Schack Hermann Ewald (1745-1822): Ein Kantianer in der thüringischen Residenzstadt Gotha 9783412217495, 9783412223465

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Schack Hermann Ewald (1745-1822): Ein Kantianer in der thüringischen Residenzstadt Gotha
 9783412217495, 9783412223465

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Schack Hermann Ewald (1745–1822)

Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen Kleine Reihe Band 43

Horst Schröpfer

Schack Hermann Ewald (1745–1822) Ein Kantianer in der thüringischen Residenzstadt Gotha

2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Unterstützung durch das Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur und die Kulturstiftung Gotha

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Schack Hermann Ewald. Stich von Hermann Kalinke. Thüringisches Staatsarchiv Gotha CC 15/55.

© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Charlotte Bensch Wissenschaftliche Redaktion: Falk Burkhardt Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-22346-5

Inhalt

Vorwort ................................................................................................................................9 I. Einleitung ................................................................................................................. 13 II. Schack Hermann Ewald – sein Lebens- und Bildungsweg zum Publizisten und Autor ............................................................................... 21 1. 2. 3. 4. 5.

Jugend und Ausbildung .................................................................................... 24 Beginn der publizistischen Aktivitäten von Ewald ..................................... 29 Der weitere Lebensweg von Ewald ................................................................ 33 Zur Authentizität von Ewald als Anhänger der kritischen Philosophie Kants ............................................................................................. 35 Kant und die »Gothaische(n) gelehrte(n) Zeitungen« (GgZ) .....................41

III. Grundzüge des philosophischen Denkens von Ewald im Zeitraum von 1772 bis 1781 (Erste Phase) ........................................... 47

1. Die Rezeption Lessings in den GgZ .............................................................. 47 2. Ewald als Herausgeber und Autor seines Magazins ................................... 50

IV. Die Profilierung des philosophischen Denkens von Ewald im Zeitraum von 1781 bis 1790 (Zweite Phase) ........................................ 55 1. Ewalds Versuch einer anthropologischen Interpretation der Aktivitäten der menschlichen Psyche ..................................................... 55 1.1. Zur anthropologischen Zielsetzung Ewalds ...................................... 56 1.2. Ewalds Bezüge zur Literatur und zu den Wissenschaften .............. 58 1.3. Lessings »Nathan« – Symbol menschlicher Weisheit ....................... 60 2. Ewalds Schrift über die natürliche Religion ................................................. 62 2.1. Zum ersten Kapitel: »Der erste Mensch« ............................................ 68 2.2. Zum zweiten Kapitel: »Offenbarung« ................................................. 73 2.3. Zum dritten Kapitel: »Ursprüngliche Religion und Ursprung des Deismus« ................................................................. 83 2.4. Zum vierten Kapitel: »Schicksale des Deismus« ............................... 90 3. Ewald als Autor im »Teutschen Merkur« ..................................................... 101 4. Die Rezensierung der Schriften von Immanuel Kant in den GgZ von 1782 bis 1790 ...................................................................... 105 4.1. Die Gothaer Rezension von 1782 zu Immanuel Kants »Kritik der reinen Vernunft« ............................................................... 108

6 4.2. 4.3. 4.4. 4.5. 4.6. 4.7. 4.8. 4.9.

Inhalt

Die Rezension zu Kants Schrift »Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können« (1783) .............................................................113 »Kurze Nachrichten« der GgZ aus Königsberg – Kant und Becker im Gespräch ............................................................116 Die Rezension zu Kants Schrift »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« (1785) .............................................................. 129 Die Rezension zu Kants »Abhandlung« in der Schrift von Ludwig Heinrich Jakob (1786) .................................................... 136 Die Rezension zu Kants Schrift »Kritik der reinen Vernunft« (2. Auflage, 1787) – Ewalds Auseinandersetzung mit Feder, Reimarus, Weishaupt und Lossius ................... 139 Die Rezension zu Kants Schrift »Kritik der praktischen Vernunft« (1788) .................................................................................... 156 Die Rezension zu Kants Schrift »Kritik der Urteilskraft« (1790) ........................................................... 160 Die Rezension zu Kants Streitschrift gegen Johann August Eberhard (1790) ......................................................... 167

5. Übersetztung und Kommentierung von Schriften Baruch de Spinozas ......................................................................................... 168 5.1. Ewalds erste Übersetzung von Abhandlungen Spinozas.................169 5.2. Die GgZ und die Position Ewalds im Pantheismusstreit in den Jahren von 1785 bis 1787 ..........................................................173 5.3. Ewald übersetzte den »Theologisch-politischen Traktat« von Spinoza ............................................................................................ 180 5.4. Ewald übersetzte und kommentierte den ersten und zweiten Teil der »Ethik« von Spinoza ................................................ 185 5.4.1. Der erste Teil der »Ethik« ........................................................ 186 5.4.2. Der zweite Teil der »Ethik« .................................................... 202

V. Die staats- und verfassungstheoretischen Entwürfe Ewalds in den neunziger Jahren unter dem Einfluss der Moral-, Rechts- und Staatsphilosophie Kants (Dritte Phase) ............................217 1. Die Rezensierung der Schriften von Immanuel Kant in den GgZ von 1791 bis 1804 ...................................................................... 219 1.1. Kantianer als Rezensenten der GgZ – Niethammer, Primavesi und Gebhard .............................................. 221 1.2. Grundzüge und Schwerpunkte der Rezensierung der Schriften von Immanuel Kant in den GgZ von 1790 bis 1804................................................................................... 247 1.3. Die Rezension zu Kants Schrift »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« (1793) ........................................ 250

Inhalt

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1.4. Die Rezension zu Kants Schrift »Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf« (1795) ................................................ 254 1.5. Die Rezensionen zu Kants Schrift »Die Metaphysik der Sitten« (2 Teile, 1797) ..................................................................... 259 1.5.1. Die Rezension zum ersten Teil: »Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre« (1797) ............................... 259 1.5.2. Die Rezension zu: »Erläuternde Anmerkungen zu den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre von Immanuel Kant«, Königsberg 1798 ............ 265 1.5.3. Die Rezension zum zweiten Teil: »Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre« (1797) ............................. 267 1.6. Die Rezension zu Kants Schrift »Der Streit der Fakultäten« (1798) .................................................................................. 272 1.7. Die Rezension zu Kants Schrift »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« (1798/1800) ................................................ 274 1.8. Die Rezension zur Schrift von Reinhold Bernhard Jachmann »Prüfung der kantischen Religionsphilosophie in Hinsicht auf die ihr beigelegte Aehnlichkeit mit dem reinen Mystizismus. Mit einer Einleitung von Immanuel Kant« (1800)... 277 1.9. Die Rezension zu »Immanuel Kant’s vermischte Schriften« (3 Bände, 1799) ................................................................... 278 1.10. Die Rezension zu »Immanuel Kants Logik, ein Handbuch zu Vorlesungen« (hrsg. von Gottlieb Benjamin Jäsche, 1800) ........................................................280 1.11. Die Rezension zu »Immanuel Kant über Pädagogik« (hrsg. von Friedrich Theodor Rink, 1803) ........................................ 281 1.12. Der »Nekrolog. Immanuel Kant« vom 7. März 1804 in den GgZ ............................................................................................. 284 1.13. Die Rezensionen zu den Biographien von Immanuel Kant ........... 287 1.13.1. Ehregott Andreas Christoph Wasianski: »Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren« (1804) ........................................................................................ 287 1.13.2. Ludwig Ernst Borowski: »Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kants« (1804) ........................... 288 1.13.3. Reinhold Bernhard Jachmann: »Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund« (1804) .................. 290 2. Der Entwurf eines Staats- und Rechtssystems von Ewald ...................... 291 2.1. Die staats- und rechtsphilosophische Interpretation der Moralphilosophie Kants ...................................................................... 291 2.2. Die Funktion des Staates, das System der Gewalten und der Gesetzgebung .................................................................................. 307

8 2.3. 2.4. 2.5. 2.6. 2.7. 2.8.

Inhalt

Zur Bestimmung des Staatsbürgers ....................................................310 Die Staatsgewalt und die politische Vernunft .................................. 312 Die Notwendigkeit der moralischen Erziehung und Bildung der Staatsbürger .......................................................................315 Die Sicherung der Subsistenz der Bürger und die Steuerpolitik des Staates ........................................................................319 Ewalds Antizipation einer vernunftgeleiteten Entwicklung der Gesellschaft ............................................................. 324 Zur Resonanz des rechtsphilosophischen Entwurfs von Ewald in den Zeitschriften .......................................................... 326

3. Die republikanische Verfassungskonzeption von Ewald auf der Grundlage der moral- und rechtsphilosophischen Prinzipien Kants .............................................................................................. 330 3.1. Zur Autorschaft der Schrift »Kritik der deutschen Reichsverfassung« ................................................................................. 330 3.2. Die Vorstellung Ewalds zur Lösung der nationalen Problematik in Deutschland ................................................................ 332 3.3. Die vernunftgeleitete naturrechtliche Erklärung der Verfassung und der Regierungsform des deutschen Reichs ................................................................................... 336 3.4. Die Regierungsform der Pantokratie vor dem Richterstuhl der Vernunft .................................................................... 341 3.5. Es wird »ein Gesetz durch ganz Deutschland herrschen« – Eine Verfassung, gegründet auf Vernunftprinzipien und deutschem Patriotismus ........................... 346 3.6. Der Kriegszustand verstößt gegen das Vernunftgesetz.................. 356 3.7. Die sozialökonomische Vernunft im republikanischen Staatssystem..............................................................................................370

VI. Der esoterische Pantheismus von Ewald – eine Modifikation des Kantischen Vernunftglaubens (Vierte Phase) ................................. 387 1. Religion als Glaube durch Vernunft und Gefühl des Menschen ........... 387 2. Die Bestimmung des »esoterischen Pantheismus« durch Ewald ............ 391 3. Kants Idee des Unbedingten und Ewalds rationaler Pantheismus ...................................................................................................... 394 4. Esoterischer Pantheismus – von der Pantokratie zur Theokratie .......... 403

VII. Schlussbemerkungen .................................................................................409 Quellen- und Literaturverzeichnis .......................................................................417 Abkürzungsverzeichnis ............................................................................................ 427 Ortsregister .....................................................................................................................429 Personenregister ...........................................................................................................431

Vorwort

Die Darstellung beabsichtigt, einen Beitrag zur weiteren Aufhellung des Frühkantianismus im thüringischen Kulturraum von Jena, Weimar, Gotha und Erfurt zu leisten. In ihrem Zentrum steht der gothaische Hofbeamte und Publizist Schack Hermann Ewald (1745–1822). In der Vielfalt der wissenschaft­ lichen, kulturellen und publizistischen Aktivitäten Gothas hat Ewald – gleichsam als philosophischer Kopf – dazu beigetragen, dass die Residenzstadt des Herzogtums Sachsen-Gotha-Altenburg in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem Zentrum aufklärerischen Denkens von überregionaler Bedeutung wurde. Es waren insbesondere Gelehrte der Universität Jena, die seit 1784/85 in Lehrveranstaltungen die kritische Philosophie Immanuel Kants verbreiteten und gleichzeitig die in Jena erscheinende »Allgemeine Literatur-Zeitung« (ALZ) zu einem Organ der Propagierung der Philosophie Kants von internationaler Ausstrahlung entwickelten. Die erste von Kant akzeptierte Reaktion auf sein Hauptwerk »Kritik der reinen Vernunft« (1781) erfolgte jedoch am 24. August 1782 in dem Rezensionsjournal »Gothaische gelehrte Zeitungen« (GgZ) durch deren Redakteur Schack Hermann Ewald. Ausgehend vom Werdegang des aufklärerischen Denkens von Ewald, insbesondere seiner anthropologischen und naturreligiösen Anschauungen, konzentriert sich die Untersuchung auf jene Aktivitäten, die er zur Verbreitung der kritischen Philosophie Kants und zu deren Rezeption entwickelt hat. Er gehört zu den Zeitgenossen Kants, die die revolutionierende Wirkung der Prinzipien und Strukturen der kritischen Philosophie erkannt haben. Für Ewald war es von grundsätzlicher Bedeutung, dass Kant die Befähigung des Menschen zur weltbezogenen Selbsterkenntnis und zum moralisch verantwortungsbewussten Handeln als Individuum und Gemeinschaftswesen aufgedeckt und folgerichtig begründet hat. Diese Grundzüge wurden die Leitlinien seiner Vorstellungen und Überlegungen zur Gestaltung des menschlichen Daseins. Unter diesem Blickwinkel wird auch auf Ewalds Interpretation des Systems von Baruch de Spinoza eingegangen. Ewald hat erstmalig bedeutende Schriften von Spinoza ins Deutsche übersetzt, eingeleitet und zum Teil kommentiert. Zu der intensiveren Beschäftigung mit den Protagonisten der frühen Rezeption der Philosophie Kants wurde ich durch Norbert Hinske (Trier) angeregt. Er begann in den siebziger Jahren, die neuere Forschung zum Frühkantianismus zu initiieren und zu fördern.1 Er vertiefte sie während seiner Lehrtätigkeit 1

Carl Christian Erhard Schmid, Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften, Jena 1786, 21788, 31794, 41798; ND hrsg., eingeleitet und mit einem Personenregister versehen von Norbert Hinske, Darmstadt 1976, 21980, 31996.

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Vorwort

im Sommersemester 1991 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Die Ergebnisse propagierte er gemeinsam mit seinen Jenaer Kollegen.2 Ferner konzipierte und betreute er ein Forschungsprojekt zu diesem Thema.3 Mit der nachfolgenden Darstellung verbinde ich meinen herzlichsten Dank an Norbert Hinske – er hat mir in nunmehr zwei Jahrzehnten stets mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Zu besonderem Dank bin ich Hermann Schüttler (Erfurt/Gotha) verpflichtet. Er hat mir aus seinem Fundus, den er sich für seine Forschungen über den Geheimbund der Illuminaten erarbeitet hat, die von Ewald im Jahre 1785 verfasste »Selbstcharakteristik« und dessen eigenhändigen »Lebenslauf« (1785) zur Verfügung gestellt. Für das hier zu behandelnde Thema sind seine Veröffentlichungen zur Geschichte der Illuminaten von grundlegender Bedeutung, insbesondere sein Beitrag zu deren Geschichtsphilosophie.4 Desweiteren danke ich Christine Schaubs (Friedrichroda), die mir durch ihre Veröffentlichungen zu den Gothaer Illuminaten sowie anhand von Dokumenten wertvolle Hinweise zum Wirken von Ewald gegeben hat.5 Weiterhin danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar, der Forschungsbibliothek Gotha, des Thüringischen Staatsarchivs Gotha und des Goethe-Schiller-Archivs Weimar für die Bereitstellung von Literatur und Dokumenten. Ich danke Gabriele Bankow für die geduldige schreibtechnische Fertigstellung des Manuskripts. Falk Burkhardt bin ich für die Übernahme der satztechnischen Gestaltung des Buches sowie für wichtige redaktionelle Hinweise zu großem Dank verpflichtet. Meiner Frau Antje Schröpfer danke ich ebenfalls für die Unterstützung der Arbeit, insbesondere für das kontinuierliche Mitlesen der Texte und das Erarbeiten der Register. 2 Norbert Hinske / Erhard Lange / Horst Schröpfer (Hrsg.), »Das Kantische Evangelium«. Der Frühkantianismus an der Universität Jena von 1785–1800 und seine Vorgeschichte, Stuttgart / Bad Cannstatt 1993; Norbert Hinske, Der Jenaer Frühkantianismus als Forschungsaufgabe, in: Norbert Hinske / Erhard Lange / Horst Schröpfer (Hrsg.), Der Aufbruch in den Kantianismus. Der Frühkantianismus an der Universität Jena von 1785–1800 und seine Vorgeschichte, Stuttgart / Bad Cannstatt 1995, S. 231–243. 3 Horst Schröpfer, Kants Weg in die Öffentlichkeit. Christian Gottfried Schütz als Wegbereiter der kritischen Philosophie, Stuttgart / Bad Cannstatt 2003. 4 Hermann Schüttler, Zur Geschichtsphilosophie des Illuminatenordens, in: Helmut Reinalter (Hrsg.), Der Illuminatenorden (1776–1785/87). Ein politischer Geheimbund der Aufklärungszeit, Frankfurt am Main u. a. 1997, S. 269–279. 5 Christine Schaubs, Die Erziehungsanstalt in Schnepfenthal im Umfeld geheimer Sozie­ täten, Nordhausen 2005; Dies., Heinrich August Ottocar Reichard – Freimaurer und Illuminat, in: »Unter die Preße und ins Publikum«. Der Schriftsteller, Publizist, Theater­ intendant und Bibliothekar Heinrich August Ottocar Reichard, Museum für Regionalgeschichte und Volkskunde Gotha, Bd. 2, Gotha 2009, S. 147–169; Dies., Christian Heinrich Wehmeyer – Freimaurer und Illuminat, in: Gothaisches Museumsjahrbuch (2009), S. 191–217.

Vorwort

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Die vorliegende Publikation hat letztendlich die »Historische Kommission für Thüringen« mit ihrem Vorsitzenden, Prof. Dr. Werner Greiling, ermöglicht. Für die Aufnahme der Darstellung in deren Schriftenreihe danke ich allen Beteiligten herzlichst. Harald S. Liehr, dem Verantwortlichen des Projekts im Böhlau Verlag, danke ich für seine hilfreichen und konstruktiven Vorschläge. Diese Schrift widme ich meinem Sohn, Hans Michael Schröpfer, dem die Moralphilosophie Kants von großer Bedeutung ist. Weimar, Herbst 2014

Horst Schröpfer

I. Einleitung

Was die Gesetzgebung der Vernunft, des vernünftig bestimmten Willens, der vernünftig bestimmten F r e y h e i t als n o t h w e n d i g und u n b e d i n g t zu thun und zu unterlassen g e b i e t e t, sind P f l i c h t e n; ihr gesetzlicher Codex ist die E t h i k. Was die Gesetzgebung der Vernunft zu thun und zu unterlassen e r l a u b t, was zwar nicht n o t h w e n d i g geschehen oder unterlassen werden muß, sondern vermittelst des Sittengesetzes durch Freyheit des Willens bloß möglich ist, sind R e c h t e. Ihr Codex ist das V e r n u n f t r e c h t. Nichts d a r f geschehen oder unterlassen werden, was nach dem Gebote der Vernunft nothwendig geschehen oder unterlassen werden m u ß. Kein Recht darf eine Pflicht aufheben, nur das d a r f geschehen oder unterlassen werden, was keiner Pflicht widerstreitet.1 Schack Hermann Ewald (1794)

Die in diesem Eingangszitat von Ewald in Kantischer Prägung zum Ausdruck gebrachte moralische Orientierung des Denkens und Handelns des Menschen war die bestimmende Motivation seiner philosophischen Überlegungen, Entwürfe und publizistischen Aktivitäten in nahezu vier Jahrzehnten. Die Eckpfeiler seiner Konzeption und der diese verbindende Wesenszug sind folgende sieben Grundzüge des fundamental-kantianischen Denkens: Erster Grundzug: Ewald rezipierte und propagierte frühzeitig Kants »Revolution der Denkungsart«, indem er das apriorische Potential bzw. die transzendentalphilosophischen Strukturen (Anschauungsformen – Raum und Zeit; Verstand – Kategorien; Vernunft – Ideen) der theoretischen Vernunft als aktive und prägende Funktion des menschlichen Vernunftvermögens zur Gewinnung von Erfahrungserkenntnis als neue Qualität des philosophisch-wissenschaftlichen Denkens herausstellte. Er hob hervor, dass Kant durch diese Analyse und die Neubestimmung des Erkenntnisprozesses dem Menschen seine Befähigung als selbstdenkendes und schöpferisch aktives Subjekt zur Gestaltung seines intellektuellen und praktischen Tätigseins nachgewiesen hat. Ewald begleitete als Redakteur und Rezensent der GgZ Kants kontinuierliche Ausarbeitung seines kritischen Systems vom 24. August 1782 bis zum 29. Dezember 1804.

1

Schack Hermann Ewald, Von dem Staate und den wesentlichen Rechten der höchsten Gewalt, Göttingen, bey Johann Christian Dieterich, 1794, S. 79 f. Zu Ewald als Autor dieser Schrift, vgl. V.2.1.

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Einleitung

Zweiter Grundzug: Ewald sah in Kants »praktischer Vernunft« – er umriss sie begrifflich: Guter Wille, Freiheit, Tugend und Recht – die grundsätzliche Orientierung des menschlichen Denkens und Handelns zur moralischen Vervollkommnung des Menschen als Individuum und als soziale Gemeinschaft. Das Kantische »Moralgesetz«, den »Kategorischen Imperativ«, legte er als unaufgebbare Basis allen seinen Reflexionen und Entwürfen zur Gestaltung der menschlichen Existenz zugrunde. Ausdrücklich hob er Kants Forderung hervor, dass sich jeder Mensch niemals bloß als Mittel für niedrige Zwecke ansehen darf, sondern, um seiner durch den Charakter der »Menschheit« geprägten Würde willen, als »Zweck«, d. h. zur Beförderung des Guten in jedem Menschen, anzuerkennen verpflichtet ist. Für Ewald galt der Kategorische Imperativ als Gipfelpunkt der Kantischen Vorstellungen von Apriorität des menschlichen Vernunftvermögens. Er prägte, gleichsam als persönliches Credo, sein Verständnis der Zwecksetzung der göttlichen Weltordnung in ihrer Gesamtheit. Dritter Grundzug: Angetrieben durch sein Streben nach vernunftgeleiteter Erklärung der göttlichen Weltordnung übersetzte Ewald erstmals wichtige Schriften von Baruch de Spinoza ins Deutsche und interpretierte als Anhänger Kants Wesenszüge seines Systems. Er durchbrach damit die Mauer des Schweigens und der Vorurteile über einen bedeutenden europäischen Denker, der auch in Deutschland verschiedentlich als Ketzer und Atheist verschrien wurde. Ewald war davon überzeugt, dass Spinoza ein Philosoph war, der von der Existenz Gottes als übersinnliches, höchstes Wesen, welches die Gesetzmäßigkeit der Natur prägt und gestaltet, ausging. Dieser spinozistischen Identifizierung von Gott und Natur, in die der Mensch eingeordnet ist und Möglichkeiten zu deren vernunftgeleiteter Mitgestaltung erhält, stand Ewalds Anschauung über die natürliche Religion nahe. Von daher begrüßte er das tolerante Denken Spinozas über Religionen. Außerdem war er von dessen Vorstellung zur Gestaltung eines republikanischen Staatswesens angetan. Allerdings kritisierte er, nunmehr als ausgewiesener Kenner der drei »Kritiken« Kants, Spinozas Beweis für das Dasein Gottes. Er kennzeichnete dessen Argumentation als »Dogmatismus«, da Spinoza geglaubt habe, transzendente Gegenstände, die jedoch nur als denkbar angenommen werden können, als Sachverhalte anzusehen, über die empirisch begründetes Wissen zu ermitteln sei. Vierter Grundzug: Ewald drängten die Zeitumstände, sein erworbenes Wissen sowie seine praktische Erfahrung als hoher Beamter im gothaischen Staatsdienst, seine Vorstellungen über ein »republikanisches Staatswesen« nach Kantischen Grundsätzen darzulegen. Da er den Endzweck des Staates in der Sicherstellung der ursprünglichen

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Menschenrechte sowie der rechtmäßig erworbenen Rechte der sich vertragsmäßig im Staat zusammengeschlossenen Bürger sah, so darf kein Gesetz dem allgemeinen Willen aller Bürger widersprechen bzw. es muss die Zustimmung des einzelnen Bürgers erhalten können. Auf dieser Basis hielt er sowohl die Realisierung der politischen Freiheit und der politischen Gleichheit für alle Bürger als auch die Festlegung der Rechte und Pflichten der Staatsgewalt im System der Gewaltenteilung für notwendig. Wesentlich für Ewald war, dass keine Entscheidung im staatlichen Gemeinwesen dem Gebot der Vernunft, d. h. den vom Kant­ ischen Moralgesetz geprägten Pflichtvorstellungen widerspricht. Unter dieser Voraussetzung ordnete er der Staatsgewalt die Aufgabe zu, den erwerbenden Bürger zur Mitgestaltung des Gemeinwesens aufzufordern, dessen moralische und praktische Erziehung zu befördern und die Bedingungen für dessen eigenständige Subsistenzsicherung zu schaffen. Fünfter Grundzug: Im Bestreben, das deutsche Reich auf dem Weg zu einem deutschen Nationalstaat zu befördern, wandte Ewald seine staatstheoretischen Kenntnisse, die er durch die Rezeption der rechts- und staatsphilosophischen Vorstellungen Kants der neunziger Jahre vertiefte, zur Konzipierung des Entwurfs einer »liberalen, republikanischen Verfassung« für ein zukünftig zu konstituierendes »deutsches Staatssystem« an. Seine kritische Analyse der historischen Entwicklung sowie der aktuellen Zustände des deutschen Reichs, wie es sich in seinen vielfältigen Machtstrukturen und partikularen Interessen zeigte, bewog ihn, geleitet von den Grundsätzen der gesetzgebenden Vernunft, unabdingbare Konturen einer deutschen Republik in seinen Vorschlägen für eine auf naturrechtlicher Grundlage beruhenden demokratischen Verfassung vorzustellen. Von dem Prinzip ausgehend, dass kein Gesetz in der Verfassung und im praktizierenden Staatssystem dem Gebot der praktischen Vernunft (Sittengesetz) widersprechen darf, sollten – als »Staatsendzweck« fixiert – allen Staatsbürgern ihre ursprünglichen Menschenrechte und erworbenen staatsbürgerlichen Rechte garantiert werden sowie die selbständige Gestaltung ihrer individuellen und gemeinschaftlichen Lebenserhaltung und die Vervollkommnung ihrer Persönlichkeit in der Gemeinschaft gesichert und befördert werden. Schwerpunkte sind: gemeinsame Friedenssicherung; Abschaffung stehender Heere, politische Freiheit; politische Gleichheit, Gewaltenteilung; Primat der gesetzgebenden Gewalt, Förderung der Erwerbstätigkeit aller Bürger; Freihandel; Welthandel, gerechte Besteuerung; Abschaffung von Privilegien, religiöse Toleranz; moralische Erziehung und Bildung.

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Einleitung

Sechster Grundzug: Ewald bezeichnete seine religionsphilosophische Sichtweise des »Vernunftglaubens« als »esoterischen Pantheismus«. Er begründete zum einen rational die Einheit von Glaube und Wissen durch die von Kant in der theoretischen Vernunft dargelegte Idee des Unbedingten. Sie ermöglicht es, ein höchstes Wesen als umfassend wirkende Allheit zu denken bzw. als existent anzunehmen. Zum anderen versuchte er in emotionaler Hinsicht, die Wahrnehmung des allseitigen Wirkens von Gott durch das in jedem Menschen vorhandene Gefühl des unmittelbaren Empfindens der göttlichen Ordnung der Natur zu erklären bzw. zu ergänzen. In dieser Sublimierung von Glaube, Gefühl und Wissen erblickte Ewald die Basis von Religiösität im Menschen. Da er das »Unbedingte« bzw. Gott als Schöpfer der realen Welt als objektiv existent und in seinem Wirken als erkennbar betrachtete, erklärte er den Glauben zu einer der Vernunft ebenbürtigen Erkenntnisquelle. Diese aus Kants theoretischer Vernunft abgeleitete Grundlegung des Vernunftglaubens erlaubte es Ewald, die transzendentalen Strukturen der Erkenntnis, wie sie Kant in seinem System dargestellt hat, konsequent zur realistischen Welt­ erklärung anzuwenden. Siebenter Grund- und Wesenszug: Ewald kann als ein Fundamental-Kantianer angesehen werden; denn er hat in der ihm eigenen Systematik seiner philosophischen Reflexionen die Gesamtheit der geistig-wissenschaftlichen und praktisch-gesellschaftlichen Tätigkeit des Menschen als vernunftgeleiteter Akteur seiner Verhältnisse auf die tragenden Prinzipien des »Systems der kritischen Philosophie Kants« gegründet. Das betrifft seine Vorstellung über den Menschen als Subjekt des Erkenntnisvorganges (Selbstdenker) sowie das praktisch-moralische Handeln nach dem Moralgesetz, als selbstbewusstes Individuum in der sozialen Gemeinschaft, als Bürger eines republikanisch verfassten Staatswesens, als Weltbürger einer alle Völker verbindenden Weltrepublik und als Teilhabender und Mitgestalter der göttlichen Ordnung des Seins. Nur durch diese Grundlegung seiner Vorstellungen vom menschheitlichen Handeln, die auch Ewald in allen Teilbereichen dem »Richterstuhl der gesetzgebenden Vernunft« zur Prüfung vorlegte, hat er für die Verwirklichung von »Humanität« eine realistische Perspektive gesehen. Das publizistische Wirken von Ewald im Überblick Es war Kant selbst, der auf die erste positive Reaktion zu seinem Werk »Kritik der reinen Vernunft« (1781) hinwies, die ihn befriedigte. Denn sowohl die Fehl­ interpretation seiner Revolution des philosophischen Denkens in den »Götting­ ischen Anzeigen« (19. Januar 1782) durch Feder und Garve als auch das »Stillschweigen« der Fachgelehrten, die, wie Kant meinte, seine »Kritik« erst noch

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studieren und »kein übereiltes Urtheil« 2 abgeben wollten, mussten ihn beunruhigen. Umso mehr war er erfreut, ein erstes sachliches Urteil über den Systemansatz seiner neuartigen Denkungsart zur Kenntnis nehmen zu können. In den »Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können« (1783) stellte Kant fest: Eine Probe eines aus solchen Gründen verspäteten Urtheils kommt mir nur eben jetzt in der Gothaischen gelehrten Zeitung vor Augen, dessen Gründlichkeit (ohne mein hiebei verdächtiges Lob in Betracht zu ziehen) aus der faßlichen und unverfälschten Vorstellung eines zu den ersten Principien meines Werks gehörigen Stücks jeder Leser von selbst wahrnehmen wird.3

Die Rezension, wenngleich kurz, aber sachlich instruktiv, erschien am 24. August 1782 in den »Gothaischen gelehrten Zeitungen«. (im Folgenden GgZ)4 Als Verfasser benannte Karl Leonhard Reinhold den gothaischen Hofbeamten und Redakteur der GgZ Schack Hermann Ewald.5 Zumindest in den intellektuellen Kreisen von Gotha, Erfurt, Weimar und Jena war Ewald als Autor, Übersetzer und Publizist bekannt. In den gothaischen Gesellschaften der Freimaurer und der Illuminaten gehörte er zeit seines Lebens zum Kern der jeweiligen Gemeinschaft. Ausgehend von der Rezeption wichtiger Ströme aufklärerischen Denkens, hat Ewald die wesentliche Motivation, die ihn zur Hinwendung zu Kants kritischem System bewog, im »Nekrolog« auf Kant am 7. März 1804 dargelegt. Die Kernpassage lautet: N e k r o l o g. I m m a n u e l K a n t [...] Metaphysiker war er im prägnantesten Sinne des Wortes; seine Critik der theoretischen und praktischen Vernunft war das Feldgeschrey zum Erwachen der Vernunft. Wie er überall in die philosophische 2

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4

5

Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff., Bd. 4, S. 380. Kants Werke und Briefwechsel werden weiterhin nach der Akademieausgabe zitiert. Die Seitenzahl der »Kritik der reinen Vernunft« wird nach der ersten Auflage (= A) oder der zweiten Auflage (= B) angegeben. Kants’ gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 380. Am 16. September 1782 übermittelte Hamann an Johann Friedrich Hartknoch die in Königsberg umlaufende Meinung: »Kant ist im 68 St. der Gothaischen Zeitung, nach Wunsch, wie ich höre beurtheilet.« Zitiert nach Johann Georg Hamann, Briefwechsel, hrsg. von Arthur Henkel, Wiesbaden 1959, S. 425 f. GgZ, 59. St. vom 25. Juli 1781, S. 488. Die »Gothaische gelehrte Zeitungen« werden im Folgenden zitiert nach: Deutsche Zeitschriften des 18. und 19. Jahrhunderts, Microfiche – Volltextedition, Olms Neue Medien, Hildesheim 1989. Desweiteren: Rezensionen zur Kantischen Philosophie 1781–87, hrsg. von Albert Landau, Bebra 1991. Vgl. Karl Leonhard Reinhold (Hrsg.), Beyträge zur leichtern Übersicht des Zustandes der Philosophie beim Anfange des 19. Jahrhunderts, 2. Heft, Hamburg 1801, S. 2. Reinhold erklärte, dass zwei Rezensionen das Stillschweigen zu Kants »Kritik der reinen Vernunft« unterbrochen hätten: »Die Eine dieser Recensionen, die Göttingsche, soll den verewigten Garve, die Andere, die Gothaische, den Hofmarschallamtssekretär Ewald in Gotha zum Verfasser haben.«

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Speculation, statt leichter, oberflächlicher Declamation, Gründlichkeit und Strenge der Beweise einführte, so hat er insonderheit in der praktischen Philosophie durch sein Anstreben gegen den Geist einer laxen Zeit=Moral und durch den unerbittlichen Ernst des categorischen Imperativs eine der Wissenschaft nothwendige und selbst den Sitten wohlthätige Revolution hervorgebracht [...].6

Unter diesem Grundgedanken hat sich Ewald die kritische Philosophie Kants angeeignet. Vorgeprägt durch die zeitgenössische Philosophie der Aufklärung sowie durch die Ideenwelt der Freimaurer und Illuminaten, fand er in Kants System die Aufforderung an den Menschen apodiktisch bestimmt, die Selbstgestaltung seiner Existenz in der jeweiligen sozialen Gemeinschaft nach dem Gesetz der Moral als unabdingbare und ständige Aufgabe anzusehen. Von diesem Axiom, dem »Kategorischen Imperativ«, sind seine gesellschafts- und staatstheoretischen Überlegungen sowie seine religionsphilosophischen Vorstellungen zunehmend durchdrungen. In der Entwicklung dieser Anschauungen Ewalds sind vier Phasen zu erkennen, die durch Übergänge bzw. Überlappungen gekennzeichnet sind: Zur ersten Phase (1772–1781): – Ewald beschäftigten die Grundideen aufklärerischen Denkens, wie sie in Literatur und Philosophie durch Lessing, Mendelssohn, Herder, Feder, Eberhard u. a. dargelegt wurden. – Er wandte sich auf der Grundlage von medizinischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der psychischen und anthropologischen Befindlichkeit des menschlichen Individuums zu: Reflexionen über die Schauspielkunst. – In Ewalds literarischen Versuchen gewannen Probleme des moralischen Verhaltens an Bedeutung. Beispiel: Schauspiel »Der falsche Mord« (Konflikte um Eigentum und moralische Gesinnung). – Sein Interesse an der Entfaltung von Idealen der Humanität in der sozialen Gemeinschaft wurde durch seine journalistische Tätigkeit sowie durch den Eintritt in die Gesellschaft der Freimaurer gefördert. Zur zweiten Phase (1782–1790): – Ewald begann umgehend, sich die kritische Philosophie Kants anzueignen. Als Redakteur der GgZ förderte er durch deren kontinuierliche rezensorische Begleitung die Verbreitung des Kantischen Systems. Sein besonderes Interesse galt der Moralphilosophie Kants. 6

GgZ, 19. St. vom 7. März 1804, S. 170. Diese Zeilen sind im Nekrolog »Immanuel Kant« enthalten, den die GgZ drei Wochen nach dem Ableben von Kant (am 12. Februar 1804) veröffentlichte, vgl. V.1.12. sowie Horst Schröpfer, Der »Nekrolog Immanuel Kant« von Schack Hermann Ewald in den Gothaischen gelehrten Zeitungen, in: Aufklärung 21 (2009), S. 279–288.

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– Er trat dem Bund der Illuminaten bei. Dessen geschichtsphilosophisches und politisches Programm (Weishaupt / K nigge: Die »Anrede« – 1782)7 beeinflusste seine gesellschaftstheoretischen Vorstellungen. – Er legte das Ergebnis seiner anthropologischen Studien vor. – Er verteidigte die in der europäischen und deutschen Aufklärung dargestellten Vorstellungen über die natürliche Religion als Form des Vernunftglaubens. – Er übersetzte Schriften von Baruch de Spinoza mit der Zielsetzung, nicht nur dessen Verständnis von religiöser Toleranz und naturrechtlich begründeter Gemeinschaftlichkeit zu würdigen, sondern auch die Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten zwischen den Systemen von Spinoza und Kant in der Begründung des Daseins Gottes klarzustellen. Zur dritten Phase (1790–1800): – Ewald legte einen staatstheoretischen Entwurf vor, den er auf die moralphilosophischen Grundsätze der kritischen Philosophie Kants gründete. Zudem sind Einflüsse der geschichtsphilosophischen Anschauungen der Freimaurer bzw. der Illuminaten zu verzeichnen. – Er rezipierte und rezensierte die rechts- und staatsphilosophischen Schriften Kants. – Er veröffentlichte eine Analyse zur Reichsverfassungsdiskussion sowie eine Konzeption zu einer deutschen Reichsverfassung, die auf Kantische Intentio­ nen gegründet ist. – Ewald verteidigte in den GgZ die Grundsätze der kritischen Philosophie Kants gegen Vertreter des sich formierenden deutschen Idealismus. Zur vierten Phase (1801–1822): – Die GgZ würdigten die von seinen Schülern herausgegebenen Schriften Kants sowie sein Lebenswerk durch Ewalds Nekrolog »Immanuel Kant«. – Ewald war bestrebt, unter Beibehaltung Kantischer Systemstrukturen, insbesondere der theoretischen Vernunft, seinen Vernunftglauben aus pantheistischen und transzendentalphilosophischen Elementen zu synthetisieren. – Die Wahrnehmung der geistigen Totalität des Seins schrieb er dem allen Menschen eigenen Gefühl zu (»esoterischer Pantheismus«). – Er reflektierte über die Rolle der Gewalt und ihre Teilung in einer Theokratie, die von einer intellektuellen Elite getragen wird. Aus dem Überblick der Aktivitäten von Ewald ist zu erkennen, dass er sich die Philosophie Kants nicht nur aneignete und als System möglichst authentisch weiterzugeben suchte, sondern sie auch als philosophisches und methodisches 7

Spartacus et Philo [id est Adam Weishaupt und Adolph Knigge], Anrede an die neu aufzunehmenden Illuminatos dirigentes, in: Richard van Dülmen, Der Geheimbund der Illuminaten. Darstellung, Analyse, Dokumentation, Stuttgart / Bad Cannstadt 1975, S. 166–194.

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Fundament in seinen staats- und religionsphilosophischen Überlegungen anzuwenden bemüht war. Unter diesem Blickwinkel wurden philosophische Vorstellungen von Ewalds kantianischen Mitstreitern Rudolph Zacharias Becker und Friedrich Heinrich Gebhardt eingefügt.

II. Schack Hermann Ewald – sein Lebens- und Bildungsweg zum Publizisten und Autor

Das Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg, welches seit 1640 von Herzog Ernst dem Frommen (1601–1675) durch die konsequente Reformierung der staatlichen und kirchlichen Verwaltung – vorbildlich für ganz Deutschland – finanziell konsolidiert und politisch stabilisiert wurde, hatte sich nach der 1685 eingeführten Primogenitur unter der Regierung von Herzog Friedrich III. (1732–1772) hinsichtlich der Größe, der Bevölkerungszahl und einer effektiven Administration zum bedeutendsten und international angesehensten Staatswesen in Thüringen entwickelt. Auf dieser Grundlage konnte sich, trotz der Belastungen im Siebenjährigen Krieg (1756–1763), insbesondere durch die weitsichtige und zielstrebige Einflussnahme der Herzogin Luise Dorothea (1710–1767) in der Residenzstadt und ihrem Umfeld ein vielfältiges kulturelles und wissenschaftliches Leben entfalten. Diese Entwicklung hat Herzog Ernst II. (1745–1804), er regierte von 1772 bis 1804, im aufklärerischen und gemäßigt absolutistischen Sinne durch die Förderung von gelehrten Studien und wissenschaftlichen Anstalten (Sternwarte) erfolgreich weitergeführt. Er errichtete das erste ständige Hoftheater in Deutschland (Ekhof, Iffland), vervollkommnete die Kunst- und Wissenschaftssammlung und erweiterte kontinuierlich die Bibliothek. Unter seiner Regierung wurde Gotha im Rahmen der Förderung des Handwerks und einiger Manufakturen (Porzellanherstellung) zu einem bedeutenden Standort von Buch- und Zeitungsverlagen. Ungeachtet der vordringenden Dominanz des Herzogtums Sachsen-WeimarEisenach blieb das Gothaer Herzogtum bis in das 19. Jahrhundert hinein ein bedeutendes Macht- und Kulturzentrum in Thüringen.1 Es fällt auf, dass in den Schriften zur Geschichte des Gothaer Herzogtums sowie in biographischen und literarischen Lexika lediglich die redaktionelle, literarische und übersetzerische Tätigkeit Ewalds vorgestellt wird. Einige seiner Schriften auf philosophischem und psychologischem Gebiet werden nur genannt und im Einzelfall als der empirischen Anthropologie zugehörig betrachtet. Sein frühzeitiger und kontinuierlicher Einsatz für Kants Neubegründung des philosophischen 1



Vgl. Hans Patze / Walter Schlesinger (Hrsg.), Geschichte Thüringens, Bd. 5/1, Teilbd. 1, Köln 1982, hier S. 209–251; Dass., Teilbd. 2, Köln 1984, hier S. 673–697; Roswitha Jacobsen, Der Landesvater als Familienvater. Ernst der Fromme von Sachsen-Gotha-Altenburg und seine Verordnungen für die eigene Familie, in: Gothaisches Museums-Jahrbuch 2010, S. 73–97. Werner Greiling / Andreas Klinger / Christoph Köhler (Hrsg.), Ernst II. von SachsenGotha-Altenburg. Ein Herrscher im Zeitalter der Aufklärung, Weimar / Wien 2005.

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Denkens wird nicht registriert.2 Das Gleiche gilt für die aktuelle Darstellung der frühen Kantrezeption. Nur Max Berbig erwähnt in seiner Darstellung des Wirkens von Ewald diese Tatsache in einer kurzgefassten Auflistung seiner philosophischen Interessen und Aktivitäten. Jedoch zeigt sich, dass die Zeitgenossen Ewalds von der Gesamtheit seines Wirkens, also auch von seinen philosophischen Schriften und Beiträgen, durchaus aufmerksam Kenntnis genommen hatten. Erst die Nachwelt ließ im Fortgang und in den Wirren des gesellschaftlichen 2

Wesentliche Informationen zur Biographie und zum geistigen Profil von Ewald vermitteln auch dessen illuminatische Dokumente »Schilderung meines Charakters« und »Mein Lebenslauf« (beide 1785), die er mit dem Geheimbundnamen Cassiodor unterzeichnet hat, vgl. auch II.2.4. Auswahl von Literatur zur Biographie von Schack Hermann Ewald: – Georg Christoph Hamberger / Johann Georg Meusel, Art. Ewald (Schack Hermann, in: Das gelehrte Teutschland oder Lexikon der jetzt lebenden teutschen Schriftsteller, 2 (51796), S. 264–266; 9 (51801), S. 317; 11 (51805), S. 209; 22 (51831), S. 96 (ND Hildesheim 1965 f.). – Friedrich Raßmann, Literarisches Handwörterbuch der verstorbenen deutschen Dichter und zur schönen Literatur gehörigen Schriftsteller, Leipzig 1826, S. 252; – Heinrich Döring, Art. Ewald (Schack Hermann), in: Johann Samuel Ersch / Johann Gottfried Gruber (Hrsg.), Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste 39 (1843), S. 284; – August Beck, Ernst der Zweite, Herzog zu Sachsen-Gotha und Altenburg als Pfleger und Beschützer der Wissenschaft und Kunst, Gotha 1854, S. 117; – [Heinrich August Ottocar Reichard] H. A. O. Reichard. Seine Selbstbiographie, überarbeitet und hrsg. von Hermann Uhde, Stuttgart 1877, S. 39, 424, 471 f.; – Wilhelm Creizenach, Art. Ewald, Schack Hermann, in: Allgemeine Deutsche Biographie 6 (1877), S. 446 sowie Korrektur von Schumann, in: ebenda 13 (1881), S. 792 f.; – Max Berbig, Schack Hermann Ewald. Ein Beitrag zur Geschichte des Hainbundes, in: Mitteilungen der Vereinigung für Gothaische Geschichte und Altertumsforschung (1903), S. 88–111; – Walter Schmidt-Ewald, Das Gothaer Gymnasium in Hamburger Sicht (1803/05) Veröffentlichung der Vereinigung ehemaliger Schüler des Gymnasiums Ernestinum zu Gotha, Heft 2, Bergisch Gladbach 1966, S. 1–12. Der Verfasser ist ein Nachkomme von Schack Hermann Ewald, siehe ebenda, S. 1 f.; – Ders., »Der verfluchte Almanach«. Wilhelm Heinrich Dorotheus Ewald (1791–1865). 25 Jahre Herausgeber des Gothaer Hofkalenders, in: Archiv für Sippenforschung 35 (1969), S. 22–31; – [Peter Hille], Art. Ewald, Schack Hermann, in: Deutsches Literatur-Lexikon, Biographisch-bibliographisches Handbuch, hrsg. von Wilhelm Kosch / Bruno Berger, Bd. 4, 3., völlig neu bearbetete Auflage, Bern / München 1972, S. 610; – Art. Ewald, Schack Hermann, in: Deutsche Biographische Enzyklopädie 3 (1996), S. 199; – Detlef Ignasiak, Das literarische Gotha, Bucha 2003, S. 225 f.; – Adrian Hummel, Art. Ewald, Schack Hermann, in: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, hrsg. von Wilhelm Kühlmann, Bd. 3, 2. vollständig überarbeitete Auflage Berlin / New York 2008, S. 309 f.; – Horst Schröpfer, Der »Nekrolog. Immanuel Kant« von Schack Hermann Ewald in den Gothaischen gelehrten Zeitungen, in: Aufklärung 21 (2009), S. 279–288.

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Geschehens nach der Jahrhundertwende seine konstruktiven Beiträge zur philosophischen Aufklärung und zur Gestaltung eines liberal-bürgerlichen Gemeinwesens in Vergessenheit geraten. So hat der in Gotha tätige Arzt Friedrich Albert Klebe (1769–1843), seit 1803 Professor der Medizin in Würzburg, danach Journalist und späterhin Ordinarius für Geographie und Statistik in München, in seiner 1796 in der Ettingerschen Buchhandlung erschienenen Schrift »Gotha und die umliegende Gegend« eine geographische und kulturell-soziologische Beschreibung der Residenzstadt Gotha und umliegender Städte vorgenommen, in der er besonders auf die dort literarisch und publizistisch wirkenden Kreise einging.3 In deren personeller Aufzählung (57 Autoren) im Kapitel »Schriftsteller zu Gotha« würdigte er Ewalds Veröffentlichungen, insbesondere seine philosophischen Schriften und vor allem sein Wirken für die Philosophie Kants. Er schrieb: Hr. Schack Herm. Ewald, herz. Hofmarschallamtssecretaire. Als Schriftsteller bekannt durch die Lieder nach dem Lateinischen des Flaminius, durch das gotha­ ische Magazin der Künste und Wissenschaften, durch verschiedene Uebersetzungen aus fremden Sprachen, besonders der Werke des Spinoza, durch das Buch über das menschliche Herz, ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit etc. Bei der Entstehung der kantischen Philosophie, hat er sich vorzüglich durch seine Beurtheilung der dahin einschlagenden Werke um die Ausbreitung dieser Schule verdient gemacht.4

Wenn Klebe, als jungem Mitbürger Gothas, der sich erst seit 1792 in der Stadt und ihrer Umgebung als Arzt niedergelassen hatte, das publizistische Wirken Ewalds im Wesentlichen bekannt war, so kann man davon ausgehen, dass auch die anonym erschienenen Schriften Ewalds, die er in den achtziger und neun­ ziger Jahren veröffentlichte, im Kreise der Freimaurer zur Kenntnis genommen wurden. 3 Albert Klebe, Gotha und die umliegende Gegend, Gotha 1796, S. 186 f. Klebe, der in Halle und Wien Medizin studiert hatte, urteilte über die geistige Situation der Stadt: »Gotha besitzt, außer vielen gelehrten respectablen Geschäftsmännern, noch eine Anzahl von solchen, die sich durch ihre Schriften auch auswärts bekannt gemacht haben. Es drängt sich dem Beobachter hierbei die Bemerkung auf, daß man selten eine Stadt von so geringem Umfange antreffen wird, die eine so große Anzahl gelehrter und zum Theil berühmter Männer in sich faßte. Fast in jedem Fache menschlicher Kenntnisse hat sie deren aufzuweisen, die zur Erweiterung der Wissenschaft, worin sie arbeiten, das ihrige beigetragen haben, und selbst in ihrem geliebten Fürsten müssen die Bewohner von Gotha den kenntnisvollen Mann schätzen, der eben so sehr Beförderer als Kenner der Wissenschaften ist, und im Privatstande zu den achtungswürdigsten Gelehrten gehören würde, da jetzt Sein glückliches Volk in Ihm auch den guten Fürsten verehrt.« Vgl. auch Werner Greiling, Presse und Öffentlichkeit in Thüringen. Mediale Verdichtung und kommunikative Vernetzung im 18. und 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2003. S. 686–714. 4 Klebe, Gotha, S. 193 f. und Greiling, Presse und Öffentlichkeit, S. 701.

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1. Jugend und Ausbildung Schack Hermann Ewald5 wurde am 6. Februar 1745 in Gotha geboren. Sein Vater, Christian Friedrich Ewald, war als Geheimer Kanzleiregistrator am gothaischen Hof tätig. Seine Mutter, Anna Clemence Mathomon, hatte französische Vorfahren (Mömpelgard). Als der Vater am 9. Oktober 1754 starb, hatte die Mutter außer Schack Hermann noch eine Tochter und zwei Söhne zu versorgen. Ersterem wurde ermöglicht, in das Zönobium (Internat im Kloster) und in den Schülerchor des Gymnasiums aufgenommen zu werden, so dass er Ostern 1764 die Ausbildung erfolgreich abschließen konnte.6 Ab Herbst 1764 begann Ewald mit herzog­l icher Unterstützung7 das Jurastudium an der Universität Jena. Seine philologischen Kenntnisse nutzte er, um durch Privatunterricht und Repititorien seinen Lebensunterhalt zu sichern. In dieser Zeit begannen auch seine literarischen Versuche. Hierzu die Darlegungen von Ewald über seine frühe Lebensperiode:

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Für die Autoren der aktuellen Literaturlexika ist die Hauptquelle für biographische Details der Aufsatz von Max Berbig, Schack Hermann Ewald. Ein Beitrag zur Geschichte des Hainbundes, in: Mitteilungen der Vereinigung für Gothaische Geschichte und Altertumsforschung (1903), S. 88–111. Dieser in verschiedener Hinsicht informative Beitrag leidet unter dem Mangel, keine Quellen zu wichtigen dargelegten Details anzugeben. Auch bei Max Berbig wird fälschlicherweise erklärt (vgl. ebenda, S. 89) und in den Lexika sowie anderen Darstellungen fortgeschrieben, dass Ewald aufgrund der französischen Abstammung seiner Mutter auf den Vornamen »Jacques« getauft worden sei und diesen in »Schack« eingedeutscht habe. Aus dem Taufbuch der gothaischen Augustinerkirche für das Jahr 1745, S. 329/10 (Stadtkirchenamt Gotha) geht hervor, dass einer der Paten des am 8. Februar 1745 getauften Sohnes des »G. S. Geheimen Cantzellisten Christian Friedrich Ewald und seiner Eheliebsten Anna Climene [Anne Clemence] geb. Mathomon« der Oberhofmeister der Herzogin Schack Hermann von Buchwald war, der sich bei der Taufe durch den Kammerdiener der Herzogin vertreten ließ. Der letzte Satz der Eintragung im Taufbuch lautet: »Das Kind heißt: Schack Hermann.« Ewald wurde durch die Oberhofmeisterin Juliane Franziska von Buchwald (1707–1789), Schriftstellerin, seit 1739 mit dem Oberhofmeister Schack Hermann von Buchwald verheiratet, besonders gefördert. In der ihr gewidmeten Schrift »Ueber das menschliche Herz, ein Beytrag zur Charakteristik der Menschheit« (3 Bde., Erfurt 1784) führte er am 30. Januar 1784 aus: Die Schrift sei ein »Beweis der innigsten Dank=Empfindung, [...] mit der ich auf die von Ewr. Excellenz mir vielfältig erzeigten Wohlthaten bis in mein erstes jugendliches Alter zurückschaue«, vgl. Helmut Roob, Eine große Fürstin am Gothaer Hof. Zum 300. Geburtstag der Herzogin Louise Dorothée von Sachsen-Gotha-Altenburg, in Gothaisches Museums-Jahrbuch 2010, S. 99–111. Vgl. Thüringisches Staatsarchiv Gotha, Bestand: Diener, Nr. 571. Der Herzog gewährte ein Gnadengeschenk.

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Mein Lebenslauf Ich bin am 11. Februar 1745 8 hier in Gotha geboren. Mein V a t e r starb als geheimer Registrator in seinem 48sten Lebensjahre, ich war noch nicht 14 Jahre alt. Meine erst im vorigen Jahre verstorbene M u t t e r hatte vier noch unerzogene Kinder, aber gar kein eigenes Vermögen. Sie erhielt nach meines Vaters Tod von der Höchstseel. Herzogin Durchl. eine jährliche Pension von 50 r. die sie durch die Gnade unsers Durchl. Herzogs bis an ihren Tod genoß. Sie verheyrathete sich zum zweyten mal an den Rector der Landschule zu Sonneborn, namens Scheiding, der ein halbes Jahr nach ihr starb. Von meinem Vater, dessen Lieblings Studium Mathematik war, und der allerley mathematische Instrumente, Uhren, Mikroskope, Teleskope u. dergl. auch für des Höchst seel. Herzogs Durchl. die Augengläser verfertigte, lernte ich das Schreiben und Rechnen. Er widmete täglich Nachmittags, wenn wir aus der Schule kamen, uns noch einige Stunden, da wir schreiben, rechnen und etwas lesen mußten, oder nahm uns, da er viel saß und Erholung bedurfte, mit sich auf das Feld und unterhielt uns mit nützlichen Dingen. In meinem 5ten bis 6ten Jahre wurde ich in die hiesige S t a d t s c h u l e geschickt, wo ich aber kein halbes Jahr aushielt, und in eine Winkelschule zu einem Candidaten gethan wurde, um die theologischen Sätze, Sprüche und Gebete zu lernen, die man im 13ten Jahre auswendig wissen muß, wenn man confirmirt werden will. Neben diesem ward ich auch im Lateinischen unterrichtet, aber, wie ich nach der Zeit erfuhr, höchst elend. Doch kam ich dabey mit Mühe und Noth soweit, daß ich in meinem 12ten Jahre in die dritte Klasse des hiesigen Gymnasiums gesetzt werden konnte. Nach meines Vaters Tod erhielt ich eine Freystelle im hiesigen Cönobium.9 In der zweyten Klasse hatte ich das Lob, der beste im Hebräischen zu seyn. Im Lateinischen und Griechischen war ich sehr zurück. Erst in der ersten Klasse auf der mittleren Ordnung fing ich an mich zu erholen, und studierte so fleißig, daß ich von dem seel. Professor Baumeister in den sogenannten Schwitzwochen die vor den jährlichen Examina herzugehen pflegen, ein öffentliches Lob in der Klasse erhielt. Ich fuhr nun so fort, und fand besonders Lust an der lateinischen Poesie. Mein Nachbar, Westfeld, der nach der Zeit an A b t s [Abbt – H. S.] Stelle in Bückeburg kam, und K l o p s t o c k s c h e V e r s e machte, steckte mich damit an, und ich fing an, hochtrabende Hexameter zu machen. Ich las die gangbarsten Dichter, den Messias, das verlohrne Paradies, K l e i s t s Werke, R a m l e r s Oden, die einzeln Heraus [kamen] u.s.w. und der alte vortrefliche Rector S t u ß unterhielt und bestärkte unsere Neigung darin. Bey diesem Geschmack waren Logik, Rhetorik u. dergl. besonders nach der elenden Art, wie sie gelehrt wurden, und da alle Sätze auswendig gelernt werden mußten, gar keine anlockende Speise. Daher kam es auch, daß, als ich 1764 die Universität Jena bezog, wenig oder gar keine deutlichen Begriffe von den Theilen der Philosophie hatte. Hier fing ich an nachzudenken, daß mir Poesie für die Zukunft schwerlich Brod würde erwerben können, und legte mich fleißig auf die Rechtswissenschaften und 8 9

Ewalds Angabe seines Geburtstages widerspricht der Eintragung im Taufbuch. Es war die Regel, dass ein Kind am dritten Lebenstag getauft wurde. Da der 8. Februar als Tag der Taufe dokumentiert ist, so könnte der 6. Februar als Tag der Geburt angenommen werden. Lat.: Kloster.

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Philosophie. Mein vertrautester Umgang war mit dem damaligen Magister Riedel,10 dem ich vieles in Rücksicht auf Aufklärung des Verstandes zu danken habe. Wir stifteten ein Kränzchen, worinn alle Sonnabende Nachmittags poetische und prosaische Aufsätze abgelesen und beurtheilt wurden. Riedel führte den Vorsitz. Gleiche Absicht hatte auch ein Orden in den ich trat, der pour la diligence hieß. Er ist aber, als die Sächsischen Höfe die Landsmannschaften und viele Orden durch eine Commission zerstören ließen, ganz verschwunden.11

Nach dem Abschluss des Studiums war Ewald seit April 1769 als Advokat in Gotha tätig. In diese Zeit fällt die Veröffentlichung seiner »Oden« (1772), die u. a. von Goethe kritisch beurteilt wurden. 1772 nahm er das Angebot an, den Sohn des Gothaer Bürgermeisters, Gottlob Ernst Christian Schulthes, als Mentor an die Universitäten Jena und Göttingen zu begleiten. In Göttingen fand er Anschluss an den Kreis junger Dichter, der als Göttinger »Hainbund« bekannt wurde. Insbesondere zu Johann Heinrich Voß entstand, nach dessen anfäng­ licher Zurückhaltung, ein freundschaftliches Verhältnis.12 Nach Gotha zurückgekehrt, nahm Ewald seine Tätigkeit als Advokat wieder auf. Er konnte nun in einem Kreis gleichaltriger und gleichgesinnter Männer wirken, der nicht nur den geistigen Austausch über alle aktuellen Probleme der Gesellschaft, der Wissenschaften und der Künste pflegte, sondern auch durch verschiedene publizistische Aktivitäten die aufklärende Kommunikation zu befördern suchte. Hier nun die Fortsetzung des »Lebensberichts« von Ewald zu dieser für ihn schwierigen Periode seines Lebens: Nach 1 1/2 Jahren verließ ich Jena wieder, und nahm meinen Aufenthalt zu Sonneborn bey meiner Mutter, weil ich genug abgerissen war und außer meinem ältern B r u d e r, der als Hofjunker beym Leibregiment stand, niemand in der Stadt mich in meinem geldlosen Zustand aufgenommen hätte. Ich hielt mich ongefehr 2 Jahre daselbst auf; studierte für mich, vergoß zuweilen meine Wehmuth in Versen und gab mich auch mit der Besorgung der Länder meines Stiefvaters ab. Da mir aber diese Lebensart in die 10 Friedrich Justus Riedel (geb. 10. Juli 1742 in Vieselbach / Erfurt; gest. 2. März 1785 in Wien), Studium der Philosophie und Rechtswissenschaft in Jena, Leipzig, Halle, lehrte als Magister Philosophie in Jena, seit 1768 als Professor an der Universität Erfurt. Seit 1772 Publizist in Wien. Literarhistorische Schriften; Theorie der schönen Künste und Wissenschaften (1767). 11 Russisches Staatliches Militärarchiv, Sonderarchiv Moskau 1412-1-5432, Schwedenkiste Bd. X, Dokument Nr. 165, S. 219–221. Hermann Schüttler hat aus diesem Band der Dokumentensammlung der Illuminaten, die zuerst in Stockholm aufbewahrt wurde (daher: Schwedenkiste), die Darlegungen von Ewald erfasst. Dieser Band X befindet sich jetzt im genannten Sonderarchiv in Moskau. Vgl. Renate Endler, Band X der Schwedenkisten aufgefunden, in: Quatuor coronati Jahrbuch 31 (1994), S. 189–197. Der Revers von Ewald als Illuminat (27.8.1783) ist in dem Beitrag unter der Nr. 36 aufgeführt. 12 Vgl. Berbig, Schack Hermann Ewald, S. 92–102.

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Länge immer beschwerlicher wurde, so entschloß ich mich auf gut Glück in die Stadt zu wandern, nahm mir die nöthigen Kleidungsstücke auf Credit und meldete mich bey der herzogl. Regierung zum Examen. Der seel. Geh. Regierungsrath G e n s e l , der mich examinierte, bezeigte mir seinen Beyfall, und nachdem ich auch die gewöhnlichen Specimina ausgearbeitet hatte, ward ich im April 1769 Advokat. Da ich schlechterdings ohne alle Unterstützung war, und die Praxis, wie dieß bey jedem angehenden Advokaten der Fall ist, auch nur äußerst wenig abwarf, so sehnte ich mich um so mehr nach einer Verbesserung meiner Umstände, da ich dem Kaufmann die ausgenommenen Waaren zu bezahlen und gar oft nichts als das liebe trockne Brot zur Nahrung hatte. Es zeigte sich auch bald eine Gelegenheit zu meiner Rettung. Die verwitwete Frau Bürgermeisterin S c h u l t h e ß ließ mir durch den jetzigen Rath und Amtmann B r ü c k n e r zu Ichters­hausen, der mich ihr empfohlen hatte, die Hofmeisterstelle bey ihrem Sohn, dem gegenwärtigen hiesigen Artillerie Lieutenant Schultheß, antragen. Ich nahm sie an, ob ich gleich nachmals einsah, daß es besser gewesen wäre, ich hätte meine vorige Laufbahn nicht verlassen. Denn ob ich gleich den Vortheil hatte, mich von meinen Schulden zu befreyen und noch 2 1/2 Jahre zu Jena und Göttingen zu studieren, wohin ich den jungen Schulthes, nach Verlust eines Jahres begleitete, und angenehme und vertraute Bekanntschaften mit den Herren B o j e, B ü r g e r, V o ß, H ö l t y, M i l l e r, H a h n und andren damals zu Göttingen studierenden Dichtern und schönen Geistern zu machen, so ward ich doch nach meiner Zurückkunft fast wieder in der nemlichen Lage, in der ich mich zuvor befunden hatte. Ich fing von neuem an zu praktizieren, aber mit wenigem Erfolg, da ich während meiner Abwesenheit unbekannt worden war. Um jedoch etwas zu verdienen, arbeitete ich bey dem Hofadvokaten B u r k a r d, für den ich, da er eine starke Praxis hatte, Termine abwartete, und alle Arten juristischer Aufsätze verfertigte, auch machte ich seinen Actuarium in den adelichen Gerichten zu Ettenhaußen und Hastrungsfeld und zu Neudietendorf. Von allem was ich ausarbeitete erhielt ich den 4ten Theil der Gebühren. Während dieser Zeit verfertigte ich in müßigen Stunden die Lieder nach dem Lateinischen des M. A. Flaminius,13 nebst einem Anhange von andren Gedichten, die ich drucken ließ, und die nicht ohne Beyfall aufgenommen worden sind. Einer Sammlung früherer und unreifer Gedichte, unter dem Titel Oden,14 könnte [sic] einer regellosen Einbildungskraft und rauher Versifikation, zu deren Bekanntmachung mich die Noth zwang, wünschte ich gar nicht erwähnen zu dürfen. R a m l e r hat das beste Stück daraus, der Eifersüchtige, mit einigen Verbesserungen in seine lyrische Blumenlese15 aufgenommen. Das Schicksal rufte mich jetzt zum zweytenmal von meiner juristischen Laufbahn ab, und ich folgte diesem Rufe um so williger, da mir der Stand eines Advokaten desto verhaßter wurde, je mehr ich ihn kennen lernte. Wenn man etwas dabey erwerben will, muß man die Processe verlängern und die Stimme der Menschlichkeit gegen arme Klienten unterdrücken. Man war mit meinen Ausarbeitungen zufrieden, und 13 Schack Hermann Ewald, Lieder nach dem Lateinischen des Markus Antonius Flaminius, Gotha 1775. 14 Schack Hermann Ewald, Oden, Leipzig und Gotha 1772. 15 Carl Wilhelm Ramler, Lyrische Blumenlese, Leipzig 1774.

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wie ich nach der Zeit erfuhr, soll des seel. H.n Kanzlers v o n S t u d n i t z Excell. einmal geäußert haben, daß ich, wenn ich bey der Advokatur geblieben wäre, einmal bey der herzogl. Regierungs Kanzley angestellt werden könne. Aber, wie gesagt, mein Schicksal wollte es nicht so. Der Herr Oberhofmarschall von Studnitz suchte einen Vorleser. Ich wurde Ihnen durch den seel. H. Vice-Präsidenten K l ü p f e l empfohlen. Sr. Excell. ließ mich mehrmal zu sich rufen, mit sich speißen, nahmen mich mit aufs Land, und trugen mir zuletzt obige Stelle an. Ich ging den Antrag ein, und erhielt freyen Tisch Wohnung und 40 Rthlr. Ich blieb ein Jahr an diesem Platz. Ich mußte oft ganze Nächte durch lesen, mit der Zeit auch die Küchzettel revidiren und eintragen, und eine Art von Haushofmeister machen. Uebrigens war ich sehr eingeschränkt. Meiner Neigung zur Literatur konnte ich keine Nahrung geben; auch war ich zu sehr an eine freye und ungebundne Lebensart gewöhnt, als daß ich auf meiner einsamen Stube nicht hätte mißmüthig und hypochondrisch werden sollen. Sr. Excellenz konnte, nach Ihrer Scharfsichtigkeit, mein Zustand nicht verborgen bleiben. Sie äußerten, daß ich an diesem Platze zu sehr genirt wäre, daß ich Ihre Geschäfte ungern verrichtete, und daß sie mich nicht länger halten wollten. Ich hatte also meinen Abschied und nahm ihn mit Thränen in den Augen, da ich mir nun wieder selbst überlassen war. Doch waren Sie so gnädig, noch 20 Rthl. für mich zu bezahlen, und zuvor noch mit einem Kleide von englischem Tuche zu beschenken. Ueberhaupt hat sich dieser Herr sehr gnädig gegen mich bezeigt, und ich habe gefehlt, daß ich nicht über meine Neigungen Herr werden konnte. Doch muß ich auch, um der Wahrheit willen, sagen, daß ich mir vielleicht mehr Gewalt angethan haben würde, wenn Sie nicht einstens bey einer Unterredung mit mir geäußert hätten, daß ich mir keine Hoffnung zu einer andren Befördrung durch Ihre Vermittlung machen sollte. Diese Worte steckten mir seitdem beständig wie Stacheln im Herzen. Daß Sie wenigstens mit mir nicht ganz unzufrieden gewesen sind, suche ich mich daraus zu überreden, daß Sie mich noch zuweilen wieder haben zu Sich kommen lassen, daß ich während Ihrer letzten schweren Krankheit wieder mein altes Amt eines Vorlesers verwalten und mehrere Nächte bey Ihnen wachen durfte, und daß ich diesem wahrhaft braven Herrn, unter Vermittlung der Frau Oberhofmeisterin B u c h w a l d Excellenz, dennoch meinen gegenwärtigen glücklichen Zustand, wofür ich Ihm mit ganzem Herzen ewig ergeben seyn werde, schuldig bin. Während meines Aufenthalts bey Ihnen übersetzte ich C h a m b e r s orientalische Gartenkunst aus dem Englischen.16

Es sind wohl die hier dargelegten Lebenserfahrungen, die Ewald – neben philosophischen und wissenschaftlichen Studien – zu seinen anthropologischen Reflexionen anregten (vgl. IV.1.1.). Sie förderten sein Bestreben, den Menschen in seiner individuellen Befindlichkeit als rationales und emotionales Wesen zu erfassen (vgl. II.4.). Letztlich beabsichtigte er, daraus Erklärungen und Schlussfolgerungen für die vernunftgeleitete Gestaltung der Existenz des Menschen zu gewinnen.

16 Russisches Staatliches Militärarchiv, Sonderarchiv Moskau 1412-1-5432, S. 221–223.

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2. Beginn der publizistischen Aktivitäten von Ewald Es fand sich in Gotha ein Kreis von Intellektuellen, der sich vornahm, ein Journal herauszugeben, das über aktuelle wissenschaftliche und literarische Erzeugnisse rezensorisch informierte, diese anzeigte und aus der wissenschaftlichen Welt berichtete. Diese Gemeinschaft gründete die »Gothaische gelehrte Zeitungen« (GgZ), die im Verlag von Carl Wilhelm Ettinger (1736–1804) von 1774 bis zu dessen Tod erschienen. Über diesen Vorgang berichtete der Freimaurer und zeitweilige Illuminat Heinrich August Ottocar Reichard (1751–1828), der am gotha­ ischen Hof als Theaterintendant, Bibliothekar (1775), Kriegskommissär (1799) und Herausgeber von Zeitschriften (u. a. »Revolutions=Almanach« 1793–1804) wirkte.17 Obwohl es Bedenken gab, eine gelehrte Zeitschrift in einer Stadt herauszugeben, die keine Universität in ihren Mauern beherbergte, war der genannte Kreis von Intellektuellen infolge des Aufstiegs von Gotha unter Herzog Ernst II. zu einem Zentrum aufgeklärten und wissenschaftlichen Denkens und kultureller Innovation (Conrad Ekhof: 1774–1778 Leiter des Hoftheaters) so selbstbewusst, dieses Unternehmen zu wagen.18 Begünstigt wurde das Vorhaben durch die zentrale Lage Gothas innerhalb der deutschen Länder sowie die durch diese Stadt verlaufende Verkehrsader zwischen den westlichen und östlichen Gebieten.19 Reichard erinnerte sich: Auf mein dringendes Zureden entschloß sich Ettinger zum Verlage, und der Gothaische Lichtenberg, der Pagenhofmeister Johann Wilhelm Dumpf, ehemaliger Herausgeber der »Hamburgischen Neuen Zeitung«, der Hofrat Schack Hermann Ewald und ich – von denen, mich ausgenommen, jetzt keiner mehr lebt; wir legten unter Klüpfels Aegide Hand an’s Werk. Wenigstens ein Drittel der ersten vier Jahrgänge ist von mir verfaßt; ich darf bekennen, daß ich meine Arbeit sehr strenge nahm. 20 17 Schaubs, Heinrich August Ottocar Reichard, S. 149–169. 18 Werner Greiling, Lesen, Schreiben, Publizieren. Anmerkungen zur Kommunikationsgeschichte um 1800, in: Ders. / Franziska Schulz (Hrsg.), Vom Autor zum Publikum. Kommunikation und Ideenzirkulation um 1800, Bremen 2010, S. 17–36; Katharina Middell, Eine Verlagslandschaft um 1800: Buchhändler und Verleger in Thüringen, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 11 (2009), S. 25–59. 19 ALZ, Nr. 31 vom 28. Januar 1801, Sp. 247. In der Rezension zu der von Rudolph Zacharias Becker herausgebenen »Nationalzeitung der Deutschen« (1798–1800) wurde einleitend festgestellt: »Der gute Fortgang dieses Instituts, dessen beiden ersten Jahrgängen in Nr. 74. März 6. 1799 der A. L. Z. mit verdientem Lobe angezeigt wurde, bewahrt die hundertjährige Erfahrung, dass Thüringen und insbesondere Gotha eine sehr wohlgelegene Stadt für Zeitungs-Industrie ist. Ihre Lage in der Nachbarschaft vieler andern Städte, an einer Hauptstraße zwischen Frankfurt und Leipzig, und in der Mitte von Deutschland« erkläre, dass auch aktuell die gothaischen Zeitungen zugleich bestehen können. 20 [Heinrich August Ottocar Reichard] H. A. O. Reichard. Seine Selbstbiographie, über-

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Die Mitwirkung Ewalds an der Gründung der GgZ sowie dessen Tätigkeit als deren Redakteur ab 177821 bestätigte Friedrich Schlichtegroll (1765–1822), der nach dem Besuch des Gothaer Gymnasiums in Jena und Göttingen studierte und ab 1787 am gothaischen Gymnasium unterrichtete (seit 1807 Direktor der Bayrischen Akademie der Wissenschaften in München). Im Nekrolog für Johann Wilhelm Dumpf (1729–1801), Pagenhofmeister in Gotha, schrieb er: Die Idee zur Herausgabe der Gothaischen gelehrten Zeitung entstand in einer Gesellschaft von Literaturfreunden, die sich täglich in der Ettingerischen Buchhandlung einfanden. Der erwähnte Vice-Präs. K l ö p f e l [Klüpfel – H. S.] entwarf gleichsfalls dazu den Plan, nach welchem blos Auszüge aus den Büchern gemacht werden sollten, von welcher Einrichtung man aber bald aus triftigen Gründen abging. Dem Pagenhofm. D u m p f, den man bereits als Redacteur einer berühmten Zeitung kannte, wurde die Redaction übertragen, in welcher ihm einige Jahre darauf der Gothaische Hofsecretär E w a l d folgte.22

Weiterhin verwies Schlichtegroll auf das von Ewald herausgegebene »Magazin der Künste und Wissenschaften« (2 Bde., 1776/77), in welchem die Vorlesungen der Mitglieder der in den siebziger Jahren des vorigen Jahrh. in Gotha existirenden gemeinnützigen Gesellschaft gesammelt wurden [...]. Zugleich gab diese Gesellschaft ein Wochenblatt für den gemeinen Mann heraus [...].23

Zu den literarischen und publizistischen Aktivitäten sowie zu seinen Über­ setzungen teilte Ewald mit: Nun suchte ich meinen Unterhalt durch schriftstellerische Arbeiten zu verdienen, indem ich neben der Besorgung der hiesigen gelehrten Zeitungen, die mir Herr E t t i n g e r 24 übertrug, theils eigene Sachen theils Uebersetzungen aus dem Englischen und Französischen in Druck gab. Das erste, was ich, in Gesellschaft mit Herrn

21 22 23 24

arbeitet und hrsg. von Hermann Uhde, Stuttgart 1877, S. 39. Oberkonsistorialrat Emanuel Christoph Klüpfel war der Initiator des Gothaischen Hof=Kalenders oder Almanac de Gotha. Schaubs, Erziehungsanstalt in Schnepfenthal, S. 360. Nekrolog der Teutschen für das neunzehnte Jahrhundert, hrsg. von Friedrich Schlichtegroll, Bd. 1, Gotha 1802, S. 184 f. Schlichtegroll gab seit 1791 den Nekrolog jährlich in Gotha heraus, ab 1802 unter dem hier angegebenen Titel. Ebenda, S. 184. Carl Wilhelm Ettinger, geb. 5. Juni 1742 in Eisenach; gest. 14. Juni 1804 in Gotha. Seit 1776 Verlag in Gotha (von Johann Christian Dieterich übernommen): Wissenschaftliche Literatur, Belletristik, Zeitschriften. Vgl. Christoph Köhler, »Dass keiner was unternehme, daß bloß ihm alle Vortheile, den andern aber Schaden bringt.« Carl Wilhelm Ettingers Verlagsunternehmen in Gotha, in: Werner Greiling / Siegfried Seifert (Hrsg.), »Der entfesselte Markt«. Verleger und Verlagsbuchhandel im thüringisch-sächsischen Kulturraum um 1800, Leipzig 2004, S. 107–128.

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Professor E i c h h o r n 25 zu Jena, damaligen Rector zu Ohrdruff, unternahm, war das Gothaische Magazin der Künste und Wissenschaften, das aber mit den 4 ersten Stücken seine Endschaft erreichte, weil ich wenig Vortheil und viel Arbeit davon hatte. Die übrigen Arbeiten sind folgende: 1. B e a u m a r c h a i s Barbier von Sevilla, im komischen Theater der Franzosen. 2. Heyrath aus Liebe, eine Operette, nach dem Englischen des nußbraunen Mädchens des P r i o r. 3. Des Abts C o y e r Briefe über England. 4. Die doppelte Verkleidung, eine Operette, aus dem Franz. 5. F a l k n e r s Beschreibung von Patagonien aus dem Engl. 6. A d a i r s Geschichte der Nordamerikanischen Indianer, a. d. Engl. 7. Mytho-Hermetisches Archiv, 1stes St. a. d. Franz. 8. P h i l i d o r s praktische Anweisung zum Schachspiel, a. d. Franz. 9. M o h e a u Untersuchungen und Betrachtungen über die Bevölkerung von Frankreich, a. d. Franz. mit Anmerkungen. 10. Ueber das menschliche Herz, ein Beytrag zur Charakteristik der Menschheit. 11. Natürliche Religion, nach Ursprung, Beschaffenheit und Schicksalen. 12. Ueber die Cultur des Verstands. 13. Ueber die beste Monarchie, Aristokratie und Demokratie. 14. Ueber die heil. Schrift, Judenthum und höchste Gewalt in geistl. Dingen. Alle 3 aus dem Lateinischen des S p i n o z a übersetzt – andrer kleinerer Aufsätze und Gedichte in periodischen Schriften und Almanachen, die mir nicht alle beyfallen, nicht zu gedenken.26

Ab 1778 gehörte Ewald der Freimaurerloge »Zum Rautenkranz« an. Seit dem 27. August 1783 war er unter dem Namen »Cassiodor« Mitglied des Bundes der Illuminaten.27 Max Berbig bestätigte die Aktivitäten Ewalds, die wesentlich von seiner Mitarbeit in zwei Gesellschaften der Stadt ausgegangen seien: Die gothaische gemeinnützige Gesellschaft und die Freimaurerloge. Die erste war im Jahre 1777 auf Anregung von Lichtenberg entstanden und hatte anfangs 14, später 27 Mitglieder. Ihre Aufgabe war die Erweiterung eigener Kenntnis unter den Mitgliedern durch Vorlesungen und Unterredungen über wissenschaftliche Gegenstände und die Ausbreitung nützlicher Kenntnisse unter dem gemeinen Mann durch ein gemeinnützliches Wochenblatt und Aussetzung von Prämien. Das Gothaische gemeinnützliche Wochenblatt erschien vom 1. Juli 1779 bis 21. Juni 1783 und war ebenfalls hauptsächlich Ewalds Werk. Die Mitglieder der Gesellschaft versammelten sich an jedem ersten Dienstag eines Monats nachmittags von 4–6 Uhr in einem Zimmer der Ettingerschen Buchhandlung, dem damaligen neuen Rathause oder der jetztigen Innungshalle, [...]. Die Freimaurerloge, welche damals in Gotha in ihrer ersten Blüte stand, fesselte Ewald für sein ganzes Leben, und lange Zeit hat er in ihr den Hammer geführt. Die Mehrzahl seiner späteren Dichtungen waren Freimaurerlieder.28

25 Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827), Studium von 1770 bis 1774 in Göttingen (Theologie, Philologie), 1774 Rektor am Gymnasium in Ohrdruf, 1775 Prof. für orientalische Sprachen in Jena, 1788 Prof. der Philosophie in Göttingen, förderte die historisch-kritische Bibelwissenschaft. 26 Russisches Staatliches Militärarchiv / Sonderarchiv Moskau 1412-1-5432, S. 223–224. 27 Schaubs, Erziehungsanstalt in Schnepfenthal, S. 362 f. 28 Berbig, Schack Herman Ewald, S. 104.

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Mit den genannten Aktivitäten schloss auch Ewald seinen »Lebensbericht«: Als im Jahr 1777 der Plan zu einer gemeinnützlichen P r i v a t g e s e l l s c h a f t entworfen und dieselbe errichtet wurde, erhielt ich dabey das Geschäft eines Secretärs. Unter der Direction der beyden ersten vorsitzenden Mitglieder, unsers erleuchteten C h r y s o s t o m u s 29 und H. Legationsrath L i c h t e n b e r g, half ich die Gesetze der Gesellschaft nach dem Muster der Londner Societät entwerfen; verfertigte den Plan zum gemeinnützlichen Wochenblatt, dessen Besorgung und Herausgabe mir von der Gesellschaft übertragen wurde. Die Trennung der Gesellschaft erfolgte im Jahre 1783. Da der hochwürdige Bruder von H a r d e n b e r g eben so wie unser Superior Chrysostomus, ein Mitglied dieser Gesellschaft war, so gab dieselbe vermutlich Veranlassung [,] daß ich im Jahr 1778 den 31ten Jan. das Glück hatte, zum Freymaurer Lehrling in der ehemaligen Loge zum Rautenkranz aufgenommen zu werden. Im Jahr 1780 erhielt ich den Meistergrad und den 30sten Nov. das Amt des Secretärs, welches ich noch jetzt verwalte. – Mit dem Anfange des 1783sten Jahres erhielt ich durch die Gnade unsers durchlauchtigsten Herzog die Registratorstelle bey Höchstdero Oberhofmarschall Amt und bey einer im folgenden Jahre sich ereigneten Vacanz ward ich zum Secretär ernannt, und versehe seit Jahr und Tag bey Kränklichkeit des H o f s e c r e t a i r e dessen Stelle. Mit Tränen in den Augen sehe ich in fast 40 kummervolle Jahre zurück, und danke mit unaussprechlichem [...], der mein Schicksal geändert hat und mich ruhiger in die Zukunft sehen läßt. – In demselben Jahre heyrathete ich die jüngste T o c h t e r des gewesenen Herzogl. Baumeisters W e i d n e r mit der ich glücklich und zufrieden lebe. Die erste aus unsrer Ehe entsproßene Frucht ist ein Knabe. Was noch künftig ist, nehm’ ich, wie es kommen mag, willig aus der Hand des Allmächtigen. Cassiodor. Syracus den 24. Ader 1155 [Gotha, 24. Dezember 1785].30

Aus der Anzahl seiner Aktivitäten, über die Ewald berichtete, ragt zweifellos seine Arbeit als Redakteur der GgZ, die er gewissenhaft und kontinuierlich geleistet hat, heraus. Über zwei Jahrzehnte nahm er sie verantwortungsvoll wahr. Sie stellt seine bedeutendste publizistische Leistung hinsichtlich ihrer kommunikativen Wirkung für die Intellektuellen in Gotha und deren überregionale Ausstrahlung dar. Er hatte wesentlichen Anteil daran, dass in den Rezensionen wissenschaftlich begründete Sachlichkeit, unparteiische Beurteilung der Darstellungen und Meinungen, prinzipielle und faire Polemik sowie Anstand in Stil und Wortwahl erreicht wurden. Dieses Bestreben des Verlegers und des Redakteurs, ein hohes Qualitätsniveau zu erreichen, sicherte den GgZ in dem rasch wachsenden Markt der Zeitschriften einen ehrenvollen Platz. Die Solidität des Unternehmens hat August Klebe in seiner Beschreibung der Gothaer Verhältnisse besonders hervorgehoben: 29 Georg Gottlieb Leberecht von Hardenberg (1732–1822), Geh. Rat, Hofmarschall in Altenburg (Herzogtum Gotha-Altenburg), Chrysostomus = Illuminatenname von Georg von Helmolt (1728–1805), Großmeister; Schloßhauptmann (Friedenstein). 30 Russisches Staatliches Militärarchiv / Sonderarchiv Moskau 1412-1-5432, S. 224–225.

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D i e g o t h a i s c h e g e l e h r t e Z e i t u n g. Sie erscheint wöchentlich zweymal, Mittwochs und Sonnabends in der E t t i n g e r s c h e n B u c h h a n d l u n g, und jedesmal ein Bogen. Mehrere hiesige und auswärtige Gelehrte sind Mitarbeiter an derselben. Sie hat sich von jeher durch einen anständigen freymüthigen Ton ausgezeichnet, und die in ihr vorkommenden Recensionen sind meistens eben so gründlich als unpartheyisch, ein Grund, warum sie sich seit mehrern Jahren neben ihren zahllosen Schwestern erhalten hat, die sie fast alle überlebte. (Sie entstand im Jahr 1774). Außer den Recensionen enthält sie auch mancherley andere gelehrte Nachrichten. Man kann ihr nicht absprechen, daß sie, nebst der deutschen Bibliothek und einigen andern guten kritischen Blättern, viel zur Verbreitung der Aufklärung und des Geschmacks in der deutschen Literatur beygetragen hat. Die Austheilung der Bücher zur Recension besorgt der Herr Commißionsrath Ettinger selbst. Die Aufsicht über den Druck, die Eintheilung der Recensionen für die jedesmalige Zeitung und die Sorge für den anständigen Inhalt dieses gelehrten Blattes ist dem Hrn. Secret. Ewald überlassen. Seit 1786 wurde mit dieser Zeitung ein besonderes Blatt, die ausländische Literatur enthaltend, ausgegeben. Dies mußte mit dem Anfang des Jahrs 1795 aufhören, weil der Krieg der Einsendung der Bücher Hindernisse in den Weg legte. Wahrscheinlich wird es nach dem Frieden wieder erscheinen.31

Hervorzuheben ist, dass die GgZ gleichsam einen Kristallisationskern für die an Wissenschaft, Literatur und Kunst interessierten Kreise in Gotha bildete. Seine Aufzählung der gebildeten Persönlichkeiten schloss Klebe mit dem Hinweis, dass eine große Anzahl der hier aufgeführten Gelehrten [als] Mitarbeiter an der gothaischen gelehrten Zeitung

tätig sind.32

3. Der weitere Lebensweg von Ewald Als Ewald am 3. Januar 1783 die Stelle eines Registrators am Hofmarschallamt antreten konnte, war für ihn, wie er selbst zum Ausdruck brachte, ein existentielles Problem gelöst. Nun konnte er sich trotz aller beruflichen Belastung zum einen gezielter seinen geistigen Interessen zuwenden. Zum anderen war es ihm möglich, am 30. September 1783 Josina Weidner, die Tochter des Gothaer Baumeisters, zu heiraten.33 Am 20. September 1784 wurde der erste Sohn geboren, der späterhin 31 Klebe, Gotha und die umliegende Gegend, S. 180 f. 32 Ebenda, S. 207. 33 Vgl. Berbig, Schack Hermann Ewald, S. 106 f. Berbig berichtet von poetischen Glückwünschen für die Neuvermählten, die von Gothaer Persönlichkeiten unterzeichnet wurden:

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als Kriminalrat in Gotha wirkte. Am 23. Dezember 1786 wurde eine Tochter geboren, die jedoch bald starb. Am 23. Februar 1791 wurde der zweite Sohn, Wilhelm Heinrich, geboren, der nach dem Jurastudium in Jena 1811 in den gothaischen Staatsdienst trat und ab 1842 Direktor der Kunstsammlungen auf Schloss Friedenstein war. Ewald stieg im Laufe der Zeit zu höheren Stufen im Hofmarschallamt auf: Am 12. November 1784 wurde er Hofmarschallamts­ sekretär, am 22. Oktober 1798 Hofsekretär, am 7. Oktober 1803 Rat34 und am 21. Dezember 1812 Hofrat. Am 5. Mai 1822 starb Ewald in Gotha. Mehrere Hinweise und Episoden in Reichards »Selbstbiographie« belegen, dass Ewald bis zu seinem Tode zum engeren Bekanntenkreis von Reichard und damit zur einflussreichen Gemeinschaft von Intellektuellen in Gotha gehörte. Als Reichard eines verstorbenen Freundes und Amtsvorgängers gedachte, fuhr er fort: Wenige Jahre nur, und mit anderen folgte diesem unvergeßlichen Freunde mein Universitätsgefährte Ewald, der Denker, der Philosoph, der Mitstifter der »Gothaischen Gelehrten Zeitung«, der Sänger jenes schönen maurerischen Bewillkommnungsliedes an die Preußen, dessen ich oben gedachte. Ich stand mit der Loge an seinem Grabe [...].35

Ewalds langjähriger Freund Friedrich Jacobs (1764–1847), der bedeutende Philologe, Oberbibliothekar und Leiter des Münzkabinetts in Gotha (freundschaftlich verbunden mit Christian Gottfried Schütz in Jena / Halle), widmete ihm folgendes Distichon, das neben den Personalien seinen Grabstein zierte: Harmlos, reinen Gemüts, durchforscht er die Bahnen der Weisheit; Heiter und dürstend nach Licht, stieg er zum Grabe hinab.36

Ewald hatte in den achtziger Jahren zu Gelehrten in Weimar (Johann Gottfried Herder) und Jena (Carl Christian Erhard Schmid, Karl Leonhard Reinhold, Friedrich Immanuel Niethammer) gute Kontakte bzw. kollegiale Beziehungen. Nicht zuletzt zu den Herausgebern der Zeitschriften »Der Teutsche Merkur«, Christoph Martin Wieland und mit dem ihm verbundenen Friedrich Justin Bertuch Pfarrer Friedrich Münter (später Bischof von Seeland / Dänemark), Pagenhofmeister Johann Wilhelm Dumpf, Arzt Georg Dorl, Buchhändler Carl Wilhelm Ettinger, Professor Johann Georg August Galletti, Bibliothekar Julius Wilhelm Hamberger, Professor Johann Caspar Manso, Buchhändler Justus Perthes, Pfarrer Jacob Friedrich Schmidt. 34 Vgl. Thüringisches Staatsarchiv Gotha, Bestand: Diener, Nr. 571. Herzogliches Reskript vom 7. Oktober 1803: »Da wir uns in Rücksicht der von HofSecretarius Schack Hermann Ewald, uns geleisteten vieljährigen treuen Dienste bewogen gesehen haben, demselben das Prädicat eines Raths beyzulegen, so ist ihm zu seiner diesfallsigen Legitimation« dieses Schreiben auszuhändigen. 35 Reichard, Seine Selbstbiographie, S. 471. Ewald hatte 1813 für nach Frankreich ziehende preußische Offiziere, die als Brüder die Gothaer Loge besuchten, ein Begrüßungsgedicht verfasst. 36 Berbig, Schack Hermann Ewald, S. 110.

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wie auch zu Christian Gottfried Schütz, dem ersten Redakteur der ALZ, bestanden produktive und korrekte Beziehungen. Es ist kein schädigendes Konkurrenzverhalten bekannt. So hat Ewald Beiträge für Wielands »Teutschen Merkur« geliefert, und Schütz hat Ewalds Schriften in der ALZ rezensieren lassen. Da Ewald nach 1804 verstärkt für die im gleichen Jahr nach Halle übergewechselte ALZ rezensierte, widmete die Redaktion der Zeitschrift seinem Wirken Worte ehrenden Gedenkens. Sie tragen die Handschrift von Schütz. In der Juli-Ausgabe 1822 der ALZ heißt es: Am 5ten May starb zu Gotha der Herzogl. S. Goth. Hofrath Schack Hermann Ewald, ein durch Umfang und Tiefe an Kenntnissen, so wie durch Rechtschaffenheit ausgezeichneter Gelehrter, Uebersetzer des Spinoza, und Vf. mehrerer philosophischer Werke, im 78sten J. s. A. Noch bis in den letzten Jahren war er ein fleißiger Mitarbeiter an unserer Allg. Lit. Zeit., insonderheit im Fache Philosophie und Freymaurerey.37

4. Zur Authentizität von Ewald als Anhänger der kritischen Philosophie Kants Aus Ewalds frühen Aktivitäten herleiten zu können, dass er Rezipient der Kant­ ischen Revolution der Denkungsart war, stößt auf die Schwierigkeit, dass Rezensentenlisten der GgZ oder andere Materialien der redaktionellen Arbeit der Zeitschrift bisher nicht aufgefunden wurden bzw. nicht mehr vorhanden sind (Brand im Stadtarchiv von Gotha in der Mitte des 19. Jahrhunderts). Die Zuordnung von Autoren zu Rezensionen kann nur aus Briefen und anderweitigen Materialien der Kommunikation sowie aus Hinweisen in der Literatur vorgenommen werden. Zur Identifizierung von Beitrag / Schrift und Autor bleibt oft nur der indirekte Nachweis, d. h. eine Form des Indizienbeweises. Jedoch liegt uns von Ewald in Gestalt des illuminatischen Dokuments »Schilderung meines Charakters« aus dem Jahr 1785 sein Bekenntnis zum philosophischen Denken im allgemeinen und zur Philosophie von Kant und Spinoza im besonderen vor. Es offenbart zudem sowohl Grundzüge seines intellektuellen Habitus’ als auch seiner individuellen und sozialen Lebensgestaltung. Diese Selbstbeobachtung bzw. Reflexion von Ewald enthält die Grundzüge seines philosophischen Denkens, wie sie in den Schriften von 1790 bis 1819 zum Ausdruck kommen:

37 ALZ, Nr. 165, Juli 1822, Sp. 447.

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Schilderung meines Charakters. Ich bin von etwas mehr als mittlerer Größe, und weder zu fett noch zu mager. Der Bau meiner Glieder würde vielleicht regelmäßig genannt werden können, wenn mein Halß nicht durch aufgeschwollne Drüsen verunstaltet wäre. Meine Haare sind blond – gewesen, sie fiengen schon seit 10 Jahren an bleich zu werden. Mein Gesicht ist roth und stark von Blattern heimgesucht; mein Gang ist schnell und dabey etwa scharf oder schwer. An Talenten habe ich weder von der Natur, noch durch Erziehung etwas Vorzügliches erhalten. Witz war nie meine Sache; desto mehr kultivirte ich Einbildungs- und Empfindungskraft in meinen jüngeren Jahren. So wie mein Blut kälter wurde, verlohr sich mein Hang zur Dichtkunst und zu Schwärmereyen, und die Liebe zur Philosophie trat an ihre Stelle; die sinnlichen Ideen mußten deutlichen Begriffen weichen. Es wird mir jetzt schwer einen poetischen Vers zu machen, weil sich der reine Verstand immer mit ins Spiel mischt und mich an dem blos sinnlichen Anschauen verhindert. Gegenwärtig finde ich an Gegenständen der Philosophie und Religion Gefallen. Diesen Hang hat in mir die Lesung der neuern Kant­ ischen Schriften und des Spinoza gefestiget. – Auf die Schönheit des Ausdrucks bin ich vielleich weniger bedacht, als erforderlich ist, um an sich trocknen Wahrheiten Eingang zu verschaffen. Aber ich war nie gemacht, um zu glänzen, und mag auch nicht scheinen, was ich nicht seyn kann. Ich schätze und strebe nach Wahrheit und Deutlichkeit bey für die Menschheit wichtigen und interessanten Materien. Uebrigens hat mir der Urheber meines Daseyns das zu gut gegeben, daß ich mich noch so ziemlich in mit meinen wenigen Fähigkeiten und Neigungen, heterogenen Lagen und Geschäften finden kann. Ich weiß aus Erfahrung, daß in mir die Keime zu allen Lastern, Thorheiten und Schwachheiten liegen. Besonders bin ich jederzeit sehr heftig gewesen. In meiner Jugend war ich sehr zum Zorn und zur Rache geneigt. Schicksale und Ueberlegung haben aber das wilde Feuer gar sehr gedämpft. In der Liebe habe ich mich jederzeit sehr gemäßiget; doch kann ich mich nicht ganz rein nennen, dazumal eine Frucht unregelmäßiger Liebe gegen mich zeugen würde. Die Lesung von Tissots Buch von der Onanie38 hat schon in frühern Jahren einen starken und bleibenden Eindruck auf mich gemacht, so daß ich diesem Laster, mit dem ich in dem hiesigen Cönobium zuerst bekannt wurde, bald und zum großen Vortheil für meine Gesundheit entsagte. Neben jener Heftigkeit, war ich in meinen frühen Jahren sehr von mir selbst eingenommen und eitel; allmälig erlangte Selbsterkenntniß hat aber, wie ich mit Ueberzeugung sagen kann, diesen Fehler so verbessert, daß ich mich hüten muß, in den gegenseitigen Fehler, Geringschätzung und Vernachlässigung meiner selbst, zu fallen. Die Stimme der Eigenliebe ist so kleinlaut geworden, daß sie sich bey Anlässen, die sie sonst in lautes Geschrey versetzte, nur noch ganz leise hören läßt. Ich muß auf der Huth seyn, sie nicht ganz zu ersticken, und nicht in eine nachtheilige Gleichgültigkeit zu verfallen; und das vermögen oft wiederholte Streiche des Schicksals. Ich habe mir es fast bis in mein 40stes Jahr müssen sauer werden lassen, meinen Unterhalt zu erwerben. Ich kann nicht leugnen, auch für mein Vergnügen mitgearbeitet zu 38 Samuel A. D. Tissot, Von der Onanie, oder Abhandlung über die Krankheiten, die von der Selbstbefleckung herrühren: Nach der dritten, beträchtlich vermehrten Ausgabe aus dem Französischen übersetzt, Hamburg 1767.

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haben. Von meinem 18ten bis ins 30ste Jahr bin ich sehr hypochondrisch gewesen, ich suchte also Zerstreuungen, besonders auf Bällen und Redouten, oft zum Schaden meiner Oekonomie, und fand sie doch nicht immer; ich blieb immer bey mir selbst, und mit mir selbst beschäftigt. Fügte es mein Unstern, daß ich mich heftig verliebte, denn ich bin jederzeit ein Sklav von schönen Gesichtern gewesen, so war ich doppelt und zehnfach unglücklich, denn ich war gewöhnlich von Gegenständen gefesselt, deren Besitz für mich unmöglich war. Da ich selbst von meiner Jugend an ein Gegenstand der Wohltätigkeit gewesen bin, so habe ich selbst wenig Gebrauch von dieser edlen thätigen Tugend machen können; doch habe ich mit meines Gleichen immer gern getheilt. Wenn ich auch unvermögend war, menschliches Elend zu lindern, so schenkte ich ihm wenigstens meine Thränen, und fand in ihnen große Wollust. Ich bin gutmüthig, duldend und weichherzig, und sehr leicht zu Thränen zu rühren. Gott weiß es, ich lüge nicht, und rühme mich des auch nicht, denn ich weiß, daß ich deßwegen auch mancher Schwachheit unterworfen gewesen, und noch bin. Was meine Berufsgeschäfte betrift, so schmeichle ich mir, daß meine Herren Chefs mir ein gutes Zeugniß geben werden. Auch meine Frau, Magd und Kindermädchen werden sich dessen nicht entbrechen. Mit erster lebe ich friedlich und glücklich, und die letztern scheinen gerne bey und um uns zu seyn. Im Winter leben wir alle zusammen in einer kleinen Stube, wo ich gern unter ihrem Geräusch und beym Schnurren der Spinnräder an meinem Schreibtisch arbeite. Sie bringen mich freylich oft aus dem Concept, besonders wenn sie mir den Kleinen auf den Hals legen, und der mich dann entweder liebreich umhalßt, oder bey den Haaren zaußt, aber ich habe es gern, wenn sie mich zuweilen stöhren. Seit 4 bis 5 Jahren bin ich sehr zur Einsamkeit geneigt; unter ein Paar Freunden, die sich mit mir von Dingen unterhalten, die mich interessiren, bin ich sehr gern, aber in großen Zirkeln ein trauriger Gesellschafter, da mir die Gabe gebricht von Dingen zu reden, die mich nicht interessiren. Die moralischen Fehler, die den Menschen ankleben, pflege ich nicht – vielleicht aus Schonung gegen mich selbst – als wesentlich ihnen angeboren oder durch Vorsatz andern zu schaden, sich zu eigen gemachte Beschaffenheit zu betrachten, sondern bemühe mich sie als oft unvermeidliche Folgen ihrer Schicksale, Lagen, Erziehung, Verhältniße u.s.w. anzusehen, und in diesen Dingen den Grund menschlicher Vergehungen und Schwachheiten zu suchen. Dies habe ich in und an mir selbst erfahren und abstrahirt; und bey aller Demuth, mit der ich von mir selbst denke, werde ich nie dahin gebracht werden zu glauben, daß ich von Natur und nach meiner ersten Anlage schlecht bin. Was ich nach Kopf, Herz und Temperament jetzt bin, dazu haben mich Schicksale, Umstände und Menschen gemacht. Auf den Knien bitte ich den Urheber der menschlichen Seele mein tägliches Bemühen zu seegnen, besser und weiser zu werden. Cassiodor.39 39 Russisches Staatliches Militärarchiv / Sonderarchiv Moskau 1412-15432, S. 215–219. Zum historischen Vorbild des Illuminatennamens »Cassiodor« von Ewald: Flavius Magnus Aurelius Casiodorus Senator (485–580), römischer Staatsmann und Gelehrter. Als Kanzleichef unter Theoderich vermittelte er zwischen Goten und Römern. 540 gründete er das Kloster Vivarium (Süd­italien), schrieb historische, theologische sowie enzyklopädische Werke und führte das Sammeln und Abschreiben antiker Manuskripte ein.

