Abb., gebunden € 29,- D ISBN 978-3-205-21138-9 Auch als e-Book erhältlich.

Das 20. Jahrhundert war durch einen politischen Megatrend charakterisiert – durch die Feminisierung der Politik. Anhand einer luziden Analyse der politischen Karriere von drei erfolgreichen Frauen geht der bekannte Politikwissenschaftler Anton Pelinka der Frage nach, welchen Einfluss das Geschlecht von politisch Handelnden auf die Inhalte von Politik hatte und hat. Die Untersuchung der Erfolgsstrategien und Alleinstellungsmerkmale von Eleanor Roosevelt, Indira Gandhi und Margaret Thatcher helfen uns die Rolle von Politikerinnen der Gegenwart besser zu verstehen. Gleichzeitig vermitteln diese Kurzbiografien dreier Ausnahmepolitikerinnen eine leicht verständliche und erhellende Geschichte des 20. Jahrhunderts in Bezug auf Gleichstellungskämpfe und -errungenschaften.

Zur Rolle des Entscheidens in der Etablierung des Wunschkindprinzips in der Bundesrepublik Deutschland

Claudia Roesch Wunschkinder

Eine transnationale Geschichte der Familienplanung in der Bundesrepublik Deutschland Kulturen des Entscheidens, Band 7. 2021. 323 Seiten mit 11 Abb., gebunden € 70,- D ISBN 978-3-525-35697-5 Auch als e-Book erhältlich.

Wie wurden Kinder im 20. Jahrhundert zu Wunschkindern? Wie wurde Nachwuchs zu etwas, das bewusst geplant wurde? Dieses Buch untersucht die Geschichte der Familienplanung in der Bundesrepublik Deutschland in einem transnationalen Ansatz. Dabei betrachtet es zunächst die Geschichte der Geburtenkontrolle in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, dann die Entstehung der Familienplanung in den USA. In seinem Hauptteil analysiert es die Debatten über Sterilisation und die Anti-Baby-Pille in den 1960er Jahren, die Frauenbewegung der 1970er Jahre und die Reform der Abtreibung aus Sicht der Befürworter und Gegner.