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Die Reihe der weiteren Beweise und Indizien, die Ewald als frühen Kantianer ausweisen, eröffnete Adam Weishaupt (1748–1830), der seit 1787 in Gotha lebte, in einer Anmerkung seiner Schrift »Ueber die Kantischen Anschauungen und Erscheinungen« (1788). Er behauptete gegen Kant die objektive Existenz des Übersinnlichen sowie dessen Erkenntnis und forderte den Nachweis der objektiven Gültigkeit der dunklen und deutlichen Vorstellungen. Er merkte an: *) Ich habe diesen Punkt, gegen das Ende meiner Z w e i f e l ü b e r d i e K a n t i s c h e n B e g r i f f e v o n Z e i t u n d R a u m, nur in etwas berührt. Mein verehrungswürdiger Freund, der Herr Hofsecret. Ewald in Gotha, einer der frühesten, eifrigsten und einsichtsvollsten Verehrer, und thätigsten Verbreiter des Kantischen Systems, dessen freundschaftlichen und belehrenden Unterredungen diese meine Antikantischen Schriften ihr Entstehen zu verdanken haben, hat in dem 21. Stück, der so beliebten G o t h a i s c h e n g e l e h r t e n Z e i t u n g, bey Gelegenheit der von ihm verfaßten Recension meinen dortigen Aeusserungen folgende Bedenklichkeiten entgegen gestellt [...].40

Es folgt ein umfängliches Zitat. Am 12. März 1788 erschien Ewalds Rezension zur Weishauptschen Schrift »Zweifel über die Kantischen Begriffe von Zeit und Raum« (1788),41 über deren Titel Ewald das Aristoteles-Zitat setzte: »Amicus P l a t o , sed magis amica V e r i t a s .«42 Weishaupt habe in der Schrift nicht vor, so Ewald, die Kantischen Begriffe von Z. und R. absichtlich zu widerlegen, als vielmehr die ihm dabey aufgestoßenen Zweifel und Bedenklichkeiten zu einer unpartheyischen Prüfung darzulegen. Recensent hat öfters das Vergnügen gehabt, sich mit Herrn Hofrath W e i s h a u p t über die Kantische Philosophie, besonders dessen Sinnlichkeits= und Verstandes=Formen, Zeit und Raum und Categorien, zu unterreden. Hr. W. war gegen, und Recens. für die Kantische Meinung. Der Streit wurde öfterer erneuert, aber es wollte weder von der einen, noch von der andern Seite, zu einer Ueberzeugung kommen.43

Diese Identifikation von Ewald mit dem System Kants, die sich in ausführlichen Rezensionen der GgZ zu Kants Schriften der achtziger Jahre und seiner Anhänger widerspiegelte,44 haben Karl Leonhard Reinhold veranlasst, den Einsatz des gothaischen Journals für die Verbreitung der Philosophie Kants hoch zu veranschlagen. Er wusste, wie alle Zeitgenossen in Thüringen und darüber hinaus, dass dies das Verdienst Ewalds war. Am 30. April 1789 schrieb er an Ewald: 40 Adam Weishaupt, Ueber die Kantischen Anschauungen und Erscheinungen. Nürnberg 1788 (ND Brüssel 1970), S. 129 f. 41 GgZ, 21 St. vom 12. März 1788, S. 169–176. 42 Aristoteles, Ethica Nicomachea, I, 4, 6, 1096a, 16 – »Plato(n) ist mein Freund, aber mehr Freund ist mir die Wahrheit.« 43 GgZ, 21. St. vom 12. März 1788, S. 169. 44 Rezensionen zu Kants Schriften in den GgZ vgl. Tabelle, IV.3.5., V.1.

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Die G o t h a i s c h e g e l e h r t e Z e i t u n g wird nächst der A. L. Z. das anerkannte, und rühmliche Verdienst haben, der Reformation, mit welcher eine neue Epoche der Philosophie und allen Wissenschaften angeht nicht entgegengearbeitet sondern sie befördert zu haben.45

Ein besonders eindrucksvolles Zeugnis hoher Wertschätzung für Ewalds Kompetenz als Förderer der Kantischen Revolution der Philosophie gab Carl Christian Erhard Schmid (1761–1812). Er hielt im Wintersemester 1785 an der Universität Jena Vorlesungen zu Kants »Kritik der reinen Vernunft« und veröffentlichte dazu eine eigene Darstellung.46 Als er das »Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften« (1788)47 in einer zweiten Auflage herausgab, bat er am 22. November 1788 Ewald um die Besprechung dieses ersten Kant-Lexikons. Er schrieb: Wohlgebohrener, Verehrungswerther Herr! Mit besonderem Vergnügen übersende ich Ihnen hier die zweyte Ausgabe meines Wörterbuchs, als einem Mann, von dem ich weiß, wie g r o ß e n Antheil Er an der Philosophie und ihrer Verbesserung durch Kant, und wie g ü t i g e n Antheil Er an meinen geringen Bemühungen nimmt, die auf weiterer Ausbreitung derselben abzielen; weiß, wie competent Sein Urtheil über Arbeiten dieser Art sey. Ich wünschte wohl von Ihnen recensirt zu werden, und zwar mit möglichster Strenge und Belehrung, für die ich gewiß von ganzem Herzen und thätig dankbar seyn werde.48

Ewald kam der Bitte Schmids, sein Wörterbuch zu rezensieren, schon am 10. Januar 1789 nach. Er würdigte das analytisch-synthetische Vermögen Schmids hinsichtlich der Herausarbeitung der Kantischen Begriffsbestimmungen und ihrer strukturellen Zusammenhänge, die er aus bis dahin erschienenen Werken Kants gewonnen hatte.49 Schmid eröffnete Ewald in diesem Brief seinen Plan zu 45 Forschungsbibliothek Gotha, Chart. B 1918 II, Rein. Aufgenommen in: Karl Leonhard Reinhold. Korrespondenz 1788–1790, hrsg. von Faustino Fabionelli u. a, Stuttgart / Bad Cannstatt 2007, S. 82. 46 Carl Christian Erhard Schmid, Critik der reinen Vernunft im Grundrisse zu Vorlesungen nebst einem Wörterbuche zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften, Jena 1786. 47 Carl Christian Erhard Schmid, Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften, Jena 1786, 21788, 31794, 41798 (ND hrsg., eingeleitet und mit einem Personenregister versehen von Norbert Hinske, Darmstadt 1976, 21980, 31996. 48 Forschungsbibliothek Gotha, Chart. B 1918 II, Schm. 49 GgZ, 3. St. vom 10. Januar 1789, S. 19–21. Ewald schrieb: »Man würde sich sehr irren, wenn man glauben wollte, daß die Artikel dieses Wörterbuchs blos aus jenen Schriften abgeschrieben und compilirt wären; vielmehr sind alle zu einer Rubrik gehörigen Begriffe und Eintheilungen sehr mühsam aus mehrern Kantischen Schriften und getrennten Stellen ausgehoben, und systematisch unter einander geordnet worden; auch hat der Verf. sehr oft eigene Erklärungen, die den Sinn der Kantischen Begriffe deutlicher darstellen, beygefügt, so daß jeder Artikel eine vollständige Theorie seines Gegenstandes enthält, eine Sache, die nur durch eine vertraute Bekanntschaft mit der Kantischen Philosophie erhalten werden konnte«, ebenda, S. 20.

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einem Wörterbuch der spekulativen Philosophie, um die deutsche philosophische Fachsprache präziser und transparenter zu gestalten. Er konnte ihn nicht verwirklichen. Desweiteren hielt er, auf Ewalds Spinoza-Übersetzungen anspielend, eine Ausgabe der »Ethik« Spinozas mit Anmerkungen und Abhandlungen für wünschenswert. Der Streit zwischen Weishaupt und Ewald um das Eingangsproblem der transzendentalen Struktur der Philosophie Kants blieb kein interner Dialog. Er spiegelte sich sogar in der alltäglichen Kommunikation wider. Die nachfolgenden Beispiele zeigen zumindest, dass sich die aufgeschlossene und tolerante Haltung der gothaischen Gelehrten auch auf Kants innovatives Denken erstreckte. So hat Adolph Heinrich Friedrich Schlichtegroll (1765–1822), der in Jena und Göttingen studiert hatte und seit 1787 Lehrer am Gothaer Gymnasium war, Ewald einen Glückwunsch übermittelt, in dem die aktuelle Diskussion, mehr oder weniger authentisch, eine Rolle spielte. Wenngleich dieser Versuch der poetischen Einkleidung nachsichtig betrachtet werden muss, so ist er dennoch ein Zeichen für das Interesse am überregionalen Diskurs um Kants grundlegenden Ansatz. Schlichtegroll schrieb: An Herrn Sekretär Ewald. am 11. Febr. 1788. Ist wirklich, wie so mancher Denker will, die Zeit Nur etwas in uns selbst, so sey – das wünsch ich heut, So warm als man nur wünschen kan – Die Zeit von Deinen Lebenstagen, Von Sorgen frey und frey von Klagen, In aller Menschenkopf ein Wahn Der ferner zehn bis zwölf Dekaden währe; Und ist das Gegentheil der Lehre Die Wahrheit, wie Freund Weishaupt spricht, (Der Streit stör’ heute unsre Freude nicht) Und ist die Zeit, und folglich auch die Zeit von Deinem Leben Du Selbst, und was da ist, von außen uns gegeben; So weiß ich wenigstens, Dein Angedenken wohnt Auf ewig hier in dieser Brust, Die Deiner Freundschaft sich bewußt, Mit der Erinnerung Dir Deine Liebe lohnt. Fr. Schlichtegroll.50 50 Forschungsbibliothek Gotha, Chart. A 1918c, Bl. 95. Schlichtegrolls Nachschrift lautet: »Es ist noch so wenig Dichtern gelungen, wenn sie Metaphysik einweben wollten; verzeihen Sie daher, daß es auch mir, der geringsten einem, radicaliter mislungen ist. Ich tröste mich damit, daß Gott u. ein Freund das Herz ansehen, und wenn auch Sie heute das thun, so wird die gute Absicht, die Sie bey mir wahrnehmen werden, mit einer Hand voll schlechter Verse wieder aussöhnen. F. S«, ebenda.

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Als Kuriosum kann der Widerhall angesehen werden, den die Diskussion um die kritische Philosophie bei Ewalds Mitbürger, dem seit 1783 am Gothaer Gymnasium wirkenden Professor Johann Georg August Galletti (1750–1828) gefunden hat. Galletti war durch einige geographische und vor allem historische Schriften überregional bekannt geworden. Bleibende Berühmtheit erlangte er allerdings durch seine sprachlichen Fehlleistungen, die von seinen Schülern aufgezeichnet wurden. Diese »Katheterblüten« erschienen 1866 unter dem Titel »Galletiana. 1750–1828. Ergötzlich und nachdenklich zu lesen« (2. Auflage 1876). Unter der Nr. 407 findet sich folgender Versprecher: Ich statuire mit Kant nicht mehr als zwei Kategorien unseres Denkvermögens, nämlich Zaum und Reit, – ich wollte sagen Raut und Zeim.51

Ob die falsche Zuordnung des Terminus »Kategorien« des Denkvermögens zu Raum und Zeit als Formen der Anschauung durch Galletti oder durch die Kolportage seiner Schüler erfolgte, ist in diesem Zusammenhang unwesentlich. Zeigt doch selbst dieser Versprecher an, dass Kants Intentionen in Gotha im Gespräch waren. Ewald fand in dem ihn umgebenden Kreis von Intellektuellen in Gotha zwar Anhänger der Kantischen Vorstellungen, von denen jedoch keiner – außer Adam Weishaupt – zu einer intensiven Beschäftigung mit dem neuartigen System überging. Deren Interessen lagen überwiegend auf historischem, philologischem oder naturwissenschaftlichem Gebiet. So war es in der öffentlichen Kommunikation Rudolf Zacharias Becker (1752–1822), der überregional erfolgreiche Publizist, der mit Kants moralphilosophischen Grundsätzen sympathisierte und deren Verbreitung in seinen Schriften und in den von ihm verlegten Zeitungen förderte. Erst mit der Berufung von Josias Friedrich Christian Löffler (1752–1816) als Generalsuperintendent nach Gotha (1788) bekam Ewald einen Mitstreiter. Löffler legte seiner Moraltheologie Kants moralphilosophische Grundsätze zugrunde. In den neunziger Jahren kam der Pageninformator und spätere Pfarrer Friedrich Heinrich Gebhard hinzu. Er vertrat in seinen Schriften und Beiträgen konsequent die moralischen und vernunftreligiösen Prinzipien Kants (vgl. V.1.1.).

5. Kant und die »Gothaische(n) gelehrte(n) Zeitungen« (GgZ) Kant hat die GgZ, die vom 2. Februar 1774 bis zum 29. Dezember 1804 zweimal wöchentlich (Mittwoch, Sonnabend) als Rezensionsjournal mit einem Informationsteil herausgegeben wurden, seit dem ersten Jahr ihres Erscheinens gekannt. 51 [Johann Georg August Galletti], Gallettiana [ergötzlich und nachdenklich zu lesen], ND [nach 2. Auflage 1876] hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Horst Kunze, Leipzig 1968, S. 104.

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Vermutlich hat er sie, wie auch andere Zeitungen, im Buchladen von Johann Jakob Kanter gelesen. Denn als er anlässlich der Errichtung des ersten Blitzableiters in Königsberg in die Beurteilung des dazu notwendigen Gutachtens, welches der Professor der Physik Carl Daniel Reusch vorgelegt hatte, einbezogen wurde, verwies er auf sachdienliche Informationen zu diesem Thema in der gothaischen Zeitschrift. Im Brief an Reusch vom Mai 1774 gab Kant seine Zustimmung zum Gutachten, fügte Vorschläge zur praktischen Umsetzung des Vorhabens hinzu und ergänzte: Ich habe die Ehre des gelehrten HEn P r o f: T e t e n s aus Butzow Abhandlung mitzuschicken. Ich wünschte daß ich dieses auch mit einer in der Gothaischen Zeitung gerühmten Schrift: V e r h a l t u n g s r e g e l n b e y n a h e m D o n n e r w e t t e r, zwey Bogen mit einer Kupfertafel, welche einem Geh: Secret: L i c h t e n b e r g zugeschrieben wird, thun könte; allein sie ist mit dem Kanterschen Meßvorrath nicht mitgekommen vielleicht ist sie bey Hartungs.52

Am 9. April 1774 war die Rezension zur Schrift von Ludwig Christian Lichtenberg53 unter dem Titel »Verhaltensregeln bey nahen Donnerwettern, nebst den Mitteln sich gegen die schädlichen Wirkungen des Blitzes in Sicherheit zu setzen, zum Unterricht für Unkundige. Mit einer Kupfertafel. 1774« in den GgZ (23. St., S. 177–179) erschienen. Sie beginnt mit einem Plädoyer für den wissenschaftlichen Fortschritt im Dienste aller Menschen. Die hier geäußerte sachliche, kritische und der allgemeinen Aufklärung dienende Haltung blieb ein Wesenszug dieser Zeitschrift. Die einleitende Erklärung des Rezensenten hat Kants Empfehlung der Schrift mit hoher Wahrscheinlichkeit befördert; denn dort wurde ausgeführt: Neue Entdeckungen, deren Werth allein durch Versuche kann bestimmet werden, sollte man nicht sogleich mit Lehrsätzen zu bestreiten suchen. Unsre metaphysischen Begriffe sind noch von einer allzu geringen Anzahl Fälle abgezogen, als daß sie schon zu einem allgemeinen Maßstab der Erscheinungen in der Natur dienen könnten. Allein der Aberglaube, das Vorurtheil und der Neid lassen den meisten Menschen nicht zu, diese Wahrheit zu fühlen. So gering auch der Vorrath ihrer Kenntnisse ist, so finden sie doch immer in demselben einige Gründe, womit sie wenigstens eine Zeitlang den Fortgang der heilsamsten Entdeckungen aufhalten können. Ist endlich auch dieser erschöpft, so sind noch Verfolgungen, Seufzer und Erdichtungen vorhanden, welche die Lücken der Beweisgründe auszufüllen, herbeygerufen werden. 52 Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 10, S. 168. 53 Ludwig Christian Lichtenberg (1738–1812), der ältere Bruder von Georg Christoph Lichtenberg, trat 1772 als Geheimer Archivar in den Dienst des Herzogs Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg (später: Geh. Legationsrat; 1803 Assistenzrat). Er war für das physikalische Kabinett (Schloss Friedenstein) zuständig, hielt Vorträge über naturwissenschaftliche Themen und legte umfangreiche Sammlungen an. Von 1781 bis 1784 gab er das »Magazin für das Neueste aus der Physik und Naturgeschichte« heraus (bis 1799 von Johann Heinrich Voigt fortgeführt). Die Werke, Aufsätze und Essays seines Bruders Georg Christoph Lichtenberg edierte er von 1801 bis 1806 unter dem Titel »Georg Christoph Lichtenberg’s Vermischte Schriften«.

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Wir haben die Erfahrung hievon bey der Einführung des Blattereinpfropfens zur Genüge gemacht, und es sind kaum einige Jahre, seit dieses gegen die Verwüstungen der natürlichen Blattern so wirksame Mittel etwas ruhiger angewendet wird. Ein ähnliches Schicksal hat auch das Verwahrungsmittel vor dem Blitze gehabt. So wichtig das Geschenk ist, welches uns Herr Franklin von Amerika aus gemacht hat, so selten ist es noch bisher gebraucht worden. Man setzet vielmehr eben die schwachen Gründe, deren man sich wider die Inoculation bedienet hat, auch diesem entgegen. Der Herr Geh. Sekretär Lichtenberg, Verfasser gegenwärtiger Schrift, sucht daher den vornehmsten derselben in der Einleitung zu begegnen.54

In der Einleitung zu dieser Rezension kommt in nuce die programmatische Absicht der GgZ für ihr kommunikatives Wirken zum Ausdruck. Ausgehend von den Stichworten, wie »Aberglaube«, »Vorurteil«, »Erfahrung« u. a., werden wichtige Aspekte ihrer aufklärerischen Bestrebungen angesprochen. Auch auf die Vorstellungen des Redakteurs und der Autoren der GgZ trifft die Feststellung zu, die Norbert Hinske in seiner Typologie der Grundideen der deutschen Aufklärung entwickelt hat: Die »Basisideen« dieser vielschichtigen Bewegung, wie die »Bestimmung des Menschen« nach dem Maßstab der »allgemeinen Menschenvernunft«, erwachsen »aus so etwas wie einer gemeinsamen ›Anthropologie‹, aus einem von allen zunächst eher stillschweigend geteilten Selbstverständnis des Menschen, das von der deutschen Aufklärung immer wieder reflektiert und schließlich in einigen wenigen markanten Ideen auf den Begriff gebracht wird.« 55 In den achtziger Jahren spielten die GgZ für Kant gleichsam die Rolle eines auswärtigen Resonanzanzeigers bzw. Impulsgebers für die Publikation eigener Vorstellungen. Erstens registrierte er die oben erörterte, sachliche und wohlwollende Rezension der GgZ vom 24. August 1782 zu seiner Schrift »Kritik der reinen Vernunft«. Zweitens hat Kant auf die am 11. Februar 1784 in den GgZ abgedruckte Information reagiert, die seinen Wunsch nach einer philosophisch begründeten, historischen Darstellung des Strebens der Menschheit zur Verwirklichung des Endzwecks des Staates wiedergab. Dort heißt es: Eine Lieblingsidee des Hrn. Prof. K a n t ist, daß der Endzweck des Menschengeschlechts die Erreichung der vollkommensten Staatsverfassung sey, und er wünscht, daß ein philosophischer Geschichtschreiber es unternehmen möchte, uns in dieser Rücksicht eine Geschichte der Menschheit zu liefern, und zu zeigen, wie weit die Menschheit in den verschiedenen Zeiten diesem Endzwecke sich genähert, oder von demselben entfernt habe, und was zur Erreichung desselben noch zu thun sey.56

Kant nahm diese Nachricht zum Anlass, seine diesbezüglichen Vorstellungen in dem Aufsatz »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« 54 GgZ, 23. St. vom 9. April 1774, S. 177. 55 Norbert Hinske, Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie, in: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 14(1990), S. 85. 56 GgZ, 12. St. vom 11. Februar 1784, S. 95.

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in der »Berlinischen Monatsschrift« (November 1784) mit folgender Anmerkung zu veröffentlichen: *) Eine Stelle unter den kurzen Anzeigen des zwölften Stücks der G o t h a i s c h e n G e l. Z e i t. d. J., die ohne Zweifel aus meiner Unterredung mit einem durchreisenden Gelehrten genommen worden, nöthigt mir diese Erläuterung ab, ohne die jene keinen begreiflichen Sinn haben würde.57

Drittens hat Kant auf die Information in den GgZ vom 25. Januar 1786 reagiert, die seine Haltung zu Moses Mendelssohns Vorstellungen betraf, die dieser in seiner Schrift »Morgenstunden, oder über das Dasein Gottes« (Berlin 1785) dargelegt hatte. Die GgZ teilten mit: Vom Hrn. Prof. Kant hat man eine Widerlegung des Mendelssohnschen Beweises für das Daseyn Gottes zu erwarten, den letzterer in seinem neuesten Werke, das den Titel »Morgen­stunden« führet, gegeben hat.58

Kant hat diese Fehlinformation in dem Brief an Ludwig Heinrich Jakob vom 26. Mai 1786 mit folgender Begründung zurückgewiesen: Was mein vorgebliches Versprechen betrift, Mendelssohns Morgenstunden zu wiederlegen, so ist es falsch und durch Misverstand in die Gothaische Zeitung gekommen. Ich habe auch jetzt keine Zeit dazu; daher, wenn Sie die Mühe übernehmen wollen, die Fruchtlosigkeit dieser Arbeit, der reinen Vernunft Grenzen auf dieser Seite zu erweitern, zu zeigen, Sie das Verdienst haben werden, das Nachdenken guter Köpfe auf eine Seite zu lenken, da sie besseren Erfolg hoffen können. Auch ist es gar nicht nöthig, mein Urtheil über diese Ihre Arbeit vorher einzuziehen, (wozu ich außerdem jetzt kaum Zeit haben würde), außer was S. 116 der Mendelss. Schrift betrift, über die ich, so bald Sie mir von Ihrem Vorsatze Nachricht zu geben belieben, eine hinreichende Zurechtweisung zuzusenden die Ehre haben würde.59

Obwohl Kant an der Fertigstellung der zweiten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« arbeitete, lieferte er Jakob den versprochenen Zusatz. Die GgZ haben die Schrift Jakobs in ihrer Bedeutung für die Verteidigung der Kantischen Prinzipien sachlich und ausführlich rezensiert.60 57 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 15. Siehe: Werner Stark, Nachforschungen zu Briefen und Handschriften Immanuel Kants, Berlin 1993, S. 231 ff. Stark hat den durchreisenden Gelehrten als den Gothaer Publizisten Rudolf Zacharias Becker identifiziert. Vgl. Ursula Tölle, Rudolph Zacharias Becker. Versuche der Volksaufklärung im 18. Jahrhundert in Deutschland, München / New York 1994, S. 65. Becker war am 2. und 5. November 1783 bei Johann Georg Hamann in Königsberg, siehe: Hamann, Briefwechsel, Bd. 5, S. 15–106; vgl. IV.4.3. 58 GgZ, 7. St. vom 25. Januar 1786, S. 56. 59 Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 10, S. 451. 60 Vgl. GgZ, 16. St. vom 20. Februar 1787, S. 129 f. Die Rezension »Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden, oder aller spekulativen Beweise für das Daseyn Gottes. Nebst

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Dass die Gothaischen gelehrten Zeitungen bis zum Ende ihres Erscheinens (29. Dezember 1804) in Königsberg respektiertes Journal waren, zeigt die Schrift von Reinhold Bernhard Jachmann »Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund« (1804), in der er auf den »Nekrolog. Immanuael Kant« (GgZ, 19. St. vom 7. März 1804) einging.61 Inmitten der anerkannten Rezensionsjournale in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts konnten sich die GgZ einen soliden Platz sichern. Das war wohl nicht zuletzt ihrem Einsatz für die Philosophie Kants geschuldet. Wenngleich über die Auflagenhöhe der Zeitschrift keine Angaben bekannt sind, so zeigt eine Untersuchung über die Lesegesellschaften des 18. Jahrhunderts, dass die GgZ eine respektable Verbreitung erreicht haben.62 Von 31 untersuchten Lesegesellschaften wurden folgende Rezensionsjournale laufend bezogen: Allgemeine Literatur-Zeitung 26 Allgemeine Deutsche Bibliothek 19 Göttingische Anzeigen 15 Gothaische gelehrte Zeitungen 11 Leipziger gelehrte Zeitungen 10 Hallische gelehrte Zeitung    9 Bemerkenswert ist, dass die GgZ noch vor den Universitätszeitschriften von Leipzig und Halle rangieren. Für die Qualität der Kantrezensionen der GgZ spricht das Urteil des Zeitgenossen Georg Andreas Will (1727–1798), der über die sehr unterschiedliche »Aufnahme und Schicksale der Kantischen Philosophie« auf dem Büchermarkt berichtete. Über die Haltung der Journale zur Philosophie Kants schrieb er: Dieß verschiedene Schicksal hatte der Philosoph auch in Recensionen, die zum Theil in den Geist des Verfassers und seines Buches [Kritik der reinen Vernunft] nicht eingedrungen sind. Die in der allgemeinen deutschen Bibliothek, in der Gothaischen und der allgemeinen Literatur-Zeitung sind die besten. 63 einer Abhandlung von Herrn Professor Kant« (1786) informiert über die Polemik Kants gegen Mendelssohn in ihrer Zielsetzung. Jakobs Ausführungen werden u. a. wie folgt kommentiert: »In den 7 letztern Vorlesungen werden dann die Mendelssohnschen Axiome, seine Darstellung des Idealismus, Epikurismus und Spinozismus geprüft, und der Weg gezeigt, auf welchem allein die Unstatthaftigkeit dieser Lehren bewiesen werden kann, worauf denn die spekulativen Beweise für das Daseyn Gottes nach der Reihe selbst unter­ sucht, entwickelt und widerlegt werden. Alles geschieht mit einer so lichtvollen Deutlichkeit, daß dadurch denen, die bisher noch über Dunkelheit des Kantischen Systems geklagt haben, die Einsicht in dasselbe beträchtlich erleichtert wird, und folglich diesem System selbst ein desto größerer Wirkungskreis daraus erwachsen muß.« 61 Vgl. Schröpfer, Der »Nekrolog. Immanuel Kant«, S. 279–285. 62 Marlies Prüsener, Lesegesellschaften im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Lesergeschichte, in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 28 (1972), Historischer Teil 88, S. 189 ff. 63 Georg Andreas Will, Vorlesungen über die Kantische Philosophie, Altdorf 1788, S. 21.

III. Grundzüge des philosophischen Denkens von Ewald im Zeitraum von 1772 bis 1781 (Erste Phase) 1. Die Rezeption Lessings in den GgZ Zunächst betätigte sich Ewald nach seinem Aufenthalt als Hofmeister in Jena und Göttingen (1772/73), wie aus seinem »Lebensbericht« zu ersehen ist, nicht nur als Advokat, sondern vor allem als Übersetzer, Publizist und gelegentlich als Dichter und Stückeschreiber.1 Sein Bestreben, damit als freier Autor existieren zu können, erfüllte sich nicht. Offensichtlich ist jedoch, dass sich Ewald in der 1



Folgende Schriften wurden von Schack Hermann Ewald verfasst, übersetzt und herausgegeben (ausgenommen die philosophischen Schriften): – 1772: Oden von Ewald, Leipzig / Gotha / Jena: Heller – Ewald Verfasser; – 1775: Lieder nach dem Lateinischen des Marcus Antonius Flaminius. Nebst einem Anhange, Gotha bey Carl Wilhelm Ettinger – Ewald Herausgeber und Übersetzer; – 1775: Wilhelm Chambers, Ueber die Orientalische Gartenkunst. Eine Abhandlung aus dem Englischen, Gotha bey Carl Wilhelm Ettinger – Ewald Übersetzer; – 1775: Thomas Falkner, Beschreibung von Patagonien und den angrenzenden Theilen von Südamerika nebst einer neuen Karte der südlichen Theile von Amerika. Aus dem Englischen, Gotha, Ettinger – Ewald Übersetzer; –  1777: Heirat aus Liebe. Eine neue Operette in zween Akten. – Komposition von Johann Friedrich Hönicke, Text von Ewald, Aufführung am 9. Juli 1777, nach Matthew Prior; Henry & Emma. A poem. Upon the model of the nut-brown maid, London 1709; – 1778: Der falsche Mord. Ein Schauspiel in drey Aufzügen, Erfurt bey Georg Adam Keyser – Ewald Verfasser; – 1778: Pierre Augustin Caron de Beaumarchais, Der Barbier von Sevilla, oder die vergebliche Vorsicht – Ewald Übersetzer; – 1779: André Danican Philidor, Praktische Anweisung zum Schachspiel. Aus dem Französischen übersetzt von S. H. Ewald, Gotha, bey Carl Wilhelm Ettinger; zweite verbesserte Auflage 1797 – Ewald Übersetzer; –  1780: Jean-Baptiste Moheau, Untersuchungen und Betrachtungen über die Bevölkerung Frankreichs. Aus dem Französischen des Herrn Moheau übersetzt und mit einigen Anmerkungen begleitet von S. H. Ewald, Gotha, bey Carl Wilhelm Ettinger – Ewald Übersetzer; – 1781: Heyrath aus Liebe. Ein Nachspiel mit Arien und Gesängen, Gotha bey Ettinger [Komposition von Johann Friedrich Hönicke, Text von Ewald]; – 1781: Gabriel François Coyer, Neue Bemerkungen über England. Aus dem Französischen des Abbé Coyer, Gotha bey Carl Wilhelm Ettinger – Ewald Übersetzer; – 1782: James Adair, Geschichte der amerikanischen Indianer besonders der am Missisippi, an Ost- und Westflorida, Georgien, Süd- und Nordkarolina und Virginien angrenzenden Nationen nebst einem Anhange. Aus dem Englischen, Breslau, verlegts Johann Ernst Meyer – Ewald Übersetzer. – Verschiedene Beiträge veröffentlichte Ewald im »Theater-Journal«, in der »Litteraturund Theater Zeitung« sowie in der Vierteljahresschrift »Olla Potrida«.

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Erste Phase: Grundzüge philosophischen Denkens 1772–1781

Wahl seiner Publikationen Themen zuwandte, die aus den unmittelbaren Bedürfnissen der sich entfaltenden bürgerlichen Lebenswelt erwuchsen (z. B. die Forderung von William Chambers nach einer harmonischen Natürlichkeit in der Gartenkunst, die jeden Menschen anspricht). Durch seine Mitarbeit an den GgZ, die anfangs unter der Leitung von Johann Wilhelm Dumpf stand, wurde Ewald zur intensiveren Beschäftigung mit der aktuellen Entwicklung des aufklärerischen Denkens angeregt. Hier stand das Schaffen von Gotthold Ephraim Lessing im Zentrum. Denn Dumpf war mit Lessing seit ihrem gemeinsamen Studium in Wittenberg freundschaftlich verbunden.2 Lessings Veröffentlichungen wurden in den GgZ kontinuierlich und aufmerksam gewürdigt. Exemplarisch für diese Haltung war die Besprechung der Lessingschen Schrift »Die Erziehung des Menschengeschlechts«. Die GgZ berichteten am 12. Februar 1777 in der Besprechung der von Lessing edierten »Fragmente eines Ungenannten« (Hermann Samuel Reimarus) über einen Zusatz des Herausgebers. Dort heißt es: Noch etwas aus dem vierten Fragment. Herr L. hat seinem Raisonnement über dasselbe den Anfang eines noch ungedruckten Aufsatzes eines andern Verfassers, wegen seines verwandten Inhalts, beygefügt; er führt den Titel: d i e E r z i e h u n g d e s M e n s c h e n g e s c h l e c h t s.3

Durch Zitate aus diesen ersten Paragraphen wird auf den Grundgedanken des Verfassers aufmerksam gemacht. Lessing hatte nur 53 der später auf 100 Paragraphen erweiterten Fassung der Schrift abdrucken lassen. Ostern 1780 erschien die vollständige Schrift. Er bezeichnete sich lediglich als deren Herausgeber. Nunmehr war Ewald der verantwortliche Redakteur der GgZ (1778). Am 10. Juni 1780 erschien die Rezension zu der genannten Schrift mit der einleitenden Passage: Seit Jahrhunderten ist vielleicht auf so wenig Bogen nicht so viel Gutes und Wichtiges gesagt worden, als in der E r z i e h u n g d e s M e n s c h e n g e s c h l e c h t s , herausgegeben von G o t t h. E p h r a i m L e ß i n g , 1780. 90. S. in 8. bei Voß (Berlin). Schon seit einigen Jahren hatte Recensent den Vorsatz, eine ähnliche Idee, nur von etwas weiterm Umfange, in einer Schrift, die gerade den hier genannten Titel haben sollte, auszuführen. Allein nicht bloß dieses Zusammentreffen entlockt ihm den Beyfall den er gegenwärtiger Schrift gibt, worin doch manches ist, was er nicht 2

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Nach dem Tode Lessings (15. Februar 1781) hat Dumpf tatkräftig mitgewirkt, dass in Wolfenbüttel das erste Denkmal für Lessing errichtet wurde. Schlichtegroll schrieb im Nekrolog auf Dumpf: »Auch schloß er um diese Zeit ein Freundschaftsbündniß mit Lessing. Daher gab er sich auch nebst dem Schauspieler Friedrich Wilhelm Großmann vorzüglich Mühe, das Denkmal zu Stande zu bringen, das Teutschland seinem großen Denker und Dichter setzen wollte, und das, vom Prof. Friedrich Döll in Gotha verfertigt, nun auch wirklich in Wolfenbüttel aufgerichtet ist.« Zitiert nach Nekrolog der Teutschen, hrsg. von Friedrich Schlichtegroll, Bd. 1, Gotha 1802, S. 178 f. Zum ersten Lessingdenkmal in Wolfenbüttel vgl. Paul Raabe, Spaziergänge durch Lessings Wolfenbüttel, Hamburg 1997, S. 69 f. GgZ, 13. St. vom 12. Februar 1777, S. 99.

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behaupten, manches, was er für Schwärmerey halten möchte: sondern der im ganzen gute Inhalt selbst.4

Der wesentliche Inhalt der Schrift, das Verhältnis von Offenbarungsglaube und Vernunftsubstanz in der christlichen Religion, wurde in seiner historischen Dimension, wie sie Lessing sah, durch Kernzitate sowie durch sachliche und kritische Anmerkungen vorgestellt bzw. kommentiert. Insbesondere wurde die stufenweise Entfaltung des Vernunftgehaltes des Offenbarungsglaubens, einschließlich der Vision des Fortschreitens der Menschheit zum Guten, hervorgehoben. Denn, so wurde Lessing zitiert: Sie wird gewiß kommen, die Zeit der Vollendung, da der Mensch, je überzeugter sein Verstand einer immer bessern Zukunft sich fühlt, von dieser Zukunft gleichwohl Bewegungsgründe zu seinen Handlungen zu erborgen nicht nöthig haben wird; da er das Gute thun wird, weil es das Gute ist. Sie wird gewiß kommen, die Zeit eines neuen E v a n g e l i u m s, die uns selbst in den Elementarbüchern des neuen Bundes versprochen wird.5

Der Rezensent schloss mit dem doch eindeutigen Hinweis auf den Verfasser: Da sich Hr. L e s s i n g selbst nur als Herausgeber genannt hat, so würde es Unverschämtheit oder Vorwitz seyn, ihn als den muthmaßlichen Verfasser anzugeben.6

Zweifellos hat Ewald der Lessingsche Entwurf einer humanistischen Entwicklung der Menschheit nachhaltig beeinflusst. Es war ein prinzipieller Impuls für seine religions- und rechtsphilosophischen Reflexionen, die durch freimaurerische Intentionen und spinozistische Einflüsse verstärkt wurden sowie durch Kants kritisches Denken ihr Fundament erhielten. Über Lessings weitere Aktivitäten berichteten die GgZ kontinuierlich. Insbesondere dokumentierten sie den überragenden Erfolg seines Dramas »Nathan der Weise«, das seit Mai 1779 an die zahlreichen Subskribenten ausgeliefert worden war. Die Sympathie für Lessings Meisterwerk ist offensichtlich.7 Die Anzeige seines Todes schloss mit den Worten: N i c h t s e i n e Ve r w a n d t e u n d F r e u n d e a l l e i n – g a n z Te u t s c h l a n d t r a u e r t u m i h n.8 4 GgZ, 47. St. vom 10. Juni 1780, S. 383. 5 GgZ, 47. St. vom 10. Juni 1780, S. 385. 6 Ebenda. 7 GgZ, 104. St. vom 9. Dezember 1779, S. 864: »Wolfenbüttel. Wir beschließen diesen Jahrgang unserer Blätter mit der Anzeige eines Produkts der Lessingschen Muse. Wir geben davon nur den Titel. Eine ausführliche Anzeige würde jetzt zu spät kommen, und auch bey der frühesten Einrückung zu spät gekommen seyn, da es gleich bey seiner Erscheinung allgemein verbreitet und verschlungen worden ist. Wir würden unsere diesjährigen Blätter für mangelhaft halten, wenn wir darinn ein Werk mit Stillschweigen übergingen, an dessen Vollendung alle Kräfte der Seele, in demselben Grade von Stärke und Ausbildung gearbeitet haben: ›Nathan der Weise ein dramatisches Gedicht von Lessing.‹ « 8 GgZ, 16. St. vom 24. Februar 1781, S. 136.

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2. Ewald als Herausgeber und Autor seines Magazins Ewalds Beschäftigung mit den historischen und philosophischen Problemen seiner Zeit fand ihren Ausdruck in den Beiträgen, die im »Gothaischen Magazin der Künste und Wissenschaften« (1776/77, 2 Bde.) erschienen. Als Herausgeber fungierte zum einen kein Geringerer als der im Lebenslauf von Ewald genannte Johann Gottfried Eichhorn,9 der in Ohrdruf, Jena und Göttingen wirkende Theologe und Philologe. Zum anderen war es Ewald, der als Herausgeber und Autor die Hauptarbeit zu bewältigen hatte: »Die Herausgeber des Magazins« beabsichtigten, wie es in der »Nachricht an das Publikum« hieß, »gründliche Abhandlungen über entweder noch nicht, oder nicht genugsam bekannte und untersuchte Gegenstände aus dem Reiche der Wissenschaften und Künste« vorzustellen.10 Wenngleich das Vorhaben aufgrund der regional begrenzten Umstände Ewald überforderte und eingestellt wurde, so hat er das Magazin genutzt, um in Beiträgen die Situation des menschlichen Individuums in seiner rationalen und emotionalen Befindlichkeit zu erörtern. Damit näherte er sich der anthropologischen Sichtweise des Menschlichen, wie sie sich damals profilierte und zu Beginn der achtziger Jahre intensivierte.11 Vermutlich wurde Ewald durch die Einblicke in die Praxis der Schauspieler, die am Hoftheater in Gotha wirkten (seit 1774 war Conrad Ekhof Leiter des 9

Vgl. Gothaisches Magazin der Künste und Wissenschaften 1 (1776), 2. St., Nr. X, S. 156–167. Eichhorn schrieb den Beitrag »Verbreitungsgeschichte der Syrischen Litteratur in Europa«. Er nutzte die Beschreibung der zögerlichen Rezeption der syrischen Sprache und Literatur durch den christlichen Okzident zu einem leidenschaftlichen Appell an die deutschen Gelehrten, sich auch mit dieser orientalischen Sprache zu beschäftigen. Er schloss: »Teutschlands Genius vergiß auch hier deine Nation nicht! Bisher hast du in der biblischen Litteratur deinen M i c h a e l i s, in der arabischen deinen R e i s k e den Ausländern entgegen gestellt, und – sie beschämt. Bald müsse ein s y r i s c h e r Michaelis oder R e i s k e die Ehre deiner Nation werden! E-n«, ebenda, S. 167 – Johann David Michaelis, Theologe und Orientalist, seit 1750 Prof. in Göttingen; Johann Jacob Reiske, Philologe, Arabist, seit 1748 Prof. in Leipzig. 10 Ebenda, Bd. 1, Nachricht an das Publikum. 11 Ewald veröffentlichte im »Gothaischen Magazin der Künste und Wissenschaften« nachstehende Beiträge, die er mit folgenden Paraphen versah: »E.«; »E-d.«; »S. H. E-d.« – E., Ueber die Hauptperioden in der Geschichte der Dichtkunst, in: Bd. 1 (1776), 1. St., Nr. II, S. 21–41. – E-d., Versuch einer Geschichte der Kunst, die Gedanken durch schriftliche Zeichen mitzutheilen, in: Bd. 1 (1776), 4. St., Nr. XXIII, S. 347–362. – Fortsetzung des Versuchs einer Geschichte der Kunst, die Gedanken durch schriftliche Zeichen mitzutheilen, in: Bd. 2 (1776), 1. St., Nr. I, S. 3–29. – S. H. E-d., Ueber Empfindungen, Leidenschaften, Charakter und Sitten – ein philosophischer Versuch für Schauspieler, in: Bd. 2 (1777), 3. St., Nr. X, S. 195–230.

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Hoftheaters) angeregt, den Artikel »Ueber Empfindungen, Leidenschaften, Charakter und Sitten – ein philosophischer Versuch für Schauspieler« zu verfassen. Ewald legte nicht nur eine psychologisch untersetzte Handreichung für die lebensnahe Gestaltung der Schauspielkunst vor. Er beabsichtigte vor allem, dem Schauspieler einen anthropologisch-philosophischen Zugang zur tiefgründigeren Beobachtung und Darstellung der Menschen an die Hand zu geben, um den Vorstellungen der Dramatiker möglichst nahezukommen. Ewald offenbarte hier letztlich seine kritische Sicht auf das zeitgenössische Lebens- und Daseinsverständnis. Forderte er vom dramatischen Dichter, dass er den Menschen und die Welt »mit dem Blick eines Philosophen« und durch »eigene mit Einsicht und Beurtheilungskraft gemachte Erfahrungen« studieren muss, so galt ihm dies in gleicher Weise für den Schauspieler. Denn, so Ewald: Dabei sind die meisten keine philosophischen Menschenbeobachter, noch aus eigner Kraft im Stande, in die Triebfedern menschlicher Handlungen hineinzudringen, und den Ton jeder Bewegung und Leidenschaft durch ein anhaltendes Studium der Nachahmung zu treffen. Die Kunst wird von den meisten durch Unwissenheit zum Handwerk erniedrigt, und ihr Studium besteht gemeiniglich in weiter nichts als auswendig lernen.12

Auch die Kunst muss »auf Grundsätzen gebaut« sein. Sie darf nicht »nur in einer durch bloße Gewohnheit erworbenen Fertigkeit« bestehen.13 Seiner Auffassung von der Befähigung des Menschen zur aktiven Lebensgestaltung legte er folgende Vorstellung von dessen rationalem und emotionalem Potential zugrunde: Der Mensch hat zweyerley wesentlich von einander unterschiedene Kräfte von der Natur empfangen, in die alle seine Handlungen, als in ihre ursprüngliche Quelle zurückfließen, und die seine ganze Maschine in Thätigkeit und Bewegung setzen; die Kraft zu denken und die Kraft zu empfinden. Beyde Kräfte machen, zusammengenommen, das geistige Wesen aus, das Seele genannt wird. Die Grundkraft der Thätigkeit der Seele, ist die gemeinschaftliche Quelle, in welcher sich diese beyden untergeordneten Kräfte vereinigen [...].14

Offensichtlich ist Ewald von den Vorstellungen Johann August Eberhards beeinflusst worden, die dieser in der Schrift »Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens« (Berlin 1776, Preis der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin) entworfen hat.15 Ewald war dieser Theorie, die Eberhard bis 12 Schack Hermann Ewald, Ueber Empfindungen, Leidenschaften, Charakter und Sitten – ein philosophischer Versuch für Schauspieler, in: Gothaisches Magazin der Künste und Wissenschaften 2 (1777), 3. St., Nr. X, S. 196. 13 Ebenda. 14 Ebenda, S. 218 f. 15 Vgl. GgZ, 100. St. vom 14. Dezember 1776, S. 814. In der Rezension zu dieser Schrift wurde resümiert: Von der »Grundkraft der Seele [...] sind die Erkenntniß und Empfindungs-

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zur Erklärung aller Erscheinungsformen des Genies fortzuführen suchte, deshalb zugeneigt, weil sie auf die Triebkraft des menschlichen Handelns orientierte. Denn ungeachtet der Wertschätzung eines empfindenden »Herzens« und humaner »Sitten« für die Charakterbildung, komme es auf die »Denkungsart« des »denkenden Subjekts« an.16 Die Forderung nach einer Denkungsart, die aktivierend orientiert, realitätsbezogen ist und praktisch ausgerichtet wirkt, wurde in Ewalds Magazin in dem Beitrag »Ueber die Klassifikation und Rangordnung der Wissenschaften« explizit ausgesprochen. Obwohl der Beitrag ohne Angabe des Autors erschienen ist, kann davon ausgegangen werden, dass Ewald als Herausgeber dessen Standpunkt teilte. Die Orientierung auf die anthropologische Sichtweise der Wissenschaften zur Aufklärung der menschlichen Existenz, die enzyklopädische Anlage der Betrachtung sowie die streitbare Ausführung lassen auf einen Autor schließen, der neue Aspekte in die aktuelle Diskussion über den Zweck und den Nutzen der Wissenschaft einzubringen gewillt war. Vor allem die Forderung nach einer Neuordnung bzw. Erweiterung des Spektrums der Fakultäten an den Universitäten weisen auf einen Verfasser hin, der seinen Überlegungen die Situation an der Universität Göttingen zugrunde legte. Insbesondere der Hinweis auf eine neue »ökonomische Fakultät« verstärkt diesen Eindruck. Der Autor meinte: Verjährte Volksvorurtheile, und bürgerliche Rangordnungen können eben so wenig entscheiden. Dem schwarzen Rock müssen alle andre Farben weichen, aber in der Farbe liegt der Vorzug der Theologie nicht. Die Rangordnung der sogenannten vier Fakultäten ist willkührlich und in so dunkeln Zeiten entstanden, daß sie höchstens nur beweisen, nach welcher Gradation man die Nothwendigkeit des öffentlichen Unterrichts eingesehn. Wir haben nun ein Exempel einer ökonomischen Fakultät, aber eine historische und philologische bleibt noch zu wünschen übrig.17 kraft nur Modifikationen, und ohne sie läßt sich nicht angeben, wie eine Modifikation der Seele in die andere übergehe, und auf einen Zustand des Empfindens ein Zustand des Erkennens, auf einen Zustand des Betrachtens ein Zustand des Wollens und umgekehrt folgen könne.« 16 Schack Hermann Ewald, Ueber Empfindungen, Leidenschaften, Charakter und Sitten – ein philosophischer Versuch für Schauspieler, in: Gothaisches Magazin der Künste und Wissenschaften 2 (1777), 3. St., Nr. X, S. 223 f. 17 [Anonym], Ueber die Klassifikation und Rangordnung der Wissenschaften, in: Gotha­ isches Magazin der Künste und Wissenschaften 2 (1777), 3. St., Nr. XI, S. 249. Vgl. Ernst Böhme / Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 2, Göttingen 2002, S. 181 f. Am Ende des 18. Jahrhunderts galt die Universität Göttingen als »Hochburg der juristischen, politologischen und wirtschaftswissenschaftlichen Fächer«. Es wurden »Statistik und Ökonomie, zwei Disziplinen, die als Frühformen der Wirtschaftsbzw. Agrarwissenschaften anzusehen sind«, z. B. von Gottfried Achenwall gelehrt. Als Autor des Beitrags kann man sowohl Ludwig Christian Lichtenberg als auch Johann Friedrich Blumenbach in Betracht ziehen. Beider Lebenslinie ist mit Gotha und Göttingen eng verbunden.

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Der Verfasser war unzufrieden mit den bisherigen Schemata der Wissenschaften hinsichtlich ihrer Zwecksetzung sowie der Grundlegung und der Methode des Ordnens des Wissens. Weder alphabetische Tabellen noch der »arbre encyclopaedique«, der »Stammbaum« des Wissens von Büsch und Sulzer, die auf formale Ganzheit gerichtet seien, stellten ihn zufrieden. Ein System der Wissenschaften müsse vom Endzweck bestimmt werden: Es ist die Suche nach der Wahrheit, die den Menschen nutzbringend dient. Er erklärte: Es ist wohl kein Zweifel, daß W a h r h e i t das letzte Ziel alles unsers Forschens und Arbeitens seyn müßte, und zwar solche W a h r h e i t, die unsre und unsrer Mitbürger Bedürfnisse und Bequemlichkeiten mittelbar und unmittelbar betreffen. Denn man kann in der That nicht mit zu vielem Nachdruck auf die Gemeinnützigkeit und Brauchbarkeit gelehrter Untersuchungen dringen. Vom Menschen also, vom einzelnen Menschen, von uns selbst (denn nichts kann uns näher angehen) werden wir am Besten alle unsere Meditationen anfangen.18

Die Leitidee seines Verständnisses von Wissenschaft vertiefte er durch eine anthropozentrisch begründete Motivation des Strebens nach Erkenntnis: Der natürliche Fortgang der menschlichen Neugierde, die Stufe der Beziehung auf uns selbst, ist mir der Standpunkt, von welchem ich bey der Klassifikation der Wissen­ schaften ausgehe [...]. Die erste Neugierde unsres Geistes geht dahin, von sich selbst und seiner Bestimmung deutlicher unterrichtet zu werden, sich die Fragen, die ihm so oft aufstoßen, zu beantworten: wa s b i n i c h ? W a s w e r d e i c h s e y n ?19

Aus dieser Fragestellung nach der existentiellen Befindlichkeit des Menschen entsprang sein Philosophie- und Wissenschaftsverständnis. Er konzentrierte es, wie andere Vertreter der Aufklärungsbewegung auch, sowohl auf die Entfaltung der kritischen Erkenntnisfähigkeit des Menschen als auch auf die praktische Umsetzung in dessen Lebensgestaltung. Er meinte: Eine solche Klassifikation beweist am bündigsten einen Satz, welchen man so oft nachbetet, ohne etwas dabei zu denken: Daß die Philosophie des Körpers und der Seele, oder, wenn man will, A n t h r o p o l o g i e geht vor allen andern vorher. Man sieht auch hieraus die Pflicht deutlicher, welcher unsre Tage so rühmlich nachstreben, alle andre Wissenschaften in angewandte Philosophie zu verwandeln. Wie viel müßte es zur Aufklärung des gemeinen Menschenverstandes beytragen, wenn wir eine wahrhaftig populaire Encyklopädie der Wissenschaften nach d i e s e r O r d n u n g besäßen! Wenn [wann – H. S.] wird man aufhören, den Namen E n c y k l o p ä d i e an eine willkührliche Anzahl, alphabetischer Artikel zu verschwenden [...]. 20 18 Ueber die Klassifikation und Rangordnung der Wissenschaften, S. 234. 19 Ebenda. 20 Ebenda, S. 236 f. Der Verfasser entwarf eine Klassifikation der Wissenschaften als Abfolge des Wissens aus der anthropologisch begründeten Funktion des Wissens. Die Grundbereiche (Körper des Menschen – Seele des Menschen – Gesellschaft / Societät – Leblose Körperwelt – Gott – Sein) werden von entsprechenden Wissenschaften reflektiert. Es

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Unter diesem Grundgedanken erweiterte der Verfasser das Kritikfeld auch auf die bestehende Bildungsstruktur.21 Es gehe nicht um den Vorrang einer Wissenschaft, sondern darum, was unmittelbare Vortheile für das gemeine Beste bringt, [...] was mehr Beziehung auf den Menschen hat [...].22

Er schlussfolgerte: Doch lieber wollen wir auf die Ausbreitung der kosmopolitischen Denkungsart dringen, welche bey einem einzelnen Theile der Gelehrsamkeit sich sogleich der allgemeinen Kette erinnert, die alle umschlingt.23

Hieraus leitete der Verfasser die Notwendigkeit ab, dass die Wissenschaften zur Lösung von Problemen achtungsvoll zusammenarbeiten. Es habe sich gezeigt: Die sogenannten Brodwissenschaften würden ohne Hülfe mancher Hungerwissenschaften (der Philosophie und Philologie) ihre heutige Höhe nicht erreicht haben.24

Die hier aufgeworfenen Fragen und Probleme zur Bedeutung der Wissenschaft für die Selbsterkenntnis des Menschen lassen beim Verfasser und nicht zuletzt bei Ewald als Herausgeber einen hohen Grad der Bereitschaft erkennen, sich auf die vier Jahre später von Kant formulierten »Grundfragen der Vernunft« zu orientieren. In der »Kritik der reinen Vernunft« (1781, A 805) zentriert Kant die genannten Konstellationen in den Fragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?

Obwohl es bisher keinen Hinweis gibt, dass sich Ewald mit den vorkritischen Schriften Kants beschäftigt hat, wurden für ihn Kants prägnante Fragestellung und ihre systematische Beantwortung in der kritischen Philosophie von grundsätzlicher Bedeutung.

wird gezeigt, »wie darunter alle kleinern Theile der Gelehrsamkeit ganz natürlich begriffen werden können«, ebenda. 21 Ebenda, S. 249. 22 Ebenda, S. 251. 23 Ebenda. 24 Ebenda, S. 249.

IV. Die Profilierung des philosophischen Denkens von Ewald im Zeitraum von 1781 bis 1790 (Zweite Phase)

In diesem Jahrzehnt waren Ewalds Bestrebungen, anknüpfend an seine bis dahin gewonnenen psychologisch-anthropologischen Vorstellungen, auf die Vertiefung der Erkenntnisse des Menschen über seine anthropologische Existenz gerichtet. Sie sollten aufklärend wirken und den Einzelnen befähigen, sein Leben in der Gemeinschaft aktiv und effektiv zu gestalten. In seinen Darlegungen zur natürlichen Religion erklärte er die Einordnung des Menschen in die göttliche Weltordnung. Hierzu fand Ewald in der kritischen Philosophie Kants, insbesondere in deren moralphilosophischen Prinzipien, das philosophische Fundament. Dessen Aneignung und Weitergabe bestimmte wesentlich seine publizistische Tätigkeit. Gleichzeitig erweiterte er durch die Übersetzung der Schriften Spinozas und der damit verbundenen Auseinandersetzung mit dessen philosophischem System, wie der Lehre von der Substanz (Gott / Natur) und den staatsphilosophischen Intentionen, sein Verständnis von Toleranz, Humanität und Sozialität. Nicht zuletzt wirkten die geschichtsphilosophischen Ideen der Illuminaten gleichsam als Ferment zur Ausprägung seiner gesellschafts- und staatstheoretischen Vorstellungen. Insbesondere war es Ewalds Adaption des illuminatischen Drei-Stufen-Konzepts einer linear verlaufenden Entwicklung der Gesellschaft, die in einem Reich der Vernunft gipfelt.1

1. Ewalds Versuch einer anthropologischen Interpretation der Aktivitäten der menschlichen Psyche Johann Gottfried Herder bat Anfang Mai 1784 den Königsberger Verleger Johann Friedrich Hartknoch, sich für die Erzeugnisse seines in Erfurt ansässigen Druckers Johann Ernst Schlegel einzusetzen. Dieser habe einige Bücher verlegt, die er nun über bekannte Verlage verkaufen möchte. Dazu gehörte das größere Manuskript eines jungen Autors. Über diesen schrieb Herder: Mit dem Einen Buch, vom menschlichen Herzen, hat er einem armen Teufel, aus Noth u. zur Frau geholfen, zu der er ohne dies Buch vom menschlichen Herzen nicht gelangen konnte. Er verspricht sehr billig zu seyn. Vom innern Werth der 1 Vgl. Schüttler, Zur Geschichtsphilosophie des Illuminatenordens, S. 273 ff.

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Bücher kann ich, zumal buchhändlerisch, nichts sagen, theils weil ich sie zu lesen nicht Zeit u. Muth habe, theils weil doch mein Urtheil in solchen Sachen zum Verkauf nichts entscheidet.2

Es handelt sich um die Schrift von Schack Hermann Ewald, die unter dem Titel »Ueber das menschliche Herz, ein Beytrag zur Charakteristik der Menschheit« (3 Bde., 1045 S., Oktav), die 1784 in Erfurt bei Johann Ernst Schlegel erschienen war. Auf dem Titelblatt wird der Verfasser nicht genannt; erst unter der Widmung der Schrift an Juliane Franziska von Buchwald ist der Name Ewalds unter der Datierung (»Gotha, den 30. Jan. 1784«) abgedruckt.

1.1. Zur anthropologischen Zielsetzung Ewalds Ewald ging von der Idee aus, dass die geistige Natur des Menschen ihren Hauptsitz – gleichsam metaphorisch – im Herzen hat. Er sah es als Konzentrationsbereich aller psychischen, d. h. emotionalen und rationalen Aktivitäten des Individuums an. Deshalb definierte er: Unter dem Ausdruck Herz verstehen wir den Inbegriff aller Empfindungen und Leidenschaften, und aller derjenigen Bewegungen, die mit den Neigungen und Abneigungen, Begehrungen und Verabscheuungen, als Modificationen unserer Willenskraft, unzertrennlich verknüpft sind.3

Die Zielsetzung seiner Darlegung war darauf gerichtet, eine Orientierung für die Selbstgestaltung des sittlichen Verhaltens des Einzelnen bzw. des humanen Umgangs aller miteinander zu geben. Er erklärte: Der Gegenstand, den ich abgehandelt habe, ist für alle Menschen, ohne Unterschied, höchst interessant, denn er umfaßt die ganze Wissenschaft, aus der wir uns selbst kennen lernen, und die uns Anleitung und Gelegenheit giebt, bey allem unserm Thun und Lassen jederzeit der Bewegungsgründe dazu eingedenk zu werden.4

Seine Betrachtungen »über das Empfinden überhaupt, über den Willen und die durch ihn bewürkten Empfindungen, und über die Leidenschaften« habe er, so Ewald, den würdigen Männern, die über diese Materien vor mir geschrieben haben [zu verdanken:] einem M o s e s M e n d e l s s o h n, S u l z e r, E b e r h a r d, H e r d e r, C a m p e, F e d e r, C a r t e s i u s u n d H u t c h e s o n.5 2 3

Johann Gottfried Herder, Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803, Bd. 5, Weimar 1979, S. 41. Schack Hermann Ewald, Ueber das menschliche Herz, ein Beytrag zur Charakteristik der Menschheit, Bd. 1, Erfurt 1784, Vorrede, o. S. 4 Ebenda. 5 Ebenda.

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Gleichzeitig betonte Ewald, durch eigene Beobachtungen und Reflexionen das vorgenommene Thema bearbeitet zu haben. Zum anderen ist aus der Reihe der genannten Autoren sein vitales Interesse an den Grundproblemen aufklärerischen Denkens zu erkennen. Ewald ging von der Tatsache aus, dass »Empfindungen« des Menschen, sowohl die geistigen als auch die körperlichen, »nur das Resultat seiner gegenwärtigen Existenz, seiner besondern individuellen Art des Seyns, und seiner Verhältnisse mit allem, was um ihn ist, sind«.6 Diesen milieutheoretischen Ansatz übertrug er auf das menschliche Herz als Konzentrationspunkt aller organischen und psychologischen Abläufe im Menschen. Es symbolisiere als »Inbegriff« alle Empfindungen und Leidenschaften. Auf dieser Grundlage versuchte Ewald, in den realen Verhaltensweisen des Individuums dem Spannungsverhältnis zwischen der rational-voluntativen und der psychologisch-empirischen Komponente des menschlichen Bewusstseins nachzuspüren. Letztlich ging es Ewald in diesem Verhältnis von Denken und Sein, von Geist und Körper um die übergreifende Aktivität der Vernunft in einer Philosophie des Lebens. Dass in der Erklärung des Mechanismus der »menschlichen Maschine«7 bestimmte Zusammenhänge, wie z. B. der Einfluss der geistigen Aktivität auf die Blutzirkulation und umgekehrt, unvermittelt dargestellt wurden, ist meist dem Wissensstand geschuldet. Entscheidend ist jedoch, dass Ewald durch seine Vorstellungen und Reflexionen über das Verhältnis von menschlichem Bewusstsein, er nannte es Seele und Geist, und körperlichem Organismus grundsätzlich die Meinung vertrat, dass menschliche Lebensäußerungen durch Denken, Nachdenken, Gesinnung und Willenskraft vom Individuum selbst gestaltet werden können. Denn alle »Thätigwerdung der Empfindungen«8 ist die Äußerung von »Modificationen unserer Willenskraft«,9 d. h. dass in allen Fällen unseres »Denkens und Wollens [...] die Denk- und Willenskraft des Menschen dabey würksam ist«.10 Es war zu erwarten, dass dieses auch von Ewald nicht lösbare Problem, die Wechselwirkung zwischen menschlichem Bewusstsein und körperlichem Organismus zu erklären, kritisch nachgefragt wurde. Zumal Ewald dem Geist die umfassende Fähigkeit zusprach, die Beziehung zwischen Seele und Körper zu bestimmen. Ein Rezensent griff dieses Thema auf: Wir stimmen dem Hrn. Verfasser im Grunde völlig bey; doch aber, scheinet es uns, daß er sich hierüber etwas vollständiger und zugleich verständlicher also hätte ausdrücken können: Weil Seele und Leib ganz entgegengesetzte Wesen sind, so können sie unmöglich mit einander unmittelbar verbunden werden, daß das eine dem andern 6 Ebenda. 7 Ebenda, S. 2. 8 Ebenda, S. 22. 9 Ebenda, Vorrede, o. S. 10 Ebenda, S. 22.

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seine Wirkung mittheilen könnte. Der Geist kann nicht unmittelbar in den Körper, so wie dieser auch nicht in jenen wirken; es muß solches vermittelst eines Bandes geschehen, so beyder zu verbindende Naturen theilhaftig und also halb geistig und halb körperlich ist.

Dieses »gemischte Wesen des Geistes« hätte der Verfasser noch »begreiflicher« verdeutlichen sollen.11 Andererseits hob der Rezensent zustimmend hervor: Besonders sehr scharfsinnig zergliedert und entwickelt der Hr. Verf. alle in die Seelenlehre einschlagende Gegenstände; wir empfehlen zum Beweise die Empfindungen zum besondern Nachlesen, deren Mannigfaltigkeit sehr genau auseinander gesetzt werden.12

Ungeachtet der Kritik an der Darstellung des Grundproblems, das zu allen Zeiten kontrovers diskutiert wird, war Ewald bestrebt, das ganze Spektrum der in Erscheinung tretenden Emotionalität des menschlichen Individuums vorzustellen. Dazu reflektierte er über die Darstellungen menschlicher Charaktere in der Literatur und nutzte die Erkenntnisse der Wissenschaften. Er versuchte, die Motivation der Individuen und die Determination ihres Handelns sowohl aus der psychologischen Verfasstheit des Einzelnen als auch aus den Spannungen des sozialen Milieus, welches Ewald sehr differenziert betrachtete, zu erklären. Meist gab er Hinweise bzw. Ratschläge, wie sich der Einzelne, vor allem in extremen Situationen, im Sinne des Allgemein-Menschlichen verhalten sollte. Ewalds Bemühungen können als Ausgangspunkt für eine sozial-theoretische und psychologische Vertiefung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft angesehen werden. Auf jeden Fall ist seine »Charakteristik der Menschheit« bzw. seine Phänomenologie der Emotionen ein Beitrag, der den Menschen als Subjekt seiner Umstände zu befördern sucht.

1.2. Ewalds Bezüge zur Literatur und zu den Wissenschaften Wenngleich Ewald mit dieser Schrift den selbst gesetzten Anspruch, eine ganzheitliche Lehre der Empfindungen im Sinne der anthropologischen Erfassung des Menschseins darzustellen, nur bedingt erfüllen konnte, so hat er doch versucht, in den verschiedensten Äußerungen von Empfindungen, den Zusammenhang von Seele, Geist (Denkkraft, Vernunft, Verstand) und Körper (Organismus als Maschine) zu beschreiben. Die Anzeige der Schrift in den GgZ ging lediglich auf die Phänomene der Empfindungen ein. Sie berücksichtigte kaum Ewalds Bezüge zu den individuellen und sozialen Ursachen ihrer Entstehung.13 11 Erfurtische gelehrte Zeitung, 21. St. vom 1. Mai 1785, S. 167. 12 Ebenda, S. 168. 13 GgZ, 51. St. vom 26. Juni 1784, S. 421–424. »Ueber das menschliche Herz [...] Ein Produkt unsers Hrn. Ewald. Sowohl die Reichhaltigkeit der abgehandelten Materien, als die Be-

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Beurteilt man Ewalds Darstellung nach dem damaligen Stand der Diskussion über die Eigenständigkeit der Anthropologie, wie sie von Naturwissenschaftlern (z. B. Albrecht von Haller) und Medizinern (z. B. Johann August Unzer) geführt wurde,14 so ist festzustellen, dass er nur insoweit davon Kenntnis genommen hat, wie dieses Wissen zur Begründung seiner Konzeption, die sich vorwiegend im psychologischen Bereich bewegte, von Bedeutung war. Ewald hat überhaupt die formale Ordnung seiner Darstellung nicht durch die tiefere Begründung der Probleme, durch eindeutige Bestimmung der Begriffe und durch Konsistenz seines Begriffssystems in den Vordergrund gestellt.15 Kurze und einfache Erklärungen sollten wohl das flüssige Lesen der durch Beispiele angereicherten Darstellung fördern. Ungeachtet der Kritik an der theoretischen Fundierung der Darlegungen zeigt sich, dass Ewald in der Durchführung seiner Konzeption mehr daran lag, am Maßstab des Menschlich-Humanen eine Philosophie des Lebens zu vermitteln und damit praktisches Verhalten, u. a. der Schauspieler, zu orientieren. So führte er z. B. unter dem Absatz »Höflichkeit / Grobheit« aus: Ein gefälliges, freundliches, liebreiches Betragen, das gar keinen Hochmuth, Eigendünkel, Aufgeblasenheit verräth, ist das einzige Merkmal, das die Philosophie des Lebens für ächt erkennt. Es ist allgemein und schickt sich für Menschen aus allen Ständen und für alle bürgerlichen Verhältnisse [...].16

Andererseits hat er versucht, durch Studien der philosophischen Literatur Westeuropas und Deutschlands, durch seine Kenntnisse der antiken, neuzeitlichen und aktuellen Literatur und Kunst, durch den Einblick in psychologische und medizinische Literatur sowie durch eigene Beobachtung eine relativ geschlossene Beschreibung der gewöhnlichen und außergewöhnlichen Äußerungen des Menschen vorzunehmen. Er war bemüht, zur Erklärung von ausgeprägten positiven und negativen Leidenschaften zunehmend medizinische Erkenntnisse heranzuziehen. Ewald hat folgende Autoren verschiedener Bereiche in seine Darstellung einbezogen, sie zitiert oder auf deren Schriften verwiesen: arbeitung derselben, können uns leicht zu einer umständlichern Beurtheilung, und sehr häufig zur Bezeigung unsers Beyfalls reitzen, wenn wir nicht jene um des Raums zu schonen, und diese um nicht ungleiche Deutungen zu veranlassen, die bey der Verbindung, worin der Herr Verf. mit dieser Zeitung steht, leicht entstehen könnten, vermeiden müßten. Wir schränken uns also auf eine bloße Anzeige des Inhalts ein«, ebenda, S. 421. 14 Vgl. Hans-Peter Nowitzki, Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit, Berlin / New York 2003, S. 165–249. 15 Vgl. ALZ, 1785, Supplemente, Nr. 53, S. 212. In der Rezension zu Ewalds Schrift »Ueber das menschliche Herz« bemerkte der Verfasser zum Beispiel: »Der Verf. hat nicht einmal bestimmt, was er unter dem Willen versteht; ob er darunter bloß die vernunftmäßige Entscheidung der Einsicht, oder überhaupt alle Seelenkräfte, die den Menschen in Bewegung setzen, Gefühle und Leidenschaften mit eingeschlossen, meint. Daraus ist denn manche Unbestimmtheit geflossen.« 16 Ewald, Ueber das menschliche Herz, Bd. 2, S. 474.

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Zweite Phase: Profilierung philosophischen Denkens 1781–1790

Literatur: Sophokles (»Ödipus«), Voltaire (»Oreste«), Goldoni, Shakespeare (»Hamlet«), Lessing (»Laokoon«, »Hamburgische Dramaturgie«, »Nathan der Weise«), Goethe (»Clavigo«), Gerstenberg (»Ugolino«), Wezel (»Rache für Rache«), Ekhof als Schauspieler. Philosophie: Zu den schon genannten Autoren verwies er auf weitere Denker und ihre Schriften: René Descartes, »Passiones animae« (1649); Adam Smith, »The Theory of Moral Sentiments« (1759); Denis Diderot, »Moralische Erzählungen« (1772), Johann Gottfried Herder, »Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele« (1778); Johann Christian Lossius, »Unterricht der gesunden Vernunft« (1777); Friedrich Justus Riedel, »Theorie der schönen Künste und Wissenschaften« (1767, 1774). Medizin: Albrecht von Haller, »Physiologie«, Bd. 3, Johann August Unzer, »Der Arzt. Eine medicinische Wochenschrift« (1769), Hermann Boerhaave, »Lehr-Sätze von der Erkennung und Heilung von Krankheiten« (1763), Johann Friedrich Zückert, »Von den Leidenschaften« (1774), Samuel Auguste Tissot, »Abhandlung über die Nerven und ihre Krankheiten« (1781/82), Richard Mead, »Works«, 3 Vol., Chap. of the hypochondriacal Disease.

1.3. Lessings »Nathan« – Symbol menschlicher Weisheit Besondere Anregung für seine Argumentation empfing Ewald durch seine Beschäftigung mit den aktuellen Werken und Schriften der Philosophie, Literatur und Kunst. Hier war Gotthold Ephraim Lessing als exzellenter Repräsentant des kritischen Zeitgeistes sein uneingeschränktes Vorbild. In dem Absatz »Scharfsinn« seiner Schrift zeigte er in der Beurteilung von Lessings Drama »Nathan der Weise« mit ganzer Leidenschaft seine eigene Position: In L e s s i n g s N a t h a n, einem Werke, an welchem man nicht weiß, was man mehr bewundern soll, den Bau und Ton der Verse, oder die Erfindung und den Plan, oder die Haltung der Charaktere, oder den Ausdruck der Empfindungen, oder die reine körnigte Sprache und die Ründung der Perioden; einem Werke, das eiserner Fleiß und reiches Genie erzeugt hat; in welchem der Sinn und Verstand der Worte und Sätze so innig an einer äußerst feinen richtigen Recitation und Deklamation haften; worin gewisse gegenwärtige Verhältnisse unter unserer Nation, so geschickt, und mit einer genauen Beobachtung des Ueblichen, in die alte Zeit und unter eine fremde Nation hinüber geleitet sind; einem Werke endlich, um alle zusammen zu fassen, an welchem alle Kräfte der Seele, Empfindungskraft, Scharfsinn und Einbildungskraft mit so viel Glück und Aufwand gearbeitet haben, daß wir jetzt kühn andere Nationen aufbieten können, ihm ein Gleiches entgegen zu stellen.17 17 Ebenda, S. 206 f.

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Für Ewald war »Nathan« das Symbol einer aufgeklärten, toleranten und gestaltenden Persönlichkeit. Er beschrieb ihn auf dem idealen Niveau des synthetischen Wirkens von emotionalen und rationalen Komponenten seines Denkens und Handelns, die sich in einer intuitiv äußernden Weisheit manifestieren. Er meinte: In diesem weisen Nathan Lessings macht der Scharfsinn einen Bestandtheil des Charakters des Nathan aus. Er ist nicht minder scharfsinnig als weise. Er verräht durchaus tiefe Kenntniß des Menschen, keine Regung des Herzens entgeht ihm, das kleinste Wort, die feinste Verbindung der Worte ist für ihn ein Wink, tiefer zu schauen, und die Gedanken und Wünsche der andern zu entblößen, und alles verrichtet seine Seele schnell, und seine Rede trägt es ohne Verweilen und ohne langes Nachsinnen vor; er bringt scheinbare Widersprüche in Verbindung, und trift mit einem Streiche seines Geistes auf die Unterschiede gleicher und ähnlicher, auf die Gleichheiten und Aehnlichkeiten unterschiedener, ungleicher, unähnlicher Dinge. Seine Weisheit äußert sich nicht bloß in seinen eigenen Gesinnungen und Handlungen, und in seinem Betragen im Umgange mit andern Menschen, sondern auch in seiner individuellen Art zu denken; er ist ein rechtschaffen handelnder und scharfsinnig denkender Mann; in ihm vereiniget sich der höchste Grad der Weisheit; seine Rechtschaffenheit im Wollen und Handeln ist nicht bloß Temperament, sondern noch mehr die Folge seiner Einsichten und Kenntnisse, die er durch stetes Nachdenken über Erfahrungen erlangt hat.18

Unter dem Eindruck von Denkern wie Lessing war sich Ewald schon der Tatsache bewusst, dass die Stringenz seiner begrifflichen Bestimmungen der Schulphilosophie nicht genügen konnte. Da er in seinen Darlegungen breiteren Kreisen verständlich bleiben wollte, hat er diese Einschränkung in Kauf genommen. Das zeigt seine Erläuterung des Verhältnisses von »Verstand und Vernunft«. Er meinte, dass die Denkkraft des Menschen sich zum einen in der Vernunft äußert, indem der Mensch allgemein die Fähigkeit zur Reflexion über Vorstellungen besitzt. Zum anderen wird das Vernunftvermögen durch den Verstand praktisch gebraucht, d. h. das Allgemeine wird auf das Besondere bezogen und umgekehrt. Zu seiner Erklärung meinte er selbstkritisch: Diesen Versuch gebe ich der Beurtheilung größerer Denker anheim, mit dem Wunsche, daß bald eine Zeit kommen möge, wo unsere Philosophie sich des Vorzugs rühmen darf, kein Wort, keinen Ausdruck mehr zu haben, dessen Sinn unbestimmt, und zweydeutig, und mit welchem ein jeder eine andere Bedeutung zu verknüpfen berechtigt wäre.19

Ewald setzte seine Hoffnung, eine evidente und allgemein verbindliche Begriffsstruktur der Philosophie zukünftig verwirklichen zu können, auf die Unter­ suchung der »Beschaffenheiten unsers Erkenntnißvermögens«.20 Es bestimme die 18 Ebenda, S. 207 f. 19 Ebenda, S. 197. 20 Ebenda, S. 326.

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Zweite Phase: Profilierung philosophischen Denkens 1781–1790

Art und Weise des Denkens und Urteilens. Das Erkenntnisvermögen werde durch »wesentliche« und »zufällige« Beschaffenheiten unterschieden: Es giebt nemlich einige, die von Natur im Menschen vorhanden, und ihm gleichsam angeboren sind, andere hingegen erhält er durch Unterricht, Erziehung, Studium, und Erfahrung.21

Die für den Menschen wesentlichen Beschaffenheiten sah Ewald in dessen Fähigkeit bzw. Talent zum Denken und Urteilen. Sie äußern sich seiner Meinung nach im kreativen Schaffen der bildenden Künstler, der Dichter, der Mathematiker u. a. Auch der Philosoph, der in der Schule der L o c k e, N e w t o n, L e i b n i t z, M o s e s M e n d e l s s o h n und K a n t; und jener, der in den düstern Zellen der Scholastik denken gelernt hat; – alle werden sich durch eigene ganz besondere Art im Denken und Ausdruck ihrer Gedanken, es sey durch welche Veranlassung es wolle, auszeichnen.22

An dieser Stelle hat Ewald in seiner Schrift Kant als Philosophen in die Reihe seiner bedeutenden Vorgänger gestellt. Aus seinen Darlegungen ist die Anerkennung der apriorischen Potenzen des menschlichen Subjekts, wie sie Kant in der kritischen Philosophie vorgelegt hat, schon eindeutig sichtbar. Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Schrift (1783) hatte sich Ewald in die Propagierung der Kantischen Revolution des philosophischen Denkens als Redakteur der GgZ eingebracht.

2. Ewalds Schrift über die natürliche Religion In seiner Darstellung »Mein Lebenslauf«, die Ewald als Angehöriger des Geheimbundes der Illuminaten verfasst hatte (datiert auf den 24. Dezember 1785), erklärte er sich bei der Auflistung seiner publizistischen Aktivitäten (vgl. II.2.) als Autor der anonym erschienenen Schrift »Natürliche Religion nach Ursprung, Beschaffenheit und Schicksalen« (Berlin 1784, 238 S.). Es handelt sich um Ewalds religionsphilosophische Bekenntnisschrift, die sowohl unter dem Einfluss der deutschen und westeuropäischen Aufklärung (Reimarus, Lessing, Mendelssohn, Spinoza u. a.) entstand als auch schon den kritischen Geist der Kantischen Schriften der frühen achtziger Jahre atmet. Die Schrift erschien vermutlich in einer geringen Auflage sowie in sparsamster Ausstattung (Broschurheftung, Papiereinschlag). Offensichtlich sah sich Ewald aufgrund des allgemeinen und kontrovers geführten Meinungsstreites über das von ihm erörterte Thema 21 Ebenda, S. 324. 22 Ebenda, S. 326.

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Art und Weise des Denkens und Urteilens. Das Erkenntnisvermögen werde durch »wesentliche« und »zufällige« Beschaffenheiten unterschieden: Es giebt nemlich einige, die von Natur im Menschen vorhanden, und ihm gleichsam angeboren sind, andere hingegen erhält er durch Unterricht, Erziehung, Studium, und Erfahrung.21

Die für den Menschen wesentlichen Beschaffenheiten sah Ewald in dessen Fähigkeit bzw. Talent zum Denken und Urteilen. Sie äußern sich seiner Meinung nach im kreativen Schaffen der bildenden Künstler, der Dichter, der Mathematiker u. a. Auch der Philosoph, der in der Schule der L o c k e, N e w t o n, L e i b n i t z, M o s e s M e n d e l s s o h n und K a n t; und jener, der in den düstern Zellen der Scholastik denken gelernt hat; – alle werden sich durch eigene ganz besondere Art im Denken und Ausdruck ihrer Gedanken, es sey durch welche Veranlassung es wolle, auszeichnen.22

An dieser Stelle hat Ewald in seiner Schrift Kant als Philosophen in die Reihe seiner bedeutenden Vorgänger gestellt. Aus seinen Darlegungen ist die Anerkennung der apriorischen Potenzen des menschlichen Subjekts, wie sie Kant in der kritischen Philosophie vorgelegt hat, schon eindeutig sichtbar. Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Schrift (1783) hatte sich Ewald in die Propagierung der Kantischen Revolution des philosophischen Denkens als Redakteur der GgZ eingebracht.

2. Ewalds Schrift über die natürliche Religion In seiner Darstellung »Mein Lebenslauf«, die Ewald als Angehöriger des Geheimbundes der Illuminaten verfasst hatte (datiert auf den 24. Dezember 1785), erklärte er sich bei der Auflistung seiner publizistischen Aktivitäten (vgl. II.2.) als Autor der anonym erschienenen Schrift »Natürliche Religion nach Ursprung, Beschaffenheit und Schicksalen« (Berlin 1784, 238 S.). Es handelt sich um Ewalds religionsphilosophische Bekenntnisschrift, die sowohl unter dem Einfluss der deutschen und westeuropäischen Aufklärung (Reimarus, Lessing, Mendelssohn, Spinoza u. a.) entstand als auch schon den kritischen Geist der Kantischen Schriften der frühen achtziger Jahre atmet. Die Schrift erschien vermutlich in einer geringen Auflage sowie in sparsamster Ausstattung (Broschurheftung, Papiereinschlag). Offensichtlich sah sich Ewald aufgrund des allgemeinen und kontrovers geführten Meinungsstreites über das von ihm erörterte Thema 21 Ebenda, S. 324. 22 Ebenda, S. 326.

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sowie der damit verbundenen persönlichen Risiken zur Angabe eines fingierten Verlagsortes veranlasst.23 Es ist jedoch anzunehmen, dass er durch die Offen­ legung seiner Autorschaft im Kreise der Gothaer Illuminaten und Freimaurer als Verfasser der genannten Schrift bekannt war.24 Ewald begann mit dieser Schrift die Reihe seiner anonymen Veröffentlichungen, die hauptsächlich in den neunziger Jahren erschienen. Er legte in diesem Buch seine philosophisch begründete Ansicht zum Glauben an eine durch Gott geschaffene Weltordnung dar. Dem Menschen als Teil dieser Schöpfung sprach er durch das ihm gegebene Vernunftvermögen die Fähigkeit zu, deren Entstehung und Ausformung als vielgestaltiges System in seiner Zwecksetzung wahrzunehmen, in wesentlichen Grundzügen und Teilbereichen zu erkennen und hierdurch sein Handeln zu orientieren. Das Erfassen der Sinngebung der so geprägten Welt suchte Ewald durch das Erschließen ihrer natürlichen Gegebenheiten auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie durch die Untersuchung der historischen Quellen des Entstehens und des Fortentwickelns des Religiösen in der menschlichen Gemeinschaft im allgemeinen und im Christentum im besonderen zu umreißen. Aus dieser teleologischen Weltsicht leitete er konsequent die humanistische Orientierung menschlichen Denkens und Handelns ab. In der Verbindung von Glauben und Vernunft sah er einen notwendigen Zusammenhang, den er zur Gestaltung einer menschenwürdigen Weltordnung als unabdingbar voraussetzte. Er verfolgte die Absicht, die zeitgenössischen Versuche einer naturreligiösen Interpretation der göttlichen Ordnung mit der Zielsetzung zu verteidigen, dass die Verinnerlichung des christlichen Glaubens nur durch dessen vernunftbegründete Erklärung gelingen könne. Unter dieser grundlegenden Voraussetzung wandte er sich drei Ideenbereichen der deutschen und europäischen Aufklärung zu. E r s t e n s stehen seine konzeptionellen Vorstellungen im Einklang mit den naturreligiösen Ausführungen von Hermann Samuel Reimarus, Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn u. a. Ewald folgt deren Auffassung, dass das Verständnis des göttlich bestimmten Seins durch die Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit der menschlichen Vernunft erklärt, vertieft und gefestigt werden muss. Z w e i t e n s ist der Einfluss des von England ausgehenden Deismus zu erkennen, den Ewald mit seinen vernunftreligiösen Vorstellungen zu synthetisieren sucht. D r i t t e n s nutzt er seine naturwissenschaftlichen, medizinischen und psychologischen Kenntnisse zur Erklärung der äußeren Natur und der subjektiven Fähigkeit des menschlichen Individuums, einen übersinnlichen, allgegenwärtigen Gestalter der Wirklichkeit wahrzunehmen. 23 Der Meßkatalog zur Michaelismesse 1784 registrierte: »Religion, natürliche, nach Ursprung, Beschaffenheit und Schicksalen. 8. Leipzig, in der Buchhandlung der Gelehrten.« 24 Dafür spricht auch, daß das in den Beständen der Universitätsbibliothek Jena befindliche Exemplar dieser Schrift laut Stempel und Signatur aus der Bibliothek des Gymnasiums Schnepfenthal / Gotha stammt.

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Zur Rezensierung der Schriften Lessings in den GgZ Zur Reaktion der GgZ auf die naturreligiösen Vorstellungen von Hermann Samuel Reimarus ist zu bemerken, dass dessen seit 1754 in mehreren Auflagen erschienene Schrift »Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion« bis zum Erscheinen der Ewaldschen Schrift in den GgZ nicht angezeigt bzw. rezensiert wurde. Jedoch wurde auf Lessings Veröffentlichungen der »Fragmente des Ungenannten« (Verfasser: Hermann Samuel Reimarus) ausführlich reagiert, die dieser zensurfrei in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift »Zur Geschichte und Literatur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel« veröffentlichte. Wurde der erste Abdruck aus den Fragmenten im »dritten Beytrag« (1774) nur angezeigt,25 so erfuhr der von Lessing 1777 herausgegebene »vierte Beytrag« eine besondere Würdigung. Es wurde berichtet: Der Inhalt besteht ganz in der Fortsetzung aus den Papieren des Ungenannten, die Offenbarung betreffend, und ist in fünf Fragmente abgetheilt. I. Von Verschreyung der Vernunft auf den Kanzeln. II. Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben können. III. Durchgang der Israeliten durch das rothe Meer. IV. Daß die Bücher A. T. nicht geschrieben worden, eine Religion zu offenbaren. V. Ueber die Auferstehungsgeschichte.26

Der Rezensent benannte das Grundproblem des Ungenannten mit einem Kommentar von Lessing: Wenn der unbekannte Verf. im ersten Fragmente eifert, daß die Prediger ihren Zuhörern immer zusetzen, ihre Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens gefangen zu nehmen, und diejenigen, welche nun Lust bekommen möchten, nachzudenken, und auf den Grund ihres bisherigen blinden Glaubens zu forschen, von dem Gebrauche ihrer edelsten Naturgabe, der Vernunft, abschreckten, so antwortet Herr L e ß i n g unter andern darauf: »Allerdings hat es dergleichen Theologen gegeben: allein wo gibt es deren denn noch? Hat man den Mantel nicht längst auf die andere Schulter genommen? Die Kanzeln, anstatt von der Gefangennehmung der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens zu ertönen, ertönen nun von nichts, als von dem innigen Bande zwischen Vernunft und Glauben. Glaube ist durch Wunder und Zeichen bekräftigte Vernunft, und Vernunft raisonnirender Glaube geworden. Die ganze geoffenbarte Religion ist nichts, als eine erneuerte Sanction der Religion der Vernunft. Geheimnisse gibt es entweder darinn gar nicht; oder wenn es welche gibt, so ist es doch gleich viel, ob der Christ diesen oder jenen, oder gar keinen Begriff damit verbindet.27

Weiterhin erfuhr der von Lessing 1778 besonders herausgegebene Titel »Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger« in den GgZ auf 8 Druckseiten eine umfangreiche 25 GgZ, 8. St. vom 28. Juni 1775, S. 61. 26 GgZ, 13. St. vom 12. Februar 1777, S. 97. 27 Ebenda. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 8: Werke 1774–1778, Frankfurt am Main 1989, S. 315 f.

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Würdigung. 28 In ähnlicher Weise reagierte die Redaktion auf die Schriften Lessings, die dieser in Auseinandersetzung mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze veröffentlichte. Auf 6 Druckseiten wurde über die »Parabel, die kleine Bitte, Absagungsschreiben, Axiomata, wenn es deren in dergleichen Dingen gibt, Anti-Goeze« (erste Teile) ausführlich informiert.29 Dieser Rezension stellte die Redaktion der GgZ, in der Ewald nicht nur aktiv mitwirkte, sondern auch bald (1779) deren Leitung übernahm, eine mit den Editionen und Darlegungen von Lessing sympathisierende Erklärung voran.30 1779 informierten die GgZ über die letzte Lessingsche Antwortschrift an Goeze, in der er seine Auffassung zur christlichen Religion auf der Grundlage der Bibel und der Symbole der christlichen Kirche, wie sie in den ersten vier Jahrhunderten entstanden, darlegte.31 Obgleich die Veröffentlichungen Lessings, konzentriert um die Publikation und Kommentierung der »Fragmente eines Ungenannten«, in den siebziger Jahren allgemeine Aufmerksamkeit erregten, so hat seine persönliche Verbindung zu Johann Wilhelm Dumpf (Studienfreund von Lessing in Wittenberg, Redakteur der GgZ bis 1779) die kontinuierliche Rezensierung der Schriften und Berichte der Aktivitäten von Lessing besonders befördert. Dieses Interesse am aufklärerischen Wirken von Lessing in Gotha bestätigte der Verleger der GgZ, Carl Wilhelm Ettinger, bei seinem Besuch in Wolfenbüttel ausdrücklich. In seinem Brief vom 15. September 1779 an Lessing ging er auf das Gespräch mit Lessing ein, in dem, ohne einen Titel zu nennen, der mögliche Abdruck der »Fragmente eines Ungenannten« in Gotha erörtert worden war. Im ersten Teil des Briefes schrieb Ettinger: 28 GgZ, 83. St. vom 17. Oktober 1778, S. 681–688. 29 GgZ, 79. St. vom 3. Oktober 1778, S. 649–656. 30 Ebenda, S. 649 f. Dort heißt es: »Wir haben noch verschiedene Schriften des Herrn Hofr. Lessing nachzuholen, welche durch die Antworten des Hrn. Pastor Göze zu Hamburg in seinen f r e y w i l l i g e n B e y t r ä g e n gegen die in den L e s s i n g s c h e n B e y trägen zur Litteratur und Geschichte aus den Schätzen der W o l f e n b ü t t e l s c h e n B i b l i o t h e k befindlichen Fragmente eines Ungenannten, entstanden sind. Wir erzählen den Inhalt treulich und ohne uns merken zu lassen, welche Parthey wir, vermöge des Uebergewichts an Gelehrsamkeit, gesundem Verstande und Scharfsinn, für die stärkere halten. Das Recht das wir jetzt den Schriften des Herrn L e s s i n g wiederfahren lassen, werden wir auch den Schriften des Herrn G ö z e nicht verweigern; wir werden sie gleichfalls anzeigen, sobald uns eine von ihm oder seinen Anhängern zu Gesicht kömmt.« 31 GgZ, 14. St. vom 17. Februar 1779, S. 106 f. Es heißt dort: »Das letzte, was wir in der ver­­ muthlich nun abgebrochenen Streitigkeit über die Fragmente eines Ungenannten zwischen Herrn Hofrath L e s s i n g und Herrn Hauptpastor G o e z e , von ersterm noch anzuzeigen haben, ist: Gotth. Ephr. Lessings nöthige Antwort auf eine sehr unnöthige Frage des Hrn. Hauptpastor Goeze in Hamburg. 1778.«

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Wohlgeborner Herr, Hochzuverehrender Hofrat, Ich bin von meiner Reise glücklich zurückgekommen und danke Ihnen recht sehr für die mir in Wolfenbüttel erwiesene Höflichkeiten. Mit Vergnügen denke ich noch an den angenehmen Aufenthalt bei Sie. Kommen Sie doch ja bald zu uns. Da es noch mein wahrer Ernst ist, das bewußte Werk zu drucken, so sähe ich gerne, wenn Sie mir je eher je lieber meldeten, was ich dafür zahlen soll. Da ich höre, daß mehrere Abschriften von dem Werke existieren, und zu befürchten steht, daß Jemand anders davon Gebrauch macht, so wünschte ich um so eher Gewißheit zu haben, und eben wegen dieser Furcht trage ich Bedenken, es den Buchhändlern vorher anzukündigen. Es könnte mir auch verboten werden.

Nach weiteren Mitteilungen über Büchersendungen und -angebote empfahl sich der Freimaurer Ettinger Lessing als »Euer Wohlgeboren gehorsamster Diener und Bruder«.32 Bekanntlich kam auch dieses Vorhaben durch den Einspruch der Nachkommen von Hermann Samuel Reimarus nicht zustande.33 So erfolgte, nach mehreren Teilveröffentlichungen zu verschiedenen Zeiten, die erste vollständige Veröffentlichung der »Fragmente« unter dem von Reimarus bestimmten Titel »Hermann Samuel Reimarus, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes« im Jahr 1972. Allerdings ist davon auszugehen, dass sich Ewald unter dem Einfluss der Grundidee von Reimarus, die er in seiner seit 1754 mehrfach erschienenen Schrift »Die vornehmen Wahrheiten der natürlichen Religion« zum Ausdruck gebracht hatte, dieser Glaubensvorstellung zuwandte. Einleitend schrieb Reimarus: Wer ein lebendiges Erkenntniß von Gott hat, dem eignet man billig eine Religion zu: und soferne diese Erkenntniß durch die natürliche Kraft der Vernunft zu erhalten ist, nennet man es natürliche Religion. Man gedenket sich aber Gott, nach dieser natürlichen Religion, als das erste, selbständige, nothwendige und ewige Wesen, welches die Welt, nebst allem, was darinn ist, durch seine Weisheit, Güte und Macht geschaffen hat, und beständig erhält und regiret; uns Menschen aber besonders, in gewisser Ordnung, nicht nur in diesem Leben, sondern auch vornehmlich in einem darauf folgenden, zu einer höheren und unaufhörlich wachsenden Vollkommenheit und Glückseligkeit bestimmt hat. Eine solche Erkenntniß von Gott wird an sich lebendig, das ist, wirksam seyn, und eine vergnügende Einsicht in den Zusammenhang der Dinge, einen willigen Trieb zur Tugend und Pflicht, und eine ungestörte Zufriedenheit des Gemüths zu Wege bringen.34 32 Lessing, Werke und Briefe, Bd. 12: Briefe von und an Lessing 1776–1781, hrsg. von Helmuth Kiesel, Frankfurt am Main 1994, S. 282 f. Zur Büchersendung teilte Ettinger mit: »Der verlangte Philodor ist auch dabei«, ebenda. Ewald hatte aus dem Französischen übersetzt: André Danican Philidor, Praktische Anweisung zum Schachspiel, Gotha 1779. 33 Hermann Samuel Reimarus, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, hrsg. von Gerhard Alexander, Bd. 1, Frankfurt am Main 1972, S. 16 ff. 34 Hermann Samuel Reimarus, Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, hrsg. von Johann Albert Hinrich Reimarus, Tübingen 51782, S. 57 f.

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In gleicher Weise hat Ewald der religionsphilosophische Grundgedanke von Lessing beeinflusst. Er vertrat in der 1780 anonym erschienenen Schrift »Die Erziehung des Menschengeschlechts« die Vorstellung, dass die christliche Religion als Offenbarungsgeschehen Gottes vom Menschen nur durch die schrittweise Bildung und Erziehung seines Vernunftvermögens angenommen werden könne, da Gott diesen Vorgang in seiner Schöpfung so angelegt habe. Er schrieb deshalb der menschlichen Vernunft die eigenständig zu entwickelnde Fähigkeit zu, die göttliche Ordnung der Welt als Individuum und Gemeinschaft zu erkennen und mitzugestalten. Lessing hat das Verhältnis von Offenbarung und Vernunft als untrennbaren Zusammenhang betrachtet; denn: Also gibt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde, sondern sie gab und gibt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher.35

Ewald folgte in seiner Darstellung der Anlage und den Schwerpunkten, die Reimarus und Lessing in ihren Vorstellungen zur natürlichen Religion entworfen hatten. Unter dem Einfluss der sich seit den siebziger Jahren verschärfenden Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Glauben und Vernunft sah sich Ewald, befördert durch das Studium der Schriften Spinozas und Kants, geradezu gedrängt, seine Position zu einem auf Vernunftgründen beruhenden Glauben an das Übersinnliche, insbesondere seine die Welt schaffende und prägende Wirkung, zu bestimmen. Von daher war es folgerichtig, dass er sich zur Auseinandersetzung mit der Konzeption und den grundlegenden Aussagen dieser religiösen Denkrichtung, die sich als »natürliche Religion« bezeichnete, entschloss. Ewald erklärte – statt eines Vorworts – das Grundmotiv seiner Hinwendung zu diesem Thema: Ich suchte Wahrheit und Ueberzeugung. Vergieb mir höchstes Wesen, wenn ich irrte! und erwecke einen Geist, der mich zum reinsten Licht der Wahrheit leite.36

Auf der Grundlage der genannten Ideenströme entwarf er folgende Gliederung seiner Schrift in vier Kapitel: 1. Der erste Mensch 2. Offenbarung 3. Ursprüngliche Religion und Deismus 4. Schicksale des Deismus

35 Lessing, Werke und Briefe, Bd. 10: Werke 1778–1781, hrsg. von Arno Schilson / Wilfried Barner, Frankfurt am Main 2001, S. 76. 36 Schack Hermann Ewald, Natürliche Religion nach Ursprung, Beschaffenheit und Schicksalen, Berlin 1784, Rückseite des Titelblatts.

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2.1. Zum ersten Kapitel: »Der erste Mensch« Ewald ging davon aus, dass die Erschaffung des Menschen in einer Vorzeit erfolgt sein muss, die aufgrund der neuesten Erkenntnisse der Wissenschaften (Astronomie, Geologie, Biologie, Geschichte, Anthropologie u. a.) erheblich weiter zurück reicht als die bis dahin übliche mosaische Zeitrechnung anzugeben vermochte. Das empirisch gewonnene Material veranlasste eine ständige Zeiterweiterung der Erd- und Menschheitsentwicklung. Im Gegensatz zur biblischen Zeitrechnung, so stellte Ewald fest: sucht man aus den physischen Beschaffenheiten und dem Bau des festen Landes des Erdbodens, und aus Revoluzionen, die er theils im Ganzen, theils nach einzelnen Theilen, besonders Meer und Bergen und Erdlagen erlitten hat, ein weit höheres Alter des Erdbodens darzuthun, als ihm von Moses gegeben wird, 37 so wie man auch in Ansehung des mosaischen Alters der Menschheit, aus der Beschaffenheit der Kenntnisse, die Moses dem ersten Menschen und seinen unmittelbaren Nachfolgern ertheilt, im Verhältniß mit den den geistigen Kräften des Menschen möglichen Fortschritten in der Kultur überhaupt, wahrscheinlich zu machen bemüht ist, daß dasselbe viel zu jung; der wahre Anfang des Menschengeschlechts hingegen weit älter seyn müsse.38

In Bezug auf die Art und Weise des ersten Auftretens des von Gott geschaffenen Menschen – ob als zweigeschlechtliches Individuum, ob als eine größere Anzahl von Menschen oder als ein Paar von Mann und Frau – entschied sich Ewald für das Menschenpaar, da es nur hierdurch zur »Fortpflanzung« und »zu einer allmäligen Vermehrung und Verbreitung des Menschengeschlechts« komme.39 Er argumentierte: Daß die Menschen e i n e n Mann und e i n Weib zu ursprünglichen Stammeltern gehabt haben, und dadurch diese und ihre Nachfolger die Bevölkerung der Erde allmälich geschehen sey, darin stimmen Natur und Geschichte überein; [...]. In e i n e m Paar schon liegen die fruchtbaren Keime einer zahlreichen Nachkommenschaft [...].40 37 Ewald konnte sich auf die im sächsisch-thüringischen Raum geleisteten fundamentalen Beiträge zur Herausbildung der Geologie als Wissenschaft stützen. Durch geologische Untersuchungen haben folgende in Thüringen wirkende Geologen zum Verständnis erdgeschichtlicher Vorgänge die Grundlagen zur historischen Geologie und zur Formationslehre gelegt: Johann Ernst Immanuel Walch, Die Naturgeschichte der Versteinerungen, 4 Bde., Nürnberg 1768–1774; Johann Gottlob Lehmann, Versuch einer Geschichte von Flötz-Gebürgen, Berlin 1756; Georg Christian Füchsel, Historia terrae et maris, ex Historia Thuringiae, per montium descriptionem, in: Actorum Academiae Electoralis Moguntinae Scientiarum Utilium. Bd. 2, Erfurt 1761. Ders., Entwurf zu der ältesten Erd- und Menschengeschichte, nebst einem Versuch, den Ursprung der Sprache zu finden, Frankfurt /Leipzig 1773. 38 Ewald, Natürliche Religion, S. 2 f. 39 Ebenda, S. 5. 40 Ebenda, S. 4.

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Unter dieser Voraussetzung ging er davon aus, dass die Entwicklung des Menschen naturgemäß verlaufe, da die Natur langsam und haushälterisch vorgehe. Er hielt es für unwahrscheinlich, dass der »ewige Bildner« im Hinblick auf den Menschen, obgleich er ein geistiges Vermögen in ihn gelegt hat, jene weise Oekonomie, nach welcher er die Kräfte der von ihm geschaffnen Natur nach den nächsten, kürzesten, einfachsten Gesetzen würken läst, außer Acht gelassen [hat].41

Denn es sei nicht wahrscheinlich, so Ewald, daß alle diese Menschen mit dem Gebrauche ihrer Vernunft und mechanischen zu ihrer Erhaltung erforderlichen Werkzeugen ausgerüstet aus Gottes Hand hervorgegangen [sind],42

da dann unmittelbar die Gefahr des Kampfes um Nahrungsmittel den Zustand eines allgemeinen Krieges, der Anarchie und des Untergangs der Menschheit zur Folge gehabt haben könnte. Abschließend urteilte Ewald: Wir bleiben also bey der wahrscheinlichern durch die menschliche Natur selbst und die ältesten Geschichtschreiber bestätigten Meinung, daß ursprünglich nur ein Paar Menschen, e i n Mann und e i n Weib erschaffen worden.43

Die Entstehung der Unterschiede zwischen Rassen, Völkern und Nationen in der Menschheit schrieb Ewald, den zeitgenössischen Vorstellungen entsprechend, dem jeweiligen geographischen Milieu zu: Es sei unwiderleglich zu beweisen, daß die Verschiedenheiten des Menschen in Ansehung der Farbe und äußerlichen Gestalt, eine Folge der Verschiedenheiten des Klima, der Nahrungsmittel und der künstlichen Behandlung des Körpers sind, deren Eindrücken selbst der Mechanismus und die natürliche Anlage und Beschaffenheit der festen und flüssigen Theile des Körpers zustatten kommen.44

Ewald versuchte, die einheitliche Grundlage der Entstehung und Differenzierung »der Geschöpfe des Mineral-, Pflanzen- und Thierreichs unter einander in Ansehung ihrer Verbindung mit ihrer Geburtsstätte der Erde« zu erklären.45 Selbst der Mensch, als aktives Verstandeswesen, sei in seiner »ersten ursprüng­ lichen Entstehung« mit der Erde verbunden: Wand er sich d a nicht aus der Erde, der alleinigen Quelle, dem alleinigen Geburtsort aller irdischen Wesen, los? Irgend woher muß doch der erste ursprüngliche Same der Menschheit genommen seyn? Wo also sonst her, als aus und von der Erde?46 41 42 43 44 45 46

Ebenda, S. 8. Ebenda, S. 10. Ebenda, S. 11. Ebenda, S. 9. Ebenda, S. 15. Ebenda, S. 14.

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Seine Erörterung der unterschiedlichen Formen der Organisiertheit der drei Naturreiche (Stein-, Pflanzen- und Tierreich) hinsichtlich der Stufung ihrer Lebenskraft47 ließ Ewald in der herausragenden Stellung des Menschen in der göttlichen Weltordnung gipfeln: Aber alle Vorzüge der Form und Organisation besizt der Mensch allein im vorzüglichsten Grad. Seine äusserliche Bildung ist schön und edel, und in dieser Rücksicht mit ihr die Bildung der Thiere nicht zu vergleichen; an keinem Thiere erhält jedes Glied des Körpers einen so bestimmten Gebrauch, wie bey dem Menschen; und wenn auch manche Thiere in Ansehung einzelner Sinne, der Stärke, Schnelligkeit u.s.w. einen Vorzug vor dem Menschen haben sollten, wiewohl nicht ohne Grund und Erfahrung behauptet wird, daß es ein Mensch, in Roheit und Wildheit auferzogen, hierin bis zu einem gleichen Grade bringen könne; so ersezt doch der Verstand des Menschen auf der andern Seite diesen Mangel doppelt und dreyfältig wieder. In ihm herrscht der Lebensgeist in vorzüglicher Stärke, veredelt und verschönert seine Bildung, und belebt alle seine Bewegungen, Reden und Handlungen.48

Ungeachtet der herausragenden Stellung des Menschen unter allen Geschöpfen sah Ewald ihn als untrennbaren Bestandteil der von Gott geprägten irdischen Wirklichkeit an, der nur in diesem System seine eigenständige Stellung so entfalten konnte. Deshalb ist und bleibt doch die Erde des Menschen Heimath, und nirgend als in ihr konnte der erste Stoff zu des ursprünglichen Menschen Erzeugung liegen; selbst um den Ursprung seines unsterblichen Theils aufzusuchen, brauchst du nicht ins Empyräum zu steigen, und deine Zuflucht zu einem Ausfluß der Gestirne zu nehmen, da ja das Wesen, dessen Existenz allein notwendig, das das vollkommenste Leben, die vollkommenste Seele ist, mit seiner Allgegenwart die ganze Natur, auch unserer Erde, bis zu ihrem Mittelpunkte, erfüllt.49

Diesen Umriss seiner teleologisch geprägten Vorstellung von einem System der empirisch konstatierbaren Wirklichkeit fundierte Ewald schließlich durch die Fixierung eines ontologischen Prinzips, indem er die Hervorbringung allen Seins in seinen Strukturen einem übersinnlichen Urheber zuordnete. Unter dieser 47 Ebenda, S. 18. Dazu meinte Ewald: Der Stein sei formlos, »ohne Organisation« und »Bewegung«. Die Gewächse hingegen besäßen schon »vegetabilisches« und »wachsthümliches Leben«. Jedoch das Tier habe »eine noch vollkommnere Form«, »aber auch einen derselben angemessenen größern Grad von Lebenskraft; die Structur seiner innern und äußern Theile ist so beschaffen, daß es sich aus eigenem innerm Trieb selbst ernähren, fortpflanzen und bewegen kann; seine Organisation ist weit vollkommner als die der Pflanzen, indeß die Mineralien derselben gänzlich entbehren«, ebenda, S. 17 f. 48 Ebenda, S. 18 f. 49 Ebenda, S. 20. Ewald berief sich hinsichtlich der gemeinsamen Basis für alle Lebewesen auf Hippokrates. Dieser habe erklärt, »daß alles was auf der Erde geboren wird, auch durch die Feuchtigkeit der Erde erhalten wird, und dieselbe Feuchtigkeit, die die Erde selbst in sich enthält, haben auch die Geschöpfe in sich«, ebenda, S. 20 f.

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Voraussetzung schrieb er der geistigen Wesenheit die Fähigkeit zu, alles Sein zu schaffen und permanent zu gestalten. Ewald bezog in diesem in der europäischen Aufklärung geführten Streit über das Verhältnis von »Geist« und »Materie« als ursprüngliche Grundlage der realen Welt eine eindeutige Position. Er erklärte: Der Grund aller Bewegung in der Körperwelt muß ein einfaches, geistiges, selbstständiges, verständiges Wesen seyn, das selbst von außen, und von einer Ursach außer ihm nicht bewegt wird, sondern den Grund der Bewegung in sich selbst hat. Wir nennen es Gott. Von andern ist es Weltseele, Weltgeist, ursprüngliches Licht u.s.w. genennet worden. Die Materie muß durch und aus diesem Wesen erzeugt worden seyn, die Art, wie solches geschehen, mag beschaffen gewesen seyn, wie sie wolle; denn Materie kann sich ursprünglich nicht selbst erzeugt haben, oder sie müste entweder Gott selbst, oder gleich ewig mit Gott seyn, Sätze, denen die gesunde Vernunft eben so unwiderlegbar widerspricht, als sich mit Bestand der Wahrheit gegen die zwey vorher behaupteten Sätze nichts einwenden läst. Die Materie ist also ein Geschöpf Gottes; und um sie sich bewegen, vegetiren, und leben zu lassen, muste jenes anfanglose, geistige, den Grund aller Bewegung in sich selbst enthaltene Wesen, sich zur Materie gesellen, und sie bearbeiten; dieses geschah sogleich in und mit der Entstehung der Materie.50

Die aus dem geschaffenen Sein hervorgegangene Struktur der wahrnehmbaren Realität sah Ewald als eine »von jenem allgemein bewegenden Weltgeist« 51 bewirkte Verbindung mit der Materie. Denn: Mit der Materie vereiniget, scheinet derselbe sich zu einer der Materie möchlichst vollkommenen Form, d. i. einer Form, die sich des Genusses aller gegenwärtigen geschaffenen Dinge auf eine am wenigsten eingeschränkte Weise erfreuen möge, empor zu arbeiten.52

Diesen Vorgang der graduell aufsteigenden Belebung der materiellen Welt durch den Geist Gottes sah Ewald in der Stufenfolge von Stein – Pflanze – Tier– Mensch / Menschheit gestaltet. Den Höhepunkt des göttlichen Gestaltungsstrebens erblickte er in der Entstehung des »Menschen« als eines Wesens, das zur vernunftgeleiteten Reflexion und zur zielsetzenden Aktivität befähigt ist. Hier seine erhebende Vorstellung von diesem Menschsein: Unter allen war aber der ursprüngliche Same der Menschheit der edelste Same, in ihm erhebt sich der Geist Gottes zu der der irdischen Materie möglichen höchsten Vollkommenheit; zum deutlichen bewustvollen Anschauen aller in die Sinne fallenden äusserlichen Gegenstände des Himmels und der Erde; zum deutlichen Nachdenken über sich selbst und sein eignes Wesen, zur Erinnerung vergangner Dinge und Begebenheiten, zur Erhebung der Gedanken in die Zukunft, zur Hervorbringung grosser Thaten und Entwürfe; mit einem Worte, zur Menschenseele.53 50 Ebenda, S. 21. 51 Ebenda, S. 23. 52 Ebenda. 53 Ebenda, S. 25.

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Zweite Phase: Profilierung philosophischen Denkens 1781–1790

In diese Anlage des Menschen habe Gott dessen Befähigung zum »Denken« eingepflanzt. Er wurde »mit den schönsten Fähigkeiten zum Denken, und das Gedachte und Erfahrne zu behalten, ausgerüstet«. Damit habe ihm Gott ein »thätiges Vermögen« zugelegt,54 welches ihm selbständiges Handeln ermöglicht. Es beruhe auf der Anlage zur feinsten und vollkommensten Organisazion [des Körpers], in welchem sich der lebende und belebende Geist Gottes am schnellsten und vollkommensten entwickeln konnte.55

Zur Ausprägung des aktiven Vernunftvermögens setzte Ewald, wie viele Zeitgenossen, die Entstehung und Ausformung der »Sprache« in der menschlichen Gemeinschaft voraus; denn alle Dinge hatten noch keine Namen und folglich auch für sie keine Bedeutung; ohne Sprache hat der Mensch, wie von andern, besonders H e r d e r n (*) unwidersprechlich bewiesen ist, nicht den mindesten Gebrauch der Vernunft.56 (*) U e b e r d e n U r s p r u n g d e r S p r a c h e

Analog zur Vorstellung von der allmählichen Entwicklung der Natur und des Menschen ging Ewald davon aus, dass die Sprache sich von einer »bloßen dunklen Perception der Oberfläche äusserer Gegenstände« über verschiedene Stufen zur aktuellen »Kultur der Seelenkräfte«57 entwickelt hat. So sei z. B. in der Phase der Dominanz der Instinkte und sinnlichen Empfindungen »an Benennungen unsichtbarer Eigenschaften und Verhältnisse sichtbarer Dinge, abstrahirter Begriffe«58 noch lange nicht zu denken gewesen. Ewald resümierte seine historisch-systematische Vorgehensweise zur Analyse und Aufklärung des Entstehens und Werdens der von Gott geschaffenen Realität, in der dem Menschen eine besondere Stellung zukommt, wie folgt: Ich bin in seiner Darstellung [der Entwicklung des Menschen in der göttlichen Weltordnung – H. S.] dem Gange der Natur in ihren sichtbaren und unsichtbaren Würkungen, vermöge dessen sie nicht plözlich losbricht, sondern sich vorbereitet, und von der niedrigsten bis zur höchsten Stufe durch alle Zwischenräume fortschreitet und zur vollkommenen Reife kömmt, getreu geblieben, und habe jede ihr ungemäße Gewaltthätigkeit zu vermeiden gesucht. Denn es war mir darum zu thun, Wahrheit zu suchen, oder, wenn diese in Untersuchungen über Gegenstände dieser Art, nicht überzeugend dargethan und eingesehen werden kann, mich ihr wenigstens zu nähern und das Wahrscheinlichere dem Unwahrscheinlichen und Wunderbaren vorzuziehen.59 54 Ebenda, S. 34. 55 Ebenda, S. 33 f. 56 Ebenda, S. 35. Vgl. Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Berlin 1772. 57 Ewald, Natürliche Religion, S. 35, 39. 58 Ebenda, S. 38. 59 Ebenda, S. 39 f.

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Unter der Voraussetzung dieser realitätsbezogenen Sichtweise grenzte sich Ewald von der offiziellen Vorstellung ab, die die übernatürliche Offenbarung Gottes durch Wunder und inspirierte Geister verkündete. Er vertrat, wie Reimarus, Lessing u. a., die Position der natürlichen Offenbarung Gottes, die dessen Selbstkundgebung durch sein Wirken in der Natur und im Menschen erklärte.60 Die Hinwendung Ewalds zum vernunftgeleiteten Erfassen des Menschseins, das er in der zeitgleich entstandenen Schrift »Ueber das menschliche Herz, ein Beytrag zur Charakteristik der Menschheit« (Erfurt 1784) darstellte, stand letztlich auch hier im Mittelpunkt seines Bestrebens: Allein ich denke, das Wichtigste, was den Menschen zu ihrem Wohl zu wissen nöthig ist, ist ihnen allen ins Herz geschrieben, und das wird erhalten werden, so lange die Erde steht und Menschen auf ihr wohnen werden. Auch ich werde von diesen Früchten keine ausrotten, sondern sie nur auf den Boden pflanzen, wohin sie gehören. 61

Ewald entwarf im ersten Kapitel die Basis und die Konturen seines philosophischen Systems zur naturreligiösen Interpretation der göttlichen Weltordnung sowie zur Aufklärung und Klarstellung der aktiven Teilhabe des Menschen an ihrer Gestaltung. Durch die gleichsam synthetische Handhabung der kosmologischen und teleologischen Beweisführung für das Dasein Gottes war es ihm möglich, die von einem übersinnlichen Urheber geschaffene Realität mit Hilfe der systematischen und historischen Erkenntnisse der Wissenschaften in der kontinuierlichen Ausformung ihrer natürlichen, gesellschaftlichen und geistigen Strukturen zu untersuchen und darzustellen. Im Zentrum seines Bestrebens stand die Analyse der Ausprägung der Vernunftfähigkeit des Menschen zur Reflexion über die von Gott geschaffene Wirklichkeit. Unter diesem Blickwinkel untersuchte Ewald das Entstehen und das Entfalten der religiösen Vorstellungen im europäischen Kulturraum.

2.2. Zum zweiten Kapitel: »Offenbarung« Hier wird deutlich, dass Ewald in seinem Streben nach einem transparenten und systematischen Fundament seiner Weltsicht zum einen unter dem Eindruck der Rationalität des Systems von Spinoza stand. Zum anderen ist zunehmend der Einfluss des Kritizismus von Kant zu erkennen, insbesondere hinsichtlich der Hervorhebung der Eigenständigkeit des menschlichen Vernunftvermögens zur 60 Ebenda, S. 40 f. Ewald fügte hinzu: »Freylich fallen bey dieser Verfahrensart die großen Vorstellungen von unmittelbaren göttlichen Offenbarungen weg, die dem ersten Menschen von Gott geschehen, und deren Ueberlieferung von Adams Munde aus auf seine Kinder und Kindeskinder, und so durch alle Folgezeiten bis auf uns fortgepflanzt seyn sollen.« 61 Ebenda, S. 41.

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Erkenntnis der wahrnehmbaren Realität. Die hier im Überblick dargelegten Prinzipien seines Denkens über das Sein und seine Strukturen bestimmten auch seine Vorstellung über das Wesen und die Entstehung der Religion sowie über deren aktuelle Bedeutung. Auf diesen Grundsätzen beruhte nicht nur seine kritische Haltung zu einigen Inhalten und Formen der jüdischen und der christlichen Religion, sondern vor allem seine Auffassung als Anhänger der sogenannten natürlichen Religion. Die Basis seiner Systematik bildet die definitorische Festlegung der allumfassenden Schöpferkraft Gottes als Wesensbestimmung jeglichen Seins im allgemeinen sowie der Entstehung und der Ausprägung der wahrnehmbaren Realität im besonderen. Daraus leitete er das Verhältnis von »Geist« und »Materie« ab. Er kennzeichnete den Zusammenhang von Materie, Bewegung und Leben in seinen wesentlichen Entwicklungsstufen sowie deren Ordnung. Er endete mit der Bestimmung des Menschen in der göttlichen Weltordnung, an deren Gestaltung der Mensch durch das ihm von Gott gegebene Vermögen der Vernunft aktiv Anteil zu nehmen vermag. Unter diesen Voraussetzungen ging Ewald von der These aus, dass der Mensch den Glauben an die göttliche Weltordnung nur durch die Formierung und Anstrengung seines Vernunftvermögens so verinnerlichen kann, dass er der von Gott in die Welt gegebenen Zwecksetzung gemäß zu handeln vermag. Kritik an der Darstellung der Offenbarung Gottes Diese Position bestimmte die Argumentation Ewalds gegen die traditionell gelehrte Vorstellung von der göttlichen Offenbarung, die durch Zeichen, Visionen, Wunder und Propheten das Wort und den Willen Gottes angeblich sichtbar und erlebbar werden lässt. Kritisch stellte er fest: Es wird behauptet, Gott habe den Menschen Unterricht über Gegenstände ertheilt, die zur Beförderung ihrer Seligkeit nöthig, und die sie durch das Licht der Vernunft selbst zu erkennen nicht vermögend wären. 62

Ewald bezweifelte diese Behauptung, da »die Gegenstände der göttlichen Offenbarung selbst von außerordentlicher Wichtigkeit und so beschaffen« sind,63 dass sie ohne die Entfaltung der Vernunftfähigkeit des Menschen in ihrer ganzen Tragweite nicht zu erfassen sind. Denn, so der Inhalt der göttlichen Botschaft: Diese Gegenstände konnten demnach wohl keine andre seyn, als das Daseyn und die Beschaffenheit des Wesens Gottes selbst, die Schöpfung der Welt, und der auf der Erde lebenden Geschöpfe, die Bestimmung des Menschen während seines Wandels auf der Erde, die Beschaffenheit seines Wesens, und seine Bestimmung nach dem Tode.64 62 Ebenda, S. 41. 63 Ebenda, S. 42. 64 Ebenda.

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Von einer solchen göttlichen Unterrichtung des ersten Menschen sei in dieser Form, so Ewald, in der mosaischen Geschichte keine Spur zu finden. Vor allem hielt er es für unmöglich, dass ein endliches und dazu noch eingeschränktes Wesen wie der erste Mensch sich einen Begriff vom unendlichen Wesen Gottes hätte machen können. Er kritisierte, dass die Propheten, denen Gott erschienen sei, nicht umfassender über die göttliche Botschaft berichtet haben. Er meinte dazu: Nur diese, freylich höchst wichtige Lehre, daß nur ein Gott sey, und daß es ausser ihm keine andern Götter gebe. Aber brauchte es wohl einer sinnlichen Erscheinung Gottes, um den Menschen diese Lehre bekannt zu machen, da der nachdenkende menschliche Verstand allmälig selbst zu der Erkenntniß eines einzigen göttlichen Wesens geführet wird?65

Deshalb sei es notwendig, den Menschen über die Entstehung dieser Welt und ihrer Geschöpfe, die er selbst bewohnt bzw. zu denen er gehört, ein solches Wissen zu vermitteln, dass aus dieser Erkenntnis die deutlichere Erkenntnis des Wesens des Weltschöpfers und seiner Eigenschaften, nothwendig fließen müste«.66

Aus diesem Grunde polemisierte Ewald gegen die Darstellung jeglicher unmittelbaren Kontakte zwischen Gott und den Menschen, die man als sinnlich wahrnehmbares Ereignis beschrieben hat. Er erhob den Vorwurf, solche nicht eindeutig bestimmbaren Vorgänge zu nutzen, um das Volk gefügig zu machen. 67 In ähnlicher Weise hätten die Kirchenväter den Texten des Alten Testaments hinsichtlich der »Lehre von der Unsterblichkeit« einen nicht nachvollziehbaren Sinn unterstellt. Sie bedienten sich hierzu, so Ewald, der zu den damaligen Zeiten fast allgemein unter Heiden, Juden und Christen gebräuchlichen mystischen und allegorischen Auslegungsmethode, die dem eigentlichen historischen Sinne immer einen geistigen und mystischen unterschob. 68

Im Neuen Testament, so fuhr Ewald fort, beträfen die Offenbarung durch Jesus und seine Gesandten die Lehre vom Wesen Gottes und der Verheißung eines 65 Ebenda, S. 51. 66 Ebenda, S. 47. 67 Ebenda, S. 52. Ewald stellte die Frage: »werfen dergleichen Stellen (im Alten Testament, 2 Mos. 34, 19.20.) nicht überhaupt auf das Vorgeben einer sinnlichen Darstellung Gottes den allerstärksten Verdacht, daß man dieses nur so vorgegeben habe, um das rohe Volk zur Annahme der Befehle ihrer Gesetzgeber geneigter zu machen, und sich ihres Gehorsams desto besser zu versichern? Alle Gesetzgeber der ältesten Völker, auch außer den Israeliten, bedienten sich dieses Hülfsmittels, dieses Vorgebens der sinnlichen Erscheinung ihrer Gottheiten, um ihre Befehle bey dem Volke geltend zu machen; nicht sie gaben Gesetze, sondern die Gottheit selbst; sie selbst sind nur die Mittelspersonen, durch die die Gottheit ihren Willen dem Volke offenbaret.«, ebenda. 68 Ebenda, S. 55.

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glückseligen Zustandes nach dem Tode. Alles Übrige wären nur Lehren und Wunderwerke, womit Jesus als Stifter dieser Religion und seine Anhänger die Göttlichkeit seiner Sendung beweisen wollten. Dieses Vorgehen warf Ewald allen Religionsstiftern dieser Zeit vor.69 Jedoch hätten die Lehren der christlichen Religion keiner besonderen Offenbarungen Gottes durch Wunder bedurft; denn sie seien schon viel früher bekannt gewesen. Für Ewald stand deren vernunftgeleitete Erschließung und Verbreitung im Vordergrund. Auf historische Sachverhalte verweisend, argumentierte er: Eben diese Lehren von einem einzigen Gott, dem Schöpfer und Erhalter aller Dinge, der Unsterblichkeit der Seele und einem belohnenden und bestrafenden Zustande in der Zukunft, nach einem tugendhaften oder lasterhaften Leben, waren Gegenstände der geheimnisvollen Lehren der ägyptischen und griechischen Mysterien; Gegenstände, die schon die griechischen und römischen Weltweisen lange vor Christo, auch wenn sie in jene Geheimnisse nicht eingeweihet waren, beschäftigten, zu deren Erkenntniß Pythagoras, Sokrates, Plato, Cicero, Seneka u. a. m. keiner Offenbarung nöthig hatten, und die sie schon durch das Licht der Vernunft erlangen konnten.70

Diesen Standpunkt begründete Ewald zum einen durch die kritische Sicht auf die in der Bibel anzutreffende Darstellung dieser wichtigen Grundlagen des Glaubens sowie den späteren Streitigkeiten zwischen theologischen Systemen. Zum anderen ist es die gewaltsame Durchsetzung christlicher Glaubensvorstellung in den nachfolgenden Zeitläufen, die Ewald dazu drängte, das »Wunder« an sich als Ausdruck der göttlichen Offenbarung abzulehnen. Er erklärte: Man kann sogar behaupten, daß eben diese so wichtigen Lehren in den Schriften des N. T. bey weitem nicht so deutlich, ordentlich und vollständig auseinander gesezt sind, als in den Schriften jener Philosophen, besonders des Plato; vielmehr sind sie dort, ohne allen Zusammenhang, dunkel, verwirrt, stückweise und unordentlich vorgetragen, so daß selbst die gelehrtesten und einsichtsvollesten Ausleger Mühe haben, Sinn und Ordnung hineinzubringen; daß eben dieser Mangel an richtiger, deutlicher und ordentlicher Darstellung schon von den ersten Zeiten nach Christo an, eine fruchtbare Quelle von sich einander in den wichtigsten Hauptpunkten widersprechenden Sekten und blutigen Verfolgungen gewesen ist; daß selbst die ersten Lehrer der christlichen Kirche, die Kirchenväter in ihren Meinungen wesentlich von einander abwichen, daß es der Hülfe des Schwerds bedurft hat, die Schriften der Apostel und Evangelisten, Lehrgebäude und Systeme festzusetzen und einzuführen, um dadurch das unkundige Volk im Glauben zu unterrichten, und daß sich endlich die Religion selbst in Systeme und Theologien verwandelt hat, die alle unter einander eben so verschieden sind, als die Köpfe, denen sie ihren Ursprung zu verdanken haben.71 69 Ebenda, S. 56. Ewald meinte: »Jeder neue Gesetzgeber und Religionsstifter, selbst in spätern Zeiten Muhamed, suchte die Wahrheit seiner Lehren und göttliche Sendung durch Wunderwerke zu erhärten, und seine Religion dadurch dem Volke annehmlich zu machen.« 70 Ebenda, S. 57 f. 71 Ebenda, S. 58 f.

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Deshalb zweifelte Ewald an der Beschreibung der Evangelisten und Apostel über die Person von Jesus Christus, die in ihrer menschlichen und göttlichen Gestalt als der wahrhafte Sohn Gottes beschrieben wurde. Er warf ihnen vor, dass sie lediglich ihre Meinung in die Darstellung der Ereignisse eingebracht hätten. Da jedoch mehr als die Hälfte der Menschheit diesem Glauben anhängt und den so vermittelten Inhalt nicht begreift, so Ewald, hielt er es für unabweisbar, diesen Widerspruch zwischen den äußeren Ereignissen und der inneren Wahrheit dieser Lehre aufzulösen. Hier offenbarte sich Ewald als konsequenter Anhänger des christlichen Glaubens, der nach einer widerspruchsfreien Erklärung des Daseins Gottes und der von ihm mit einer Zwecksetzung geschaffenen Wirklichkeit strebte. In diesem Ringen um wahrhaftige und begreifende Einsicht in die durch den Menschen mitzugestaltende Weltordnung Gottes setzte Ewald auf die Vernunftbefähigung des Menschen. Da sie diesem von Gott selbst gegeben wurde, muss sie notwendig dazu dienen, dessen Weltplan zu begreifen und damit schließlich an ihn zu glauben. Kritik an der Erklärung sogenannter übernatürlicher Vorgänge Ungeachtet aller Zweifel stellte er sich auf den Standpunkt, dass nur ein durch die Vernunft begründeter Glaube an das Wirken eines göttlichen Urhebers dem Menschen eine humane Orientierung seines Handelns vermitteln kann. Hier sein mit innerer Bewegung erklärtes Bekenntnis: Ich selbst zittre und zage, so mächtig würkt das Vorurtheil, da ich hier meine Zweifel an dieser Lehre zu äußern und meine Vernunft würken zu lassen wage. Aber, o meine denkende Seele, mit Licht und Vernunft begabt, bist du nicht das herrlichste, verehrungswürdigste Geschenk meines alleinigen, geistigsten, unzertrennbaren Gottes? Hat dich dieser Gott mir umsonst, und nur darum gegeben, um dich durch den Glauben der grauen Zeit unterdrücken zu lassen? Ist dein inneres Licht nicht selbst die Quelle der Erkenntnis des allerhöchsten Wesens, und der Mittel gut und vollkommen zu werden, um dereinst, wenn mein leibliches Auge bricht, mit deinem innren geistigen Auge Gott in seiner Herrlichkeit zu sehen? Oder verlanget es Gott, kann er es verlangen, Dinge zu glauben, denen dein Wesen widerstrebt, Dinge blindlings zu glauben, ohne daß du, denkende Seele in mir, von ihrer Wahrheit lebendig überzeugt bist? Kann der, der im reinsten Licht wohnt, und dessen schönstes Geschenk, das er der Menschheit gab, Licht ist, kann der wollen, daß dieses Licht im Menschen verblinde, und sich der Finsternis preis gebe? Nein, allerhöchstes Wesen, das willst du nicht! Die alte Finsternis dämmert jetzt empor, dort schwaecher, hier stärker; der Tag scheint anzubrechen! Du willst es, es ist dein Gebot, du regierst in den Seelen der Menschen; das anbrechende Licht ist dein Werk!72

Nach dieser leidenschaftlichen Begründung der Aufgabe der menschlichen Vernunft zur Aufklärung des Zeitalters über die göttliche Weltordnung erörterte Ewald die für ihn aus der Heiligen Schrift erkennbaren zwei Hauptklassen der 72 Ebenda, S. 61–63.

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Offenbarung Gottes: Erstens seien es äußere Wahrnehmungen von Aktivitäten Gottes. Zweitens gäbe es innere Mitteilungen Gottes an Auserwählte. Den Komplex von sogenannten inneren Mitteilungen Gottes, wie sie Propheten und anderen Personen zu Teil geworden sein sollen, um sowohl »zur deutlichsten Erkenntnis der tiefsten Geheimnisse in der Religion und Natur« als auch »zur Hervorbringung wunderbarer die Kräfte der menschlichen Natur übersteigender Würkungen« zu gelangen,73 stellte Ewald in Frage. Anhand von Beispielen, z. B. das Erkennen des Geistes Gottes in Gestalt einer Taube durch Johannes den Täufer oder das Erkennen der dunkelsten Geheimnisse der heiligen Schrift durch den Schuster Jakob Böhme, erklärte er, dass dem Menschen als begrenztem Wesen das reine geistige Anschauen des Wirkens Gottes nicht gegeben sei. Ewald stellte fest: Eine solche innere Mittheilung, die den Menschen zum Range der Gottheit erhebt, ist nicht allein unmöglich, sondern auch unnütz. Unmöglich, da eines Theils die Gegenstände derselben von solcher Beschaffenheit sind, die sie unfähig macht, von dem menschlichen Verstande erreicht und gefaßt, und den menschlichen Kräften unterwürfig zu werden; andern Theils aber der menschliche Verstand und des Menschen geistige und physische Kräfte so eingeschränkt sind, daß sie sich nicht bis in das Heiligthum und die Werkstatt des allerhöchsten Wesens emporschwingen können. Gottes Wesen ist kein Gegenstand menschlicher Beschauung und Betastung; er offenbaret sich uns nur durch seine Würkungen in der physischen Natur, denn sein Wesen ist geistig, und das allergeistigste, das sich nicht zertheilen läßt; es ist allgegenwärtig in seiner ganzen geschaffenen Natur.74

Denn: Falls Gott eine menschliche Gestalt angenommen haben würde, so argumentierte Ewald, dann hätte er sein allgegenwärtiges Wesen in einem Punkt konzentriert und damit der übrigen Natur seine Allgegenwärtigkeit entzogen. Das hätte zur Folge, er würde sie in das Chaos stürzen bzw. sie würde zugrunde gehen.75 Ausgehend von der dargelegten Position, lehnte Ewald die Anerkennung jeglicher Wunder, wie sie von Moses und anderen berichtet werden, als Form der Erscheinung des göttlichen Wesens ab.76 Desweiteren hielt er es für unmöglich, angesichts der »Eingeschränktheit der Zeichen unserer Vorstellungen in uns« einen sprachlichen Ausdruck zu erreichen, um »zur vollkommenen Erkenntniß 73 74 75 76

Ebenda, S. 63 f. Ebenda, S. 66 f. Ebenda, S. 85 f. Ebenda, S. 68 f. Dazu stellte Ewald die Frage: Warum zweifelten z. B. die Juden an Christus als göttlichen Gesandten, der unter ihnen leibhaftig lebte, an seiner Göttlichkeit und hielten ihn für einen Betrüger? Er wies darauf hin, daß die von einzelnen Menschen deklarierten Wunder die übrigen nicht von Gottes Führung überzeugen konnten und weiterhin egoistisch handelten. Ewalds Antwort: »Es stehet doch wohl in der Gewalt Gottes, den Menschen, denen er sich offenbaren will, so überzeugende Kennzeichen und Beweise von seiner Göttlichkeit zu geben, daß es gar keinem menschlichen Verstand nur einfallen könnte, daran zu zweifeln«, ebenda, S. 69.

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des Wesens Gottes« zu gelangen.77 Dazu werde sich die Denkkraft unserer Seele nicht erheben können. Den abgezogenen Begriffen läge immer etwas Materielles zugrunde, selbst wenn es sich verbirgt; denn: Zu einem reinen unvermischten Anschauen können wir also schlechterdings nicht gelangen, was man auch darüber sagen mag [...].78

Grundlegung des philosophischen Systems In dem Abschnitt »Schöpfung der Welt« nahm Ewald aus dem bisher Dargelegten endgültig die Bestimmung der philosophischen Grundlage seiner Welt­ anschauung vor. Er begründete seine Position mit der fundamentalen Bestimmung Gottes als uneingeschränktem Schöpfer des Seins: In Gott leben, weben und sind wir. In der Bibel selbst steht: Der Geist Gottes sey in allen Dingen, besonders aber im Menschen. Gott ist nicht blos der Juden und Christen Gott, sondern auch der Heiden Gott. Er ist ein Herr der ganzen Welt und auch aller Menschen. Wir, die ganze Natur, ist ein Produkt seiner Allmacht. Er gibt jeder Art von Materie ihre höchst mögliche Vollkommenheit, aber keine ist im Stande sich zu einem Gott, einem Gott gleichen Wesen, zu ihm selbst zu erheben. Der Begriff der Materie trägt den Begriff der Eingeschränktheit mit sich.79

Ewald fixierte seine Vorstellung vom Wesen und der Totalität des Seins, von dessen immanenter Ausprägung sowie der Stellung des Menschen als Natur- und Vernunftwesen. In Absetzung von der traditionellen Interpretation der christ­ lichen Religionsgeschichte umriss er seine religionsphilosophische Auffassung: S c h ö p f u n g d e r W e l t : Wenn wir nicht vorsätzlich blind seyn wollen, wenn wir uns von den alten Vorurtheilen, die die Gelehrten und Schriftausleger durch allerley Erklärungen und theologische Systeme, die nicht in der Bibel stehn, über die halbe Welt verbreitet haben, losreissen wollen, so müssen wir bekennen, daß die geschaffene Natur, die Welt mit allem was darin ist, insonderheit aber die menschliche Vernunft, die einzigen Offenbarungsarten Gottes von jeher gewesen und noch sind. Schon das Daseyn der Welt würde von dem Daseyn Gottes zeugen, wenn auch keine vernünftigen Geschöpfe vorhanden wären; aber um dieses Zeugniß nicht im Dunkeln zu lassen, schuf Gott vernünftige Menschen, die fähig waren, dasselbe zu erkennen und einzusehen. 80 77 Ebenda, S. 71. 78 Ebenda, S. 72. Ewald ergänzte: »Selbst wenn wir irgendwie in den Zustand einer reinen geistigen Anschauung versetzt würden, fehlten uns die angemessenen Wörter und Ausdrücke: »Man versuche es mit einer Analyse des Wortes G e i s t , es involvirt, so sehr man sich auch im Nachdenken darüber verlieren mag, einen negativen Begriff, der von dem Begriff der Materie abgezogen ist; etwas Affirmatives wird man nie herauszwingen. Und so sind alle Ausdrücke und Begriffe metaphysischer Wesen und Gegenstände«, ebenda, S. 73. 79 Ebenda, S. 87. 80 Ebenda, S. 91 f.

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Von der geschaffenen Natur ausgehend, ordnete Ewald die sinnlich wahrnehmbare Natur als Körperwelt bzw. als Materie ein und kennzeichnete deren Grundzüge: Wenn wir unser Nachdenken auf die Körperwelt richten, so ziehen hauptsächlich drey Stücke unsere Aufmerksamkeit auf sich: Materie, Leben und Bewegung, und Ordnung. Materie besteht aus zusammengesezten Theilen, die sich sehen und fühlen lassen.81

Die »Materie«, so konstatierte Ewald, kann aufgrund ihrer Zusammensetzung durch die Scheidekünstler und die »Chimie« in ihre kleinsten Teile zerlegt werden, aber auch in Gestalt der größten Weltkörper erscheinen. Sie kann sich nicht in Nichts verwandeln. Sie bleibt immer »etwas Irdisches [...], eine rohe, todte, unförmliche Masse«.82 Das Nachdenken über die bewegungslose Materie muß seine Zuflucht, um ihr Existenz zu geben, zu einem geistigen Wesen nehmen, das die ersten Anfänge aller irdischen Dinge zu erzeugen im Stande war. Die Materie ist nach ihrem ursprünglichen Zustand ein Geschöpf Gottes. 83

Ewald folgte in seiner Auffassung über das Verhältnis von »Materie – Bewegung – Leben« der Anlage seines Systems. Der schaffenden Tätigkeit des Urhebers der Materie ordnete er deren gleichzeitige und allseitige Aktivierung des Geschaffenen zu. Unter dieser Voraussetzung sah er die Bewegung und die Belebung des Materiellen als Wesenszug der von Gott geschaffenen gegenständlichen Welt. Hier Ewalds Begründung: Ein Geschöpf, das den Grund seiner Entstehung nicht durch sich selbst hat, das Element in seinem ursprünglichen Zustand, ist an sich ohne Bewegung; eben das unendlich erhabene Wesen, das ihm die Entstehung gab, ist auch die erste Ursache seiner Bewegung. Der erste Augenblick ihres Entstehens ist auch der Anfang ihrer Bewegung; in und mit ihrer Entstehung liegt auch schon der Grund ihrer Bewegung; der Aktus der Entstehung kann nicht von der Idee der Bewegung getrennt werden. In der Vereinigung der Elemente zu Körpern, in der allmäligen Anhäufung einzelner Theile zu einem Ganzen, im Wachsthum, Vegetation, Leben und Denken, ist Bewegung.84

Die »Ordnung« in der realen Welt hat Gott im Schöpfungsakt, so Ewald, unmittelbar und immanent in die Materie und ihre Bewegungsabläufe eingeprägt. Sie ist wie diese eine Wesenseigenschaft des geschaffenen Seins. Dessen Geordnetsein wäre der Gegensatz zur Unordnung bzw. zum Chaos. Jedoch die Regelmäßigkeit und die Einschränkung der Bewegung in den Wiederholungsabläufen (Zyklen) der Gestirne, der Jahreszeiten, der Fortpflanzung des Lebens u. a. bestimmen alle Teilbereiche der Natur. Ewald sah die Ordnung als ein Konstitutionsprinzip der göttlichen 81 Ebenda, S. 92. 82 Ebenda. 83 Ebenda, S. 93 f. 84 Ebenda, S. 94. Ewald bekräftigte die Untrennbarkeit von Materie und Bewegung: »Die Materie hat die Bewegung nicht durch sich selbst, sondern Gott ist es, der ihr die Bewegung zugleich mit ihrer Existenz verliehen hat«, ebenda, S. 96.

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Weltordnung. Denn es »herrscht in der Natur die vollkommenste Ordnung«.85 Sie liegt in der ursprünglichen Bewegung der ersten Elemente, vermöge welcher sie sich in den mannichfaltigen Verhältnissen ihrer Massen zu einander gesellten; der Anfang der Bewegung der ersten Elemente, war der Anfang ihrer Entstehung; ihre Entstehung ist durch Gott; Gott ist der Schöpfer der Ordnung. 86

Er ist es, der »der Materie Entstehung und Bewegung gab. Gott ist Schöpfer, erste Ursache der Ordnung«.87 Ewald schloss seine Darlegung über die Grundzüge der von Gott geschaffenen Welt mit der Bestimmung der göttlichen Attribute. Er behielt sie bis in sein Spätwerk bei: Welch eine reiche Quelle von Betrachtungen über das Daseyn eines höchsten Wesens bietet uns die ganze sichtbare Natur an! und wie natürlich wird durch ein geringes Nachdenken die Seele auf die affirmativen Eigenschaften dieses Wesens, Allgegenwart, Ewigkeit, Allmacht, Schöpfer, Anordner und Erhalter der Welt geleitet!88

Der Mensch – ein Vernunftwesen Diesen Umriss über das Wesen und die Struktur des Systems der göttlichen Weltordnung vollendete bzw. präzisierte Ewald mit der Charakterisierung des Menschen als denkendes Wesen, das nach Wahrheit und Überzeugung über die Gestaltung dieser Welt durch Gott strebt. Es ist ein leidenschaftliches Plädoyer für das dem Menschen gegebene Vermögen der Vernunft. Ewald sah es als eine dem Menschen vom Urheber dieser Welt überantwortete Pflicht an, diese Fähigkeit zur vorurteilsfreien Suche nach dem wahren Glauben einzusetzen und die Sinngebung der Schöpfung zu erkennen. Ewald identifizierte das Denken und Untersuchen über die Zusammenhänge der Welt mit dem Erkennen des Wesens des göttlichen Schöpfers, das strikt vorurteilsfrei vorzunehmen sei. Er forderte: Durch dieses unser denkendes Wesen offenbaret sich uns Gott selbst. Dieses Wesen ist des Menschen vorzüglichster unterscheidender Antheil. Es ist ihm gegeben zum Nachdenken, nicht um es zu unterdrücken, und nicht um es in den Schlamm verjährter Vorurtheile und angenommener menschlicher Meinungen zu vergraben. Wir hätten der ganzen herrlichen Anlage zum Denken, und in den Grund und die Wahrheit der Dinge zu dringen nicht nöthig, wenn schon ein blinder Glaube zur Kenntniß heilsamer Herz – erhebender Wahrheiten geschickt wäre. Aber unwillkürlich reget sich die Macht dieses Wesens schon in uns selbst; wenn wir auf Dinge stossen, die uns nicht überzeugen, die uns unglaublich, widersinnig und widersprechend vorkommen; es befiehlt uns, die Dinge zu untersuchen, und es nicht bey der blosen Behauptung, beym blosen Glauben, beym äußern Schein bewenden zu lassen. 89 85 Ebenda, S. 95 f. 86 Ebenda, S. 96. 87 Ebenda, S. 98. 88 Ebenda. 89 Ebenda, S. 99 f.

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Die geistige Teilhabe des Menschen an der weltgestaltenden Vernunft Gottes war für Ewald der Gipfelpunkt der Schöpfung. Durch diese Befähigung des Menschen sah er einen Dialog von Glaube und Vernunft begründet. Er betrachtete das Verhältnis als sich bedingende Einheit. Auf dessen Grundlage profilierte sich Ewald als Vertreter des Vernunftglaubens. Er prägte seinen Blick auf die Geschichte der christlichen Religion: Die sogenannten Offenbarungen des alten und neuen Testaments können auch nicht anders zu unserer Kenntniß gelangen, als durch die nachdenkende Vernunft, die Vernunft muß sie annehmen; und soll sie sie annehmen können, so müssen sie auch so beschaffen seyn, daß sie die Vernunft nach ihrem ganzen Zusammenhang einsehen kann. Was kann sie dafür, wenn ihr in ihrem Nachdenken darüber Schwierigkeiten, Zweifel und Bedenklichkeiten aufstossen, die sie sich nicht, und mit ihr keine Vernunft in der Welt aufzulösen im Stande ist. Entweder es ist in Sachen der Religion gar keine Vernunft nöthig, oder wenn sie nöthig ist, muß ihr auch das Recht gelassen werden, zu untersuchen, zu prüfen, und das Wahre vom Falschen, das Göttliche vom Menschlichen zu unterscheiden.90

Ewald war zutiefst davon überzeugt, dass die menschliche Vernunft, ihr kritisches Denkvermögen und ihre Fähigkeit zu wahrer Erkenntnis fortzuschreiten, einem übersinnlichen Einfluss zu verdanken ist.91 Deshalb stritt er mit ungewöhnlicher Schärfe und Wortwahl für das ihr gegebene Recht, objektives Wissen und gesicherte Wahrheit über die göttliche Zwecksetzung der Welt zu gewinnen: Es ist Blasphemie, die menschliche Vernunft in schlimmen Ruf zu setzen, sie wie einen betrügerischen Bankerutirer, oder wie eine unzüchtige Dirne zu behandeln und um allen Credit zu bringen. Zu welchem Ende hätte sie der Mensch, so wie er sie hat, empfangen? Wozu hätte er sie mit allen den herrlichen Anlagen, die Wahrheit bis in die düstersten Tiefen zu verfolgen? Zu welchem Ende läge in den Dingen selbst, in ihrer Zusammensetzung, in ihren Verhältnissen zu einander würkliche objective Wahrheit, wenn sie kein Gegenstand irgend einer Erkenntnis seyn sollten? Wenn der Mensch seine Vernunft nicht brauchen soll, nach ihrem ganzen weiten Umfang, in ihrer ganzen Energie, so braucht der Mensch kein Mensch zu seyn, und der Schöpfer würde nicht Menschen geschaffen, er würde das sichtbare Naturreich mit dem unvernünftigen Thiere vollendet haben. Mit einem Worte: des Menschen Geist ist es allein, 90 Ebenda, S. 100 f. 91 Ebenda, S. 102 f. Dazu erklärte Ewald: »Was ist dieses denkende Wesen in uns, was ist dieser heftige Trieb nach Wahrheit in ihm, was ist diese ununterdrückbare, unwillkührliche Regung in ihm gegen widersprechende, dem Wesen und dem natürlichen Gange der Dinge widerstreitende Behauptungen und Erzählungen? Was ist dieses Gefühl von Sättigung und Wohlbehagen bey Auffindung überzeugender Wahrheiten? Ich müste mich sehr irren, oder dieses Wesen ist ein Stral von jenem Wesen Gottes selbst in einem irdischen vergänglichen Leibe, und jene Regungen in ihm. Bewegungen dieses göttlichen Funkens in uns, der, da er selbst aus dem reinsten Lichte stammt, Licht ist, dem Licht entgegen strebt und die Finsterniß flieht.«

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der Gott erkennt, und sich durch die Betrachtung seiner Werke durch eine Reihe von Gedanken bis zur Erkenntniß des Daseyns eines Urhebers aller Dinge empor hebt.92

Mit diesem Hohelied auf die menschliche Vernunft stand Ewald in der Reihe derjenigen Vertreter der europäischen und deutschen Aufklärung, die von dem Grundsatz ausgingen, dass uns Menschen kein anderes Licht, Wahrheit zu erkennen, gegeben ist, als Vernunft, und keine Religion in der Welt ohne Vernunft nur einen Augenblick statt finden kann«93

In diesem von Ewald gesetzten Verhältnis von Vernunft und Glauben sind, neben der neologischen Grundtendenz, auch Einflüsse von Spinoza erkennbar (Gott – permanente Totalität des Seins; schaffende und geschaffene Natur u. a.). Gleichzeitig ist eine deutliche Annäherung an Kants Vorstellung von der Autonomie der menschlichen Vernunft zu verzeichnen.

2.3. Zum dritten Kapitel: »Ursprüngliche Religion und Ursprung des Deismus« Von der dargelegten Begründung ausgehend, dass durch bloße sinnliche Anschauung des Menschen die Erkenntnis des Daseins des Urhebers aller Dinge nicht möglich ist, da diese die Entwicklung des abstrakten Denkens voraussetzt, polemisierte Ewald gegen die verbreitete Meinung, dass die Vorstellung vom Deismus und der Lehre von der Dreieinigkeit Gottes Bestandteile der ursprünglichen Religion gewesen seien. Seiner Argumentation legte er eine Variante der Bestimmung des Deismus zugrunde, die – auf der oben dargelegten Vorstellung eines Allbewusstseins des göttlichen Urhebers beruhend – die Grundelemente des religiösen Verständnisses des Menschen beinhaltet. Er führte aus: Der Deismus umfaßt in seinem ganzen Umfange nicht allein die Lehre von dem Daseyn eines einzigen Gottes, Schöpfers und Erhalters aller Dinge, sondern auch die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und von einem glückseligen und unglückseligen Zustande nach dem Tode, nebst allen Pflichten, die die Menschen, um dereinst an jenem glückseligen Zustande Theil nehmen zu können, zu erfüllen verbunden sind, und die die Ehrfurcht für ein solches höchstes geistiges Wesen von ihnen fordert. Die Lehren des Deismus theilen sich also in drey Theile, nemlich in die Lehre von Gott, von der Unsterblichkeit der Seele nach der Trennung von ihrem Leibe, und in die Sittenlehre.94 92 Ebenda, S. 101 f. 93 Ebenda, S. 226. Vgl. Alexei N. Krouglov, Die Theologie der Vernunft bei J. N. Tetens, in: Aufklärung 21 (2009), S. 103–116. 94 Ewald, Natürliche Religion, S. 128 f. Die folgenden Vorstellungen Kants zu dieser Thematik,

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Es zeigt sich, dass Ewald unter dem Deismus, abweichend von der in der englischen Aufklärung entstandenen Bestimmung, die in Gott lediglich die Weltursache erblickte, eine rational geprägte christliche Vorstellung von einer göttlichen Weltordnung verstand, in der Gott als Welturheber in seiner Allmacht permanent wirkt. Er übernahm den herkömmlichen Begriff des »Deismus«, setzte ihn identisch mit der Bestimmung der natürlichen Theologie und erreichte damit ein ganzheitliches Verständnis des Wirkens Gottes: Er ist für ihn Schöpfer, Erhalter und Regierer der Welt, der das Verhalten der Menschen in der von ihm vorgegebenen Zwecksetzung des Daseins orientiert. Letztlich war seine religiöse Vorstellung mit derjenigen identisch, die Kant als »Moraltheologie« bezeichnet hat. Ewald sprach sich dafür aus, die Vorstellungen der Menschen über die »ursprüngliche Religion« so zu erfassen, wie sie dem rohen kindlichen Verstand der Menschheit in der Frühzeit angemessen war. Denn als diese zu einem sinnlich anschauenden Denken erwacht sei und mit einer unvollkommenen Sprache und ungebildeter Denkkraft ausgerüstet war, habe man die Natur in ihren vielfältigen Erscheinungen und ihrer Nutzbarkeit als einzelne übersinnliche Geister verehrt. Es sei wohl zuerst die Sonne gewesen, so meinte er, die aufgrund ihrer Größe und der existenzerhaltenden Wirkung für den Menschen im weitesten Sinne als lebendiges Wesen sowie als schaffende und erhaltende Gottheit betrachtet wurde. Es sei wohl dieser Glaube gewesen, der »Wurzel geschlagen habe, als die Menschen zu denken anfiengen«95 Aus dieser Situation zog Ewald die für seine religionshistorischen Vorstellungen prinzipielle Schlussfolgerung: Man könne nicht annehmen, daß die ersten Menschen sogleich von den unmittelbaren Eindrücken der Sonne auf ihre Sinne sowohl, als von den allmaelig erfolgenden Würkungen derselben, die der Verstand erst spät wahrnimmt, auf ein geistiges unsichtbares Wesen, das auch diese Sonne erschaffen habe und erhalte, geschlossen hätten. Zu einem solchen Schluß kann nur ein Verstand gelangen, der sich von allem Sinnlichen zu entfernen, und zu einer philosophischen, abstrakten Anschauung zu erheben vermag.96 wie er sie in der »Kritik der reinen Vernunft« (A 631 ff.) zum Verhältnis von Deist und Theist dargelegt hatte, waren Ewald vermutlich bekannt; denn er folgte inhaltlich Kants Bestimmung des Theisten als Vertreter der natürlichen Theologie: »Die na t ü r l i c h e T h e o l o g i e schließt auf die Eigenschaften und das Dasein eines Welturhebers, aus der Beschaffenheit, der Ordnung und Einheit, die in dieser Welt angetroffen wird, in welcher zweierlei Kausalität und deren Regel angenommen werden muß, nämlich Natur und Freiheit. Daher steigt sie von dieser Welt zur höchsten Intelligenz auf, entweder als dem Prinzip aller natürlichen, oder aller sittlichen Ordnung und Vollkommenheit. Im ersteren Falle heißt sie P h y s i k o t h e o l o g i e , im letzten M o r a l t h e o l o g i e . *) [...] *) Nicht theologische Moral; denn die enthält sittliche Gesetze, welche das Dasein eines höchsten Weltregierers v o r a u s s e t z e n , da hingegen die Moraltheologie eine Überzeugung vom Dasein eines höchsten Wesens ist, welche auf sittliche Gesetze gegründet ist.« Zitiert nach Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 632. 95 Ebenda, S. 108 f. 96 Ebenda, S. 109.

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Ewald skizzierte den Weg des Entstehens der religiösen Vorstellung von der sinnlichen Wahrnehmung der nicht erklärbaren Naturkräfte zur Abstraktion einer obersten geistigen Ursache der Vielfalt der Erscheinungen und Verhältnisse in seinen wesentlichen Schritten: – Der sinnlich beschränkte Verstand der ersten Menschen erklärte den ersten sinnlichen Gott aus den Naturvorgängen. In der Folge wurde eine ganze Götterwelt hervorgebracht und verehrt: Die ganze thierische, vegetabilische und mineralische Natur, war ja, nach ihrer Meinung, selbst ein Erzeugnis jener männlichen und weiblichen Gottheiten des Himmels.97

– Es entwickelte sich die Vorstellung von einer allseitigen Beherrschung der Natur durch übersinnliche Kräfte. Und so beseelten sie allmälig die ganze Natur mit unbekannten mächtigen Wesen.98

– Auf diesem Niveau der Erkenntnis, so schlussfolgerte Ewald, ist das Entstehen eines Systems der Vielgötterei in der Frühzeit der Völker zu erklären: Und so entstand allmälig, vielleicht in einem Zeitraum von sehr vielen Jahren, der Polydeismus, und ward herrschender Volksglaube.99

– Seine Meinung ist, so Ewald, daß Polydeismus die erste ursprüngliche Religion gewesen sey, erhellet nicht allein a priori, die aus der sinnlichen und keines abgezogenen Begriffs fähiger Denkart

roher Völker, sondern auch aus den Berichten von Reisenden über neuentdeckte Völkerschaften. Denn: Unter allen diesen Völkern ist nicht ein einziges, das in diesem Zustande sogleich anfänglich auf die richtige Vorstellung von einem Gott, als einem geistigen, unsichtbaren, unkörperlichen höchsten Wesen, gefallen wäre.100 97 98 99 100

Ebenda, S. 112. Ebenda, S. 113. Ebenda, S. 114. Ebenda, S. 115 f. Ewald ergänzte: »Endlich stimmt auch mit meiner Meinung folgende Stelle in dem Buche eines unserer aufgeklärtesten Denker, des Herrn v o n I r w i n g Versuch über den Ursprung der Erkenntniß der Wahrheit und der Wissenschaften vollkommen zusammen. Das menschliche Geschlecht, sagt dieser vortreffliche Weltweise, kann nur nach und nach zur Erkenntniß der Wahrheit und zu richtigen Einsichten gelangen; der erste Stoff aller Erkenntniß muß ihm ursprünglich durch die Sinne zugeführt werden, und von dem Sinnlichen geht er zum Intellectuellen über. Anfangs muste sich das menschliche Geschlecht, gleich einem sich selbst überlassenen Kinde, nothwendig erst zu solcher Erkenntniß hinauf arbeiten, in eine Menge Irrthümer und Vorurtheile fallen, und erst durch eine Menge Erfahrungen richtige Kenntnisse von den Würkungen der Natur und den Folgen seiner Handlungen bekommen, und es gehörte eine lange Zeit dazu, ehe der Mensch seine Begriffe und Wahrheiten in gehörigen Zusammenhang, in Klassen, Geschlechter und

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Er fasste seine Überlegungen zusammen: Polydeismus war also die ursprüngliche allgemein herrschende Religion, die sich eine lange Zeit hindurch von einem Menschenalter und von einem Volke zum andern, so wie sie sich selbst von dem Hauptstamme immer weiter absonderten, fortpflanzte.«

Ungeachtet der Veränderungen (Absterben, Vermischung u. ä.), so blieb es jedoch immer Polydeismus, und dieser bis in die spätesten Zeiten und unter den meisten Völkern und Sekten noch jezt herrschender Volksglaube.101

Aber es läge in der Natur des menschlichen Geistes, so Ewalds Auffassung, dass sich der Verstand »privilegirter Köpfe« regte, um über die Grenzen der Sinnlichkeit hinauszugehen. Diese befähigten Köpfe musten, sage ich, anfangen die Art der Verbindungen zwischen den natürlichen Würkungen und ihren wahren Ursachen einsehen, und die Gesetze, nach welchen die Natur in allen ihren Reichen handelt, nach so viel wiederholten identischen Erfahrungen kennen lernen; sie musten anfangen, einen Blick in das Innere der Dinge zu thun, und durch das allmälige Wachsthum der Pflanzen und Bäume den Ursprung und das Wachsthum der Menschen etc. auf einen Begriff von ersten Anfängen oder Elementen geleitet werden [...].102

Ihr Wirken gegen den Wahn der Wunder und den Aberglauben an eine Götterwelt musste sie veranlassen, nicht nur gegen leere Einbildung und Unwissenheit anzugehen, sondern auch über die Entstehung der Welt und aller darin befindlichen materiellen Dinge nachzudenken, und sie auf eine einzige allgemeine Quelle alles Erschaffenen, auf ein Wesen von nothwendiger Existenz zurückführen [...].103

Dieser Weg des Aufklärens der göttlichen Grundordnung schloss für Ewald das Nachdenken über das Wesen des Menschen ein. Man müsse seiner körperlichen und geistigen Beschaffenheit nachgehen, um dereinst zum Genuß der ihrem geistigen Theile zugedachten Bestimmung zu gelangen.104

Das Ergebnis der mühevollen und Jahrhunderte andauernden Bestrebungen der herausragenden Denker in der Frühzeit der Menschheit sah Ewald in der Überwindung des Polytheismus:

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Wissenschaften bringen konnte«, ebenda, S. 116 ff. Vgl. Karl Franz von Irwing, Versuch über den Ursprung der Erkenntnis der Wahrheit und der Wissenschaften. Ein Beytrag zur philosophischen Geschichte der Menschheit, Berlin 1781, S. 18 ff. Ewald, Natürliche Religion, S. 118 f. Ebenda, S. 120. Ebenda, S. 121. Ebenda, S. 122.

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Und so erhielten sie zulezt ein vollkommnes, nicht aus Willkühr, sondern aus dem Lichte der Natur und Vernunft selbst geschöpftes Religionssystem, das sich auf die Erkenntniß eines einzigen Gottes und auf ein Leben nach dem Tode gründete, zu dessen Genuß man sich in dem gegenwärtigen, durch Tugend und Rechtschaffenheit zubereiten müsse.105

Anknüpfend an die Bestimmung des Deismus erörterte Ewald dessen schrittweise Begründung durch philosophische Grundsätze in der Antike. Er sah sie durch die allmähliche Vernunftbefähigung des Menschen entstehen und sich zu Systemen vervollkommnen. Den Glaubenslehren sei die philosophische Grundlegung zur Seite getreten, die deren Systematik begründet habe. Ewald wies auf die prinzipielle Richtung hin: Erst nachdem durch das Nachdenken und die Bemühungen einzelner glücklicher Köpfe das noch sehr eingeschränkte Reich der Philosophie seine Grenzen zu erweitern anfieng, und diese Köpfe, nicht zufrieden mit allgemeinen und unbestimmten Vorstellungen von Gott, tiefer in die Beschaffenheit seines Wesens einzudringen, und über die Entstehung der Welt und über ihr eigenes Wesen Betrachtungen anzustellen wagten, fieng man an Systeme zu bilden, und zugleich mit der Lehre von einem einzigen Gott, dem Urquell alles Erschaffenen, die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und eine Sittenlehre zu verbinden.106

Im Schlussteil dieses Kapitels verteidigte Ewald vehement die Vorstellung der natürlichen Religion gegen den Vorwurf, dass sie keine völlige Erkenntnis Gottes, keine hinreichenden Vorschriften zur Befreiung von den Sünden und zur Erreichung der Seligkeit gebe sowie keinen Vermittler zwischen Gott und den Menschen benenne. In seiner Antwort konzentrierte sich Ewald auf die von ihm schon dargelegte Fähigkeit des Menschen als selbstdenkendes und aufgeklärtes Individuum, dass diese Probleme, soweit es für den Menschen überhaupt möglich ist, durch Selbsterkenntnis das durch Gott geschaffene Dasein wahrzunehmen, in seinen natürlichen und geistigen Strukturen zu erkennen sowie durch eigenständiges Denken und verantwortungsvolles Handeln mitzugestalten. Seine Argumentation bewegt sich in dem für ihn nicht auflösbaren Beziehungsgefüge: Gott – Natur – Mensch / Vernunft – Moralität – Unsterblichkeit der Seele. Entscheidend für Ewald war stets, dass sich der Mensch der Allgegenwart Gottes bewusst ist und durch die Selbstprüfung seines Wirkens an diesem universalen Sein teilhat sowie nach seiner eigenen Vervollkommnung strebt.107 Auf 105 Ebenda. 106 Ebenda, S. 130. 107 Ebenda, S. 134. Ewald erläuterte seinen Standpunkt: »Finden die Menschen eben in dieser Allgütigkeit, Allbarmherzigkeit nicht Grund und Glauben genug, daß er wahren Reuigen ihre Vergehungen vergeben werde? Und sagt ihnen das nicht schon ihre eigne Vernunft? Befiehlt ihnen diese nicht schon selbst, von bösen Gesinnungen und Handlungen abzustehen, Tugenden auszuüben, edel zu denken und zu handeln, und das Böse wieder gut zu machen? Schreibt ihnen eben diese Vernunft nicht selbst die höchste Tugend vor, so

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den untrennbaren Zusammenhang von Religion und Moral in dem System der natürlichen Religion, den auch Jesus, wie Ewald betonte, wenn auch nicht schriftlich aufgezeichnet, so doch gepredigt habe, wies er mit steigender Eindringlichkeit hin. Um diese lebensnotwendige Verbindung im Streben des Menschen nach Selbstfindung verwirklichen zu können, insistierte Ewald auf die vorbehaltlose Anerkennung und die systematische Ausbildung des Vernunftvermögens als kritisches und konstruktives Instrument des Denkens und Handelns aller Menschen. Es ist für ihn die urteilende und moralische Instanz, die den Menschen befähigt, seine Teilhabe an der göttlichen Ordnung zu erkennen, zu begreifen und wahrzunehmen. Hierbei begann Ewald, die Urteilsfähigkeit dieses Vermögens differenzierter zu betrachten, indem er in zunehmendem Maße den Verstand als die Fähigkeit einführte, Sachverhalte präziser beurteilen, begreifen und ordnen zu können. Diese Profilierung des menschlichen Selbstbewusstseins als aktive Geistestätigkeit bildete die Grundlage für Ewalds bewegendes Bekenntnis als Anhänger der natürlichen Religion bzw. des Vernunftglaubens: Wenn sich die natürliche Religion, oder der Deismus, das Daseyn eines höchsten, allgegenwärtigen, allweisen, allmächtigen, allgütigen Wesens denken kann, woran gewiß niemand zweifeln kann; wenn der menschliche Verstand innerlich genothrungen wird zu glauben, daß mit dem gegenwärtigen Seyn des Menschen, nicht sein wahres eigentliches Wesen aufhören, sondern nur das Zufällige in Staub zerfallen, das Wesentliche aber ferner und ewig fortdauern werde; wenn sich der Mensch diese Vorstellung lebhaft in die Seele prägt, so stehen auf einmal alle denkbaren Pflichten, nach allen Verhältnissen und Rücksichten, gegen das höchste Wesen, gegen andre Menschen und gegen sich selbst in dem hellsten und allerreinsten Lichte vor seinen Augen. Alle fliessen sie unmittelbar aus jener dem ewigen schaffenden, erhaltenden, allgegenwärtigen Geiste schuldigen tiefsten Verehrung, alle aus jenem Hange, seinen unumschränkten Vollkommenheiten nachzuahmen, und seine Allgegenwart durch keinen unheiligen Gedanken zu beleidigen, sondern durch edle, rechtschaffene, menschenfreundliche, wohlthätige Handlungen und Gesinnungen zu ehren; alles unternimmt und denkt ein solcher Mensch mit Rücksicht auf dieses heilige Wesen, auf der einen, und auf das Leben nach dem Tode, auf der andern Seite, und immer gründen sich seine Thaten und Gedanken in Ansehung ihres moralischen Werths auf innere wesentliche Vernunftmässigkeit, nicht auf äußere Antriebe und zufällige Bewegungsgründe. Nur solch eine Religion muß die wahre seyn: [...].108

Die entscheidende und umfassende Bedeutung der Vernunft des Menschen für die Erkenntnis und Mitgestaltung der Schöpfung verstärkte Ewald durch die Entgegenstellung der Verneinung (Kontraposition) zu einem bejahenden Urteil über eine Aussage und umgekehrt. Er konnte so noch eindringlicher auf die verheerenden Defizite hinweisen, die im Falle des Nichtwirkens der Vernünftigkeit wie sie die Vernunft selbst Christo vorschrieb, wenn er sagte: Liebet eure Feinde, segnet die, die euch fluchen, thut wohl denen, die euch hassen?« 108 Ebenda, S. 136 f.

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im Menschen für die natürliche Religion entstehen. Sie kann nicht die wahre Religion sein, wenn sie

wenn sie wenn sie wenn sie wenn sie

die Moralität auf Dinge gründet, die der menschliche Verstand nicht begreifen kann [und] die Vernunft unter den Gehorsam eines blinden Glaubens [bringt];109 den Menschen dumm [macht], indem sie ihm die Eingeschränktheit und Gefährlichkeit seiner Vernunft, die ihm doch Gott selbst, wahrhaftig nicht umsonst eingepflanzt hat, vorhält;110 dem menschlichen Verstand willkührliche Menschensatzungen, die sich nicht auf Vernunft gründen, zu glauben befiehlt«;111 den Menschen aufgedrungen wird [und nicht] durch eigene innere Kraft [angenommen wird];112 den Verstand tyrannisch beherrscht und ihm alle Freyheit, darüber zu denken und zu reden, abschneidet [...].113

Sie kann nur dann die wahre Religion, d. h. natürliche Religion, sein, wenn sie auf keine willkührliche Sätze und Geschichtserzählungen gegründet [ist] son dern alle ihre Sätze dringen sich der reifer werdenden Vernunft selbst auf;114 wenn sie allen ihren Anhängern volle Freyheit zu denken und über sie selbst zu denken, zu schreiben und zu reden [läßt, und sie] darf nicht in Gefahr stehen, unterdrückt zu werden;115 wenn sie vernünftiger Raisonnements fähig ist, und Untersuchungen verstattet [– über: Das Wesen Gottes, die menschliche Seele, Zustand nach dem Tod –, die] zur Bebauung und Erweiterung der menschlichen Vernunft [beitragen, der] Wahrheit näher [kommen und die Schranken zeigen, die ihre Aussicht in dem Reiche des Denkbaren verschliessen];116

wenn sie fordert, dass die Menschen

ihre Sünden und Missethaten [nicht andern aufbürden können, sondern durch die] Anstrengung des Verstandes [...] ihr Heil in ihrer eigenen Besserung und Bildung ihres Verstandes und Herzens zu suchen [haben].117

Die Quintessenz seines Strebens sah Ewald in dem durch die Vernunftfähigkeit des Menschen begründeten und damit unauflösbaren Zusammenhang von religiösen Vorstellungen und moralischen Grundsätzen des Denkens und Handelns aller Anhänger der natürlichen Religion: 109 Ebenda, S. 137 f. 110 Ebenda, S. 138. 111 Ebenda, S. 138 f. 112 Ebenda, S. 139. 113 Ebenda. 114 Ebenda. 115 Ebenda, S. 140. 116 Ebenda, S. 140 f. 117 Ebenda, S. 141.

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da sie [die natürliche Religion – H. S.] den Menschen auf sein Inneres, auf die Aufklärung seines Verstandes, die Kultur seines Willens, Bändigung seiner Leidenschaften, Trieb zu guten Gesinnungen und Handlungen, und die Unterlassung und Vermeidung böser Anschläge und Thaten zurückweist, in ihm selbst die Quelle seiner zeitlichen und ewigen Wohlfahrt eröffnet, und ihm auf der einen Seite die Vollkommenheiten des allgegenwärtigen höchsten Wesens, auf der andern aber seine künftige Bestimmung selbst vorhält; so legt sie ihm die Pflicht auf, an seinem eigenen Karakter zu arbeiten, und sein Herz zur tiefsten Ehrerbietung gegen Gott, zur Redlichkeit, Sanftmuth, Mitleid, Fleiß und Arbeitsamkeit, Friedfertigkeit, Bescheidenheit, Dienstfertigkeit, und zu allen Tugenden zu bilden.118

Ewald brachte hier seine Überzeugung zum Ausdruck, dass das von einem göttlichen Urheber geschaffene Sein eine moralische Weltordnung ist. In dieser sah er den Menschen verpflichtet, an seiner Vervollkommnung unentwegt mitzuwirken. In der Kultivierung des menschlichen Vernunftvermögens erkannte er das entscheidende Mittel, diesem Anspruch gerecht zu werden. Überschaut man den Umriss der philosophischen Position Ewalds, so ist zu erkennen, dass er zum einen durch die Ansichten von Reimarus, Lessing u. a. über die natürliche Religion beeinflusst wurde. Zum anderen hat er die philosophische Grundlegung seiner Anschauungen aus der rationalen Komponente der europäischen und deutschen Philosophie der Neuzeit seit Descartes, Spinoza und Wolff aufgenommen. Der Einfluss seiner Spinoza-Studien wird insbesondere in den Darlegungen seiner Systematik sichtbar. Allerdings ging Ewald nicht von einer Identität zwischen Gott und Substanz aus. Er setzte Gott als den Schöpfer und umfassenden Gestalter allen Seins voraus. Wenngleich Ewald in den Jahren 1782/83 erst am Beginn seiner Beschäftigung mit Kants kritischer Philosophie stand, so ist dessen Einfluss auf seine Auffassung über das Vermögen der menschlichen Vernunft als Grundqualität der eigenständigen und verantwortungsvollen Gestaltung der sittlichen Ordnung der Menschen nicht zu übersehen.

2.4. Zum vierten Kapitel: »Schicksale des Deismus« Ewald ging nun in Grundzügen auf die Entstehung des Deismus in der Phase des Polytheismus ein und beschrieb dessen Ausformung in der antiken christlichen Welt. Er verfolgte die Veränderungen der religiösen Anschauungen aus der Sicht der Kernpunkte seiner Vorstellung über den Deismus bzw. die natürliche Religion unter drei Gesichtspunkten: – Erstens ging er dem Übergang von der sinnlich geprägten Vielgötterei zum vernunftgeleiteten Verständnis der durch einen Gott geschaffenen Realität nach. 118 Ebenda, S. 141 f.

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– Zweitens begründete er die Auffassung über die unteilbare Einzigartigkeit und die allumfassende und allgegenwärtige Wirksamkeit Gottes als geistige Wesenheit allen Seins. Er kritisierte die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes. – Drittens trat er für die Klarstellung der Rolle von Jesus Christus als Sohn Gottes bzw. als Botschafter Gottes ein und wies die Darstellung von sogenannten Wundern als Formen der Offenbarung Gottes als der Vernunft widersprechend zurück. Ewald war davon überzeugt, dass der Deismus in der Phase des Polytheismus in nichtöffentlichen Verbindungen von gleichgesinnten und vorurteilsfreien Personen als religiöse Vorstellung des Geheimkultes, den Mysterien, entstanden ist. In der höchsten Stufe dieser geheimen Lehre sah er das Aufkeimen von Elementen der monotheistischen Religion; denn: Das Wesentliche der grössern Geheimnisse bestand aber in der Lehre von einer göttlichen Fürsehung, von der Unsterblichkeit der Seele, und einem künftigen glücklichen und unglücklichen Zustand nach dem Tode, [...] nebst den Sittenlehren, als Mitteln zu einem künftigen glücklichen Zustand nach dem Tode zu gelangen [...].119

Letztlich sei, so Ewald, aus diesem Kreis, dem auch Gelehrte, Staatsmänner und Priester angehörten, die Lehre von einem einzigen Gott als Urheber der Welt hervorgegangen. Den entscheidenden Schritt zur Konstitution des Deismus schrieb Ewald den Weltweisen Pythagoras, Sokrates und Platon zu. Entgegen dem allgemeinen Volksglauben hätten sie durch die Betrachtung der Welt als Werk eines einzigen allmächtigen Gottes viel »zur Aufklärung des Verstandes, Besserung des Herzens, und zur Vorbereitung einer gesunden natürlichen Religion« beigetragen.120 Zu Platons Auffassung über Gott meinte er: Wenngleich dieser die drei Eigenschaften Gottes (das Gute – Monas; den Verstand – Logos; die Seele – belebende Kraft) als drei Götter bezeichnete, so habe er dies wohl nur vorbeugend getan, um nicht das Schicksal des Sokrates zu erleiden.121 Die in Griechenland entstandenen Eleusischen Mysterien sowie die Lehren Platons, so führte Ewald aus, seien in den ersten vier Jahrhunderten der christlichen Zeit gefeiert bzw. durch die Neuplatoniker, wie Plotin und Porphyrios, verbreitet und fortgepflanzt worden sowie in der Alexandrinischen Schule weitergetragen worden. Der Aufschwung und der Einfluss, den die Philosophie der Platoniker, initiiert durch Plotin in Rom, unter dem christlichen Kaiser Konstantin dem Großen und seinen Nachfolgern erreicht hatten, so meinte Ewald, erlosch im sechsten Jahrhundert unter Kaiser Justinian. Damals hätten auch die großen Geheimnisse der Eleusischen Mysterien ihre öffentliche Bedeutung verloren. 119 Ebenda, S. 146 f. 120 Ebenda, S. 149. 121 Ebenda, S. 154.

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Zur Lehre der Dreieinigkeit Gottes, wie sie auf den ökumenischen Konzilen von Nicäa (325) und Konstantinopel (381) als Dogma festgelegt wurde, »haben doch die Evangelisten und Apostel, oder Jesus, nach ihrer Erzählung, selbst, von einer Dreyerpersönlichkeit in der Einheit Gottes gar nichts ausdrücklich gelehret«.122 Jesus selbst habe immer betont, dass nur Gott als Einziger der Vater der Menschen sei. Während seines Wandelns auf der Erde erklärte er sich in seinem sterblichen Leib als Sohn Gottes, aber nie als eine Gott gleiche Erscheinung. Ewald interpretierte unter diesem Grundgedanken die verschiedenen Darlegungen im Neuen Testament. Er war der Meinung, dass Jesus, unter Beibehaltung der mosaischen Gesetzgebung und der damit verbundenen Zeremonien, die Juden zur Reinigung ihrer religiösen Vorstellungen von Abgötterei, zur Verehrung eines einzigen Gottes und zur sittlichen Erhöhung führen wollte. Er bemängelte die fehlende Klarstellung dieses Problems durch Jesus selbst und kritisierte die späteren Versuche zur Begründung der Dreieinigkeitslehre.123 Die Ursachen für das Entstehen der Dreieinigkeitslehre schrieb Ewald den Bestrebungen der Kirchenväter zu, mittels der philosophischen Systeme der Griechen u. a. das Dogma zu begründen, dass in Gott drei unterschiedene, aber gleichgöttliche Personen vereinigt seien. Er meinte: Mit der einfachen Lehre Christi und der Apostel von der Einfachheit Gottes, ging es, wie es mit allen Lehren geht, wenn sie spätere Zeiten erleben und Auslegern in die Hände fallen, die in den simpelsten Worten eine ausgedehntere Bedeutung suchen, als ihnen ihr Urheber selbst gab, besonders wenn diese Ausleger diese Lehren durch das Medium angenommener philosophischer Meinungen, wie es bey den Gnostikern und platonisirenden Kirchenvätern der Fall war, betrachten. Der Sohn oder das Wort und der Geist, wurden zu Personen in der Gottheit gemacht, dem Vater als der ersten Person, unter diesen die erste Stelle gegeben, und so aus dem einfachen Wesen Gottes ein Wesen gebildet, das zwar eins sey, aber aus drey verschiedenen Personen bestehe, eine Sache, woran Christus und die Apostel bey dem Gebrauch dieser Wörter gar nicht gedacht haben.124 122 Ebenda, S. 190. 123 Ebenda, S. 198 f. Ewald erklärte: »Hingegen kann man dem Vorwurfe der Unordnung und Dunkelheit des Vortrags Christi nicht ausweichen, wenn man ihm diese Lehre unterschiebt, und seiner Apostel Aussprüche nur aus dem willkürlich angenommenen Gesichtspunkte der Dreyeinigskeitslehre betrachtet. Man bürdet dadurch auch diesem vortreflichen Lehrer der Menschen eine Mental-Reservation auf, die mit seiner Aufrichtigkeit und seinem Eifer die Menschen zu bessern und zu erleuchten gar nicht bestehen kann, und wozu sich auch nicht der geringste Grund ausfindig machen läst [...]. Ich glaube demnach, daß er einen einzigen Gott gelehret, und die Absicht gehabt habe, die Juden zu der Erkenntniß eines einzigen Gottes und zur wahren Verehrung desselben zurück zu führen, da der alte Hang dieses Volks zur Abgötterei auch zu seiner Zeit noch nicht vertilgt war«, ebenda, S. 199 f. 124 Ebenda, S. 200 f.

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Josias Christian Friedrich Löffler – ein Beförderer des Vernunftglaubens Im Folgenden nahm sich Ewald vor, den Vorgang der philosophischen Untermauerung der offiziellen christlichen Religion, wie er sich in den vier nachchristlichen Jahrhunderten vollzogen hatte, in seinen Grundkonturen zu skizzieren. Seinen Darlegungen legte er die Schrift »Versuch über den Platonismus der Kirchenväter; Oder Untersuchung über den Einfluß der platonischen Philosophie auf die Dreyeinigkeitslehre in den ersten Jahrhunderten« (1782, XXXVIII S., 374 S.) zugrunde.125 Es war die Übersetzung der Schrift des französischen reformierten Theologen Matthieu Souverain »Le Platonisme devoilé ou Essai Touchant le Verbe Platonicien« (Köln [Amsterdam] 1700). Sie erschien anonym, ohne Nennung des Übersetzers und ohne Angabe des Verlagsortes. Es war der in Berlin wirkende evangelische Theologe Josias Friedrich Christian Löffler (1752–1816), der die Schrift übersetzt, mit Vorrede und Anmerkungen versehen in der Frommannschen Buchhandlung in Züllichau und Freystadt (Neumark) herausgegeben hatte.126 Er galt als Anhänger der neologisch geprägten Aufklärungstheologie, die in Berlin und Frankfurt/Oder insbesondere durch Johann Joachim Spalding und Wilhelm Abraham Teller repräsentiert wurde. Löffler absolvierte seine gymnasiale Ausbildung durch die Vermittlung von Johann Salomo Semler am Waisenhaus in Halle und studierte an der dortigen Universität Theologie. Danach wirkte er mit der Empfehlung von Semler in Berlin als Hauslehrer, als Prediger an der Charité und als Feldprediger beim Regiment Gendarmes. 1782 wurde er durch den Staatsminister Karl Abraham von Zedlitz zum Professor für Theologie an die Universität Frankfurt/Oder berufen. Die unter dem neuen Minister Johann Christoph Wöllner auftretenden Spannungen veranlassten ihn 1788, das Angebot von Herzog Ernst II. als Generalsuperintendent und Oberkonsistorialrat in Gotha tätig zu sein, anzunehmen. Im Sinne seiner religionsphilosophischen Vorstellungen konnte er vielfältig und erfolgreich wirken. Unter dem Einfluss von Semler, der als Begründer der historisch orientierten Theologie gilt, vertrat Löffler erstens eine historisch-kritische Sicht auf die Religions- und Kirchengeschichte im Hinblick auf die Entstehung eines Grundverständnisses über die von Gott geschaffene Welt. Das bedeutete für ihn, in der Beurteilung der religiösen Vorstellungen die realen historischen Begebenheiten 125 Ebenda, S. 201. Ewald bemerkte: »Wie es mit dieser Verwandlung zugegangen, will ich nach Anleitung eines sehr gelehrten Werks, nemlich des V e r s u c h e ü b e r d e n P l a t o n i s m u s d e r K i r c h e n v ä t e r , kürzlich vortragen.« 126 Die zweite, vermehrte Auflage der Schrift erschien 1792 mit allen Angaben (Übersetzer, Herausgeber, Verleger und Verlagsort) und einer zusätzlichen Abhandlung über die Entstehung der Dreieinigkeitslehre im gleichen Verlag. Zum Autor äußerte sich Löffler in der Vorrede. Seine Verbindung zum Frommann-Verlag setzte er nach dessen Übersiedlung nach Jena (1798) fort. Die Schrift von Matthieu Souverain hat die Diskussion über die Trinitätslehre bis in das 19. Jahrhundert beeinflusst, vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter / Karlfried Gründer, Bd. 7, Basel 1989, S. 978.

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sowie die zeitbedingte Befähigung der Ausleger, der Prediger und der Anhänger von Religionslehren zu berücksichtigen, um den wesentlichen Inhalt der Religion zu erkennen und zu bewahren. Nur unter dieser Voraussetzung, so äußerte Löffler in einer Anmerkung zu der von ihm herausgegebenen Schrift, seien die Betrachtungen der Kirchenväter sowie die Vorstellungen und Handlungen der Gläubigen zu bewerten; denn jedes Zeitalter hat seinen eigenen Stand der Philosophie und des Wissens.127 Er nahm diejenigen Kirchenväter, wie Clemens und Origines, hinsichtlich ihrer Reflexionen in Schutz, da sie die Wissenschaft des geheimen Sinnes, die Kontemplation und ihre durch beyde erlangten Kenntnisse nicht für die Christen überhaupt, sondern für die Selbstdenkenden unter ihnen bestimmten, daß sie sich jenes geheimen Sinnes und ihrer Theologie insonderheit dazu bedienten, um nach der Methode eines weisen Lehrers allen beyzukommen, und sie für das Christenthum und seine moralischen Grundsätze zu gewinnen [...].128

Jedoch war für Löffler die historische Bedingtheit jeglicher theologischer Interpretation der christlichen Religion eine Tatsache, der die Theologie ständig durch die Fortentwicklung ihres Systems Rechnung zu tragen habe.129 127 Matthieu Souverain, Versuch über den Platonismus der Kirchenväter; Oder Untersuchung über den Einfluß der platonischen Philosophie auf die Dreyeinigkeitslehre in den ersten Jahrhunderten, Züllichau 1782, S. 259 f. Löffler merkte an: »So richtig die Schilderung seyn mag, die der Verfasser in diesem Abschnitt von der Theologie und der Kontemplation mehrerer Kirchenväter gemacht hat, so wahr ist es, daß sie bey der Erklärung der heil. Schrift den grammatischen Sinn beynahe gänzlich verließen, und dafür fast überall einen mystischen hineintrugen, daß sie dießen und ihre oft so unverständlichen Spekulationen weit über den Glauben derer hinwegsetzten, welche den geheimen Sinn zu finden und sich durch Hülfe desselben zu jenen höhern Kenntnissen zu erheben nicht vermochten; so wird man doch, wenn man bedenkt: daß die Theologie eines Gelehrten von dem Glauben des unfähigen Christen nicht anders als verschieden seyn kann; daß die Art, wie wir die heilige Schrift erklären, sehr vom Geschmack des Jahrhunderts, und die Hülfsmittel, die wir zur Erläuterung ihrer Lehrsätze gebrauchen, gröstentheils von unsern anderweitigen Studien und von der herrschenden Philosophie abhängig sind – ich sage, wenn man das bedenkt; so wird man sich geneigt finden, etwas milder über die Theologie der Kirchenväter und über sie selbst zu urtheilen.« 128 Ebenda, S. 260. 129 Ebenda, Vorrede, S. XXX. Dazu erklärte Löffler: »Zur Beförderung dieses freyen, edlen verträglichen und wahrhaften christlichen Sinnes [zur Beförderung der Theologie – H. S.] kenne ich nicht leicht ein wirksameres Mittel, als das Studium der Kirchengeschichte, und insonderheit der Geschichte der Glaubenslehre. Diese enthalten offenbar den Beweis: daß kein kirchliches System, und kein spekulativer Lehrsatz desselben von Anfang an so dagewesen ist, wie sie in der Folge bestimmt worden; daß die Theologie steten Veränderungen nicht minder unterworfen ist, als jede andere menschliche Wissenschaft; daß das lautere von allen menschlichen Zusätzen freye Glaubensystem nur in dem Verstande Gottes, aber in keinem Zeitalter und in keiner Kirche zu suchen ist; daß die jedesmalige Beschaffenheit

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Zweitens folgte für Löffler aus der historischen Sichtweise des Verhältnisses von Theologie und Philosophie, dass das Verständnis der von Gott geschaffenen Weltordnung ohne Zuhilfenahme der Grundsätze der Vernunfterkenntnisse des Menschen nicht ausreichend ist, um den Glauben an die göttliche Zwecksetzung des Daseins und seine moralischen Anforderungen in der Gemeinschaft der Gläubigen zu festigen. In seiner Vorrede zur Schrift vom 18. Februar 1782 verteidigte er die rationale Tendenz des neologischen Denkens, indem er zum einen die Trennung von Theologie als eigenständige Wissenschaft über die Religion von der praktischen Glaubenslehre befürwortete. Zum anderen hielt er die Verbindung von Theologie und Philosophie aus anthropologischer Sicht für erforderlich. Denn ohne die Aktivierung der menschlichen Vernunft, ohne das begreifende Verstehen der göttlichen Weltordnung, so argumentierte Löffler, kann sie vom selbstdenkenden Individuum nicht akzeptiert und gestaltet werden. Er stellte fest: Denn was heißt Philosophie und Christenthum verbinden? Was anders, als den Gebrauch des vernünftigen Nachdenkens mit dem Gebrauch der heil. Schrift, und die durch jenes erlangte Kenntnisse mit den Lehrsätzen dieser verbinden? Wollte man verlangen, daß unsere Religionserkenntnisse und unsere philosophischen Kenntnisse ganz von einander getrennt und gleichsam isolirt in dem menschlichen Verstande liegen sollten; so würde man offenbar eine der menschlichen Seele unmögliche und der Religion selbst nicht vortheilhafte Sache verlangen. Denn warum sollen wir die Religionswahrheiten nicht in einen begreiflichen und von Widerspruch befreyten Zusammenhang unter sich und mit unsern natürlichen Kenntnissen zu setzen, und sie dadurch dem menschlichen Verstand desto annehmlicher zu machen suchen?130

Löffler erkannte in dieser gleichsam synthetischen Betrachtung von Schrift und Vernunft, von Theologie und Philosophie über den Sachverhalt der Welt als Schöpfung Gottes nicht nur einen fruchtbringenden Diskurs zur Erklärung eines ganzheitlichen christlichen Weltbildes. Es lag ihm vor allem an der Verdeutlichung der praktischen Konsequenzen dieser theoretischen Überlegungen für die Mitgestaltung des Einzelnen an der moralischen Zwecksetzung dieser Weltordnung. Hier der Kerngedanke Löfflers: Ich bin daher sehr überzeugt, daß, je mehr der Nachdenkende bemüht ist, und je mehr ihm diese Bemühung glückt, die Ideen der Religion mit den Ideen der Philosophie und mit seinem ganzen Gedankensystem zu vereinigen; daß ihm auch die Religionswahrheiten um so viel annehmlicher und gewisser erscheinen werden, und daß er an ihnen um so viel fester halten wird, je enger diese Vereinigung geworden ist. Und ich leite daraus die natürliche Folge her: daß jeder im Denken geübte, dem es um feste Ueberzeugung des Verstandes und um Wirksamkeit der Wahrheit auf sein Herz zu thun ist, selbst die heilige Pflicht hat, Philosophie und Christenthum, seine natürliche des kirchlichen Systems in jedem Zeitalter und in jeder Kirche von den jedesmaligen Auslegungshülfsmitteln der heiligen Schrift und von der herrschenden Philosophie abhängt [...].« 130 Ebenda, S. XX f.

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und christliche Erkenntniß in den möglichst begreiflichen Zusammenhang und in die möglichst engste Verbindung zu setzen. Dadurch wird seine eigne Ueberzeugung an Vestigkeit gewinnen, und die Wirkung der Religionswahrheiten um so viel stärker seyn, je mehr sie in sein ganzes Gedanken- und Empfindungssystem eingreifen, und je inniger diese Verbindung geworden ist.131

Von dieser Position ausgehend, hielt Löffler die Zeit für gekommen, alle Probleme der christlichen Religion – auch die Dreieinigkeitslehre – ohne Vorurteil, ohne unbiblische Beimischung auf der Grundlage eines vernunftgeleiteten Glaubens zu diskutieren. Denn: die edle Freyheit des Denkens, die wir in unsern glücklichern Zeiten durch die Weisheit aufgeklärter Regierungen genießen,

eröffne diese Möglichkeit. Sie werde, so hoffte Löffler, »zur Besserung und Veredlung der Menschen« beitragen »und duldender gegen Andersdenkende« wirken.132 Er hatte damit seine Zustimmung zu den grundlegenden Vorstellungen, wie sie die Aufklärungstheologie vertrat, zu erkennen gegeben. Auch späterhin hat Löffler die rationale Tendenz, den christlichen Glauben durch Erkenntnisse der menschlichen Vernunft zu fundieren, in Wort und Schrift fortgeführt. Es ist offensichtlich, dass er hierdurch sowohl die Anschauungen Ewalds über die natürliche Religion beeinflusst hat als auch seine Berufung nach Gotha (1788) durch den liberal eingestellten Herzog Ernst II. beförderte. Vermutlich hat Ewald im Kreise der Illuminaten für Löfflers Anstellung gesprochen. Die Dreieinigkeitslehre und die Philosophie Platons Ewald griff den aktuell diskutierten Vorwurf auf, dass die Kirchenväter dieses Zeitraumes die christlichen Lehren, insbesondere die Auffassung von der Drei­ einigkeit der göttlichen Allmacht, hauptsächlich durch die Philosophie des Platon und seiner Anhänger zu fundieren und deren Übereinstimmung mit der Bibel zu beweisen suchten. Von daher kreisten die Erörterungen Ewalds um den Begriff des »Logos« als göttlicher Weltvernunft sowie der in Gott wohnenden allseitigen schöpferischen Kraft, die im Sohn Gottes als fleischgewordenes Wort Gottes zum Ausdruck kommt sowie als alles durchdringender göttlicher Geist auch den Menschen erreicht und auf eine moralische Weltordnung orientiert. Diese Dreieinigkeit Gottes hätten die Kirchenväter mit Hilfe der Ideenwelten des Griechen Platon und des Juden Philon in der Bibel, selbst im Alten Testament, durch allegorische Auslegung nachzuweisen versucht.133 Ewald kam zu folgendem Ergebnis: 131 Ebenda, S. XXII. 132 Ebenda, S. XXX, XXXI f. 133 Ewald, Natürliche Religion, S. 204. Dazu bemerkte Ewald: »Die Dreyeinigkeitslehre, den Logos, die idealische Welt des Plato, Dinge, die gar nicht im alten Testament enthalten sind, fanden diese Kirchenväter dennoch darin, und zwar durch Hülfe des geistigen mystischen

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Bey diesen Ausdrucksarten der heil. Schrift ist an keine von Gott verschiedene Subjekte oder Personen zu denken; sondern er ist e i n und d e r s e l b e Gott, der sich offenbart oder mittheilt. Diese Ausdrücke bezeichnen blos die Art, wie sich Gott zu den Menschen herabläßt.134

Ewald war der Meinung, die Aufteilung der Macht Gottes in drei verschiedene Bereiche, die den Menschen die göttliche Wesenheit näherbringen soll, zeige nur, dass bestimmte Ausleger sowohl die heilige Schrift als auch die Platonische Philosophie nicht verstanden hätten. Zur Verteidigung der theologischen Metaphysik bzw. der Religionsphilosophie Platons argumentierte Ewald: Die bessern Philosophen, und insonderheit P l a t o , hatten sich durch die Betrachtung der Welt zu der Erkenntniß eines einzigen Gottes erhoben und einsehen lernen, daß sie das Werk eines h ö c h s t g u t e n, h ö c h s t w e i s h e i t s v o l l e n und h ö c h s t m ä c h t i g e n und alles beseelenden Wesens seyn müsse. Diese drey Eigenschaften Gottes nennt er drey Götter, den g u t e n oder die E i n h e i t, den V e r s t a n d oder die W e i s h e i t, L o g o s , und die S e e l e, oder die b e l e b e n d e K r a f t. Was P l a t o auch für Gründe gehabt haben mag, diese Eigenschaften in Personen zu kleiden; es sey, daß er sonst die Landesreligion zu sehr zu verletzen und S o k r a t e s Schicksal fürchtete; oder es sey herablassende Lehrweisheit gewesen; oder es sey, daß die Philosophie damals überhaupt noch zu sehr Bilder, Allegorien und sinnliche Ausdrücke liebte; so ist wenigstens so viel gewiß, daß P l a t o selbst darunter so wenig d r e y G ö t t e r gedacht hat, als die V a l e n t i n i a n e r unter ihren dreysig Äonen sich dreysig Götter dachten.135

Ewald erörterte im Folgenden die Grundstruktur der Philosophie Platons. Er wollte zeigen, dass die Kirchenväter Platons Idee des Logos und deren Ausfluss in die sinnlich reale Welt zur Begründung ihrer Lehre von der Dreifaltigkeit Gottes rezipiert haben. Ewald interpretierte: Erstens habe Platon einen höchsten Gott angenommen, den er als Logos, d. h. als Schöpfer allen Seins, bezeichnete. Zweitens habe nach Platon dieser Gott (Logos) die Materie (oder Substanz) als Urstoff hervorgebracht. Drittens habe Platon, da er die Idee des Logos als Vater und die Materie als Mutter alles Existierenden beschrieb, die sinnlich wahrnehmbare Welt als Sohn Gottes bzw. als Bild des Vaters benannt. Ewald kam zu dem Ergebnis: Da nun die aus der Schule in das Christenthum gekommenen Kirchenväter P l a t o n s Logos mit J o h a n n i s Logos und mit Christo für einerley hielten, so legten sie diesem alle Prädikate des platonischen Logos bey. Sie dachten sich daher auch eine e w i g e aber uneigentliche Zeugung des Sohns, und eine z w e y t e bey der Schöpfung erfolgte, wodurch der Sohn eigentlich Sohn und eine Person geworden sey.136 Sinnes, und der allegorischen Auslegungsmethode, die überall verborgene Auslegungen sieht. Dieser allegorische Geist herrschte damals allgemein, unter Juden, Christen und Heiden.« 134 Ebenda, S. 207. 135 Ebenda, S. 208 f. Die Valentinianer waren eine Hauptrichtung der Gnosis; gestiftet von Valentinus (2. Jahrhundert). 136 Ebenda, S. 211 f.

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In diesem Zusammenhang kritisierte Ewald das hermeneutische Vorgehen aller Ausleger des Alten und Neuen Testaments in diesem Streit um die Einheit bzw. die Differenziertheit der göttlichen Existenz, da sie nach der allegorischen Auslegungsmethode, welche nicht den grammatischen Sinn, sondern blos einen Ähnlichkeitssinn aufsucht,137

vorgegangen seien. Desweiteren warf er dem Bestreben der Kirchenväter, die eine Verbindung zwischen dem Logos und der Person Christi festzustellen glaubten, eine pragmatische Zielsetzung vor: Die Ursach aber und der Zweck, warum diese Kirchenväter überall allegorische Deutungen suchten, war, dem Christenthum ein desto prächtigeres Ansehen zu geben, um dadurch die Heiden zu gewinnen; oder ihre P o l i t i k.138

Den Weg bzw. die Methode, die sie wählten, um dieses Ziel zu erreichen, hätten die Kirchenväter durch die Mystifizierung von historischen Ereignissen zu erreichen versucht, indem sie in diesen das übersinnliche Erfassen des Wesens Gottes vorgaben. Ewald bemerkte dazu: Sie suchten daher auf der einen Seite die vorzüglichsten Lehrsätze der Philosophie, und alles was sie nur Scheinbares enthält, in der heil. Schrift zu finden, und auf der andern alles aus ihr weg zu allegorisiren, was den Heiden nur im geringsten anstössig scheinen konnte. Diese Neigung allegorische Deutungen zu suchen, verleitete sie endlich dahin, daß sie den historischen Inhalt der Evangelien und die darin erzählten Begebenheiten, blos als den Gegenstand des Glaubens der Einfältigern ansahen, und für sich durch Hülfe des mystischen Sinnes ein g e i s t i g e s Evangelium zusammen sezten, welches der Gegenstand der G n o s i s und der C o n t e m p l a t i o n sey; daß sie nun nicht mehr von J e s u d e m M e s s i a s, seiner Geburt u.s.w. sondern allein von einem e w i g e n L o g o s, und von einer ewigen Zeugung redeten, und von diesem nicht blos als von einem Gott, sondern daß sie ihm die Natur und das Wesen des höchsten Gottes selbst beylegten.139

Von dieser Grundposition ausgehend, erörterte Ewald den Einfluss der Platonischen Philosophie auf die von den Kirchenvätern vorgenommene Begründung der Trinität der göttlichen Allmacht. Er zeigte auf, wie deren Differenzierung in drei gleichgöttliche Personen (Vater, Sohn, Heiliger Geist) abgeleitet wurde. Denn bei den ältesten Kirchenvätern sei »keine Präexistenz des Logos, keine e w i g e Zeugung« und Jesus »nicht als eine dem Vater gleiche Person« beschrieben worden.140 Diese Auffassung wäre als ketzerisch angesehen worden, da man sich auf die wunderbaren Ereignisse der Geburt und der Himmelfahrt stützte. Den Vorgang der mystischen Erhöhung Gottes und seiner Existenzformen resümierte Ewald wie folgt: 137 138 139 140

Ebenda, S. 214. Ebenda, S. 216. Ebenda, S. 216 f. Ebenda, S. 218.

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Endlich läst sich auch die Quelle angeben, aus welcher die nachherige Theologie über den Logos, und seine Verwandlung in eine zweite Person der Gottheit geflossen ist. Sie liegt nemlich in nichts, als in einer zu weit getriebenen Philosophie über die himmlische Kraft, welche sich bey der Empfängnis in den Messias senkte.141

Aus der Sicht der allseitigen Erhöhung des Logos habe sich, so argumentierte Ewald, auch die dritte Person des Göttlichen, der Heilige Geist, als die alles durchdringende Wesenheit ergeben: In der Folge machte man aus dieser Kraft und Würkung Gottes eine Person; und weil diese Kraft, oder dieses göttliche Principium des Messias, zwey Namen führte, nemlich Logos und Geist, so machte man aus ihnen zwey Personen. Aus dem L o g o s früher, weil die platonischen Väter häufiger von ihm, als vom Geist, gesprochen hatten, aus dem Geist später. Daher findet man fast in den ersten vier Jahrhunderten noch nichts über die persönliche Gottheit des heiligen Geistes festgesezt.142

Bis zu diesem Punkt war Ewald den Überlegungen von Souvrain zustimmend gefolgt.143 Dessen Zugeständnissen an die offizielle christliche Glaubenslehre, die Geburt und die Himmelfahrt Christi als Beweise seiner Göttlichkeit anzuerkennen, lehnte Ewald ab. Er meinte, »ich finde gegründetes Bedenken auch diese beyden wunderbaren Begebenheiten für wahr anzunehmen«.144 Denn beide Ereignisse haben in den Berichten der Jünger und der Apostel über Christus keine zentrale Bedeutung bzw. ihre Schilderung seien nur von Einzelnen lückenhaft und im Detail undeutlich genannt worden. Da Ewald über diese Fundamental­ ereignisse der christlichen Glaubenslehre genaue Kenntnisse vermisste, zweifelte er an ihrem Wahrheitsgehalt.145 Schließlich kam Ewald, ganz offensichtlich unter 141 Ebenda, S. 220. 142 Ebenda, S. 221 f. 143 Ebenda, S. 222. Dazu bemerkte Ewald: »In der Vorstellung dieses gelehrten Mannes [Matthieu Souvrain – H. S.] von dem Ursprunge der Dreyeinigkeitslehre wird gewis jeder nachdenkende und von Vorurtheilen befreyte Leser Wahrheit finden; auch wird man seiner Meinung, daß der apostolische Glaube der Kirchenväter von der Gottheit Christi sich lediglich auf die wunderbare Geburt und die Himmelfahrt oder Erhöhung derselben gegründet habe, beypflichten müssen, wenn man voraussezt, daß die Apostel beyde Umstände entweder als würklich geschehen geglaubt, oder als wahr vorgegeben haben.« 144 Ebenda, S. 223. 145 Ebenda, S. 225 f. Ewald erläuterte seinen Standpunkt: »Da sich dieses aber gleichwohl so befindet, so hat man Grund an der Wahrheit dieser Begebenheiten, und der Erzählungen der Apostel zu zweifeln, und zu glauben, daß hinter diesen Erzählungen etwas Erdichtetes liege, daß der Inhalt derselben unter den Aposteln abgeredet gewesen (denn die meisten Jünger erfuhren von vielen Umständen nichts. Joh. 20, 9.) oder zu muthmassen, daß diese Schriften von andern als würklichen Augenzeugen der Begebenheiten Christi aufgesezt worden sind. Mir aber kömmt es so vor, als ob die Apostel nach Christi Tode, die Handlungen und Begebenheiten desselben, wider seine eigene Absicht zu sehr ins Licht des Wunderbaren gestellt und seiner Meinung zuwider übertrieben haben.«

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Zweite Phase: Profilierung philosophischen Denkens 1781–1790

dem Eindruck seiner Beschäftigung mit Kants kritischem System der Analyse der Vernunft, zu dem Ergebnis, dass nur die reine Vernunft das Kriterium zur Begründung des Glaubens an das Übersinnliche sein kann. Seine Überzeugung, dass einerseits die geordnete und wahrnehmbare Welt notwendig einen übersinnlichen Urheber voraussetzt und andererseits diese unendliche, von einem göttlichen Schöpfer durchwaltete Welt nur durch die begrenzte Möglichkeit der menschlichen Vernunft zu erfassen und zu begreifen ist, haben Ewald in einen grundsätzlichen Konflikt versetzt. Hier nun das Fazit seines Ringens um einen Glauben an das Übersinnliche, das auf den Grundsätzen der Vernunft beruht: Hiernächst muß ich mich bey diesen Erzählungen [Geburt und Himmelfahrt von Jesus Christus – H. S.] auf das Urtheil einer reinen unverblendeten Vernunft berufen, so sehr man dagegen protestiren mag, da uns Menschen kein anderes Licht, Wahrheit zu erkennen, gegeben ist, als Vernunft, und keine Religion in der Welt ohne Vernunft nur einen Augenblick statt finden kann; und warum sollte Vernunft hier schweigen, wo sie doch die Zeugnisse selbst, wenigstens einigermassen, (um recht viel nachzugeben) mangelhaft findet? Diese Vernunft sagt mir, daß es ihr zu begreifen, schlechterdings unmöglich sey, wie sich das allgegenwärtige die ganze Welt erfüllende Wesen Gottes in den Leib einer Jungfrau oder eines Weibes senken und als Mensch gebohren werden könne; noch wie sich ein menschlicher Leib in die Lüfte in den Himmel erheben, und Gott selbst in diesem Leibe sich gleichwohl selbst zur Rechten Gottes setzen könne. Allmächtiges Wesen! ich zittere vor diesem Gedanken, und erschrecke vor allen Seinen Folgen, wovon ich hier gern keine berühren will. O wüst’ ich ein Gebet, wodurch ich Gott bewegen könnte, mich aus diesem Labyrinthe zu führen, herzlich und inbrünstig sollte es zu ihm fliegen, mich und die Menschen mit seinem Lichte zu erleuchten, und die Wahrheit, sie sey auf welcher Seite sie wolle, – denn kindische Spötterei kömmt nicht in meine Seele – sehen zu lassen.146

Der Geschichte des Deismus oder der natürlichen Religion wollte Ewald nur bis zur Unterdrückung dieser Vorstellungen durch die Kirchenväter nachgehen. Zur aktuellen Auseinandersetzung über die natürliche Religion in Deutschland äußerte er sich nicht. Den Zustand der Gesellschaft in Europa zu Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts empfand Ewald als spannungsreiches Geschehen von beginnenden Veränderungen im geistigen und gesellschaftlichen Leben. Er schloss seine Darstellung – es sei daran erinnert, dass sie im Jahr 1784 erschien – mit der Charakterisierung dieses allgemeinen Zustandes als Krise. Aus seinen Worten ist zu ersehen, dass er sie als Zustand der Läuterung, der Erneuerung und des Beginns der Reformierung der Gesellschaft betrachtete. Zudem ist er der Meinung, dass die Grundsätze der natürlichen Religion geheim in Sekten und Orden bis in die Gegenwart ständig weitergetragen wurden, und setze nur noch hinzu, daß der menschliche Verstand zum Vortheil der Wahrheit, jetzt in einer Crisis liege, welche hoffen läßt, daß er sich mit der Zeit ohne Gewalt­ thätigkeit aus der Sklaverei, die ihn so lange gefangen hielt, durch eigene Kraft 146 Ebenda, S. 226 f.

Autor im » Teutschen M erkur «

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befreyen werde. Manche Großen der Erde haben zu Ehre unsers Zeitalters schon angefangen dem Unterthan das Joch der Knechtschaft vom Nacken wegzuheben, die Menschheit in jedem auch dem niedrigsten Stande zu verehren, und der unterdrückten natürlichen Freyheit, so weit es nützlich und gut ist, und die Verfassung und Verhältnisse des Staats erlauben, aufzuhelfen. Soll das Edelste, das die Erde im Menschen trägt, soll der Verstand allein ewig im Kerker bleiben?147

In dieser Schlusspassage der Schrift hat Ewald sein Bekenntnis zum Kritizismus Kants, wenn auch indirekt, doch sachlich eindeutig zum Ausdruck gebracht. Er wies auf die grundsätzliche Bedeutung der Neubestimmung der Verstandestätigkeit als Kernstück des Vernunftvermögens hin. In diesem besonderen Potential des Vernunftvermögens sah er ein wesentliches Mittel zur eigenständigen Gestaltung der individuellen und gesellschaftlichen Existenz des Menschen. Dieser Grundgedanke bildete den Ausgangspunkt seiner Hinwendung zur Philosophie Kants, zur Auseinandersetzung mit dem System Spinozas und insbesondere zu seinen rechts- und staatsphilosophischen Darstellungen. Schließlich dienten sie als Grundlegung seiner religionsphilosophischen Vorstellungen.

3. Ewald als Autor im »Teutschen Merkur« Die Mitwirkung Ewalds am kommunikativen Geschehen zwischen den kulturellen Zentren Thüringens, wie Gotha und Weimar, zeigt u. a. der Briefwechsel mit Karl Leonhard Reinhold in den Jahren 1788/89.148 Ewald bemühte sich darum, Beiträge im »Teutschen Merkur«, den Wieland herausgab und Bertuch verlegerisch betreute, zu veröffentlichen. Ein Beispiel für das Gelingen seines Bestrebens dokumentiert der Brief von Ewald an Friedrich Justin Bertuch vom 18. November 1786. Da von Ewald kaum persönliche Korrespondenz erhalten ist, die auch Einblicke in seine Lebensumstände vermittelt, wird der Brief vollständig wiedergegeben: Wohlgeborner Herr Hochgeehrtester Herr und Freund! Ew. Wohlgebrn. werden sich gütigst erinnern, daß ich Ihnen vor dem Jahr einen Aufsatz über die Sterndeutekunst durch Herrn Becker überschickt habe, und solchen, im Fall Sie ihn für tauglich hielten, in den deutschen Merkur einrücken lassen. Letzteres ist dann auch nach einigen im Mspt. gemachten Aenderungen und Abkürzungen geschehen, und er steht im 1sten Stücke dieser Monatsschrift von diesem Jahre. Da mir Hr. Becker damals zu einem Honorar immer Hoffnung gemacht hat, so bin ich so frey mich dieserhalb bey Ihnen selbst zu melden, und Sie um dasselbe zu bitten. Da 147 Ebenda, S. 237 f. 148 Karl Leonhard Reinhold, Korrespondenz 1788–1790, hrsg. von Faustino Fabbianelli u. a., Stuttgart / Bad Cannstatt 2007, S. 16, 20, 27–32, 80–85.

Autor im » Teutschen M erkur «

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befreyen werde. Manche Großen der Erde haben zu Ehre unsers Zeitalters schon angefangen dem Unterthan das Joch der Knechtschaft vom Nacken wegzuheben, die Menschheit in jedem auch dem niedrigsten Stande zu verehren, und der unterdrückten natürlichen Freyheit, so weit es nützlich und gut ist, und die Verfassung und Verhältnisse des Staats erlauben, aufzuhelfen. Soll das Edelste, das die Erde im Menschen trägt, soll der Verstand allein ewig im Kerker bleiben?147

In dieser Schlusspassage der Schrift hat Ewald sein Bekenntnis zum Kritizismus Kants, wenn auch indirekt, doch sachlich eindeutig zum Ausdruck gebracht. Er wies auf die grundsätzliche Bedeutung der Neubestimmung der Verstandestätigkeit als Kernstück des Vernunftvermögens hin. In diesem besonderen Potential des Vernunftvermögens sah er ein wesentliches Mittel zur eigenständigen Gestaltung der individuellen und gesellschaftlichen Existenz des Menschen. Dieser Grundgedanke bildete den Ausgangspunkt seiner Hinwendung zur Philosophie Kants, zur Auseinandersetzung mit dem System Spinozas und insbesondere zu seinen rechts- und staatsphilosophischen Darstellungen. Schließlich dienten sie als Grundlegung seiner religionsphilosophischen Vorstellungen.

3. Ewald als Autor im »Teutschen Merkur« Die Mitwirkung Ewalds am kommunikativen Geschehen zwischen den kulturellen Zentren Thüringens, wie Gotha und Weimar, zeigt u. a. der Briefwechsel mit Karl Leonhard Reinhold in den Jahren 1788/89.148 Ewald bemühte sich darum, Beiträge im »Teutschen Merkur«, den Wieland herausgab und Bertuch verlegerisch betreute, zu veröffentlichen. Ein Beispiel für das Gelingen seines Bestrebens dokumentiert der Brief von Ewald an Friedrich Justin Bertuch vom 18. November 1786. Da von Ewald kaum persönliche Korrespondenz erhalten ist, die auch Einblicke in seine Lebensumstände vermittelt, wird der Brief vollständig wiedergegeben: Wohlgeborner Herr Hochgeehrtester Herr und Freund! Ew. Wohlgebrn. werden sich gütigst erinnern, daß ich Ihnen vor dem Jahr einen Aufsatz über die Sterndeutekunst durch Herrn Becker überschickt habe, und solchen, im Fall Sie ihn für tauglich hielten, in den deutschen Merkur einrücken lassen. Letzteres ist dann auch nach einigen im Mspt. gemachten Aenderungen und Abkürzungen geschehen, und er steht im 1sten Stücke dieser Monatsschrift von diesem Jahre. Da mir Hr. Becker damals zu einem Honorar immer Hoffnung gemacht hat, so bin ich so frey mich dieserhalb bey Ihnen selbst zu melden, und Sie um dasselbe zu bitten. Da 147 Ebenda, S. 237 f. 148 Karl Leonhard Reinhold, Korrespondenz 1788–1790, hrsg. von Faustino Fabbianelli u. a., Stuttgart / Bad Cannstatt 2007, S. 16, 20, 27–32, 80–85.

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Sie mit Herrn Commissionsrath Ettinger in Rechnung stehen, so brauchten Sie dieses Geld nur durch denselben an mich bezahlen zu lassen; er ist aus Gefälligkeit gegen Sie und mich dazu erböthig. 1 Rthlr. 17 gr. für erhaltene Blumen ziehen Sie von dem Honor. ab. Ich bin überzeugt, daß Sie mir meine hierunter genommene Freyheit gütigst verzeihen, und es für kein bloßes Compliment halten werden, wenn ich Sie versichere, daß ich Ihnen in andern Fällen zu dienen bereit bin. Ich verharre mit vorzüglichster Hochachtung und wahrer Ergebenheit. Gotha. Ew. Wohlgeborn. gehorsamster Diener den 18ten Nov. 1786 S H Ewald.149

Der Beitrag Ewalds »Ueber die Sterndeutekunst« im »Teutschen Merkur« (1786) zeigt, dass der ihm eigene Impetus zur untersuchenden Betrachtung und zu aufklärender journalistischer sowie editorischer Arbeit nicht nur zu Kants kritischer Philosophie und zur Ideenwelt Spinozas führte, sondern ungebrochen zur Stellungnahme gegen aktuell aufkommende Formen von tradiertem Aberglauben und Schwärmerei bewegte. Der einleitende Satz des Beitrages zeigt programmatisch den Anlass seiner Entstehung sowie die Stoßrichtung und die Grundlage der Argumentation des Verfassers an: Wenn es wahr ist, was man sagt, daß unter den mancherley Arten von altem Aberglauben auch die Astrologie jetzt von neuem ihre Anhänger findet und begünstigt wird, und dazu die vor kurzem angekündigte sogenannte ächte Ausgabe der Weis­ sagung des verstorbenen Superintendenten Ziehen, zu Zellerfeld, von einem unserm t e u t s c h e n V a t e r l a n d e b e v o r s t e h e n d e n g r o ß e n E r d f a l l e, um so mehr ein Beyspiel abgiebt, als diese vorgebliche Weissagung nicht auf tiefen astronomischen Kenntnissen, wie in der Ankündigung gesagt wird, sondern vielmehr auf astrologischen Grillen beruhet: so ist es ja wohl nicht undienlich, dieser Krankheit der Seele gleich das Heilmittel entgegen zu stellen.150

In seiner Argumentation stützte sich Ewald auf die Abhandlung »Sur l’Astrologie judiciaire« von Jacques Martin, die dieser 1739 in einer größeren Schrift veröffentlicht hatte.151 Der Verfasser, so Ewald, widerlege die abergläubische Meinung, dass die Kräfte eines Talisman auf dem Einfluss der Gestirne beruhen und so die Grundsätze der Astrologie darstellen. So widerlege er zugleich dadurch, daß er die Grundpfeiler der Astrologie umreißt, und das ganze Gebäude, nebst allem was sich darauf stützt und lehnt, zertrümmert.152

149 Goethe-Schiller-Archiv Weimar, 6/463, Nr. 751. Im Brief wird auf Rudolf Zacharias Becker Bezug genommen. 150 Ewald, Ueber die Sterndeutekunst, in: Der Teutsche Merkur, Nr. 1 vom Januar 1786, S. 3–32. 151 Ebenda, S. 4. 152 Ebenda.

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Ewald ging auf die Historie der Sterndeutekunst (Astrologie) und ihre Schulen ein. Er wies die aktuell anhaltende mythologische Interpretation der frühen astronomischen Erkenntnisse der Chaldäer, Ägypter, Araber u. a. anhand neuester Erkenntnisse über die Fixsterne (ungeheure Entfernung, Veränderung ihrer Standorte, Strahlenwirkung nur optisch erkennbar u. ä.), Sternbildwanderung und Planetenbewegung zurück. Insbesondere wandte er sich gegen die »Nativitätssteller«, die den Menschen in der Tradition der Chaldäer und Ägypter durch ein Geburtshoroskop die Vorstellungen zu vermitteln suchten, dass der Verlauf ihres Lebens durch die Konstellation der Gestirne vorherbestimmt sei. »Es ist nun Zeit den Sterndeutern unserer Zeit auch diesen elenden Behelf zu entziehen.«153 Diese Vorhersagen seien völlig unbewiesen; sie könnten nicht durch hinreichend lange Beobachtungen bestätigt werden. Denn: wo ist der Beobachter, der mehrere Menschenalter hindurch belebt, der Trinken, Essen, Schlafen der mühsamen Sorge aufgeopfert hätte, den Nativitätsstellerplan mit äußerster Genauigkeit, mit allen Veränderungen und Abwechslungen zu vergleichen, welchen die Menschen, über die sie ihre Beobachtungen machten, natürlicher Weise unterworfen sind? Denn wenn man den Grundsatz der Sterndeutekunst annimmt, daß man die geringste Bewegung der Menschen und alles was ihnen begegnet, den Einflüssen der Gestirne, als wahren Ursachen, zuschreiben müsse; so müssen auch alle unsere Handlungen und alle unsere Begegnisse nothwendig an den allgemeinen und besonderen Lauf der Gestirne gebunden seyn.154

Hier zeige sich das Unvermögen dieser Lehre. Sie führe den Verstand irre und verderbe das Herz. Denn wie kann man jene albernen Meinungen anders nennen, daß der Himmel ein Buch sei, worin mit leserlichen Buchstaben geschrieben stehe, was für Schicksale bis auf die kleinsten Umstände, Königreiche, Provinzen, Städte und jeder einzelne Mensch zu erwarten haben?155

Ewald wies bezüglich der Fixsterne auf die wesentliche Erkenntnis hin: Die Gestirne sind unzählbar, ihr Lauf ist unermeßlich, ihre Schnelligkeit unbegreiflich, ihre Entfernung von uns und unter einander selbst, unendlich, und die [astrologische – H. S.] Combination von allem diesem unmöglich.156

Der astrologischen Deutung der Lichtstrahlung der Sterne begegnete Ewald mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Nichts vernichtet aber die Schimäre von Verbindungen der Stralenwerfungen der Gestirne besser als die physische Ursache von der Verschiedenheit der Klimate. Denn, ohngeachtet jedes Gestirn seine Eigenheiten, Beschaffenheiten, Würkungen 153 154 155 156

Ebenda, S. 23. Ebenda, S. 23 f. Ebenda, S. 14. Ebenda, S. 26.

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und Einflüsse, wie die Sonne ihre Wärme und ihr Licht, hat; ist es doch sicherlich nicht die Sonne, die Winter und Sommer, Frühling und Herbst macht; vielmehr bringt die verschiedene Lage der Länder die Jahreszeiten hervor. In der That bleibt sich die Sonne immer gleich, und verbreitet ihre Wärme immer auf dieselbe Art. In Ansehung aller Gegenden der Erde hingegen ist es nicht so. Je nachdem eine jede mehr oder weniger vom Aequator entfernt liegt, je nachdem empfängt auch eine jede die Sonnenstralen mehr oder weniger schief, oder mehr oder weniger senkrecht; und sie hat Winter und Sommer, Frühling und Herbst, je nachdem sie von Sonnenstralen länger oder kürzerer Zeit erwärmt und erhellet wird.157

Ewald verwies auf die von Kopernikus vorgenommene Bestimmung der Erde als Planet. Er nannte als Erforscher unseres Planetensystems: Hipparch, Tycho de Brahe, Kepler, David, Fabricius, Cassini, Simon Marius. Zu den sechs Planeten merkte er an: »Ohne den Uranus, der nun nach Herschels Entdeckung [1781] noch hinzukommt.«158 Kants »Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels« (1755) war Ewald, wie den meisten Zeitgenossen, aufgrund des Geschehens um die Insolvenz des Verlegers nicht bekannt. Die GgZ würdigten 1799 die Schrift, die 1797/98 als »Neue Auflage mit des Herrn Verfassers eigenen neuen Berichtigungen« erschienen war.159 Letztlich hat Ewald in diesem Beitrag demonstriert, dass er sich der realistischen Betrachtung der Wirklichkeit mit wissenschaftlichen Mitteln verpflichtet fühlte. Hierin bestärkte ihn die kritische Philosophie Kants. Er hatte sich ihr, wie die Rezensionen der GgZ zu den Schriften Kants zeigen, mit aller ihm möglichen Intensität zugewandt.

157 Ebenda, S. 19. 158 Ebenda, S. 31. 159 GgZ, 5. St. vom 16. Januar 1799, S. 38 f. In der Anzeige wurde ausgeführt: »Diese Abhandlung erschien zum erstenmal 1755 ohne den Namen des Verfassers. Sie enthält vieles was damals ganz neu war, wovon aber manches durch Lambert, der jedoch die Kantische Schrift nicht zu kennen schien, nachher mehr in Umlauf kam und was durch neure Beobachtungen zum Theil auffallend bestätiget worden ist, und selbst in demjenigen, was nicht so bestätiget ist oder was Hr. K. nun selbst nicht mehr billiget, wird man den vorzüglichen Denker nicht verkennen [...]. Da die Schrift nicht mehr in den Buchläden zu haben war und man doch wünschen kann, die frühern Gedanken eines Kant ganz, wie er sie damals bekannt machte, zu haben, so verdient diese Ausgabe Dank, es wäre denn, daß sie gegen des Verf. Willen veranstaltet wäre.«

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4. Die Rezensierung der Schriften von Immanuel Kant in den GgZ von 1782 bis 1790 Mit der »Gotha-Rezension« zur »Kritik der reinen Vernunft« begann in den GgZ die permanente Rezensierung der Schriften Kants und seiner Anhänger und im notwendigen Maße auch die seiner Gegner. Diese Aktivität war dem unmittelbaren Wirken von Ewald als Redakteur und vor allem als Rezensenten zu verdanken. Nur durch seine konzeptionelle Führung ist das prinzipielle Eintreten des Journals für Kants neue Denkungsart erfolgt. Es ist davon auszugehen, dass alle Rezensionen der GgZ zu den Schriften Kants in dem genannten Zeitraum, einschließlich derjenigen zur »Kritik der Urteilskraft« (1790), aus der Feder von Ewald stammen. Nicht zuletzt seine kritische Interpretation des philosophischen Systems von Spinoza sowie seine späteren staatsphilosophischen Schriften weisen ihn als den Träger der Kantrezeption in den GgZ aus. Hinweise auf andere Autoren dieser Rezensionen sind bisher nicht bekannt. Wie die nachstehenden Tabellen zeigen, sind in den GgZ alle wichtigen Schriften und Beiträge Kants angezeigt und besprochen worden. Ewald führte diesen Bereich des Journals bis zur Herausgabe der »Kantschen Pädagogik« durch Friedrich Theodor Rink (1803) fort. Er beendete sie mit dem Ableben Kants (12. Februar 1804), indem er schon am 7. März 1804 eine beeindruckende Würdigung des Lebens und der Werke des Königsberger Philosophen in Gestalt eines »Nekrologs« veröffentlichte. Dieses ausgewogene Resümee über Kants Lebensleistung ist eine Hommage von einem Zeitgenossen, dem Kants Philosopheme zur prinzipiellen Orientierung seines Denkens und Handelns geworden waren. Die Würdigung des Werkes und der Person Kants fand in den GgZ buchstäblich bis zur letzten Ausgabe des Journals am 29. Dezember 1804 statt. Dabei hebt sich die 17 Druckseiten umfassende Besprechung der drei Bände zu Kants Leben und Werk heraus, die von Kants Schülern Ludwig Ernst Borowski, Reinhold Bernhard Jachmann und Ehregott Andreas Christoph Wasianski verfasst worden waren. Auch hier blieben die GgZ in dieser ausführlichen Anzeige ihrer selbstbewussten Argumentation zur Verteidigung der Souveränität Kants treu. So kritisierte der Rezensent Borowski (es ist die Ewaldsche Diktion, wie sie im Nekrolog auf Kant1 zu finden ist), weil dieser meinte, dass Kant die wenigsten Erklärer seiner Schriften gelesen habe. Er entgegnete: Ob er den Gang seiner Ideen etwa nicht unterbrechen oder sich das Misvergnügen ersparen wollte, wenn er sich nicht recht exegesirt, oder schlecht angegriffen und eben so schlecht vertheidigt fand, weiß ich, sagt der Verf. [Borowski – H. S.], nicht. Hier [in Gotha – H. S.] ist es einem jeden bekannt, daß er von alle dem Wesen und Unwesen, das man mit der kantischen Philosophie trieb, wenig und äußerst selten 1 Vgl. Schröpfer, Der »Nekrolog Immanuel Kant«, S. 287.

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sprach. Nur zweimal suchte er gegen Angriffe, die seiner Meynung nach aus dem Nichtkennenwollen seiner Philosophie und aus dem Hange, gegen ihn einen vornehmen Ton anzunehmen, entstanden waren, durch Gegenschriften sich zu schützen. Aber auch hierzu ward er mehr durch Andere gereizt, auch zum Theil von Männern, deren Willen zu befolgen er für Pflicht hielt, dringend aufgefordert worden. Sein unpolemisches Herz hätte es ihm wahrlich nicht eingegeben.2

Meist wurden in den GgZ auch die Rezensionen über Schriften aus der Wissenschaft, der Kunst und der Literatur »Anzeigen« genannt. Sie informierten aber zum einen über die Zielsetzung und den Inhalt der jeweiligen Schrift. Zum anderen verdeutlichten sie den Standpunkt des Rezensenten und des Journals. Dieses Schema ist auch in den Rezensionen zu Kants Schriften zu erkennen. Jedoch wurde im Fortgang der Entwicklung des kritischen Systems in den Rezensionen zu den entsprechenden Schriften, neben der inhaltlichen Information, die Akzentuierung der Grundpositionen des Kantischen Denkens deutlicher sowie das kritische Urteil gegen antikantische Polemik profilierter und schärfer. Letztlich paarte sich sachlich-inhaltliche Darstellung mit prinzipieller Verteidigung der Grundsätze der kritischen Philosophie bis zu den letzten Ausgaben des Journals im Jahre 1804. Auf ein besonderes Zeichen der Verehrung Kants in Gotha wird in der gleichen Rezension verwiesen. Da es eine Gepflogen­ heit der Zeit war, bekannte Persönlichkeiten durch deren bildkünstlerische Darstellung zu ehren, so haben Gothaer Bürger, vermutlich war es der Kreis der Kant-Anhänger um Ewald, eine solche Ehrung veranlasst. Es heißt dort: Zu den Medaillen, Kupferstichen und andern Bildnissen von Kant fügen wir noch hinzu, daß in der hiesigen Porcellanfabrik, die sich besonders durch schöne Formen und Mahlerey auszeichnet, weiße Tassen mit Kants Brustbild in Relief verfertiget wurden, von welcher Anzeiger dieses selbst ein Exemplar besitzt.3

Dieser Geist einer konstruktiven Sympathie für das Lebenswerk Kants prägte die Rezensionstätigkeit der GgZ von 1782 bis 1804. Wie die nachstehende Tabelle zeigt, wurden die Hauptschriften Kants, die das kritische System in seiner fortschreitenden Begründung bis 1790 darlegten, in den GgZ kontinuierlich rezensiert. Allerdings mit einer Ausnahme: Kants Schrift »Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft« (1786) wurde in andere Rezensionen einbezogen.4 Spätere Auflagen wurden in Anzeigen erwähnt.

2 3 4

GgZ, 98. St. vom 8. Dezember 1804, S. 831. Ebenda, S. 828. Vgl. GgZ, 21. St. vom 12. März 1788, S. 171 f. Ewald verwies in seiner Polemik gegen Weishaupt auf Kants Darlegung zur objektiven Existenz des empirischen Raums auf die genannte Schrift.

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Rezensionen und Nachrichten der GgZ zu Schriften und Vorhaben von Immanuel Kant von 1781 bis 1790 1781 25. Juli 59. St. S. 488

Kurze Nachricht über die von Kant zu erwartende »Metaphysik der Natur«

1782 24. August 68. St. S. 560–563

»Kritik der reinen Vernunft« (1781)

1783 86. St. 1783 87. St.

»Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können« (1783)

25. Oktober S. 705–710 29. Oktober S. 715–718

1784 11. Februar 12. St. S. 95 1785 66. St. 1785 67. St. 1785 67. St.

17. August S. 533–536 20. August S. 537–544 Beilage zum S. 545–550

Nachricht über Vorhaben von Johann Schultz und die geschichtsphilosophische »Lieblingsidee« von Immanuel Kant »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« (1785)

1786 25. Januar 7. St. S. 56

Nachricht von Kants Absicht zur Widerlegung von Mendelssohns »Morgenstunden«

1787, 24. Februar 16. St. S. 129–133

Ludwig Heinrich Jakob, »Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden oder aller spekulativen Beweise für das Daseyn Gottes. Nebst einer Abhandlung von Herrn Professor Kant« (1786)

1788 22. März 24. St. S. 204–207

»Kritik der reinen Vernunft« – 2. Auflage (1787)

1788, 43. St. 1788 44. St.

28. Mai S. 353–358 31. Mai S. 361–366

»Kritik der praktischen Vernunft« (1788)

1790 77. St. 1790 78. St.

25. September S. 710–714 29. September S. 717–723

»Kritik der Urteilskraft« (1790)

1790 23. Oktober 85. St. S. 783–786

»Ueber eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll« (1790)

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4.1. Die Gothaer Rezension von 1782 zu Immanuel Kants »Kritik der reinen Vernunft« Die Hoffnung Kants, durch die Veröffentlichung der »Kritik der reinen Vernunft« (Mai 1781) eine Diskussion um eine wissenschaftlich begründete Metaphysik unter den dazu befähigten Zeitgenossen anzuregen, erfüllte sich vorerst nicht. Dennoch entdeckte er in der allgemeinen Zurückhaltung gegenüber seinen Bestrebungen ein Zeichen positiver Resonanz auf sein Werk. Am 16. September 1782 übermittelte Johann Georg Hamann an den Verleger Johann Friedrich Hartknoch die offensichtlich in Königsberger Kreisen umlaufende Meinung: Kant ist im 68. Stück der Gothaischen Zeitung, nach Wunsch, wie ich höre beurtheilet.5

Kant bestätigte diese Aussage im Anhang seiner Schrift »Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können« (1783). Er resümierte den von ihm empfundenen Zustand der Rezeption seines Werks und benannte die angeführte Besprechung als Beispiel einer sachlichen Wiedergabe seines Anliegens. Letzteres wird bei der häufigen Verwendung des Zitats meist ignoriert. Er schrieb: Ich bin dem gelehrten Publicum auch für das Stillschweigen verbunden, womit es eine geraume Zeit hindurch meine Kritik beehrt hat; denn dieses beweiset doch einen Aufschub des Urtheils und also einige Vermuthung, daß in einem Werke, was alle gewohnte Wege verläßt und einen neuen einschlägt, in den man sich nicht sofort finden kann, doch vielleicht etwas liegen möge, wodurch ein wichtiger, aber jetzt abgestorbener Zweig menschlicher Erkenntnisse neues Leben und Fruchtbarkeit bekommen könne, mithin eine Behutsamkeit, durch kein übereiltes Urtheil das noch zarte Propfreis abzubrechen und zu zerstören. Eine Probe eines aus solchen Gründen verspäteten Urtheils kommt mir nur eben jetzt in der Gothaischen gelehrten Zeitung vor Augen, dessen Gründlichkeit (ohne mein hiebei verdächtiges Lob in Betracht zu ziehen) aus der faßlichen und unverfälschten Vorstellung eines zu den ersten Principien meines Werks gehörigen Stücks jeder Leser von selbst wahrnehmen wird. 6

Am 25. Juli 1781 veröffentlichten die GgZ eine Information, die gleichsam als Vorankündigung zu einer grundlegenden Schrift von Kant anzusehen war, die dieser nach einer langen Periode der Vorbereitung nun zu veröffentlichen beabsichtigte. Obwohl der Redaktion der genaue Titel nicht bekannt war, hieß es dort: Königsberg. Von unserm vortrefflichen Herrn Prof. C a n t hat das Publikum bald eine M e t a p h y s i k d e r N a t u r zu erwarten.7 5 6 7

Hamann, Briefwechsel, Bd. 4, S. 425 f. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 380. GgZ, 59. St. vom 25. Juli 1781, S. 488. Durch diese Ankündigung wurde Johann Georg Feder (1740–1821) auf das zu erwartende Werk von Kant aufmerksam. Er schrieb: »Von dieser

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Am 24. August 1782 erschien die von Kant gewürdigte Rezension zur »Kritik der reinen Vernunft«.8 In der Kantliteratur wird, worauf oben schon hingewiesen wurde, der gothaische Hofbeamte Ewald als Verfasser der Rezension genannt. Man beruft sich auf die Aussage von Karl Leonhard Reinhold, die dieser zwei Jahrzehnte später veröffentlichte. Er erklärte: Zwei Rezensionen hätten das »Stillschweigen« zu Kants »Kritik der reinen Vernunft« unterbrochen. Die Eine dieser Recensionen, die G ö t t i n g s c h e, soll den verewigten G a r v e, die Andere, die G o t h a i s c h e, den Hofmarschallamtssekretär E w a l d in Gotha zum Verfasser haben.9

Reinholds Aussage wird durch die Untersuchung des Wirkens von Ewald bestätigt. Ewald ließ schon in den einleitenden Sätzen der Rezension erkennen, dass er sowohl einen kritischen Standpunkt zur zeitgenössischen Philosophie einnahm als auch den qualitativ neuartigen Anspruch des Kantischen Konzepts erkannte und würdigte. Offensichtlich bedauerte er, dass ihm die »Göttingischen Anzeigen« am 19. Januar 1782 mit der Rezension von Christian Garve / Johann Georg Heinrich Feder zu Kants innovativer Schrift zuvorgekommen waren. Einleitend schrieb er: Unter der Menge der Bücher, die seit Jahr und Tag zum Vorschein gekommen sind, ist das gegenwärtige eins von denen, die auf eine Bekanntmachung die ersten Ansprüche machen dürfen. Wir holen also mit Vergnügen nach, was wir versäumt haben, nicht so wohl um uns in das Detail des Werks einzulassen, denn hierzu müste eine eigene Abhandlung geschrieben werden, sondern nur, um unsere Leser mit dem Hauptgegenstande des Werks und seiner Eintheilung, bekannt zu machen, und die Augen des Publikums auf dasselbe, als auf ein Werk hin zu leiten, das der deutschen Nation zur Ehre gereicht, und das, wenn gleich sein Inhalt dem allergrößten Theil des lesenden Publikums unverstehbar ist, doch als Monument von Feinheit und höchst subtiler Denkkraft der menschlichen Vernunft aufgestellt zu werden verdient.10 [Kritik der reinen Vernunft] erhielt ich erst Kunde ich weiß nicht mehr ob aus der Jenaischen oder der Gothaischen Gel. Zeitung; und der Eindruck, den diese auf mich machte war nicht günstig.«, zitiert nach J. G. H. Feder’s Leben, Natur und Grundsätze, hrsg. von Karl August Ludwig Feder, Leipzig 1825, S. 117. Feder beauftragte Christian Garve (1742–1798) mit der Rezensierung der »Kritik der reinen Vernunft« für die Göttingischen Anzeigen, redigierte dessen Rezension und stieß mit dieser Besprechung bei Kant auf Ablehnung. 8 GgZ, 68. St. vom 24. August 1782, S. 560–563. Titel der Rezension: »Riga: Critik der reinen Vernunft, von Immanuel Kant, Professor in Königsberg. Verlegts J. Fr. Hartknoch. 856 S. gr. 8.« 9 Karl Leonhard Reinhold (Hrsg.), Beyträge zur leichtern Übersicht des Zustandes der Philosophie beim Anfange des 19. Jahrhunderts, 2. Heft. Hamburg 1801, S. 2. Vgl. GgZ, 84. St. vom 20. Oktober 1802, S. 734. Das zweite Heft von Reinholds Beiträgen wurde aufgrund seiner antikantischen Haltung kritisch rezensiert, ohne Ewald als Verfasser der Gotha-Rezension zu Kants »Kritik der reinen Vernunft« zu nennen. 10 GgZ, 68. St. vom 24. August 1782, S. 560.

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Er hielt es für notwendig, die Gedanken des Verfassers besonders für Lehrer der Metaphysik, denen das Daseyn dieses Buchs noch nicht bekannt seyn sollte, mitzutheilen.11

Das Grundanliegen Kants sah er in der »Critik des Vernunftvermögens« im Hinblick auf alle Erkenntnisse, die die Vernunft »unabhängig von aller Erfahrung«12 anstrebt. Hier falle die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt, und die Bestimmung so wohl der Quellen, als des Umfanges und der Grenzen derselben, alles aber aus Principien.13

Ewald ging ohne Umschweife auf das Grundanliegen Kants ein, indem er es in der neuartigen Begriffsbestimmung vorstellte. Er hob Kants Bestreben hervor, die Substanz und die Strukturen des Vernunftvermögens, die aktiv den Vorgang des Erkennens und Handelns des Menschen wesentlich gestalten, als von allen empirischen Erscheinungen unabhängig existierend herauszustellen. Deren Bestimmung in dem Begriffspaar »rein« und »a priori« stellte Ewald, indem er Kants Text adaptierte, dem Leser vor: Jede Erkenntniß heißt r e i n, die mit nichts Fremdartigen vermischt ist. Besonders wird aber eine Erkenntniß schlechthin r e i n genannt, in die sich überhaupt keine Erfahrung oder Empfindung einmischt, welche mithin völlig a priori möglich ist. Nun ist Vernunft das Vermögen, welches die Principien der Erkenntniß a priori an die Hand gibt. Daher ist reine Vernunft diejenige, welche die Principien, etwas schlechthin a priori zu erkennen, enthält. Ein Organon der reinen Vernunft, würde ein Inbegriff derjenigen Principien seyn, nach denen alle reinen Erkenntnisse a priori können erworben, und würklich zu Stande gebracht werden.14

Aus diesem »Organon« könne ein »Canon« abgeleitet werden, nach welchem allenfalls dereinst ein vollständiges System der reinen Vernunft [...] dargestellt werden könnte.15

Ewald ließ der grundlegenden Bestimmung der Eigenständigkeit und der Aktivität des Vernunftvermögens die Kantische Definition dieses Vorstellungsbereichs folgen. Im Zentrum steht der Begriff »transzendental«, mit dessen Bestimmung Kant die besondere Qualität des Vernunftvermögens zu erfassen suchte. Ewald signalisierte damit zumindest den Beginn einer neuen Stufe des philosophischen Denkens. In Anlehnung an Kants Formulierung schrieb Ewald: 11 12 13 14 15

Ebenda, S. 562. Ebenda, S. 560 f. Ebenda, S. 561. Ebenda. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 12. GgZ, 68. St. vom 24. August 1782, S. 561.

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Zur Critik der reinen Vernunft gehört demnach alles, was die Transscendental-Philosophie ausmacht, und sie ist die vollständige Idee der Transscendental-Philosophie, aber diese Wissenschaft noch nicht selbst, weil sie in der Analysis so weit geht, als es zur vollständigen Beurtheilung der synthetischen Erkenntniß a priori erforderlich ist. Der Verf. nennt alle Erkenntniß transscendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unsern Begriffen a priori von Gegenständen überhaupt beschäftiget; und ein System solcher Begriffe würde Transscendental-Philosophie heißen.16

Die Vertiefung und die Erweiterung dieser Grundidee, die Kant in einem System des Erkennens und Handelns des menschlichen Vernunftvermögens vorgenommen hat, verfolgte Ewald intensiv und legte sie seinen Überlegungen zugrunde. Ewald folgte der Ideenentwicklung des Werkes (Vorrede, Einleitung, Transzendentale Ästhetik) und gab dem Leser in erster Annäherung einen Einblick in den Neuansatz und die Systemanlage des Kantschen Denkens. Besonders wichtig war ihm, in das Kernproblem der kritischen Philosophie – die transzendentale Denkstruktur – einzuführen bzw. dafür das Interesse zu wecken. Er entwickelte die Verbindung von der Kritik des Vernunftvermögens über die Bestimmung des Transzendentalen bzw. der Transzendentalphilosophie bis zur Funktion der synthetischen Erkenntnis a priori: Er nannte die Gliederung des Werks und gab »einige Gedanken des Verfassers als Vorschmack«17 auf die transzendentale Konstellation des Erkenntnisvorganges. Er erläuterte die reinen Formen der Sinnlichkeit Raum und Zeit und beschrieb sie als subjektive Bedingungen der Sinnlichkeit. In einer gedrängten Darstellung war er bemüht, Kants transzendentales Philosophieren, d. h. die im Erkenntnisvermögen liegenden apriorischen Bedingungen des Erkennens anhand der Vorstellungen von Raum und Zeit zu verdeutlichen. Bemerkenswert an Ewalds Interpretation der sinnlichen Formen der Anschauung (Raum / Zeit) ist, dass er Kant so verstand, dass deren subjektive Anlage die Außenwelt als real existent voraussetzte und diese nicht als ideales Sein ansah. So bestimmte er Raum und Zeit als »empirische Realität«, die »Bedingung aller unserer Erfahrungen« ist, die aber keine »absolute Realität« besitzt.18 Er verteidigte Kants Standpunkt hinsichtlich der Zeit als »die Vorstellungsart meiner Selbst als Object«19 und schlussfolgerte: Es bleibt also ihre empirische Realität als Bedingung aller unserer Erfahrungen; nur die absolute Realität kann ihr nicht zugestanden werden; sie ist nichts als die Form unserer innern Anschauung. Wenn man von ihr die besondere Bedingung unserer Sinnlichkeit wegnimmt, so verschwindet auch der Begriff der Zeit, und sie hängt nicht an den Gegenständen selbst, sondern bloß am Subjecte, welches sie anschaut.20 16 Ebenda. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 11 f. 17 GgZ, 68. St. vom 24. August 1782, S. 562. 18 Ebenda, S. 563. 19 Ebenda. 20 Ebenda.

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Obgleich die Rezension hier abbricht, so hat Ewald doch versucht, die transzendentale Grundkonstellation der Philosophie Kants anhand der Formen der reinen Anschauung von Raum und Zeit für die Erkenntnis der Erscheinungswelt zu erklären. Das positive Urteil Kants über Ewalds Darstellung beruht meines Erachtens auf dessen Versuch, den prinzipiellen Zugang bzw. den Einstieg in das transzendentalphilosophische Konzept, das Kant als ontologische Basis ansieht und ausformt,21 in einer transparenten Ableitung, nach Kant »unverfälscht«, zu erklären. Ausgehend von Kants Feststellung, dass alle Vorstellungen als rein bezeichnet werden, in denen nichts, was Empfindungen angehört, anzutreffen ist, argumentierte Ewald: Demnach wird die reine Form sinnlicher Anschauungen überhaupt im Gemüthe a priori angetroffen werden, worin alles Mannigfaltige der Erscheinungen in gewissen Verhältnissen angeschauet wird. Diese reine Form der Sinnlichkeit, wird auch selber reine Anschauung heißen.22

Ewald demonstrierte eine Erklärung dieser Struktur: So, wenn ich von der Vorstellung eines Körpers das, was der Verstand davon denkt, als Substanz, Kraft, Theilbarkeit etc. ingleichen was davon zur Empfindung gehört, als Undurchdringlichkeit, Härte, Farbe, etc. absondere, so bleibt mir aus dieser empirischen Anschauung noch etwas übrig, nemlich Ausdehnung und Gestalt. Diese gehören zur reinen Anschauung, die a priori, auch ohne einen würklichen Gegenstand der Sinne oder Empfindung, als bloße Form der Sinnlichkeit im Gemüthe statt findet. Eine Wissenschaft von allen Principien der Sinnlichkeit a priori, nennt der Verf. die t r a n s s c e n d e n t a l e Ä s t h e t i k.23

Er näherte sich der begrifflichen Konkretion, die sinnlichen Formen der Anschauung sowohl in ihrer empirischen Realität als auch in ihrer transzendentalen Idealität zu betrachten.24 Diese grundlegende Einsicht in Kants neuartiges System hat Ewald späterhin, u. a. in der Auseinandersetzung mit Spinoza, bis in sein Alterswerk hinein verteidigt. Insbesondere hat er sie in der oben genannten Rezension zu Weishaupts Schrift »Zweifel über die Kantischen Begriffe von Zeit und Raum« (1788) nachdrücklich bekräftigt. Auf diese authentische und transparente Interpretation der Raum-ZeitVorstellung Kants wird bei der Betrachtung der Rezension der GgZ zur zweiten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« (12. März 1788) eingegangen (vgl. IV.4.6.). 21 Vgl. Elena Ficara, Die Ontologie in der »Kritik der reinen Vernunft«, Würzburg 2006, S. 121–149. 22 GgZ, 68. St. vom 24. August 1782, S. 562. 23 Ebenda. 24 Vgl. Horst Schröpfer, »Die Critik der reinen Vernunft [...] ist die vollständige Idee der Transscendentalphilosophie«. Schack Hermann Ewald verteidigte das Apriori des kritischen Systems von Immanuel Kant, in: Transzendentalphilosophie und die Kultur der Gegenwart, hrsg. von Steffen Dietzsch / Udo Tietz, Leipzig 2012, S. 79–106.

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4.2. Die Rezension zu Kants Schrift »Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können« (1783) Obwohl eine Reaktion Ewalds auf das Lob von Kant über seine wichtige, wenn auch kurze Rezension zur »Kritik der reinen Vernunft« von 1782 nicht bekannt ist, so wollte er vermutlich mit der umfangreichen Besprechung der »Prolegomena« (25. und 29. Oktober 1783) Versäumtes nachholen. Zudem war er von der Bedeutung des neuen Werks für das Verständnis des kritischen Systems überzeugt, so dass er die Gelegenheit nutzte, eine ausführliche Interpretation vorzulegen. Denn keines der bedeutenden Journale hatte bis dahin auf Kants Revolution der Denkungsart so frühzeitig mit einer möglichst authentischen Darstellung der neuartigen philosophischen Sichtweise reagiert. Die »Allgemeine LiteraturZeitung« erschien erst ab Januar 1785. Ewald wandte die sich in dieser Zeit ausprägende Struktur der Rezension, wie Vorstellung des Themas, des Inhalts, der wissenschaftlichen Schwerpunkte und ihrer Probleme sowie der kritischen Hinweise, zugunsten der folgerichtigen und möglichst transparenten Darlegung der Intentionen Kants an. Dazu erklärte er: Wenn ein Buch in der jetzigen Zeit die ganz besondere Aufmerksamkeit und die angestrengteste Prüfung wahrer Philosophen verdient, so ist es das gegenwärtige, da es nicht allein darauf ausgeht, die bisher unter dem Namen einer Wissenschaft geltend gewesene Metaphysik in der Reihe der Wissenschaften ganz auszustreichen, sondern auch die Bedingungen an die Hand gibt, die erfüllet werden müssen, ehe und bevor eine wahre Metaphysik wieder als Wissenschaft auftreten kann.25

Da der Verfasser »der gründlichste, gelehrteste und scharfsinnigste Philosoph dieser Zeit« ist, habe er das Recht, so Ewald, eine öffentliche Prüfung seines Vorhabens »in eigenen Schriften, oder in größeren Journalen« zu fordern. »Noch ist diese Ehre der ›Kritik der reinen Vernunft‹ nicht wiederfahren.« 26 Ewald war gewillt, mit dieser umfangreichen Rezension selbst einen Beitrag zur Diskussion des kritischen Entwurfs von Kant zu leisten. Insgesamt stellte er ein sachliches Konzentrat der Kernpunkte des Kantischen Anliegens vor. Hervorzuheben ist der stringente Nachvollzug der Struktur des von Kant in der »Kritik der reinen Vernunft« und in den »Prolegomena« entworfenen Ideengebäudes. Mit dem »Angriff« Humes auf die Metaphysik, der Kant »schon vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrochen« 27 habe, leitete Ewald die inhaltliche Wiedergabe der Schrift ein. Und so entstand des Hrn. Verf. C r i t i k d e r r e i n e n V e r n u n f t, worin er das Humische Problem in seiner möglich größten Erweiterung ausführte; indem er in 25 GgZ, 86. St. vom 25. Oktober 1783, S. 705. 26 Ebenda. 27 Ebenda.

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der reinen Vernunft selbst forschte, und in dieser Quelle selbst die Elemente sowohl, als auch die Gesetze ihres reinen Gebrauchs nach Principien zu bestimmen suchte.28

Um die Beschwerden über die verbliebenen Dunkelheiten des Werkes zu verringern, suchte Ewald das Verständnis für Kants Philosophie mittels einer Übersicht über den Inhalt der »Prolegomena«, die er als »Vorübung« auf das Studium des Kantschen Hauptwerkes dringend empfahl, zu erleichtern. Wir erhalten also hier einen bloßen Plan von der Critik der reinen Vernunft, durch welchen man in den Stand gesetzt wird, das Ganze zu übersehen, und die Hauptpunkte, worauf es bey dieser Wissenschaft ankömmt, stückweise zu prüfen.29

Als Rezensent war er gewillt, zum einen die Absicht Kants möglichst einsichtsvoll darzustellen. Zum anderen wollte er die Aufmerksamkeit von »competentern Richtern« auf die Schriften Kants lenken. Mit dieser Absicht rechtfertigte er den respektablen Umfang bzw. die notwendige Ausführlichkeit der Rezension. Durch die Bestimmung der eigentümlichen Erkenntnisse der Metaphysik und deren Begriffe habe Kant, so stellte Ewald fest, den »Erbfehler« der bisherigen Metaphysik beseitigt und auch gegen Hume gezeigt, wie gleichwohl eine reine philosophische Erkenntniß a priori, von aller sinnlichen Erfahrung abgesondert, möglich sey.30

Im Hinblick auf die Frage: »Wie ist Metaphysik möglich?«, verwies er auf den § 58 der »Prolegomena«, der die kritische Untersuchung der Vernunft auf die Erkenntnis ihrer Prinzipien orientiert; denn die Quelle der metaphysischen Erkenntnis liegt jenseits der Erfahrung. Und so wird diese Erkenntniß re i n e p h i l o s o p h i s c h e E r k e n n t n i ß heissen müssen, (was das heiße, ist S. 712. d. Krit. d. r. V. erklärt.) Metaphysische Erkenntniß muß lauter Urteile a priori enthalten, das erfordert das Eigenthümliche ihrer Quellen«.31

Ausgehend vom Unterschied zwischen analytischen und synthetischen Urteilen und dessen Bedeutung für Mathematik und Naturwissenschaft, führte er die Referierung des Inhalts (im Mittelpunkt die »Transscendentale Hauptfrage«: »Wie sind synthetische Sätze a priori möglich?« 32) systematisch aus. Auf die Aufgliederung in vier Teilfragen (1. Wie ist reine Mathematik möglich? 2. Wie ist reine Naturwissenschaft möglich? 3. Wie ist Metaphysik überhaupt möglich? 4. Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?) ging er angemessen ein. Ewald hob zwei Kernprobleme hervor. Zum einen ist es die konzise Darstellung der Konstitution der Erfahrungserkenntnis. Sein »Resultat«: 28 Ebenda, S. 706. 29 Ebenda, S. 707. 30 Ebenda. 31 Ebenda. 32 Ebenda, S. 709 f.

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Erfahrung besteht in der synthetischen Verknüpfung der Erscheinungen (Wahrnehmungen) in einem Bewußtseyn, sofern dieselbe notwendig ist. Daher sind reine Verstandesbegriffe diejenigen, unter denen alle Wahrnehmungen zuvor müssen subsumirt werden, ehe sie zu Erfahrungsurteilen dienen können, in welchen die synthetische Einheit der Wahrnehmungen als nothwendig und allgemein gültig vorgestellt wird.33

Zum anderen ist es die Funktion der reinen Vernunft und ihrer Ideen im System der kritischen Philosophie. Er betonte, diese Ideen denken ihre Objekte; sie sind nicht empirischer Natur. Sie bringen Prinzipien ein, die die Verstandestätigkeit hinsichtlich der Ganzheit der Wirklichkeit zu vervollständigen suchen. Sein Resümee ist eine Adaption des Kantschen Textes: Die reine Vernunft hat unter ihren Ideen nicht besondere Gegenstände, die über das Feld der Erfahrung hinaus lagen, zur Absicht, sondern fordert nur Vollständigkeit des Verstandesgebrauchs im Zusammenhange der Erfahrung. Diese Vollständigkeit aber kann nur eine Vollständigkeit der Principien, aber nicht der Anschauungen und Gegenstände seyn [...]. Der Verf. wendet nunmehr seine Grundsätze auf die Hauptgegenstände der Metaphysik, nemlich psychologische, kosmologische und theologische Ideen vortreflich an, handelt alsdann von der Grenzbestimmung der reinen Vernunft sehr scharfsinnig, und stellt Metaphysik, wie sie würklich in der Naturanlage der menschlichen Vernunft gegeben ist, und zwar in demjenigen, was den wesentlichen Zweck ihrer Bearbeitung ausmacht, nach ihrer subjectiven Möglichkeit, ausführlich dar.34

Ewald forderte mit Kant die philosophischen Fachkreise auf, das vorgelegte System mit Hilfe der »Prolegomena« als Leitfaden zu prüfen. Zudem begrüßte er Kants Stellungnahme gegen die von Garve und Feder verfasste Rezension zur »Kritik der reinen Vernunft«. Er erklärte: Da bisher alle Wege, die man eingeschlagen hat, Metaphysik als Wissenschaft würklich zu machen, diesen Zweck nicht erreicht haben, auch außer einer vorhergehenden Critik der reinen Vernunft ein solcher wohl niemals erreicht werden wird, so schlägt der Verf. vor, den Versuch, den er davon bekannt gemacht hat, zu prüfen, und hierbey diese Prolegomena als Leitfaden zum Grunde zu legen, wobey er zugleich die in den Göttingischen gelehrten Anzeigen befindliche Recension seiner Critik der reinen Vernunft widerlegt, und die Methode der Prüfung selbst an die Hand gibt.35

Von prinzipieller Bedeutung für Ewald war, dass Kant sich gegen die Unterstellung wehrte, seine Vorstellungen würden in einen Idealismus Berkeleyscher Prägung münden: Noch ist zu bemerken, daß sich der Verfasser gegen den Vorwurf, daß aus seinen Behauptungen der Idealismus, oder daß es keine andere als denkende Wesen gebe, die übrigen Dinge aber nur Vorstellungen in denselben wären, fliesse, und daß seine 33 GgZ, 87. St. vom 29. Oktober 1783, S. 717. 34 Ebenda, S. 717. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 361–364. 35 GgZ, 87. St. vom 29. Oktober 1783, S. 717 f.

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Lehre von der Idealität des Raums und der Zeit, die ganze Sinnenwelt in lauter Schein verwandle, gründlich vertheidiget.36

Mit der Konturierung der transzendentalen Struktur des kritischen Systems und dessen Erkenntnisgewinnung, die den Menschen mit seinem Vernunftpotential als Subjekt dieses Prozesses bestimmt, hatte sich Ewald endgültig als Anhänger Kants offenbart. Er legte hier das Grundmuster seiner Rezensierung vor. Ihm lag an der inhaltlich-exakten Information über die Absicht der Kantischen Konzeption und deren systematisch-logische Struktur, wie sie in der weiteren Ausarbeitung des Systems durch Kant in grundlegenden Werken und Schriften ausgearbeitet wurde. Seine stringente, aber authentische Darstellung der Vorstellungen Kants verlangte vom Leser konzentrierte Aufmerksamkeit. Er gab auch späterhin den ideellen Zusammenhang der einzelnen Schriften Kants in seiner systematischen Abfolge ohne Redundanz, aber sachlich und komprimiert, wieder. Er erreichte für den Leser, der sich diesem inhaltlichen und formalen Anspruch stellte, eine erhebliche Transparenz des Ideengehalts über die vorgestellte Schrift. Ewald war von Kants eingeschlagenem Weg, die Metaphysik als Wissenschaft zu begründen, überzeugt. Deshalb wollte er mit der jeweiligen Rezension eine erste Leitlinie zur Selbstaneignung der vorgestellten Schrift an die Hand geben.

4.3. »Kurze Nachrichten« der GgZ aus Königsberg – Kant und Becker im Gespräch Die Anteilnahme der GgZ am innovativen Philosophieren in Königsberg durch »Nachrichten« bzw. Mitteilungen erwies sich auch für Kant und seine Anhänger als nützlich und anregend. Das frühzeitige Reagieren der GgZ auf Geschehnisse am Ursprungsort des kritischen Denkens wurde aufmerksam registriert. Mehr noch, sie bedeuteten dort eine bestätigende Resonanz für den eingeschlagenen Weg aus einer zentralen Region Deutschlands. Schließlich wirkten sie als Impuls für die Ausführung konzeptioneller Vorstellungen. Zwei Beispiele zeigen die wohlwollende Aufnahme der von Interesse und Sympathie geprägten Mitteilungen aus Gotha. Am 11. Februar 1784 erschien in den GgZ unter der Rubrik »Kurze Nachrichten« eine zweiteilige Information aus dem Umkreis von Kant. Der erste Teil: Vermöge einer Nachricht, die wir aus dem Munde eines glaubwürdigen Mannes erhalten haben, ist der Hr. Oberhofprediger S c h u l z e zu Königsberg beschäftiget, seines Landsmanns, des Hrn. Prof. K a n t K r i t i k d e r r e i n e n V e r n u n f t durch Uebersetzung in eine populäre Schreibart, für alle Leser, die nur gesunden Menschenverstand haben, verständlich zu machen. Hr. Professor K a n t hat einige 36 Ebenda, S. 718.

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Hefte davon gelesen, und dieser Arbeit seinen vollkommenen Beyfall geschenkt. Wer das Buch kennt, muß gestehen, daß das Unternehmen des Herrn S c h u l z e, wenn es so ausgeführt wird, wie er es angefangen hat, eine außerordentliche Erscheinung ist.37

Der hier genannte Autor war Johann Schultz (1739–1805), auch: Schulze, der seit 1776 als Hofprediger und seit 1786 als Professor für Mathematik in Königsberg wirkte. Kant hat ihn späterhin als denjenigen bezeichnet, der seine Lehre am besten verstanden habe. In vertrauensvoller Absprache mit Kant hatte sich Schultz vorgenommen, dem Unverständnis, dem Fehlurteil und dem »Stillschweigen«, welches die Verbreitung des Kantischen Systems behinderte, mit einem größeren Beitrag entgegenzutreten. Kant bat ihn jedoch, nachdem er dessen Aufsatz zustimmend zur Kenntnis genommen hatte, diesen zu einer eigenständigen Schrift zu erweitern. Schultz nahm den Vorschlag an. Am 28. August 1783 schrieb er an Kant: Sein Aufsatz erweise sich angesichts anhaltender Fehlurteile nicht als überflüssig, um so mehr, da Sie mir die so angenehme Versicherung zu geben beliebet, daß ich so glücklich gewesen sey, Ihren Sinn fast überall zu treffen, und ich also die Erreichung meiner Absicht hoffen darf, das Publikum mit dem wahren Zwecke und Inhalt Dero vortrefflichen Werks auf eine Art bekannt zu machen, die ihm nicht zu viel Anstrengung kostet, als wofür sich unsere heutigen Philosophen beinahe zu scheuen scheinen. Dieses hat mich völlig bestimmt, Ihren Vorschlag zu befolgen, und meine Abhandlung nicht als Recension, sondern als eine besondere Schrift herauszugeben.38

Aus dem Geschehen um dieses Vorhaben von Schultz und Kant stammte diese »Nachricht« in den GgZ, die, wie es dort heißt, »aus dem Munde eines glaubwürdigen Mannes« stammte.39 Es war der gothaische Publizist Rudolf Zacharias Becker, der, wie noch dargelegt wird, bei einem Besuch in Königsberg Kant kennen gelernt hatte. Schultz reagierte auf diese Nachricht in seiner Schrift »Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der reinen Vernunft«, die im Frühjahr 1784 erschien. In der Vorrede erklärte er die Absicht, seinen »Erläuterungen des Kantischen Systems«, eigentlich einen »eigenen Versuch einer unpartheyischen und ausführlichen Prüfung beyzufügen«.40 Aus Zeitgründen müsse er das Vorhaben auf die nächsten Messen verschieben. Zufrieden wäre er auch, wenn gelehrte Männer bis dahin seinen Beitrag entbehrlich machen würden. Aber – und hier verwies er auf die »Gothaer Nachricht« vom 11. Februar 1784: Mir wird es schon Befriedigung genug seyn, wenn meine Arbeit das Glück hat, der großen Erwartung, die ein mir unbekannter Gelehrter in dem diesjährigen zwölften Stück der Gothaischen gelehrten Zeitungen dem Publiko davon gemacht hat, auch 37 GgZ, 12. St. vom 11. Februar 1784, S. 95. 38 Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 10, S. 353. 39 GgZ, 12. St. vom 11. Februar 1784, S. 95. 40 Johann Schulze [id est Schultz], Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der reinen Vernunft, Königsberg 1784, Vorrede S. 12.

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nur zum Theil zu entsprechen, und über die Critik der reinen Vernunft nur so viel Licht zu verbreiten, daß jeder geübte Denker ohne außerordentliche Anstrengung ihren wahren Inhalt kennen lernen kann [...].41

Eine geradezu provozierende Wirkung auf Kant hatte der zweite Teil der »Nachricht« aus Königsberg, den die GgZ am 11. Februar 1784 veröffentlicht hatte. Denn es wurde berichtet: Eine Lieblingsidee des Hrn. Prof. K a n t ist, daß der Endzweck des Menschengeschlechts die Erreichung der vollkommensten Staatsverfassung sey, und er wünscht, daß ein philosophischer Geschichtschreiber es unternehmen möchte, uns in dieser Rücksicht eine Geschichte der Menschheit zu liefern, und zu zeigen, wie weit die Menschheit in den verschiedenen Zeiten diesem Endzwecke sich genähert, oder von demselben entfernt habe, und was zu Erreichung desselben noch zu thun sey.42

Kant nahm diese öffentliche Darstellung seiner im Gespräch skizzierten geschichtsphilosophischen Intentionen umgehend als Anregung auf und veröffentlichte im November 1784 in der »Berlinischen Monatsschrift« (Bd. 4, S. 385–411) einen Beitrag unter dem Titel »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht*«. Die im Titel des Aufsatzes von Kant angezeigte Anmerkung lautet: *) Eine Stelle unter den kurzen Anzeigen des zwölften Stücks der G o t h a i s c h e n G e l. Z e i t. d. J., die ohne Zweifel aus meiner Unterredung mit einem durchreisenden Gelehrten genommen worden, nöthigt mir diese Erläuterung ab, ohne die jene keinen begreiflichen Sinn haben würde.43

In diesem geschichtsphilosophischen Entwurf hat Kant die Entwicklung der menschlichen Gattung bzw. das Fortschreiten des Menschengeschlechts gleichsam als eine natürlich-teleologische Bewegung angesehen, die im Spannungsfeld der Antagonismen zwischen den Individuen, im permanenten Zustand der »ungeselligen Geselligkeit«44 zur Bildung einer rechtlich begründeten bürger­ lichen Gesellschaft fortschreitet und letztlich dem einzelnen Mitglied die größte Freiheit gewährt. Bekanntlich ist Schiller durch diesen Aufsatz angeregt worden, sich mit den Vorstellungen Kants zu beschäftigen. Auch Ewald begründete in seinem staatstheoretischen Entwurf (1794) die Notwendigkeit der Schaffung gesetzlicher Einrichtungen (Staat, Verfassung) mit einer Kernthese aus diesem Aufsatz von Kant.45 In den GgZ wurden die Beiträge der »Berlinischen Monatsschrift« 41 42 43 44 45

Ebenda, S. 13. GgZ, 12. St. vom 11. Februar 1784, S. 95. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 15. Ebenda, S. 20. Ewald, Von dem Staate, S. 37. Ewald schrieb: »Der Mensch (sagt K a n t in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht) ist ein Thier, das, wenn es unter andern seiner Gattung lebt, einen Herrn nöthig hat. Denn er mißbraucht gewiß seine Freyheit in Ansehung anderer seines Gleichen; und ob er gleich als vernünftiges

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mit inhaltlichen Hinweisen nur von November 1783 bis März 1784 angezeigt. Erst in der Ankündigung von »Immanuel Kant’s vermischte Schriften« (3 Bde., Halle 1799), hrsg. von Johann Heinrich Tieftrunk, wurden die Aufsätze Kants »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« (1784); »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« (1784); »Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace« (1785) mit der Bemerkung genannt: Diese 3 Stücke standen in der berlinischen Monatsschrift.46

Die Aufhellung der Beziehung zwischen Kant und Rudolph Zacharias Becker in den achtziger Jahren ist den Untersuchungen von Werner Stark (Marburg) zu verdanken. Es gelang ihm, durch den Fund eines bis dahin unbekannten Briefes von Kant an Becker vom 30. April 1786 und durch Einbeziehung anderer Quellen den von Kant genannten »durchreisenden Gelehrten« als den gothaischen Publizisten und Verleger Becker zu identifizieren.47 Damit wurde die Kenntnis über die kommunikative Beziehung von Kant zum thüringischen Raum, die sich bisher wesentlich auf die Universität Jena konzentrierte, auf Gotha als einen weiteren Rezeptionsbereich des kritischen Denkens definitiv ausgedehnt. Rudolph Zacharias Becker (geb. 9. April 1752 in Erfurt, gest. 28. März 1822 in Gotha) wuchs als Sohn eines Volksschullehrers in Erfurt auf. Von 1765 bis 1769 konnte er das dortige Ratsgymnasium besuchen und studierte ab 1769 an der Universität Erfurt. 1770 wechselte er an die Universität Jena zum Studium der Theologie und Philosophie. Seit 1773 war er als Hofmeister tätig, ab 1774 bis 1782 in der Familie von Carl Friedrich von Dacheröden in Erfurt. Becker trat mit der Beantwortung der Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften (Januar 1779) an die Öffentlichkeit. Unter dem Titel der Preisfrage »Beantwortung der Frage: Kann irgend eine Art von Täuschung dem Volke zuträglich sein, sie bestehe nun darinn, daß man es zu neuen Irrthümern verleitet, oder die alten eingewurzelten fortdauern läßt?« hat Becker seinen eingesandten Beitrag 1781 bei Crusius in Leipzig veröffentlicht.48 Becker erhielt für die Darstellung der Verneinung der Frage die Hälfte des vorgesehenen Preises. Durch diese Nominierung wurde er rasch bekannt. Von Juni 1782 bis Oktober 1783 war Becker am Geschöpf ein Gesetz wünscht, welches der Freyheit aller Schranken setzt; so verleitet ihn doch seine selbstsüchtige thierische Neigung, wo er darf, sich selbst auszunehmen. Er bedarf also einen Herrn, der ihm den eigenen Willen breche, und ihn nöthige, einem allgemein gültigen Willen, dabey jeder frey seyn kann, anzugehorchen [Kant: zu gehorchen – H. S.].« Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 23; vgl. dazu V.1.1. 46 GgZ, 19. St. vom 5. März 1800, S. 156. 47 Werner Stark, Nachforschungen zu Briefen und Handschriften Immanuel Kants, Berlin 1993, S. 231–234. Die nachfolgenden Darlegungen zu den Beziehungen zwischen Kant und Becker beruhen auf der Dokumentation und Kommentierung der Quellen durch Stark. 48 Ursula Tölle, Rudolph Zacharias Becker. Versuche der Volksaufklärung im 18. Jahrhundert in Deutschland, Münster / New York 1994, S. 122 ff.

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Dessauer Philanthropin tätig und trat dort in engere Beziehung zu Christoph Gotthilf Salzmann. Ihr Vorhaben, in Schnepfenthal / Gotha gemeinsam ein Philanthropin zu errichten, scheiterte am Alleinanspruch Salzmanns auf die Leitung dieser Einrichtung.49 Daraufhin wandte sich Becker endgültig der publizistischen Tätigkeit zu, die er nach anfänglichen Schwierigkeiten erfolgreich gestalten konnte. In der Periode des Übergangs von Dessau nach Gotha wurde Becker 1782 Mitglied der gothaischen Loge der Freimaurer. 1784 wurde er nach etwa zweijähriger Vorbereitungs- bzw. Prüfungszeit als Mitglied in den Orden der Illuminaten aufgenommen (Ordensname: Henricus Stephanus).50 Zur gleichen Zeit (von 1782 bis 1784) unternahm Becker verschiedene Reisen, um für seine journalistischen Projekte und editorischen Vorhaben sowohl Mitarbeiter als auch Abonnenten und Subskribenten zu gewinnen. Nachweislich hielt sich Becker im Zeitraum 2. bis 5. November 1783 in Königsberg auf, wie Johann Georg Hamann an verschiedene Persönlichkeiten berichtete.51 Die für dieses Thema wichtigste Mitteilung übermittelte Hamann am 2. Mai 1784 an Herder: Der Artikel in den Gothaischen Zeitungen ist vermuthl. durch den Prof. Becker aus Kanters [sic!] Munde oder Tischreden bey unserem Kr. R. Hippel öffentl. geworden.52

Im Haus des Freimaurerbruders Theodor Gottlieb von Hippel (1741–1786) kam es zu der für Becker so denkwürdigen Begegnung mit Kant. Becker bedankte sich bei Hippel für die gastfreundliche Aufnahme in diese außergewöhnliche Gesprächsrunde im Juni 1784: Die Erinnerung an den Tag, den ich in Ihrem Bauer[n]hause zugebracht habe, ist jetzt eine meiner liebsten Tröstungen, wenn es die Menschen nicht so mit mir machen, wie es seyn sollte. Die Auswahl von Männern, die ich sah und hörte, und der innige Ton des seelenvollen Gesprächs, unter dem der Tag wie eine Stunde vorüberging, sind mir unvergeßlich. Auch schienen Sie mir auf die kurze Zeit unserer Bekanntschaft gut geworden zu seyn und ich liebe Sie, wie einer meiner ältesten Freunde, weil Sie an allem, was mir eigentlich im Leben des Redens und Handelns werth scheint, mit so viel Wärme Theil nehmen, und weil wir uns auf den ersten Blick verstunden.53 49 Schaubs, Erziehungsanstalt in Schnepfenthal, S. 199 ff. 50 Ebenda, S. 175 f. Vgl. Hermann Schüttler, Die Mitglieder des Illuminatenordens: 1776– 1787/93, München 1991, S. 21. Schüttler nennt 1782 als Jahr der Aufnahme in den Orden. 51 Hamann, Briefwechsel, Bd. 5, S. 47, 95–99, 101, 106, 147. Über den Besuch Beckers berichtete Hamann an Friedrich Heinrich Jacobi (22. November 1783), Johann Friedrich Reichardt (16. November 1783) und Johann Gottfried Herder (8. Dezember 1783). 52 Ebenda, S. 147. Vgl. Stark, Nachforschungen, S. 234. Stark merkt an: »Es handelt sich vermutlich um eine Fehllesung, ›Kantens‹ scheint richtiger. Diese Einschätzung teilt Prof. Arthur Henkel in einem Schreiben vom 13. März 1992.« 53 Zitiert nach: Biographie des Königl. Preuß. Geheimenkriegsraths zu Königsberg, Theodor Gottlieb von Hippel, zum Theil von ihm selbst verfaßt. Aus Schlichtegrolls Nekrolog besonders abgedruckt. Gotha, bey Justus Perthes, 1801, S. 359 f.

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Die Antwort von Hippel an Becker, die einen Monat später erfolgte, zeigt, dass er der von Kant im Gespräch geäußerten Grundidee einer realen und kontinuierlichen Entfaltung des Menschseins nahe stand. Den aktuellen Zustand der Gesellschaft sah er jedoch lediglich als eine Vorstufe zu einer möglichen höheren Entwicklung an. Mit Becker als einem Bruder im Geiste (Freimaurer, Illuminat) konnte er über diese Probleme sprechen. Er schrieb: Daß mir Ihr lieber Brief mehr als Eine frohe Stunde gemacht, bedarf keiner Versicherung. Ihr Andenken ist und bleibt hier ein Seegen. Denn wahrlich, es mußte mir und meinen Freunden, die Sie in meiner Gesellschaft kennen gelernt haben, außerordentlich angenehm seyn, in Ihnen einen Mann aus der unsichtbaren Kirche zu finden. Wir haben zu wenig über [...] gesprochen; indeß ist so viel gewiß, daß man zu weit ausholt, um zu treffen, und lange nicht nahe genug sucht, um zu finden. Mich muß die Sache interessiren, da sie Aufklärung und Menschlichkeit befördern soll. Wenn man die Welt nur ein wenig kennt, so wird man sich überzeugen, daß der Zeitpunkt nicht gekommen ist, um mit einem Hosianna hervorzutreten. Noch ist nicht erschienen, was der Mensch seyn könnte und sollte, und es ist nothwendig, in sein Kämmerlein zu gehen, und die Thüre hinter sich zu verschließen.54

Becker war nachhaltig beeindruckt vom Verständnis und Wohlwollen, welches ihm im Gesprächskreis bei Hippel und durch andere Königsberger Persönlichkeiten entgegengebracht worden war. In der ersten Ausgabe der »Deutschen Zeitung«, die Becker ab Januar 1784 herausgab, bedankte er sich direkt bei seinem Königsberger Bekanntenkreis.55 54 Ebenda, S. 360. Ob Becker bei Hippel auch für den Illuminatenorden wirkte, ist nicht zu erkennen. Hippel sympathisierte mit den Bestrebungen des Ordensgründers: »Er bekam Anträge in den Illuminaten=Orden zu treten, worauf er sich aber nicht einließ, so sehr er den Stifter schätzte und ihn bedauerte. Er las die Ordenspapiere mit tausend Vergnügen, und konnte nur nicht begreifen, wie ein so wohlwollender und scharfsehender Mann zugleich solche Mißgriffe habe thun können; denn natürlich war es ihm unbekannt, daß durch Knigge’s tumultarische Übertreibungen in eine einfache und preißwürdige Schule der Tugend ganz fremdartige und tadelnswerthe Zusätze gegen Wissen und Willen des Stifters gekommen waren«, ebenda, S. 341. 55 Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde, oder moralische Schilderungen der Menschan, Sitten, Staaten unsrer Zeit (vorher: Dessauische Zeitung für die Jugend und ihre Freunde), 1. St. vom 1. Januar 1784, S. 1. Becker schrieb: »Meine Leser und Leserinnen! Ich habe mich seit zwey Monaten nicht mit Ihnen unterhalten; weil ich eine Reise von 100 Meilen gegen Nordosten gemacht habe, deren Früchte ich Ihnen bey Gelegenheit mittheilen werde«. Als Einschub in seinen Bericht über das Jahr 1783 teilte Becker mit, wie der Kreisrichter Jenisch in Königsberg durch seine helfende Hand eine abergläubische Frau von ihren Schulden befreite und zu »ordentlicher Arbeit« anhielt. Becker merkte zu Königsberg an: »Die Hauptstadt des Königreich Preußen, worin, nach der letzten Zählung, 68 000 Menschen wohnen. Unter diesen hat der Herausgeber auf seiner oben erwähnten Reise eine nach Verhältniß sehr beträchtliche Anzahl guter Menschen kennen gelernt, und dankt ihnen hiermit öffentlich, daß sie so gut sind«, ebenda, S. 6.

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In der Zusammenkunft im Haus von Hippel hat Kant seine geschichtsphilo­ sophischen Vorstellungen geäußert, die Becker als »Lieblingsidee« des Königsberger Philosophen weitergegeben hat und schließlich in den GgZ der Öffentlichkeit bekannt gegeben wurde. Kant war sehr daran gelegen, diese nun publizierte Grundidee in ihren wesentlichen Konturen dem interessierten gelehrten Publikum mitzuteilen. Der publizistische Eifer der Redaktion der GgZ hat bei ihm keine Verstimmung hervorgerufen. Im Gegenteil, die Begegnung zwischen Kant und Becker wirkte auf beiden Seiten wohlwollend nach. Das zeigt der von Stark veröffentlichte Brief Kants an Becker vom 30. April 1786.56 Wie aus dem Text hervorgeht, hatte Becker im Vorfeld Kant als Juror zur Mitarbeit an einem Preisschriftverfahren eingeladen. Obwohl Kant das Angebot Beckers aufgrund von Arbeitshäufung ablehnen musste, hat er die Aktivitäten Beckers mit Wohlwollen und Wertschätzung beurteilt. Letztere galt, so kann man annehmen, indirekt auch den Bemühungen des Redakteurs der GgZ, der sich um die rezensorische Begleitung der Ausarbeitung seines kritischen Denkens sorgte. Hier nun der Text des Briefes: An Herren R. Z. B e c k e r Verfasser der Deutschen Zeitung in Gotha Koenigsberg, den 30ten Apr. 1786 Ihre Zuschrift, würdiger Mann, vom 2 t e n A p r i l ist mir d. 2 8 s t e n Abends durch HEn T o u s s a i n t abgegeben worden, welches auch wohl nicht anders seyn konnte; weil sie mit der fahrenden Post gekommen war. Hiedurch fällt die Möglichkeit weg, meine Annahme der Beurtheilung der Preisschriften noch vor der Ostermesse in der Zeitung bekannt zu machen. Was aber die Ehre des Richteramts selbst betrift, die Sie mir zugedacht hatten, so würde ich zu einer anderen Zeit solche vielleicht angenommen haben. In diesem Sommerhalbenjahre aber, da [ich] mich das R e c t o r a t unserer U n i v e r s i t a e t zum erstenmale trift, mit welchem fast unaufhörliche Zerstreuungen verbunden sind, [wo] da ich ausser meinen gewöhnlichen Vorlesungen, noch mit einer weitläuftigen literärischen Arbeit, die keinen Aufschub leidet, belästiget bin und über dies es nicht wohl ablehnen kann, einen oder andern Beytrag zu einer bekannten periodischen Schrift zu liefern, ist es mir wahre Unmöglichkeit, dem Verlangen eines von mir sonst hochgeschätzten, zum allgemeinen Menschenbesten so wirksamen, und durch seine mir persönlich bekannt gewordene Eigenschaften geliebten Mannes in diesem Fall zu willfahren. Sie werden also diese meine ungern geschehene Verweigerung nicht übel aufnehmen; vielleicht bietet sich eine andere Gelegenheit dar, Ihnen meine Bereitwilligkeit bezeigen zu können, eine solche, die auch meiner Neigung und Denkungsart angemessener ist, als die gegenwärtige. Denn ich muß gestehen, daß es mir sehr a r r o g a n t zu seyn scheine, sich nahmentlich < zu einem > (nicht etwa [zu einem] von den wett56 Stark, Nachforschungen, S. 233. Stark merkt anhand einer Nachschrift des Anthropologie-Kollegs an, dass Kant über den Ausgang des Akademie-Preisverfahrens, an dem Becker teilgenommen hatte, informiert war.

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schreitenden Partheyen selbst gewählten, sondern durch das Zutrauen eines Dritten auserkohrenen) Richter der literärischen Arbeiten anderer öffentlich aufstellen zu lassen; HE Prof. N. N. würde diese Ehre ohne Bedenken annehmen. Ich bitte beyliegenden Brief doch alsbald auf die Post zu geben und bin mit vollkommener Hochachtung Ihr ergebenster Freund und Diener I. K a n t .57

Die Anfrage an Kant vom Frühjahr 1785 beruhte auf der Mitteilung zur Eröffnung eines Preisschriftverfahrens, die Becker Anfang 1784 in der von ihm herausgegebenen »Deutschen Zeitung« unter der Rubrik »Preisfragen« veröffentlicht hatte. Der Text lautet: Gotha: Ein Preis von gleichfalls 12 Ducaten ist bey der Expedition dieser Zeitung von einem Ungenannten für die beste Antwort auf folgende Frage niedergelegt worden: Welches sind die Mittel, den kranken Verstand eines Kindes gesund zu machen? Die Hauptkrankheit, womit der Verstand der meisten Kinder behaftet ist, besteht nach der Meinung dieses Ungenannten darin, daß sie Urtheile der Erwachsenen blindlings annehmen, anstatt selbst zu urtheilen, woher der Mangel an Originalität in den so genannten g e s i t t e t e n Ständen entspringe, und von dieser Krankheit will er die Frage verstanden wissen. Die Wettschriften müssen mit dem versiegelten Namen des Verfassers vor dem Neujahr 1785 p o s t f r e y eingesendet werden.58

Zu Anfang des Jahres 1785 waren in der Redaktion der Zeitung sechs Antwortbeiträge eingegangen.59 Für deren Beurteilung gewann Becker, da Kant als ein möglicher Juror abgesagt hatte, aus dem Kreis der gothaischen Illuminaten eine Dreiergruppe. Ihr gehörte, neben August von Sachsen-Gotha-Altenburg (Bruder des Herzogs Ernst II.) und Johann Ernst Christian Haun (Direktor des Schullehrerseminars Gotha), Ewald an. Er nahm wesentlichen Einfluss auf die Vergabe des Preises. Seine Gutachten über die sechs Einsendungen, die erhalten sind,60 konzentrieren sich auf das jeweilige Erfassen der Funktion des »Selbstdenkens« im Erziehungs- und Bildungsprozess des Heranwachsenden. Ganz in der Intention des aufklärerischen Denkens überhaupt, aber insbesondere unter dem Einfluss des kritischen Denkens Kants, dessen Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« im Dezemberheft (1784) der »Berlinischen Monatsschrift« erschienen war, hat Ewald die Beiträge beurteilt. So bemerkte er zum zweiten Beitrag im Rahmen des Gesamtgutachtens: Der Verf. hat sich auf die Quellen der in der Preisfrage gedachten Krankheit gar nicht eingelassen, sondern ist sogleich auf die Mittel gegangen.61 57 Ebenda, S. 231 f. Stark weist darauf hin, dass Kant mit der Vorbereitung der zweiten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« beschäftigt war, ebenda, S. 233. 58 Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde, 2. St. von 1784, Beilage Nr. I. 59 Schaubs, Erziehungsanstalt in Schnepfenthal, S. 181–183. 60 Ebenda, S. 373–375. 61 Ebenda, S. 374.

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Noch schärfer kritisierte er den dritten Beitrag: Aus der Aufschrift schon läst sich erkennen, daß der V. dem Gedanken, die Kinder zum Selbstdenken anzugewöhnen, nicht gewogen ist. In der Behandlung schränkt er es auch gar sehr ein und will, daß sie gegen Autoritäten Respekt haben sollen. Man sieht, daß er den eigentlichen Sinn und Zweck der Aufgabe nicht gefaßt hat; überhaupt nimmt er auch gar keine Rücksicht auf die Verdorbenheit des Verstandes, sondern redet nur von den Mitteln den Verstand zum Denken anzuführen [...]. 62

Selbst dem Preisträger hielt Ewald vor, ungeachtet der »weitläuftigen Abhandlung die Frage auch nicht ganz beym wahren Gesichtspunkt gefaßt« zu haben. Jedoch verdiene er, so Ewald, »in Rücksicht der übrigen Abhandlungen, nach meinem Ermessen, den Preiß«, da er doch eine gute und vollständige Anweisung von der Behandlung des Verstandes der Kinder, die praktisch und durch gute Beyspiele deutlich und einleuchtend gemacht ist,63

vorgelegt hat. Der Preisträger wurde, wohl um eine Verwechslung mit dem bedeutenden Philologen Christian Gottlob Heyne (1729–1812), Professor an der Universität Göttingen, zu vermeiden, ohne seinen Vornamen zu nennen, als Heyne, der Jüngere aus Göttingen angegeben. Vermutlich ist der Verfasser der Preisschrift Christian Leberecht Heyne (1752–1821), der als Hofmeister, Bühnendichter und Übersetzer gewirkt hat. Die Preisschrift erschien unter dem Titel »Herrn Heyne des jüngern Beantwortung der Frage: Welches sind die besten Mittel, den kranken Verstand eines Kindes gesund zu machen? Eine gekrönte Preisschrift mit einer Zugabe von R. Z. Becker, Leipzig, bey Crusius, 1785«. Beckers Plädoyer für die Förderung des Selbstdenkens aller Bürger Wie andere Vertreter des aufklärerischen Zeitgeistes, unterstützte Becker mit Leidenschaft und Konsequenz die Forderung nach vernunftgeleiteter Erziehung aller Bürger zum Selbstdenken als Voraussetzung für deren staatsbürgerliches Handeln. Diesen Grundzug der Aufklärung in Deutschland bezeichnete Norbert Hinske als »Programmidee« dieser Bewegung. Es ist »das Programm eines freien und eigenständigen Denkens, das sich aus der Bindung an eine einzelne Schule oder Autorität gelöst hat und zu eigenem Urteil gelangt ist«.64 Unter diesem Grundgedanken hielt es Becker, aufgrund der nicht zufriedenstellenden Antworten, die die Einsender in ihren Beiträgen gegeben hatten, für unbedingt erforderlich, in einer »Zugabe« (Vorwort: Gotha, im Mai 1785) zur besten Preisschrift auf die gewünschte Zielorientierung der Preisschriftfrage hinzuweisen. Es lag wohl auch an der nicht hinreichend präzisen Fragestellung; denn die Darstellungen der Einsender konzentrierten sich auf praktisch-pädagogische Maßnahmen zur 62 Ebenda. 63 Ebenda. 64 Hinske, Die tragenden Grundideen, S. 74 ff.

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Anerziehung sogenannter »natürlicher« Verhaltensweisen bei Kindern. Deshalb beabsichtigte Becker, für die Zielgruppe seiner Leser (gebildete Stände) klarzustellen, »was dem geübten Denker überflüssig scheinen möchte«,65 dass die Frage­ stellung ursprünglich und unbedingt auf Überlegungen zur Entwicklung des »Selbstdenkens« des Menschen nach dem Maßstab seines eigenen Vernunftvermögens abzielen sollte. Denn nur davon könne »sowohl sein Werth bey Gott und in der bürgerlichen Gesellschaft, als auch seine eigne menschliche Glück­ seligkeit« 66 abhängen. Die Erziehung zu dieser Fähigkeit gelte für alle Bürger – vom Regenten bis zum Bauern. Becker gründete seine Forderung zur Entfaltung des Selbstdenkens auf die konstitutive Funktion der Vernunft bzw. des Verstandes, indem er in verständlicher Diktion die »vier Hauptgeschäfte« des menschlichen Tätigseins benannte: »Empfinden, Denken, Reden und Handeln.« 67 Auf deren komplexem Zusammenwirken zur Formierung begrifflicher Strukturen im menschlichen Bewusstsein, die unabdingbar auf Erfahrung beruhen müssen, ergab sich für ihn die Möglichkeit, dass der Mensch als selbstdenkende Persönlichkeit zu wirken vermag: Auf diese Art erhält der Mensch nach und nach die sämtlichen Vorstellungen, Gedanken, Begriffe, Neigungen und Fertigkeiten, welche sein bestimmtes Gedankensystem, seinen Charakter, und sein Talent ausmachen. Mit jenem Vermögen der Seele, durch die Vorstellungen in einen gewissen Zustand versezt, und sich dessen bewußt zu werden, welches ich künftig, um der Deutlichkeit willen, ihr S e l b s t g e f ü h l nennen will, ist aber auch ein t h ä t i g e r Trieb verknüpft, sich immer in angenehmere Zustände zu versetzen. Dieser Trieb wird niemals ganz befriedigt, und ihn stellt eigentlich nichts zufrieden, als die wirkliche Ausübung seiner Kraft selbst; wovon sich jeder aufmerksame Beobachter leicht überzeugen kann. Und dieses Selbstgefühl ist nun der Maaßstab, nach welchem die Seele den Werth aller Dinge bestimmt, und ihre eignen Vorstellungen, Gedanken und Neigungen in ein Ganzes ordnet, und im Gedächtnisse aufstellet. 68

Mit dieser Charakterisierung des »Selbstgefühls« als aktives Vermögen des Menschen, in dem sich rationale und emotionale Inhalte des Selbstbewusstseins verbinden, versuchte Becker zum einen, sich verständlich zu äußern. Zum anderen benannte er den Maßstab, ob der Verstand krank sein könne [...] und ob insbesondere die in der Frage angezeigte Gewohnheit, die Urtheile andrer nachzubeten, als eine Krankheit desselben angesehen und behandelt werden müsse?69

Becker kritisierte, wie andere pädagogisch orientierte Aufklärer, die formalen 65 Becker, Heyne des jüngern Beantwortung der Frage, Zugabe, S. 150. 66 Ebenda, S. 151. 67 Ebenda. 68 Ebenda, S. 157 f. 69 Ebenda, S. 158.

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Methoden der Wissensvermittlung, insbesondere das Auswendiglernen von unselektiertem Wissen aus Religion, Wissenschaft und den Sprachen. Er forderte, ob Kind oder Erwachsener, jeden Menschen an seinem psychischen und geistigen Standort aufzusuchen und mit geeigneten Methoden, die Verstand und Gefühl ansprechen, das Verständnis für die jeweiligen Sachverhalte zu gewinnen.70 Becker genügte die eingeschränkte Sicht auf das Individuum nicht, um das Problem in seiner Entstehung zu erkennen und zu lösen. Er sah dessen Ursache in der gesellschaftlichen Situation und den durch die Tradition entstandenen Konventionen. Denn, so Becker, wenn die ungeprüfte und kritiklose Annahme von Urteilen anderer, den kranken Zustand des Verstandes ausweise, dann lehre die tägliche Erfahrung [...], daß dieser Fehler unter den gebildeten Nationen, und bey diesen vorzüglich unter den sogenannten g e s i t t e t e n Ständen häufiger angetroffen werde, als die entgegengesezte richtige Art zu denken.71

Die Ursache des geistigen Zustandes dieser sozialen Schicht sah Becker darin: Wächst nun der junge Mensch heran, und nimmt Theil am gesellschaftlichen Umgange der Erwachsenen, so erlernt er immer mehr fremde Urtheile. In den gesitteten Ständen herrscht überall eine gewisse Art von Formelsucht in den Gesinnungen, Grundsätzen und Handlungen. Das äußerliche Benehmen ist durch die sogenannte Lebensart bestimmt: die Urtheile über den Werth der Dinge, durch positive Religion, Gesetze und Herkommen; Kleidung, Wohnung, Tisch etc. durch die Mode. Jeder denkt, spricht und handelt in diesen Stücken selten nach seiner eignen Empfindung und Vernunft, sondern meistens nach dem eingeführten Modell. Derjenige wird sogar für den gebildetesten Mann gehalten, der dieses Modell am vollkommensten erreicht; und jemehr sich einer davon entfernt, desto näher kommt er der Gefahr, für einen Narren gehalten zu werden; wenn er auch bey seinen Handlungen der Vernunft die genaueste Folge leisten sollte.72

Das Übertragen der »herrschenden Meinung [...] auf sein e i g n e s Selbstgefühl« bewirke, so Becker, beim Einzelnen eine förmliche Entwöhnung vom Selbstdenken. Der Geist wird zu einer Marionette, 70 Ebenda, S. 161. Becker ergänzte: »Durch dieses Mittel leiteten die Redner der alten Freystaaten ihre versammelten Mitbürger zu den grossen Entschlüssen und Thaten, an die sie vor der Versammlung oft noch nicht gedacht hatten: und die Unwirksamkeit unsrer Kanzel- und Schulvorträge rührt meistens daher, daß man es vernachläßigt, und dem Zuhörer Gedanken und Empfindungen einzwingen will, die sich nicht an die schon vorhandenen anschließen lassen. Jede Wahrheit, jeder Grundsatz den wir mit Worten vortragen, muß nach möglichst deutlicher Darstellung im Verstande erst zur Empfindung übergehen, wenn diese nicht fruchtlos seyn soll: und jedes Wort der Sprache, welches nicht zugleich mit der Vorstellung, die es bezeichnet, in das Gedankensystem verwebt wird, bleibt als leerer Schall im Gedächtnis schweben.« 71 Ebenda, S. 162. 72 Ebenda, S. 171.

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die vom Vorurtheil, von der Gewalt und von der Mode wechselweise bewegt wird; und selbst der im gesellschaftlichen Leben angenommene Wohlstand gebietet ihm, das von Zeit zu Zeit sich gegen den Druck empörende Selbstgefühl zu überwältigen.73

Daraus entstehe ein »Mangel an Originalität«, die sich im Fehlen von Charakteren äußert, »welche nach eigner richtiger Empfindung und Ueberlegung h a n d e l n«. Es bedürfe, so meinte Becker, keines weiteren Beweises, »daß dieser Zustand des menschlichen Verstandes e i n e K r a n k h e i t zu nennen sey«.74 Von dieser grundsätzlichen Kritik ausgehend, hebt Becker das Problem des Selbstdenkens konsequent auf die gesellschaftlich-nationale Ebene. Es sei notwendig, »auch im lezten Viertel des seyn sollenden philosophischen Jahrhunderts«,75 ungeachtet von noch immer Zweifelnden, die Frage zu stellen: Ist es aber wohl gut und recht, die Einwohner eines Landes a l l e zum Selbstdenken anzuführen, und würde eine denkende Nation glücklich seyn? 76

Denn, so Beckers thesenartige Begründung: Der Mensch ist kein Vieh, sondern ein zu fortschreitender Veredlung seines Wesens erschaffener Geist. – Er kann ohne Entwicklung seiner geistigen Fähigkeiten zwar zu einer dummen Selbstbetäubung, aber zu keiner m e n s c h l i c h e n Glückseligkeit gelangen. – Zu dieser, und folglich zum v e r n ü n f t i g e n D e n k e n hat aber e i n j e d e r das vollkommenste Recht, so wie der Vogel zu fliegen und der Fisch zu schwimmen: weil j e d e r das natürliche Vermögen dazu besizt. – Aus eben diesem Grunde ist es eines jeden Pflicht und Schuldigkeit, vernünftig zu denken; keine Regierung in der Welt ist befugt den Unterthanen vorzuschreiben, w a s und w i e s i e denken sollen; und diese selbst können sich eben so wenig verbindlich machen, etwas glauben oder nicht glauben zu wollen: weil die Ueberzeugung ganz und gar nicht vom Willen abhängt; folglich sind auch alle Glaubenseide und Verpflichtungen unstatthaft, und jeder Zwang des Geistes und Gewissens ein unrechtmäßiger Eingriff in die Rechte der Menschheit, die der Bürger im Staate nicht aufopfern kann und darf, wenn er auch wollte. – Dagegen kann jedes Mitglied von der Gesellschaft mit Recht fordern, daß sie ihm zur Entwickelung seiner Fähigkeiten möglichst behülflich sey: und Gleichgültigkeit gegen die Bildung der Nationaljugend, geflissentliche Hinderung der Aufklärung aller Stände, Verbreitung des Irrthumes oder Lasters sind folglich wahre Staatsverbrechen.77

Obwohl sich diese »ausgemachten Vernunftwahrheiten« in der »Kenntnißmasse unsres Zeitalters« allmählich verbreiten, so konstatierte Becker, sei es aus seiner 73 74 75 76 77

Ebenda, S. 172 f. Ebenda, S. 173. Ebenda, S. 177. Ebenda, S. 176. Vgl. Hinske, Die tragenden Grundideen, S. 73. Ebenda, S. 177 f.

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Sicht notwendig, auf einen »Erfahrungssatz« hinzuweisen, der noch nicht so allgemein anerkannt wird, als er es verdient. Er maß ihm für die zukünftige Entwicklung eines vom Bürger getragenen Staatswesens grundsätzliche Bedeutung bei: Es ist dieser: Vermöge der oben beschriebenen natürlichen Beschaffenheit des menschlichen Verstandes kann jene Zuverläßigkeit des Charackters oder der Gesinnungen und Handlungen, auf welcher sowohl die Sicherheit des Erfolgs aller Staatsoperationen, als die Redlichkeit im Privatleben, und die wahre Frömmigkeit selbst beruhen, schlechterdings nicht Statt finden; wofern die Menschen aller Stände nicht in einem Staate nicht zum Selbstdenken angeführt werden.78

Die Voraussetzung für die nachdenkende Mitarbeit des Einzelnen zur Gestaltung des Gemeinwohls sah Becker in dessen Befähigung zum vernunftgeprägten und systematischen Denken. In Anlehnung an Kants kritischen Denkeinsatz stellte er die Frage: Welches ist diejenige Reihe von Begriffen, Grundsätzen und Vorstellungen, deren anschauende Erkenntniß dem Menschen die Stärke giebt, gegen den Strom zu schwimmen, und denen in der bürgerlichen und religiösen Verfassung der Staaten liegenden Hindernissen des Denkens die Spitze zu bieten?79

Diese von Becker mit Entschiedenheit vorgetragene Meinung zur notwendigen Aufklärung aller Bürger über das vernunftgeleitete Selbstdenken teilte er mit dem Spender des ersten Preisgeldes. Dieser initiierte nach Becker eine neue Preisfrage, die auf die gesellschaftliche Dimension des Problems gerichtet war. Sie lautete: Welches sind die dem g e g e n w ä r t i g e n bürgerlichen, kirchlichen, wissenschaftlichen und geselligen Zustande der deutschen Nation (im Allgemeinen, nicht an einzelnen Oertern) wirklich vorhandenen Hindernisse des Selbstdenkens? Und was bringt jeder der hier anzugebenden Mängel und Mißbräuche n a m e n t l i c h für Irrthümer, Schwächen und Fehler des Verstandes hervor?80

Becker resümierte, dass jeder Mensch die »Möglichkeit« haben müsse, auch »der gemeine Bürger und Bauer«, zwar nicht »g e l e h r t, aber v e r n ü n f t i g gebildet werden« zu können.81 Damit würde jeder dazu befähigt, tugendhaftes Verhalten im Sinne der Vervollkommnung des staatlichen Gemeinwesens und der eigenen Glückseligkeit auszuüben. Dann werde kein »blinder Eifer« und zügellose »Schwärmerei« den gemeinen Mann davon abhalten, seine Pflichten als Bürger zu erfüllen, um den Staat zu erhalten (z. B. korrekt Steuern zahlen, einheimische Waren kaufen), der ihm Existenzsicherheit gewährleistet. In diesem Sinne, so schloss Becker, 78 79 80 81

Ebenda, S. 179. Ebenda, S. 174. Ebenda, S. 175 f. Ebenda, S. 182 f.

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kann und wird auch die Religion das Glück der Völker nicht eher ganz sicher und dauerhaft machen, als bis sie von den Menschen aller Classen und Stände aus deutlichen Vernunftgründen eingesehen, und bis die Ueberzeugung, daß ihre Forderungen mit den natürlichen Trieben des Menschen nach Glückseligkeit im Grunde einerley sind, allgemeiner werden wird. 82

Schon wenige Wochen nach der Begutachtung der Preisschriften erreichte auch die Anhänger Kants in Gotha die durch die ALZ vom 7. April 1785 erfolgte Ankündigung der moralphilosophischen Schrift Kants »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«. Nun hatte sich Ewald damit auseinanderzusetzen, wie Kant die Forderung des »Selbstdenkens« an das Individuum in seine Vorstellung über die Prinzipien des menschlichen Handelns in der Gemeinschaft, die »auf dem Bewußtsein seiner selbst als Intelligenz« als dem »eigentlich[en] Selbst«83 beruhen, aufnahm bzw. integrierte. Ewald hat diese Schrift Kants mit begeisterter Zustimmung und allen Möglichkeiten, die ihm seine Zeitschrift bot, dem Publikum vorgestellt.

4.4. Die Rezension zu Kants Schrift »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« (1785) Diese Rezension zur ersten moralphilosophischen Schrift der kritischen Philosophie Kants ist ein Höhepunkt in der Besprechung seines Gesamtwerks in den GgZ. Sie ist das herausragende Beispiel für Ewalds inhaltliche und formale Gestaltung seiner Rezensionen überhaupt. Mit der ausführlichen Referierung des Inhalts auf 16 Druckseiten nimmt sie unter allen Besprechungen dieser Zeit eine führende Position ein. Ewald sah in dem fundamentalen Entwurf moraltheoretischen Denkens nicht nur einen Meilenstein im Ausbau des Kantischen Systems, sondern er erkannte in diesem innovativen Ideenprogramm eine prinzipielle Zäsur, die eine konzeptionelle Neubegründung der Moralphilosophie einleitete. Denn, so Ewald: In diesem kleinen aber äußerst wichtigen Buche, legt und richtet der vortrefliche Kant den Grundstein zu einem, unerschütterlichen ewig dauernden Gebäude der Moral.84

Wenngleich er den kritischen Denkeinsatz Kants gegenüber der tradierten Ethik, den Christian Gottfried Schütz in der ALZ schon am 7. April 1785 als »Revolution« charakterisierte, nicht auf diese begriffliche Höhe hob, so stand doch Ewalds Wertung der Kantschen Fundamentallegung der Moral an sachlicher Radikalität der Aussage von Schütz keinesfalls nach. Denn er meinte: 82 Ebenda, S. 181. 83 Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 457. 84 GgZ, 66. St. vom 17. August 1785, S. 533.

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Es ist dem Recensenten, nach seiner Überzeugung von der innern Wahrheit und Stärke der kantischen Lehre, sehr wahrscheinlich, daß die alten Gebäude der Moral nun bald zusammen stürzen, und das Kantische allgemein werde aufgerichtet werden.85

Mit aufklärerischem Impetus forderte er: Dieses Buch ist in allen seinen Theilen ein vollendetes Ganze. Es muß in jedes Lehrers, in jedes denkenden Menschen Hände kommen, damit seine Grundsätze zur Beförderung wahrer ächter Aufklärung und Glückseligkeit allgemein verbreitet, und alle Menschen dadurch auf ihre alleinige Bestimmung aufmerksam gemacht werden.86

Den Optimismus, den Ewald hier kundtat, indem er hoffte, dass die unbezweifel­ baren Grundsätze Kants erwarten lassen, dass sich auch die »Masse der Sittlichkeit ungleich mehr vermehren werde«,87 musste wohl auch er infolge der kommenden Ereignisse in Europa zurücknehmen. Ewald referierte Kants Vorstellungen entsprechend der Gliederung der Schrift (Vorrede, 1. bis 3. Abschnitt). Er stellte die aus dem Vernunftvermögen abgeleiteten moralischen Grundsätze sowie die daraus sich ergebenden begrifflichen Konkretionen vor. Hierbei versuchte er, die Interpretation des Inhalts an Kants Diktion anzulehnen, ohne jedoch sein eigenes Verständnis zu verdecken. Im Folgenden soll auf wesentliche Aspekte hingewiesen werden, die Ewalds Reflexion der Kantschen Moralphilosophie bestimmen. Erstens akzentuierte er ganz im Sinne Kants die Notwendigkeit der Konstitution einer reinen Moralphilosophie. Eine entscheidende Bedeutung maß er dem Problem der Säuberung des Kriteriums der Verbindlichkeit für moralisches Verhalten von allem empirischen Ballast bei, weil die Sitten selbst allerley Verderbniß unterworfen bleiben, so lange jener Leitfaden und oberste Norm zu ihrer richtigen Beurtheilung fehlt [...].88

Die »Reinigkeit« dieser Verbindlichkeit, d. h. das »sittliche Gesetz«, ist nur in der »reinen Philosophie« anzutreffen. In Abgrenzung zu bisherigen Begründungen moralischer Vorstellungen meinte Ewald: Die Metaphysik der Sitten soll die Idee und die Principien eines möglichen reinen Willens untersuchen, und nicht die Handlungen und Bedingungen des menschlichen Willens überhaupt, welche größtentheils aus der Psychologie geschöpft werden; und hierin unterscheidet sich die Theorie des Verfassers von der Wolfischen Propädeutik vor seiner Moralphilosophie, nemlich der von Wolfen sogenannten allgemeinen praktischen Weltweisheit. Allein der Verf. wird die Metaphysik der Sitten erst dereinst liefern; hier gibt er nur die Grundlegung dazu. Ihre Absicht ist, die Aufsuchung und Festsetzung des o b e r s t e n P r i n z i p s d e r M o r a l i t ä t . 89 85 Ebenda. 86 Ebenda. 87 Ebenda. 88 Ebenda, S. 534. 89 Ebenda.

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Ewald sah es als sein grundlegendes Anliegen, angesichts gängiger und pragmatisch begründeter Moralvorstellungen (Streben nach individueller Glückseligkeit) dem Leser die Schritte der Argumentation Kants von der Feststellung der objektiven Anlage eines guten Willens im Menschen über das spontane Urteilsvermögen des gesunden Menschenverstandes hinsichtlich eines moralischen Wohlverhaltens bis zur notwendigen Fixierung eines unbedingten, für alle Individuen verbindlichen Grundsatzes bzw. »Gesetzes« des moralischen Handelns vor Augen zu führen. Mit folgender Anknüpfung an Kants Überlegungen versuchte er, den Leser für dessen moralphilosophischen Entwurf zu gewinnen: Das Gesetz das meinen Willen, wenn er gut seyn soll, zum Prinzip dienen muß, ist: Ich soll niemals anders verfahren, als so, daß i c h a u c h w o l l e n k ö n n e , meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden, oder mit einem Worte, die G e s e t z m ä ß i g k e i t überhaupt. Hierzu bedarf es keiner weit ausholenden Scharfsinnigkeit. Ich frage mich nur: Kannst du auch wollen, daß deine Maxime ein allgemeines Gesetz werde? wo nicht, so ist sie verwerflich, so paßt sie nicht als Prinzip in eine möglich allgemeine Gesetzgebung, für die mir die Vernunft unmittelbare Achtung abzwingt. Die gemeine Menschenvernunft gelangt also von selbst zu diesem Prinzip, und ob sie sich solches nicht in einer so allgemeinen Form abgezogen denkt, so hat sie es doch jederzeit vor Augen, und braucht es zum Richtmaaße ihrer Beurtheilung.90

Der Hang des Menschen, seinen Neigungen zu folgen und gegen die strengen Gesetze der Pflicht zu vernünfteln, ihre Gültigkeit, Reinigkeit, Strenge, in Zweifel zu ziehen, wenigstens unsern Wünschen und Neigungen angemessener zu machen,91

erfordere, so Ewald, diese »Zweydeutigkeit« im moralischen Verhalten durch eine prinzipielle und damit philosophische Fundierung des Moralischen überhaupt zu überwinden. Also wird die g e m e i n e M e n s c h e n v e r n u n f t selbst aus praktischen Gründen angetrieben, aus ihrem Kreise zu gehen, und einen Schritt ins Feld einer p r a k t i s c h e n P h i l o s o p h i e zu thun, um daselbst, wegen der Quelle ihres Prinzips und dessen richtiger Bestimmung, in Gegenhaltung mit den Maximen, die sich auf Bedürfniß und Neigung fußen, Erkundigung und deutliche Anweisung einzuziehen,

um »ächte sittliche Grundsätze« zu entdecken. Den Weg zu deren Erkenntnis, so konstatierte Ewald mit Blick auf den grundlegenden Denkansatz Kants, den die praktische Philosophie suchen muss, »kann sie nirgends anders als in einer vollständigen Kritik unserer Vernunft finden.«92 Auf diesem Weg der rigorosen Kritik der moralischen Substanz des Vernunftvermögens des Menschen, den Kant im Prozess der Auseinandersetzung mit seiner Lebenswelt, seinen Vorgängern und Zeitgenossen unentwegt beschritt, um die Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit 90 Ebenda, S. 535. 91 Ebenda. 92 Ebenda.

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der Moralität zu erreichen, zog er schließlich, wie Clemens Schwaiger nachweist, »den Schlußstrich unter eine Entwicklung, die sich längst angebahnt und vollzogen hat.«93 Auch Ewald hatte erkannt, dass Kant mit einer apodiktischen Erkenntnis abschließen konnte. Zweitens widmete Ewald der Argumentation Kants zur apriorischen Bestimmung des Moralgesetzes in der Form des »kategorischen Imperativs« besondere Aufmerksamkeit. Er folgte Kant, indem er dem Leser die durch den Willen des Individuums mögliche Struktur der Handlungsgebote, die im Leben aller Menschen eine Rolle spielen (hypothetische Imperative als problematische oder assertorische Prinzipien; kategorischer Imperativ als apodiktisches Prinzip), vorführte und meinte: Diese drey Prinzipien glaubt der Verf. am angemessensten nach ihrer Ordnung so benennen zu können; sie wären entweder R e g e l n d e r G e s c h i c k l i c h k e i t , oder R a t h s c h l ä g e d e r K l u g h e i t, oder G e b o t e, G e s e t z e d e r S i t t l i c h k e i t, durch welche Benennungen auch zugleich der Grad der Nöthigung des Willens deutlich ausgedrückt wird.94

Ewald zeigte auf, dass die Imperative der Geschicklichkeit und insbesondere der Klugheit »emprische Rathschläge« (wie z. B. »der Diät, Sparsamkeit, Höflichkeit, Zurückhaltung«) darstellen bzw. als »Anrathungen« des Handelns anzusehen sind. Zu diesen Einschränkungen konstatierte er: [ J]a es ist gar kein Imperativ möglich, der im strengen Verstande geböte das zu thun, was glücklich macht.95

Obwohl Ewald die empirisch begründete Sichtweise Kants auf das Spektrum der Möglichkeiten moralischen Handelns akzeptierte, so sind ihm die Qualitäten der Reinigkeit, der Allgemeinheit und der Verbindlichkeit des Prinzips der Moralität, die seine apodiktische Konsequenz fundieren, von größter Bedeutung. Deshalb ist ihm das Aufzeigen des Zusammenhangs von ontologischer Bestimmung eines vollkommenen guten Willens und dem kategorischen Imperativ, der die voluntative Potenz des Menschen als Gebot des Handelns in die Praxis des Lebens einbringen kann, besonders wichtig. Denn: 93 Clemens Schwaiger, Kategorische und andere Imperative. Zur Entwicklung von Kants praktischer Philosophie bis 1785, Stuttgart / Bad Cannstatt 1999, S. 186. Schwaiger hat nicht nur gründlich die Quellen und Einflüsse aufgedeckt, die Kant in seinen moralphilo­ sophischen Vorstellungen verarbeitet hat, sondern neben der prinzipiellen Bedeutung auch die facettenreiche Komplexität der Moralphilosophie Kants dargestellt. Dadurch konnte er nachdrücklich auf die ungebrochene Aktualität der Kantischen Moralgebote zur Wertung von Handlungen hinweisen. Vgl. ebenda, §§ 12–18. 94 GgZ, 67. St. vom 20. August 1785, S. 538. Vgl. Norbert Hinske, Ein unbeachtet gebliebener Kommentar zu Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten aus dem Jahre 1784, in: Transzendentalphilosophie und die Kultur der Gegenwart, hrsg. von Steffen Dietzsch / Udo Tietz, Leipzig 2012, S. 107–112. 95 GgZ, 67. St. vom 20. August 1785, S. 539.

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Praktisch gut ist aber, was vermittelst der Vorstellungen der Vernunft, mithin nicht aus subjectiven Ursachen, sondern objective, d. i. aus Gründen, die für jedes vernünftige Wesen, als ein solches gültig sind, den Willen bestimmt. Ein vollkommen guter Wille wird also zwar auch unter objectiven Gesetzen des Guten stehen, aber nicht dadurch als zu gesetzmäßigen Handlungen g e n ö t h i g e t, sondern von selbst, nach seiner subjectiven Beschaffenheit nur durch die Vorstellung des Guten bestimmt werden.96

Ewald begrüßte nachdrücklich die Kantische Begründung des unbedingten und verbindlichen Charakters des kategorischen Imperativs als nicht relativierbaren Maßstab des Handelns. Er schlussfolgerte: Der categorische Imperativ, der die Handlung als a n s i c h gut und objectiv nothwendig erklärt, gilt als a p o d i c t i s c h e s praktisches Prinzip.97

Zudem ist dieser Imperativ der Sittlichkeit »categorisch«; denn aus diesem einzigen Imperativ müssen alle Imperative der Pflicht, als aus ihrem Prinzip hergeleitet werden können. Man muss w o l l e n k ö n n e n, dass eine Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werde; dies ist der Canon der moralischen Beurtheilung der Pflichten überhaupt.98

Ewald stellte den »kategorischen Imperativ« in den bekannten Variationen des Grundthemas vor: Als Gebot der Verantwortung des Individuums für die Gemeinschaft; als Gebot der Unbedingtheit dieser Verantwortung, gleichsam als Naturgesetz; als Gebot des permanenten Strebens zur moralischen Vervollkommnung der Menschheit (Reich der Zwecke). Die von Kant entworfene Fundamentalität der möglichen Selbstzwecksetzung des menschlichen Willens hat Ewald wie folgt kommentiert: Dieses Prinzip ist nicht aus der Erfahrung entlehnt, erstlich wegen seiner Allgemeinheit, zweytens, weil darin die Menschheit nicht als Zweck des Menschen (subjectiv) sondern als objectiver Zweck, der, wir mögen Zwecke haben, welche wir wollen, als Gesetz die oberste einschränkende Bedingung aller subjectiven Zwecke ausmachen soll, vorgestellt wird, mithin aus reiner Vernunft entspringen muß. Es liegt nemlich der Grund aller praktischen Gesetzgebung objectiv in der Regel und der Form der Allgemeinheit, die sie ein Gesetz, (allenfalls Naturgesetz) zu seyn fähig macht, (nach dem ersten Prinzip) subjectiv aber im Z w e c k e ; das Subject aller Zwecke aber ist jedes vernünftige Wesen, als Zweck an sich selbst (nach dem zweyten Prinzip.) Hieraus folgt nun das dritte praktische Prinzip des Willens, als oberste Bedingung der Zusammenstimmung desselben mit der allgemeinen praktischen Vernunft, die Idee des W i l l e n s j e d e s v e r n ü n f t i g e n W e s e n s, a l s e i n e s a l l g e m e i n g e s e t z g e b e n d e n W i l l e n s.99 96 Ebenda, S. 538. 97 Ebenda. 98 Ebenda. 99 Ebenda, S. 540.

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Die Quintessenz dieses Handelns ist für Ewald das Streben nach dem von Kant bestimmten Zustand der Moralität, d. h. das moralische Gesetz bestimmt den Willen unmittelbar. Er zitierte Kant: M o r a l i t ä t ist also das Verhältniß der Handlungen zur Autonomie des Willens, d. i. zur möglichen allgemeinen Gesetzgebung durch die Maximen desselben.100

Mit Genugtuung erkannte Ewald, dass es Kant gelungen war, sein kritisches Denken auf die Ganzheit des realen Handlungsfeldes des Menschen anzuwenden und das dem Menschen inhärente Prinzip des Handelns aufzudecken und zu fixieren. Er stellte fest: Die bisherigen Bemühungen, das Prinzip der Sittlichkeit zu finden, musten alle fehlschlagen, da man nicht daran dachte, daß der Mensch nur seiner eigenen und dennoch allgemeinen Gesetzgebung unterworfen, und nur verbunden sey, seinem eigenen, dem Naturzwecke nach aber allgemein gesetzgebenden Willen gemäs zu handeln.101

Drittens versuchte Ewald, Kants Darstellung des Zusammenhangs von Freiheit, Autonomie und sittlichem Gesetz zu vermitteln. Er ging von Kants Bestimmung des Menschen als zweigeteiltes Wesen aus, welches als Naturwesen der Sinnenwelt und als Vernunftwesen einer intelligiblen Welt angehört, aber entscheidend ist, daß beyde nicht allein gar wohl beysammen bestehen k ö n n e n, sondern auch als n o t h w e n d i g v e r e i n i g e t in demselben Subjekt gedacht werden müssen.102

Auch hier führte Ewald den Leser in den Entwicklungsgang der Kantischen Vorstellungen ein, indem er in seine Interpretation des Inhalts Textpassagen der Schrift mit geringen Veränderungen einfügte. So wählte er zum genannten Thema ein prägnantes Zitat aus und beschloss das Problem mit seiner Stellungnahme: Als ein vernünftiges zur intelligiblen Welt gehöriges Wesen, kann der Mensch die Caussalität seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee der Freyheit denken, denn Unabhängigkeit von den bestimmten Ursachen der Sinnenwelt (dergleichen die Vernunft sich selbst beilegen muß) ist Freyheit. Mit der Idee der Freyheit ist nun der Begriff der A u t o n o m i e unzertrennlich verbunden, mit diesem aber das allgemeine 100 Ebenda, S. 542. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 439. 101 GgZ, 67. St. vom 20. August 1785, S. 541. Vgl. GgZ, 19. St. vom 7. März 1804, S. 170. Im Nekrolog. Immanuel Kant hat Ewald diese wissenschaftliche Leistung besonders gewürdigt: »Wie er überall in die philosophische Speculation, statt leichter, oberflächlicher Declamation, Gründlichkeit und Strenge der Beweise einführte, so hat er insonderheit in der praktischen Philosophie durch sein Anstreben gegen den Geist einer laxen Zeit= Moral und durch den unerbittlichen Ernst des categorischen Imperativs eine der Wissenschaft nothwendige und selbst den Sitten wohlthätige Revolution hervorgebracht.« 102 GgZ, Beilage zum 67. St. vom 20. August 1785, S. 548.

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Prinzip der Sittlichkeit, welches in der Idee allen Handlungen v e r n ü n f t i g e r Wesen eben so zum Grunde liegt, als Naturgesetz allen Erscheinungen. Und auf diese Art hat der Verf. den Verdacht gehoben, als wäre ein geheimer Zirkel in seinem Schlusse aus der Freyheit auf die Autonomie und aus dieser aufs sittliche Gesetz vorhanden.103

Ewald kam es in seiner Interpretation des moralphilosophischen Entwurfs Kants auf die Hervorhebung der apriorischen Substanz des Vernunftvermögens als objektive Gegebenheit an. Mit Kant sah er erst hierdurch die Selbstbestimmung des Menschen in seiner humanen Orientierung (Reich der Zwecke) hinreichend begründet. Unter diesem Vorzeichen war er bemüht, eine authentische Interpretation vorzulegen, die die Leitlinie und die Konzentrationspunkte der Kantschen Darstellung verdeutlichte. Für die Ausführlichkeit der Rezension gab er eine Begründung, die ihn als eindrucksvollen Anhänger der neuen Denkungsart auswies. Bedeutsam ist, dass Ewald die erste ausführliche Besprechung dieser Schrift Kants vorgelegt hat. Dazu erklärte er: Bey der Reichhaltigkeit und dem Zusammenhange der Begriffe und Ideen dieses Buches werden sich unsere Leser nun nicht wundern, daß die Anzeige davon so weitläuftig ausgefallen ist. Mit einem Plan en gros, der blos die Methode darlegte, würde niemanden gedient gewesen seyn, und wenn wir uns kürzer hätten fassen wollen, würde solches der Verständlichkeit und der Einsicht in den Zusammenhang geschadet haben. Es würde uns freuen, wenn auch wir durch unsere Anzeige etwas dazu beytrügen, dieses Werk, wodurch die menschliche Erkenntniß von neuem auf eine höhere Stufe gebracht wird, in größern Umlauf zu bringen.104

Ewald schloss mit der Erwartung weiterer Teile des kritischen Systems durch Kant: Übrigens wünschen wir unserm vortrefflichen Weltweisen eine dauerhafte Gesundheit, um sein angefangenes großes Werk ganz zu vollenden, und der Welt auch die übrigen Theile der Philosophie, besonders des Natur- und allgemeinen Staatsrechts, wozu schon hier und da Spuren sichtbar sind, auf eben die Art behandelt mittheilen zu können.105

In diesen Schlussbemerkungen Ewalds kommt sein spezielles Interesse für staatstheoretische Probleme zum Ausdruck. Er wird sich späterhin der moralphilosophischen Begründung des Staats- und Rechtssystems zuwenden, welches er, ganz im Sinne Kants, als Entfaltungsraum der sich selbst gestaltenden bürgerlichen Existenz des Menschen ansah. 103 Ebenda, S. 547. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 452 f. 104 GgZ, Beilage zum 67. St. vom 20. August 1785, S. 550. Vgl. GgZ, 97. St. vom 6. Dezember 1786, S. 808. Das Journal berichtete: »Königsberg. Es ist hier eine neue Ausgabe von Herrn Professor Kants Metaphysik der Sitten erschienen, worin mancherley Berichtigungen vorkommen.« 105 Ebenda.

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4.5. Die Rezension zu Kants »Abhandlung« in der Schrift von Ludwig Heinrich Jakob (1786) Am 24. Februar 1787 wurde in der Rezension der GgZ zur Schrift von Ludwig Heinrich Jakob »Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden, oder aller spekulativen Beweise für das Daseyn Gottes. Nebst einer Abhandlung von Herrn Professor Kant« (Leipzig 1786) auf die Kritik Kants am dogmatischen Vorgehen von Mendelssohn und Spinoza zur Beweisführung des Daseins Gottes eingegangen. Jakob hatte seine kritische Untersuchung mit dem Einverständnis Kants verfasst und dessen Stellungnahme zu einigen Vorstellungen von Mendelssohn eingefügt.106 Schon in der Anzeige der zweiten Auflage der Preisschrift von Moses Mendelssohn »Abhandlung über die Evidenz in Metaphysischen Wissenschaften« (1. Auflage 1764; 2. Auflage 1786) wiesen die GgZ auf die kontroversen Positionen hin, die in der Begründung des Daseins Gottes bestanden. Es ist wohl auch hier Ewald, der erklärte: Den Freunden der Mendelssohnschen Philosophie, – und wer sollte nicht ihr Freund seyn? – hat man ein angenehmes Geschenk gemacht;107

denn die erste Auflage sei längst vergriffen gewesen. Unter diesem Vorzeichen empfahl er das vergleichende Studium der Vorstellungen von Mendelssohn und Kant. Er erklärte: Da diese [angezeigte] Schrift größtentheils dieselben Gegenstände betrift, die der unsterbliche Verfasser in seinen Morgenstunden ausführlicher abgehandelt hat, so ist man nun im Stande, die in beyden Schriften vorgetragenen Gründe für die höchst wichtige Lehre vom Daseyn Gottes zu vergleichen. Freylich hat sich, seit K a n t s Kritik der reinen Vernunft erschienen ist, in Sachen der Metaphysik gar vieles geändert, und alle bisherigen metaphysischen Beweise von der Empfindung nicht unterworfenen Gegenstände haben durch sie ihre Evidenz verloren.108

Gerade aus diesem Grund empfahl Ewald, beide Schriften Mendelssohns zu lesen. Denn, »außer dem Anzüglichen [Anziehenden] und Hinreissenden in der Darstellung«, sei es die Verbindung und Entwickelung der Begriffe und Sätze, die den Verstand und Geschmack zugleich üben und schärfen können, die die von K a n t bestrittenen Gründe in ihrer ganzen Stärke darstellen, und also zum voraus gelesen zu werden verdienen, ehe man die Lesung und das Studium des Kantischen Werks antritt.109 106 Immanuel Kant, Einige Bemerkungen zu L. H. Jakob’s Prüfung der Mendelssohn’schen Morgenstunden, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 149–156. 107 GgZ, 102. St. vom 23. Dezember 1786, S. 852. 108 Ebenda. 109 Ebenda.

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Das Eingreifen Kants in den Pantheismusstreit haben die GgZ durch das Einrücken einer Information in ihren Nachrichtenteil unmittelbar mit befördert. Am 25. Januar 1786 veröffentlichten sie den Text: Vom Hrn. Prof. K a n t hat man eine Widerlegung des Mendelssohnschen Beweises für das Daseyn Gottes zu erwarten, den letzterer in seinem neuesten Werke, das den Titel Morgenstunden führet, gegeben hat.110

Diese Nachricht veranlasste Ludwig Heinrich Jakob, Magister in Halle, am 26. März 1786 bei Kant anzufragen: Die nähere Veranlassung zu diesem Briefe ist die Mendelssohnsche Schrift u. die Zeitungsnachricht, als ob Sie solche widerlegen würden.111

Jakob fragte bei Kant an, ob er ihm in dieser Auseinandersetzung beistehen solle, da er eine Widerlegung des Mendelssohnschen Beweises vom Standpunkt der kritischen Philosophie für erforderlich halte. Kant antwortete Jakob am 26. Mai 1786: Was mein vorgebliches Versprechen betrift, Mendelssohns Morgenstunden zu wiederlegen, so ist es falsch und durch Misverstand in die Gothaische Zeitung gekommen. Ich habe auch jetzt keine Zeit dazu; daher, wenn Sie die Mühe übernehmen wollen, die Fruchtlosigkeit dieser Arbeit, der reinen Vernunft Grenzen auf dieser Seite zu erweitern, zu zeigen, Sie das Verdienst haben werden, das Nachdenken guter Köpfe auf eine Seite zu lenken, da sie besseren Erfolg hoffen können.112

Zudem versprach Kant, obgleich er die zweite Auflage seiner »Kritik der reinen Vernunft« vorbereitete und in diesem Halbjahr als Rektor fungierte,113 eine kleinere Abhandlung beizusteuern. Jakob realisierte das Vorhaben. Zu gleicher Zeit stellte Kant, nach der Absprache mit Jakob und auf Drängen von Johann Erich Biester, in dem Artikel »Was heißt: Sich im Denken orientiren?« (»Berlinische Monatsschrift«, Oktober 1786) seine Position zu Jacobi klar, indem er eine intuitive Erkenntnis Gottes ablehnte und nur den Vernunftglauben, den er aus dem Streben des Menschen nach Moralität erklärte, zuließ. 110 GgZ, 7. St. vom 25. Januar 1786, S. 56. Die Information ging wohl auf die Rezension von Christian Gottfried Schütz zurück, die dieser zur Mendelssohnschen Schrift »Morgenstunden« am 2. und 9. Januar 1786 in der ALZ (Nr. 1 und Nr. 7) mit einem brieflichen Urteil von Kant über Mendelssohns Vorstellungen abgedruckt hatte. In dieser Zuschrift von Kant, die Schütz am Ende zitierte, würdigte dieser zum einen die Scharfsinnigkeit von Mendelssohn, und zum anderen kritisierte er dessen dogmatisches metaphysisches Verfahren zum Nachweis des Daseins Gottes, »an welchem also eine Kritik der Vernunft, die den glücklichen Fortgang eines solchen Verfahrens bezweifelt, ein bleibendes Beyspiel findet ihre Grundsätze auf die Probe zu stellen, um sie darnach entweder zu bestätigen, oder zu verwerfen«, zitiert nach ALZ, Nr. 7 vom 9. Januar 1786, Sp. 56. 111 Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 10, S. 436. 112 Ebenda, S. 451. 113 Vgl. IV.3.5.3., Brief von Kant an Becker vom 30. April 1786.

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Zweite Phase: Profilierung philosophischen Denkens 1781–1790

Die eingangs genannte Schrift von Ludwig Heinrich Jakob mit der Abhandlung von Kant, die im Herbst 1786 erschien, wurde am 24. Februar 1787 aufmerksam angezeigt. Nachdem der Rezensent die kritischen Bemerkungen Kants zu Mendelssohns Ausweichen vor einer vollständigen Kritik des Vernunftvermögens wiedergegeben hat, wies er auf einen ersten Teil der Darlegungen Jakobs zur »Kritik der reinen Vernunft« hin, in welchem der Unterschied der Gegenstände der Sinnlichkeit und des Verstandes gezeigt, und die Vollständigkeit der reinen Begriffe und Grundsätze a priori und ihre Einschränkung auf die Sinnenwelt erwiesen wird.114

Im zweiten Teil der Schrift sah der Rezensent deren Grundanliegen behandelt: In den 7 letztern Vorlesungen werden dann die Mendelssohnschen Axiome, seine Darstellung des Idealismus, Epikurismus und Spinozismus geprüft, und der Weg gezeigt, auf welchem allein die Unstatthaftigkeit dieser Lehren bewiesen werden kann, worauf dann die spekulativen Beweise für das Daseyn Gottes nach der Reihe selbst untersucht, entwickelt und widerlegt werden.115

Daran anschließend unterstrich der Rezensent, es ist wohl Ewald, die transparente Interpretation des Kantischen Systems durch den Autor: Alles dieses geschieht mit einer so lichtvollen Deutlichkeit, daß dadurch denen, die bisher noch über Dunkelheit des Kantischen Systems geklagt haben, die Einsicht in dasselbe beträchtlich erleichtert wird, und folglich diesem Systeme selbst ein desto größerer Wirkungskreis daraus erwachsen muß.116

Die Rezension nutzte der Verfasser zur komprimierten, aber dennoch eindeutigen Vorstellung der Struktur des Kantischen Systems.117 Sie endete mit Kants moralischer Beweisführung des Daseins Gottes: Das Handeln des Menschen nach Maximen, die den sittlichen Gesetzen folgen, ist der oberste Zweck der Sittlichkeit, und er ist nicht willkürlich; denn er hängt der Natur eines jeden Menschen an. Dieser Zweck kann aber für die Menschen überhaupt nur durch eine Bedingung gültig werden, und diese ist: d a ß e i n G o t t u n d e i n k ü n f t i g e s L e b e n s e y .118

114 GgZ, 16. St. vom 24. Februar 1787, S. 130. 115 Ebenda. 116 Ebenda. 117 Ebenda. Der Rezensent erklärte: »Denen von unsern Lesern zu gefallen, die die Kant­ ischen Grundsätze, auf welchen die Prüfung der Beweise vom Daseyn Gottes beruht, selbst noch nicht kennen, oder deutlich eingesehen haben, wollen wir hier aus dem vor uns liegenden Buche das Vorzüglichste davon mittheilen.« 118 GgZ, 16. St. vom 24. Februar 1787, S. 133.

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4.6. Die Rezension zu Kants Schrift »Kritik der reinen Vernunft« (2. Auflage, 1787) – Ewalds Auseinandersetzung mit Feder, Reimarus, Weishaupt und Lossius Die GgZ nahmen, gemessen an der Anzahl der Rezensionen, der Anzeigen und Nachrichten zum Werk und Wirken Kants, schon in den achtziger Jahren die Spitzenposition unter den Zeitschriften ein.119 Unter der Leitung Ewalds erwies sich das Journal als unermüdlicher Streiter für die transzendentalphilosophische Grundlegung und die Entfaltung der kritischen Philosophie Kants. Die sachliche und faire Auseinandersetzung in den Rezensionen mit den Schriften der Befürworter und der Gegner der Kantischen Vorstellungen sind dem Einsatz und der Kompetenz von Ewald zu verdanken. Diese Haltung zeigte sich beispielhaft in der Reaktion der GgZ auf die Ansichten von Feder, Reimarus, Weishaupt und Lossius, die diese Autoren im zeitlichen Umfeld des Erscheinens der zweiten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« zum System Kants äußerten. So wurde in der Rezension zur Schrift von Johann Georg Heinrich Feder, »Ueber Raum und Caussalität zur Prüfung der Kantischen Philosophie« (1787) vom 21. April 1787 die Kritik des Autors am System Kants deshalb begrüßt, weil der Rezensent eine allgemeine Auseinandersetzung für wichtig hielt, um die Philosophie Kants rascher bekannt zu machen. Denn er stellte fest: Endlich scheint es doch einmal mit der Kantischen Philosophie zur rechten Sprache zu kommen. Bisher hat sie blos Anhänger und Lobredner gefunden, und die wenigen Männer, wie T i e d e m a n n und der Verfasser der Resultate der Jacobi- und Mendelssohnschen Philosophie,120 jener in den Heßischen Beyträgen, dieser im deutschen Museum mit Anstand dagegen auftraten, haben blos einzelne Sätze derselben bestritten. Hier tritt F e d e r gegen K a n t auf, und sucht das Gebäude desselben in seinen Grundvesten zu erschüttern und umzustürzen.121

Ewald listete Feders Einwände gegen die kritische Philosophie auf und stellte ihnen Kants Positionen gegenüber. Er kennzeichnete damit den Diskussionsbedarf. Er versprach sich davon einen Gewinn für die kritische Philosophie, da Feder nicht nur alles was sich gegen die Kantische Philosophie nur sagen läßt, auf das lesbarste und beste, sondern auch mit der dem berühmten Königsbergischen Philosophen gebührenden Achtung, und der einem F e d e r eigenen Bescheidenheit, wiewohl verbunden mit dem ihm wohlanständigen Gefühl seiner Kraft, gesagt hat.122 119 Vgl. Rezensionen zur Kantischen Philosophie 1781–1787, S. XXXII ff. Beiträge (Rezensio­ nen, Anzeigen, Nachrichten) zu Kant: GgZ – 28; Göttingische Anzeigen – 22; ALZ – 20; ADB – 11. 120 Thomas Wizenmann (1759–1787) ist der Verfasser dieses Beitrages (1786). 121 GgZ, 32. St. vom 21. April 1787, S. 267 f. 122 Ebenda, S. 268.

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Zweite Phase: Profilierung philosophischen Denkens 1781–1790

Die Kritik Feders am System Kants hat er abgelehnt. Bemerkenswert ist, dass sich Ewald in dieser Rezension als ein philosophischer Kopf offenbarte, den ein vitales Interesse trieb, am aktuellen philosophischen Diskurs teilzunehmen, obgleich ihm seine Lebensumstände enge Grenzen setzten. Dazu äußerte er: Wir wollen versuchen, das Wichtigste [aus Feders Schrift – H. S.] hier im Auszuge mitzutheilen, uns aber dabey alles Urtheilens enthalten, indem Recensenten, da er Philosophie nicht ex professo treibt, sondern ihr nur wenige ihm von seinen Geschäften übrig bleibende Stunden zu seinem Vergnügen widmen kann, nicht zukömmt, sich zwischen Männer wie K a n t und F e d e r, zu stellen.123

Ewalds Hinweis auf den eingeschränkten Zeitfonds, der ihm als Hofbeamter und Redakteur für seine philosophischen Ambitionen zur Verfügung stand, bestätigte seine besondere Stellung im intellektuellen Umkreis des Gothaer Hofes und deren Wirkung darüber hinaus. Dass Ewald die von Kant vorgenommene Präzisierung des transzendentalen Potentials des Menschen als Erkenntnissubjekt, wie sie Kant in der im April 1787 erschienenen zweiten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« vorgenommen hatte, sofort und offensiv zur Verteidigung der kritischen Philosophie nutzte, bewies er in der Rezension zur Schrift von Johann Albert Hinrich Reimarus »Ueber die Gründe der menschlichen Erkenntniß und der natürlichen Religion« (1787). So ordnete Reimarus dem Menschen aufgrund seines Selbstbewusstseins eine eigenständige schöpferische Kraft zu und damit auch die Fähigkeit, Übersinnliches, d. h. das Wesen der Dinge an sich, zu erkennen. Zu diesem Problem verwies Ewald auf das, was Kant S. 157. f. und S. 399 sqq. in der 2ten Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft gesagt hat, [...]. Ob ich mir meiner gleich selbst bewußt bin, so erkenne ich doch das eigentliche Subjekt meiner Gedanken, das denkende Wesen an sich selbst nicht [...].124

Der Mensch, so Ewald, kann überhaupt nichts als absolutes Subjekt denken. Er polemisierte gegen Reimarus: Damit will aber K a n t keinesweges sagen, daß ich selbst, mein eigenes Daseyn bloße Erscheinung sey, wie S. 55 von Hrn. R.[eimarus] behauptet wird, sondern K[ant] meint nur, wir erkennen uns, unser eigenes Ich, nur als Erscheinung. Denn er sagt S. 157. der K. d. r. V. neue Ausgabe ausdrücklich: »so ist zwar mein eignes Daseyn nicht Erscheinung, vielweniger bloßer Schein, aber die Bestimmung meines Daseyns kann nur der Form des innern Sinnes gemäß nach der besondern Art, wie das Mannichfaltige, das ich verbinde, in der innern Anschauung gegeben wird, geschehen, und ich habe demnach keine Erkenntniß von mir, wie ich bin, sondern blos, wie ich mir erscheine.«125 123 Ebenda. 124 GgZ, 94. St. vom 24. November 1787, S. 763. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 121 ff., S. 262 ff. 125 GgZ, 94. St. vom 24. November 1787, S. 764.

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Ewald trat Reimarus entgegen, als dieser – ausgehend von der Anerkennung der Einwirkung des Beharrlichen in Gestalt von äußeren Gegenständen (Erscheinungen) auf die Ausprägung von Vorstellungen – nicht nur auf die Erkenntnis der Erscheinungen schloss, sondern dies Erkennen auf die »Dinge an sich« erweiterte. Reimarus meinte, so der Rezensent: Wir hätten also doch eine sichere Folgerung auf D a s e y n würkliche Dinge außer uns, welche den Erscheinungen zum Grunde liegen, oder dieselben veranlassen.126

Ewald gab darauf im Sinne des Kantischen Systems die einzig mögliche Antwort: Dieses alles kann man dem Hrn. Verf. zugeben, da daraus nur so viel erhellet, daß wir von äußern Erscheinungen auf Dinge an sich, oder transscendentale Objecte dieser Erscheinungen s c h l i e s s e n können. Dieses behauptet K a n t ebenfalls, er lehret nur, daß wir von diesen transscendentalen Gegenständen, den Dingen an sich, keine Kenntniß hätten.127

Obwohl Reimarus einerseits der Meinung Kants zustimme, so Ewald, so äußere er sich andererseits gegen sie: Wenn es aber gleich darauf wieder heißt: »es lasse sich dennoch nicht sagen, daß wir nichts von den übersinnlichen Gegenständen wüßten, da wir ja ihre Wirkungen und Beziehungen auf unsern Zustand, welches eben die Erscheinungen wären, empfänden«, so hält Recens. dafür, daß der Verf. sich in einem Zirkel befinde, oder er muß den Unterschied, welchen er zwischen Erscheinung und innerm oder transscendentalem Gegenstand selbst macht, aufgeben; das kann er aber nicht, so lange er zum Grundsatz annimmt, daß Erscheinung, oder das was wir wahrnehmen, nur die Veränderung sey, welche in unserm denkenden Wesen vorgehe.128

Hier bestätigte Ewald, dass ihm sowohl die exakte Bestimmung der Begrenzung des transzendentalen Vernunftvermögens als auch dessen Funktion im Erkenntnisprozess von prinzipieller Bedeutung waren. Von authentischer Beständigkeit ist hier auch Ewalds Interpretation der Raum-Zeit-Vorstellungen Kants, seines Einstiegsthemas in die kritische Philosophie. Deren Kritik durch Reimarus hielt er für sehr simpel, da dieser das Problem lediglich auf das Vorhandensein eines absoluten Raumes bzw. einer absoluten Zeit reduzierte. Ewald hingegen erklärte, dass in Kants Vorstellungen im Ansatz ein wechselseitiger, sich geradezu evolutionär entwickelnder Zusammenhang zwischen Wahrnehmung der Außenwelt und der daraus folgenden Anregung des menschlichen Gemütspotentials zur Ausprägung seiner Anschauungen über Raum und Zeit dargelegt wird. Erst dieser äußere Impuls, so Ewald, initiierte die Formen der Anschauung, die unsere Rezeptivität prägen. Ewald zeigte deren Entstehung im menschlichen Selbstbewusstsein auf: 126 Ebenda. 127 Ebenda, S. 764 f. 128 Ebenda, S. 765.

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Ehe der Mensch Erfahrungen gemacht, ehe er das Aussereinanderseyn der äußern Gegenstände, die Folge der Veränderungen wahrgenommen hatte, konnte er sich noch keine Zeit denken. Sobald aber diese Wahrnehmung erfolgte, entwickelte sich auch zugleich in seinem Gemüthe diese Form, diese Art, sich die Objecte zu denken, und so wie sich der Umfang seiner Receptivität erweiterte, erweiterte sich auch zugleich in ihm diese Form zu denken; sie wächst zugleich mit der Kraft der Seele, Zeit und Raum breiten sich in ihr gleichsam ins Unermeßliche aus; es entsteht in ihr die Idee eines absoluten Raumes, einer absoluten unbestimmten Zeit; nicht durch Erfahrung; denn was mir Erfahrung nicht gibt, davon habe ich auch keine Idee, und alles was ich durch Erfahrung habe, ist durchaus bestimmt und eingeschränkt. Der Fonds der unbestimmten Zeit und des unbestimmten uneingeschränkten Raumes, lag schon in meiner Seele, ward nur in und mit der Erfahrung in immer größere Thätigkeit gesetzt; und sie sind beyde der menschlichen Sinnlichkeit und Denkkraft so wesentlich nothwendig, daß der Mensch ohne diese Formen schlechterdings nichts würde denken können.129

Ewald kennzeichnete den transzendentalen Charakter dieser Formen »unserer Recepitivität«: Zeit und Raum sind also nicht Gegenstände ausser uns, zu deren Kenntniß wir durch Erfahrung gelangt sind, anzusehen, sondern als der Seele, und insonderheit der Sinnlichkeit derselben, wesentlich und nothwendig inhärirende Formen oder Arten, die Dinge wahrzunehmen.130

Die zunehmende Auseinandersetzung um die Kantische Philosophie, wie sie sich auch in den Vorstellungen von Reimarus äußerte, veranlasste Ewald, ein spezielles Journal zur Diskussion der kritischen Philosophie Kants zu fordern. Er beschloss seine Besprechung mit diesem Vorschlag: Rec. kann bey dieser Gelegenheit nicht unterlassen, den Wunsch zu äussern, daß ein eignes Journal zu Stande kommen möchte, worin alles was die Kantische Philosophie pro und contra beträfe, aufgenommen, und so die noch zweifelhaften Punkte einer unpartheyischen Prüfung unterworfen, berichtiget oder beständiger werden könnten.131

Unter dieser Idee nach Publizität für innovatives und aufklärendes Denken sah Ewald auch die Auseinandersetzung mit Adam Weishaupt über Grundprobleme der kritischen Philosophie Kants. Wie oben dargestellt, bestand zwischen dem nun seit 1787 in Gotha ansässigen Adam Weishaupt und Ewald ein auf gegenseitiger Achtung beruhendes Verhältnis im Austausch ihrer philosophischen Standpunkte. Wie Weishaupt ausdrücklich feststellte, hatte ihn Ewald als kenntnisreicher Kantianer dazu angeregt, in die Diskussion um das Kantische System einzugreifen. Ein publizistischer Höhepunkt der Kontroverse zwischen Weishaupt und Ewald war die Rezension des Letzteren vom 12. März 1788 zur 129 Ebenda. 130 Ebenda, S. 766. 131 Ebenda.

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Schrift von Adam Weishaupt »Zweifel über die Kantischen Begriffe von Zeit und Raum« (1788). Weishaupt fand in Ewald, den er als einen »der frühesten, eifrigsten und einsichtsvollsten Verehrer, und thätigsten Verbreiter des Kantischen Systems«132 bezeichnete, einen Diskussionspartner, dem es gleichfalls um die sachliche Prüfung des Fundaments der Kantischen Vorstellungen ging. Da beide in Diskussionen ihre jeweilige Position zum apriorischen Fundament der kritischen Philosophie bekräftigt hatten (vgl. II.4.), entschloss sich Weishaupt, seine Meinung hinsichtlich der Raum-Zeit-Vorstellungen von Kant gedruckt vorzulegen. Dazu erklärte Ewald: Wir wollen zuerst unsern Lesern diesen Plan des Verf. vorlegen, und sodann unser Urtheil darüber eben so freundschaftlich offenherzig, als ob es unter vier Augen geschehe, nach unserer wahren Ueberzeugung beyfügen.133

In dieser achtseitigen Rezension hat Ewald seine Ansicht in der sachlich geführten Polemik mit den Vorstellungen Weishaupts auf zwei Schwerpunkte des transzendentalphilosophischen Fundaments in Kants Systementwurf konzentriert: 1. Die Existenz von Gegenständen als Erscheinungen und ihr Verhältnis zum wahrnehmenden Subjekt, und 2. Raum und Zeit sind objektive Eigenschaften der Gegenstände oder Fähigkeiten des Gemüts zur Wahrnehmung und Ordnung der erscheinenden Gegenstände. Zu 1. Ewald kennzeichnete die Position von Weishaupt: Gibt es Gegenstände ausser uns? Befinden sich diese Dinge ausser uns würklich ausser einander? und würken die Dinge ausser uns mit zu den Vorstellungen, welche wir von ihnen haben? Auf die Bejahung dieser 3 Sätze gründet sich der Beweis des Hrn. Verf., daß die Vorstellungen von Z.[eit] und R.[aum] nicht blos subjectiv seyn [...].134

Da Weishaupt in seinem Plan gegen Kant grundsätzlich behauptet, so Ewald, dass die Eigenschaften und die Bewegung der Gegenstände grundlegend seien, »um in der Seele das Bild von R.[aum] und Z.[eit] zu erwecken«,135 argumentierte er mit der Präzisierung des Problems durch Kant: 132 Adam Weishaupt, Ueber die Kantischen Anschauungen und Erscheinungen, Nürnberg 1788 (ND: Brüssel 1970), S. 129 f. Vgl. Martin Mulsow, »Steige also, wenn du kannst, höher und höher zu uns herauf« – Adam Weishaupt als Philosoph, in: Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde, Würzburg 2002, S. 27–66. 133 GgZ, 21. St. vom 12. März 1788, S. 169 f. Vgl. Horst Schröpfer, »Die Critik der reinen Vernunft [...] ist die vollständige Idee der Transscendentalphilogophie« – Schack Hermann Ewald verteidigte das Apriori des kritischen Systems von Immanuel Kant, in: Transzendentalphilosophie und die Kultur der Gegenwart, hrsg. von Steffen Dietzsch / Udo Tietz, Leipzig 2012, S. 79–106. 134 GgZ, 21. St. vom 12. März 1788, S. 171. 135 Ebenda.

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Da aus diesem ganzen Plane die Voraussetzung ersichtlich ist, als ob Kant den Raum ausser uns, in welchem Körper coexistiren und sich bewegen, läugne, so wollen wir zuvörderst eine Stelle, woraus das Gegenteil erhellet, aus K a n t s metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft, S. 2 anführen, wo es heißt: In aller Erfahrung muß etwas empfunden werden, und das ist das Reale der sinnlichen Anschauung, folglich muß auch der Raum, in welchem wir über die Bewegungen Erfahrung anstellen sollen empfindbar, d. i. durch das, was empfunden werden kann, bezeichnet seyn, und dieser, als der Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung, und selbst ein Object derselben, heißt der e m p i r i s c h e R a u m. Dieser aber, als materiell ist selbst beweglich etc.136

Jedoch konstatierte Ewald nicht nur die Position Kants, sondern kritisierte auch die nach seiner Meinung nicht ausreichende Klarstellung des Problems durch Kant im ursprünglichen Text seiner ersten »Kritik«. Er setzte fort: Diesen Begriff vom e m p i r i s c h e n R a u m e setzt Hr. K.[ant] in seiner Critik der reinen Vernunft als schon bekannt voraus, ohne denselben in seiner transscendenten [sic!] Aesthetik ausführlich zu erwähnen, ob gleich an mehrern Stellen darauf beyläufig Rücksicht genommen und angespielet wird. Daher ist es denn gekommen, daß man in der Kantischen Lehre von Z.[eit] und R.[aum] Dunkelheiten und sogar Widersprüche und Ungereimtheiten zu finden geglaubt hat, und zwar, wir müssen es eben so aufrichtig bekennen, nicht so ganz ohne K.[ants] eigene Schuld; denn von uns andern konnte er nicht verlangen, uns sogleich in den Mittelpunkt seines Systems zu setzen, und von da aus den ganzen Zusammenhang nach allen Seiten zu umspannen.137

Dass diese kritische Anmerkung Ewalds aus seiner ungebrochenen Zustimmung zu Kants Grundsätzen entsprang und letztlich der Sorge um die breitere Anerkennung des kritischen Systems geschuldet war, zeigt die nachfolgende Verteidigung der Raum-Zeit-Vorstellungen von Kant. Denn er hielt das prinzipielle Erfassen dieser elementaren Konstellation der transzendentalen Ästhetik für den Schlüssel zum Verständnis der apriorischen Erkenntnisformen und -funktionen des menschlichen Subjekts. Auf den Raum bezogen, erklärte Ewald: Es kömmt freylich der größte Galimathias heraus, wenn man annimmt, daß K.[ant] den äussern materiellen oder empirischen Raum läugne. Aber Licht und Klarheit verbreiten sich sogleich durch seine ganze Theorie, sobald man sich überzeugt hat, daß er jenen Raum annimmt, und nothwendig annehmen muß, aber davon in seiner Kr. der reinen Vernunft ganz abstrahirt, und hier den Raum blos als Form der Erscheinungen äusserer Sinne, als subjective Bedingung der Sinnlichkeit, ohne welche gar keine äussere Anschauung möglich ist, betrachtet.138

Ewald begründete seine Zustimmung zur apriorischen Funktion der Anschauungsform des Raumes im Erkenntnisvorgang mit folgender Erklärung: 136 Ebenda. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 481. 137 GgZ, 21. St. vom 12. März 1788, S. 171 f. 138 Ebenda, S. 172.

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Daß aber der Raum als eine solche reine Form a priori im Gemüthe vorhanden ist, erhellet daraus, weil es nicht möglich wäre, gewisse Empfindungen auf etwas ausser mich, auf etwas in einem andern Orte des Raumes, als worin ich mich befinde, zu beziehen, und weil ich sie, diese Empfindungen, mir nicht als ausser und neben einander, mithin nicht blos verschieden, sondern als in verschiedenen Orten vorstellen könnte, wenn nicht dabey schon die Vorstellung des Raumes zum Grunde läge. Das Gemüth muß die Anlage, die Fähigkeit, sich äussere Gegenstände als im Raume befindlich vorzustellen, schon haben, wenn sie sich solche Vorstellung soll machen können.139

Weishaupt erhob gegen Kants Vorstellung den Einwand, dass das Gemüt zu allen Vorstellungen über äußere Gegenstände die Anlage zur »Receptivität« haben müsse, um die Gegenstände (Figur, Größe, Undurchdringlichkeit usw.) zu erkennen. Ewald entgegnete: Diese »Einwendung« werde dadurch »gründlich« widerlegt, daß diese Fähigkeit nur untergeordnet ist, daß sie sich schlechterdings nicht eher denken lasse, als bis man erst jene Form des Gemüths, sich alle äussere Erscheinungen im Raume vorzustellen vorausgeschickt hat, und daß die Wahrnehmung und Unterscheidung dieser Erscheinungen, so wie die dazu erforderliche Receptivität allererst durch jene Form möglich werde. Die Vorstellung des Raums muß schon zum Grunde liegen, wenn ich an Körpern, Figur, Größe, Undurchdringlichkeit, mir soll vorstellen können.140

Wesentlich für Ewald war, sowohl die ontologische Substanz als auch die konstitutive Funktion dieser Form der Sinnlichkeit klarzustellen. Denn diese unter­ geordneten und abhängigen Anlagen der Rezeptivität, wie sie Weishaupt sah, können nicht »den Grad der Nothwendigkeit und Allgemeinheit« haben, den jene ursprüngliche, in der Natur des Menschen selbst gegründete Form hat, und daß sie lediglich ein Produkt der mit dieser Form der Sinnlichkeit verknüpften Erfahrung sind.141

Mit gleicher Klarheit und Konsequenz interpretierte Ewald Kants Auffassung über die Zeit als Form der inneren Anschauung bzw. des inneren Sinns. Bevor er gegen Weishaupt polemisierte, legte er seine Ansicht dar: Was die Zeit betrift, so ist solche kein Gegenstand, der äusserlich angeschauet oder empfunden werden könnte, wie der Raum, sondern lediglich eine reine Form unserer 139 Ebenda. 140 Ebenda. 141 Ebenda, S. 173. Ewald untermauerte seine Interpretation durch ein entwicklungspsychologisches Argument: »Daß jene aber selbst kein Werk der Erfahrung sey, erhellet dadurch, daß, ohne sie schon als vorhanden vorauszusetzen, gar keine Erfahrung angestellet werden kann; und dieses gehet so weit, daß sie schon in der Seele des Kindes in dem ersten Augenblick des Gefühls seines Daseyns, seiner Besinnung, seines Bewußtseyns, oder wie man das Moment der ersten innern Aeusserung des Vermögens seiner Sinnlichkeit sonst nennen will, unmittelbar in Thätigkeit ist«, ebenda.

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sinnlichen Anschauung, eine Form, die a priori durch die Natur unserer Sinnlichkeit bestimmt wird, oder die unserm Gemüthe angebohrne Fähigkeit, vermöge welcher dasselbe empfänglich gemacht ist, das Succeßive bey innern und äussern Erfahrungen zu bemerken. Die Bemerkung der fortschreitenden Veränderungen ist so wenig die Zeit selbst, als es die fortschreitenden Veränderungen sind. Diese Bemerkung wird vielmehr erst durch jene Fähigkeit möglich, dergestalt, daß, wenn dieselbe nicht im Gemüthe wäre, wir schlechterdings keine Succeßion in den Erfahrungen bemerken würden.142

Wenn diese Kantische Erklärung akzeptiert wird, so Ewald, dann sind Raum und Zeit weder Substanzen noch reelle oder logische Akzidenzien, d. h. wechselnde Erscheinungen. Denn damit das Beharrliche im Raum, oder die Substanz würklich werde, müssen R. u. Z. schon vorausgesetzt werden; nur in ihnen und durch sie muß ein Subject als beharrend gedacht werden können; Zeit und Raum als etwas Beharrliches in Z. und R. zu denken, wäre ungereimt.143

Gegen die Behauptung Weishaupts, welche die Formen der Anschauung als etwas äußerlich Existierendes annimmt, richtete sich die prinzipielle Argumentation Ewalds. Er entgegnete: Aber auch dieses sind sie nach Rec. Meinung nicht. Denn so wie Substanzen das Beharrliche im Raume sind, so sind Accidenzen das, was in diesem Beharrlichen im Raume wechselt; und dieses sowohl als der Wechsel, läßt sich wiederum schlechterdings nicht ohne vorhergehende Vorstellung von Zeit und Raum denken; da durch sie also der Begriff von Accidenzen erst möglich ist, so können sie, da ihnen nichts voraus geht, wodurch sie erst selbst Accidenzen werden können, unmöglich selbst reelle Accidenzen seyn.144

Entschieden polemisierte Ewald gegen die Meinung Weishaupts, dass die Zeit ein »später Erfahrungsbegriff«145 sei, da sie den Begriff von Raum und Bewegung voraussetze. Zudem betrachte er die Zeit, so Ewald, aufgelöst in ihre letzten Bestandteile, als die Wahrnehmung bzw. »Bemerkung der Coexistenz eines Gegenstandes in verschiedenen Theilen eines Raums«.146 In diesem Sinne sei nach Weishaupt die innerliche Veränderung, die als Bewegung wahrgenommen werde, ohne äußerliche Veränderungen nicht möglich und damit die Wahrnehmung der Zeit von den Vorgängen in äußerlichen Erscheinungen abhängig. Gegen dieses Hauptargument von Weishaupt polemisierte Ewald scharfsichtig und konsequent mit seinem Verständnis der Kantischen Vorstellung über die reinen Formen der Sinnlichkeit. Er entgegnete: 142 Ebenda. 143 Ebenda. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 183 ff. 144 GgZ, 21. St. vom 12. März 1788, S. 173. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 233 ff. 145 GgZ, 21. St. vom 12. März 1788, S. 173. 146 Ebenda, S. 174.

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Erstlich ist es ihm [dem Rezensenten] nicht begreiflich, wie ein Gegenstand in v e r s c h i e d e n e n T h e i l e n e i n e s R a u m s coexistiren, d. i. in einer und derselben Zeit existiren könne; das ist nicht möglich. Soll es aber so viel heissen, daß aus der Bemerkung [Wahrnehmung – H. S.] der n a c h u n d n a c h e r f o l g e n d e n Veränderungen eines Gegenstandes in verschiedenen Theilen des Raums, erst die Vorstellung der Zeit entstehe, so läugnen wir solches, und behaupten dagegen, daß in, mit und unter dem Ausdruck Bemerkung der nach und nach erfolgenden Veränderungen, die Vorstellung der Zeit schon würklich da sey, und vorausgesetzt werde, und daß sich schlechterdings keine Veränderung oder Bewegung ohne schon vorhandene Vorstellung der Zeit denken lasse.147

Ewald insistierte mit Nachdruck sowohl auf die apriorische Qualität der Formen der Sinnlichkeit als auch auf deren konstitutive Funktion im Erkenntnisprozess des menschlichen Subjekts. Er verteidigte deren transzendentalen Charakter sowie ihre ontologische Substanz hinsichtlich ihrer Wirkung auf die objektive Qualität der Erkenntnisse. Er resümierte: Zweytens dadurch, daß K a n t gesagt hat, die Zeit könne keine Bestimmung äusserer Erscheinungen seyn, indem sie weder zu einer Gestalt, noch Lage u.s.w. gehöre, dagegen aber daß Verhältniß der Vorstellungen in unserm innern Zustande bestimme, mithin nichts anders, als die Form des innern Sinnes, d. i. des Anschauens unserer selbst und unsers innern Zustandes sey, dadurch, sagen wir, hat Kant nicht behaupten wollen, daß die Bemerkung der äusserlichen Veränderungen nicht unter die Vorstellung der Zeit gebracht werden könnte; vielmehr findet das Gegentheil statt; alle sowohl in und an uns, als auch ausser uns vorgehende Veränderungen, geben uns, so fern sie von uns wahrgenommen werden, Vorstellungen, deren Ordnung und Verhältniß durch die Zeit, als diejenige Art und Weise der Anschauung, die allen unsern innern Zuständen, (unter welche auch die Vorstellung äusserer Erscheinungen und Veränderungen gehöret,) gemein ist, bestimmt wird.148

Konsequent schloss Ewald das Abstrahieren der Raum-Zeit-Vorstellung von äußeren Erscheinungen aus. Er hob die vernunftgeprägte Eigenständigkeit des von Kant bestimmten transzendentalen Potentials strikt hervor. Dazu stellte er fest: Eine empirische Deduction dieser reinen Formen der Sinnlichkeit findet also nicht statt, weil sie sich, so wie die reinen Verstandesbegriffe, auf ihre Gegenstände beziehen, ohne daß man zur Vorstellung derselben selbst etwas aus der Erfahrung entlehnt hätte.149

Desweiteren verteidigte Ewald die Kantische Erklärung des Raum-Zeit-Problems zu folgenden Aspekten: – Kants Kritik an der Leibnizschen Auffassung der Sinnlichkeit, die u. a. vorgeblich durch die Aufhellung bzw. Zergliederung der verworrenen Vorstellungen die Erkenntnis der Dinge an sich ermögliche. 147 Ebenda. 148 Ebenda. 149 Ebenda.

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– Kant hat aufgrund des subjektiven Erkenntnisvermögens den realen Unterschied zwischen deutlichen und undeutlichen Vorstellungen anerkannt und aufzuklären versucht.150 Ewald erwies sich als fairer Diskussionspartner. Er respektierte die Meinung von Weishaupt über die Entstehung der Raum-Zeit-Vorstellung aus der Erfahrung als deren Quelle. Jedoch trat er dessen Auffassung entschieden entgegen, indem er anhand eines Kernzitats auf die empirische Einschränkung seiner Reflexion verwies und sie vom Standpunkt der kritischen Philosophie widerlegte. Er zitierte hierzu das grundlegende Argument Weishaupts gegen Kants transzendentale Position: Wenn es (heißt es S. 89) Gegenstände ausser uns gibt; wenn sich diese ausser einander befinden; wenn jede unserer Vorstellungen zum Theil durch die Gegenstände ausser uns mit bestimmt wird; wenn sie das Resultat dieser Einwürkung auf unsere Empfänglichkeit sind; wenn es ohne diese Einwürkung gar keine Vorstellung geben kann; wenn folglich alle Vorstellung erworben, und durch den Weg der Erfahrung, ohne vorhergehende Einwürkung der Gegenstände selbst, nicht kann erhalten werden, und wenn R. und Z. selbst Vorstellungen sind – wie ist es möglich, daß sie blos subjectiv seyn solen?151

Auf dieses von Weishaupt wiederholt aufgeworfene Problem der Wechselwirkung von äußeren Erscheinungen und deren Wahrnehmung im menschlichen Bewusstsein entgegnete Ewald: Man kann alles zugeben, und doch ist K a n t dadurch nicht widerlegt, denn unter R a u m versteht Hr. W. hier den e m p i r i s c h e n , und unter Zeit die darin wahrgenommene Folge der Veränderungen; beydes läugnet K a n t nicht ab; aber in seiner Kr. der r. V. ist von beyden nicht die Rede, sondern von Z. und R. als reinen Formen der Sinnlichkeit, die jene Wahrnehmung des empirischen Raums, und der Folge der Veränderungen in und ausser uns, für uns erst möglich machen.152 150 Ebenda, S. 175. Dazu Ewald: »Da dies aber schlechterdings unmöglich ist, indem alle unsere Anschauungen blos in Vorstellungen von Erscheinungen bestehen, und alle Merkmale, die wir an den Gegenständen entdecken mögen, nie Merkmale von den Beschaffenheiten der Dinge an sich, sondern nur von den Vorstellungen der Erscheinungen, mithin von unserer Art und Weise, die Dinge anzuschauen sind; so ist auch der Unterschied zwischen deutlichen und undeutlichen Vorstellungen blos logisch, reell bleibt er aber deswegen doch immer in Rücksicht auf unsere subjective Erkenntnißart, die Begriffe mögen nun Gegenstände des Verstandes oder sinnliche Gegenstände betreffen, in Ansehung beyder sind wir einer deutlichen und undeutlichen Erkenntniß fähig. Der Ausdruck l o g i s c h ist bey Kant nicht dem R e a l e n , sondern dem M e t a p h y s i s c h e n , das sich auf die Beschaffenheit der Dinge an sich bezieht, entgegengesetzt«, ebenda. 151 GgZ, 21. St. vom 12. März 1788, S. 175. Weishaupt beendet diesen Fragesatz wie folgt: »wie ist es möglich, daß sie [Raum und Zeit] b l o s s u b j e c t i v s e y n s o l l e n, d a ß sie nicht zum Theil durch die Einwirkung äusserer Gegens t ä n d e h e r v o r g e b r a c h t w e r d e n ?«, zitiert nach Adam Weishaupt, Zweifel über die Kantischen Begriffe von Zeit und Raum, Nürnberg 1788, ND Brüssel 1968, S. 89 f. 152 Ebenda, S. 175 f.

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Obwohl Ewald bestrebt war, das achtungs- und vertrauensvolle Verhältnis zu Weishaupt nicht in Frage zu stellen, bestimmte er seine Position als Anhänger des transzendentalen Konzepts Kants: Der Herr Verf. scheint die Wahrheit davon selbst gefühlt zu haben, da er behauptet, daß R. und Z. in dem Sinne, wie er sie nimmt, eben so wenig als jeder andere äussere Gegenstand, ohne vorausgesetzte Receptivität von unserer Seite, dargestellt werden können. Nun liegt aber diese Receptivität in unserer Sinnlichkeit, als der ersten Erkenntnißquelle unserer Seele; sie muß also von einer Natur und Beschaffenheit seyn, daß sie jenen R a u m und jene Z e i t anschauen kann; und hierzu wird sie allererst durch die reinen Formen, die alle menschliche Anschauung möglich machen, fähig.153

Mit diesem glänzenden Plädoyer für den grundlegenden Ansatz bzw. unhintergehbaren Einsatz der kritischen Philosophie zur Erklärung der Fähigkeit des Menschen zur vernunftgeleiteten Selbstgestaltung seiner Existenz beendete Ewald die Auseinandersetzung mit Weishaupt. Er hoffte, »daß derselbe diese unparthey­ ische Prüfung einer genauen Durchgehung und Untersuchung, zur Beförderung der Ueberzeugung und Wahrheit, wornach wir streben, nicht ganz unwürdig finden möge«.154 In dieser Klarheit und Konsistenz hat Ewald als Kantianer das Raum-Zeit-Problem nur hier behandelt. In der vorgestellten Kontroverse zwischen Ewald und Weishaupt über die Determination der Raum- Zeit-Vorstellung trat die neue Qualität des kritischen Denkens von Kant hinsichtlich der bestimmenden Funktion des menschlichen Vernunftvermögens im Prozess der Erkenntnisgewinnung und der Handlungsorientierung in ihrem fundamentalen Ansatz scharf konturiert hervor. Diese damals beginnende Diskussion um das Problem der Grundlegung des kritischen Systems, ob und inwieweit Kant die apriorischen Prämissen als Basis seiner Transzendentalphilosophie realitätsbezogen zu begründen wusste, wird bis heute geführt. Michael Oberhausen hat die Entstehung und das Werden der Raum-Zeit-Konzeption Kants unter der Fragestellung »Empirische Realität contra Erwerbung« untersucht. Er konnte nachweisen, insbesondere durch die Betrachtung der von Kant vorgenommenen Adaption des aus der naturrechtlichen Tradition stammenden Begriffs der »ursprünglichen Erwerbung« oder »aquisitio originaria« im Konstitutionsprozess der apriorischen Formen der Anschauungen (Raum / Zeit), dass in Kants Überlegungen der Objektbezug – auch in seinem empirischen Gehalt – meist stillschweigend vorausgesetzt, aber auch direkt angesprochen wurde. Letztlich war er als Bezugsebene stets präsent. Oberhausen kommt zu dem wohlbegründeten Ergebnis: Da Kant in seiner transzendentalen Ästhetik die Sinnlichkeit von allem Empirischen isoliert betrachtet habe, um die Formen der Anschauung untersuchen zu können, berührte er 153 Ebenda, S. 176. 154 Ebenda.

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nicht die Frage, wie Raum und Zeit entstehen, sondern abstrahiert ganz von deren Ursprung bzw. setzt ihre Erwerbung als vollzogen voraus. Einmal erworben liegen Raum und Zeit als Formen aller Anschauungen dann tatsächlich im Gemüt bereit, gehen sogar möglichen Sinnesempfindungen zeitlich vorher, jedoch nur in einem relativen Sinn und bezogen auf einen aktuellen Erkenntnisprozeß. Absolut und in strengem Sinne, d. h. bezogen auf ihren Ursprung als apriorische Vorstellungen, kann von zeitlicher Priorität der Anschauungsformen vor aller Empfindung keine Rede sein. Kant hat sich also nicht widersprochen, wenn er Raum und Zeit als erworben bezeichnet und gleichzeitig lehrt, sie seien Bedingung der Möglichkeit aller Anschauung und gingen allen Empfindungen voraus. Er hat lediglich eine doppelte Perspektive eingenommen und einmal die Frage nach dem Ursprung der Anschauungsformen, das anderemal jedoch – unter Ausklammerung der Ursprungsfrage – nur die Funktion von Raum und Zeit als Bedingungen der Erkenntnis thematisiert.155

Genau diese von Kant herausgearbeitete Funktion des Vernunftvermögens, das durch seine analytisch-synthetische Fähigkeit die Wesensmerkmale der Erfahrungserkenntnis zu bestimmen vermag, verteidigte Ewald gegen die vereinfachende Erklärung der Entstehung der Raum-Zeit-Vorstellungen durch Weishaupt. Er hatte erkannt, dass die durch Kant vollzogene Trennung von Sinnlichkeit und Verstand in der Analyse des Vernunftvermögens sowie die weitere detaillierte Untersuchung der Sinnlichkeit zur Erkenntnis ihrer synthetischen Elemente, d. h. den reinen Formen der Anschauung von Raum und Zeit, geführt hat. Da Ewald diese neue Qualität der Vernunftrationalität im rezeptiven Bereich des Selbstbewusstseins als Überschritt bzw. als Eintritt in die Ganzheit der Struktur des Vernunftvermögens und damit in das transzendentale System ansah, wollte er sie keinesfalls in Frage gestellt sehen. Vor allem deshalb nicht, weil er das transzendentale Potential als Voraussetzung zur Fixierung des Moralgesetzes durch Kant ansah. Dessen Anerkennung und praktische Orientierung war für ihn die Basis zur Selbstgestaltung von Humanität in der menschlichen Gemeinschaft. Da für Ewald die Tatsache, dass moralische Qualitäten des Menschen durch Erziehung und Bildung erworben werden können, selbstverständlich war, sind in seiner Rezeption der Raum-Zeit-Konzeption Kants auch Hinweise auf dessen Vorstellung vom Erwerb dieser Erkenntnisfähigkeit festzustellen.156 Zehn Tage nach dieser Weishaupt-Rezension erschien am 22. März 1788 in den GgZ die dreiseitige Rezension (Anzeige) zu Kants zweiter Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« (1787). Ungeachtet ihres geringeren Umfangs im Vergleich zu anderen Rezensionen zu Hauptschriften von Kant zeigen die Hervorhebungen der von Kant vorgenommenen Erweiterungen bzw. Klarstellungen sowie das Eingehen auf wichtige Details die Kontinuität der Rezeption der Philosophie 155 Michael Oberhausen, Das neue Apriori. Kants Lehre von einer »ursprünglichen Erwerbung« apriorischer Vorstellungen, Stuttgart / Bad Cannstatt 1997, S. 160. 156 Vgl. IV.3.5.6. Ewald wies in der Auseinandersetzung mit Reimarus darauf hin, dass sich ursprünglich im Prozess der Wahrnehmung die Raum-Zeit-Vorstellungen entwickelt haben.

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Kants in den GgZ. Die Auswahl der Schwerpunkte und deren Diktion tragen die Handschrift von Ewald. Das zeigt sich schon in den eingangs geäußerten Überlegungen zur intensiveren Verbreitung des innovativen Denkens von Kant. Er resümierte: So sehr die Spuren zu bemerken sind, die die Erscheinung der Kant. Cr. der reinen Vernunft, zur Beförderung einer gründlichen Philosophie in Deutschland, es sey nun entweder durch erläuternde schriftliche und mündliche Vorträge, oder durch Widersprüche und daraus entstandene nähere Beleuchtung und Discussion, bis jetzt hinter­ lassen hat; so kann man doch auch nicht in Abrede seyn, daß nur der bey weitem geringste Theil der Leser dieser Art von Schriften, diese Critik d. r. V. in ihrem ganzen Umfange und Inhalte systematisch und dergestalt gefaßt habe, daß es ihm geläufig wäre, sich das Ganze derselben, gleich einem Stammbaume, von der Wurzel an mit allen seinen Aesten, Zweigen und Früchten, deutlich vorzustellen; und dahin muß es gebracht werden, wenn diese Philosophie so, wie es in Ansehung der Leibnitzischen und Wolfischen geschehen ist, zu einem gegründeten und sichern Besitzstand gelangen soll.157

Die hohe Forderung an das philosophische Interesse der Allgemeinheit müsse, so Ewald, durch »eine deutliche Uebersicht des Plans bewerkstelliget werden«. Er habe selbst einen »Entwurf« angefertigt, den er aber aufgrund der notwendigen Ausführlichkeit nicht in diesen Blättern mitteilen könne.158 Er meinte: Hierzu fand er in diesen Blättern nicht Raum genug, und siehet sich, bis zu einer bequemern Gelegenheit, die sich ihm vielleicht bald darbieten möchte,159 genöthiget, seine jetztige Anzeige auf die bey dieser Auflage gemachten Verbesserungen, wie sie der Hr. Verf. in seiner neuen vortreflichen Vorrede hier selbst angegeben hat, einzuschränken.160

Ewalds metaphorisches Insistieren auf das Begreifen des Kantschen Systems als transparenten Stammbaum erwuchs aus seinem rational geprägten Wissenschaftsverständnis.161 Er folgte Kant, indem er dessen Vorstellung teilte, dass 157 GgZ, 24. St. vom 22. März 1788, S. 204. 158 Ewald bemerkte dazu: »Er [der Rezensent] mußte aber sein Vorhaben aufgeben, da die Sache nicht allein durch kurze trockne Sciagraphie [Wissensbeschreibung] abgethan werden kann, sondern auch zur Bewürkung einer deutlichen Erkenntniß aller der Gegenstände, die der Leser in Ordnung und Zusammenhang übersehen sollte, Definitionen, Erläuterungen und Beyspiele hinzugethan werden müssen«, ebenda, S. 204 f. 159 Eine Schrift, die einen Überblick über die theoretische Philosophie Kants beinhaltet, ist von Ewald nicht bekannt. 160 GgZ, 24. St. vom 22. März 1788, S. 204. 161 Vgl. Gothaisches Magazin der Künste und Wissenschaften 2 (1777), 3. St., Nr. XI, S. 231. In dem anonym erschienenen Beitrag »Ueber die Klassifikation und Rangordnung der Wissenschaften« heißt es: »Ein Stammbaum [der Gelehrsamkeit] sollte uns nicht blos in den Stand setzen, das Ganze zu übersehen, und alles in einen kleinen Raum zusammen zu ordnen, sondern auch eines aus dem andern herleiten, und die Verbindung eines Zweiges mit dem andern anschauend machen«, ebenda.

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die spekulative Vernunft einen »wahren Gliederbau« enthält, in dem jeder Teil gleichzeitig »Organ ist, nemlich Alles um Eines willen, und jedes Einzelne um aller willen«.162 Aus Kants »vortrefflicher« Vorrede hob Ewald zwei Gesichtspunkte hervor: Erstens hielt er die von Kant ausdrücklich dargelegte Widerlegung des psychologischen Idealismus für wesentlich, um die objektive Existenz der Gegenstände der äußeren Anschauung (»Kritik der reinen Vernunft«, B XXXIX, S. 275) beweiskräftig klarzustellen. Er zitierte die angegebene Stelle, in der das »Beharrliche«, d. h. die Existenz wirklicher Dinge, als das empirisch Gegebene für die Raum- und Zeitvorstellung vorausgesetzt wird. Es sei daran erinnert, dass Ewald in der Polemik gegen Weishaupt feststellte: [Den] Begriff vom empirischen Raume setzt Hr. K. in seiner Critik der reinen Vernunft als schon bekannt voraus [...].163

Desweiteren zitierte er die von Kant selbst genannten Verbesserungen bzw. Präzisierungen, wie die Zeit als Form der Anschauung, die Deduktion der Verstandes­ begriffe und die Auflösung des psychologischen Paralogismus. Zweitens hob Ewald in Kants Revolution der Denkungsart das Aktivsein des Menschen im Erkenntnisvorgang als Grundqualität des kritischen Denkens hervor. Dazu gab er eine eigenständige Darstellung des Geschehens. Er stellte fest, Kant habe gegen das unstatthafte Verfahren der bisherigen Metaphysik deren Grenzen aufgezeigt und ihr die gehörige Richtung gegeben. Dazu führte er aus: Rec. gibt sie aber so, wie er sich die Sache nach seiner Art gedacht hat. Die Metaphysik, eine ganz isolirte speculative Vernunfterkenntniß, die sich ganz über Erfahrungsbelehrung erhebt, und sich blos mit Begriffen und Grundsätzen a priori beschäftiget, hat bisher den sichern Gang einer Wissenschaft noch nicht einzuschlagen vermocht, wie die L o g i k, die seit Aristoteles Zeit keinen Schritt weder zurück noch vorwärts thun durfte und konnte. Die Ursach davon ist, daß man voraussetzte, alle unsere Erkenntniß müsse sich nach den Gegenständen richten. Da auf diese Art unser Denken in ein blosses Leiden verwandelt wurde, so mußten auch natürlich alle Erkenntnisse a priori schlechterdings aufgehoben, und mithin das Wesen wahrer Metaphysik, deren einziger Gegenstand jene Erkenntnisse sind, vernichtet, und dagegen in Dinge gesetzt werden, die ausserhalb der Sinnenwelt, d. i. nirgend anzutreffen sind.164

Ewald folgte Kants Untersuchung der subjektiven Bedingungen, d. h. den aktiven Strukturen des menschlichen Selbstbewusstseins, die die Erkenntnis konstituieren: Denn so lange vorausgesetzt wird, daß in unserm Gemüthe selbst nichts liege, das mit zu den Anschauungen und Begriffen beyträgt, sondern diese ausschließlich eine Würkung der Gegenstände seyn soll, diese Gegenstände aber blos in der Erfahrung, 162 GgZ, 24. St. vom 22. März 1788, S. 205. Vgl. Kritik der reinen Vernunft, B XXXVIII. 163 GgZ, 21. St. vom 12. März 1788, S. 171. 164 GgZ, 24. St. vom 22. März 1788, S. 206.

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emprisch gegeben sind; kann es auch weder Anschauungen noch Begriffe a priori geben, und die Metaphysik ist weiter nichts, als eine Wissenschaft des Scheins.165

In Kants Revolution der Denkungsart sah Ewald den einzigen Weg, die Philosophie als Wissenschaft zu gestalten. Es kam ihm darauf an, die Selbsttätigkeit des Menschen als Subjekt des Erkenntnisvorgangs herauszustellen: Um der Metaphysik zur Herstellung ihrer wahren Gestalt beförderlich zu seyn, muste die gerade entgegengesetzte Methode von jener eingeschlagen werden: Die Gegenstände müssen sich nach der Beschaffenheit unsers Anschauungsvermögens, und um meine Anschauungen zu Erkenntnissen zu machen, auch nach unsern Begriffen richten. Nun ist unserm Gemüth auch sein Antheil an der Entstehung der Anschauungen und Erkenntnisse durch Begriffe gesichert, unser Gemüth verhält sich dabey nicht blos leidend, sondern als eine thätige Kraft [...].166

Ewald sah diese Kantsche Konstellation zur Erkenntnisgewinnung als unhintergehbare Entwicklungsstufe bzw. als orientierende Wegweisung für den Fortgang der Philosophie als Wissenschaft an. Er setzte hier den Begriff des Transzendentalen voraus. Ihm kam es darauf an, die Aktivitäten des Vernunftvermögens in seinen Gesetze erkennenden Strukturen hervorzuheben. Denn, so schlussfolgerte er, da sich die beyden Vermögen des Gemüths, Sinnlichkeit, als Quelle der Anschauungen, und Verstand, als Quelle der Begriffe, aus welchen Erkenntnisse entspringen, für sich, und abgesondert von allen in der Erfahrung gegebenen Gegenständen, und blos als durch unsere eigene Natur bestimmte Formen erkennen lassen, so ist zugleich das Daseyn wahrer Gegenstände a priori ausgemacht, und man weiß, woran sich Metaphysik, die nun von ihrem zeitherigen Beruf, eingebildeten Wesen nachzujagen, abgerufen wird, nunmehr zu halten hat.167

Von dieser Grundposition ausgehend, polemisierte Ewald gegen den Versuch von Johann Christian Lossius (1743–1813), seit 1770 Professor der Philosophie an der Universität Erfurt, Kants Kritik am kosmologischen Gottesbeweis durch eine falsche Interpretation der Kantischen Begriffsstruktur zu widerlegen. Lossius hat sich in einer Vorlesung zum Thema »Etwas über Kantische Philosophie in Hinsicht des Beweises vom Daseyn Gottes«, die er am 13. September 1788 in der Akademie der Wissenschaften zu Erfurt in Anwesenheit des kurmainzischen Statthalters Karl Theodor von Dalberg hielt, vorgenommen, die bisherige metaphysische Beweisführung für das Dasein Gottes zu verteidigen. Erstens setzte er sich dafür ein, den »Satz vom zureichenden Grund«, wie er von Wolff und Leibniz als Gesetz zur Erkenntnis von Tatsachenwahrheiten begründet wurde, für das Erkennen des Unbedingten (Gott) im bzw. aus dem 165 Ebenda. 166 Ebenda, S. 206 f. 167 Ebenda, S. 207.

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Bedingten (Erscheinungen) zu nutzen. Zweitens versuchte er, obgleich er vorgab, das Kantische System nicht angreifen zu wollen, die Vorstellungen Kants zur Gewinnung von Erfahrungserkenntnis mit folgender Unterstellung zu unterlaufen bzw. umzudeuten: Er meinte, man könne mit einerley Befugniß, von dem, was in der Sinnenwelt bedingt gegeben ist, auf das Unbedingte schliessen, so wie Herr Kant, von dem, was scheinet, auf das was ist, mit allen andern Philosophen richtig geschlossen hat.168

Lossius hat mit dieser Schlussfolgerung, vom Erkennen der Zusammenhänge in den »Erscheinungen« auf die Möglichkeit der objektiven Erkenntnis der »Dinge an sich« zu schließen sowie »Erscheinung« und »Schein« zu identifizieren, sofort den Protest von Ewald herausgefordert. Am 6. Juni 1789 erschien in den GgZ die Rezension zur nun veröffentlichten Vorlesung von Lossius. In ihrer analytischen Präzision, komprimierten Folgerichtigkeit sowie formalen Gestaltung (Meinung des Rezensenten in Klammern gesetzt) trägt sie die Handschrift des Redakteurs. Ewald zeigte auf, dass es die Absicht des Hrn. Prof. L o s s i u s ist [...] gegen Hrn. K a n t, in Ansehung des kosmologischen Beweises vom Daseyn Gottes, zu zeigen, daß die Vernunft zu dem Schluß von dem Zufälligen und Bedingten auf das schlechterdings Nothwendige und Unbedingte allerdings berechtiget sey, und daß dieses gedachte Nothwendige und Unbedingte objektive Realität habe.

Er nahm jedoch nicht auf die Gründe Rücksicht, die Hrn. K a n t zu dem Urtheile leiteten, daß jener Schluß eine unerlaubte Anmaßung der menschlichen Vernunft sey, und mit Vorbeygehung aller der Grundsätze, durch welche der Königsbergische Philosoph in seiner Aesthetik und Analytik den Gebrauch der Verstandes- und Vernunftgesetze auf Gegenstände der Sinnenwelt einschränkt [...].169

Dem Einwand von Lossius, dass auch Kant den »Satz des zureichenden Grundes« als subjektives Gesetz zur Erkenntnis von Sachverhalten anerkannt habe, hielt Ewald die Kantische Einschränkung dieses Gesetzes im Erkenntnisvorgang entgegen: Ganz richtig, aber wohl zu merken! dieses Gesetz ist blos regulativ, keinesweges aber constitutiv. Es erweitert unsere Erkenntniß von einem gegebenen Gegenstande nicht, sondern es soll nur unsere Erkenntnisse in der Sinnenwelt leiten, uns nur erinnern, in unsern Nachforschungen über die Ursachen der existirenden Dinge nicht inne zu halten, sondern dabey so zu verfahren, als ob es zu allem Existirenden einen nothwendigen Grund gäbe; den nothwendigen Grund selbst zu finden und zu bestimmen vermag es nicht.170

168 Johann Christian Lossius, Etwas über Kantische Philosophie in Hinsicht des Beweises vom Daseyn Gottes, Erfurt, bey Georg Adam Keyser, 1789, S. 5. 169 GgZ, 45. St. vom 6. Juni 1789, S. 389. 170 Ebenda, S. 389 f.

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Lossius versuchte, seine Zielsetzung, den Nachweis des Daseins Gottes mittels des Kausalitätsprinzips zu führen, durch Umdeutung der Kantischen Vorstellung der Sinnlichkeit zu erreichen. Er meinte: [Da] durch Sinnlichkeit alles Denken erst möglich wird: so muß außerhalb diesem Erkenntnißvermögen der Real- und Existentialgrund dieser Veränderungen der Sinnlichkeit zu suchen seyn, mithin in dem, was allen unsern Erscheinungen äußerlich zum Grunde liegt. Dieses aber ist nichts anders, als das objektive Daseyn der Dinge. Und so wäre die Befugnis der Vernunft, von dem, daß etwas scheint, zu dem, daß etwas ist, überzugehn und zu schließen, vollkommen gerechtfertiget, und zwar selbst nach Kantischen Begriffen und Grundsätzen.171

Schließlich wollte Lossius durch die Anwendung des Kausalgesetzes den Erfahrungshorizont überschreiten, um das reale Vorhandensein der Dinge an sich, die er »substantielle Kräfte« nannte, als bewiesen anzusehen. Hierdurch glaubte er, die Existenz einer übersinnlichen Kraft (Gott) als objektive Realität begründet zu haben. Ewald wies dieses Vorgehen anhand der Kantischen Begriffsstruktur als dogmatische Spekulation zurück: Weder zu diesem noch zu jenem nöthiget das Gesetz der Caussalität, dessen Gebrauch, wie gesagt, blos nur regulativ seyn kann, und sich nur auf Gegenstände möglicher Erfahrung einschränkt. Objectiv reales Daseyn der Dinge kann nur aus Wahrnehmung, niemals aus den Begriffen derselben erkannt werden; denn Begriffe existiren blos logisch in meinem Verstande, und sind leer, wenn diesen nichts in der Erfahrung entspricht. Substanzen, substantielle Kräfte, Dinge an sich, sind, so wie das schlechterdings Nothwendige, Unbedingte, erste Ursache, nichts als bloße Begriffe, Verstandeswesen, denen also auch das Prädikat Daseyn blos logisch, nicht aber objectiv reell zukommen kann.172

Die allgemeine Anerkennung der Philosophie Kants um die Jahrhundertwende hat auch Lossius bewogen, deren Grundpositionen anzuerkennen. In seinem vierbändigen »Philosophischen Wörterbuch« erklärte er u. a., dass das Gesetz der Kausalität nur auf Erscheinungen der Sinnenwelt angewandt werden kann. Denn alle Gegenstände, so erläuterte er, sind entweder Erscheinungen der Sinnenwelt, oder übersinnliche Gegenstände, Dinge an sich, Noumena«. Jedoch: »Wer hat wohl das Unbedingte, das Ding an sich je angeschaut? Woraus erhellet, daß der Satz des Grundes auf übersinnliche Gegenstände gar nicht angewandt werden könne, sondern nur auf Erscheingungen der Sinnenwelt.173

171 Lossius, Etwas über Kantische Philosophie, S. 7. 172 GgZ, 45. St. vom 6. Juni 1789, S. 390 f. 173 Johann Christian Lossius, Neues philosophisches allgemeines Real-Lexikon oder Wörterbuch der gesammten philosophischen Wissenschaften, in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden Artikeln. Aus verschiedenen Schriftstellern gezogen, 4 Bde., Erfurt 1803–1806, hier Bd. 2 (1804), S. 553.

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4.7. Die Rezension zu Kants Schrift »Kritik der praktischen Vernunft« (1788) Mit spürbarer Freude und Genugtuung begrüßte Ewald die von Kant in dieser Schrift vorgenommene Begründung und Vertiefung der Moralphilosophie. Er hob die nun vollzogene Vollendung des kritischen Systems hervor, indem er auf die Anwendung der transzendentalen Methode auf die Ethik verwies: Unser Philosoph fährt hier in seiner Prüfung der von aller Erfahrung unabhängigen Vermögen der menschlichen Vernunft fort, und erschöpft dadurch den ganzen Umfang des Gebrauchs, dessen die Vernunft fähig ist.174

Von der Dualität des kritischen Systems ausgehend (Apriorische Prinzipien des Erkenntnis- und des Begehrungsvermögens) ging er, Kant folgend, auf die Besonderheit des Gegenstandes der praktischen Vernunft, die Prinzipien a priori des Begehrungsvermögens, ein; denn: Bey diesen verfährt die Vernunft p r a c t i s c h, da sie sich mit den Bestimmungen des Willens, als eines Vermögens beschäftiget, den Vorstellungen entsprechende Gegenstände entweder hervorzubringen, oder doch sich selbst zu Bewürkung derselben, d. i. ihre Causalität zu bestimmen.175

Ewald konstatierte mit Kant: Die reine Vernunft, deren Vorhandensein Kant bewiesen habe, bedarf einer »Kritik der praktischen Vernunft«, um die Sittlichkeit auf einer soliden Basis zu fundieren. Er erfasste Kants Intention in folgendem Satz: Die Critik der practischen Vernunft überhaupt aber ist nöthig, um die empirisch bedingte Vernunft von der Anmassung abzuhalten, als ob sie ausschliessungsweise den Bestimmungsgrund des Willens allein abgeben dürfe und könne; sie muß dagegen zeigen, daß reine Vernunft allein zur Bestimmung des Willens hinreichend sey, daß die Vernunft zur Gründung eines Princips der Sittlichkeit keines empirischen Bestimmungsgrundes bedarf, sondern vielmehr zur Bewürkung der Allgemeinheit einer moralischen Gesetzgebung einen von allen empirischen und materiellen Bestimmungen unabhängigen Grund in und aus ihr selbst unumgänglich fordere.176

In seiner komprimierten und sachlichen Referierung des Werks hob Ewald diese grundlegende Verortung des moralischen Prinzips im Vernunftvermögen des Menschen hervor. Er betonte die konsequente Abgrenzung von partiellen Interessen und Neigungen bei der Findung des Prinzips. Nachdem er anhand der Gliederung des Werks die thematische Struktur vorgestellt hatte, konzentrierte er seine »Anzeige« auf die »Analytik«, den ersten Teil der »Elementarlehre«, 174 GgZ, 43. St. vom 28. Mai 1788, S. 353. 175 Ebenda. 176 Ebenda.

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da dieselbe den Kern des Systems enthält, der übrige Theil des Werks aber in der Anwendung der in der Analytik aufgestellten Grundsätze besteht, und dann erst leichter zu verstehen ist, wenn man die in der letztern vorgetragene Theorie gefaßt hat.177

Deshalb setzte er der weiteren Referierung des Inhalts eine grundsätzliche Erklärung zur Konstitution der Ethik als Wissenschaft voran: Es ist gewiß äusserst wichtig, sowohl zur Beurtheilung der Moralität unserer Handlungen, als für die Moral, als Wissenschaft, daß wir einen sichern, festen und unveränderlichen Grund haben, nach welchem wir beurtheilen können, ob wir unsern Willen so oder anders bestimmen sollen, einen Compaß, nach welchem wir uns orientieren können, wenn wir durch Neigungen und Leidenschaften aus der rechten Bahn sind verschlagen worden; und dieser Grund muß so beschaffen seyn, daß er für alle vernünftige Wesen ohne Ausnahme, allgemein gültig ist. Er kann nur in practischen Grundsätzen, d. i. solchen Sätzen, die eine allgemeine in der Natur der Vern. gegründete Bestimmung des Willens enthalten, liegen.178

Ewald folgte der Ableitung des Systems der Moralphilosophie Kants, indem er den Zusammenhang der Begriffskonkretionen nachvollziehbar darzustellen versuchte. Hier zum Einblick einige Schwerpunkte der Rezension: – Das Verhältnis von subjektiver Maxime des Handelns und objektivem Gesetz der praktischen Vernunft. – Die Allgemeingültigkeit und die Verbindlichkeit des Gesetzes als »blosse Form« der Vernunft, unabhängig von Gegenständen der Sinne. Seine »objective Nothwendigkeit« drückt sich durch »categorische Imperative« aus.179 – Ein Wille, der von der gesetzgebenden Form und »gänzlich unabhängig von dem Naturgesetz der Erscheinungen« bestimmt wird, ist ein »freyer Wille«. Eine solche Unabhängigkeit heißt Freyheit, im strengsten d. i. transscendentalen Verstande.180

– Die Autonomie des Subjekts: Die Form der allgemeinen gesetzgebenden Maxime hat der Hr. Verf. in folgendem Satze, als dem Grundsatze der reinen practischen Vernunft so ausgedrückt: H a n d l e s o, d a ß d i e M a x i m e d e i n e s W i l l e n s j e d e r z e i t z u g l e i c h a l s P r i n c i p e i n e r a l l g e m e i n e n G e s e t z g e b u n g g e l t e n könne. Mit diesem obersten practischen Gesetze können die Maximen nur durch die Autonomie der r. pr. V. d. i. durch die Freyheit, die selbst die formale Bedingung aller Maximen ist, zusammen stimmen.181 177 Ebenda, S. 354. 178 Ebenda, S. 354 f. 179 Ebenda, S. 355. 180 Ebenda. 181 Ebenda, S. 355 f.

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– Das moralische Gesetz als F a c t u m der reinen Vernunft« ist durch keine Deduktion und Erfahrung begründet. Umgekehrt: Das moralische Gesetz dient selbst zum Princip der Deduktion eines unerforschlichen Vermögens, nemlich der Freyheit als einer Causalität der r. V.182

– Der Begriff der Kausalität in der reinen spekulativen und der praktischen Vernunft. – Der untrennbare Zusammenhang von Kausalität, Freiheit und freiem Wille – zum objektiven Charakter des »blos practischen« Gebrauchs des Begriffs der »Causalität«: Daß ich aber zu diesem Gebrauche befugt bin, erhellet daraus, weil sich ohne den Begriff der Causalität schlechterdings kein reiner Wille, d. h. ein reiner Verstand, der durch die blosse Vorstellung eines Gesetzes practisch ist, denken läßt: indem der Begriff der Causalität in dem Begriffe eines Willens, mithin in dem Begriffe eines reinen Willens, der Begriff einer Causalität mit Freyheit schon enthalten ist, dergestalt, daß wenn ich einen reinen Willen setze, auch der Begriff der Causalität nothwendig voraus gesetzt werden muß. Daß aber ein solcher reiner Wille, oder eine solche reine pract. Vernunft objektive Realität habe, beweist das allgemeine moralische Gesetz, das als ein Factum der reinen Vernunft unleugbar ist.183

– Das Praktische der reinen Vernunft: Unter dem Begriffe eines Gegenstandes der r. pr. V. versteht der Hr. Verf. die Vorstellung eines Objects, in wie fern die Würklichwerdung desselben (die physische Möglichkeit dazu vorausgesetzt) durch die Handlung, wodurch das Object würklich werden soll, m o r a l i s c h möglich ist.184

– Das moralische Gesetz bewertet das »Gute« und das »Böse« in den Maximen und Handlungen; es gibt kein Gutes oder Böses an sich, welches vorausgesetzt wird: Hieraus erklärt sich das Paradoxon der Methode in einer Critik der practischen Vernunft, nach welcher der Begriff des Guten und Bösen nicht dem moralischen Gesetze vorausgeschickt, sondern jener Begriff erst nach diesem Gesetze, und durch dasselbe selbst bestimmt werden muß.«185

– Gut und Böse durch Erfahrung bestimmt, schließt die Möglichkeit praktischer Gesetze a priori aus: Und diese Bemerkung enthält nach dem Hrn. Verf. den veranlassenden Grund aller Verirrungen der Philosophen (die eine der seinigen entgegengesetzte Methode befolgten) in Ansehung des obersten Princips der Moral.186 182 Ebenda, S. 356. 183 Ebenda, S. 357. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 55. 184 GgZ, 43. St. vom 28. Mai 1788, S. 357. 185 Ebenda, S. 358. 186 Ebenda.

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– Es muß Causalität der Vernunft durch Freyheit vorausgehen, ehe und bevor die Begriffe vom Guten und Bösen statt haben können.187

– Die Tafel der »Categorien der Freyheit in Ansehung des Guten und Bösen«, um das »Mannigfaltige der Begehrungen« zu erklären und der Einheit des Bewußtseyns einer im moralischen Gesetze gebietenden practischen Vernunft oder eines reinen Willens a priori zu unterwerfen.188

– Die Urteilskraft der praktischen Vernunft: Überprüfen der Maxime der Handlung – Maßstab: Das moralische Gesetz muß die Handlung bestimmen. Da das wesentliche alles sittlichen Werths der Handlungen darauf ankömmt, daß das moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimmt; so darf auch keine andere T r i e b f e d e r ausser dem moralischen Gesetze gesucht werden; sondern dieses Gesetz muß die Triebfeder selbst seyn, dadurch, daß es auch s u b j e c t i v e r Bestimmungsgrund der Handlung wird, indem es auf die Sinnlichkeit des Subjects Einfluß hat, und ein Gefühl bewirkt, welches dem Einfluß des Gesetzes auf den Willen beförderlich ist.189 Achtung für das moralische Gesetz ist also die einzige und zugleich unbezweifelte moralische Triebfeder, und muß auch als positive aber indirecte Würkung des moralischen Gesetzes aufs Gefühl, so fern jenes den hindernden Einfluß der Neigungen durch Demüthigung des Eigendünkels schwächt, mithin als subjectiver Grund der Thätigkeit, d. i. als T r i e b f e d e r zu Befolgung desselben, und als Grund zu Maximen eines ihm gemässen Lebenswandel angesehen werden.190

Im Weiteren setzte Ewald folgende Schwerpunkte: – Das moralische Interesse als Triebfeder des Willens. – Die Pflicht und das moralische Gesetz: Der Begriff der Pflicht fordert also an der Handlung, o b j e c t i v , Uebereinstimmung mit dem Gesetze, an der Maxime der Handlung aber, s u b j e c t i v , Achtung fürs Gesetz, als die alleinige Bestimmungsart des Willens durch dasselbe. Man handelt aus P f l i c h t, wenn Achtung für das Gesetz, p f l i c h t m ä ß i g aber nur, wenn Neigungen blos die Bestimmungsgründe des Willens gewesen sind, obgleich die Handlung mit dem moralischen Gesetze übereinstimmt. Im ersten Fall hat die Handlung M o r a l i t ä t, im zweyten blos L e g a l i t ä t.191

– Die Identität von moralischem Gesetz und göttlichem Gesetz (das Evangelium als Ideal der sittlichen Gesinnung). Sichtlich ergriffen von Kants moralphilosophischen Prinzipien und ihrer vertieften Grundlegung beendet Ewald seine Darlegung: 187 188 189 190 191

GgZ, 44. St. vom 31. Mai 1788, S. 361. Ebenda, S. 362. Ebenda, S. 363. Ebenda, S. 364. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 79. GgZ, 44. St. vom 31. Mai 1788, S. 365.

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Wir beschließen noch mit folgender Stelle, die gewiß zur rechten Zeit kommt, unsere Anzeige, die wir mit Gewalt abbrechen müssen, um uns durch die Gewalt der Ueberzeugung und den bis zur stärksten Kraft condensirten gedanken- und wahrheitsvollen Ausdruck nicht noch weiter als bereits geschehen, über die Grenzen, die uns unsere Blätter setzen, fortreißen zu lassen.192

Zum Schluss ließ er Kant selbst zu Wort kommen: Die sittliche Stufe, worauf der Mensch (aller unserer Einsicht nach auch jedes vernünftige Geschöpf) steht, ist Achtung fürs moralische Gesetz. Die Gesinnung, die ihm, dieses zu befolgen, obliegt, ist, es aus Pflicht, nicht aus freiwilliger Zuneigung und auch allenfalls unbefohlener, von selbst gern unternommener Bestrebung zu befolgen, und sein moralischer Zustand, darin er jedesmal sein kann, ist T u g e n d, d. i. moralische Gesinnung im K a m p f e, und nicht H e i l i g k e i t im vermeintlichen B e s i t z e einer völligen R e i n i g k e i t der Gesinnung des Willens [...] und darüber ihrer Schuldigkeit, an welche sie doch eher denken sollten als an Verdienst, zu vergessen.193

Ewald hat sich auf Kants Konstitution des Moralgesetzes konzentriert. Wie gleichdenkende Zeitgenossen sah auch er in der stringenten Bestimmung des Prinzips der Moralität den Höhepunkt der Ausarbeitung der kritischen Philosophie durch Kant.

4.8. Die Rezension zu Kants Schrift »Kritik der Urteilskraft« (1790) Ewald hat die schwierige Aufgabe unternommen, in einer zweiteiligen Rezension die systemschließende Bedeutung der dritten Kritik von Kant vorzustellen. In aller Bescheidenheit sah er sein Bemühen darin, »für den Leser, als kurzer Fingerzeig auf die Quelle selbst!«194 zu dienen. Die Vorrede und die ersten Teile der Einleitung zugrunde legend, umriß er das Vorhaben Kants, die Stellung, den Inhalt und die Bedeutung der »Urteilskraft« im Erkenntnisvermögen des Menschen zu bestimmen: Nachdem Hr. K a n t in der Critik der reinen Vernunft dem V e r s t a n d e, der allein constitutive Principien a priori in Ansehung des Erkenntnißvermögens an die Hand geben kann, und der V e r n u n f t, die nur in Ansehung des Begehrungsvermögens dergleichen enthält, in der Critik der practischen Vernunft die Grenze bestimmt hat; so beschäftiget sich gegenwärtige Critik der Urtheilskraft mit der Frage: ob auch die U r t h e i l s k r a f t, dieses Mittelglied zwischen Verstand und Vernunft, für sich Principien a priori habe, ob diese constitutiv, oder blos regulativ sind, und ob sie dem Gefühle der Lust und Unlust, als dem Mittelgliede zwischen Erkenntniß- und Begehrungsvermögen, a priori die Regel gebe.195 192 193 194 195

Ebenda, S. 365 f. Ebenda, S. 366. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 84 f. GgZ, 78. St. vom 29. September 1790, S. 723. GgZ, 77. St. vom 25. September 1790, S. 710.

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Da die Suche nach einem Prinzip der »Urteilskraft« notwendig, aber schwierig ist, weil es weder aus Begriffen a priori (dem Verstand vorbehalten) abgeleitet werden kann, noch eine objektive Regel sein darf (die wiederum eine andere Urteilskraft erfordert), so wird jeder Freund vom Denken dies Werk mit der dankbaren Ehrfurcht in die Hand nehmen, die seinem Verf. gebühret, und wir wollen versuchen, seine Gedankenfolge mit aller Treue zu referiren.196

Ewald unternahm den Versuch, Kants Vorstellung von der Stellung und der Funktion der Urteilskraft im transzendentalen Erkenntnisvermögen des kritischen Systems dem Leser sachlich und folgerichtig nahezubringen. Es geschah nach der Einleitung der Schrift in konzentrierter Form, so dass nur Leser, die mit Kants Philosophie vertraut waren, der komprimierten Darstellung folgen konnten. Vorauszuschicken ist, dass Ewald die »bestimmende Urteilskraft«, d. h. Empirisches unter bekannte Regeln zu subsummieren, als selbstverständlich voraussetzte. Er warf, Kant folgend, die Frage auf: Sollte nun nicht auch die Urtheilskraft, dieses Mittelglied zwischen Verstand und Vernunft, schon nach der Analogie, wenn gleich nicht eine eigene Gesetzgebung, doch ein ihr eignes Princip, nach Gesetzen zu suchen, allenfalls ein blos subjectives a priori in sich enthalten?197

Diese Vermutung, so Ewald, habe sich bestätigt. Er formulierte seine Antwort: Ja, die Urtheilskraft ist ein a priori g e s e t z g e b e n d e s Vermögen. Denn die reflectirende Urtheilskraft, d. i. die das Allgemeine finden soll, wenn ihr das Besondere, die so mannichfaltigen Modificationen der allgemeinen transcendentalen Naturbegriffe, gegeben ist, bedarf eines Princips, welches sie nicht von der Erfahrung entlehnen kann, weil es eben die Einheit aller empirischen Principien [...] begründen soll; kurz, sie bedarf eines Princips für sich selbst.198

Ewald benannte die Qualität der begrifflichen Bestimmung des Prinzips durch Kant: Und dieses Princip ist die Z w e c k m ä ß i g k e i t d e r N a t u r in ihrer Mannichfaltigkeit, d. i. die Natur wird durch diesen Begriff so vorgestellt, als ob ein Verstand, nicht der unsrige, den Grund der Einheit des Mannichfaltigen ihrer empirischen Gesetze enthalte. Da nun ein transcendentales Princip dasjenige ist, durch welches die allgemeine Bedingung a priori vorgestellt wird, unter der allein Dinge Objecte unserer Erkenntniß überhaupt werden können , und da die Maximen der Urtheilskraft, z. B. lex parsimoniae, lex continui in natura etc. die der Nachforschung der Natur a priori zum Grunde gelegt werden, nur auf die Möglichkeit der Erfahrung, oder einer gewissen Art der Erkenntniß überhaupt geben: so ist das Princip der formalen Zweckmäßigkeit der Natur ein transcendentales.199 196 Ebenda, S. 711. 197 Ebenda. 198 Ebenda. 199 Ebenda. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 181 f.

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Auch hinsichtlich der Gefühle der Lust befriedige der Begriff der »Zweckmäßigkeit« das Bedürfnis, die »Allgemeinheit der Principien für die Mannichfaltigkeit der besondern Gesetze der Natur aufzusuchen«. Denn: Die mit dem Begriff der Zweckmäßigkeit verbundene Lust bzw. Unlust kann nicht anderes erfassen, als dessen »Angemessenheit« im Verhältnis »zu den Erkenntnißvermögen«, »die in der reflectirenden Urtheilskraft im Spiele sind«.200 Ewald schlussfolgerte: Die Vorstellung, die einen solchen Gegenstand unter diesen Begriff bringt, erfasst eine blos subjective, formale Zweckmäßigkeit des Objects [...] so ist sie folglich eine ästhetische Vorstellung.201

Auf die Dualität der »reflektierenden Urteilskraft« hinsichtlich der unterschiedlichen Qualität der Zweckmäßigkeit im Erkenntnisvorgang ging Ewald prägnant ein: Beurtheilen wir hingegen die Zweckmäßigkeit der Natur nicht durch Geschmack, (ästhetisch, vermittelst des Gefühls der Lust,) sondern durch Verstand und Vernunft, (logisch, nach Begriffen, insbesondere nach dem Begriffe der Zwecke,) so ist die Vorstellung davon l o g i s c h . Daher Critik der ä s t h e t i s c h e n, und Critik der t e l e o l o g i s c h e n Urtheilskraft.202

Die von Kant vollzogene Verknüpfung des Verstandes und der Vernunft durch das Potential des Begriffs der Zweckmäßigkeit der reflektierenden Urteilskraft sah auch Ewald als deren systemschließende Rolle im Ideengebäude Kants an. Der Zweck der Natur und der Freiheit konnte so zu einer ganzheitlichen Verbindung gebracht werden. Er meinte: Wenn nun endlich durch den Begriff einer Zweckmäßigkeit der Natur, den die Urtheilskraft a priori und ohne Rücksicht aufs Practische an die Hand gibt, zugleich die Möglichkeit erkannt wird, daß die Würkung nach dem Freiheitsbegriffe als Endzweck in der Sinnenwelt, mithin im Gebiethe des Verstandes existiere: so verknüpft folglich die Urtheilskraft die Gesetzgebungen des Verstandes mit denen der Vernunft. So weit die Einleitung.203

Ewald wandte sich zunächst der »ästhetischen Urteilskraft« zu. Sie untersuche das Vermögen des »Geschmacks«, welches bestrebt ist, nach der »Qualität« einen Gegenstand oder eine Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen oder Mißfallen o h n e a l l e s I n t e r e s s e zu beurtheilen, von welchem Wohlgefallen der Gegenstand S c h ö n heißt.204

Weiterhin werde das Geschmacksurteil nach der »Quantität« (»Schön ist das, was ohne Begriff allgemein gefällt« 205), nach der »Relation der Zwecke« (»Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, so fern sie o h n e V o r 200 GgZ, 77. St. vom 25. September 1790, S. 711. 201 Ebenda, S. 712. 202 Ebenda, S. 712. 203 Ebenda. 204 Ebenda. 205 Ebenda.

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s t e l l u n g e i n e s Z w e c k e s an ihm wahrgenommen wird«206) sowie nach der »Modalität« (»Schön ist, was ohne Begriff als Gegenstand eines n o t h w e n d i g e n Wohlgefallens erkannt wird« 207) abgehandelt. Ewald hob schließlich hervor: Da sich das Geschmacksurteil nicht auf objektiv begründbare Prinzipien zurückführen lasse, sondern in der subjektiven Vorstellung durch das Spiel der Gemütskräfte bestimmt wird, gebe es nach Kant keine Wissenschaft vom Schönen. Dennoch akzentuierte er im Sinne Kants die rationale Substanz in diesen Überlegungen: Das Geschmacksurtheil gründet sich auf einen Begriff eines Grundes überhaupt von der subjectiven Zweckmäßigkeit der Natur für die Urtheilskraft, aus dem aber nichts in Ansehung des Objects erkannt und bewiesen werden kann; es bekommt aber durch eben denselben doch zugleich Gültigkeit für jedermann, weil der Bestimmungsgrund desselben vielleicht im Begriffe von einem übersinnlichen Substrate der Menschheit [sensus communis] liegt.208

Ewald widmete sich dann umfassend den Vorstellungen Kants über die »teleologische Urteilskraft«. Hier legte er den Schwerpunkt auf den Zusammenhang von Naturmechanismus und Naturzwecken bei der Erklärung von natürlichen Vorgängen. Aus Kants Vorstellungen hat Ewald folgende Themen und Probleme hervorgehoben: – Obwohl sich eine »objective Zweckmäßigkeit der Natur« in den Dingen und aus der Erfahrung nicht nachweisen lasse, hat man diese o b j e c t i v e Zweckmäßigkeit gebraucht, um die Zufälligkeit der Natur in ihrer Form daraus zu beweisen [...].209

– Den Mechanismus der Natur unter dem Blickwinkel der Kausalität der Zwecke zu sehen, bedeutet nicht, diesen zu erklären, sondern ihn nur reflektierend zu betrachten. Folglich gehört diese teleologische Beurtheilung zur reflectirenden, nicht bestimmenden Urtheilskraft.210

– Ein Naturprodukt kann nur als Naturzweck (Verhältnis von Ursache und Wirkung) angesehen werden, w e n n e s v o n s i c h s e l b s t U r s a c h e u n d W ü r k u n g i s t [und] daß die Erhaltung des einen von der Erhaltung des andern wechselweise abhängt. [Der Baum], den er erzeugt, ist von derselben Gattung, und so erzeugt er sich selbst der Gattung nach [...].211

– Wenn sich unter dieser Voraussetzung die Teile zur Einheit eines Ganzen verbinden, so dass die Verknüpfung der wirkenden Ursachen als »Endursache« betrachtet werden kann, dann ergibt sich: 206 Ebenda. 207 Ebenda, S. 713. 208 Ebenda, S. 714. 209 GgZ, 78. St. vom 29. September 1790, S. 717. 210 Ebenda. 211 Ebenda, S. 718.

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In einem solchen Producte der Natur wird ein jeder Theil so, wie er nur durch alle übrige da ist, auch als um der andern und des Ganzen willen existirend ist, als Organ, und zwar als ein die andern Theile hervorbringendes Organ gedacht, und nur dann und darum wird ein solches Product als o r g a n i s i r t e s und s i c h s e l b s t o r g a n i s i r e n d e s W e s e n ein Naturzweck genannt werden können.212

– Ewald hob, gleichsam als Höhepunkt der Kantischen Erörterung der »teleologischen Urteilskraft«, deren regulatives Prinzip zur Bestimmung von Zwecken im System der Natur besonders hervor: E i n o r g a n i s i r t e s P r o d u c t d e r N a t u r i s t d a s, i n w e l c h e m a l l e s Z w e c k, u n d w e c h s e l s e i t i g a u c h M i t t e l i s t. Ein Princip, das zwar seiner Veranlassung nach von Erfahrung abzuleiten ist, das aber wegen seiner Allgemeinheit und Nothwendigkeit irgend ein, wenn gleich blos regulatives, Princip a priori zum Grunde haben muß. Man nenne daher obbenanntes Princip eine M a x i m e der Beurtheilung der innern Zweckmäßigkeit organisierter Wesen.213

– Der Unterschied und der Zusammenhang von zwei Prinzipien der Naturbetrachtung: Die Physik abstrahiert gänzlich von der Frage: Ob die Naturzwecke es absichtlich, oder unabsichtlich sind [...].214

Die Teleologie sieht in der Zweckmäßigkeit des Naturprodukts eine von außen hineingetragene Absicht. Aber es bleibt dahingestellt, ob nicht in dem uns unbekannten innern Grunde der Natur selbst die physisch-mechanische, und die Zweckverbindung an demselben Dinge, in einem Princip zusammenhängen mögen.215

– Da der Begriff des Naturzwecks sich auf etwas Uebersinnliches bezieht, und folglich auch für uns nicht erkennbar ist [...] kann der Begriff einer objektiven Zweckmäßigkeit der Natur, nur ein kritisches Princip der Vernunft für die reflectirende Urtheilskraft seyn.216 [Mit der] Mechanik der Natur muß aber das Princip der Zwecke verbunden werden, weil es doch ein heuristisches Princip ist, den besondern Gesetzen der Natur nachzuforschen.217

– Unter diesem Vorzeichen ging Ewald auf Kants Kritik an Spinoza ein: Spinoza nennt zum Erklärungsgrunde blos die Einheit des Subjects, dem die Dinge der Natur als Accidentien inhäriren. Aber, alles zugegeben, ist doch jene ontologische Einheit darum noch nicht sofort Z w e c k e i n h e i t, und macht diese keinesweges begreiflich.218 212 Ebenda, S. 719. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 5, §§ 65, 66, S. 372–377. 213 GgZ, 78. St. vom 29. September 1790, S. 719. 214 Ebenda, S. 720. 215 Ebenda. 216 Ebenda, S. 721. 217 Ebenda, S. 721 f. 218 Ebenda, S. 721.

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– Der Mensch als einziges Vernunftwesen, kann aus einem Aggregate von zweckmäßig gebildeten Dingen durch seine Vernunft ein System der Zwecke machen [...] so ist er auch der letzte Zweck der Schöpfung hier auf Erden. Das bedeutet, daß der Mensch nicht nach individueller »Glückseligkeit« streben darf, »denn seine Natur ist nicht von der Art, irgendwo im Besitze und Genusse aufzuhören und befriedigt zu werden; auch verschont den Menschen die Natur in ihren verderblichen Würkungen so wenig, als jedes andere Thier; und er arbeitet an der Zerstörung seiner Gattung.

Aber er hat die Aufgabe als »Menschengattung« die »Cultur des Menschen« in der »bürgerlichen Gesellschaft« für das »weltbürgerliche Ganze« zu entwickeln.219 Ewald schloss die Rezension mit der Quintessenz, zu der Kant die Entwicklung seines Systems in diesem Werk zum Abschluss gebracht hat. Er würdigte die Explikation der Zielsetzung und der Prinzipien seines kritischen Denkens als Aufforderung an das Vernunftwesen Mensch, die Selbstgestaltung seiner Existenz an diesen Grundsätzen zu orientieren; denn: Die »Weisheit für einen Entzweck« [sic!] bestehe für den Menschen nicht »in Beziehung auf die Summe seiner Lust«: Also liegt nur in der Freyheit seines Begehrungsvermögens dasjenige, wodurch sein Daseyn allein einen absoluten Werth erhält. Das moralische Gesetz verbindet uns für sich allein; aber es macht uns doch auch verbindlich, dem höchsten durch Freyheit möglichen G u t e i n d e r W e l t nachzustreben. Das höchste in der Welt mögliche, und so viel an uns ist, als Entzweck [sic!] zu befördernde physische Gut ist Glückseeligkeit, unter der objectiven Bedingung der Einstimmung des Menschen mit dem Gesetze der Sittlichkeit, als der Würdigkeit, glücklich zu seyn. Von diesem Zwecke läßt sich die physische Möglichkeit der Bewürkung nicht denken, ohne eine moralische Welt­ ursache. Doch so viel für den Leser, als kurzer Fingerzeig auf die Quelle selbst.220

Ewalds »Fingerzeig« auf den Inhalt der Kantschen »Kritik der Urteilskraft« erstreckte sich über alle wesentlichen Probleme der Betrachtung des natürlichen und moralischen Bereichs unter dem Aspekt der Zweckmäßigkeit. Er förderte, ungeachtet der komprimierten und oft thesenartigen Vorstellung des Inhalts, die vertiefte Einsicht in die Systemkonstitution der kritischen Philosophie und ihres transzendentalen Charakters. Er gab zudem Einblicke in die Bestrebungen Kants zur ganzheitlichen und dynamisch-reproduktiven Gestaltung seiner Vorstellungen. Die ungebrochene Aufmerksamkeit der GgZ, und damit Ewalds, für Kants Systemausarbeitung seines kritischen Denkens, insbesondere für die Präzisierung seiner transzendentalen Struktur, beweist die »Anzeige« der zweiten Auflage der »Kritik der Urteilskraft« (1793) vom 30. April 1794. Obgleich der Rezensent bemerkte, dass das Werk »keine in das Ganze eingreifende Veränderungen 219 Ebenda, S. 722. 220 Ebenda, S. 723.

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erlitten hat« 221 und »correcter als die erste [Auflage], in Styl und Druck ist«,222 wies er auf eine hinzugekommene Anmerkung hin, die auf S. XXII der Einleitung zu finden ist. Aus dieser wichtigen Anmerkung Kants hob Ewald zwei Aspekte hervor. Erstens habe Kant bei der Gesamtbetrachtung der oberen Erkenntnisvermögen (Verstand, Urteilskraft, Vernunft) auf das zu billigende Bestreben aufmerksam gemacht, empirischen Begriffen ihre transzendentale Grundlegung zu suchen. Ewald zitierte Kant: Es ist von Nutzen, sagt die Anmerkung, zu Begriffen, welche man als empirische Principien braucht, wenn man Ursache hat zu vermuthen, daß sie mit dem reinen Erkenntnißvermögen a priori in Verwandtschaft stehen, dieser Beziehung wegen eine transscendentale Definition zu versuchen, so fern diese allein schon den Unterschied des Begriffs von andern hinreichend angeben.223

Zweitens verteidigte Ewald Kants Definition des Begehrungsvermögens (»Kritik der praktischen Vernunft«, Vorrede, S. 16), die Kant in der genannten Anmerkung bekräftigte. Ewald hat zur Verteidigung dieser fundamentalen Qualität des transzendentalen Vermögens im kritischen System Kant selbst zu Wort kommen lassen. Er stellte fest: Der Hr. Verfasser hatte (Krit. d. p. Vern. S. 16 Vorr.) auf ähnliche Art das B e g e h r u n g s v e r m ö g e n definirt, als das Vermögen durch seine V o r s t e l l u n g e n Ursache von der Wirk l ichkeit der Gegenstände dieser V o r s t e l l u n g e n z u s e y n. Gegen diese Definition hatte man erinnert, daß blosse Wünsche doch auch Begehrungen wären, von denen sich gleichwohl jeder bescheide, daß er durch dieselben allein ihr Object nicht hervorbringen könne.224

Unter Auslassung von Beifügungen und Adjektiven zitierte er Kant: Ob wir uns nun gleich, ist die Antwort auf diesen Einwurf, in dergleichen Begehrungen der Unzulänglichkeit unserer Vorstellungen, Ursache ihrer Gegenstände zu seyn, bewußt sind; so ist doch die Beziehung derselben als Ursache, mithin die Vorstellung ihrer Causalität, in jedem Wunsche enthalten, und vornehmlich alsdann sichtbar, wenn dieser ein Affect, nehmlich Sehnsucht, ist. Die Kräfte werden doch durch Vorstellungen wiederholentlich angespannt. Selbst die Gebete um Abwendung sichtbarlich unvermeidlicher Uebel, und manche abergläubische Mittel zur Erreichung natürlichunmöglicher Zwecke, beweisen die Causalbeziehung der Vorstellungen auf ihre Objecte.225

Auch diese hier genannten Hinweise auf Kants Bestreben, das transzendentalphilosophische Fundament seines Systems zu festigen bzw. zu verteidigen, zeigen das vitale Interesse Ewalds an der kritischen Denkungsart. 221 222 223 224 225

GgZ, 35. St. vom 30. April 1794, S. 308. Ebenda, S. 309. Ebenda, S. 308. Ebenda. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 9. GgZ, 35. St. vom 30. April 1794, S. 308 f.

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4.9. Die Rezension zu Kants Streitschrift gegen Johann August Eberhard (1790) Kant selbst griff bekanntlich mit der zur Ostermesse 1790 erschienenen Streitschrift »Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll«, die gegen Johann August Eberhard, den Herausgeber des antikantischen »Philosophischen Magazins« (Bd. 1–4, Halle 1788–1792), gerichtet war, in die Auseinandersetzung um fundamentale Positionen seines kritischen Denkens ein. Am 23. Oktober 1790 wurde die Schrift in den GgZ rezensiert. Einleitend stimmte Ewald erfreut der Selbstverteidigung Kants zu: Man hat sich oft darüber gewundert, wohl gar beklagt, daß K a n t zu alle den Einwendungen, die seiner Critik der reinen Vernunft gemacht würden, schwiege, ohngeachtet Er in der Vorrede zur zweyten Auflage derselben die Ursache, warum Er sich in keine Streitigkeiten einlassen könne, und die Aufhellung sowohl der in diesem Werke anfangs kaum vermeidlichen Dunkelheiten, als die Vertheidigung des Ganzen von den verdienten Männern, die es sich zu eigen gemacht hätten, erwarte, erkläret hat.226 Hier tritt denn nun der 67jährige Greiß noch immer in voller männlicher Kraft zu seiner Vertheidigung gegen Herrn Prof. E b e r h a r d auf, und macht eine Ausnahme von seinem Vorsatze, sich in keine förmliche Streitigkeit einzulassen, um, wie Er sich S. 117 ausdrückt, ein gewisses Benehmen, das etwas Charakteristisches an sich habe, und Herrn E b e r h a r d eigen zu seyn scheine, bemerklich zu machen.227

Ewald gab einen korrekten Überblick über die Argumentationslinie der Polemik Kants gegen Eberhard, die er mit Zitaten untersetzte. Er stimmte Kants prinzipiellem Hinweis zu, dass jegliche Bewertung früherer oder aktueller Systeme der Philosophie (auch der Grundideen der Philosophie von Leibniz) fehlschlagen wird, wenn, nach Kant, der Schlüssel aller Auslegungen reiner Vernunftprodukte aus blossen Begriffen, die Critik der Vernunft selbst (als die gemeinschaftliche Quelle für alle) vernachlässigt, und, über dem Wortforschen dessen, was jene gesagt haben, dasjenige nicht sehen kann, was sie haben sagen wollen.228

Ewald schloss mit dem Rat an den Leser: Wem daran gelegen ist, sich in seinen Ueberzeugungen von der Wahrheit der kritischen Philosophie zu bestätigen, oder wem es ein würklicher Ernst ist, seine Zweifel und Bedenklichkeiten in Ansehung mancher Materien derselben gehoben zu sehen, muß diese polemische Schrift selbst lesen, und er wird gewiß, so wie Recensent, 226 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B. XXIII f. 227 GgZ, 85. St. vom 23. Oktober 1790, S. 784. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 246, 251. 228 GgZ, 85. St. vom 23. Oktober 1790, S. 786.

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Zweite Phase: Profilierung philosophischen Denkens 1781–1790

vollkommen befriediget, und zur Verehrung der großen Talente des Königsbergis. Philosophen hingerissen werden.229

Mit der Rezensierung der Begründungs- und Konstitutionsschriften der kritischen Philosophie Kants haben die GgZ von 1782 bis 1790 einen wertvollen Beitrag zur Verbreitung, zur authentischen Interpretation und zur Verteidigung dieser das Selbstverständnis des Menschen revolutionierenden Denkweise geleistet. Es war das Verdienst Ewalds, der mit einer auch in dieser Zeit seltenen Konsequenz das transzendentalphilosophische Potential des kritischen Systems in seinen Strukturen erfasst hatte und als Agens und Movens des Vernunftvermögens anerkannte und nicht wieder aufgab. Diese Position bestimmte Ewalds Auseinandersetzung mit Spinoza und prägte seine staatstheoretischen Vorstellungen.

5. Übersetzung und Kommentierung von Schriften Baruch de Spinozas Es war wohl für Ewald folgerichtig, dass er sich als Verehrer bzw. Anhänger von Lessing, Mendelssohn und Kant sowie infolge seiner illuminatisch geprägten Vorstellung zur liberalen Reformierung gesellschaftlicher Zustände einem Denker von europäischem Format, wie Spinoza, zuwandte. Obwohl dieser offiziell totgeschwiegen wurde oder in den Diskussionen um Grundprobleme der Zeit übergangen wurde, wirkte sein Ideenpotential in die aktuellen Auseinandersetzungen hinein. Mit der Übersetzung zweier Traktate von Spinoza in den Jahren 1784/85 hatte sich Ewald, neben seinen anthropologischen Betrachtungen, in die Bestrebungen derer eingebracht, die um die fundierte Erklärung des menschlichen Seins rangen und unter diesem Vorzeichen für selbstbestimmtes Denken und Handeln eintraten. Die Auswahl der übersetzten Abhandlungen zeigt, dass Ewald, nunmehr schon ausgewiesener Anhänger der kritischen Philosophie Kants, zum einen an Spinozas Vorstellungen zur gesicherten Selbsterkenntnis des Menschen interessiert war. Zum anderen beeindruckten ihn Spinozas Anschauungen über die Gestaltung von staatlichen Gemeinschaften, die das Lebensrecht des Einzelnen gewährleisten und schützen. Als Ewald im Sommer 1785 seine ausführliche Rezension zu Kants »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« veröffentlichte, hatte er die Spinoza-Übersetzung auf den Weg gebracht.

229 Ebenda.

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vollkommen befriediget, und zur Verehrung der großen Talente des Königsbergis. Philosophen hingerissen werden.229

Mit der Rezensierung der Begründungs- und Konstitutionsschriften der kritischen Philosophie Kants haben die GgZ von 1782 bis 1790 einen wertvollen Beitrag zur Verbreitung, zur authentischen Interpretation und zur Verteidigung dieser das Selbstverständnis des Menschen revolutionierenden Denkweise geleistet. Es war das Verdienst Ewalds, der mit einer auch in dieser Zeit seltenen Konsequenz das transzendentalphilosophische Potential des kritischen Systems in seinen Strukturen erfasst hatte und als Agens und Movens des Vernunftvermögens anerkannte und nicht wieder aufgab. Diese Position bestimmte Ewalds Auseinandersetzung mit Spinoza und prägte seine staatstheoretischen Vorstellungen.

5. Übersetzung und Kommentierung von Schriften Baruch de Spinozas Es war wohl für Ewald folgerichtig, dass er sich als Verehrer bzw. Anhänger von Lessing, Mendelssohn und Kant sowie infolge seiner illuminatisch geprägten Vorstellung zur liberalen Reformierung gesellschaftlicher Zustände einem Denker von europäischem Format, wie Spinoza, zuwandte. Obwohl dieser offiziell totgeschwiegen wurde oder in den Diskussionen um Grundprobleme der Zeit übergangen wurde, wirkte sein Ideenpotential in die aktuellen Auseinandersetzungen hinein. Mit der Übersetzung zweier Traktate von Spinoza in den Jahren 1784/85 hatte sich Ewald, neben seinen anthropologischen Betrachtungen, in die Bestrebungen derer eingebracht, die um die fundierte Erklärung des menschlichen Seins rangen und unter diesem Vorzeichen für selbstbestimmtes Denken und Handeln eintraten. Die Auswahl der übersetzten Abhandlungen zeigt, dass Ewald, nunmehr schon ausgewiesener Anhänger der kritischen Philosophie Kants, zum einen an Spinozas Vorstellungen zur gesicherten Selbsterkenntnis des Menschen interessiert war. Zum anderen beeindruckten ihn Spinozas Anschauungen über die Gestaltung von staatlichen Gemeinschaften, die das Lebensrecht des Einzelnen gewährleisten und schützen. Als Ewald im Sommer 1785 seine ausführliche Rezension zu Kants »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« veröffentlichte, hatte er die Spinoza-Übersetzung auf den Weg gebracht.

229 Ebenda.

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5.1. Ewalds erste Übersetzung von Abhandlungen Spinozas Schon zur Ostermesse 1785 wurde Ewalds Übersetzung zweier Abhandlungen von Spinoza anonym und verstümmelt registriert.230 Die Schrift erschien unter dem Titel »Benedikt von Spinoza. Zwey Abhandlungen über die Kultur des mensch­ lichen Verstandes und über die Aristokratie und Demokratie. Herausgegeben und mit einer Vorrede begleitet von S. H. Ewald, Herzogl. Sachsengothaischen Sekretärs, Leipzig 1785« (Prag 1786).231 Er hatte damit vor dem Erscheinen der Schrift von Friedrich Heinrich Jacobi »Über die Lehre des Spinoza, in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn« (Breslau 1785), die bekanntlich den heftigen Streit um die Beurteilung der Philosophie Spinozas auslöste,232 auf seine Weise die Rezeption und die tolerante Betrachtung des spinozistischen Denkens befördert. Denn Jacobi hat die Niederschrift des »Vorberichts« zu seiner Schrift auf den 28. August 1785 datiert, so dass das Buch erst zum Herbst des gleichen Jahres erschienen ist. Ewald wies im »Vorbericht« zur ersten Abhandlung von Spinoza mit dem Titel »Tractatus de intellectus emendatione et de via, qua optime in verum rerum cognitionem dirigitur« 233 darauf hin, dass diese eine Art von praktischer Vernunft230 Vgl. Meßkatalog, Leipzig, Ostermesse 1785, S. 93. »Spinoza, B. von, Von der Kultur des Verstandes. 8. Prag und Wien, in der Schönfeldschen Buchhandlung.« Zu Ewalds SpinozaÜbersetzungen: vgl. Eva Schürmann / Norbert Watzek / Frank Weinreich (Hrsg.): Spinoza im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts, Stuttgart / Bad Cannstatt 2002, S. 39–45, 71–79. 231 GgZ, 19. St. vom 8. März 1786, S. 153. In der Anzeige bzw. Rezension zur Schrift von Ewald wird auf folgende Mängel, wohl durch Ewald angeregt, hingewiesen: »Auf dem Titel ist Einiges in der Druckerey willkürlich verändert worden. Die zweyte Abhandlung sollte heißen: Ueber die beste Einrichtung der Monarchie etc. und statt Herausgegeben sollte Uebersetzt stehen, zwischen welchen Worten doch ein großer Unterschied ist. Da übrigens das Buch von Druckfehlern wimmelt, die oft den Vortrag unverständlich machen, und verschiedene Stellen ganz ausgelassen und aus dem Zusammenhange gerissen worden, so würden die Leser wohl thun, den Gebrauch desselben bis zur Erscheinung des Erraten­ verzeichnisses, das die Verlagshandlung auf Ersuchen nachliefern wird, anstehen zu lassen.« 232 Vgl. Ursula Goldenbaum, Der Pantheismusstreit als Angriff auf die Berliner Aufklärung und Judenemanzipation, in: Aufklärung, Bd. 21, Jg. 2009, S. 204 ff. 233 Ewalds Übersetzung des Titels: Von der Kultur des Verstandes und den besten Mitteln, wodurch er zur Erkenntnis der Wahrheit geleitet wird. Vgl. dazu: Baruch de Spinoza. Sämtliche Werke, hrsg. von Carl Gebhardt, Bd. 2, Leipzig 41922, S. XXX. Gebhardt bemerkte: »Die erste Übersetzung der Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes ist gleichzeitig mit der ersten Übersetzung der Abhandlung vom Staate erschienen: Benedict von Spinoza, zwei Abhandlungen über die Kultur des menschlichen Verstandes und über die Aristokratie und Demokratie. Herausgegeben und mit einer Vorrede begleitet von S(chack) H(ermann) Ewald, Herzogl. Sachsengothaischen Sekretärs, Leipzig 1785. Die Übersetzung ist im allgemeinen gut, wenn sie auch natürlich noch jeder Textkritik entbehrt.«

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lehre darstellt. Obwohl sie ein Fragment geblieben sei, vereine sie mit dem edelsten Zweck eine gründliche Ausführung der Mittel, um diesen zu erreichen. Dazu meinte er: Für gemeine Seelen, die sich nicht über die Sinnlichkeit erheben können, ist sie nicht geschrieben, sondern nur für solche, die sich gedrungen fühlen, die Dinge nach ihrem innern Werthe schätzen zu lernen, und nach höherer Vollkommenheit streben. Die Absicht des Verfassers ist, die Gedanken und Handlungen der Menschen zu einem Zweck, nämlich der höchsten Glückseligkeit zu leiten.234

Nachdem er den höchsten Zweck menschlichen Strebens erklärt und die Nichtigkeit niederer Motive (Reichtum, Ehre und Wollust) erwiesen habe, zeige Spinoza den Weg zur Verbesserung des Verstandes; vor allem »die Methode, welche der Verstand einschlagen müsse, um zur Erkenntniß der Wahrheit zu gelangen«.235 Ewald nannte die drei Schritte (wahre Idee erkennen, präzise Definition, Ordnen des Denkens), die nach Spinoza auf diesem Weg zu gehen sind. Er merkte an, dass der vierte Teil, die Abhandlung von der »Idee des vollkommenen Wesens« und »der Verbindung der Seele mit diesem Wesen«, fehle. Dies könne aber, so Ewald, »aus der Ethik des Verfassers« ergänzt werden, wenn man sich »in das philosophische System des Spinoza hineingedacht« hat.236 Aus diesem Hinweis ist zu entnehmen, dass Ewald schon intensiv mit der Übersetzung der »Ethik« von Spinoza beschäftigt war. Letztlich war er von der sachlichen Rationalität, die Spinoza zur Befähigung des Verstandes als Voraussetzung zur Realisierung seines moralischen Anspruchs entworfen hat, nachhaltig beeindruckt. War Ewald anhand dieser »ersten Abhandlung« bestrebt, Spinozas Denken in der Tendenz der rational orientierten Philosophie der Neuzeit, die das menschliche Erkenntnisvermögen für die Suche nach Wahrheit und Selbsterkenntnis sichtet, definiert und zur methodischen Anwendung empfiehlt, einführend vorzustellen, so hat er in der Vorrede zur »zweiten Abhandlung« eine kritische Betrachtung bzw. eine entschiedene Abrechnung mit der Verfälschung und Bekämpfung von konstruktiven gesellschaftstheoretischen Denkern der Neuzeit, insbesondere von Spinoza, durch orthodoxe Theologen und Philosophen vorgenommen. Seine Vorrede stellte eine Absage an die administrativen, dogmatischen und intoleranten Denkvorgaben des bestehenden Ständesystems dar. Hier wird sein Grundanliegen offensichtlich. Es ist sein vitales Bestreben, aus der naturrechtlichen Begründung der menschlichen Existenz, angeregt durch Denker wie Spinoza, staats- und rechtsphilosophische Vorstellungen zu entwerfen, die in einer liberal geprägten Konstitution des Staates jedem Bürger Freiräume zu seiner Lebensgestaltung ermöglichen. Mit einem Plädoyer für eine freie und unabhängige Wissenschaft begann er: 234 Spinoza, Zwey Abhandlungen über die Kultur des menschlichen Verstandes, S. IV f. 235 Ebenda, S. VII. 236 Ebenda, S. IX f.

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Es war einmal eine Zeit, da Aftertheologie ihren Schatten auf alle Wissenschaften warf, und sie in ihrer eigenen natürlichen Klarheit zu erscheinen verhinderte. Die Lehrer und Anhänger derselben verlangten, daß die Sätze der Philosophen nichts enthalten sollten, woraus sich, auch nur auf die entfernteste Weise, etwas folgern ließe, das ihrem Systeme nicht angemessen oder demselben zuwider wäre. Alle die Männer, die in dieser düstern Periode in ihrer Wissenschaft durch neue und bisher ungewöhnliche Entdeckungen Epoche machten, empfanden den mächtigen Druck dieser Hierarchie, die nie verfehlte, die Unternehmungen, Absichten, und den moralischen Charakter dieser erleuchteten Männer verdächtig zu machen, und sie zu verdammen. Welcher Schriftsteller damals in den Meinungen der Menschen selig heißen wollte, dessen Schriften mußten mit dem Stempel der Orthodoxie, auf eine in die Augen fallende Weise, bezeichnet seyn. Diesem Schicksale mußte sich das Recht der Natur und das allgemeine Staatsrecht um so mehr unterwerfen, je mehr es Sünde war, in der Idee des Menschen die Idee des Christen abzusondern; je abscheulicher das Bild war, unter welchem man sich den Menschen in einem natürlichen Zustand dachte, und in je innigerer Verbindung das Religionssystem mit dem System der Staaten und deren Regierung stand.237

Diese Orientierung Ewalds auf die reale weltliche Betrachtung menschlich-sozialen Lebens veranlasste ihn, eine von Vorurteilen freie und auf Sachverhalte gerichtete, eigenständige Wissenschaft zu fordern: Warum sollen diese Wissenschaften ihr Reich nicht allein behaupten, und die Gränzen desselben nicht soweit, als es ihre Natur gestattet, ausdehnen? Warum sollen sie einer andern Macht unterthänig seyn, sich einschränken, und ein Joch aufbürden lassen, das ihnen in allem Betracht so fremd und drückend ist?238

Wenngleich Ewald feststellte, dass auch die »Sätze des Macchiavell, des Hobbes und anderer, mehr mit Waffen der Theologie als Philosophie bekämpft« wurden, so lebten sie wenigstens in der philosophischen und politischen Literatur fort. Anders Spinoza: Keinem aber ist es ärger ergangen als Spinoza. Jene leben als philosophische und politische Schriftsteller noch immer in dem Gedächtniß und in den Schriften ihrer Nachkommen, obgleich immer noch mit dem Rufe theologischer und politischer Ketzerey. Spinoza hingegen ist als Schriftsteller, der Gegenstände des Natur- und allgemeinen Staatsrechts abgehandelt hat, ganz vergessen [...].239

Der von Spinoza verfasste und hier abgedruckte »Tractatus politicus«, so hob Ewald hervor, ist in den Schriften des Natur- und Staatsrechts nicht zu finden. Die parteiische und intolerante Verurteilung Spinozas hatte ihren Grund in dessen pantheistischer Sichtweise der Totalität des Seins. Sie wurde als elementarer Verstoß gegen das etablierte theologische Dogma und damit als Ketzerei gebrandmarkt. Ewald beschrieb diesen Vorgang: 237 Ebenda, Vorrede zur zweiten Abhandlung, S. III f. 238 Ebenda, S. IV. 239 Ebenda, S. IV f.

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Die Ursache davon ist nicht weit zu suchen. Es ist die Folge des Eindrucks, den die Stimme der Theologen und theologisirenden Philosophen auf die zu seiner Zeit lebende gelehrte Welt machte. Wegen seines T r a c t a t u s t h e o l o g i c o - p o l i t i c u s und seiner E t h i c a, ward er als der ärgste Gottesläugner, der je gelebt hat, – ob mit Recht oder Unrecht, ist hier gleichgültig – verdammt, ein Gegenstand des allgemeinsten Abscheues. Dieses laute öffentliche Urtheil pflanzte sich durch Schriften, die seine Grundsätze mit den gehässigsten Beynamen beylegten, und von Mund zu Mund auf Söhne, Enkel und Urenkel bis auf unsere Zeiten fort. Dieselben Bannstralen, die auf seine beyden Hauptwerke fielen, trafen auch die übrigen. Man las diese nicht, weil man das Gift schon von weitem darinn zu wittern glaubte, das in jenen verbreitet seyn sollte. Sie folgten dem Schicksal ihrer ältern Brüder; so wie diese allmählig ungelesen blieben, – denn man las sie anfangs blos um sie zu widerlegen – wurden auch jene vergessen.240

Die einschneidende Wirkung dieses Verdikts auf Verleger und Buchhandel hob Ewald hervor, da er gerade daran mitwirkte, dieses durch die deutsche Übersetzung von Schriften Spinozas zu durchbrechen. Und so, wie sich die Gelehrten, durch das alte tausendzüngige Gerücht scheu gemacht, fürchteten, das Buch in die Hand zu nehmen und die Lesung desselben anzutreten, so fürchteten sich die Buchhändler, neue Auflagen von einem Werke zu veranstalten, das einmal in so allgemein üblen Ruf stand, und von dessen Verlag also so wenig Vortheil zu hoffen war.« 241

Ewald hoffte, dass die »Billigkeit und Toleranz des gegenwärtigen Zeitalters« diese Übersetzung akzeptieren werde, da dieses Buch von künftigen Natur- und Staatsrechtslehrern gelesen werden sollte. Denn: Wenn gegenwärtig oder künftig einmal der Fall einträte, daß sich ein noch ganz freyes und sich selbst überlassenes Volk eine Regierungsform nach Grundsätzen wählen und einrichten wollte; oder wenn es ernstlich darauf angesehen wäre in irgend einem Staate, seine Regierungsform, sey welche sie wolle, irgend ein Gebrechen oder einen Mangel in derselben nach Grundsätzen zu verbessern oder zu ergänzen; so dürfte das gegenwärtige Büchelchen, dessen Gebäude die ersten und einfachsten Elemente zum Grunde hat, auf eine nähere Erwägung seines Inhalts von Staatsmännern vielleicht keinen unbescheidenen Anspruch machen dürfen. Bis dahin also bleibt es blos theoretischen Philosophen und Staatsrechtslehrern zur Prüfung überlassen.242

Diese vorsichtig formulierte Empfehlung der Ideen Spinozas an die Regierenden entsprach zum einen seiner freimaurerisch-illuminatischen Intention von der Reformfähigkeit des aufgeklärten absolutistischen Staatssystems im Interesse der Lebens- und Entfaltungsfähigkeit seiner Bürger. Zum anderen war es 240 Ebenda, S. V f. 241 Ebenda, S. VI. 242 Ebenda, S. VII f.

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ihm ein grundlegendes Bedürfnis, dass die Vorstellungen Spinozas nicht nur sachlich und gerecht beurteilt wurden, sondern vor allem deren anthropologisch-­ humanistischer Gehalt durch Kommunikation im Denken der Allgemeinheit verwurzelt werden sollten. Er bewies mit der Umsetzung dieses Vorhabens den Mut und die Standhaftigkeit eines Selbstdenkers, der das allgemeine Vorurteil gegen ungerechtfertigte Verunglimpfung Andersdenkender zu durchbrechen suchte.243 Ewald hat mit der Übersetzung der beiden Abhandlungen von Spinoza die Schwerpunkte seiner weiteren philosophischen Bestrebungen präzisiert bzw. sich selbst vorgegeben. Erstens beabsichtigte er, in Auseinandersetzung mit den Grundsätzen der Philosophie Spinozas, den Ausbau und die Vervollkommnung des Systems der kritischen Philosophie durch Kant zu verfolgen und zu propagieren. Zweitens interessierten ihn zunehmend die staats- und rechtsphilosophischen Probleme seiner Zeit. Der angelegte Standpunkt zu den staatstheoretischen Ideen Spinozas war für ihn der Einstieg sowohl in die weitere Übersetzung von Schriften Spinozas Ende der achtziger Jahre als auch die Ausarbeitung seiner eigenen staats- und rechtsphilosophischen Konzeption in den neunziger Jahren.

5.2. Die GgZ und die Position Ewalds im Pantheismusstreit in den Jahren von 1785 bis 1787 Die Schriften von Moses Mendelssohn, Friedrich Heinrich Jacobi, Thomas Wizenmann, Immanuel Kant, Ludwig Heinrich Jakob, Johann Gottfried Herder u. a., die sich unmittelbar am Pantheismusstreit, d. h. an der Auseinandersetzung um die Beurteilung des philosophischen Systems Spinozas beteiligten, wurden in den GgZ vorgestellt und kritisch rezensiert.244 Die Grundhaltung der GgZ in 243 Vgl. Max Grunwald, Spinoza in Deutschland, Berlin 1897, ND Aalen 1986, S. 144–147. Grunwald würdigte das mutige Wirken von Ewald für die tolerante und unparteiische Beurteilung der Philosophie von Spinoza, indem er Zitate aus den Vorreden Ewalds zu den Übersetzungen vorstellte. 244 GgZ, 20. St. vom 11. März 1786, S. 161–166 und 21. St. vom 15. März 1786, S. 169–175: Moses Mendelssohn, Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes, Berlin 1785; GgZ, 32. St. vom 22. April 1786, S. 265–271: Friedrich Heinrich Jacobi, Ueber die Lehre des Spinoza, in Briefen an den Hrn. Moses Mendelssohn, Breslau 1785 (Rezensent: Schack Hermann Ewald); GgZ, 41. St. vom 24. Mai 1786, S. 337–342: Friedrich Heinrich Jacobi, Wider Mendelssohns Beschuldigungen, betreffend die Briefe über die Lehre des Spinoza, Leipzig 1786; GgZ, 66. St. vom 19. August 1786, S. 545–550: Die Resultate der Jacobischen und Mendelssohnschen Philosophie; kritisch untersucht von einem Freywilligen, Leipzig 1786 (Rezensent: Thomas Wizenmann):

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dieser Auseinandersetzung kam exemplarisch in der Rezension vom 22. April 1786 zur Schrift von Heinrich Jacobi »Ueber die Lehre des Spinoza, in Briefen an den Hrn. Moses Mendelssohn« (Breslau 1785) zum Ausdruck. Ewald hatte sie verfasst und kritisierte in scharfer Form sowohl den unsachlichen, mit Vorurteilen behafteten Umgang Jacobis mit dem System Spinozas, als auch dessen irrationale Auffassung bzw. Begründung des Glaubens an Gott. Gleichzeitig zeigte er an, dass er sich schon im Vorgang der Übersetzung der »Ethik« von Spinoza befand. Ewald erklärte: Wir haben hier nicht Raum genug zu untersuchen, ob und in wie fern die in diesen drey Briefen gegebene Darstellung des spinozistischen Lehrgebäudes mit dem, wie es Spinoza selbst hinterlassen hat, übereinstimmt. So viel läßt sich aber zum voraus einsehen, daß hier die Sätze des spinozistischen Systems in einem andern Zusammenhange stehen, und oft mit veränderten Ausdrücken, und mit sichtbarer Rücksicht auf Eleganz und Schönheit des Styls vorgetragen sind, auch in der Darstellung selbst eine Verschiedenheit, und hier und da Unbestimmtheit und Dunkelheit herrschen müsse. Recens. ist wenigstens das System des Spinoza, in dem ersten und zweyten Theile seiner Ethik, viel deutlicher und zusammenhängender als es hier, selbst im dritten Brief, gegeben wird. Der Hauptgedanke des Hrn. J. der durch das Ganze herrscht, ist dieser: Spinozismus ist Atheismus.245

Ewald warf Jacobi vor, dass er seine Warnung vor dem Fatalismus und Atheismus, der aus dem System Spinozas nach dessen Meinung resultiere, zudem noch mit der Aufforderung verbunden habe, zur unmittelbaren Gewissheit des Glaubens zurückzukehren. Er nehme das Wort G l a u b e n in der gewöhnlichen Bedeutung, und schränkt den Begriff desselben auf j e d e s f ü r W a h r h a l t e n, d a s n i c h t a u s V e r n u n f t g r ü n d e n e n t s p r i n g t, ein [...].246

Dazu meinte Ewald: Ich kann alles, auch das ungereimteste Zeug, wenn es nur ein Gegenstand des allgemeinen Glaubens ist, für wahr halten, und zugleich auch alles als unwahr verwerfen,

GgZ, 102. St. vom 23. Dezember 1786, S. 851: Moses Mendelssohn, Abhandlung über die Evidenz in den metaphysischen Wissenschaften. Eine von der Königl. Akademie der Wissenschaften gekrönte Preisschrift [1764]. Neue Auflage, Berlin 1786; GgZ, 16. St. vom 24. Februar 1787, S. 129–133: Ludwig Heinrich Jakob, Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden, oder aller spekulativen Beweise für das Daseyn Gottes. Nebst einer Abhandlung von Herrn Professor Kant, Leipzig 1786; GgZ, 52. St. vom 30. Juni 1787, S. 426–432: Friedrich Heinrich Jacobi, David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch, Breslau 1787; GgZ, 58. St. vom 21. Juli 1787, S. 473–478: Johann Gottfried Herder, Gott. Einige Gespräche. Bey C. W. Ettinger, Gotha 1787 (Rezensent: Schack Hermann Ewald). 245 GgZ, 32. St. vom 22. April 1786, S. 266. Ewald bezog sich auf seine Übersetzung der beiden ersten Teile von Spinozas Ethik. 246 Ebenda, S. 268.

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wenn es nicht den Sinnen unterworfen ist, und blos mit der nachdenkenden Vernunft begriffen werden kann.

Ewald bedauerte, daß ein so vortreflicher Schriftsteller, als Hr. J. ist, seine ungemeinen Talente angewendet hat, die Vernunft verdächtig zu machen und dadurch der Schwärmerey und dem Aberglauben, bey diesem ohnehin zweydeutigen Geiste unserer Zeiten, eine neue Stütze und neue Autorität zu geben.247

In den Jahren von 1785 bis 1787 ist auch in dieser Zeitschrift ein lebhaftes Interesse zu spüren, sich durch informative Darstellung der Inhalte der Schriften Spinozas sowie durch kritische Argumentation an der Diskussion um die philosophische, d. h. letztlich weltanschauliche Einordnung der spinozistischen Philosophie zu beteiligen. Ausführlich und umfangreich wurden die Schriften von Moses Mendelssohn vorgestellt. Dies geschah wohl nicht nur zur Würdigung seines Lebenswerks (Mendelssohn war am 4. Januar 1786 gestorben), sondern vor allem aufgrund seines Wirkens für Religionsfreiheit und Toleranz. In dieser Diskussion spielte seine Verteidigung Lessings gegen den Vorwurf des Spinozismus sowie seine ontologisch begründete Beweisführung des Daseins Gottes eine Rolle. Die Rezensionen tragen in ihrer transparenten und sachkundigen Argumentation die Handschrift von Ewald. Seine Haltung zu dem in der Diskussion stehenden Grundproblem – Stellt die Philosophie Spinozas ein System des Fatalismus bzw. des Atheismus dar, oder ist es eine Variante des Glaubens an eine göttliche Allmacht? – soll anhand der von ihm verfassten Rezension zur Schrift von Johann Gottfried Herder »Gott. Einige Gespräche« (Gotha 1787) dargestellt werden.248 Johann Gottfried Herder »Gott. Einige Gespräche« Vorauszuschicken ist die Feststellung, dass zum einen Kant die Polemik mit den Vorstellungen von Mendelssohn und Jacobi hinsichtlich deren dogmatischer Begründung des Daseins Gottes und der Einordnung der Philosophie Spinozas schon beendet hatte,249 als die Schrift Herders erschien. Zum anderen veröffentlichte Ewald 1787 seine Übersetzung des »Tractatus theologico-politicus« von Spinoza. 247 Ebenda. 248 Vgl. GgZ, 58. St. vom 21. Juli 1787, S. 474. In der hier von Ewald veröffentlichten Rezension zur Schrift von Johann Gottfried Herder, Gott. Einige Gespräche, Gotha bei C. W. Ettinger 1787, bekannte er sich als Autor zu der obengenannten Schrift und deren Anzeige: »Diese Abhandlung ist nebst einer andern, von dem Recensenten übersetzt, in der von Schönfeldischen Buchhandlung 1785 erschienen. Sie führen beyde den Titel: Bened. von Spinoza zwey Abhandlungen über die Kultur des menschlichen Verstandes, und über die (Monarchie) Aristokratie und Demokratie. Eine Anzeige davon steht S. 153. des vorigen Jahrgangs dieser Blätter.« 249 Vgl. die Darstellung unter IV.3.5.5.

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Vermutlich arbeitete er schon an der Übersetzung der »Ethik« von Spinoza, die 1790 herauskam. Von daher war er auf die Beurteilung der Vorstellungen von Herder gut vorbereitet. In dieser Rezension vom 21. Juli 1787 zog er als Mitstreiter für die tolerante Beurteilung des Baruch de Spinoza und seiner Philosophie ein Resümee über den bis dahin erreichten Erfolg dieser Bestrebungen. Ihm ging es letztlich darum, Spinoza vom Makel eines Gottesleugners bzw. eines Atheisten zu befreien. Deshalb ist er erfreut, einleitend feststellen zu können: Die Art, wie seit einigen Jahren Spinoza in Ansehung seiner Lehre von Gott behandelt wird, gibt einen sehr einleuchtenden Beweis, dass sich die Denkungsart in unseren Zeiten von der in den vorigen sehr merklich zu ihrem Vortheil verändert hat. Sonst galt Spinoza allgemein für einen höchst gefährlichen Atheisten, man gab vor, er predige den Atheismus gerade zu, und indem man aus seinen Sätzen die schädlichsten Consequenzen zog, brandmarkte man zugleich seinen sittlichen Charakter, ohne dabey nur im geringsten auf seinen wahrhaft tugendhaften Lebenswandel, und auf seine vielfältig in seinen Werken mit Wärme geäußerten religiösen Gesinnungen Bedacht zu nehmen.250

Ewald sah ein Mindestmaß an Akzeptanz des Spinoza und war zufrieden: Wenn sein System diesem das non plus ultra der Philosophie, und jenem sein Beweis von Gottes Daseyn nicht hinreichend ist, so kommen doch alle jetzt darin überein, daß er ein Mann von vortrefflichem Kopf und Herzen war.

Da bekannt sei, so meinte Ewald, »was C a n t, J a c o b i und M e n d e l s s o h n neuerlich von ihm und seiner Philosophie geurtheilet haben«, trete nun auch »H e r d e r [der] in sich zugleich den Charakter des P h i l o s o p h e n und T h e o l o g e n vereiniget«,251 öffentlich für Spinoza ein. Jedoch erkannte Ewald die idealistisch religiöse Transformation, die Herder am System des Spinoza vorgenommen hatte, um pantheistische und atheistische Tendenzen zu eliminieren. Er referierte die Hauptstufen der Interpretation Herders: Substanz ist Gott Gott ist die Ursache seiner selbst Problem: Ausdehnung als Attribut der Substanz ist ein Cartesianischer Irrtum! Mittelbegriff zwischen Geist und Materie – Kraft Gott ist die unendliche Urkraft – Äußerung der Allmacht Gottes. 250 GgZ, 58. St. vom 21. Juli 1787, S. 473. Ewald skizzierte den aktuellen Stand der Spinozadebatte: »Gegenwärtig ist das Verfahren im Urtheilen über ihn weit glimpflicher, billiger und besser; denn obgleich noch viele dafür halten, daß aus seinen Sätzen der Atheismus fließe, so erklären sie ihn doch wenigstens nicht unmittelbar für einen Atheisten, und lassen dabey seinem moralischen Charakter volle Gerechtigkeit wiederfahren; andere machen einen Unterschied zwischen Atheismus und Spinozismus; und noch andere bemühen sich ihn von dem Verdachte des Atheismus zu befreyen, und seine Lehren in ein solches Licht zu stellen, daß sie alles, was darin für die Religion schädlich zu seyn schien, verlieren«, ebenda. 251 Ebenda.

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Die Quintessenz aus Herders Konzept sah Ewald wie folgt: Man sieht also deutlich, dass man unserm Philosophen den Pantheismus eben so unrecht schuld gegeben habe, als den Atheismus. Alle Dinge, sagt er, sind Modificationen, oder wie wirs unanstößiger wollen, Ausdrücke der göttlichen Kraft, Hervorbringungen einer der Welt einwohnenden ewigen Würkung Gottes; sie sind aber nicht zertrennliche Theile eines völlig untheilbaren Einzigen Daseyns.252

Ewald folgte hier, vorerst ohne kritischen Einwand, der Herderschen Deutung des Spinozismus, indem er dessen Anknüpfung an Vorstellungen von Leibniz, die Substanz als geistig-dynamische Urkraft anzusehen, die die Wirklichkeit als ein harmonisch geordnetes System von Kräften gestaltet, akzeptierte. Infolge der späteren Kritik Herders an Kants Philosophie wandelte sich die Haltung der GgZ, und damit die Ewalds, zu Herder und seinen Ansichten zu einer kritischpolemischen Distanz. Diese Konstellation zeigte sich in Ewalds Rezension vom 25. Januar 1800 zur 2. Auflage der Herderschen Schrift, nunmehr mit dem Titel »Gott. Einige Gespräche über Spinoza’s System, nebst Shaftesburi’s Naturhymnus« (Gotha 1800). Obwohl er Herders Bestrebungen lobte, da er mit seinen »Briefen zur Beförderung der Humanität« (1793–97) dazu beitrage, die Furcht und die Scheu vor »spinozistischen« und »atheistisch verschrieenen Systemen niederzuschlagen«, setzte er sich deutlich von Herders Position ab. Erstens stellte er sich auf den Standpunkt der Kantischen Kritik am Dogmatismus, indem er Bezug auf seine mit Vorrede und Anmerkungen versehene Übersetzung von Spinozas »Ethik« nahm. Ewald offenbarte sich hier: Daß Spinoza des Atheismus mit Grunde nicht beschuldiget werden könne, glaubt Recens. in der Vorrede zu dem im Jahre 1790 zu Gera erschienenen ersten Theile der mit kritischen Anmerkungen versehenen Uebersetzung der E t h i k d e s S p i n o z a überzeugend dargethan zu haben, obgleich diese Anmerkungen selbst die Lehre Spinoza’s als unhaltbaren Dogmatismus, der von übernatürlichen Dingen etwas zu wissen wähnt, von welchen doch gar keine Erkenntniß möglich ist, darstellen.253

Zweitens billigte er mit Vorbehalten Herders Bestreben zur religiösen Transformation des Systems Spinozas, d. h. die Substanz als göttliche Urkraft zu deuten. Gleichzeitig verwies er jedoch auf die authentische Interpretation des Substanzbegriffes, wie er in Spinozas »Ethik« zu finden ist. Ewald erklärte, noch Herder folgend: 252 Ebenda, S. 477. Vgl. Horst Lange, »Ich bin (k)ein Spinozist«. Warum sich Herders Berufung auf Spinoza gewandelt hat, in: Der frühe und der späte Herder: Kontinuität und / oder Korrektur, hrsg. von Sabine Gross / Gerhard Sauder, Heidelberg 2007, S. 253–265. Lange gibt eine instruktive Erklärung für Herders erneute Hinwendung zu Spinoza und seinem Bestreben, dessen System als Interpretation des allmächtigen Wirkens Gottes zu verstehen. 253 GgZ, 8. St. vom 25. Januar 1800, S. 58.

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Spinoza nahm also mit seiner einzigen Substanz eine kurze Formel, die seinem System allerdings viel Zusammenhang gibt, ob sie gleich unserm Ohr fremd klingt. Immer war sie doch besser, als jene Gelegenheitsursachen der Cartesianer, nach denen Gott gleichfalls alles selbst, nur aber gelegentlich wirken sollte.254

Gegen Herders Vorwurf, Spinoza habe – einem cartesianischen Irrtum folgend255 – die Ausdehnung als Eigenschaft Gottes angesehen, was jedoch mit dem Begriff der unteilbaren Substanz, also Gott, unvereinbar sei, antwortete Ewald »im Geiste des Systems des Spinoza«: Allein nach Spinoza soll vielmehr ausdrücklich die unendliche Ausdehnung und das unendliche Denken das Wesen der einzigen Substanz, und zwar beide unzertrennlich in Eins verbunden, ausmachen. Hiernächst enthält sich Spinoza gerade da, wo er von Modis jener zwei göttlichen Eigenschaften redet, des Ausdrucks der A u s d e h n u n g und des D e n k e n s eben so sorgfältig als er dieselben, jene von der Materie und den Körpern, als den M o d i s der Ausdehnung, und diese von den Seelen und den menschlichen Vorstellungen (ideis), als Modis des göttlichen Denkens, unterscheidet. Dieses ist auch allein der Grund, warum er D e s c a r t e s tadelt, dass er die M a t e r i e durch Ausdehnung, als einer blos Gott allein zukommenden Eigenschaft, definiret habe.256

Ungeachtet seiner Hinweise auf den originalen Spinoza, empfahl Ewald dem Leser, dem »die kritische Philosophie nicht behagt, oder nicht einleuchtet«,257 das Studium der Schrift von Herder, ungeachtet der dort vorgenommenen Deutung der Gottesvorstellung von Spinoza. Übrigens kannte Herder die von Ewald seit 1787 übersetzten Schriften Spinozas. In der 2. Ausgabe der Schrift »Gott. Einige Gespräche« (1800) fügte Herder dem nachstehenden Text eine Anmerkung hinzu: Ich wollte, daß ein philosophisch-kritischer Mann, kein Jüngling, zu unserer Zeit den theologisch-politischen Versuch des Spinoza mit Anmerkungen herausgäbe*. Es wäre ein nützlicher Versuch, zu sehen, was die Zeit in ihm bekräftiget oder widerlegt habe. * Er ist seitdem übersetzt erschienen (Gera 1787), aber ohne Anmerkungen, die hier gewünscht werden. Seine Ethik ist mit Anmerkungen begleitet.258 254 Ebenda, S. 59. 255 Vgl. Johann Gottfried Herder, Werke, hrsg. von Wolfgang Pross, Bd. 2, München / Wien 1987, S. 1057. Variante 117 der 2. Auflage (1800) der Schrift »Gott. Einige Gespräche über Spinozas System.« Herder bemerkte: »daß er [Spinoza] ›die Ausdehnung zur Eigenschaft Gottes macht?‹ Verhält sich der Raum nicht wie die Zeit? Ist nun jene mit dem Begriff des Ewigen ganz unvergleichbar: so ist auch Ausdehnung, (Extension) mit dem Begriff einer unteilbaren Substanz, die Spinoza mit Felsenfester Stärke annimmt **, gleichfalls unvereinbar. ** Kein Attribut der Substanz kann wahrhaft gedacht werden, aus welchem folge: Die Substanz sei teilbar. Ethic. Prop. XII. Die absolut-unendliche Substanz ist unteilbar. Prop. XIII.« 256 GgZ, 8. St. vom 25. Januar 1800, S. 59 f. 257 Ebenda, S. 60. 258 Herder, Werke, Bd. 2, S. 740 (Text); S. 1047, Anmerkung.

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Die Kritik der GgZ an Herders antikantischer Haltung erreichte ihren Höhepunkt in der dreiteiligen Rezension im August 1799 zur Schrift von Johann Gottfried Herder »Verstand und Erfahrung. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft« (1799).259 Obwohl der Rezensent Herders »große Verdienste« anerkannte, machte er ihm den Vorwurf, mit »Mißtönen« gegen Kant und seine Philosophie vorzugehen. Er erklärte: Indessen wer H e r d e r n kennt, der wird dies nicht unerklärbar finden. Bei seinem großen Genie, bei seinem feinen und vielseitigen Geschmacke, und bei seiner ausgebreiteten Gelehrsamkeit, scheint ihm doch die Gabe nicht verliehen, sich in die Gedankenreihe eines Andern, besonders wenn sie Gegenstände der Spekulation betrift, zu versetzen. Rezens. getrauet sich hinzuzusetzen: Spekulative Philosophie ist überhaupt H’s. Region nicht. Sein Gefühl, das ihm in anderer Hinsicht so trefliche Dienste thut, seine Einbildungskraft, die unter seinen Seelenvermögen das hervorragenste ist, erlauben seiner Vernunft nicht, kühl genug zu bleiben, wenigstens machen sie es ihm unmöglich, nun noch den Standpunkt der kritischen Philosophie zu fassen, weil sie ihn unaufhaltsam zum Dogmatismus hinreißen.260

Wohl in Anspielung auf Herders Transformation der Philosophie Spinozas schrieb Ewald, auch hier als Rezensent: Wir werden also immer auch seine eigene Spekulationen, als Ausflüsse seines Geistes, gern, und nie ohne Gewinn für Geist und Herz lesen; selbst seine Darstellung fremder Systeme, wenn er sie adoptirt hat, weil wir von ihm nicht gerade diese Systeme kennen lernen wollen, sondern nur die Gestalt, die sie bei ihm angenommen haben.261

Zudem bedauerte Ewald, dass Herder mit den oft unsachlichen und polemisch vorgetragenen »Bestreitungen eines tiefgedachten und engverketteten Systems« bei dem »philosophischen Leser und Kenner des Systems« »durch die darin herrschenden Mißverständnisse Ueberdruß erregen« werde.262 Die kritische Distanz Ewalds zu Herder blieb bis zu dessen Tod am 18. Dezember 1803 bestehen. Im »Nekrolog« auf Johann Gottfried Herder der GgZ vom 28. Dezember 1803 wurden seine theologischen, literarischen und sprachtheoretischen Schriften und Beiträge hoch gewürdigt. Zu seinen philosophischen Bestrebungen heißt es: 259 GgZ, 64. St. vom 10. August 1799, S. 545–552; 66. St. vom 17. August 1799, S. 561–568; 67. St. vom 21. August 1799, S. 569–575. 260 GgZ, 64. St. vom 10. August 1799, S. 547 f. 261 Ebenda, S. 548. 262 Ebenda. Auch in Weimar war die kantische Position der GgZ selbstverständlich bekannt. So schrieb Karl August Böttiger (1760–1835), Direktor des Gymnasiums, anlässlich der Rezension der GgZ zu der von Friedrich Theodor Rink herausgegebenen Schrift »Mancherley zur Geschichte der metacritischen Invasion« (Königsberg 1800) vom »kantisirenden Recensenten dieser Invasion in der Goth. Gel. Z. 1800 n. 86. S. 717 [...].« Zitiert nach Karl August Böttiger, Literarische Zustände und Zeitgenossen. Begegnungen und Gespräche im klassischen Weimar, hrsg. von Klaus Gerlach / René Sternke, Berlin 1998, S. 217.

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Die Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in welchen sich Poesie mit Philosophie zu einem höchst anziehenden Ganzen vereinigen, würden allein seinen Namen auf die Nachwelt bringen, wenn er auch nichts weiter geschrieben hätte. Wie er von Allem sich eigenthümliche Ansichten bildete, so auch vom Spinocismus, den er auf seine Weise in der Schrift über Gott ausbildete [...]. Man hat bedauert, daß er sich in den letzten Jahren in philosophische Streitigkeiten eingelassen hat, ohne für die philosophische Speculation Beruf zu haben, ob man gleich gestehen muß, daß in der M e t a c r i t i k manche feine psychologische Bemerkungen und in der K a l l i g o n e schätzbare ästhetische Erörterungen vorkommen.263

Blickt man zurück auf die Haltung der GgZ und damit auf die Position Ewalds im Pantheismusstreit (1785–1800), so zeigt sich, dass das Bestreben zu erkennen ist, in dieser wichtigen Kontroverse eine Synthese der Standpunkte zu gewinnen, die die Gegensätze unter einem christlichen, humanen und toleranten Weltverständnis zu harmonisieren suchte. Einerseits sicherte Ewald, wie seine Mendelssohnrezeption und die Herderrezensionen zeigen, seinen Standpunkt durch die Annahme einer höchsten göttlichen Allmacht ab, die das Sein bestimmt und durchdringt. Er tat dies auf der Basis seiner vernunftreligiösen Position. Von daher tolerierte er einen vom Vorwurf des Pantheismus gereinigten Spinozismus. Andererseits ist ihm das von Kant herausgearbeitete transzendentale Potential des menschlichen Subjekts zur Analyse der phänomenalen Welt und die damit ermöglichte Gewinnung von Erfahrungserkenntnis von wesentlicher Bedeutung. Denn nur durch sie sah er die Chance, dass die individuelle und soziale Vernunft praktische Verhältnisse in humaner Weise gestalten kann. Schließlich war es wohl das christlich geprägte, soziale Weltverständnis, welches die menschliche Selbsttätigkeit für das Wohl der Gemeinschaft herausforderte, das Ewald sowohl bei Spinoza als auch bei Kant artikuliert sah und ihn veranlasste, sich im kommenden Jahrzehnt (1790–1800) für die Verbreitung ihrer Vorstellungen einzusetzen.

5.3. Ewald übersetzte den »Theologisch-politischen Traktat« von Spinoza Schon am 26. März 1785 ließ Ewald, obgleich anonym, seine Absicht verbreiten, weitere Schriften von Spinoza zu übersetzen und zu veröffentlichen.264 Er 263 GgZ, 104. St. vom 28. Dezember 1803, S. 888. 264 GgZ, 25. St. vom 26. März 1785, S. 208. Die Nachricht lautet: »Gera. Ein Gelehrter arbeitet gegenwärtig an einer Uebersetzung Tractatus theologico-politicus des Spinoza, der gewiß keinen unwichtigen Beytrag zur Kritik des alten Testaments enthält, die Grundsätze auseinander setzt, nach welchen das Recht der höchsten Gewalt in geistlichen Dingen beurtheilet werden muß, und sich über andere Gegenstände verbreitet, die in den gegenwärtigen Zeiten die vornehmsten Lieblingsmaterien des unterrichteten und aufgeklärten

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wandte sich dem »Theologisch-politischen Traktat« zu, der noch zu Lebzeiten von Spinoza (1679) erschienen war. Ewald wählte für Spinozas Traktat, den er anonym erscheinen ließ, einen besonderen Titel, der auf die Schwerpunkte der Schrift hinwies.265 Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Anspruch des Geraer Verlegers Bekmann, Ewalds Übersetzungen – ohne dessen Zustimmung – unter dem Titel »Spinozas philosophische Schriften« zu veröffentlichen, nichts mit dessen wahren Absichten zu tun hatte. Einem solchen anspruchsvollen Projekt hätte er nicht zugestimmt. Die näheren Umstände werden bei der Darstellung seiner Übersetzung der ersten beiden Teile von Spinozas »Ethik« erörtert. Es war die fundamentale Darstellung von emanzipatorischen Grundproblemen auf dem Hintergrund des sich formierenden bürgerlichen Staatswesens in den Niederlanden, wie die Realisierung der Toleranz, der Religions- und Denkfreiheit sowie die Rolle der höchsten staatlichen Gewalt für die Lebensgestaltung der Bürger, die Ewald an Spinozas Vorstellungen faszinierte. An deren Verbreitung wollte er mitwirken 266 und gleichsam eine weitere Bresche in die Mauer der Vorurteile schlagen, die seit hundert Jahren gegen diesen Denker und sein philosophisches System errichtet worden war. So sollte die einleitende Passage, die Ewald (»Der Uebersetzer an den Leser«) der Schrift voranstellte, als eindring­ liches Signal wirken, das die Öffentlichkeit auf die tatsächlichen Vorstellungen und das Wirken des Philosophen aufmerksam werden ließ: Erschrick nicht, lieber Leser, über den Namen S p i n o z a. Er war ein lieber, guter, edler und frommer – aber auch ein aufgeklärter Mann. Und wenn meine Ahndungen mich nicht täuschen, wird bald eine Zeit kommen – der Genius der Menschheit macht schon seine Vorbereitungen dazu, und die menschliche Natur scheint einem Kopfe gleich, in welchem die Elemente zu einer großen Revolution gähren, die todte Masse sich niedersenken, und das lautere, geistige Wesen in Ruhe hervortreten wird – eine Zeit, sage ich, wird kommen, wo S p i n o z a, der vom unreinen Geiste intoleranter Theils des Publikums ausmachen. Die Uebersetzung wird den Titel führen: Ueber heilige Schrift, Judenthum, Recht der höchsten Gewalt in geistlichen Dingen, und Freyheit zu philosophiren«. 265 Die Übersetzungen Ewalds: Spinoza’s philosophische Schriften. Bd. 1: Benedikt von Spinoza über Heilige Schrift, Judenthum, Recht der höchsten Gewalt in geistlichen Dingen, und Freyheit zu philosophiren, Gera, bey Christoph Friedrich Bekmann, 1787; Bd. 2: Spinoza’s Ethik. Erster Theil, Gera 1790 (Neue unveränderte Auflage, Leipzig, bey Adam Friedrich Böhme, 1796); Bd. 3: Spinoza’s Ethik. Zweyter Theil, Gera 1793 (Neue unveränderte Auflage, Leipzig 1796). 266 Vgl. Baruch de Spinoza. Sämtliche Werke, hrsg. von Carl Gebhardt, Bd. 2, Leipzig 41921, S. XXXII. Gebhardt bemerkte: »Der Theologisch-politische Traktat ist bereits sechsmal ins Deutsche übertragen worden. Die erste Übersetzung ist demselben Manne zu danken, der es zum ersten Mal unternahm, das ganze Werk Spinozas ins Deutsche zu übertragen, dem herzoglich sachsen-gothaischen Sekretär Schack Hermann Ewald (1745–1822), der neben seinem juristischen Berufe als Dichter, Gelehrter und Übersetzer seiner Zeit bekannt geworden ist [...]. Ewalds Spinoza-Übersetzungen verdienen volle Anerkennung.«

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eigennütziger Pfaffen gelästerte und verläumdete S p i n o z a, bey dessen Namen die ganze betrogene Christenwelt über ein ganzes Jahrhundert lang auszuspeyen pflegte, eine weit stärkere Stütze des Ansehns der heiligen Schrift und des wahren christlichen Glaubens seyn wird, als manche orthodoxe Theologen, von welchen es einige zwar recht herzlich gut gemeint haben mögen, die aber allesammt verdrehte oder blinde Augen des Verstandes hatten.267

Es war Ewalds Sensibilität für die angespannte politische und soziale Situation im europäischen Raum vor dem Jahr 1789, sein beunruhigter, geradezu seherischer Blick auf den sich rasch verändernden Zeitgeist sowie seine praktische Erfahrung im Regierungsamt, die ihn veranlasste, über die Notwendigkeit von Veränderung im Staatswesen im Interesse des Existenzrechts des Bürgers zu reflektieren. Hier lag der tiefere Grund, dass er es für erforderlich hielt, diese Schrift, die die anstehenden Probleme in der westeuropäischen Gesellschaft in ihrer Komplexität ansprach, analysierte und auf deren Lösung orientiert, zu übersetzen.268 Denn, so Ewald, man müsse dem Buche die Gerechtigkeit wiederfahren lassen, daß man den Zusammenhang aller Schriften des alten Testaments, von e i n e m zusammen getragen, nirgend deutlicher und einleuchtender dargelegt, die Staatsverfassung der Juden nirgend so lichtvoll auseinander gesetzt, die Methode, die Schrift zu erklären nirgend so wahr und überzeugend entwickelt und erprobt, die Rechte der Menschheit und des menschlichen Verstandes, so wie die Rechte der Fürsten in Sachen der Religion, nirgend in so helles Licht gestellt findet, als in diesem mit so vielem Ungrunde verschmähten Buche [...].269

Mit emphatischem Impetus suchte Ewald seine Zeitgenossen für die von Spinoza entworfene humane und tolerante Religiösität zu gewinnen. Er sah in dessen Interpretation des Alten Testaments das wahre Wesen bzw. den echten, anthropologisch begründeten Inhalt der christlichen Religion. Man wird dem Verfasser des Buches zugestehen müssen, daß er die lauterste Christusreligion lehre, die reinste, herzlichste, wärmste Gottesfurcht und Frömmigkeit athme, und von der dankbarsten Ehrfurcht und Liebe zu 267 Benedikt von Spinoza, Über Heilige Schrift, Judenthum, Recht der höchsten Gewalt in geistlichen Dingen, und Freyheit zu philosophiren. Aus dem Lateinischen [übersetzt von Schack Hermann Ewald], Gera 1787, Vorrede, S. III f. 268 Ebenda, Vorrede, S. IV f. Ewald erklärte: »In der Meinung, daß die Sache des Buchs T r a c t a t u s t h e o l o g i c o - p o l i t i c u s etc. schon abgethan, und sein Inhalt Wort für Wort widerlegt sey, scheint man es ganz und gar nicht mehr zu achten, und in der Vergessenheit zu lassen. Ich bin aber so frey, es aus seiner Dunkelheit vorzuziehen, weil ich glaube, daß sich, ohngeachtet es schon über hundert Jahre alt ist, dennoch viel daraus lernen lasse. S p i n o z a war schon zu seiner Zeit da, wo unsere aufgeklärten Theologen jetzt erst hinkommen. Sie scheuen sich nicht mehr, manches öffentlich zu sagen, ohne Gefahr zu laufen, verlästert zu werden, was man zu jenen Zeiten kaum in der Stille für sich denken durfte, und worüber S p i n o z a verlästert und verunehret wurde.« 269 Ebenda, S. V.

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Gott und Christus, dem Wiederbringer der ächten Religion und des Heils der Menschen und von dem aufrichtigsten Triebe zur Menschenliebe, zur Aufklärung und zum wahren Besten seiner Brüder, ohne die geringste Beymischung von Haß oder Verfolgungsgeist gegen anders Denkende, durchdrungen gewesen sey.270

Das Lob des Rezensenten der GgZ galt zum einen dem Mut und dem Können des Übersetzers dieser wirkungsvollen Schrift Spinozas.271 Zum anderen hob er die Verdienste Spinozas um die Schriftauslegung hervor, jedoch größer als dies war, daß er die Rechte der Menschheit und Denkfreyheit auf festere Stützen gründete, und Toleranz und Verträglichkeit predigte. Das erstere ehrt allein seinen Verstand, das letztere auch sein Herz.

Durch die Neuheit seiner Grundsätze war »er ein völliges Jahrhundert vor seinen Zeitgenossen« und habe Hass und Verfolgungsgeist erregt. Die vorliegende Übersetzung sollte als »Opfer« betrachtet werden, das Wahrheits- und Gerechtigkeitsliebe dem Charakter, und hauptsächlich (denn die Schmähsucht verwundet diesen jetzt seltener!) den Einsichten und Kenntnissen des erhabenen Weltweisen bringt.272

In dem Werk werde man nicht nur den »Metaphysiker« Spinoza kennenlernen, sondern auch – und vor allem – den »Exegeten« und den »Politiker«. Die hier angesprochenen Schwerpunkte des Schaffens von Spinoza – sein philosophisches System sowie seine gesellschaftsphilosophischen Analysen und Reflexionen – wirkten nachhaltig auf die weitere publizistische Tätigkeit Ewalds. Er wird sich einerseits in den frühen neunziger Jahren mit Spinozas metaphysischen Prinzipien vom Standpunkt der Philosophie Kants auseinandersetzen. 270 Ebenda, S. V f. Ewald ergänzte: »Man hat Grund zu hoffen, daß die heutige aufgeklärte Welt, durch vernünftige Prüfung und Gebrauch des Nützlichen, das Buch und seinen Verfasser wegen der Verschmähungen, an der vorigen Welt rächen werde«, ebenda, S. VI. 271 GgZ, 1788, 57. St. (16. Juli), S. 465. Einleitend wurde bemerkt: »Hätte der Uebersetzer sich dieser Arbeit auch aus keiner andern Ursache unterzogen, als um die Ehre eines lange verkannten und oft gelästerten Todten durch einen Beweis, der einleuchtender, als jede Vertheidigung ist, zu retten, so würde eine so edle Absicht allein schon dies Unternehmen hinlänglich rechtfertigen. In der That aber ist Spinozas theologisch-politischer Tractat ein so scharfsinniges, und in unsern Tagen doch so sparsam gelesenes Werk, daß es unsers Bedünkens längst und mehrerem Recht, als mancher schale Schriftsteller des Alterthums, durch eine Verdeutschung in Umlauf zu kommen verdiente.« 272 Ebenda, S. 466. Der Rezensent schloss mit dem Hinweis: »Uebrigens schmeicheln wir uns, daß das Publikum um so weniger gegen diese Arbeit gleichgültig bleiben werde, da Spinozas spekulative Philosophie, jetzt der Gegenstand der prüfendsten Köpfe, selbst durch diesen Traktat neue Aufschlüsse erhält, und die Uebersetzung einem Manne in die Hände gefallen ist, der, wie eine leichte Vergleichung lehrt, nicht nur hinlängliche Geschicklichkeit, sondern auch Achtung genug für seinen Schriftsteller besessen hat, um ihn unverfälscht darzustellen.«

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Andererseits werden in den späteren neunziger Jahren Spinozas Ideen über die Natur des Menschen, die Suche nach der besten Form des Staates und die Freiheit des Denkens u. a. das staats- und rechtsphilosophische Denken von Ewald beeinflussen.273 Wenngleich Ewald in seiner anonym erschienenen Schrift »Von dem Staate und den wesentlichen Rechten der höchsten Gewalt« (Göttingen, bei Johann Christian Dieterich, 1794) zeigte, dass er unterschiedliche Konzeptionen des Naturrechts (u. a. Rousseau) rezipierte und in seinen Vorstellungen sublimierte, so ist der Einfluss von Spinoza auf seine Auffassung über das im Rahmen der naturrechtlichen Selbstgesetzgebung begründete Verständnis über die Freiheit bzw. die Mitgestaltung des Staatswesens durch den Bürger unverkennbar. Ein Beispiel für Ewalds Spinoza-Rezeption zeigt ein Vergleich der Auffassungen beider von der Staatsform der Demokratie. Während Spinoza die Demokratie als die natürliche Folge der von allen Individuen durch Vertrag gegründeten Gesellschaft bzw. des Staates darstellt, da die nun entstandene höchste Gewalt von allen anerkannt wurde, in ihrem Interesse handelt und ihre Rechte schützt, nahm Ewald diesen Grundgedanken 274 mit einer wichtigen Erweiterung auf. Er meinte: Wäre eine Demokratie so beschaffen, daß alle Staatsbürger ohne Unterschied das Stimmrecht in den Volksversammlungen und das Recht der Aemter des Staats zu verwalten, hätten, so würde, wenn in allen Bürgern die dazu erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse wirklich vorhanden wären, diese Regierungsform unter allen die vorzüglichste seyn [...].275 273 Vgl. ALZ, Nr. 269a vom 8. November 1788, Sp. 397 f. Auch diese Anzeige zielte auf die »vortrefflichen Winke«, die Spinozas Ausführungen zum »Staatsrecht« betreffen. Eine Probe »ist aus der letzten Abhandlung dieses Bandes gezogen, wo Spinoza erweist, d a ß e s i n e i n e r f r e y e n R e p u b l i k e i n e m j e d e n e r l a u b t s e y n m ü s s e, z u d e n k e n, w a s e r w o l l e , u n d z u s a g e n, w a s e r d e n k e S. 4 4 3 etc.« Es folgen Zitate zur Konstitution und zum Endzweck des Staates. Zur Übersetzung des Traktats: »Zum Glück ist er in die Hände eines Uebersetzers gefallen, der seine Gedanken allenthalben richtig und gut ausgedrückt hat [...]. Uebersetzungen haben öfters einen Schriftsteller wieder in Umlauf gebracht, und wir wünschen, daß die gegenwärtige dieses Zwecks nicht verfehlen möge.« 274 Benedikt von Spinoza über Heilige Schrift, S. 348. Den Akt des Vertragsschlusses zwischen den Individuen voraussetzend, schrieb Spinoza: »Auf diese Art kann also ohne die mindeste Widerstrebung des Naturrechts, bürgerliche Gesellschaft gestiftet, und jeder Vertrag mit der grösten Treue gehalten werden; wenn nemlich ein jeder alle Gewalt, die er hat, auf die Gesellschaft überträgt, die also das höchste Recht der Natur über alles, d. i. die höchste Regierung allein behält, der ein jeder freiwillig oder aus Furcht vor der höchsten Strafe zu gehorchen verbunden ist. Das Recht einer solchen bürgerlichen Gesellschaft wird D e m o k r a t i e genennet, die deswegen definiret wird, sie sey eine ganze Versammlung von Menschen, die gemeinschaftlich das höchste Recht über alles habe, was in ihrer Gewalt steht.« 275 Schack Hermann Ewald, Von dem Staate und den wesentlichen Rechten der höchsten Gewalt, Göttingen 1794, S. 50.

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Da aber nicht alle Bürger diese Befähigung besitzen, um an den Staatsgeschäften im Sinne einer vernunftgeleiteten Selbstverwaltung teilzunehmen, sah Ewald die Gefahr, dass es zu einer »Ochlokratie«, d. h. einer Herrschaft des unwissenden Volkes, kommen könnte. Deshalb forderte er für alle Bürger die nötige Qualifizierung für ihre Teilnahme an der Verwaltung des Staates.276 Es ist wahrscheinlich, dass Ewald, wie seine Diktion der Übersetzung der Schlusspassage des »Theologisch-politischen Traktats« von Spinoza zeigt, zur Findung des Titels und zur konzeptionellen Orientierung seiner 1794 erschienenen staatstheoretischen Schrift angeregt wurde: Es ist für den Staat das Sicherste, wenn man Frömmigkeit und Religion in die Ausübung der Menschenliebe und Billigkeit setzt, und das Recht der höchsten Gewalt in geistlichen sowohl als weltlichen Dingen blos auf Handlungen erstreckt, und übrigens einem jeden verstattet, zu denken was er will, und zu sagen was er denkt.277

5.4. Ewald übersetzte und kommentierte den ersten und zweiten Teil der »Ethik« von Spinoza Ewald verfolgte mit der Übersetzung und Kommentierung der ersten Teile der »Ethik« von Spinoza die Absicht, sich mit der Vorstellung dieses bedeutenden Denkers des 17. Jahrhunderts über die allgemeine Natur des Menschen und dessen Stellung in der Totalität des Seins auf der Grundlage der kritischen Philosophie Kants auseinanderzusetzen. Obwohl Ewald das Bestreben Spinozas nach der Erkenntnis der Natur des Menschen als Teil des Naturganzen schätzte, kritisierte er dessen Erklärung aus der spekulativen Annahme einer Gesamtnatur in Gestalt der Substanz und deren Identifizierung mit Gott. Er sah in diesem philosophischen System das bisherige dogmatisch-spekulative Denken zur Erklärung der Ganzheit der Wirklichkeit typisch repräsentiert. 276 Ebenda, S. 51. Ewald präzisierte seine Forderung: »Hingegen würde ein Staat eine wahre Demokratie bleiben, wenn durch ein Gesetz verordnet wäre, daß nur Bürger, die zu einem gewissen Alter gekommen wären und die zur Wahl der Mittel zur Erreichung des Staatsendzwecks so wie zur Verwaltung der Staatsämter nöthigen Erfahrungen und Kenntnisse erlangt, oder überhaupt gewisse zum voraus festgesetzte Bedingungen erfüllet hätten, ein Recht der Stimme in der Volksversammlung und zu Staatsämtern erhalten sollten; und dieser Art von Demokratie würde dann im Verhältniß der übrigen Regierungsformen ohne Zweifel der Vorzug in so fern, gebühren, als in derselben nicht allein eine große Anzahl der Bürger unmittelbar Theil an der Regierung nimmt, sondern auch einem jeden Bürger insonderheit, wenn er die gesetzlichen Bedingungen zu erfüllen vermag, der Weg, gleichen Antheil an der Regierung zu nehmen, offen gelassen ist.« 277 Benedikt von Spinoza über Heilige Schrift, S. 456. Anzumerken ist, dass Ewald das lateinische Wort caritas, nicht wie üblich mit Liebe oder Nächstenliebe übersetzte, sondern mit Menschenliebe wiedergab.

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Ungeachtet der Anerkennung der von Spinoza akzentuierten Fähigkeiten der menschlichen Vernunft, hob Ewald in der Auseinandersetzung mit dessen Vorstellungen die selbstschöpferischen Vermögen des Menschen als geistig-antizipierendes und moralisch-handelndes Wesen hervor. Entgegen der Position von Spinoza sah er mit Kant die Möglichkeit zur Erkenntnis der äußeren Welt, der Selbsterkenntnis der Menschen und der Begründung des Daseins Gottes nur auf der Basis der Bestimmung der Fähigkeiten und der Grenzen der menschlichen Vernunft als realistisch an. Diese besondere Form der Auseinandersetzung zwischen philosophischen Standpunkten, die Ewald mit der Übersetzung des einen Autors (Spinoza) und der gleichzeitigen Kommentierung des Textes von der Position des anderen Autors (Kant) demonstrierte, war sowohl dem dynamischen Wandel des Zeitgeistes am Ende des 18. Jahrhunderts geschuldet als auch der Suche nach Lösung der drängenden Probleme zur Gestaltung der individuellen und gemeinschaftlichen Existenz des Menschen in dieser Zeit zu verdanken. 5.4.1. Der erste Teil der »Ethik« Zur Ostermesse 1790 erschien anonym in Gera bei den Brüdern Bekmann unter dem Obertitel »Spinoza’s philosophische Schriften, Zweyter Band« die Übersetzung »Spinoza’s Ethik, Erster Theil« (Vorrede LXII. S. 182 S.). Der »Zweyte Theil« folgte 1793 (299 S.)278 Diese Edition besteht aus der Übersetzung des Textes von Spinoza und wichtigen Anmerkungen, in denen sich der Übersetzer mit den Grundsätzen Spinozas vom Standpunkt der Kantischen Philosophie auseinandersetzt. Obwohl in beiden Bänden der Übersetzer und Verfasser der kommentierenden Anmerkungen nicht genannt wird, war den Zeitgenossen im Umfeld von Gotha-Weimar-Erfurt-Jena bekannt, dass Ewald diese Edition besorgt hatte. Der Verfasser der mehrteiligen Rezension in den GgZ279 enthüllte wichtige Umstände zum Vorgang der Entstehung dieser Veröffentlichung. Er konnte sie nur aufgrund eines vertrauensvollen Verhältnisses zu Ewald erfahren haben. Zum einen bedauerte der Rezensent, dass der Verfasser die Übersetzung anonym erscheinen ließ.280 Zum anderen lobte er Ewalds kritische Kommentare der 278 Zitiert werden beide Teile der Ewaldschen Übersetzung der Ethik Spinozas nach der Neue(n) unveränderte(n) Auflage, Leipzig, bey Adam Friedrich Böhme. 1796. 279 Rezension zum 1. Teil der Ethik Spinozas in: GgZ, 17. St. vom 29. Februar 1792, S. 154–159; GgZ, 18. St. vom 3. März 1792, S. 169–173; GgZ, 19. St. vom 7. März 1792, S. 177–181. Rezension zum 2. Teil der Ethik Spinozas in: GgZ, 53. St. vom 3. Juli 1793, S. 465–469; GgZ 54. St. vom 6. Juli 1793, S. 475–478. 280 GgZ, 17. St. vom 29. Februar 1792, S. 154. Einleitend wurde erklärt: »Wir zeigen hier unsern Lesern ein Buch an, das unter diejenigen seltenen Producte unsers vaterländischen Bodens gehört, die nicht früh genug bekannt werden können, die man aber auch nie zu spät kennen lernt; ein Buch, das dem kritischen Forschungsgeiste seines Verfassers (der

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spinozistischen Grundsätze, die für jeden Leser belehrend sind, und die fruchtbarsten Anwendungen der kritischen Grundsätze enthalten, wie wir denn überhaupt glauben, daß von keinem, weder einstudirten Kantianer, noch Freunde einer unverstimmten philosophischen Denkungsart, wär er auch nicht an das strengsystematische Denken gewöhnt, dies Werk ohne Nutzen gelesen werden wird.281

An gleicher Stelle informierte er über die interne Vorgeschichte der Ewaldschen Edition, die für das Verständnis ihrer inhaltlichen und formalen Gestaltung wesentlich ist: Und nun glauben wir, es der Schätzbarkeit dieses kritischen Commentars, so wie der Hochachtung gegen Hrn. E. selbst schuldig zu seyn, noch etwas über die Geschichte des Buchs zu sagen, und die Brauchbarkeit desselben durch die Anzeige einiger wichtigen Druckfehler zu befördern. Der Titel, den Hr. E. diesem Buche in seinem der Verlagsbuchhandlung vor länger als zwey Jahren zum Drucke übersendeten Manuscripte gab, hieß: S p i n o z a s L e h r e v o n G o t t u n d d e r m e n s c h l i c h e n S e e l e, n a c h d e n G r u n d s ä t z e n d e r k r i t i s c h e n P h i l o s o p h i e g e p r ü f t; denn es begreift nur die 2 ersten Bücher der Ethik, die diese Lehre enthalten, in sich. Der Verleger hat aber diesen Titel eigenmächtig verändert, um das Buch als einen Theil seiner projectirten Ausgabe der sämmtlichen Schriften des Spinoza brauchen zu können, mit der Hr. E. seiner authentischen Versicherung nach, nichts zu thun hat. Er ist auch nie gesonnen gewesen, mehr, als jene 2 Bücher der Ethik zu bearbeiten, und will also, daß man dieses Buch, wovon der Abdruck des 2ten Theils durch die Saumseligkeit oder das Unvermögen des Verlegers so lange verzögert worden ist, als ein eignes für sich bestehendes Werk ansehe. Die Anmerkungen unterscheiden sich von den Sätzen des Spinoza durch kleinere Schrift.282

Diese wohlwollende Klarstellung über das eigentliche Vorhaben von Ewald lässt die Vermutung aufkommen, dass der Rezensent aus dem ihm vertrauten Umfeld seiner philosophisch gleichgesinnten Bekannten in Gotha stammte.283

nach unsrer Meinung sehr Unrecht hat, daß er sich unter dem Mantel der Anonymität verbirgt,) eben so viel Ehre, als der Wissenschaft selbst wesentlichen Vortheil bringt.« Er habe dem dogmatischen Theismus einen tödlichen Streich versetzt und gehöre zu denen, »die als würdige Priester der kritischen Philosophie, die alte mürbe Decke der Speculation vom Heiligthume der Vernunft vollends hinweggerissen, und den Eingang in dasselbe wenigstens für hunderte geöffnet haben, denen es zu schwer ward, allein hinein zu gehen.« 281 GgZ, 19. St. vom 7. März 1792, S. 180. 282 Ebenda. 283 Unter den Theologen in Gotha waren Josias Friedrich Christian Löffler (seit 1788 General­ superintendent) und Friedrich Heinrich Gebhard (Pageninformator, Pfarrer) Anhänger der vernunftreligiösen Vorstellungen Kants. Auch Friedrich Immanuel Niethammer käme in Betracht, da er sich vom Mai bis Dezember 1791 im Hause des Verlegers der GgZ, Carl Wilhelm Ettinger, aufhielt und späterhin mit Ewald in einem guten Verhältnis stand.

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Die Kritik an dogmatischen Systemen (Spinoza, Wolff) In der Vorrede zu seiner Schrift umriss Ewald die Zielsetzung seines Vorhabens im Sinne des oben genannten Titels, den er dem Verleger für diese Schrift vorgegeben hatte: Bey der Ausgabe dieses Buchs, welches die zwey ersten Bücher der Ethik des S p i n o z a enthält, ist meine Absicht nicht, zu widerlegen, was S p i n o z a behauptet hat, daß nemlich Ein Gott sey, daß er nothwendig existire, daß er ewig, unendlich, die innwohnende Ursach aller Dinge sey u.s.w. Meine Absicht ist nur zu zeigen, daß man von Gottes Wesen n i c h t s B e s t i m m t e s b e w e i s e n, daß man es nicht so beweisen könne, wie es S p i n o z a bewiesen hat, weil dieser und dergleichen Gegenstände von der Art sind, daß sie gar nicht Erkenntnisse für uns werden können. Das System des S p i n o z a verdient es vorzüglich, daß die k r i t i s c h e P h i l o s o p h i e, die sich zu keiner philosophischen Sekte schlägt, ihr Heil an demselben versuche. Denn was transscendente Metaphysik je möglich zu machen im Stande war, hat Er geleistet.284

Ewald stellte in der Vorrede (62 S.) sein Vorhaben vor, indem er Spinozas Vorstellungen von Gott skizzierte, seine philosophische Position benannte und auf die bisherige sowie aktuelle Diskussion um die Bedeutung dieses philosophischen Systems einging. Denn betrachte man die bisherige Metaphysik, so Ewald, dann ist Spinozas Lehre von Gott »die bündigste und die einzige, in welche sich zuletzt alle Spekulation über Gegenstände einer übersinnlichen Welt auflöst«,285 vorausgesetzt, man suche den Grund der Erkennbarkeit im Verstand und in der Vernunft. Ewald schlussfolgerte: Da er die Philosophie, die sich mit Gegenständen beschäftiget, die außerhalb dem Felde der Erfahrung liegen, bis auf den höchsten Punkt getrieben, und kein spiritualistisch dogmatischer Philosoph nach ihm ein System von Gott aufgestellet hat, das nicht in das seinige aufgelöst werden könnte, so muß er auch als der Coryphäus dieser Philosophen betrachtet, und nach ihm die Epoche benannt werden, die in der philosophischen Geschichte vor der Epoche Kants, der zuerst zeigte, daß und warum das Daseyn übersinnlicher Gegenstände sich nicht aus bloßen Begriffen beweisen lasse, vorherging.286

Von Männern wie Kant, Jacobi und Rehberg, so erklärte Ewald, seien die von Spinoza und allen dogmatisch spiritualistischen Metaphysikern aufgestellten Grundsätze, die das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele beweisen sollen, als unstatthaft angesehen worden, da sie außer aller Erfahrung für Menschen nicht erkennbar sein können. 284 (Schack Hermann Ewald), Spinoza’s philosophische Schriften, Bd. 2: Spinoza’s Ethik, T. 1, Neue unveränderte Auflage, Leipzig, bey Adam Friedrich Böhme, 1796, Vorrede, S. I. Weiterhin: Ewald, Spinoza’s Ethik, T. 2. 285 Ewald, Spinoza’s Ethik, T. 1, Vorrede, S. I f. 286 Ebenda, S. II.

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[Sie] führten alles, was sich vom Daseyn Gottes und Unsterblichkeit der Seele behaupten läßt, auf einen vernünftigen Glauben zurück.287

Mendelssohn und Herder suchten hingegen Spinozas Lehre mit dem LeibnizWolffischen System zu vereinigen bzw. zu modifizieren. Ewald hielt es für erforderlich, die Grundlinien des Systems von Spinoza über Gott auf ca. 12 Seiten abrissartig darzustellen. Er versuchte, den Begriff »Substanz« und das daraus abgeleitete Begriffsgefüge (Attribute, Modi usw.) in seiner ontologisch fundamentalen Bedeutung darzulegen: S u b s t a n z ist, was in sich selbst ist und sich für sich selbst denken läßt, oder dessen Begriff von dem Begriffe keines andern Dinges abhängt; oder das, was durch sich selbst besteht, keines andern Wesens zu seiner Würklichkeit bedarf.288

Ewald erklärte, dass er bei diesem Abriss über Spinozas Lehre von »Gott«, dessen ganze Stärke auf dem Begriff der »Substanz« beruhe, »den Ausdrücken und den Vorstellungsarten des Spinoza treu geblieben« sei, indem die geringste Veränderung hierin dem Original ganz unvermerkt einen andern Sinn giebt, und auf Folgen führt, die der Philosoph mit Vorbedacht hat vermeiden wollen [...].289

Daraufhin nahm sich Ewald vor, die »philosophische Parthey« zu bestimmen, der das Lehrgebäude von Spinoza zuzuordnen ist. Hierzu folgte er dem Schema, das Karl Leonhard Reinhold über die bekannten vier »Hauptparteyen« hinsichtlich der Beweisführung über das Dasein Gottes im Ergebnis seiner Rezeption der kritischen Philosophie Kants unter dem Titel »Neue Entdeckung« am 25. September 1788 in der ALZ veröffentlicht hatte und in seiner Schrift »Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens« (1799) verarbeitete. Reinhold charakterisierte die vier Hauptparteien (Dogmatische Theisten, Supernaturalisten, Dogmatische Skeptiker und Atheisten), kennzeichnete das Verhältnis ihrer jeweiligen Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung in den speziellen Argumentationen und schlussfolgerte: 287 Ebenda, S. III. 288 Ebenda, S. IV. 289 Ebenda, S. XIV. Vgl. Baruch de Spinoza, Sämtliche Werke, hrsg. von Carl Gebhardt, Bd. 1, Neue Ausgabe, Leipzig 1922, Vorwort, S. IV f. Gebhardt erklärte: »In den Jahren 1790 und 1793 erschien in Gera widerum anonym eine Übersetzung der ersten beiden Teile der Ethik, angeblich von Schack Hermann Ewald, Hofsekretär zu Gotha. Der Zweck dieser Übersetzung ist, ausführlichen Widerlegungen der dogmatischen Beweisführungen Spinozas vom Standpunkte des Kantianismus als Grundlage zu dienen, und so nehmen darin die Anmerkungen des Übersetzers den breitesten Raum ein. Die Übersetzung selbst leidet an dem Mangel, die Termini Spinozas nicht durchgängig mit den selben Worten widerzugeben.«

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Bey der sonst so durchgängigen Uneinigkeit waren also immer drey Parteyen gegen eine über eben dieselben Hauptsätze einig, welche K a n t, als Resultate seiner Untersuchung des Erkenntnisvermögens, aufgestellt hat, und welche in dem von ihm entwickelten m o r a l i s c h e n E r k e n n t n i s g r u n d e ihre volle Bestätigung erhalten. Die philosophirende Vernunft hat also nicht weniger einhellig als der gemeine Menschenverstand durch Mehrheit der Stimmen entschieden; nur daß man sie vor der »Kritik der reinen Vernunft« nicht verstanden hat.290

Ewald hielt die Argumentation Reinholds für so bedeutsam, dass er sie in den GgZ am 10. Dezember 1788 in konzentrierter und tabellarisch übersichtlicher Form abdrucken ließ.291 Er nahm die Reinholdsche Typologie auf und ging davon aus, dass eine behauptete Existenz Gottes, die innerhalb und außerhalb der menschlichen Vernunft gesucht wird, drei Hauptparteien erkennen lässt, die als Dogmatischer Theismus, Moralischer Vernunftglaube (Kant) und Supernaturalismus bezeichnet werden. Diesen Parteien, die die Existenz Gottes bejahten, stellte er den dogmatischen Skeptizismus und den Atheismus gegenüber. Ersterer hielt das Dasein Gottes für nicht begründbar; letzterer behauptete das Nichtdasein Gottes. Ewald stellte fest, dass Spinoza kein Supernaturalist, kein dogmatischer Skeptiker und auch kein Anhänger des moralischen Vernunftglaubens war. Auf gar keinen Fall war er Atheist. Denn, so argumentierte Ewald für seine Zuschreibung des Systems von Spinoza: Er hält nicht allein den Begriff von Gott nicht für widersprechend, und sein Begriff 290 ALZ, Nr. 231a vom 25. September 1788, Sp. 831 f.; ALZ, Nr. 280 vom 21. November 1788, Sp. 519 f. Schütz verteidigte Reinhold gegen den Vorwurf, einen neuen Gottesbeweis vorlegen zu wollen: »der Aufsatz hatte bloß die Absicht zu zeigen, daß, wenn man die v i e r bis dahin g e w ö h n l i c h e n M e y n u n g e n der Philosophie über das Daseyn Gottes v e r g l i c h e, und darauf acht gäbe, worinn d r e y von diesen Parteyen immer der vierten widersprechen, als dann v i e r S ä t z e s i c h e r g ä b e n, welche zusammen g e r a d e d i e E r f o r d e r n i s s e enthielten, die K a n t auf einem ganz andern Wege hervorgezogen und dann durch seinen m o r a l t h e o l o g i s c h e n B e w e i s befriedigt hat. In dieser Uebereinstimmung der Resultate von zwey ganz verschiedenen Entwicklungen, der speculativen und der historischen, lag unsrer Meynung nach die n e u e E n t d e c k u n g «. 291 GgZ, 99. St. vom 10. Dezember 1788, S. 815 f. Ewald erklärte: »Der Herr Hofrath und Professor R e i n h o l d in Jena, hat in Nr. 231 der diesjährigen a l l g e m e i n e n L i t t e r a t u r z e i t u n g Aphorismen, die Grundlegung der Moraltheologie betreffend, bekannt gemacht, mit deren Mittheilung wir auch unsern Lesern einen Gefallen zu erzeigen glauben. Er hat nemlich durch Gegeneinanderstellung und Vergleichung der vier bisher gewöhnlichen Partheyen herausgebracht, daß von denselben immer drey der vierten wider­ sprechen, und daß die daher entspringenden v i e r w i d e r s p r e c h e n d e n S ä t z e z u s a m m e n g e n o m m e n eben die Erfordernisse enthalten, auf welche K a n t auf dem speculativen Wege gestossen ist, und die er durch seinen moralisch theologischen Beweis erfüllt hat.« Danach folgt die tabellarische Übersicht der oben genannten Parteien und ihrer Stellung zueinander.

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von Gott als dem schlechterdings unendlichen Wesen, der schlechterdings unend­ lichen Substanz, die unendliche Eigenschaften in sich faßt, deren jede ein ewiges und unendliches Wesen ausdrückt, enthält nichts, was nicht jede das Daseyn Gottes behauptende Parthey unterschreiben könnte; sondern er ist auch weit davon entfernt, das Nichtseyn Gottes beweisen zu wollen; da vielmehr seine ganze Absicht in seiner Ethik dahin geht, gerade das Gegentheil davon, nemlich das Daseyn eines höchsten Wesens auf das strengste zu beweisen. Gott ist ihm die von der Welt wesentlich verschiedene Ursach der ganzen sinnlichen und geistigen Natur; das ursprunglose Wesen (n a t u r a n a t u r a n s ), von welchem die entsprungenen Wesen (natura naturata) nach ihrem Daseyn und ihrer Natur abhängen [...].292

Ewald polemisierte gegen die Interpreten, die Spinoza zum einen unterstellten, »daß er die sichtbare Welt zu Gott mache«.293 Zum anderen würden sie ihn beschuldigen, dass er Gott nicht mit einem dem Menschen ähnlichen Verstand und Willen ausgestattet habe und damit Gott zu einem gedankenlosen und aller Freiheit beraubten Wesen degradierte. Das Gegenteil sei der Fall, meinte Ewald: Da Spinoza Gott vielmehr das uneingeschränkteste absoluteste Denken, die vollkommenste Erkenntniß zueignet, ihn zur Quelle alles Denkens macht, und ihm die höchste Freiheit, d. i. eine solche, die blos in der Vollkommenheit seiner eigenen Natur gegründet ist, zuschreibt, und ausdrücklich erklärt, daß man unter Verstand und Willen, wenn sie zum Wesen Gottes gehören sollen, etwas ganz anders denken müsse, als man insgemein sich darunter menschlicher Weise vorzustellen pflege.294

Schließlich zeigte sich, dass Ewald bestrebt war, Spinoza vom Vorwurf des Pantheismus zu entlasten. Er sah das Fundament des spinozistischen Systems in der Bestimmung Gottes als eigenständige und mit höchster Vernunft ausgestattete Ursache allen Seins. Er schlussfolgerte: Hieraus erhellet nun auch zugleich, daß man den S p i n o z a mit dem größten Rechte zu den d o g m a t i s c h e n T h e i s t e n zählen könne. Denn er glaubt den Erkenntnißgrund für das Daseyn Gottes innerhalb des natürlichen Gebiethes der Vernunft gefunden zu haben, und eine von der sinnlichen Welt wesentlich verschiedene höchst vernünftige und freye Ursache der Welt beweisen zu können.

Denn, so argumentierte Ewald gegen die drei anderen Parteien im Sinne seiner Einordnung des spinozistischen Systems, »die Möglichkeit des Daseyns des Gegenstandes solcher transscendenter Ideen ist dadurch noch nicht aufgehoben«, weil »wir davon nichts wissen«, wenn man »die wahre Bestimmung der Vernunft« nicht verneint, über das zu urteilen, »was außerhalb der Gränzen unserer anschauenden Erkenntniß liegt.« 295 292 Ewald, Spinoza’s Ethik, T. 1, Vorrede, S. XVII f. 293 Ebenda, S. XVIII. 294 Ebenda. 295 Ebenda, S. XXVI f.

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Nun musste Ewald feststellen, dass die stärksten Angriffe auf das System Spinozas gerade von den dogmatischen Theisten ausgingen. Ihre Angriffe seien, von Pierre Bayle bis Christian Wolff, auf das Fundament des spinozistischen Systems, auf den Begriff der Substanz gerichtet. Er meinte: Ich wähle daher aus der Menge derer, die aus dieser Parthey gegen S p i n o z a aufgetreten sind, nur den Freyherrn von W o l f als denjenigen aus, der die Subtilitäten des spinozistischen Lehrgebäudes unter allen, die vor ihm gegen dasselbe geschrieben haben, am richtigsten gefaßt hat.296

Ewald polemisierte gegen Wolffs These, dass Spinoza seinen Begriff der Sub­ stanz anders als bisher bestimme und diesen »mit den von sich selbst existirenden Dingen vermenge«.297 Er beabsichtigte, sein konsequent theistisch geprägtes Verständnis des Wesens der spinozistischen Substanzvorstellung gegen Wolff zu verteidigen. Dieser verstehe unter Substanz ein »Ding«, welches innere b e s t ä n d i g e und auch v e r ä n d e r l i c h e Bestimmungen in sich faßt, oder in welchem Einiges immer einerley bleibt, nemlich die Essentialien und die Attribute, das übrige aber sich successiv verändert, nemlich die Modi [...].

Wolff lasse jedoch die Frage, woher er über diese Unterschiede innerhalb der Substanz wisse, unbeantwortet. Ewald argumentierte: Wenn Gott aber nach den Begriffen der dogmatischen Theisten und W o l f s selbst, eine Substanz ist, so muß auch das Wesen desselben nicht blos aus den unveränderlichen, wesentlichen Eigenschaften, sondern auch aus den Modis bestehen, die sich successiv verändern. Alles demnach ist Gott, und Gott ist alles.298

Ewald warf Wolff letztendlich vor: Die von ihm angegebene gewöhnliche Bedeutung des Begriffs »Substanz« ist also nicht minder willkürlich als die des S p i n o z a, und führt, beym Lichte besehen, geradezu zum Pantheismus, welches meiner Ueberzeugung nach die spinozische Definition nicht thut.299

Nach der Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten beider Vorstellungen wiederholte Ewald gegenüber Wolff den Vorwurf des Pantheismus.300 296 Ebenda, S. XXIX. Ewalds Quelle: »*) In seiner Theologia Naturali methodo scientifica pertractata. P. II. Sect. II. Cap. IV. Edit. secundae. Frcf. et Lips. 1741.” 297 Ebenda, S. XXIX. 298 Ebenda, S. XXX f. 299 Ebenda, S. XXX. 300 Ebenda, S. XXXIX. Ewald resümierte: »Hier stehen zuvörderst zwey Definitionen von der Substanz einander gegenüber, und jede Parthey behauptet, die ihrige sey die richtige. Wir haben aber bereits gesehen, daß W o l f den Begriff des S p i n o z a von der Substanz nicht zu verdrängen im Stande war, und daß überdies der seinige Folgerungen erlaubte, die das Einfache mit dem Zusammengesetzten, das Endliche mit dem Unendlichen, Gott und die erschaffenen Dinge vermischt, und unter einerley Benennung zusammenfaßt; mit einem Worte, den Pantheismus herbeyführte, den er doch selbst bestreitet.«

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Ewald insistierte zum einen auf die innere Festigkeit der Substanzauffassung von Spinoza im Sinne des dogmatischen Theismus. Zum anderen kritisierte er, dass sowohl Spinoza als auch Wolff behaupteten, etwas über die Substanz zu wissen. Jedoch sei sie bei beiden lediglich ein Verstandesbegriff, der Mannigfaltiges ordnen soll. Keiner könne nachweisen, dass sie vom Bewusstsein seiner Vorstellung als Subjekt von der Vorstellung eines äußeren Gegenstandes unterschieden sei. Beide Beschreibungen der Substanz seien unrichtig; aber: wobey ich doch noch immer wiederhole, daß der Begriff des S p i n o z a unter allen dogmatisch-theistischen Begriffen von der Substanz, der sublimirteste sey, auf welchen man also zurückkommen müsse, wenn man sich anders nicht in seinen eigenen Schlingen fangen will.301

Ewald ging seinem Vorhaben gemäß von der Substanz- bzw. Gottesvorstellung zur Kritik der Auffassung der spinozistischen und wolffschen Sichtweise der menschlichen Seele über. Hier polemisierte er gegen den Beweis von der Einfachheit der Seele als Substanz, wie ihn Wolff in seiner »Psychologia rationalis« (§ 48) dargelegt hatte. Er gründe sich nicht, so Ewald, auf Erfahrung, sondern sei ein metaphysisches Produkt: »Das Einfache in dieser Eintheilung der Dinge ist also ein bloßes Verstandeswesen, und die würkliche Objektivität desselben nur erschlichen.« 302 Denn zum Beweis der »Substanzialität der Seele« oder des »Ich denke« wird die Seele »schon als würkliches anschauliches Objekt vorausgesetzt.« 303 Zudem offenbare sich das Ich nicht durch sich selbst, sondern nur durch sein Wirken.304 Ewald argumentierte in der Beurteilung des Spinozismus sowohl in dieser Einleitung als auch in der weiteren Darstellung seines Vorhabens von der Position der kritischen Philosophie. Er kennzeichnete das System des Spinoza als das konsistenteste des dogmatischen Theismus. Seinen Interpretationsversuch resümierte er mit einem Bekenntnis zu Kantischen Prinzipien: Und dies wäre es denn, was ich mir zu beweisen vorsetzte, daß das System des Spinoza nach den Principien aller bis auf die Kritik der reinen Vernunft bekannt gewordenen übrigen philosophischen Lehrgebäude und selbst des auf die Leibnizischen Lehrsätze gebauten Wolfischen, unwiderlegbar sey. Es folgt hieraus, daß, da die Philosophie des Spinoza nicht allein gegen die Einwürfe aller übrigen philosophischen Partheyen aushält, sondern auch consequenter als die Systeme aller übrigen ist, sie von jedem, 301 302 303 304

Ebenda, S. XL. Ebenda, S. XLI. Ebenda, S. XLII. Ebenda, S. XLIII. Hier verwies Ewald direkt auf Kants Hauptwerk: »Die Unzulänglichkeit aller Vernunftbeweise von der Substanzialität und Einfachheit der Seele hat Herr Professor K a n t im ersten Hauptstück des zweyten Buches der transscendentalen Dialektik S. 399. ff. der zweyten Ausgabe seiner Krit. d. r. Vern. so befriedigend dargethan, daß es überflüßig seyn würde, mich hier in ein umständlicheres Detail einzulassen. Ich verweise also dahin.«

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der der von Kant aufgestellten kritischen Philosophie nicht folgen mag, nothwendig angenommen und anerkannt werden müsse; und daß, wenn es Grundsätze giebt, aus welchen eine Widerlegung des spinozischen Lehrgebäudes mit Erfolg unternommen werden kann, sie entweder in dieser kritischen Philosophie enthalten seyn, oder die Lehren dieser letztern selbst auf unrichtigen Voraussetzungen beruhen müssen; welches aber zur Zeit noch von keinem Gegner derselben hat dargethan werden können.305

So setzte Ewald gegen die Meinung Wolffs, der behauptete, dass Gegenstände der Sinnlichkeit als Dinge an sich anzusehen sind und damit diese auch als Gegenstände des Verstandes deutlich erkannt werden, die Grundposition der kritischen Philosophie Kants. Er erklärte zu Wolff, hier sei der »Antheil, den das Gemüth an der Entstehung der Erkenntniss nimmt noch nicht völlig ausgemittelt«, da man die Ausdehnung als eine Eigenschaft der Dinge an sich ansehe. Aber, so stellte er fest: Durch die Kritik der reinen Vernunft ist aber nunmehr entschieden, daß die Sinnlichkeit nicht eine verwirrte Vorstellungsart der Dinge an sich, sondern eine besondere Quelle der Vorstellungen und das Vermögen sey, von Gegenständen afficirt zu werden, daß man nichts erkennen könne, was man nicht als Gegenstand der Sinnlichkeit anzuschauen vermöge, daß folglich die Dinge an sich oder die einfachen Substanzen schlechterdings unerkennbar und = 0 sind, und daß sich der Verstand von der Sinnlichkeit nicht dadurch unterschiede, daß jener die Gegenstände deutlich, diese hingegen dieselben verworren erkenne, jener in das innere Wesen der Dinge dringe, diese hingegen blos auf der Oberfläche hafte, sich blos mit dem in den Substanzen der Dinge gegründeten Schein abgebe; sondern dadurch, daß beyde, der Verstand und die Sinnlichkeit, zwey besondere Quellen der Vorstellungen und Vermögen des Gemüths, jener das Vermögen, Vorstellungen selbstthätig hervorzubringen, Einheit in den gegebenen Stoff der Vorstellungen zu bringen, Gegenstände zu denken, zu urtheilen, diese hingegen das Vermögen sey, von Dingen afficirt zu werden, und dadurch Eindrücke zu empfangen.306

Unter diesem Vorzeichen ging Ewald in die weitere Untersuchung und Auseinandersetzung mit den spinozistischen Begriffen Substanz / Gott und Seele.307 Die Kritik am Substanzbegriff von Spinoza Ewald stellte eindeutig unter Beweis, dass er sich seit 1782 kontinuierlich mit dem Kantischen System in seiner Ausformung beschäftigt hat. Dessen Prinzipien bildeten für ihn die Basis seiner analytischen Reflexionen über reale Sachverhalte und seiner Vorschläge zu ihren Veränderungen. Die Auseinandersetzung mit dem System Spinozas führte Ewald, konzentriert auf dessen ontologische 305 Ebenda, S. LXII. 306 Ebenda, S. LVI f. 307 Ebenda, S. LXII. Ewald merkte dazu an: »Ob ich aber in der Anwendung dieser Grundsätze der kritischen Philosophie auf die Sätze und Behauptungen des S p i n o z a glücklich gewesen bin, darüber werden die Kenner beyder Systeme entscheiden. G.[otha] im Februar 1790.«

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Vorstellungen von der Substanz / Gott und der Seele, auf der Basis seiner nun schon verinnerlichten Kenntnis des Systems der kritischen Philosophie. Als er an die Übersetzung der »Ethik« Spinozas ging, lag es als Einheit von theoretischer und praktischer Philosophie vor.308 Grundsätzlich richtete sich Ewalds Polemik gegen Spinozas Unterfangen, sein System durch ein transzendentes Begriffsfundament, das jenseits von Erfahrungserkenntnissen liegt und damit auch die Erkenntnismöglichkeiten der menschlichen Vernunft überschreitet, ontologisch zu begründen. Das Hinübergehen über die Begrenzung, die die Reichweite des Vernunftvermögens in der Erkenntnisgewinnung – einschließlich seines regulativen Gebrauchs – setzt, war für ihn im Sinne des Erreichens von Wissen über einen objektiven Sachverhalt, nicht akzeptabel. Von dieser Grundvoraussetzung der Transzendentalphilosophie Kants ausgehend, urteilte er über den spinozistischen Begriff der Substanz / Gott, dessen inhaltliche Bestimmung und ihre Auswirkung auf das System Spinozas. Ewald hielt die Suche von Spinoza nach einer Wesenheit, die die Totalität des Seins als sich selbst setzend erfasst und damit notwendig existiert, unter der Voraussetzung für einsichtig, dass in der Welt der zufälligen Erscheinungen, die nicht aus sich selbst entstanden ist, etwas vorhanden sein muss, das als die allgemeine Quelle des Daseyns derselben zu betrachten ist, und dieses ist Gott, dessen Daseyn allein nothwendig seyn muß, weil es widersprechend seyn, und den Begriff von Gott ganz aufheben würde, wenn ich ihn mit dem Begriff von Zufälligkeit verbinden wollte. Sollen die einzelnen Dinge kein Werk des blinden Zufalls seyn, so ist meine Vernunft genöthiget, ein nothwendiges Wesen als Schöpfer und Erhalter derselben anzunehmen.309

Spinozas »Räsonnement« fortsetzend, führte Ewald aus: Wenn ich ein solches Wesen »als Ursache seiner selbst denke, welches nichts anders als Gott seyn kann, muß ich zugleich, unmittelbar das Daseyn dieses Wesens setzen, und zwar eben so nothwendig, als das Wesen selbst ist, oder, seine Natur, sein Wesen kann nicht anders als existirend gedacht werden.310

Gegen diese Begründung des Gottesbegriffs durch Spinoza setzte Ewald den kritischen Standpunkt: 308 Ewald hat sich in seiner Auseinandersetzung mit dem System Spinozas in Teil 1 von Spinoza’s Ethik auf folgende Schriften Kants gestützt, die er zum einen selbst als Quelle angab bzw. zitierte: Kritik der reinen Vernunft (2. Auflage), S. XVI, SLII f., LVI f., LXII, 69–71, 399; Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, S. 42 f.; Kritik der praktischen Vernunft, S. 17, 20–23, 86, 96, 137–140, 173–177. Zum anderen ist in seiner Argumentation hinsichtlich der Begründung des Daseins Gottes als Postulat der praktischen Vernunft die Kenntnisnahme der praktischen Philosophie Kants von grundsätzlicher Bedeutung 309 Ewald, Spinoza’s Ethik, T. 1, S. 2. 310 Ebenda, S. 3.

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Allein das Prädikat Daseyn fällt von selbst hinweg, sobald ich es mit einem Subjekt verbinde, das nur im Verstande existirt, dessen Daseyn außer demselben, aber weder in der Erfahrung gegeben ist, noch bewiesen werden kann.

Spinoza unterliegt dem Irrtum, so Ewald, dass dem Begriff Gott ein anschau­ barer Gegenstand entspricht. Gott ist aufgrund dieser Betrachtung »eine bloße transscendente Idee«.311 An dieser Stelle skizzierte Ewald in Kantischer Intention den Rahmen bzw. den Umriss seiner Argumentation, den er seiner Auseinandersetzung mit den Substanzvorstellungen Spinozas zugrunde legte: Ein reales, objektives Daseyn, es sey nun nothwendig und unbedingt, oder zufällig und bedingt oder abhängig, kann aber keiner blos transscendenten Idee, mit einigem Vortheil und der geringsten Erweiterung und Berichtigung unserer Erkenntniß, beygefügt werden; bey Begriffen hingegen, die von Gegenständen der Erfahrung, entweder unmittelbar oder von andern mit diesen reell verbundenen Gegenständen abgezogen sind, findet diese Verbindung doch wenigstens in Ansehung der hypothetischen Nothwendigkeit auf eine sehr fruchtbare Weise statt, da absolute Nothwendigkeit in der Sinnenwelt unmöglich und überhaupt nur eine zu einem blos regulativen problematischen Gebrauche dienende Vernunftidee ist,312 der schlechterdings kein Subjekt, in welchem sie als Eigenschaft immanent wäre, untergeschoben werden kann.313

Ewald profilierte seinen Standpunkt in der direkten Auseinandersetzung mit dem Begriff Substanz (3. Definition in »Ethik«). Zu Beginn meinte er, das »In sich selbst seyn« 314 der Substanz als Begriff, die Totalität des Seins zu erfassen, sei dunkel und beliebig. Er sei auf jedes Individuum anwendbar, welches sich auch aus Teilen konstituiere, und er stütze die allgemeine Meinung von der Vielheit der Substanzen. Spinoza habe seinem Begriff der Substanz den Begriff des Daseins beigelegt, ohne zu beweisen, dass es dieses in der Realität gäbe. Denn es ist noch keine Substanz je in eines Menschen Sinn gekommen, und Substanz blos ein Wort ist, das einen reinen Verstandesbegriff, etwas blos Subjektives in meinem Verstande bezeichnet, von dem ich aber nicht wissen kann, ob ihm außer meinem Verstande etwas reell entspricht, und dergleichen Verstandesbegriffe erhalten nur dann erst objektive Realität, 315 wenn man sie zu Prädikaten sinnlicher Gegenstände macht, oder auf Anschauungen bezieht.

Die Verbindung zweier Verstandesbegriffe (Substanz und Dasein), ohne sie auf Erscheinungen zu beziehen, sei »ein bloßes Geschöpf der Phantasie«.316 311 Ebenda. 312 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 280 f., 644 f. 313 Ewald, Spinoza’s Ethik, T. 1, S. 3 f. 314 Ebenda, S. 6. 315 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 270 ff. 316 Ewald, Spinoza’s Ethik, T. 1, S. 7.

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Ewalds Argumentation gegen Spinozas Ableitung des Substanzbegriffes erstreckt sich in dieser Grundsätzlichkeit über den gesamten ersten Teil der »Ethik«. Sein Hauptvorwurf gilt der Absicht Spinozas, die Gesamtheit der Dinge unter dem Begriff der Substanz / Gott subsumieren und damit als Erkenntnisgewinn erklären bzw. festlegen zu wollen. Es sei schon möglich, so Ewald, diese Ganzheit der Dinge, auch außerhalb der Sinnenwelt, als System zu denken, »daß aber dieses Ganze nur ein in und durch sich selbst bestehendes ganz unabhängiges Wesen sey, folgt aus der Vorstellung oder dem Begriff dieses Ganze nicht«.317 Substanz und Erscheinungen – kritische Bestimmung Mit der Abkehr von der spinozistischen Bestimmung der Substanz, die das Sein schlechthin als selbsttätiges Ganzes bestimmt, begab sich Ewald in seiner Polemik auf die Position Kants, wie sie dieser in der »Kritik der reinen Vernunft« in der »Ersten Analogie. Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz« vorgestellt hat.318 Er hielt Spinoza entgegen, dass er den Begriff der Substanz willkürlich festgelegt und darauf gerichtet habe, »den einzelnen Dingen die Substanzialität zu benehmen, und es nur dem Ganzen zu zu eignen«.319 Aber, so fixierte Ewald seine Position: »Nur das ist Substanz, was als Bestimmungsgrund der Dinge, als Erscheinungen, gedacht wird. An und für sich und ohne Beziehung auf sinnliche Anschauungen, ist sie nichts, und hat gar keinen reellen, objektiven Inhalt, keine Bedeutung. Soll sie dergleichen erhalten, so muss sie auf Anschauungen angewendet werden.« 320 Ewald erreichte die Versinnlichung und Objektivierung des Substanzverständnisses durch dessen Bindung an die dingliche reale Welt. Hierzu nutzte er die Kantische Konzeption des »transzendentalen Schematismus«. In der Anwendung des Schemas der Zeit321 sah er die entscheidende Möglichkeit, der transzendenten Bestimmung der Substanz durch Spinoza entgegenzutreten. Ewald argumentierte: 317 Ebenda, S. 8. 318 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 225–232. Ewald folgte konsequent dem Kerngedanken Kants: »Ich finde, daß zu allen Zeiten nicht bloß der Philosoph, sondern selbst der gemeine Verstand diese Beharrlichkeit, als ein Substratum alles Wechsels der Erscheinungen, vorausgesetzt haben, und auch jederzeit als ungezweifelt annehmen werden, nur daß der Philosoph sich hierüber etwas bestimmter ausdrückt, indem er sagt: bei allen Veränderungen in der Welt bleibt die Substanz, und nur die Akzidenzen wechseln [...]. Die Bestimmungen einer Substanz, die nichts anderes sind, als besondere Arten derselben zu existieren, heißen Akzidenzen. Sie sind jederzeit real, weil sie das Dasein der Substanz betreffen«, ebenda, S. 227, 229. 319 Ewald, Spinoza’s Ethik, T. 1, S. 8. 320 Ebenda, S. 8 ff. 321 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 182 ff.

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Da aber S u b s t a n z und A n s c h a u u n g e n ganz ungleichartige Dinge sind, indem jene blos den reinen Verstand, diese hingegen die Sinnlichkeit zur Quelle haben, so muss, zur Bewürkung ihrer Verbindung, oder um den reinen Verstandesbegriff auf Anschauungen anwenden zu können, eine d r i t t e Vorstellung ins Mittel treten, die mit beiden gleichartig ist, und diese ist d a s t r a n s s c e n d e n t a l e S c h e m a d e r Z e i t. Die Gleichartigkeit derselben aber zu jenem Verstandesbegriffe und zu den Anschauungen a priori, andern Theils aber auch die Form aller Anschauung und in dieser allemal enthalten ist. Durch diese vermittelnde Vorstellung bin ich nunmehr in den Stand gesetzt, mit den Erscheinungen ein B e h a r r l i c h e s, ein Seyn zu aller Zeit, zu verbinden. Sonach ist nur das Substanz, was in den Erscheinungen beharret, zu aller Zeit ist.322

Obwohl das Beharrliche an sich nicht empirisch gegeben ist, so setzte Ewald fort, sei es eine notwendige Bedingung zur Bestimmung der Merkmale der Objekte: Also ist in allen Erscheinungen das Beharrliche die S u b s t a n z; so wie alles Wandelbare, alles was in den Erscheinungen wechselt, oder die Arten, wie das Beharrliche existiert, A c c i d e n z e n sind.323

Das Beharrliche an sich, die Substanz, bleibt unverändert, nur die Art und Weise ihrer Existenz ändert sich. Jedem Individuum, das in der Erfahrung gegeben ist, liegt ein Beharrliches zugrunde. Dies gilt aber nicht von der ganzen Natur. In ihrer Gesamtheit ist uns die Natur oder die Welt nicht gegeben, weil auch der Begriff von der Weltgröße nur durch den Regressus in indefinitum, (wenn sich weder Endlichkeit noch Unendlichkeit der Reihe erkennen läßt)324 und nicht vor diesem Regressus in einer c o l l e c t i v e n A n s c h a u u n g gegeben ist.325 Ein Weltganzes existirt also blos im Begriffe, nicht aber, als solches, in der Anschauung; es läßt sich also auch die Categorie Substanz nicht auf dieselbe anwenden, und bleibt mithin nur für diejenigen Gegenstände, die in der Erfahrung gegeben werden können.326

Da diese sich »selbstgenügende Substanzialität« nur einem unendlichen und notwendigen Wesen zukomme, warf Ewald im Hinblick auf seine weitere Auseinandersetzung mit Elementen und Strukturen des spinozistischen Systems die für ihn prinzipielle Frage auf: Giebt es ein Wesen, das durch sich selbst ist, existirt eine solche Substanz reell und objektiv außer unserm Verstande, und kann sein objektives Daseyn bewiesen werden?327

Ewald setzte in der Auseinandersetzung mit der Philosophie Spinozas um diese grundlegende Frage das transzendentalphilosophische Potential konsequent ein. 322 Ewald, Spinoza’s Ethik, T. 1, S. 9. 323 Ebenda. 324 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 546. 325 Ebenda, B 551. 326 Ewald, Spinoza’s Ethik, T. 1, S. 10. 327 Ebenda, S. 11.

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Die Kommentierung des spinozistischen Verständnisses von Gott / Substanz, der Attribute und der Modi der Substanz sowie der Vorstellung von Freiheit und aller übrigen Grundelemente des Systems nahm er von der Kantischen Position der Gewinnung von Erfahrungserkenntnissen vor. Letztlich kritisierte er an Spinozas Beweisführung das Fehlen aller notwendigen Konstitutionselemente, die zur Bildung von »synthetischen Urteilen« a priori erforderlich sind. Er ging davon aus, dass wahrgenommene Erscheinungen der realen Welt durch Formen der Anschauungen und Verstandesbegriffe zu Erkenntnissen formiert werden.328 Von daher wies er Spinozas Begründung seiner Systemkonstruktion als unrealistisch und dogmatisch zurück. Die Kritik an der Vorstellung Spinozas von Gott Letztendlich ging es Ewald um die Widerlegung der Begründung Spinozas für das Dasein Gottes. Er kritisierte die transzendente, die Grenzen der menschlichen Vernunft übersteigende Sichtweise auf »extramundane Gegenstände«,329 die keinen auf unmittelbarer Erfahrung beruhenden Beweis für das Dasein Gottes erbringen kann. Er könnte mittelbar erbracht werden, wenn ein anderer Gegenstand als Erscheinung ins Mittel tritt, der mit jenem nach irgend einem Verhältniß, z. B. dem der Ursach und Würkung, reell nach den Analogien der Erfahrung verknüpft ist. In diesem letztern Falle wird das Daseyn eines Gegenstandes comparativ a priori erkannt, ehe noch der Gegenstand selbst wahrgenommen wird; aber wohl zu merken, das Erkenen dieses Gegenstandes muß sich nothwendig auf eine würkliche Wahrnehmung gründen, die unmittelbar auf das Daseyn jenes Gegenstandes hinweist, und dieser Gegenstand muß in dem Felde möglicher Erfahrung können gefunden werden.330

Deshalb hielt Ewald das Verfahren Spinozas, den Begriff der Substanz mit dem Anspruch auf das totale Erfassen des Seins festzulegen und damit das Dasein Gottes zu begründen, für unstatthaft. Denn: Eine solche Substanz, die nichts anders als eine S u b s t a n t i a n o u m e n o n seyn kann, da sie in der Erfahrung weder mittelbar noch unmittelbar gegeben ist, involvirt 328 Ebenda, S. 39–41. Ewald erklärte: Ideen, »die ihren Grund blos in der Spontaneität unsers Gemüths haben, denen aber außer der Vorstellung in der Erfahrung nichts entspricht;« lehne er als Basis der Wahrheitsfindung ab. »Ist aber das Subjekt eines Urtheils eine A n s c h a u u n g , eine sinnliche Vorstellung, der ein bestimmter Gegenstand außer der Vorstellung entsprechen muß, so ist die Wahrheit, die aus der den Gesetzen des Denkens gemäßen Verbindung eines Prädikats mit demselben entspringt, eine objektive, und ein solches Urtheil enthält nicht blos einen Gedanken, als Würkung des bloßen Denkens, sondern eine reelle Erkenntniß, die, je nachdem das Prädikat schon im Subjekte enthalten ist, oder demselben erst beygefügt wird, entweder eine a n a l y t i s c h e oder s y n t h e t i s c h e «, ebenda, S. 39. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 190–197. 329 Ewald, Spinoza’s Ethik, T. 1, S. 77. 330 Ebenda, S. 51. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 273.

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also nicht nothwendig ein reelles objektives Daseyn. Sie ist ein bloßes Verstandeswesen, mit der Categorie des Daseyns verknüpft. Ein Daseyn von Etwas, das gar kein Gegenstand der Erfahrung und Wahrnehmung seiner Natur nach seyn kann, aus Vernunftgründen a priori beweisen und demonstriren wollen, ist eben so vergeblich, als das Daseyn von Dingen a priori beweisen zu wollen, wo schon das Zeugniß der Sinne genug ist.331

Obwohl Ewald der Beweisführung Spinozas für die Existenz einer universalen Substanz und ihrer Strukturen wiederholt vorwarf, eine Zirkeldefinition zu enthalten, da das zu Beweisende (das Dasein Gottes) schon in der Prämisse vorausgesetzt werde,332 empfand er doch eine gewisse Sympathie für Spinozas Versuch, die Wirklichkeit als eine von Gott bestimmte Totalität zu erklären. Er strebte doch gleichfalls eine theistische Welterklärung an, die er allerdings mit Kant aus den Möglichkeiten der menschlichen Vernunft abzuleiten gewillt war. In seinen Anmerkungen zur 6. Definition (»Über Gott und Substanz«) von Spinoza stellte er fest, da Gott als Ursache aller Dinge in den Erscheinungen durch den menschlichen Verstand nicht erkannt wird, so ist »nur ein vernunftgemäser G l a u b e, mit welchem sich der Mensch begnügen muß«,333 zur Annahme eines höchsten Wesens möglich. Ewald erklärte seinen Standpunkt: Man kann es also einem jeden überlassen, welche Vorstellung oder welchen Begriff er sich von Gott machen will, wenn er nur nichts enthält, wodurch dem I d e a l , das sich die aufgeklärte Vernunft von ihm entwerfen muß, an seiner Würde etwas entzogen wird. Und hiermit kann der Begriff des S p i n o z a an sich gar wohl bestehen; ob ihn gleich die spekulative Vernunft, sobald man von diesem Wesen etwas zu wissen und beweisen zu können behauptet, nach der gerechten Strenge ihrer Forderungen keinesweges als einen Grundsatz gelten zu lassen gehalten ist. In Ansehung seines praktischen Gebrauchs behält er immer seinen großen und unsäglichen Werth und Gehalt; aber in metaphysischer Rücksicht ist sein Inhalt blos subjektiv, und wer seine reelle Objektivität behaupten will, muß sie streng beweisen, welches aber nach der Natur unsers von einem Kreiß sinnlicher Erscheinung umschlossenen Verstandes schlechterdings unmöglich ist.334 331 332 333 334

Ewald, Spinoza’s Ethik, T. 1, S. 53. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 307–311. Ewald, Spinoza’s Ethik, T. 1, S. 65–67. Ebenda, S. 16. Ebenda, S. 17. Ewald sah die Zielsetzung göttlichen Seins und Wirkens u. a. in der Orientierung des Menschen auf die Gestaltung seiner mitmenschlichen bzw. menschheitlichen Bestimmung. So hat er seiner Übersetzung des »Theologisch-politischen Traktats« von Spinoza folgenden Leitgedanken vorangestellt: »Joh. I. Epist. K. 4, 13. Daran erkennen wir, daß wir in ihm bleiben und er in uns, daß er uns von seinem Geiste gegeben hat.« Diesem von Ewald zitierten Passus aus dem ersten Brief des Johannes im Neuen Testament stehen folgende Sätze voran (K. 4, 11 und 12): »Ihr Lieben, hat uns Gott so geliebt, so sollen wir uns auch untereinander lieben. Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist völlig in uns.«

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In seiner Kommentierung des »Fünfzehnten Lehrsatzes« (»Alles, was ist, ist in Gott, und ohne Gott kann nichts seyn und gedacht werden« 335) drang Ewald nachdrücklich auf die Hinwendung zur vernunftbegründeten Erklärung des Daseins Gottes; denn Spinozas Beweis, der in seiner Form sehr bündig sei, verliere an Kraft, da seiner Idee kein reeller Gegenstand entspricht. Aber: Sobald ich inzwischen auf metaphysische Beweise vom Daseyn einer unendlichen Substanz Verzicht thue, und einem auf unerschütterlichen, in meiner vernünftigen Natur liegenden Gründen gebauten Glauben an das Daseyn eines höchsten und vollkommensten Wesens, Raum gebe, sobald ist dieser Satz des S p i n o z a groß, erhaben, wahrapostolisch und mehr als alles dieses, tröstend und herzerquickend: I n G o t t leben, weben, und sind wir.336

In der Auseinandersetzung mit Spinozas Vorstellung vom Endzweck, den Gott in der gesamten Natur gesetzt habe, kam Ewald zu dem Ergebnis, dass sich die Gültigkeit von Begriffen des Verstandes für die tatsächliche Welt, wie Vollkommenheit bzw. Unvollkommenheit, nicht beweisen lasse. Er verallgemeinerte: Ueberhaupt läßt sich eben so wenig a p o d i k t i s c h beweisen, daß Gott sich bey der Schöpfung der Dinge einen Endzweck vorgesetzt habe, als sich das Gegentheil auf eine befriedigende Weise darthun läßt, da die spekulative Vernunft sich nirgend an eine Erfahrung halten kann, auf die allein sich doch der Gebrauch ihrer Begriffe, zur Bildung objektiv gültiger Urtheile einschränkt.337

Da wir aber, wenn wir von Gott und seinen Eigenschaften reden, so Ewald, »nach den Regeln u n s e r s Verstandes, und wie es die Begriffe desselben in Verbindung mit den Anschauungen an die Hand geben«, urteilen und unsere Handlungen nach Endzwecken bestimmen, so sehen wir auch Gott, »den wir uns als das vernünftigste und verständigste Wesen denken«, in der Situation, dass er »nach den höchsten Endzwecken« handelt und wirkt.338 Wollte man auch diesen verzeihlichen »Anthropomorphismus«, den wir Gott nur seinem Verhältnis zur Welt beilegen, so fixierte Ewald seinen prinzipiellen Standpunkt: nun so höre man auf, Vernunftideen zu versinnlichen, und sich erträumter Kenntnisse von diesen Gegenständen zu rühmen, die nirgends in der Erfahrung gegeben sind; sondern beruhige sich mit der erhabenen Idee des Daseyns eines höchsten Wesens, als einem nothwendigen Bedürfniß der praktischen Vernunft, ohne welches kein Zusammenhang zwischen Sittlichkeit und einer ihr proportionirten Glückseligkeit schlechterdings nicht statt finden kann.339 335 336 337 338 339

Ebenda, S. 85. Ebenda, S. 86. Ebenda, S. 175. Ebenda, S. 176. Ebenda, S. 176 f. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 837. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 128 ff.

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5.4.2. Der zweite Teil der »Ethik« Ewald stellte dem zweiten Teil seiner Übersetzung der »Ethik« von Spinoza (»Von der Natur und dem Ursprunge der Seele«) eine »Kurze Darstellung der Lehre des Spinoza von der menschlichen Seele« voran.340 Er erklärte in seiner Diktion, ausgehend von der Bestimmung Gottes als Substanz, seiner Attribute (Ausdehnung und Denken) und deren Modi, die Einordnung dieses dem Menschen eingegebenen Vermögens, d. h. der Seele, in die Struktur des spinozistischen Systems. Er versuchte, sowohl die parallele Existenz von Ausdehnung und Denken als auch deren Eigenständigkeit, insbesondere des Denkens, herauszustellen. Es ist der Modus des Denkens in der Form der »Seele«, die Ewald in ihrer Befähigung zur Erkenntnis bzw. als Selbstbewusstsein im Geschehen der Substanz zu erfassen sucht. Ewald schrieb: Die Seele ist also nichts, das für sich bestände, denn sonst würde das, was das Wesen der Substanz ausmacht, zum Wesen der Seele gehören, welches ungereimt wäre. Das Wesen der Seele besteht vielmehr in Begriffen, als Modifikationen des unendlichen Denkens der einzigen Substanz; und die Begriffe haben nur ein formales Wesen, d. i. ein solches, dessen würkende Ursache Gott, als d e n k e n d e s Wesen betrachtet, ist. Gott selbst, als denkendes Wesen ist die causa efficiens der Begriffe [...].341

Den Erkenntnisvorgang im System Spinozas erläuterte er anhand der Struktur der Begriffe, die in ihrer Ganzheit durch die Substanz bzw. Gott bestimmt wird und diese widerspiegelt, denn in der Natur Gottes entspricht einer jeden einzelnen Sache und jedem Theile einer Sache, welche sämmtlich Modifikationen seiner unendlichen Ausdehnung sind, auch ein Begriff oder eine Vorstellung, als Modifikation des göttlichen Denkens.« 342

Mit der Unterscheidung und Bezeichnung von vollkommenen und unvollkommenen oder verworrenen Begriffen zeigte Ewald die Erkenntnisgewinnung von wahren Vorstellungen aus dem Selbstbewusstsein selbst oder aus dem Wahrnehmen der sinnlichen Modifikationen der göttlichen Natur auf. Deshalb erfordere wahre Erkenntnis: die Begriffe müssen mit den begriffenen Sachen völlig überein kommen. Die Falschheit der Begriffe oder Vorstellungen besteht nicht in etwas Wirklichem, das sich in 340 Ewald, Spinoza’s Ethik, T. 2. Wichtig für die Rezeption der Schriften Kants und Karl Leonhard Reinholds durch Ewald ist der Hinweis des Rezensenten der GgZ, 19. St. vom 7. März, 1792, S. 180, dass der zweite Teil der Übersetzung der Ethik von Spinoza schon um 1790, also etwa zwei Jahre vor seinem Erscheinen (1793), durch Ewald dem Verleger zugegangen war. Ein Indiz dafür ist, dass Ewald in diesem zweiten Teil der Ethik auf Kants »Kritik der Urteilskraft« (1790) hinweist, vgl. Ewald, Spinoza’s Ethik, T. 2, S. 144. 341 Ewald, Spinoza’s Ethik, T. 2, S. 2. 342 Ebenda, S. 9.

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den Begriffen befände; sondern in einem Mangel der Erkenntniß, welchen die unvollständigen, unvollkommnen, verworrenen Begriffe in sich fassen. Begriffe, welche vollständig und vollkommen in uns befindlich sind, sind wahr.« 343 Ewald resümierte diese von Spinoza konzipierte Teilhabe des Menschen am Geschehen der Natur Gottes als begriffene Systemrationalität, die den menschlichen Willen im Sinne des Ganzen bestimmt: Da nun die Seele Begriffe hat, nach welchen sie sich selbst, ihren Körper und die äußern Körper als würklich existirend vorstellt, so hat sie auch eine vollständige Erkenntniß Gottes. Es gibt in der Seele keinen absoluten und freyen Willen, sondern sie wird dieses oder jenes zu wollen, von einer Ursache bestimmt, die ebenfalls von einer andern Ursache bestimmt ist, und so fort ins Unendliche. Der Wille, oder das Wollen, ist weiter nichts als eine Bejahung oder Verneinung, und es gibt in der Seele kein anderes Wollen, keine andre Bejahung und Verneinung, als dasjenige, welches der Begriff, in sofern er Begriff ist, in sich faßt. Wille und Verstand sind also eins und dasselbe.344

Ewalds Kritik an Grundsätzen der Philosophie Spinozas richtete sich erstens weiterhin gegen das strikt monistisch angelegte Fundament des spinozistischen Systems. Er lehnte im Sinne der kritischen Philosophie die apodiktische Festlegung eines Wissens über die Existenz einer Wesenheit, die die Wirklichkeit in ihrer Ganzheit durchwaltet, ab. Zweitens wandte er sich gegen die dominierende rationale Bestimmung des Erkenntnisvorgangs und dessen Einordnung in das Wirken einer übermenschlichen Vernunft. Ewald sah die selbständige und gleichzeitig begrenzte Rolle des menschlichen Selbstbewusstseins für das Erkennen und das Handeln nicht hinreichend erklärt. Er wollte sowohl die Eigenständigkeit des empirischen Bereichs (Erscheinungen) als auch die Aktivität des Vernunftvermögens (Rezeptivität / Spontaneität) als sich bedingende Komponenten im Prozess der Gewinnung objektiver Erkenntnisse herausgestellt wissen. Drittens erklärten für Ewald, bei aller Akzeptanz und Anerkennung der toleranten und humanistischen Intentionen Spinozas und deren systematische Fassung, nur die Vorstellungen Kants über das Wesen und die Funktion der praktischen Vernunft die Notwendigkeit des moralischen Handelns, die unbedingte Konstitution eines entsprechenden Gemeinwesens (Staat, Verfassung) und den Glauben an die Existenz einer göttlichen Weltordnung realistisch und präzise. Im Folgenden soll auf die Reflexion Ewalds über die Vorstellungen Spinozas zu den drei genannten Aspekten eingegangen werden. Zur Aktivität der Vernunft: Spinoza, Kant und Reinhold Ewald sah in der Bestimmung der »Idee« als »Begriff« oder »Conceptus« (und nicht als »Perception«) durch Spinoza den Ansatz, »unser selbstthätiges Erkenntnißvermögen oder der [den] Verstand«, welches »in der weitesten Bedeutung durch 343 Ebenda. 344 Ebenda, S. 12.

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begreifen, u r t h e i l e n und s c h l i e ß e n sich äußert«, weiterhin zu erforschen. Denn bisher sind doch bis auf den Königsbergischen Philosophen die besondern Vermögen, welche jene drey Operationen zu Stande bringen, nemlich der V e r s t a n d i n e n g e r e r B e d e u t u n g oder das Vermögen der Begriffe die B e u r t h e i l u n g s k r a f t oder das Vermögen der Urtheile, und die V e r n u n f t, oder das Vermögen der Schlüsse, so wenig kritisch entwickelt worden, daß man sich bis dahin weder von diesen Vermögen selbst, noch von ihren besonderen Operationen eine richtige und deutliche Vorstellung hat machen können.345

Auch Spinoza habe dies nicht geleistet, wenngleich er wohl mit dem Wort »conceptus« (statt »perceptio«) »eine Thätigkeit der Seele auszudrücken scheine«,346 da er doch die Seele als denkendes Wesen sah. Aber nach den neuen von K a n t und R e i n h o l d über das Vorstellungsvermögen und die Natur der verschiedenen Vorstellungen selbst gegebenen Aufklärungen 347

könnte man meinen, daß S p i n o z a schon eine, obwohl noch nicht ganz deutliche, Erkenntniß von der doppelten Natur unsers Erkenntnißvermögens, oder der Receptivität und Spontaneität desselben gehabt und den Unterschied zwischen A n s c h a u u n g e n (denn was könnten sonst seine Perceptionen wohl anders seyn?) und B e g r i f f e n schon geahndet habe; daß er also von dem, was er I d e e, Vorstellung überhaupt, nennt, die Anschauungen habe ausschliessen, und auf diejenige Art der Vorstellung einschränken wollen, die wir jetzt, nach Kanten, re i n e V e r s t a n d e s b e g r i f f e nennen.348

In der Folge wird offensichtlich, dass Ewald die Auseinandersetzung mit Spinozas Darstellung der Erkenntnis des menschlichen Geistes und seines Potentials von einem scheinbar erweiterten bzw. vertieften Standpunkt des kritischen Denkens ausführte, da er in der Konzeption von Karl Leonhard Reinhold über das »Vorstellungsvermögen« vorerst eine differenzierende Weiterentwicklung bzw. konsistentere Fundierung des kritischen Denkens Kants sah. Ewald stellte fest: Wie weit bestimmter heut zu Tage unsere Erkenntniß von unserm Vorstellungsvermögen und seinen Würkungen durch K a n t s und R e i n h o l d s Bemühungen geworden ist, wird sich aus folgender Darstellung der Vorstellungsarten, nach des letztern Philosophen Versuch einer neuen Theorie des Vorstellungsvermögens (Prag und Jena 1789) ergeben.349 345 346 347 348 349

Ebenda, S. 18 f. Ebenda, S. 20. Ebenda, S. 19. Ebenda, S. 20 f. Ebenda, S. 22. Vgl. S. 164. Ewald zitierte Reinhold zum Problem der bildlichen Vorstellung des sinnlichen Objekts.

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Hier erhebt sich die Frage: Inwieweit folgte Ewald der Reinholdschen Theorie des Vorstellungsvermögens, in der dieser bekanntlich durch den »Satz des Bewußtseins« der Philosophie Kants das bisher fehlende allgemeingeltende Prinzip zu geben beabsichtigte? Zum einen akzeptierte Ewald das Konzept Reinholds über das Vorstellungsvermögen als eine unterstützende Interpretation für die von Kant entworfene Konstellation zur Gewinnung von Erfahrungserkenntnissen. Er bezog ihre Begrifflichkeit in seine Argumentation gegen Grundsätze von Spinoza ein. Zum anderen zeigte sich, dass Ewald seine Polemik gegen Spinozas Ideen grundsätzlich vom Gesamtsystem Kants aus führte. Es war stets sein Grundanliegen, dass die unterschiedliche Qualität zwischen sinnlicher Anschauung und Verstandes- bzw. Vernunfttätigkeit im Vorgang der Gewinnung von Erfahrungserkenntnissen nicht durch eine subjektimmanente Konstruktion verengt bzw. eingeebnet wird. Dass Ewald in Reinholds Bestrebungen am Ende der achtziger Jahre noch eine konsequente Fortsetzung bzw. strukturelle Vertiefung des kritischen Denkens Kants sah, änderte sich bis um 1800 grundlegend. Vorerst fand Reinholds Vorgehen, wie er es in seiner Schrift »Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens« (1789) darlegte, in der Rezension der GgZ (7 S.) zu dieser Schrift eine ausführliche und lobende Anerkennung.350 Der Überblick, den Ewald über Reinholds Theorie des Vorstellungsvermögens auf 5 Seiten gab, ist ein komprimierter Abriss über das 2. und 3. Buch der Schrift, wie er in ähnlicher Form in der genannten Rezension zu finden ist. Das Begriffssystem Reinholds konzentrierte er auf folgende Schwerpunkte: – Vorstellung als Gattungsbegriff, Arten der Vorstellung: Empfindung, Gedanke, Anschauung, Begriff und Idee, sind die Namen, womit die Würkungen der Veränderung unsers Gemüths, die wir Vorstellen nennen, bezeichnet werden.351 350 GgZ, 100. St. vom 16. Dezember 1789, S. 881–888. Der Rezensent, es ist ohne Zweifel Ewald, begründete sein Urteil wie folgt: »Und da der Grund der Hauptmißverständnisse in Ansehung der Vernunftkritik hauptsächlich darin bestand, daß man bey der bisherigen Vorstellungsart vom E r k e n n e n Prädicate, die der b l o ß e n V o r s t e l l u n g von Dingen angehören, auf die Dinge selbst übertrug, der Begriff von der V o r s t e l l u n g überhaupt aber in der Kritik der Vern. mehr v o r a u s g e s e t z t, als entwickelt ist; so war es zur Wegschaffung dieser Schwierigkeit nöthig, die Merkmale, die den Begriff von der Vorstellung überhaupt ausmachen, vollständig aufzusuchen, zu entwickeln und systematisch zu ordnen.« Dies sei »der Schlüssel der Vernunftkritik«, die mit Kants Vernunftkritik »in der genauesten Verbindung« stehe, ebenda, S. 882. 351 Ewald, Spinoza’s Ethik, T. 2, S. 22. Vgl. GgZ, 100. St. vom 16. Dezember 1789, S. 885. Zur Darlegung der Vorstellungsarten durch Reinhold hat der Rezensent (Ewald) folgenden Zusatz (in Klammern) angefügt: »(Daß auch K a n t die Vorstellung überhaupt, als G a t t u n g, und Empfindung, Gedanken, Anschauung u.s.w. als V o r s t e l l u n g s a r t e n annimmt, erhellet aus der S. 376 der 2ten Auflage seiner Krit. d. r. V. angegebenen Stufenleiter derselben.).«

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– Vorgestelltes Objekt (Stoff) und vorstellendes Subjekt (Form) auf der Basis der blossen Vorstellung. – Rezeptivität und Spontaneität des Vorstellungsvermögens – Synthesis des Mannigfaltigen. – Vorstellungen a priori (Formen der Allgemeingültigkeit / Notwendigkeit) Vor stellungen a posteriori (empirischer und objektiver Stoff). – Äußere und innere Empfindung. – Empirische und reine Anschauung. – Entstehung der Vorstellung durch Spontaneität – Verbindung des mannigfaltig Vorgestellten zur Einheit der Vorstellung. – Das Mannigfaltige im Begriff als Stoff für die Idee. Da Reinhold in dieser Schrift den »Satz des Bewußtseins« noch nicht als Basis seines Systems erklärte, wie es wenig später in seiner Elementarphilosophie geschah,352 so sah Ewald im Reinholdschen Konstrukt nur eine willkommene Präzisierung des Kantschen Kritizismus. Das tendenzielle Vorgehen Reinholds zur subjektiv-idealistischen Vereinseitigung des Erkenntnisvorganges, die er mit der stärkeren Gewichtung der Spontaneität ermöglichte, war für Ewald hier noch nicht gegeben. Wenngleich er von Reinholds Überlegungen angetan war, so zeigte sich in der Auseinandersetzung mit den Prinzipien Spinozas, dass er die kritische, transzendentale Struktur der Erkenntnisgewinnung nicht verließ. Das geschah auch dann nicht, wenn er den Begriff der Vorstellung und dessen begriffliche Ableitungen in seiner Argumentation einsetzte. Eine typische Konstellation seines Argumentierens, die von Positionen des kritischen Philosophierens getragen wird, stellte Ewald in der Auseinandersetzung mit Spinozas »Siebentem Lehrsatz« vor. Er übersetzte: »Die Ordnung und der Zusammenhang der Begriffe ist eben so beschaffen, wie die Ordnung und der Zusammenhang der Dinge.« 353 Spinoza konstatierte hier sowohl die voneinander unabhängige und parallele Existenz der Attribute (Denken, Ausdehnung) sowie deren Modifikationen als auch deren jeweils nur inneres Kausalverhältnis. Ewald hielt dem entgegen, dass in dieser Betrachtung von Verbindung überhaupt nur insofern eine »Causalverbindung« vorhanden ist, »als ich sie mir v o r s t e l l e, d e n k e.« 354 Jedoch ist das »Ursachwerden oder Ursachseyn« keine Eigenschaft, die den Dingen anhaftet, so Ewald, sondern sie ist ein a priori in uns vorhandener Verstandesbegriff, der mich in den Stand setzt, zwey oder mehrere Dinge vermittelst des transscendentalen Schemas der Zeit, ohne welches keine Verbindung reiner Verstandesbegriffe mit Anschauungen 352 Vgl. Carl Leonhard Reinhold, Beiträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen, Bd. 1, hrsg. Faustino Fabbianelli, Hamburg 2003, S. XVIII ff. 353 Ewald, Spinoza’s Ethik, T. 2, S. 55. Ewald übersetzte das von Spinoza gewählte Wort »idea« (Urbild, Idee, Ideal) mit dem Wort »Begriff«. 354 Ebenda, S. 59 f.

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möglich ist, in der Vorstellung so zu verbinden, daß ich das eine als die Ursache, und das andere als die Würkung von jenem mir vorstelle und erkenne. Hieraus erhellet also, daß zwischen sinnlichen Gegenständen als solchen, und in wiefern sie nicht vorgestellt werden, kein Causalverhältniß objektiv obwalte, sondern daß, sobald von einem solchen Verhältniß die Rede ist, solches blos die Vorstellungen von diesen Gegenständen angehe; und daß S p i n o z a i r r e, wenn er behauptet, daß beyde, die Causalverknüpfung der Dinge selbst und die Causalverknüpfung der Begriffe oder Vorstellungen von denselben Gegenständen unter sich, immer parallel laufen.355

Das Erkennen des Ursache-Wirkungs-Verhältnisses (Kausalität) band Ewald strikt an drei Voraussetzungen: 1. Die Dinge müssen sinnlich gegeben und vorstellbar sein. 2. Die Vorstellungen der Dinge müssen im »Gemüth« des erkennenden Subjekts vorhanden sein. 3. Der Begriff der Ursache, »dem als bloßer Form des Verstandes kein sinnlicher Gegenstand entspricht«, muß – und hier wiederholte Ewald seine erkenntniskritische Position – durch das transscendentale Schema aller Verstandesbegriffe, die Zeit, mit der Vorstellung der sinnlichen Objekte verbunden werden [...].

Er konstatierte, daß die Caussalität zwischen Gegenständen einer übersinnlichen Welt und zwischen diesen und Gegenständen der sinnlichen Welt gar nicht erkennbar, kein Objekt unserer Erkenntniß sey.356

Aus diesem Grund ist nach Ewalds Meinung die Ableitung des Gottesbegriffs durch Spinoza unstatthaft. Zudem sei es eine rein menschliche Vorstellung, wie Gott sich ein solches Verhältniß denken mag. Wir kennen dieses höchste Wesen gar nicht, und es ist uns schlechterdings eben so unmöglich, uns von seinem Denken einen Begriff zu machen, als es uns unmöglich ist, den höchsten Verstand und die höchste Vernunft der Sinnlichkeit zu unterwerfen, die nur für uns eine nothwendige Bedingung zur Bewürkung einer Erkenntniß, und mithin auch der Verhältnisse der Dinge unter einander, ist.357

Es sei hier nochmals betont, dass Ewald das Grundanliegen Kants, durch den transzendental-kritischen Entwurf eines Systems der Philosophie diese als Wissenschaft des Vernunftgemäßen zu fundieren und damit zu befähigen, die objektive 355 Ebenda, S. 60. 356 Ebenda, S. 60 f. 357 Ebenda, S. 62 f. Vgl. auch ebenda, S. 255 f. Ewalds Darlegungen zeigen hier z. B. den Einfluss der Begriffsstruktur von Reinhold: »Die Gewißheit unserer Erkenntniß gründet sich zuförderst auf das Bewußtseyn des Unterschieds zwischen unserem Vorstellungsvermögen als dem Subjekt der Vorstellungen, und zwischen den Vorstellungen und dem vorgestellten Objekte selbst; und dieses dreyfache Bewußtseyn überzeugt mich von dem würklichen Daseyn eines von meiner Vorstellung und von meinem vorstellenden Ich verschiedenen und ganz unabhängigen Gegenstandes.«

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Realität in ihren gesetzmäßigen Zusammenhängen und in ihren Grenzen wahrzunehmen und zu erkennen, nicht aufgegeben hatte. Seine Kritik war prinzipiell gegen jedes philosophische System gerichtet, welches die Kantische Erkenntniskonstellation verlässt. Das zeigen späterhin seine Urteile über Reinholds Systemwechsel und über die ersten Vertreter des deutschen Idealismus in Jena.358 Ewald wies das Ansinnen Reinholds zurück, »daß die ganze Philosophie aus einem solchen Grundsatz entwickelt« werde. Dies ist aber ganz unmöglich, weil es mehrere ursprüngliche, d. i. von andern nicht abzuleitende Operationen des Geistes gibt. Da diese jedoch innig mit einander verbunden sind, so führt allerdings die Reflexion auf eine derselben auch auf das Bewußtseyn der andern, und deshalb ist es möglich, insofern von einem ersten Grundsatze auszugehen, als man daran die übrigen anzuknüpfen im Stande seyn wird.

Entscheidend sei nicht, grundlegende Zusammenhänge als Grundsätze »durch die Ueberschrift als solche« zu bezeichnen, sondern eine auf dem Vernunftvermögen beruhende Basis der Erkenntnisgewinnung zu finden. Denn: K.[ant] geht davon aus, daß wir objectiv urtheilen – eine Sache, die durchs Bewußtseyn ausgemacht ist.

Denn was dabei vorgehe und reflektiere, exponiere Kant als »das urtheilende Bewußtseyn«.359 Ewald verteidigte letztendlich das transzendentalphilosophische Konzept Kants und betonte die für die Erkenntnis konstitutiv wirkende Vernunfttätigkeit. Er erklärte: Bei jener Reflexion [im urteilenden Bewusstsein] nun ist durchweg die Leiterin K a n t ’ s die Vernunft, die nichts anders ist, als das Gesetz des Geistes, alle unsere Urtheile in Uebereinstimmung, zur Einheit unter Principien zu bringen.360 358 Vgl. GgZ, 84. St. vom 20. Oktober 1802, S. 731–737. Rezension zu Karl Leonhard Reinhold (Hrsg.), Beiträge zur leichtern Uebersicht des Zustandes der Philosophie beim Anfange des 19ten Jahrhunderts, Hamburg 1801. Der Rezensent (es ist in Intention und Diktion Ewald selbst) verwahrte sich gegen den von Reinhold im ersten Beitrag konstatierten »höheren Standpunkt«, der über dem Niveau der kritischen Philosophie Kants liege. Er stellte klar: »Der Rec. bekennt, daß er noch immer die Grundsätze der Kritik für die wahren und echtphilosophischen hält, und daß er aus dem kritischen Standpunkte das Entstehen und die partikulare Wahrheit aller philosophischen Systeme richtig beurtheilen zu können meint. Daß ihn seine Ueberzeugung gegen die Verdienste Andersdenkender nicht blind gemacht habe, und daß er bei der Beurtheilung ihrer Schriften sich gern auf eine nähere Erörterung der Gründe einlasse, glaubt er oft gezeigt zu haben.« Ewald entgegnete Reinhold: »K a n t ’ s Kritiken gehen nicht von einem ersten Grundsatze oder einzigen Grundbegriffe aus, und führen eben so wenig zu einem der Philosophie als Wissenschaft eigenthümlichen und der theoretischen und praktischen reinen Philosophie gemeinschaftlichen ersten Grundsatze oder einzigen Grundbegriffe hin«, ebenda, S. 732. 359 Ebenda, S. 733. 360 Ebenda.

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Aus dieser von Kant herausgearbeiteten Fähigkeit der Vernunft zur objektiven Erkenntnis leitete Ewald, auch nach 1800, seine Zustimmung zum System der kritischen Philosophie ab. Denn: Auf diesem Wege und nach dieser Methode geht K. durch seine drei Kritiken fort, die so, unserer Einsicht nach, genau aneinander schließen und ein System aufstellen, dessen Richtigkeit eben dadurch verbürgt wird, daß vermittelst desselben jene Vernunfteinheit wirklich erreicht ist.361

Gegen Reinhold, der mittlerweile anderen Prinzipien folgte, grenzte sich Ewald – anlässlich dessen Kritik an Kants Terminologie in der Rechtslehre (die mit der praktischen Philosophie nicht einstimmig sei) – nunmehr konsequent ab: Für den, der nicht blos an den Ausdrücken klebt, sondern selbstdenkend, seinen Schriftsteller verfolgt, bedurfte es nicht erst, um hier sich herauszufinden eines Aufschlusses durch die sogenannte vollendete Transscendentalphilosophie der Hrn. Fichte und Schelling. Es scheint uns auch hier wieder zu erhellen, daß Hr. R.[einhold] selten weiter geht, als andere ihn führen, selten mehr sieht, als andere ihm zeigen.362

Kants kritisches System und die Freiheit des Willens Die Auseinandersetzung mit dem spinozistischen System bestärkte Ewald als Verteidiger der Philosophie Kants in zweifacher Hinsicht. Einerseits zeigte er auf, dass die Übertragung von Grundsätzen und Methoden zur Erkenntnis von sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen nicht zum Erkennen übersinnlicher Wesenheiten möglich ist. So würde zum Beispiel, so Ewald, die Anwendung des Kausalprinzips, das Kant als apriorische Denkform des menschlichen Verstandes ansah, auf das Wirken Gottes zu dessen Anerkennung als Ding an sich führen: Man sieht aus diesem Beyspiele deutlich, welch ein Schweif von Galimathias und nicht zu entwirrenden Wirrwarr das Verfahren nach sich zieht, wenn man sich mit den Gesetzen unseres Verstandes und unserer Vernunft, die nur auf diese gegenwärtige Welt der Natur und der Sitten anwendbar ist, in die Regionen des Extramundanen versteigt und sich jene Welt von Ideen und diese Ideen selbst als außer uns existirend denkt, die doch nur in unserm Denkvermögen selbst sind.363

Andererseits verteidigte Ewald das apriorische Potential der menschlichen Vernunft als ontologische Basis, die es dem Menschen ermöglicht, die sinnlich wahrnehmbaren Bereiche des Seins in ihren notwendigen und allgemeinen Strukturen zu erkennen und zu gestalten. Die so entstandene, überprüfbare und nutzbare Erfahrung sah er als Kriterium der Wahrheit dieser Erkenntnisse an. 361 Ebenda. 362 Ebenda, S. 736. 363 Ewald, Spinoza’s Ethik, T. 2, S. 63. Ewald hielt es Spinoza zugute, dass er die Ursache des Irrtums sowie die Unterscheidung von Begriffen, Bildern, Worten und Zeichen »wegen der zu seiner Zeit und auch von ihm selbst nicht erforschten Natur des Erkenntnißvermögens auch nicht angeben konnte«, ebenda, S. 295.

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Ewald resümierte die aktuelle Auseinandersetzung um die Funktion der sensualistischen und rationalen Komponenten im Erkenntnisvorgang. Er akzentuierte hier die prägende Bedeutung der transzendentalen Struktur des erkennenden Subjekts: Denn die transscendentale(n) Gegenstände [Begriffe a priori und Anschauungen a priori – H. S.] sind Fakta, die durch die Natur unseres Gemüths selbst gegeben werden, und in wie fern sie Gegenstände unserer Vorstellungen werden, schauen wir sie mittelst unserer innern Sinnlichkeit an. Wir sind uns ihrer also unmittelbar bewußt, und daß man deutliche und undeutliche, vollständige und unvollständige, wahre und falsche Vorstellungen und Erkenntnisse von ihnen und von der Art ihres Gebrauchs haben, davon zeugt die philosophische Geschichte der jetzigen Zeit in Ansehung der Urtheile über die Quellen der menschlichen Erkenntniß, über die analytischen und synthetischen Begriffe und Grundsätze und ihren Gebrauch u.s.w. daß man es aber auch zugleich zu einer völligen Ueberzeugung von der Wahrheit unserer Vorstellungen und Erkenntnisse in Betreff transscendentaler Objekte bringen können, davon gibt nicht blos die durch den königsbergischen Philosophen [!] aufgestellte kritische Philosophie, sondern auch der Umstand einen genugthuenden Beweis, daß, da einmal die Gewißheit des Daseyns einer Erkenntniß von dergleichen transscendentalen Gegenständen schlechterdings nicht aus unserm Bewußtseyn weggeschaft werden kann, auch die Ueberzeugung von der Wahrheit dessen, was diese Gegenstände enthalten, und was durch sie möglich ist, um so zuverlässiger und unzweydeutiger seyn müsse, als hierbey gar keine Täuschung der sinnlichen Organe statt finden kann.364

Schließlich bekräftigte Ewald aus der Sicht des Gesamtsystems der kritischen Philosophie Kants diese dialogisch-dialektische Position der Erkenntnisgewinnung, die sich aus den sinnlichen Eindrücken und dem apriorischen Potential des Vernunftvermögens konstituiert. Da Kants Schrift »Kritik der Urteilskraft« zur Ostermesse 1790 erschienen war und von den GgZ am 25. und 29. September 1790 rezensiert wurde, so lag es nahe, dass Ewald dieses systemschließende Werk in seine Argumentation einbezog. Wie das folgende Zitat zeigt, ist es eine Reflexion Ewalds zum genannten Problem auf der Grundlage der drei Kritiken Kants: Nicht alle Arten von Vorstellungen der menschlichen Seele entstehen aus Eindrücken auf unsere sinnlichen Werkzeuge, z. B. die reinen Anschauungen, Notionen und Ideen, deren Feld sogar von weit größerm Umfange, als das von uns selbst anschaubare Feld der sinnlichen Gegenstände, ist.365 Der Anblick des gestirnten Himmels gewährt uns nur e i n e Art von Vorstellungen, eine Anschauung, die wenn sie auf sich selbst eingeschränkt und die Gesetze, die die Vernunft der Natur vorschreibt, und die unserm Gemüthe a priori gegeben sind, ohne Anwendung auf die Erscheinungen des nächtlichen Himmels geblieben wären, die Entdeckungen der Astronomie und den Reichthum von großen kosmologischen und astronomischen Vorstellungen, nicht würde haben bewürken können. Auch würde, wenn alle unsere Vorstellungen blos von Eindrücken auf unsern Körper und seine Organe abhängen sollten, das ganze Gebiet der Moral mit allen ihren auf die praktische Vernunft a priori gegründeten 364 Ebenda, S. 257. 365 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 11 ff.; B 24 ff.

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Gesetzen, Vorschriften und Vorstellungen, 366 und das ganze Gebiet der ästhetischen Urtheilskraft, mithin die ganze Wissenschaft des Schönen und Erhabenen, so wie die ganze Naturwissenschaft unentdekt geblieben seyn, 367 da allen diesen Wissenschaften Ideen zum Grunde liegen, denen keine Objekte in der Anschauung entsprechen, die also in dem Gemüthe nicht durch sinnliche Eindrücke entstanden seyn können. Es ist also gewiß, daß nicht alle Vorstellungen Eindrücke auf unsern Körper und seine sinnlichen Werkzeuge voraussetzen [...].368

Ausgehend von der Akzentuierung der »Selbstthätigkeit« des Vernunftvermögens verteidigte Ewald in der Auseinandersetzung mit Spinozas 48. Lehrsatz369 die grundlegende Erkenntnis der kritischen Philosophie von der objektiven Realität der Freiheit des menschlichen Willens. Er bekräftigte die Kantische Position, dass der Mensch grundsätzlich fähig ist, seinen Willen frei und selbstentscheidend zu bestimmen. Wenn diese Vermögen der Seele (Denken, Begreifen, Wollen) nur etwas Erdichtetes oder blos Gedankenwesen bzw. metaphysische Dinge darstellen würden, »die schon da wären, ohne gedacht und begriffen zu werden«,370 so argumentierte Ewald, dann fiele »alle Selbstthätigkeit und alles Bewußtseyn hinweg.« Aus diesem Grunde müsste Spinoza »seinen Begriff von C o n c e p t u s, der ihm ein Thun der Seele anzeigt, aufgeben«.371 Deshalb zeigte Ewald auf, dass das Urteil des Verstandes und die Willensbestimmung ein einziger Aktus sind. Zur Klarstellung des Sachverhalts beabsichtigte Ewald, »eine kurze Darstellung der verschiedenen im Begriffe des Begehrungsvermögens im allgemeinen Sinne oder des Willens überhaupt enthaltenen Vorstellungen, nach dem durch die kritische Philosophie angegebenen und auf eine genaue Untersuchung und Absonderung der menschlichen Gemüthsvermögen gegründeten Bestimmungen, hier beyzufügen«.372 In einer zweiseitigen konzisen Darstellung versuchte er, die Position Kants zu diesem Problem zu erklären.373 Den Grundgedanken formulierte er wie folgt: 366 Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 161, »Beschluß. Zwei Dinge erfüllen das Gemüth«. 367 Ebenda, S. 179 ff. 368 Ewald, Spinoza’s Ethik, T. 2, S. 143 f. 369 Ebenda, S. 273, 48. Satz: »In der Seele giebt es keinen unbedingten oder freyen Willen; sondern, um dieses oder jenes zu wollen, wird sie von einer Ursache bestimmt [...].« 370 Ebenda, S. 276. 371 Ebenda, S. 278. 372 Ebenda. 373 Ebenda. Einleitend stellte er fest: »Jedes lebendige Wesen besitzt ein Vermögen, sich nach Vorstellungen zu bestimmen, Handlungen diesen Vorstellungen gemäs würklich zu machen, und dieses Vermögen heist B e g e h r u n g s v e r m ö g e n ü b e r h a u p t, o d e r W i l l e i m a l l g e m e i n s t e n V e r s t a n d e des Worts. Auch die Thiere nehmen an demselben Theil. Durch den Hunger z. B. werden sie sinnlich afficirt, und diese Vorstellung bestimmt sie zur Würklichmachung einer Handlung, d. i. Nahrung aufzusuchen und sich zu sättigen.«

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Zweite Phase: Profilierung philosophischen Denkens 1781–1790

Was nun insbesondere das Begehrungsvermögen des Menschen überhaupt betrift, so besitzt derselbe nicht blos S i n n l i c h k e i t , d. i. die Fähigkeit sinnlich, es sey nun äußerlich oder innerlich, afficirt zu werden, sondern auch p r a k t i s c h e V e r n u n f t, oder das Vermögen, nach Principien oder Vorstellungen von Gesetzen zu handeln, Handlungen und Gegenstände diesen Gesetzen gemäß hervorzubringen.« 374

Ewald erläuterte nun, dass das Begehrungsvermögen zum einen durch empirische Vorstellungen (unmittelbare sinnliche Eindrücke) bestimmt wird, die als »thierische Willkühr« bezeichnet werden. Zum anderen wird es durch vernünftige Vorstellungen (Prinzipien oder Gesetze a priori, unabhängig von Sinnlichkeit und Gefühl) bestimmt und heißt »r e i n e r, a b s o l u t f r e y e r W i l l e, W i l l e i m e i g e n t l i c h e n S i n n e«.375 Da sich aber der Mensch sowohl den empirischen Vorstellungen als auch den Gesetzen der praktischen Vernunft nicht entziehen kann, so werde eine dritte Art des Begehrungsvermögens als »f r e y e, s i n n l i c h e W i l l k ü h r« bezeichnet.376 Mit dieser fasslichen Argumentation unterstrich Ewald die Notwendigkeit der Anerkennung der Existenz eines freien Willens im Menschen. Dass die Vernunft fähig ist, sich nach ihren eigenen von allen sinnlichen Antrieben unabhängigen Gesetzen zu bestimmen, davon überzeugt uns das Daseyn der moralischen Gesetze, deren wir uns nicht blos als Triebfedern unseres eigenen Willens, sondern auch als Gegenstände unseres innigsten Interesse, und als Grundlagen unserer Beurtheilungen eigener und fremder Handlungen bewußt sind; und daraus, daß gewöhnlich nicht nach dem moralischen Gesetze gehandelt wird, kann eben so wenig auf ein Nichtdaseyn eines absolut freyen Willens geschlossen werden, als sich daraus, daß der gewöhnliche Mensch so manches gar nicht begreifen kann, auf ein Nichtdaseyn des Verstandes in ihm schließen läßt.377

Zum Schluß forderte Ewald – wenn auch vorsichtig – seine Leser dazu auf, sich der Möglichkeiten ihres freien Willens zu bedienen: Unter uns gesagt, lieber Leser, die meisten haben wohl um deswillen bisher nicht nach einem vollkommen freyen Willen gehandelt, weil es ihnen gar nicht einmal eingefallen ist, daß sie auch so handeln könnten.378

Praktische Vernunft und Vernunftglaube Von dieser Position der aktiven und vernunftgeleiteten Selbstbestimmung des Menschen stritt Ewald gegen den Anspruch Spinozas, dass man nur allein nach seinem System gemäß dem Willen und Befehl Gottes handeln könne, um die 374 Ebenda. 375 Ebenda, S. 279. 376 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 830; Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 65 f. 377 Ewald, Spinoza’s Ethik, T. 2, S. 280. 378 Ebenda.

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Erkenntnis Gottes zu erlangen und die höchste Glückseligkeit zu erreichen. Dieser Standpunkt, so Ewald, sei auch in jedem anderen »dogmatisch-theistischen und supernaturalistischen Lehrgebäude« zu finden und »kein ausschließliches Eigenthum des Systems des Verfassers«. Denn: »Auch die kritische Philosophie macht es uns zur Pflicht, uns nach dem Ideale der höchsten Vollkommenheit zu bilden, und uns demselben so viel nur möglich ist, wenigstens zu nähern, wenn es auch außer unserer Macht steht, der göttlichen Heiligkeit gleich zu werden.« 379 Ewald kennzeichnete die Basis seines Verständnisses von Gott und dessen Wirkung auf das menschliche Verhalten: Hiernächst kann aber der Grund zu unserm Rechtverhalten nicht unmittelbar in dem Befehle und Willen Gottes liegen, als welche uns nicht unmittelbar gegeben sind, sondern in den Gesetzen unserer praktischen Vernunft, ohne welche schlechterdings nicht eingesehen und erkannt werden kann, was gut und böse, Recht oder Unrecht, pflichtmäsig oder pflichtwidrig ist; nur sie kann der Maasstab seyn, nach welchem sich beurtheilen läßt, in wiefern etwas Gottes Wille und Befehl seyn könne.380

Denn jeder Versuch, irgendeine Erkenntnis über Gott erlangen zu wollen, übersteigt den Horizont unseres Verstandes und unserer Vernunft« und öffnet »jeder Art von Schwärmerey Thür und Thor, und veranlaßt Unruhe des Gemüths durch Gewissensund Erkenntnißscrupel, die schlechterdings unauflöslich sind [...].381

Die Verinnerlichung der Prinzipien der theoretischen und praktischen Philosophie Kants führte Ewald auf die Position eines aus Vernunftgründen entsprungenen religiösen Glaubens an das Übersinnliche. So stand für ihn fest, dass nur »ein vernünftiger Glaube an Gott und seine Fürsehung, der sich bescheiden von aller dogmatischen Behauptung und Bestimmung auf der einen, und von allem ungegründeten Zweifel an seinem Daseyn und seiner Fürsorge auf der andern Seite, gleich weit entfernt, die Ruhe des Gemüths und den Fortgang in der Tugend mit Zuverlässigkeit befördert«.382 Kritische Vernunft und gesellschaftliches Handeln In seinen Schlussanmerkungen bekräftigte Ewald noch einmal seine prinzipielle Zustimmung zu Kants kritischem System. Insbesondere hob er die innovative Bedeutung des Vernunftvermögens des Menschen in seiner theoretischen und 379 Ebenda, S. 296. 380 Ebenda. 381 Ebenda, S. 296 f. 382 Ebenda, S. 297. Als diese Aussage Ewalds in dem durch die Schuld des Verlegers verspätet veröffentlichten zweiten Teil der Übersetzung der Ethik Spinozas im Herbst 1793 erschien, hatte Kant im Frühjahr 1793 (Ostermesse) seine Schrift »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« veröffentlicht.

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Zweite Phase: Profilierung philosophischen Denkens 1781–1790

praktischen Ausprägung bzw. in seiner konstitutiven, regulativen und praktischen Befähigung zur Erkenntnisgewinnung und Handlungsgestaltung hervor. Spinoza hielt er entgegen, dass der »Aktus des Wollens« nicht bloß im Bejahen oder Verneinen einer Aussage bestehe bzw. daß es kein anderes Wollen, als ein solches, welches der Begriff als solcher involvire, gebe,

sondern es gibt ein a priori in unserer Vernunft enthaltenes Vermögen, sich selbst zu Handlungen zu bestimmen [...].383

Dieser seiner Position fügte Ewald eine prägnante Erklärung an: Wir wissen nemlich, daß ein jedes Vermögen des Gemüths sein eigenes bestimmtes Geschäft in Absicht auf die Erzeugung der mancherley Arten der Vorstellungen und Erkenntnisse habe; daß die Sinnlichkeit Anschauungen, der Verstand Begriffe, die Vernunft Ideen liefere, und daß letztere einen doppelten Gebrauch zulasse, nemlich einen theoretischen oder spekulativen und einen praktischen, und daß nur in letzterer Hinsicht die Ideen der Vernunft als Principien oder Gesetze constitutiv sind. Der Gebrauch der Vernunft ist theoretisch und regulativ, wenn sie sich auf Gegenstände unserer, durch den Verstand in Verbindung mit der Sinnlichkeit erzeugten Erkenntnisse beziehet, Schlüsse aus diesen Erkenntnissen ziehet und so die Erkenntnisse des Verstandes ordnet, und ihnen systematische Einheit gibt; praktisch und constitutiv hingegen, wenn sie sich durch die Vorstellung von Regeln, Gesetzen, Zwecken, selbst zum Handeln bestimmt. Es ist also die Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche, welche die Principien der Bestimmungen des W i l l e n s im eigentlichen Sinne enthält, und daß die Vernunft nebst ihrem theoretischen auch zu einem praktischen Gebrauche diene, davon überzeugt uns unser Bewußtseyn unmittelbar. Es gibt mithin ein Wollen, welches weder von den Begriffen unseres Verstandes, die blos Erkenntnisse von dem, was ist, zum Zweck haben, noch von dem Verstand selbst, dessen Geschäft blos darin besteht, angeschaute Objekte zu denken und Begriffe und Urtheile von Gegenständen zu bilden, involvirt wird, sondern dessen Grund lediglich und allein in der Natur unserer Vernunft, so fern sie praktisch, d. i. sich selbst zum Handeln zu bestimmen vermögend ist, gefunden werden kann.384

Dieser entschiedenen Klarstellung der Existenz einer im Menschen objektiv vorhandenen Vernunftaktivität ließ Ewald – gleichsam als Ausklang und Zielpunkt seiner Reflexion über beide Systeme – die Orientierung des vernunft­ geleiteten Wollens auf zielgerichtetes Handeln in der gesellschaftlichen Praxis folgen. So erhob er Einwände gegen die Schlussbemerkungen Spinozas zum 3. und 4. Punkt des letzten Scholiums des zweiten Teils der »Ethik«. Sie bringen dessen Meinung zum Nutzen seiner Lehre für »das Wohl des gesellschaftlichen 383 Ebenda, S. 292. 384 Ebenda, S. 292 f.

Übersetzung und Kommentierung Baruch de Spinoza

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Lebens und die Glückseligkeit des gemeinen Wesens« 385 zum Ausdruck. Ewald warf Spinoza vor, dass er nicht eindeutig genug dargelegt habe, mit welchen Mitteln und Methoden das individuelle und allgemeine Wohl zu erreichen sei: Hier offenbarte er sich als Anhänger aufklärerischen Denkens der letzten Dezennien des 18. Jahrhunderts. Seine Intention war es, die philosophische Lehre so anwendbar ausgearbeitet zu sehen, dass sie grundsätzliche Orientierung gibt, die soziale Gemeinschaft praktisch zu gestalten. Das bedeutete für ihn, dem Bürger in der Wahrnehmung seines wohlverstandenen Interesses rechtlichen und staatlichen Schutz und Entfaltungsraum zu garantieren. Deshalb meinte Ewald: Allein es hat dem Verfasser nicht gefallen, bestimmt anzugeben, wie es aus seiner Lehre folge, daß sich die Menschen nicht hassen und verachten, nicht verspotten, erzürnen und beneiden, daß sie mit ihrem Zustande zufrieden sind und ihrem Nächsten helfen, und daß und wie man die Bürger so regieren und leiten müsse, daß sie nicht wie Sclaven, sondern aus freyem Willen das Gute thun. Das nemlich lehrt und verlangt ein jedes System, selbst das dogmatisch-skeptische und atheistische [...].386

Ewald hielt die Grundsätze, wie Regenten / Fürsten ihre Untertanen regieren sollen, durch Spinoza »nicht so unmittelbar und deutlich« dargelegt, »als er vorgeben zu wollen scheint«.387 Ein Hindernis für das freie Handeln des Menschen, insbesondere als Bürger, sah Ewald in der von Spinoza konstatierten allgemeinen »Notwendigkeit«, die auch für den gesellschaftlichen Bereich zutrifft. Er hielt es für problematisch, dass diese im System fundierte Notwendigkeit als Grundzug sowohl negative als auch positive Aktivitäten der Menschen begünstigt und damit instabile Verhältnisse rechtfertigt. Indirekt verband Ewald mit diesem Einwand seine Kritik an bestehender Willkürherrschaft.388 Deshalb insistierte er nachdrücklich auf die unabdingbare Basis für die Gestaltung einer humanen Lebenswelt: Alle die Vorschriften fließen aber unmittelbar aus der Vernunft und ihren ewigen unwandelbaren Gesetzen selbst und ohne Umschweif. Nur sie enthält den Grund, warum der Mensch ein Freund und Tröster und Vertheidiger und Helfer des andern seyn soll, und nur aus ihr ist der Maasstab herzunehmen, nach welchem man die Pflichten der Fürsten und Unterthanen messen und beurtheilen kann, ob ein Fürst vernünftig regiere und ein Unterthan vernünftig gehorche.389 385 Ebenda, S. 298. 386 Ebenda. 387 Ebenda. 388 Ebenda. Ewald meinte: Wenn unter dieser Voraussetzung »der Regent, der, der ewigen Substanz, aus welcher alles, was ist und handelt, nothwendig ist und handelt, dessen Wille und Macht so nothwendig als sein Wesen selbst ist, nachahmen wollte, würde sicher ein eisernes Zepter führen, alles würde unter der Centnerschweren Nothwendigkeit seines Willens, der oft genug nicht so weise und gut, als der Wille Gottes, wäre, erliegen und die Völker und Unterthanen könnten so gut willenlose Sclaven, als freye Bürger, seyn.« 389 Ebenda, S. 299.

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Zweite Phase: Profilierung philosophischen Denkens 1781–1790

Jedoch ist hier anzumerken, dass Ewald seine Betrachtung über Spinozas Freiheitsvorstellung auf die beiden ersten Teile der »Ethik« gründete. Dessen Ausführungen über die aktiven Elemente des menschlichen Denkens und Handelns, die Spinoza in den nachfolgenden Teilen seiner Schrift darstellte, blieben unberücksichtigt. Schließlich waren es die von Spinoza aufgeworfenen Grundprobleme, die Ewald anregten, sich vom Standpunkt des kritischen Denkens Kants, mit den beiden Teilen der »Ethik« von Spinoza auseinanderzusetzen. Es ging ihm um die Hauptfrage seiner Zeit: Wie ist die Selbstbestimmung des Menschen im allgemeinen und als Bürger eines Gemeinwesens im besonderen zu begründen und zu gestalten – Ewald gab seine Antwort in zwei Schriften zur Konstitution eines vom Bürger mitzutragenden Staatswesens und dessen Verfassung. Ewald hat mit der Übersetzung der genannten Schriften von Spinoza ein größeres Lesepublikum in Deutschland erreicht und damit den Eingang der Ideen dieses Denkers in die zeitgenössische Diskussion um die Bestimmung des Menschen und seiner gesellschaftlichen Existenzweisen befördert. Zum einen war Ewald aufgrund seiner naturreligiösen Vorstellung vom System Spinozas fasziniert, da dieser die Vorstellung, dass Gott als Schöpfer der Welt alle Dinge mit Notwendigkeit hervorgebracht und in ihnen immanent existiert, konsequent und systematisch begründet hat. Zum anderen konstatierte er, dass Spinoza im Hinblick auf die Begründung des Daseins Gottes die Möglichkeiten der bisherigen Metaphysik ausgeschöpft hat. Er kritisierte als Kantianer deren Grundlegung, da sie auf einer Ideensetzung beruht, die in der Erfahrung nicht nachweisbar ist. Der radikale Determinismus und die konsequente Rationalität des Systems von Spinoza, seine Vorstellungen vom Menschen als Vernunftwesen, die daraus abgeleitete Moralbegründung sowie die demokratisch orientierte Staatslehre u. a. haben auch in Deutschland um die Jahrhundertwende eine vielfältige Rezeption der Ideenwelt Spinozas bewirkt. In der klassischen deutschen Literatur waren es insbesondere Herder und Goethe, in der klassischen deutschen Philosophie Fichte, Schelling und Hegel, die sich von der Substanzlehre Spinozas und ihren Implikationen inspirieren ließen. Dieser Rezeptionsvorgang ist ausführlich dokumentiert und vielseitig erörtert worden.390

390 Vgl. Schürmann / Watzek / Weinreich (Hrsg.): Spinoza, S. 441–503; Manfred Watlher (Hrsg.), Spinoza und der deutsche Idealismus, Würzburg 1991; Wolfgang Bartuschat, Baruch de Spinoza, München 22006; Eckart Förster / Yizhak Y. Melamed (Hrsg.), Spinoza and Idealism, Cambridge 2012.

V. Die staats- und verfassungstheoretischen Entwürfe Ewalds in den neunziger Jahren unter dem Einfluss der Moral-, Rechts- und Staatsphilosophie Kants (Dritte Phase)

Die Kontinuität und die Konsequenz, mit der die GgZ unter der Leitung von Ewald die Bestrebungen Kants zur Vervollkommnung seines Systems propagierten und verteidigten, zeigt die Erklärung der Redaktion der Zeitschrift vom 5. August 1801. Eingangs dieser Ausgabe wurde unter der Überschrift »Philosophie« eine dreiseitige Darlegung ihres philosophischen Standortes veröffentlicht. Es war eine begründete Darstellung der uneingeschränkten Parteinahme für das kritische System Kants in seiner Ganzheit. Diese außergewöhnliche Deklaration sollte die Position des Journals in der aktuellen Auseinandersetzung mit den Vertretern des entstehenden Idealismus (Reinhold, Fichte, Schelling u. a.) fixieren. Sie richtete sich vor allem gegen die Versuche, als angebliche Fortsetzer Kantischer Intentionen den Dogmatismus in der Philosophie zu restituieren. Diese Erklärung sollte die Basis festlegen, auf der die Redaktion diese aktuelle Literatur zu rezensieren beabsichtigte. Hier die Einstimmung: Philosophie. Daß die Philosophie durch den ehrwürdigen Greis in Königsberg eine ganz andere Gestalt und Richtung gewonnen hat, als sie vorher hatte, ist allgemein bekannt. Er fand den Grund des Mißlingens aller früheren Systeme darin, daß man versäumt hatte, das Verfahren und die Gesetze der Vernunft selbst zu untersuchen, und die nothwendigen Grenzen des menschlichen Erkenntnißvermögens zu erforschen. Er unternahm daher dieses Geschäft, und zwar mit so glücklichem Erfolge, daß es scheint, als dürfte von nun an die Philosophie keine Schritte zurückthun, sondern nur vorwärts schreiten. Um denjenigen Lesern, für welche unsere Blätter jetzt vorzüglich bestimmt sind, bei der künftigen Anzeige philosophischer Werke ganz verständlich zu werden und uns möglichst kurz fassen zu können, sey es uns erlaubt, uns hier über Einiges zu verbreiten, worauf wir uns in der Folge berufen mögen.1

Es folgt ein »Verbreiten« über Kants Prinzipien, die sein System konstituieren bzw. den »Hauptinhalt der kritischen Untersuchungen Kant’s« 2 darstellen, in einem verständlichen Umriss, der durch den Satz eingeleitet wird: Sobald der Mensch über seine Bestimmung schärfer nachzudenken beginnt, wird ihm die Frage über die Wahrheit seiner Erkenntniß wichtiger.3 1 2 3

GgZ, 62. St. vom 5. August 1801, S. 497. Ebenda, S. 499. Ebenda, S. 497.

V. Die staats- und verfassungstheoretischen Entwürfe Ewalds in den neunziger Jahren unter dem Einfluss der Moral-, Rechts- und Staatsphilosophie Kants (Dritte Phase)

Die Kontinuität und die Konsequenz, mit der die GgZ unter der Leitung von Ewald die Bestrebungen Kants zur Vervollkommnung seines Systems propagierten und verteidigten, zeigt die Erklärung der Redaktion der Zeitschrift vom 5. August 1801. Eingangs dieser Ausgabe wurde unter der Überschrift »Philosophie« eine dreiseitige Darlegung ihres philosophischen Standortes veröffentlicht. Es war eine begründete Darstellung der uneingeschränkten Parteinahme für das kritische System Kants in seiner Ganzheit. Diese außergewöhnliche Deklaration sollte die Position des Journals in der aktuellen Auseinandersetzung mit den Vertretern des entstehenden Idealismus (Reinhold, Fichte, Schelling u. a.) fixieren. Sie richtete sich vor allem gegen die Versuche, als angebliche Fortsetzer Kantischer Intentionen den Dogmatismus in der Philosophie zu restituieren. Diese Erklärung sollte die Basis festlegen, auf der die Redaktion diese aktuelle Literatur zu rezensieren beabsichtigte. Hier die Einstimmung: Philosophie. Daß die Philosophie durch den ehrwürdigen Greis in Königsberg eine ganz andere Gestalt und Richtung gewonnen hat, als sie vorher hatte, ist allgemein bekannt. Er fand den Grund des Mißlingens aller früheren Systeme darin, daß man versäumt hatte, das Verfahren und die Gesetze der Vernunft selbst zu untersuchen, und die nothwendigen Grenzen des menschlichen Erkenntnißvermögens zu erforschen. Er unternahm daher dieses Geschäft, und zwar mit so glücklichem Erfolge, daß es scheint, als dürfte von nun an die Philosophie keine Schritte zurückthun, sondern nur vorwärts schreiten. Um denjenigen Lesern, für welche unsere Blätter jetzt vorzüglich bestimmt sind, bei der künftigen Anzeige philosophischer Werke ganz verständlich zu werden und uns möglichst kurz fassen zu können, sey es uns erlaubt, uns hier über Einiges zu verbreiten, worauf wir uns in der Folge berufen mögen.1

Es folgt ein »Verbreiten« über Kants Prinzipien, die sein System konstituieren bzw. den »Hauptinhalt der kritischen Untersuchungen Kant’s« 2 darstellen, in einem verständlichen Umriss, der durch den Satz eingeleitet wird: Sobald der Mensch über seine Bestimmung schärfer nachzudenken beginnt, wird ihm die Frage über die Wahrheit seiner Erkenntniß wichtiger.3 1 2 3

GgZ, 62. St. vom 5. August 1801, S. 497. Ebenda, S. 499. Ebenda, S. 497.

218 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Die Schwerpunkte sind: – Die Empfindungen sind aber nur Modifikationen seiner selbst; sie vermitteln kein Objektives als Ursache und ursächlichen Zusammenhang. – Die Voraussetzung für die Erkenntnis der Erscheinungen sind Raum und Zeit »als subjective Vorstellungsarten, Formen der Sinnlichkeit«.4 – Die Gegenstände der äußeren und inneren Erfahrung, die Erscheinungen, erhalten durch die reinen Begriffe des Verstandes ihren ursächlichen und notwendigen Zusammenhang. – Die Vernunft lässt uns keine Dinge an sich erkennen; sie gibt uns nur die Regel, »alle unsere Erkenntnisse zur Einheit unter Principien zu verbinden«.5 Als Resümee wird ausgeführt: Es ist also das, was die meisten Philosophen objective Wahrheit genannt haben, nämlich Uebereinstimmung unserer Vorstellungen mit den Dingen an sich, nicht zu erreichen; wir erkennen blos, was die Dinge für uns, auf dem Standpunkt des Menschen sind.« 6

Nun folgt die Darlegung der Grundzüge der praktischen Philosophie mit ihrer vernunftreligiösen Konsequenz. Da diese für Ewald sowohl für die Rezensierung der Kantischen Schriften der neunziger Jahre als auch für seine staatstheo­ retischen Vorstellungen von prinzipieller Bedeutung sind, werden sie zitiert: Dieses Resultat der Untersuchungen über die theoretische Erkenntniß des Menschen führet uns darauf, daß seine Bestimmung nicht sowohl im Erkennen als im Handeln bestehe und daß jenes nur in Beziehung auf dieses eigentlichen Werth habe. Hier kündiget sich denn die Vernunft, wie sie alle Erkenntnisse unter Grundsätzen zu verbinden aufforderte, auch als Gesetzgeberin für unser Handeln an. Wir sollen auch unsere Handlungen Grundsätzen unterwerfen und diese sollen unter einander zusammen stimmen. Dies setzt Freiheit voraus, ohne welche jene Aufforderung der praktischen Vernunft keinen Sinn hätte. Freiheit kann nun zwar theoretisch nicht erkannt werden, allein die Einsicht, daß unsere Erkenntniß nur die Erscheinungen erreicht, berechtiget uns, die an sich nicht erkennbare und unbegreifliche Freiheit vorauszusetzen. In dem nun, was der Mensch, aus Gehorsam gegen die Vernunft, unter den Umständen, in die er gesetzt ward, durch Freiheit aus sich macht, besteht sein wahrer Werth. Von diesem Standpunkt zeigt sich denn, daß Wahrheit für uns eigentlich im Praktischen liegt, daß wir Wahrheit haben, wenn unsre Erkenntniß allen durch unser Erkenntnißvermögen bestimmten Bedingungen entspricht, wodurch sie denn fähig wird, von uns praktisch gebraucht zu werden. Thue ich aber das Meinige, so darf ich auch annehmen, daß der Zweck, den ich hierdurch verfolge, erreicht, d. h. daß ich der moralischen Vollkommenheit mich ins Unendliche nähern und daß alles, was ihr Abbruch thut, immer mehr damit in Übereinstimmung gebracht werde; ich glaube also [an] eine Unsterblichkeit und einen Gott d. i. einen Grund der Möglichkeit, diesen Zweck zu erreichen.7 4 Ebenda, S. 498. 5 Ebenda. 6 Ebenda. 7 Ebenda, S. 499.

Rezensierung Immanuel Kant 1791–1804

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Unter diesem Vorzeichen, d. h. der Verinnerlichung der Kantischen Ideen und Grundsätze, wirkte Ewald im Zeitraum von 1791 bis 1804: 1. Er rezensierte, von Ausnahmen abgesehen, die Schriften Kants und die sie betreffende Literatur über dessen Werk und Wirken mit besonderer Aufmerksamkeit. 2. Seine staatstheoretischen Schriften sind durch die moral-, rechts- und staatsphilosophischen Vorstellungen Kants geprägt. 3. Er verteidigte die Philosophie Kants insbesondere gegen die Bestrebungen des entstehenden Idealismus, den Dogmatismus im philosophischen Denken durch die Zugrundelegung transzendenter Vorstellungen wieder zu beleben.

1. Die Rezensierung der Schriften von Immanuel Kant in den GgZ von 1791 bis 1804 Die Redaktion der Zeitschrift hat die Kontinuität, die sie mit der Besprechung von Kants systemgründenden Schriften von 1782 bis 1790 begann, auch mit den von Kant in den neunziger Jahren vorgelegten Werken und Beiträgen konsequent fortgeführt. Das betrifft auch die von Kant in Vorlesungen dargelegten Vorstellungen über Logik und Pädagogik, die von seinen Schülern herausgegeben wurden. Das Gleiche geschah mit den »Lebensbeschreibungen« über Kant, die noch im Jahr 1804 erschienen waren. Einen besonderen Höhepunkt der aktuellen Reaktion der GgZ stellte der »Nekrolog« zur Würdigung des Lebens und des Werkes von Immanuel Kant dar. Er erschien am 7. März 1804, wenige Tage nach dem Tode Kants (12. Februar 1804). Dieser Nachruf offenbarte die Quintessenz des zwei Jahrzehnte währenden Wirkens der GgZ und ihres Redakteurs Schack Hermann Ewald für die Popularisierung und Verteidigung der Philosophie Kants. Es war der letzte Beitrag zu Kants Schaffen und Wirken, jedoch gleichzeitig ein vom Kantschen Grundanliegen durchdrungener und dankbar ehrender Gesamtblick auf das Lebenswerk des Königsberger Philosophen.8 Am 29. Dezember 1804 stellten die GgZ ihr Erscheinen ein. Der »Mitstifter und Beförderer dieser Blätter, an deren Spitze sein Name steht«,9 der Verleger und Buchhändler Carl Wilhelm Ettinger, war am 14. Juni 1804 gestorben, so dass die Fortführung der Zeitschrift nur bis zum Jahresende gelang. Die letzte Anzeige bzw. Besprechung der letzten Ausgabe der Zeitschrift vom 29. Dezember 1804 widmete der Redakteur einer kleinen Schrift, die eine Anleitung vermittelte, wie »geliebten Abwesenden ein Denkmahl der Freundschaft und sanfter Erinnerung«,10 wie Schattenrisse u. a. mit geringem Aufwand auf Alabaster errichtet 8 Schröpfer, Der »Nekrolog. Immanuel Kant«. 9 GgZ, 49. St. vom 20. Juni 1804, S. 431. 10 GgZ, 104. und letztes St. vom 29. Dezember 1804, S. 887.

220 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe werden kann. Hierdurch könne »im Zauber dieses sichtbaren Denkmahls [...] der Gedanke an ein unsichtbares Denkmahl«11 an geliebte Tote oder geliebte Abwesende gestiftet werden. In der Stunde des Gedenkens mag es vorzüglich dem Herzen wohltun, wenn auch das Auge davon etwas sieht, was im innersten Heiligthume der Seele unsichtbar fortlebt.12

An diese anrührende Wiedergabe des Anliegens des unbekannten Autors schloss der Redakteur mit einem selbstbewussten und doch auch wehmütigen Resümee über das Wirken der GgZ an: Mit diesen Gedanken beschließen wir, nach nun vollen 30 Jahren, diese literarischen Blätter, nicht ohne Hoffnung, daß, da sie doch nicht ganz fruchtlos zur Verbreitung und festeren Begründung des Wahren, Guten und Schönen, zur Bekämpfung des Irrthums und der Vorurtheile und zur Erweckung und Nährung des Triebes zum bessern Wissen und Wollen, mitgewirkt haben mögen, auch sie in dem Andenken der Mit- und Nachwelt nicht ganz verlohren seyn werden.13

Wertet man das Ergebnis des Wirkens der GgZ unter diesem Grundgedanken, so konnte die Redaktion, insbesondere Ewald, in dem Bestreben nach authentischer Rezeption, sachgerechter Verbreitung und konsequenter Verteidigung der kritischen Denkungsart Kants eine erfolgreiche Bilanz verzeichnen. Sie spielte im Spektrum der Medien in Deutschland eine konstruktive Rolle im Aufklärungsgeschehen. Das in Gotha frühzeitig praktizierte Verhalten der Toleranz hinsichtlich liberaler und unorthodoxer Anschauungen ermöglichte ihr, neuartiges Wissen verschiedener Bereiche durch Anzeigen, Rezensionen und Nachrichten zu propagieren. Ferner: Dass die GgZ in Ewald einen Redakteur gefunden hatten, der die Revolutionierung des philosophischen Denkens durch Kant sofort begeistert und sachkundig aufnahm sowie in dieser Zeitschrift eine sichere Heimstatt finden ließ, war ein ausgesprochener Glücksfall. Im Nachruf für Carl Wilhelm Ettinger (geb. 5. Juni 1742; gest. 14. Juni 1804), den die GgZ am 20. Juni 1804 veröffentlichten, würdigte die Redaktion seinen hohen Anteil am Entstehen der Zeitschrift, an ihrer inhaltlichen Profilierung und am Wachsen eines Mitarbeiterkreises. Die literärischen Nachrichten in derselben, wurden gröstentheils von Ihm selbst gesammelt und zum Druck befördert. Eine gleiche Sorgfalt widmete Er dem hiesigen H o f k a l e n d e r oder A l m a n a c h z u m N u t z e n u n d V e r g n ü g e n, der, so wie diese Zeitung, seiner ausgebreiteten Bekanntschaft mit auswärtigen Gelehrten viel fremde schätzenswerthe Beyträge zu verdanken hat.14 11 Ebenda. 12 Ebenda, S. 888. 13 Ebenda. 14 GgZ, 49. St. vom 20. Juni 1804, S. 431.

Rezensierung Immanuel Kant 1791–1804

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Er sei »einer der aufgeklärteren und vorzüglichern Buchhändler unserer Zeit« gewesen, in dessen Haus einheimische und fremde Gelehrte gastfreie Aufnahme und Unterstützung fanden: Man nannte dieses einmal die Gelehrten-Herberge und ihn selbst den Vater derselben.15

1.1. Kantianer als Rezensenten der GgZ – Niethammer, Primavesi und Gebhard Der Hinweis auf schätzenswerte Beiträge auswärtiger Gelehrter betrifft auch die Autorschaft der Rezensionen der GgZ zur Kantischen Philosophie von 1790 bis 1804. Denn die Rezensionen zeigen in der Setzung der Schwerpunkte, in der Behandlung von Details und in der Diktion Unterschiede, die auf verschiedene Autoren hinweisen. Das betrifft insbesondere die religions- und moralphilosophischen Themen. Hier ist es sehr wahrscheinlich, dass die Gothaer Theologen, wie der Generalsuperintendent Josias Friedrich Christian Löffler und der Hofcollaborator und spätere Pfarrer Friedrich Heinrich Gebhard, einige Beiträge verfasst haben. Eine ähnliche Situation ist im Hinblick auf die Rezensionen zu den Protagonisten der idealistischen Philosophie (Reinhold, Fichte und Schelling) an der Universität Jena zu erkennen. Dass auch Ewald als Redakteur sich um bekannte auswärtige Rezensenten bemühte, zeigt z. B. ein Brief von Johann Georg Schlosser an Georg Forster vom 4. Mai 1792. An die Schilderung seiner Enttäuschung über die deutschen Zustände, die er von Karlsruhe aus beobachtete, fügte er an: Eben schreibt mir Ewald und will mich wieder zu seinem Journal auffordern. Der kommt mir gerade recht mit seiner Autorschaft. Da muß ich in gar anderer Laune sein. Kohlköpfe möchte ich irgendwo pflanzen, nicht Bücher schreiben. Auch Sie sollen ihm helfen und ich soll Sie dazu auffordern. Er liebt Sie, schätzt Sie, hat Ihre Ansichten gelesen und geizt nach Ihren Arbeiten.16

Friedrich Immanuel Niethammer – Rezensent der GgZ Der speziell philosophischen Grundlinie der Zeitschrift stand Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848) nahe, der von Mai bis Dezember 1791 als Hofmeister bei Carl Wilhelm Ettinger, dem Verleger der GgZ, in Gotha weilte. Daneben war 15 Ebenda. 16 [Georg Forster] Georg Forsters Werke, sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, Bd. 18: Briefe an Forster, bearb. von Brigitte Leuschner / Gerhard Steiner, Berlin 1982, S. 522 f. Georg Forster verfasste von 1791 bis 1794 »Ansichten vom Niederrhein«.

222 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe ihm wohl die redaktionelle Mitarbeit an den GgZ in Aussicht gestellt worden. Späterhin schrieb er dazu an Johann Benjamin Erhard am 5. Oktober 1792: Ettinger brauchte weder einen Redakteur zu sr. Zeitung noch einen Entrepreneur von etwas besseren sondern – eine Kindermagd, die seine Jungen, denen man noch nicht einmal eigentl Unterricht geben kann, hüten soll.17

Obwohl er mit dieser Tätigkeit nicht zufrieden war und eigene Zeitschriftenpläne nicht zum Tragen kamen, konnte er doch durch Rezensionen an den GgZ mitwirken. Für einige Rezensionen ist die Autorschaft Niethammers nachgewiesen.18 Zum Beispiel für die gedruckte Rede von Christoph Gottfried Bardili: »Giebt es für die wichtigsten Lehren der theoretischen sowohl als practischen Philosophie, ungeachtet der Widersprüche der Weltweisen, doch noch gewisse allgemeine brauchbare Kennzeichen der Wahrheit?« (Stuttgart 1791).19 Niethammer stellte Bardilis Bestreben heraus, dass philosophische Lehren einen entschiednen Einfluß auf die Denkungs- und Handlungsart der Menschen, auf ihre Empfindungen und Entschlüsse äußern, sie müssen als die Prämissen zu edeln Gesinnungen und großen Thaten unzweydeutig erkannt werden.20

Niethammer hob hervor, indem er Bardili zitierte, dass es »Wahrheiten« gibt, von welchen man, wie Kant, mit Recht behaupten kann: Natur, nicht Speculation, sey ihre Basis.21

Er unterstrich diese These durch den Hinweis auf das grundlegende Ergebnis des kritischen Systems von Kant: Daß die Natur des Menschen, und in wie fern sie Basis von den wichtigsten Lehren sowohl der theoretischen als der practischen Philosophie sey, ist allerdings durch die Kritik des Vernunftvermögens entschieden, indem durch sie gezeigt ist, erstens, daß die Ideen derselben in der theoretischen Vernunft a priori bestimmt vorhanden sind; zweytens, daß die practische Vernunft den Grund enthält, den Gegenständen dieser Ideen objective Realität zuzuschreiben.22

Diesen Weg der Vernunft in der Geschichte aufzuzeigen, erfordere Sorgfalt und Geduld. Bardili habe nur, so Niethammer, die Ausbildung des Begriffs von Gott skizziert, dessen Vertiefung er weitläufiger ausgeführt sehen möchte. 17 Hans-Peter Nowitzki, »Geh hin und predige das Neue Evangelium.« Friedrich Philipp Immanuel Niethammers Weg von der Nostrifikation zur Renuntiation als außerordentlicher Professor der Philosophie in Jena, in: Evolution des Geistes: Jena um 1800, hrsg. von Friedrich Strack, Stuttgart 1994, S. 94 f. 18 Dieter Henrich, Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen–Jena (1790–94), Bd. 2, Frankfurt am Main 2004, S. 950 f. 19 GgZ, 32. St. vom 27. April 1791, S. 332–334. 20 Ebenda, S. 333. 21 Ebenda. 22 Ebenda.

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Dass er Rezensionen für die GgZ geliefert hat, bestätigte Niethammer in dem Brief vom 14. November 1796 an Ewald. Dieser Antwortbrief von Niethammer zeigt an, dass er seit seinem Aufenthalt in Gotha speziell zu Ewald in einem guten Verhältnis stand. Einleitend schrieb er: Ich habe es so lange anstehen lassen, Hochgeschätzter Freund, Ihnen für den Brief und für das Geschenk, womit er begleitet war, meinen Dank abzustatten, daß ich beinah es nicht mehr wagen kann, ihn noch nachzuholen. Inzwischen würde ich es mir selbst doch nicht verzeihen können, wenn ich den mir so angenehmen Beweis Ihres gütigen Andenkens an mich ganz unbeantwortet ließe, und es mit meiner Antwort machte, wie man es manchmal mit einem Besuche macht, den man so lange aufgeschoben, bis man sich zuletzt schämt noch hinzugehen. Auch bin ich zu sehr überzeugt, daß Sie das lange Ausbleiben meiner Antwort nicht einer Unfreundlichkeit der Gesinnung, deren ich gegen niemand weniger als gegen Sie fähig wäre, zuschreiben werden – als daß ich mich durch eine ähnliche (falsche) Scham abhalten lassen sollte, die verzögerte Antwort nachzuholen.23

Nach dieser freundlichen Einleitung, die die achtungsvolle Verbindung zwischen Absender und Empfänger des Briefes erkennen lässt, kam Niethammer auf die beiderseitigen Anliegen ihrer kommunikativen Bestrebungen zu sprechen: Ihr Brief und Ihr Buch haben mir beide viel Freude gemacht, und ich erkenne mich Ihnen für beide zu großem Dank verpflichtet. Ihren Wunsch, das Buch in dem Philos. Journal rezensirt zu sehen, habe ich auch, soweit es von mir abhängt, sogleich zu erfüllen gesucht, und ich hoffe schon, durch die Erscheinung der Rezension selbst Ihnen öffentlich den Beweis zu geben, daß ich thätiger in der Erfüllung Ihres in dem Briefe geäußerten Wunsches gewesen sei, als in der Beantwortung des Briefes selbst [...].24

Niethammer ging zunächst auf den Wechsel des Verlegers für sein »Philosophisches Journal« ein.25 Er bekräftigte die Absicht, die ihm von Ewald zugeschickte Schrift zu rezensieren: Inzwischen kam das Journal, durch die entschiedene Untauglichkeit des Verlegers, ins Stocken, und die Ungewißheit, in der das Schicksal des Journals bis jetzt schwebte, hat auch die Ausfertigung jener Rezension selbst aufgehalten. Da aber eben diese Ungewißheit in Rücksicht auf das Schicksal des Journals mich auch hinderte, Ihnen etwas bestimmtes, was Sie in Betracht der Rezension Ihres Buches erwarten könnten, zu sagen, so hat dies mit der Rezension zugleich auch meine Antwort an Sie aufgehalten. Nun es aber endlich entschieden ist, daß die Fortsetzung des Journals – nach einer Unterbrechung von 8 Monaten – mit dem Januar des nächsten Jahres wieder ihren Anfang nehmen soll, so eile ich nun auch, Ihren Brief zu beantworten, und Ihnen die Versicherung zu ertheilen, daß ich Ihre Schrift 23 Forschungsbibliothek Gotha, Chart. B 1918 II, Niet. 24 Ebenda. 25 Das »Philosophische Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrter« wurde von Friedrich Immanuel Niethammer ab Mai 1795 bis 1796 bei Michaelis in Neustrelitz herausgegeben (Bd. 1–4). Ab 1797 bis 1800 erschien es mit Johann Gottlieb Fichte als Mitherausgeber bei Gabler in Jena / Leipzig (Bd. 5–10).

224 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe einem Rezensenten des naturwissenschaftlichen Faches übergeben habe, und die Beschleunigung der Anzeige soviel an mir liegt betreiben werde.26

Nun kam Niethammer auf die in den GgZ noch nicht erfolgte Rezensierung seiner Schrift »Ueber Religion als Wissenschaft zur Bestimmung des Inhalts der Religionen und der Behandlung ihrer Urkunden« (Neustrelitz 1795) und des »Philosophischen Journals« zu sprechen. Er mahnte diese selbstbewusst an: Bei dieser Gelegenheit kann ich es denn nicht unterlassen, Sie zu fragen, wem ich es zuzuschreiben habe, daß bis jetzt weder das Journal noch meine Schrift Über Religion p. p. in der Gothaischen Zeitung angezeigt worden ist? und Sie recht angelegentlich zu bitten, daß Sie, soviel Sie können, dazu beitragen möchten, beiden sobald als möglich ihr Recht anzuthun. Soviel mir versichert worden ist, hat Herr Gebhardt die Anzeige der Schrift Über Religion übernommen; ihn mag wohl zuletzt die Veränderung seiner Lage gehindert haben, diese seine Zusage zu erfüllen; aber meine Schrift war auch lange zuvor schon erschienen.27

Hier bestätigte Niethammer seine aktive Mitarbeit als Rezensent bei den GgZ: Doch, ich habe keine Ursache zu glauben, daß andere als die gewöhnlichen Gründe die Rezensionen bisher aufgehalten haben, und ich möchte also auch das Gesagte nicht so angesehen wissen, als ob ich darum rechten wollte. Aber läugnen kann ich es nicht, daß es mir empfindlich ist, daß gerade die Gothaische Zeitung, von der ich einige Rücksicht auf mich als einen ehemaligen Mitarbeiter erwarten zu dürfen glaubte, daß gerade sie unter allen mir bekannten teutschen Gel. Zeitungen die letzte ist, die von dem Dasein meiner Producte Notiz nimmt.28

Keineswegs haben die GgZ, wie Niethammer meinte, seine Aktivitäten gänzlich ignoriert. Schon am 4. August 1792 meldeten sie aus Jena die Ernennung des Magister Niethammer, »der hier mit Beyfall liest«, zum Adjunkten (31. Mai 1792).29 Danach folgte am 14. November 1792 eine informative Rezension zu Niethammers Qualifikationsschrift »Ueber den Versuch einer Kritik aller Offenbarung« (Jena 1792).30 Niethammers Bestreben, das Verhältnis von göttlicher Autorität und deren Wirksamkeit im Sittengesetz und umgekehrt zu zeigen, wurde besonders hervorgehoben. Die letzten Zeilen des zitierten Briefes von Niethammer an Ewald belegen das achtungsvolle Verhältnis zwischen beiden Kantianern. Nicht zuletzt beweisen dies die gegenseitigen Gefälligkeiten, die nach Möglichkeit erfüllt wurden: 26 Forschungsbibliothek Gotha, Chart. B 1918 II, Niet. Da Niethammer den Titel des Buches nicht genannt hat, aber für dessen Rezensierung einen Autor des naturwissenschaftlichen Faches vorgesehen hat, so ist zu vermuten, dass es sich um eine Nachauflage von Ewalds Schrift »Über das menschliche Herz« handelt. 27 Ebenda. Friedrich Heinrich Gebhard war Hofcollaborator und Pageninformator, später Pfarrer zu Bienstädt (Gotha). 28 Ebenda. 29 GgZ, 62. St. vom 4. August 1792, S. 576. 30 GgZ, 91. St. vom 14. November 1792, S. 842–846.

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Die Aufträge, die Sie mir in Ihrem Brief gegeben hatten, habe ich alle pünktlich ausgerichtet. – Ich wiederhole Ihnen meinen verbindlichsten Dank für Ihren Brief, der mir, als ein neuer Beweis Ihrer freundschaftlichen Gesinnung gegen mich, außerordentlich angenehm gewesen ist. Mit der Gegenversicherung der fortdauernden achtungsvollsten Freundschaft verharre ich Ihr ergebenster Frd u Dr F. J. Niethammer Prof.31

Obwohl die von Niethammer angemahnte Anzeige seiner Schrift »Über Religion als Wissenschaft« (1795) in den GgZ nicht zu finden ist, sorgte Ewald dafür, dass bis 1799 die Rezensierung verschiedener Editionen Niethammers erfolgte. Es erschienen erstens Rezensionen zum 5. und 6. Band des »Philosophischen Journals« am 9. Dezember 1797 bzw. am 28. Juli 1798. Im Mittelpunkt der Besprechungen standen die Beiträge Fichtes »Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre« und die »Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre« (5. Bd.). Fichtes Versuch zur Verdeutlichung seines Systems wurde zwar als legitim angesehen, aber: Freylich den Ton, den er hier anstimmt, und der in den vor uns liegenden Stücken des Journals fast durchgehends herrscht, können wir auf keine Weise billigen [...].32

Die Kritik konzentrierte sich auf Fichtes Ableitung seines philosophischen Systems aus dem absoluten, selbstproduktiven Ich bei gleichzeitiger Leugnung der Kantschen Vorstellung von der Möglichkeit der Existenz des »Dinges an sich« als Basis aller Erscheinungen, d. h. als Noumenon. Der Rezensent verteidigte den Standpunkt Kants: Wir müssen uns, wie Hr. F[ichte] selbst S. 378. zugibt, ein Ding als Grund zu den Erscheinungen hinzudenken. In so fern wir hierzu durch den Verstand genöthiget sind, ist dies ein Noumenon; in so fern wir aber denken, daß diesem Begriffe auch etwas außer dem Verstande und unabhängig von ihm, entspreche, denken wir uns ein Ding an sich. Hierin ist gar nichts Widersinniges. Nur läßt sich durch keine p h i l o ­s o p h i s c h e B e w e i s e darthun, daß es wirklich Dinge an sich gebe, und daß sie die Erscheinungen hervorbringen. Kritischer Philosoph seyn, und das annehmen, kann freylich nicht miteinander bestehen.33

Denn, so betonte der Rezensent, dass das ursprüngliche »G e f ü h l« als das »absolut Z u f ä l l i g e«, welches nach Fichte das »Ich« beschränke und das »bloß E m p i r i s c h e unserer Erkenntniß« liefere, »führt auf einen bodenlosen transcendenten Idealismus und eine unvollständige Philosophie«.34 31 32 33 34

Forschungsbibliothek Gotha, Chart. B 1918 II, Niet. GgZ, 97. St. vom 6. Dezember 1797, S. 873. Ebenda, S. 876. Ebenda, S. 876 f.

226 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Unter den Beiträgen des »Philosophischen Journals« wurde Niethammers »Versuch einer Darstellung des Vernunftmäßigen in den materialen Moralprincipien« (Bd. 5) als »ein nützlicher und scharfsinniger Aufsatz« gelobt.35 Der Rezensent unterstützte Niethammers Auffassung, dass der Prüfung der moralischen Sub­ stanz der gesellschaftlichen Bereiche Erziehung und bürgerliche Verfassung ein Begriff des Sollens und der Pflicht zugrunde zu legen ist bzw. nach einem Prinzip erfolgen muss.36 Zweitens wurde Niethammers Schrift »Versuch einer Begründung des vernunftmäßigen Offenbarungsglaubens« ( Jena 1798) in den GgZ (37. St. vom 8. Mai 1799, S. 313–315) hochgelobt, da er den Zusammenhang von Vernunft- und Offenbarungsglauben einsichtig darstellte. Gerade Niethammer wies in dem zitierten Brief darauf hin, dass Friedrich Heinrich Gebhard als Mitarbeiter der GgZ zu Beginn der neunziger Jahre in den Kreis der Kantianer in Gotha eintrat. Er offenbarte sich in seinem publizistischen Wirken als Kenner und Anhänger der Philosophie Kants, insbesondere seiner Moraltheologie. Karl Ludwig Primavesi – Kantianer, Autor und Rezensent der GgZ Bevor das publizistische Wirken Gebhards näher dargelegt wird, soll darauf eingegangen werden, dass Ettinger in den Jahren 1792/93, neben der Erstschrift von Gebhard, eine weitere Darstellung zur Erklärung und Verteidigung der Philosophie Kants in sein Verlagsprogramm aufnahm. Er gab damit für sein freisinnig-aufklärerisches Wirken als Verleger – auch für die Verbreitung des kritischen Denkens Kants – ein bemerkenswertes Beispiel.37 Er beförderte ein Manuskript des noch jungen Rezensenten der GgZ Karl Ludwig Primavesi (geb. 3. November 1771; gest. 24. März 1794), der Philosophie und Medizin in Heidelberg studiert hatte, zum Druck. Seine Darstellung von Problemen der Philosophie Kants und deren historische Einordnung hatte er lediglich zur Lesung im Freundeskreis und nicht zum Druck bestimmt. Die Schrift erschien anonym unter dem Titel »Beiträge zur Erläuterung und Prüfung des Kantischen Sistems in sechs Abhandlungen« (Gotha 1794, Vorrede des Herausgebers S. XVI, 134 S.). Sie wurde von dem Würzburger Domstiftsvikar Franz Nikolaus Baur herausgegeben. Am 19. April 1794 war in die GgZ eine Mitteilung über den Autor der genannten Schrift eingerückt worden, die die Handschrift des Herausgebers trägt: Den 24ten Merz starb zu H e i d e l b e r g an einem epidemischen Faulfieber, Doctor P r i m a v e s i , in den zwanziger Jahren seines Alters. In der Blüthe seines Lebens, von allen, die ihn kannten, geliebt und geschätzt, raffte ihn der Tod in einer Lauf35 Ebenda, S. 877. 36 Ebenda, S. 878. 37 Adam Weishaupt hatte es vorgezogen, da er genau über die prokantische Haltung von Ewald als Redakteur der GgZ und von Ettinger als deren Verleger informiert war, seine antikantischen Schriften hauptsächlich bei seinem Ordensbruder der Illuminaten Ernst Christian Grattenauer, Buchhändler und Verleger in Nürnberg, zu veröffentlichen. Weishaupt wurde von den zuerst Genannten jedoch immer, wie u. a. die Veröffentlichungen in den GgZ zeigen, korrekt und respektvoll behandelt.

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bahn dahin, wo er alles erwarten ließ. Vor vielen andern durch seine Freundschaft ausgezeichnet beglückt, und durch den Schmerz über diesen unersetzlichen Verlust tief gebeugt, kann ich es der gelehrten Welt nicht vorenthalten, ihn als Verfasser der so gut aufgenommenen B e y t r ä g e z u r E r l ä u t e r u n g u n d P r ü f u n g d e s K a n t i s c h e n S y s t e m s, i n s e c h s A b h a n d l u n g e n, zu nennen. Ausserdem verdient noch bemerkt zu werden, daß er Mitarbeiter der gelehrten Zeitungs-Institute von Gotha, Salzburg und Würzburg war. Er hatte die Achtung aller seiner Lehrer, besonders unsers alten Hrn. Hofraths [Carl Caspar von] Siebold. Die Welt verlor an ihm einen hoffnungsvollen jungen Mann, und seinen Freunden wird er ewig unvergeßlich seyn.38

Schon vor der Ausgabe der Schrift erschien in den GgZ am 14. Dezember 1793 eine Rezension zur Darstellung des noch nicht öffentlich bekannten Autors, die Primavesis Versuch durch einen inhaltlichen Überblick würdigte. Er habe zum einen durch die Erörterung wichtiger Probleme der kritischen Philosophie, so der Rezensent, seinen Freunden das Studium dieses Systems zu erleichtern versucht. Zum anderen sei es ihm durch zwei lateinisch geschriebene Beiträge gelungen, seine »durchgängige scharfsinnig prüfende Belesenheit in ältern und neuern Philosophen« 39 unter Beweis zu stellen. Der Herausgeber der Schrift, deren Veröffentlichung ihm der Verfasser freigestellt hatte, hob dessen »Bescheidenheit und Unparteylichkeit« hervor. Es sei eine Eigenschaft, die man »bey den neuesten Philosophen am seltensten antrifft«.40 Er kritisierte zwei Tendenzen der aktuellen Diskussion. Erstens gebe es »Kantianer«, die sich »für Freunde und Vertheidiger der kritischen Philosophie« halten und diese als die einzig Gültige ansehen: Denn bei leider! nur gar vielen ist die Gewohnheit eingewurzelt, die p e r i p a t e t i s c h e, C a r t e s i a n i s c h e, L e i b n i z - W o l f i s c h e P h i l o s o p h i e für Dummheit, und K a n t ’ s Namen für Gründe gelten zu lassen. Sie blicken mitleidig auf philosophische Systeme herab, die sie nie lasen, geschweige, dann studierten, und noch weniger verstanden; Sie schreien bey der geringsten Entfernung von Kant’s Worten über Misverständnisse, Lichtscheue, Obscurations-Systeme, und suchen zur näm­l ichen Zeit den Despotismus in der Philo­sophie einzuführen, wo man den theologischen und politischen so feurig bestreitet; Sie geben sich für Weisheits-Freunde, für unbefangene Forscher, für Kantianer, für Freunde und Vertheidiger der kritischen Philosophie aus, deren Hauptbegriffe sie oft nicht mit Genauigkeit zu bestimmen wissen.41 38 GgZ, 32. St. vom 19. April 1794, S. 288. Intelligenzblatt der ALZ, Nr. 52 vom 14. Mai 1794, Sp. 410. Das Blatt fügte hinzu, daß Primavesi auch Kandidat der Arzneygelehrsamkeit war und als Professor dieses Faches für die Universität Heidelberg vorgeschlagen worden sei. 39 GgZ, 100. St. vom 14. Dezember 1793, S. 882. 40 Karl Ludwig Primavesi, Beiträge zur Erläuterung und Prüfung des Kantischen Sistems in sechs Abhandlungen, Gotha, bei Carl Wilhelm Ettinger 1794, Vorrede des Herausgebers, S. VII (Nachdruck ohne Nennung des Verfassers, Brüssel 1968). Die Schreibweise »Sistem« ist offensichtlich ein Druckfehler. 41 Ebenda, S. VII f.

228 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Zweitens, so Baur, »hört man beständiges Klagen über Kant und kritische Philo­ sophie; man setzt das ältere voraus, um das neue darnach zu prüfen; man schreit über absolute Dunkelheit, wo sie doch blos relativ ist; wo man doch blos von Misverständnissen reden sollte«. Hingegen gehöre der Verfasser, wie vor allem die letzten Abhandlungen zeigen, »weder zur einen, noch zur andern Klasse. Er zeigt sich als einen Mann, der das Kantische System studierte, ohne die Systeme anderer Philosophen zu vernachlässigen; und der Kant’s Verdienste zu schätzen weiß, ohne deswegen andere Männer herabzusetzen.«42 Baur lobte Primavesi für die lateinisch verfassten Beiträge in seiner Schrift; denn er vertrat die Meinung, dass »die Uebersetzung der Kantischen Schriften in die lateinische Sprache« der einzige Weg sei, diese Philosophie anderen Nationen vermitteln zu können. Seine Vorrede (Oktober 1793) beschloss er mit kritischen Bemerkungen zu Widerständen in sogenannten höhern und aufgeklärten Kreisen gegen das Selbstdenken.43 Es war die ALZ, die schon frühzeitig (17. Februar 1794) eine dreispaltige Rezension zur Schrift des noch unbekannten Autors veröffentlichte. Einerseits würdigte der Rezensent das Anliegen des Verfassers, wesentliche Probleme und Strukturen der Kantischen Philosophie prägnant und bündig – auch in lateinischer Sprache – zu erörtern. Andererseits merkte er an, dass er diesem Denker und Verehrer der kritischen Philosophie nicht in allen Teilen das Lob der Gründlichkeit geben könne. Man erkenne durchaus mit Vergnügen das Bestreben des Vf., in den Geist der kritischen Philosophie einzudringen, nur scheint er das Studium derselben zu bald für vollendet gehalten zu haben, welches auch wohl die Ursache ist, daß man so oft neben richtig verstandenen auch auf mißverstandene Begriffe und Lehrsätze trift.44

Diesbezüglich verwies der Rezensent u. a. auf die zweite Abhandlung »Ueber Anschauung und Begriff zur Erläuterung des Kantischen Systems« (1792). Er kritisierte, dass der Verfasser das Verhältnis bzw. die Unterscheidung von Anschauung und Begriff im Sinne Kants nicht eindeutig bestimmt habe. Er zeigte das Problem auf und gab dem Verfasser den Rat, seine Auffassung anhand der Kantischen »Kritik der reinen Vernunft«, S. 142 zu überprüfen.45 Die beiden lateinischen Abhandlungen lobte der Rezensent zum einen wegen des gelungenen Versuchs, die Philosophie Kants in dieser Sprache zu vermitteln. Zum anderen habe der Verfasser den historischen Zusammenhang zwischen dem Kategoriensystem des Aristoteles und Kants gründlich dargelegt. Im Wesentlichen sind 42 Ebenda, S. VIII. 43 Ebenda, S. XVI. Baur meinte, dass es dort noch Männer gebe, »bey denen Selbstdenken, und eine jede Entfernung vom Alltäglichen Verbrechen ist [...]. Philosoph, Freygeist, Demokrat, Jacobiner, Freymaurer, Illuminat, Klubbist sind bey Ihnen gleichbedeutende Worte«, ebenda. 44 ALZ, Nr. 55 vom 17. Februar 1794, Sp. 434. 45 Ebenda. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 142.

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ähnliche Urteile in den Anzeigen und Rezensionen anderer Zeitschriften zu finden. Hervorzuheben ist, dass Primavesi in seiner Argumentation die Kenntnis der kritischen Schriften Kants, einschließlich der »Kritik der Urteilskraft« (1790), sowie die Schriften der wichtigsten Anhänger Kants, seiner Widersacher und Vorgänger in seine Betrachtungen einbezogen hat. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war es der aufgeklärten Atmosphäre unter den Gothaer Intellektuellen, der toleranten Haltung der herzoglichen Regierung und der liberalen Haltung des Verlegers Ettinger zu verdanken, die den freisinnig denkenden Würzburger Franz Nikolaus Baur veranlassten, in Gotha die Studien seines Freundes Karl Ludwig Primavesi zur Veröffentlichung zu befördern. Friedrich Heinrich Gebhard – ein streitbarer Anhänger der Philosophie Kants Seine lebenslangen Wirkungsmöglichkeiten fand Friedrich Heinrich Gebhard (geb. 6. Mai 1761; gest. 6. März 1838) im Herzogtum Gotha. Er wurde als Sohn des Kantors im gothaischen Kranichfeld geboren. Er besuchte das Gymnasium Ernestinum in Gotha, welches er Ostern 1778 erfolgreich absolvierte. Er studierte an der Universität Jena Theologie.46 Danach wirkte er als Hofmeister und in anderen Lehrtätigkeiten. Am 18. Juli 1790 wurde er Hofcollaborator und Pageninformator auf Schloss Friedenstein (Regierungs- und Wohnsitz des Gothaer Herzogs). Seit dem 19. August 1796 wirkte er als Pfarrer in Bienstädt und seit dem 18. Mai 1803 in Hörselgau. Am 5. November 1812 wurde er Stiftsprediger in Gotha und gleichzeitig Landschuleninspektor. Ab dem 4. Juli 1817 war er Superintendent in Kranichfeld.47 Mit Beginn der neunziger Jahre profilierte sich Gebhard zu einem aktiven Mitstreiter Ewalds für die Verbreitung der Philosophie Kants. Sein Interesse galt der Ideenkonstellation Vernunft – Moralität – Glaube. Er reflektierte über diese mit der Zielsetzung, allen Bestrebungen zur Festigung des christlichen Glaubens das kritische System Kants, insbesondere dessen Moraltheologie, zugrunde zu legen. Dabei bewegte ihn, ausgehend von der Diskussion in der europäischen Aufklärung, die Begründung der Grundsätze der Moral, ihre Fundamentalität und die Festlegung ihrer Verbindlichkeit. 46 Er wurde am 14. Mai 1778 in die Matrikelliste der Universität eingetragen. Anzumerken ist, dass Gebhard wie der Kantianer Carl Christian Erhard Schmid im Jahr 1778 das Studium der Theologie in Jena begann. Vermutlich kannten sie sich aus dieser Zeit. Zum einen hat Gebhard die Schriften Schmids gekannt und oft zitiert. Zum anderen haben beide, von Ewald unterstützt, in der noch zu behandelnden Kontroverse zwischen Fichte und Gebhard ihre gegenseitige Wertschätzung als Anhänger der kritischen Philosophie bekundet und ihre freundschaftliche Verbundenheit bekräftigt, vgl. GgZ, 9. St. vom 29. Januar 1794, S. 74 f. 47 Thüringische Staatsarchiv Gotha, Die Abiturienten des Gymnasiums illustre zu Gotha 1768–1859, Gotha 1905, S. 142; Thüringer Pfarrerbuch, Bd. 1: Herzogtum Gotha, Neustadt an der Aisch 1995, S. 257.

230 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Überzeugt von der Evidenz und der Prinzipialität der Kantschen Moralphilo­ sophie, die er als Erklärung des menschlichen Vernunftvermögens und als Anleitung zu praktischem Handeln verstand, propagierte er sie als Orientierung zur Mitgestaltung der göttlichen Weltordnung. Gebhard hatte sich erstmalig in dem Aufsatz »Einige Gedanken über die Liebe gegen Gott« dafür ausgesprochen, dass es nicht ausreicht, aus einem mehr oder weniger intensiven Gefühl Liebe und Achtung für Gott zu empfinden. Denn Gott als »das Subjekt der allerreinsten Moralität« zu lieben, setzt für den Menschen voraus, unentwegt nach der Erkenntnis des Grundsatzes der reinen Moralität zu streben und danach zu leben. Er schlussfolgerte: Je reiner sie wird, je mehr wir die Moralität als solche betrachten, als solche selbst in unserm Herzen auffassen lernen, (ich finde keinen passendern Ausdruck) desto mehr müssen die Eindrücke, welche die Erweise jeder besondern Tugend auf uns machen, ihre eigenthümlichen Modificationen verlieren; wir müssen uns für die Erscheinungen der wohlwollendsten Güte eben so stark und auf eben die Art, für die Erscheinungen der strengen Gerechtigkeit interessiren. Denn die Tugend, zeige sie sich an welchem Subjekte und unter welchen Umständen sie wolle, die Tugend, sage ich, als das reine Produkt der praktischen Vernunft, ist nur E i n e.48

Auf dieser Grundthese fußend, verteidigte Gebhard in der Schrift »Ueber die sittliche Güte aus uninteressirtem Wohlwollen« (Gotha bei Carl Wilhelm Ettinger, 1792, 290 S.), die er dem Generalsuperintendenten Löffler widmete, die Kantsche Moralgesetzgebung als Basis des Vernunftglaubens. Nur in dieser für die menschliche Vernunft erfassbaren Begründung des Glaubens an die göttliche Zwecksetzung sah er die wahre Anleitung für die Gläubigen, praktische Humanität zu leben. Das Resultat seines Nachdenkens über dieses Problem hatte er seinen Freunden, zu denen Ewald zählte, zur Kenntnis gegeben. Sie bestätigten seine Überlegungen: »Das Urtheil einiger pertinenten Richter erklärte das Product des Drucks würdig«. Er schloss den »Vorbericht« (21. April 1792) mit der Bemerkung, »zur Sichrung des Eigenthums der Wahrheit wenigstens zufälliger Weise gewirkt« zu haben und bat die Kritiker seiner Schrift »um eine wohlthätig aufklärende Zurechtweisung.«49 Die Grundlegung der Moralität bei Kant und Smith Gebhard nahm sich vor, durch die Gegenüberstellung der von Adam Smith vertretenen Theorie des allgemeinen Wohlwollens als Fundament moralischen Handelns und der von Kant vorgenommenen Grundlegung der Moralgesetzgebung, 48 Friedrich Heinrich Gebhard, Einige Gedanken über die Liebe gegen Gott, in: Schleswigsches Journal, 8. St. vom August 1792, S. 399 f. 49 Friedrich Heinrich Gebhard, Ueber die sittliche Güte aus uninteressirtem Wohlwollen, Gotha 1792, Vorbericht S. 10 ff., ND Hildesheim 1979.

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die Überlegenheit der letzteren hinsichtlich der Qualität ihrer philosophischen Begründung zur wirksamen Gestaltung des moralischen Verhaltens in der menschlichen Gemeinschaft nachzuweisen. Dieser Suche »nach vernünftig erkannten Grundsätzen«, die über »empirischvernünftige Gefühle« hinausweisen und eine »oberste Regel« moralischen Handelns festsetzten, widmete er mit aller Intensität seine Überlegung, um »nach den unentbehrlichen Begriffen und Grundsätzen der Sittlichkeit zu forschen«.50 Es waren offenbar sowohl die Umbrüche in Europa als auch die in der europäischen und deutschen Aufklärung geführte Diskussion um das Wohlbefinden und das Glück des Menschen, die Gebhard drängten, Einsicht und Klarheit in diese existentiellen Probleme zu gewinnen. Denn, so erklärte er: Es müsse ein »Standpunkt« erreicht werden, auf welchem der Geist, nicht mehr vom Zwange des bloßen Natur-Bedürfnisses gepreßt, freier athmen, ganz in der ihm eigenthümlichen Sphäre leben, und sich zur Erhöhung seiner ursprünglichen Selbstthätigkeit, von jeder blindwirkenden Kraft loswinden könnte. Die Vernunft, soll sie nicht immer nur halbe Vernunft, nur Vernunft­ instinct bleiben, muß sich ganz entwickeln, muß ganz mit sich selbst einig werden, und alle ihre Grundsätze müssen sich in eine unverkennbare Einheit auflösen lassen. Alles, was gut und recht ist, muß es aus einem ungezweifelten gemeinschaftlichen Grunde sein, und eben dieser gemeinschaftliche Grund muß alle tugendhafte Gesinnungs- und Handlungsweisen in dem Mittelpuncte der Tugend unverrückt zusammenhalten.51

Aus diesem Grunde beabsichtigte Gebhard, die begriffliche Bestimmung des sittlich Guten und seine jeweilige Grundlegung sowohl im System von Adam Smith als auch in der Moralgesetzgebung Kants vergleichend zu untersuchen. Obwohl er die Zielsetzung und die empirisch-soziale Fundierung der Vorstellungen von Smith würdigte,52 hegte er Zweifel an der Festlegung seines Fundaments sowie der Verbindlichkeit seiner Postulate. Deshalb suchte er die vergleichende Betrachtung der beiden Systeme: Vielleicht, dass eine Vergleichung dessen, was Kant von dem Wesen der sittlichen Güte festsetzt, mit diesem Begriffe des reinen Wohlwollens die Untersuchung theils 50 Ebenda, S. 4 f. 51 Ebenda, S. 5. 52 Ebenda, S. 7. Gebhards Standpunkt zum Moralsystem von Smith: »In diesem Sinne unter­ nahm der Verfasser der folgenden kleinen Abhandlung eine Prüfung desjenigen Begriffs der sittlichen Güte, dessen wesentlichen Caracter das r e i n e W o h l w o l l e n ausmacht. Dieser Begriff ist, wie bekannt, die Grundlage eines Moralsystems (wenn man anders eine Verbindung empirisch-psychologischer Sätze ein System nennen kann) womit der Engländer S m i t h auf eine Art, die seinem Kopf und Herzen gleich viel Ehre macht, das System der Glückseligkeit zu ergänzen, den Trieb der Selbstliebe, um ihn nicht in selbstischen Eigennutz ausarten zu lassen, mit demjenigen der Sympathie oder des Mitgefühls in freundschaftliche Verbindung zu setzen und also die Krankheiten des erstern gleichsam methodisch zu heilen suchte.«

232 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe erleichtert, theils anziehender macht, theils, nach dem Alten: O p p o s i t a j u x t a s e p o s i t a m a g i s e l u c e s c u n t, das reinere System desto deutlicher in seiner Richtigkeit und Vernunftmässigkeit darstellt. Eine solche Vergleichung, und eine Art der analytisch-­apagogischen Deduction des reinen Wohlwollens auf die vernunftwidrigen Resultate, worin sichs am Ende auflöst, möchte vielleicht die Eigen­ thümlichkeit sein, welche den Verfasser auszeichnet.53

Gebhard stellte jedoch klar, dass er letztlich die Bestimmung des sittlich Guten nur nach Kants kritischer und differenzierter Erklärung des menschlichen Vernunftvermögens akzeptieren konnte. Da die Grenzen der »theoretischen Vernunft«, die aufgrund der »Eingeschränktheit ihrer Fassungskraft« nicht in »das Innere eines absoluten Grundes der Erscheinungen« eindringen kann, offensichtlich sind, so Gebhard, gebe es »ein practisches Interesse«, welches die »praktische Vernunft« artikuliert, »um die ganze, eigentliche, unersetzlich zu verliehrende Würde der Menschheit« zu gestalten.54 Von dieser Befähigung der menschlichen Vernunft, wie sie Kant als apriorisch vorhandenes Potential zur Selbstgestaltung menschlichen Seins erkannt hatte, war Gebhard überzeugt. Wesentlich ist, dass Gebhard von der Grundanlage der kritischen Philosophie Kants, d. h. von der Apriorität der Grundsätze und der uneingeschränkten Spontaneität der Vernunft ausgehend, seine Argumentation vornahm. Angeregt durch eine antikantische Polemik im »Braunschweigischen Journal« (Juni 1791) legte er seiner Darstellung ein auch dort verwendetes Zitat aus der 3. Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« (S. 576) zugrunde. Diese bündige Fassung des Kantschen Anliegens bestimmte seine Auseinandersetzung mit verschiedenen Ansichten über die Qualität und die Grundlegung des »sittlich Guten«. Gebhard zitierte: Es mögen noch so viel Naturgründe sein, die mich zum W o l l e n antreiben, noch so viel sinnliche Anreitze, so können sie nicht das S o l l e n hervorbringen, sondern nur ein noch lange nicht nothwendiges, sondern jederzeit bedingtes Wollen, dem dagegen das Sollen, das die Vernunft ausspricht, Maaß und Ziel, ja Verbot und Ansehen entgegen setzt. Es mag ein Gegenstand der bloßen Sinnlichkeit (das Angenehme), oder auch der reinen Vernunft (das Gute) sein, so giebt die Vernunft nicht demjenigen Grunde, der empirisch gegeben ist, nach, und folgt nicht der Ordnung der Dinge, so wie sie sich in der Erscheinung darstellen, sondern macht sich mit völliger Spontaneität eine eigne Ordnung nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen hineinpaßt, und nach denen sie sogar Handlungen für nothwendig erklärt, die noch n i c h t g e s c h e h e n s i n d, und vielleicht nicht geschehen werden, von allen aber gleichwohl voraussetzt, daß die Vernunft in Beziehung auf sie Caussalität haben könne; denn ohne das würde sie nicht von ihren Ideen Wirkungen in der Erfahrung erwarten.55 53 Ebenda, S. 9. 54 Ebenda, S. 18 f. 55 Ebenda, S. 12. Vgl. Kritik der reinen Vernunft, B 576. Sperrungen bei Kant.

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Gebhard war fasziniert von der Möglichkeit des Kantschen Systems zur vernunftgeleiteten Gestaltung des menschlichen Daseins. Begeistert adaptierte und interpretierte er dessen moralphilosophische Grundlegung als strikte Anleitung für den Einzelnen, seine Gesinnung kritisch zu prüfen, um durch sein Verhalten der Zwecksetzung der göttlichen Weltordnung gerecht zu werden. Er demonstrierte hier sein grundlegendes Verständnis der epochalen Leistung Kants zur Erklärung des Wesens des Vernunftvermögens: Die praktische Vernunft, daß wir uns der Kantischen Worte bedienen, folgt nicht der Ordnung der Dinge, so wie sie sich in der Erscheinung darstellen, formt die Pflichtaussagen nicht nach den Umständen des Subjects oder Objects, welches sie betreffen, gibt ihre Gesetze nicht alsdann erst, wenn die Befolgung derselben durch äussere Bedingungen möglich wird, oder nimmt sie wieder zurück, wenn dergleichen Bedingungen sie unmöglich machen, sondern sie macht sich mit völliger Spontaneität eine eigne Ordnung nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen hineinpaßt, sie setzt eine solche Ordnung der Weltdinge und ihrer Umstände voraus, worin jedes Subject zu jeder Zeit sich als pflichtfähig denken läßt, sie setzt voraus, daß es unter allen denkbaren Umständen für das vernünftige Wesen möglich ist, pflichtmäßige Gesinnungen zu hegen und auszuüben, und erklärt nun nach ihren ganz eigenthümlichen, mit völliger Spontaneität festgesetzten Ideen der Freiheit und Moralität Handlungen jeder Pflicht für jedes nach jenen Ideen bestimmte Subject für nothwendig, die doch nicht geschehen sind, und vielleicht nicht geschehen werden, und setzt von allen diesen Handlungen voraus, daß sie, die Vernunft in Beziehung auf dieselben Caussalität haben könne, oder daß diese Handlungen ein möglicher Gegenstand der freien, moralischen Thätigkeit sind. Denn ohne das würde sie nicht von ihren Ideen Wirkungen in der Erfahrung erwarten.56

In diesem Sinne bezeichnete Gebhard, Kant zitierend (»Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, S. 36), das »sittlich Gute« als diejenige moralische Qualität der Gesinnung und des Handelns, die die reine »praktische Vernunft« als unbedingt erkannt und bestimmt hat. Denn: Wenn die Vernunft den Willen unausbleiblich bestimmt, so sind die Handlungen eines solchen Wesens, die als objectiv nothwendig erkannt werden, auch subjektiv nothwendig, d. i. der Wille ist ein Vermögen, n u r d a s j e n i g e zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung als practisch nothwendig, d. i. als gut erkennt.57

Konsequent stimmte er der von Kant erkannten und evident fixierten Grundkonstellation von Vernunftspontaneität – Freiheitswillen – Moralgesetzgebung zu. Nur auf diesem Fundament sah er die Orientierung von moralischem Verhalten in der menschlichen Gemeinschaft und den Glauben an die von Gott geprägte Weltordnung begründet: Die practische Vernunft hingegen gebietet, und sie gebietet unbedingt, und keine Kunst der sophistischen Ueberredung oder der geflissentlichsten Selbsttäuschung ist 56 Gebhard, Ueber die sittliche Güte, S. 15 f. 57 Ebenda, S. 13. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 412.

234 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe im Stande, sie und ihre Rechte zu vernichten; selbst der geübteste Scharfsinn vermag es nicht, die ihm, so wie dem gemeinsten Menschenverstande, inwohnende Ideen der Freiheit und Moralität hinwegzuvernünfteln; selbst der verworfenste Bösewicht wagt es nicht, dem Gesetze, das ihm Tugend anbefahl, den Drang seiner äussern Lage und die Allgewalt seiner Begierden als ein volles Gegengewicht entgegen zu setzen, allenfalls nur sich damit zu entschuldigen, nur das Mitleid und die schonende Verzeihung seines Richters zu verdienen. Die Vernunft gebietet zu handeln, und genau so und nicht anders zu handeln.58

Auf diesen Grundsätzen Kants und deren Interpretation durch seine Anhänger (Karl Leonhard Reinhold, Carl Christian Erhard Schmid, Johann Gottfried Kiesewetter u. a.) unternahm Gebhard die analytische Betrachtung der hauptsächlichen Auffassungen über das sittlich Gute und seiner Grundlegung in der Befindlichkeit des Menschen. Er konzentrierte seine Ausführungen über die Fundierung des Moralischen auf folgende, allgemein diskutierte Basisideen: a) die eigene Glückseligkeit, b) die fremde Glückseligkeit, c) das reine oder uninteressierte Wohlwollen (Sympathie, soziales Gefühl) und d) die praktische Vernunft und die göttliche Weltordnung. Gebhard unternahm den Versuch, den Wert der jeweiligen Systeme zur Grundlegung der Moral und ihrer Gesinnungs- und Handlungsorientierung hinsichtlich ihrer Möglichkeit der sittlichen Bildung und Erhaltung des Individuums und der Gemeinschaft zu verdeutlichen. Er war bestrebt, von der objektiven Qualität der jeweiligen Moralbegründung auf den Grad ihrer Befähigung zur Stabilisierung des individuellen und sozialen Verhaltens zu schließen. In der genannten Abfolge der Moralkonzeptionen versuchte Gebhard, den Zuwachs an moralischer Substanz im Sinne des sittlich Guten herauszustellen und zu würdigen. Den Ziel- und Höhepunkt im Konstitutionsprozess der Moralsysteme sah er in der konsequenten Unbedingtheit und Stringenz der Kantischen Moralgesetzgebung. Nur in deren prinzipieller Bestimmung, die Kant im Vermögen des menschlichen Subjekts aufgedeckt habe, sah er die Möglichkeit, den Menschen als Akteur zu seiner moralischen Vervollkommnung zu befähigen. Nur sie allein erfülle, so Gebhard, die Forderung an einen gesetzmäßigen Sachverhalt; denn die Wesensmerkmale eines Gesetzes, wie Allgemeinheit und Notwendigkeit, bestimmen den Kantischen kategorischen Imperativ. Von daher konnte Gebhard gegen das System der eigenen Glückseligkeit argumentieren: Da es die eigne Glückseeligkeit des Handelnden zum objectiven Grunde des Wollens macht, so gründet es sich auf die Beobachtung des der menschlichen Natur eigenthümlichen Triebes der Selbstliebe, und macht also die Selbstliebe als einen Naturgrund zum rechtmäßigen Elaten der Pflicht. Soll es nicht mit sich selbst uneins werden, so muß es seinem obersten Princip gemäß eine Handlung nur in so fern für gut erklären, als sie zur Glückseeligkeit des Handelnden beiträgt [...].59 58 Gebhard, Ueber die sittliche Güte, S. 19 f. 59 Ebenda, S. 21.

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Die Meinung, dass die Selbstliebe eine vernunftgemäße Tätigkeit sei, obwohl durch sie die allgemeine Verbindlichkeit verloren gehe, lehnte er mit dem Argument ab, dass das Interesse der Selbstliebe mit dem Interesse der Vernunft nicht nothwendig verbunden, Vernunft und Sinnlichkeit einander heterogen, und die Erfahrung theils nicht competenter Richter ist, theils auch wegen ihrer Unvollständigkeit kein allgemeines und nothwendiges Princip begründen kan. 60

Das System der fremden Glückseligkeit, welches von Smith und Rousseau mit dem System der eigenen Glückseligkeit verbunden worden sei, so Gebhard, gründe sich auf die Beobachtung eines zweiten der menschlichen Natur eigenthümlichen Triebes der S y m p a t h i e oder des Mitgefühls, und macht also diesen Trieb, als einen Naturgrund zu einem eben so rechtmäßigen Elator der Pflicht, als das System der eigenen Glückseligkeit die Selbstliebe.61

Er bezweifelte jedoch, dass der Mensch als Subjekt seiner Handlungen, die er auf Sympathie oder Mitgefühl gründet, die Glückseligkeit anderer Menschen so umfasst, dass diese Beziehung ein »oberstes Princip« darstellen und damit »als ein allgemeiner und folglich nothwendiger Trieb der menschlichen Natur« anerkannt werden könne. Denn, so argumentierte Gebhard: Im Handeln der Menschen nach dem angenommenen Prinzip der Sympathie zeige sich, dass die ihm als verbindlich zugeschriebenen Wesensmerkmale, wie »Allgemeinheit und Nothwendigkeit«, im alltäglichen Geschehen, d. h. »in concreten Fällen die Kraft dieser Verbindlichkeit wieder verlohren gehe«.62 Das sittlich Gute – Kant und Smith Gebhard kam zu dem Ergebnis, dass die Bestimmung des sittlich Guten nur auf der Grundlage der Kantischen Analyse des selbsteigenen Vermögens der menschlichen Vernunft möglich ist. Denn: Sittlich gut ist zufolge des Gesagten – nicht das, was der Mensch von Naturgründen getrieben, nicht das, was er bedingterweise, aus einem empirisch gegebenen Grunde will; sondern was er nothwendigerweise, gleichwohl aber mit völliger Spontaneität und Causalität seiner Vernunft, kurz! was er deswegen will, weil er s o l l. Folgte die Moralität den ungewiß und veränderlich wirkenden Naturgründen, den wechselnden empirischen Bedingungen, so verlöre sie den Caracter aller Nothwendigkeit; wäre ihre Nothwendigkeit nicht das Produkt der Spontaneität unserer Vernunft, so hätten wir den Fatalismus, der sich unter das Joch des bewußtlosen Muß beugt. Nur ein Wille, der sich durch das S o l l e n bestimmen läßt, handelt nach einer sehenden Nothwendigkeit.63 60 Ebenda, S. 24. 61 Ebenda, S. 26. 62 Ebenda. 63 Ebenda, S. 33 f. Gebhard verwies an gleicher Stelle auf Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785/86, S. 36): »Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur

236 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Späterhin ergänzte er: S i t t l i c h g u t nach Kant ist folglich das, was Gegenstand der reinen practischen Vernunft, oder was practisch nothwendig ist.64

Von dieser Position untersuchte Gebhard die Theorie, dass das sittlich Gute aus dem allgemeinen Gefühl des »reinen bzw. uninteressierten Wohlwollens« entsteht und in diesem Kriterium seinen Maßstab findet. Da aber für ihn jegliche Gefühle, Triebe, Neigungen und Interessen wesentlich den empirischen Bereich menschlichen Wirkens ausmachen und von daher die Annahme eines auf dieser Basis gewählten Grundsatzes die Gefahr einer »erschlichenen Anmaßung« 65 in sich trägt, ergab sich für ihn die Fragestellung: Welches höhere Prinzip als die nicht eindeutig festzulegende mitfühlende Sympathie bestimmt unbedingt das Streben nach dem sittlich Guten? Nach Abwägung verschiedener Varianten zwischen sinnlichen und rationalen Möglichkeiten der Grundlegung der Moralität, kam er zu dem Ergebnis: Also auf alle Fälle gibt es ein uninteressirtes Wohlwollen, welches der berichtigenden Leitung der Vernunft bedarf«, denn »so ist, dünkt mich, die S u b o r d i n a t i o n de s u n i nt e r e ss i r t e n Woh l wol le n s u nt e r d ie pr a c t i sc he V e r n u n f t k l a r e r w i e s e n.66

Alle Argumente und Kritiken Gebhards gegen diese von Adam Smith und seinen Vorgängern vertretene Grundlegung der moralischen Beziehungen stehen unter diesem Vorzeichen. Er erörterte anhand von individuell zu treffenden Entscheidungen der Menschen, dass zwar Gefühle und Stimmungen die Verantwortung des Einzelnen für sich und andere mehr oder weniger herausfordern und hierdurch ein scheinbar tragendes, allgemeines Wohlwollen unter den Menschen erzeugen können. Jedoch könne dieses auf Sympathie beruhende soziale Gefühl, so kritisierte Gebhard, kein verbindliches Prinzip konstituieren und deshalb auf keine unwandelbare tugendhafte Gesinnung orientieren. Wohlwollen als Gefühl für fremde Glückseligkeit könne nur nach den Grundsätzen der Vernunft zu akzeptieren sein. Bei allen oft verzweigten Erörterungen anhand von praktischen Beispielen kam Gebhard auf sein Grundanliegen zurück: Die Überlegenheit der Kantischen Moralphilosophie wollte er gegenüber allen nicht rational begründbaren Erklärungen der Moralität herausstellen: Denn es ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, n a c h d e r V o r s t e l l u n g der Gesetze, d. i. nach Principien, zu handeln, oder einen W i l l e n. Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen V e r n u n f t erfordert wird, so ist der Wille nichts anders als praktische Vernunft«, vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 412. 64 Gebhard, Ueber die sittliche Güte, S. 40. 65 Ebenda, S. 50. 66 Ebenda, S. 54 f.

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ist die reine p r a c t i s c h e V e r n u n f t im Kantischen Sinne ein begreiflicher Grund nicht nur der sittlichen Thätigkeit, als Thätigkeit, sondern auch ihrer specifischen innern Güte [...]. V e r n u n f t ist das ganze o b e r e selbstthätige Vermögen. Das obere heißt es im Gegensatze gegen die Sinnlichkeit, oder das n i e d e r e, blos leidende Vermögen; s e l b s t t h ä t i g, weil es nicht, wie die Sinnlichkeit, äußerer Reize braucht, um sich zu äußern, sondern weil der Grund seiner Thätigkeit in ihm selbst liegt. Nun kan die Vernunft theoretisch und practisch sein; t h e o r e t i s c h, in so fern sie auf Gegenstände der Erkenntniß geht, und nach Erkenntniß strebt; p r a c t i s c h, in so fern sie darauf ausgeht, selbst Gegenstände zu realisiren, und also Handlungen hervorbringt. R e i n e p r a c t i s c h e V e r n u n f t heißt sie aber, in so fern ihr nichts fremdartiges beigemischt, in so fern sie von allen sinnlichen Antrieben frei, und nichts, als Vernunft ist.67

Die Quintessenz seiner Rezeption und Verinnerlichung des Kantischen Systems – insbesondere der »Moralphilosophie« – und der Auseinandersetzung mit der Theorie des sogenannten »uninteressierten Wohlwollens« formulierte Gebhard wie folgt: Also nur eine practische, nur ein vernünftiger unabhängiger Grund der Thätigkeit, der Wille kann dieß Bedürfniß zu empfinden geben. – Durch diese wird es unüberhörbar ausgedrückt im S o l l e n. – So, dünkt mir, ist erwiesen, daß nur die reine p r a c t i s c h e Vernunft die beiden wesentlichen Erfordernisse der Moralität, Freiheit und Notwendigkeit verbunden, in sich enthalte, und daß Handlungen, die aus ihr als ihrer eigentlichen Quelle entspringen, allein sittlich gut sind. Hieraus folgt aber zugleich, daß, in wie fern die aus uninteresirtem Wohlwollen entsprungene Handlungen sittlich gut sein sollen, dieß Wohlwollen erst durch die practische Vernunft Quelle derselben werden kan, oder vielmehr, das, was an einer Handlung moralisch ist, gehört nur demjenigen zu, was von practischer Vernunft mit dem Wohlwollen und seinen Trieben vergesellschaftet ist.68

Praktische Vernunft und göttliche Weltordnung Folgerichtig erwuchs für Gebhard die Begründung des Daseins Gottes aus der moralischen Gesetzgebung, wie sie Kant durch die apriorische Bestimmung auf der Basis der praktischen Vernunft festgelegt hatte. Auf die selbst gestellte Frage »Wer entscheidet, daß Gott das Ideal der Moralität ist?« antwortete Gebhard: Wer anders, als die Vernunft, die den Begriff von Gott ihrem eignen Ideal der Sittlichkeit gemäß gebildet hat. Also aus dieser ursprünglichen Sittlichkeit der Vernunft folgt, daß es wohlwollend gegen andere gehandelt sei, durch Empfehlung des gött­ lichen Musters die Sittlichkeit in ihnen zu wecken und zu erhalten; nicht aber quillt jene Sittlichkeit der Vernunft aus dem Wohlwollen.69 67 Ebenda, S. 109 f. 68 Ebenda, S. 123. 69 Ebenda, S. 149 f.

238 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Von dieser durch das menschliche Subjekt fixierten Zwecksetzung des Denkens und Handelns schloss er mit Kant auf die Selbstzwecksetzung eines höheren Wesens, in dessen göttliche Weltordnung der Mensch eingeordnet ist. Er erklärte: Der Kantische Beweis fürs Dasein Gottes [...] stützt sich auf das unausweichliche Bedürfniß des Glaubens an eine moralische Welteinrichtung. Eine moralische Welteinrichtung ist die Harmonie der Welt mit der Moralität. Die Moralität fordert, nicht, daß die n i e d e r e Sinnlichkeit genau nach dem Grade der subjectiven Tugend befriedigt werde; (denn diese Sinnlichkeit hat zur reinen Vernunft nicht das Verhältniß der Wirkung zur Ursache, sie selbst und ihre Befriedigung quillt nicht aus der Moralität) sondern die Moralität fordert, theils daß die reine Vernunft die ihr angemessene unentbehrliche Veranlassung und Aufforderung habe, sich zu üben und zu stärken, theils daß der Tugend ihr natürlicher Lohn zum ungestörten Genusse gegeben werde. Dieser natürliche Lohn der Tugend liegt aber nicht in der niedern Sinnlichkeit, sondern in dem mit der reinen Vernunft selbst verbundenen höhern Gefühlvermögen, da Selbstzufriedenheit zwar so gut, wie die reine Vernunft selbst, von allem Aeussern unabhängig, d. i. keine Wirkung äusserer Zufälligkeiten, aber doch durch das Aeussere mehr oder weniger eingeschränkt ist. Ob nun beide Erfordernisse einer moralischen Welt möglich und wirklich sein sollen, dieß hängt ganz von dem Glauben an einen allvernünftigsten Geist, als Schöpfer und Anordner der Welt ab; und, wenn wir diese beide Erfordernisse in der Erscheinungswelt nicht vollkommen antreffen sollten, so bedürfen wir der Idee und der Hoffnung der Unsterblichkeit.70

Mit diesem Bekenntnis zum Vernunftglauben hatte Gebhard seine Position als »Kantianer« umrissen und festgelegt. In seiner weiteren Polemik gegen synkretistische Auffassungen, in denen die praktische Vernunft nicht unmittelbar die Moralität bestimmt, sondern deren Grundsätze sich auch aus empirisch-sinnlichen Interessen konstituieren, begründete er seine Auffassung mit den Vorstellungen Kants, die dieser in seinen drei Kritiken bis dahin vorgelegt hatte. Mit dieser Schrift griff Gebhard nicht nur ein wesentliches Problem auf, welches in der zeitgenössischen Diskussion um die Begründung der Moral eine wichtige Rolle spielte, sondern er trug dazu bei, die Aktualität und die Konstruktivität der Philosophie Kants zu verdeutlichen sowie ihre Verbreitung zu fördern. Die GgZ würdigten Gebhards Schrift in einer zweiteiligen Rezension (8 S.), die am 12. und 15. September 1792 erschien. Der Rezensent informierte über das Anliegen des Autors, ging ausführlich auf die Schwerpunkte der Schrift ein, stellte deren Argumentationslinie vor, merkte notwendige Präzisierungen an, kritisierte die Weitschweifigkeit in dogmatisch-theologischen Erörterungen und empfahl die Schrift als wertvollen Beitrag zur Diskussion über die philosophische Grund­ legung der Moral. Eingangs wies er sowohl auf die Aktualität des Problems hin als auch auf Gebhards Versuch, zu dessen Klärung beizutragen. Er schrieb: In der Philosophie, wie in dem gemeinen Leben, gibt es Sätze und Redensarten, die, wenn man sie genau betrachtet und analysirt, welches freylich gewöhnlich weder 70 Ebenda, S. 189 f.

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dort noch hier, unter dem Vorwande, daß man die Sache nicht so genau nehmen müsse, zu geschehn pflegt, entweder keine reelle, bestimmte Bedeutung habe, oder in sich selbst widersprechend sind. Von dieser Art ist der Ausdruck u n i nt e r e ß i r t e s Woh l wol l e n , und s i t t l i c h e G ü t e a u s u n i n t e r e ß i r t e m W o h l w o l l e n, dessen Begriff die Grundlage eines Moralsystems ist, mit welchem der Engländer Smith das System der eigenen Glückseligkeit zu ergänzen gesucht hat. Unser Hr. Hofcollaborator und Pageninformator G e b h a r d prüft nun in dem gegenwärtigen Buche, womit er seine schriftstellerische Laufbahn eröfnet, und das durchaus alle Kennzeichen eines gebildeten und reifen Geistes an sich trägt, diesen Begriff, und benimmt ihm durch unwider­sprechliche Gründe das Bürgerrecht, das er sich bisher in der Moralphilosophie erschlichen hatte.71

Der Rezensent wies darauf hin, dass Gebhard mit dieser Thematik ein Desiderat, welches in der Diskussion um »das Fundamentalprincip der Moral« unter den Kantianern bestand, zu beseitigen half. Sein Vorhaben sei verdienstlich und auch in der That neu, da jener durch den gemeinen Sprachgebrauch eingeführte Begriff einer auf unintereßirtes Wohlwollen gegründeten sittlichen Güte, bey der bisher von mehrern Anhängern der kritischen Philosophie unternommenen Censur der bis auf K a n t eingeführt gewesenen Grundsätze der Moral übersehen worden ist.72

Der Rezensent fasste das Ergebnis der Argumentation Gebhards zusammen: Er habe gezeigt, dass ein völlig uninteressiertes Wohlwollen die Vernachlässigung der eigenen Glückseligkeit zur Folge habe und damit auch das Verhältnis zur fremden Glückseligkeit in Frage stelle. Er habe nachgewiesen, daß der Begriff des uninteressirten Wohlwollens auch u n d e u t l i c h und u n v e r s t ä n d l i c h, und deshalb zu einem Moralprincip nicht tauglich sey, man möge nun das Wohlwollen als G e f ü h l, oder als D i s p o s i t i o n dazu, oder als G e s i n n u n g, oder als v e r n ü n f t i g e D e n k u n g s a r t betrachten [...].73

Dagegen zeige nunmehr der Verfasser, daß die reine practische Vernunft im Kantischen Sinne, ein begreiflicher Grund nicht nur der sittlichen Thätigkeit, als Thätigkeit, sondern auch ihrer specifischen innern Güte, folglich das Moralprincip in ihr allein enthalten sey.74 71 GgZ, 73. St. vom 12. September 1792, S. 673. 72 Ebenda. 73 Ebenda, S. 676. Der Rezensent ergänzte: Der Verfasser habe bewiesen, »daß das Wohlwollen in keiner jener Bedeutungen im Stand sey, Handlungen zu wahrhaftig moralischen zu machen. Nicht als G e f ü h l ist es dazu geschickt: denn zu moralischen Handlungen gehört eine sehende Nothwendigkeit, (d. i. eine solche, deren die Vernunft als einer solchen, die aus ihr selbst entspringt, sich bewußt ist,) dahingegen die des Gefühls nur blind, und also instinctartig, so wie das was aus diesem erfolgt, nicht freye Thätigkeit, sondern ein unwillkührliches, ohne Besonnenheit erzeugtes Naturprodukt ist«, ebenda. 74 Ebenda.

240 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Kontroverse zwischen Fichte und Gebhard Johann Gottlieb Fichte hatte durch seine wie üblich anonym erschienene Rezension zur Schrift Gebhards in der ALZ (Nr. 304 vom 31. Oktober 1793), zu der er sich gegenüber Schütz angeboten hat, eine Kontroverse zwischen ihm und dem Autor, den Anhängern Kants um die Redaktion der GgZ in Gotha und Carl Christian Erhard Schmid in Jena ausgelöst. Sie ist bekanntlich ausführlich dokumentiert und grundsätzlich kommentiert.75 Wenn Fichte zum einen Gebhard eine weitschweifige und individuelle Darstellung der Probleme vorwarf, so mag das für einige Passagen des Textes zutreffen. So war jedoch zum anderen seine schroffe Herabwürdigung von Gebhard, indem er ihm das grundlegende Verständnis der Philosophie Kants absprach, völlig unberechtigt. Ein wesentlicher Grund für das harte Urteil von Fichte über Gebhards Rezeption der Kantischen Ideen lag wohl in der Tatsache, dass er unter dem Eindruck der Konstitution seines eigenen transzendentalen Idealismus zu Beginn der neunziger Jahre stand. Er nahm sie unter der Voraussetzung eines omnipotenten Ich-Bewusstseins vor. Von dieser Voraussetzung ausgehend interpretierte er die menschliche Vernunft als absolut-schöpferisches Vermögen, dem alle praktische Gestaltung unterworfen ist. Er erklärte: Es muß bewiesen werden, daß die Vernunft praktisch sey. Ein solcher Beweis, der zugleich gar leicht Fundament alles philosophischen Wissens (der Materie nach) seyn könnte, müßte ungefähr so geführt werden: der Mensch wird dem Bewußtseyn als Einheit, (als ich) gegeben; diese Thatsache ist nur unter Voraussetzung eines schlechthin unbedingten in ihm zu erklären; mithin muß ein schlechthin unbedingtes im Menschen angenommen werden. Ein solches schlechthin unbedingtes aber ist eine praktische Vernunft: – und nun erst dürfte mit Sicherheit jenes, allerdings in einer Thatsache gegebne sittliche Gefühl als Wirkung dieser erwiesenen praktischen Vernunft angenommen werden.76

Da Fichte »von einer absoluten Selbstthätigkeit des menschlichen Geistes«77 ausging und Gebhard vorwarf, diese nicht gebührend hervorgehoben und damit Kants Darlegung des Verhältnisses von praktischer Vernunft – Wille – Moralität nicht verstanden zu haben, empfahl er ihm, »noch eine geraume Zeit über Kants, und andrer großer Selbstdenker Schriften nachzudenken«78 und sich dann erst wieder zu äußern. 75 Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. von Reinhard Lauth u. a., Stuttgart / Bad Cannstatt, Bd. 1/2, S. 15–29; Bd. 2/2, S. 249–280; Bd. 2/3, S. 285 f.; Bd. 3/1, S. 409 f.; Bd. 3/2, S. 68–70, 81. 76 ALZ, Nr. 304 vom 31. Oktober 1793, Sp. 214. Vgl. Fichte, Gesamtausgabe, Bd. 2/2, S. 252. Zu Fichtes Vorschlag heißt es: »Die Gedanken dieses Zusatzes führen z. T. schon weit über den Anlaß der Rezension hinaus. Man kann in ihnen geradezu einen ersten Ansatz zu Gedanken der späteren Wissenschaftslehre erblicken.« 77 ALZ, Nr. 304 vom 31. Oktober 1793, Sp. 210. 78 Ebenda, S. 214.

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Gebhard veröffentlichte in den GgZ am 25. Dezember 1793 eine achtseitige Entgegnung.79 Er hielt den Vorwurf Fichtes, dass er die Philosophie Kants grundsätzlich nicht verstanden habe, dem Inhalt nach für ungerechtfertigt und der Form nach für unfair, zumal sie sich vorher als Altersgenossen einvernehmlich begegnet waren. Einleitend erklärte Gebhard: Die ALZ habe nun endlich auch seine Schrift, welche Ostern 1792 erschienen ist, beurtheilt, und zwar auf eine Art, die mir die Autorschaft zu einem notorischen Verbrechen an der Wahrheit und an dem philosophischen Publikum macht. Das Resultat der Recension, die zugleich eben nicht den Fehler einer übertriebenen Urbanität an sich hat, ist nichts geringeres, als – m e i n e gänzl iche Unf äh igkeit zur Lösung der aufgeworfenen Streitf r a g e; ein Resultat, das mit mehrern frühern Recensionen im geraden Widerspruche steht. Gesetzt also auch, daß der Recensent das Monopol des prüfenden Scharfsinnes hätte, so würde ich mit jenen Kritikern auf eine für mich nicht unrühmliche Art irren, und ich könnte also schweigen. Das hieße indessen, die Pflichten, die man gegen die Wahrheit und gegen sich selbst alsdann hat, wenn man noch mit Anstand reden kann, heuchlerisch grosmüthig oder feigherzig verrathen, und ich sehe mich daher, weil ich beweisen kann, zu der Erklärung gedrungen, d a ß d i e s e R e c e n sion ein durchgängiger, höchst unphilosophischer Mißg r i f f i s t.80

Gebhard setzte sich mit den Vorwürfen, Kritiken und Hinweisen des Rezensenten systematisch auseinander. Er konnte Fichte einige falsche Wiedergaben seiner Vorstellungen und andere Unkorrektheiten nachweisen. Jedoch lag ihm wesentlich daran, den Vorwurf bzw. die Unterstellung Fichtes zu widerlegen, dass er die »absolute Selbsttätigkeit der Vernunft« in ihrer prinzipiellen Bedeutung nicht erkannt bzw. benannt habe. Eingedenk des Umstandes, dass Gebhard das Bestreben Fichtes nicht wahrnahm, dass dieser ein absolutes, allschöpferisches Selbstbewusstsein als Basis seines Systems festzulegen beabsichtigte, entgegnete Gebhard, er habe nachgewiesen, dass aus dem Trieb der Vernunft keine Moralität entspringen kann: Durch ihn allein findet keine Selbstbestimmung statt. Und es ist falsch, daß von absoluter Selbstthätigkeit im ganzen Buche nicht die Rede sey. Denn welche Selbstthätigkeit vermisset Rec.? die der Vernunft, mit welcher sie ihr Gesetz aufstellt? Aber der ganze erste Abschnitt hat ja den Zweck, zu zeigen, daß sie es aufstellt, unabhängig von aller Sinnlichkeit, und also abhängig nur von sich selbst; und das ist doch wohl Selbstthätigkeit? doch nein: die Selbstthätigkeit des W i l l e n s, die womit er sich selbst bestimmt, nicht aber bestimmt w i r d (der Rec. studiere doch Reinhold besser!) diese ist gemeynt. Hat er denn in meinem Buche S. 120 ff. die Auseinandersetzung des Charakters der Moralität nicht gelesen der als vollkommne innere Ungezwungenheit, verbunden mit dem Gefühl der Nothwendigkeit des Sollens dargestellt ist?81 79 GgZ, 103. St. vom 25. Dezember 1793, Beilage S. 921–928. Gebhard hat vermutet, dass Fichte der Verfasser der Rezension zu seiner Schrift ist. 80 Ebenda, S. 921. 81 Ebenda, S. 924.

242 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Von dieser Position aus hat Gebhard gegen Fichtes Unterstellung polemisiert, dass er das Verhältnis von »praktischer Vernunft« und »sittlichem Gefühl« nicht eindeutig bestimmt habe. Wenngleich bei ihm Einflüsse der Reinholdschen Vorstellung im Sinne des Satzes des Bewusstseins spürbar sind, so vertrat er konsequent die Kantische Grundlegung der Moralität, die durch die apriorische Prägung der praktischen Vernunft, d. h. durch den kategorischen Imperativ, bestimmt wird. Außerdem wies er darauf hin, dass Fichtes Meinung, dass die Bestimmung des sittlichen Gefühls durch Smith, Hume, Shaftesbury und Hutcheson als eine subjektive Aktivität der Vernunft, vielleicht sogar angeboren, anzusehen sei, nicht zutreffend ist.82 Denn diese Moralphilosophen, so Gebhard, beziehen das moralische Gefühl bzw. den moralischen Sinn auf empirische Verhältnisse, d. h. auf ein natürliches Gefühl des Wahren, Schönen und Guten, welches sittliches Handelns bestimmt. Gebhard schloss seine Antikritik mit scharfen Worten, die einige Leser veranlassten, Carl Christian Erhard Schmid, den Kantianer und seit 1793 ordentlicher Professor der Philosophie an der Universität Jena, als den Autor der Rezension der ALZ der Gebhardschen Schrift anzusehen: Wie viel ließe sich noch besonders gegen den verwirrten Hypothesenkram des Rec. erinnern. Doch haben hoffentlich sowohl er selbst, als die Leser an diesen Beweisen seiner völligen Unfähigkeit zur Beurteilung und Lösung der Streitfrage genug, und ich versichere nur noch, daß die Bitterkeit eines angeblichen Philosophen und noch mehr M o r a l p h i l o s o p h e n [Schwabacher Schrift] mich statt seiner innigst beschämt, aber sich mir gleich so deutlich verrathen hat, daß ich diesen Ton vollkommen begreiflich finde. F. H. Gebhard. 83

Schmid sah sich daraufhin zu einer Erklärung veranlasst, die er zuerst in den GgZ (29. Januar 1794) veröffentlichte. Sie wurde an gleicher Stelle von Gebhard und Ewald zustimmend begrüßt:

82 Ebenda, S. 928. Gebhard erklärte dazu: »Ob nun das Gefühl des schlechthin Rechten, welches S h a f t e s b u r y u. H u m e in seinen frühern Schriften annahm, von etwas höheren abzuleiten sey, das ist Hauptfrage im Kantischen Moralsystem selbst, ehe dieß System noch zur Prüfung des Systems des u. [ninteressirten] W.[ohlwollens] angewandt wird; und ich habe diese Frage beantwortet, indem ich gezeigt habe, daß aus bloßen Trieben u. Gefühlen keine M o r a l i t ä t entspringe. Ueberhaupt ist die ganze Epikrisis für den Gegenstand meines Buchs nicht im mindesten pertinent, da Rec. eingestehen muß, daß das Syst. des u. W., nach seiner Manier gefaßt, alle Moralität und Freyheit vernichtet. Indessen hat Rec. selbst die Meynung H u t c h e s o n s (System of moral philosophy) u. Shaftesbury’s (inquiry concerning virtue or merit and the moralists) unrichtig gefaßt, wenn er ihr sittliches Gefühl zu einer Wirkung der Vernunft als seines Vermögens ursprünglicher Gesetze macht. Nach ihnen muß die Vernunft bey der Beurtheilung der Handlungen vielmehr sich der blinden Empfindung unterwerfen.« 83 Ebenda, S. 928.

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N ö t h i g e E r k l ä r u n g. Mehrere wollen aus dem Schlusse der Antikritik des Hrn. Hofcollaborator G e b h a r d zu Gotha gegen seinen Recensenten in der Allg. Litt. Zeitung zu Jena schließen, daß der Hr. Verfasser mich für den Urheber jener Recension halte; und in der That giebt Ein mit Schabacher gedrucktes Wort Anlaß zu dieser Deutung. Was ich meinem Freunde besonders geschrieben, das erkläre ich hiermit dem Publikum: i c h b i n n i c h t d e r V e r f. j e n e r R e c e n s i o n; ich glaube meinem Kopfe und meinem Herzen diese Erklärung schuldig zu seyn; ich würde nach der innigen Achtung, die ich für jenes Buch über s i t t l i c h e G ü t e, und nach der herzlichen Freundschaft, die ich für dessen Verf. fühle, mich vor mir selbst schämen, wenn ich mich so weit hätte vergessen können, ihn so zu behandeln. Jena, d. 6. Jänner 1794. C a r l C h r i s t i a n E r h a r d S c h m i d, Prof. der Philosophie, Diakonus und Garnisonprediger 84

Gebhard bedauerte in einer Gegenerklärung, dass er sich gegenüber Schmid, den das ganze philosophische Publikum [...] längst für etwas mehr, als bloßen Moralphilosophen anerkannt hat [...] durch jenes Prädikat einer Möglichkeit des obigen Verdachts gegen meinen Freund i n a l l e r U n s c h u l d s c h u l d i g gemacht habe. Gotha, d. 13. Jänner 1794.

Ewald bestätigte an gleicher Stelle, dass Gebhard nie Schmid als Rezensenten angesehen hat, sondern »nach genauerer Durchlesung dieser Recension, einen andern, dessen Name sich mit F. anfängt, genannt« habe.85 Schmid hat im Rahmen einer Widerlegung einer Unterstellung durch Fichte, die Schmids Vorrede zu einer Schrift von Leonhard Creutzer betraf, eine weitere Klarstellung in der ALZ vorgenommen.86

84 GgZ, 9. St. vom 29. Januar 1794, S. 71 f. 85 Ebenda, S. 72. 86 Intelligenzblatt der ALZ, Nr. 14 vom 15. Februar 1794, Sp. 111 f. Schmid schrieb einleitend: »E r k l ä r u n g . I. Einige Ausdrücke, deren sich der Hr. Hofcollab. G e b h a r d zu Gotha in seiner Antikritik (Gothaische Gel. Zeit. 1793, St. 103. Beylage) gegen den Recensenten seiner Schrift ü b e r s i t t l i c h e G ü t e a u s u n i n t e r e s s i r t e m W o h l w o l l e n in der Jenaischen Allg. Lit. Zeitung bedient hat, sind für mehrere Leser die zufällige Veranlassung gewesen, zu glauben, ich sey, wenigstens nach des Vf. Meynung sein Rezensent in jener Zeitung gewesen. Ich schätze aber in der That sowohl jene Gebhardische Schrift, als ihren selbstdenkenden Verfasser, viel zu hoch, als daß ich ihn und sein Buch so hätte behandeln können. Da ich also bey der Meynung, ich sey jener Recensent, sowohl meinen Kopf, als meinen Charakter einigermaßen compromittirt finde; und weder an der falschen Vorstellung noch an der meines Bedünkens leidenschaftlichen Ton der Beurtheilung in jener Recension einigen Antheil nehmen mag: so fühle ich mich zu dieser öffentlichen Erklärung gedrungen.«

244 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Gebhards Eintreten für Volksaufklärung Dass Gebhard ein kenntnisreicher und befähigter Aufklärer und Lehrer im Geiste Kants war, bewies er im »Vorbericht« (21 S.) zur Schrift des in Stedten (Gotha) tätigen Volksschullehrers namens Johann Christian Wolframm. Dieser hatte eine Handreichung für »Jugendliche der niedern Stände« mit der Absicht verfasst, die erwachsene Volksjugend, die da größtentheils ohne Freund, ohne Lehrer und Führer, sich selbst überlassen, dahin lebt, und ihre Jünglingsjahre lange nicht so anwendet, wie sie eigentlich sollte und könnte 87

mit Erklärungen und Verhaltensregeln zu sinnvollem Tun anzuhalten; insbesondere um »d a s S e l b s t d e n k e n z u b e f ö r d e r n«. Gebhard sah sich veranlasst, das Anliegen zu unterstützen und zur genauern Bestimmung d e s B e g r i f f e s d e r A u f k l ä r u n g, der unter den Händen so vieler Erklärer nur desto gestaltloser geworden ist, das Seinige, so weit es diese Kürze erlaubt, beizutragen, und einige noch nicht allgemein einverstandene Winke zu geben, w i e i n V o l k s s c h u l e n A u f k l ä r u n g b e f ö r d e r t w e r d e n k ö n n e. 88

Er ging davon aus, dass das Beste, was über jenen Begriff gesagt worden ist, nicht unbekannt blieb, (ich meyne die Abhandlung Kants in der Berl. Monatsschrift, IV. B. 6s Stck. und die des Hrn. v. R o c h o w in seinen Berichtigungen, S. 229.) [...]. »A u f k l ä r u n g«, sagt der e r s t e r e, »i s t d e r A u s g a n g d e s M e n s c h e n a u s s e i n e r s e l b s t v e r s c h u l d e t e n U n m ü n d i g k e i t«, oder, wie er sich an einem Orte (Berl. Monatssch. VIII. B. 4s Stck. Was heißt sich im Denken orientiren?) ausdrückt, »d i e M a x i m e, j e d e r z e i t s e l b s t z u d e n k e n«. 89

Unter der Voraussetzung, dass nur richtiges Selbstdenken zur Erkenntnis von notwendigen Wahrheiten führt, verwies Gebhard auf die zielstrebige Bildung des Verstandes als denkende Kraft, um jegliche Vorurteile zu beseitigen; denn ein aufgeklärter Verstand ist also der v o r u r t h e i l s f r e i e – im vollen Sinne des Worts.90

Er folgte auf dem Weg zur Wahrheit und Moralität dem Grundsatz: Du darfst und sollst selbst und unabhängig über Alles d e n k e n. Die Aufstellung dieses Grundsatzes ist der erste Akt, oder, wenn man lieber will, das Signal zur Aufklärung; und diese ursprüngliche Bestimmung des Begriffs hat K a n t vortrefflich ins Licht gesetzt.91 87 Johann Christian Wolframm, Lehren und Ermahnungen über die gute Anwendung der Jünglingsjahre, Bd. 1, Vorrede von Friedrich Heinrich Gebhard, Erfurt 1794, Vorbericht, S. III. 88 Ebenda, Vorrede, S. III f. 89 Ebenda, S. IV. 90 Ebenda, S. IX. 91 Ebenda.

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Gebhard sah den Prozess der Selbstaufklärung des Menschen zur Erlangung von allgemeinen und notwendigen Wahrheiten als Voraussetzung zur Realisierung der Zweckbestimmung des Menschseins an. Sie bestand für ihn in der systematischen Verwirklichung von Moralität in der göttlichen Weltordnung. Er gab folgenden Umriss seiner Vorstellung über das Ziel und den Inhalt dieses Elementarvorganges: Wie nun aber jene Bestimmung und jener Zweck allen Menschen gemein ist: so betreffen diese Wahrheiten eine allgemeine Angelegenheit aller Menschen, etwas, das für alle Wichtigkeit und Interesse hat, – und das ist Alles, was mit Tugend, Bildung zur Tugend, Bildung zur Tugend in gesellschaftlichen Verbindungen, Alles also, was mit Recht der Natur, Sittenlehre und Religion im Zusammenhange steht. Aufklärung suche ich daher b e y d e m S e l b s t d e n k e r, gleichviel, ob im Purpur- oder Philosophenmantel, oder Kittel, bey dem Selbstdenker, der u n a b h ä n g i g und v o r u r t h e i l s f r e y (das heißt aber zugleich wahr und richtig) ü b e r G e g e n s t ä n d e d e n k t, w e l c h e f ü r j e d e n M e n s c h e n W i c h t i g k e i t u n d g l e i c h s t a r k e s I n t e r e s s e h a b e n und haben sollen, oder: A u f k l ä rung ist vorurtheilsfreies und richtiges Selbstdenken ü b e r m o r a l i s c h e G e g e n s t ä n d e.92

Wesentlich für Gebhard war, dass das genannte Wissen dem Bürger aller Stände, besonders aber den Kindern, auf dem Niveau der jeweiligen »Fassungskraft« vermittelt wird bzw. als ein erweiterungsfähiges, »geschlossenes System« – durch einen wohl überlegt gestalteten »methodischen Proceß«93 – gegründet werden muss: Denn ein System bedarf die gemeine Menschenvernunft so gut, und vielleicht noch mehr, als die Vernunft des Philosophen, wenn sie sich gleich nicht um die gelehrten Namen und um das gelehrte Anhängsel und Geklingel bekümmert, womit die akademischen Systeme und Compendien so viel Geräusch machen. Der wahre Tod des eigenen Denkens sind fragmentarische Sätze, von denen man nie rechten Gebrauch machen kann, weil sie, aus ihrer Lage herausgerissen, ein Ansehen haben, das sie selbst verleugnet und entstellt.94

In diesem Sinne müssen, so Gebhard, gegen falsches Katechetisieren durch »G r ü n d l i c h k e i t u n d P o p u l a r i t ä t« in der Erkenntnisvermittlung die Vorurteile, die Irrtümer und der Wunderglaube zurückgedrängt werden. Hierbei sei die Hauptsache der eigentliche U n t e r r i c h t i n d e n m o r a l i s c h e n W a h r h e i t e n, die den Gegenstand der Aufklärung ausmachen. Sie sind in der Moral, in dem Naturrechte und in der Religionslehre erschöpft. Sie sollten, so wie sie, dem wissenschaftlichen Zusammenhange nach, zu einander gehören, aus einander entspringen und sich unterstützen, auch in Volksschulen gelehrt werden.95 92 Ebenda, S. XI f. 93 Ebenda, S. XVI, XXIII. 94 Ebenda, S. XXIII f. 95 Ebenda.

246 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Diese Grundhaltung prägte Gebhards Schriften, die er späterhin zur Popularisierung der Kantischen Moraltheologie verfasste. So wurde ihm bestätigt, dass er in seiner 1798 erschienenen Schrift »Predigten über die Evangelien aller Sonn-, Fest- und Aposteltage, nebst einer Vorrede über den Geist des Protestantismus« (Erfurt, 1798, XLII, 670 S.) auf die Gründung der religiösen Glaubenslehre auf die Moralität, nach der kritischen Philosophie, mittelst eines der Fassungskraft des gemeinen Verstandes angemessenen Vortrags ihrer Lehren und Resultate abzweckt.96

Gebhard sah den Geist bzw. das Wesen des Protestantismus in dem untrennbaren Zusammenhang von christlicher Glaubenslehre, wie sie in der Bibel dargestellt ist und deren vertiefender Interpretation durch das Vernunftvermögen des Menschen.97 Das Nachdenken des Menschen über seine Teilhabe am göttlichen Sein wollte er durch das Zugrundlegen der Philosophie Kants befördern, da hierdurch die Gesinnung, das Gewissen und das Handeln des Menschen im Sinne der christlichen Moral zielstrebig orientiert werde. Deshalb, so Gebhard, sey es mir erlaubt, als Resultat meiner Abhandlung die Frage vorzulegen: Soll Religion im eigentlichen Verstande sich auf Moralität gründen? Soll die neueste Philosophie auch auf Canzeln in Anwendung kommen, oder nicht?98

Gebhards Antwort richtete sich auf die Vertiefung der Erkenntnis der Wahrheit der Religion durch Aufklärung des Verstandes aller Menschen. Dazu sei »die Bildung des Volks« notwendig. So sollte »jede Predigt als ein Versuch zur moralischen Volksbildung anzusehen« sein; denn »zum Volke rechne ich jeden, der nicht förmlicher Selbstdenker ist«.99 Er begründete sein Anliegen: Aber, wenn zur Humanität, im vollen Sinne des Worts, ganze, nicht halbe Aufklärung in den wichtigsten Gegenständen des menschlichen Denkens, und also auch 96 GgZ, 63. St. vom 8. August 1798, S. 554. 97 Friedrich Heinrich Gebhard, Predigten über die Evangelien aller Sonn-Fest und Apostel­ tage, nebst einer Vorrede über den Geist des Protestantismus, Erfurt 1798, bei Georg Adam Keyer, S. XXIV. Gebhard argumentierte: »Die Bibel kann nun einmal die Hülfe der Vernunft nicht entbehren; schon deswegen nicht, weil sie Gottes Offenbarung seyn soll, und die Vernunft den Glauben an diesen Gott vor allen Dingen sichern muß, ehe die Bibel auch nur gehört werden darf. Denn ob ein Gott sey, ob wir Grund haben, an ihn zu glauben, darüber kann und darf keine Bibel entscheiden wollen, weil sie selbst sich nicht eher für Gotteslehre geben kann, als bis durch die Deduction des Glaubens an einen Gott, überhaupt Gotteslehre möglich ist.« Er ergänzte: »ich kenne keinen Begriff, keine Frage, keinen Gegenstand der Religion überhaupt, und also auch der biblischen Religion, für den es nicht der Interpretation der Vernunft bedürfte, um ihn erst zu etwas denkbaren, und insbesondere zu einem Gegenstand der Religion zu machen, um ihm Präcision, Bestimmtheit, Gestalt und Anwendbarkeit zu geben«, ebenda, S. XXVI. 98 Ebenda, S. VII f. 99 Ebenda, S. VI f.

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eine, aus der gesunden Vernunft von selbst hervorgehende Moralität gehört: so soll auch jede Predigt für unser Zeitalter den Geist einer reinen Philosophie athmen, ohne ihn auf eine verfängliche Art zum Aushängeschild zu machen: so sehr auch der Mißbrauch halbverstandener kantischer Ideen Tadel verdienen mag.100

Für Gebhard stand fest, dass die Kantische Philosophie das Verhältnis von Religion und der auf Vernunftprinzipien gegründeten Moralität einsichtig dargestellt hat. Nur durch »die Annahme der neuesten Philosophie« könne gezeigt werden, daß Religion ohne die Grundbegriffe der Moralität nicht einmal verständlich, geschweige beweisbar und anwendbar [ist].101

Gebhard hat durch sein Wirken in Wort und Schrift dazu beigetragen, dass sich in den neunziger Jahren der Kreis der Kantianer in Gotha stabilisierte. Sein Bestreben, die Grundsätze der Kantischen Philosophie zur Lösung von moralphilosophischen Problemen zu diskutieren und anzuwenden, förderte die allgemeine Verbreitung des kritischen Denkens. Hervorzuheben sind seine Versuche, die Moralphilosophie Kants als Grundlage für jegliche aufklärerische Aktivität unter allen Schichten des Volkes aufgezeigt zu haben.

1.2. Grundzüge und Schwerpunkte der Rezensierung der Schriften von Immanuel Kant in den GgZ von 1790 bis 1804 Die Kontinuität in der Rezensierung der Kantischen Schriften blieb nach Inhalt und Form in dem hier zu betrachtenden Zeitraum, d. h. bis zum Ende des Erscheinens der GgZ im Dezember 1804, prinzipiell ungebrochen. Die nachstehende Übersicht zeigt, dass sich die Redaktion des Journals auf die wesentlichen Veröffentlichungen konzentrierte. Sie verfolgte mit aufmerksamem Interesse und warmherziger Anteilnahme die Vertiefung und Erweiterung des kritischen Systems durch Kant bis zu dessen letzter Veröffentlichung. Folgende grundlegende Tendenzen und Schwerpunkte sind in der Rezensierung der Schriften Kants, seiner Anhänger und der Vertreter des deutschen Idealismus, die an wesentliche Elemente des kritischen Systems anknüpften, zu erkennen: – die Kontinuität in der Darlegung der transzendentalen Konstitution der Er fahrungserkenntnis; – das permanente Insistieren auf die Begründung von Moralität durch Kant als Basis des Wirkens des Individuums in der sozialen Gemeinschaft; – die sozialen, politischen und rechtlichen Vorstellungen Kants als Maßstab zur Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse (Staat, Verfassung, Menschenrechte); 100 Ebenda, S. VII. 101 Ebenda, S. XXVIII.

248 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe – die Zustimmung zum Kantschen Konzept des Vernunftglaubens als Funda ment der christlichen Religion; – die Verteidigung des kritischen Systems insgesamt sowie wesentlicher Elemente gegen Angriffe des traditionellen philosophischen Denkens; – die Polemik gegen den spekulativen Idealismus, wie er an der Universität Jena entwickelt wurde. Der zuletzt genannte Schwerpunkt spielte auch in den GgZ ab 1790 eine größere Rolle. Im Spiegel der Rezeption der Kantschen Vorstellungen wurde die von Reinhold begonnene sogenannte Weiterentwicklung des Kantischen Kritizismus hin zum deutschen Idealismus, der durch Fichte, Schelling und Hegel in Jena begründet wurde, registriert, angezeigt und kritisch beurteilt. In den Rezensionen wurde die Abkehr von den Fundamenten der Philosophie Kants herausgestellt. Vor allem die Aufgabe der Konstitution der Erfahrungserkenntnis mit ihren untrennbaren empirischen und rationalen Komponenten wurde gegen die idealistische Subjektivierung der Erkenntnisgewinnung, wie sie vor allem Fichte zu begründen suchte, verteidigt. Im Folgenden wird versucht, die Grundtendenz der Rezension der Schriften Kants in dem letzten anderthalben Jahrzehnt des Bestehens der GgZ aufzuzeigen. Die Darstellung orientiert sich an der zeitlichen Abfolge der Besprechungen in dem Journal, wie sie in der nachstehenden Übersicht erfasst wurde. Renzensionen der »Gothaischen gelehrten Zeitungen« zu Schriften von Immanuel Kant und seinem Wirken von 1791 bis 1804 1794 5. Februar 11. St. S. 81–88

»Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« (1793)

1794, 8. Februar 12. St. S. 91–96

Teil 2 und Schluss

1794 30. April 35. St. S. 308 f.

»Kritik der Urteilskraft, Zweite Auflage« (1793)

1796 2. März 17. St. S. 140–144

»Zum ewigen Frieden, Ein philosophischer Entwurf« (1795)

1796 5. März 18. St. S. 145–150

Teil 2 und Schluss

1797 10. Juni 46. St. S. 420–423

»Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre« (1797) – (»Die Metaphysik der Sitten, Erster Teil«)

1797, 14. Juni 47. St. S. 425–432

Teil 2

1797, 17. Juni 48. St. S. 437–439

Teil 3 und Schluss

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Rezensierung Immanuel Kant 1791–1804

Renzensionen der »Gothaischen gelehrten Zeitungen« zu Schriften von Immanuel Kant und seinem Wirken von 1791 bis 1804 1798 10. November 90. St. S. 807

»Ueber die Buchmacherei« (1798)

1799 9. Januar 3. St. S. 17–24

»Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre« (1797) – (»Die Metaphysik der Sitten, Zweiter Teil«)

1799 16. Januar 5. St. S. 38 f.

»Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, Neue Auflage« (1797)

1799 16. Januar 5. St. S. 39

»Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren« (Nachdruck von 1762)

1799 27. Februar 17. St. S. 138–144

Der Streit der Fakultäten (1798)

1799 2. März 18. St. S. 148–152

Teil 2 und Schluss

1799 12. Juni 47. St. S. 394–400

»Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« (1798)

1800 5. März 19. St. S. 153–157

»Immanuel Kant‘s vermischte Schriften«, 3 Bde. (1799)

1800 31. Mai 44. St. S. 366 f.

»Erläuternde Anmerkungen zu den Anfangsgründen der Rechtslehre« (1798)

1800 8. November 90. St. S. 750–752

»Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Zweite verbesserte Auflage« (1800)

1800 12. November 91. St. S. 765–767

»Prüfung der kantischen Religionsphilosophie in Hinsicht auf die ihr beigelegte Ähnlichkeit mit dem reinen Mystizism von Reinhold Bernhard Jachmann. Mit einer Einleitung von Immanuel Kant« (1800)

1801 14. März 21. St. S. 169–172

»Immanuel Kants Logik«, herausgegeben von Gottlieb Benjamin Jäsche (1800)

1803 7. September 72. St. S. 609–614

»Immanuel Kant über Pädagogik«, hrsg. von Friedrich Theodor Rink (1803)

1804 7. März 19. St. S. 169–171

»Nekrolog. Immanuel Kant«

1804 26. September 77. St. S. 649–656

»Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren« von Ehregott Andreas Christoph Wasianski (1804)

1804 8. Dezember 98. St. S. 825–832

»Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kants« von Ludwig Ernst Borowski (1804)

1804 12. Dezember 99. St. S. 833–837

»Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund« von Reinhold Bernhard Jachmann (1804)

metaphysischen

250 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe

1.3. Die Rezension zu Kants Schrift »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« (1793) Die GgZ gehörten zu den Journalen, die die anonym in Königsberg zur Ostermesse 1792 erschienene Schrift »Versuch einer Kritik aller Offenbarung«, deren Autor Johann Gottlieb Fichte war, am 29. August 1792 mit einer Rezension als die seit langem erwartete religionsphilosophische Schrift Kants freudig begrüßten. Eine Information in der ALZ hat diese allgemeine Zuschreibung befördert.102 Kant hat in einer Zuschrift an die ALZ vom 31. Juli 1792, die am 22. August im »Intelligenzblatt« der ALZ veröffentlicht wurde, Fichte als Autor der Schrift benannt.103 Kants Information hatte die Redaktion der GgZ nicht mehr rechtzeitig erreicht, so dass folgende Einleitung der angeblich von Kant verfassten Schrift voranging: Immerhin mag der unsterbliche Kant das geile Unkraut, das der Pflanze seines Ruhms ihre Nahrung zu rauben droht, ungehindert aufschießen lassen. Es sind doch nur rohe, unverarbeitete Säfte, die es an sich zieht, und deren die letztere in ihrer vollen Blüthe nicht bedarf; und wenn diese, gleich einer Schmarotzerpflanze, sich an jenem erholen müßte, so würde sie bald genug hinwelken. Sie hat ihren unbestrittenen, eigenthümlichen Boden, und treibt abermals eine der schönsten Blumen hervor.104

Selbst hier kam die Gegnerschaft zu den gegenreformatorischen Bestrebungen der Jesuiten zum Ausdruck, die ein durch menschliche Vernunft erklärtes Religionsverständnis zu verhindern suchten. Dazu heißt es: Es war einer von den verderblichen Jesuitenstreichen, welche die Aftervernunft der Vernunft spielte, daß sie die Uebervernunft dem Urtheil der letztern entzog. Die erlogene Exemtion [Ausgliederung] ist nun durch die Grundsätze der wahren Weltweisheit in ihrer Unrechtskräftigkeit dargestellt, und eine Untersuchung der Möglichkeit aller Offenbarung mit der nöthigen Unbefangenheit, Bescheidenheit und Gründlichkeit, ist die Befriedigung eines Wunsches, die man auf jeden Fall demjenigen am liebsten verdankt, der den Wunsch selbst verzeihlich und vernunftmäßig macht.105

Der Rezensent der nunmehr 2. Auflage der Fichteschen Schrift »Versuch einer Kritik aller Offenbarung« (Königsberg 1793) kritisierte die von Fichte vorgenommene 102 Intelligenzblatt der ALZ, Nr. 82 vom 30. Juni 1792, Sp. 662 f. Dort war zur genannten Schrift zu lesen: »Jeder der nur die kleinsten derjenigen Schriften gelesen, durch welche der P h i l o s o p h v o n K ö n i g s b e r g sich unsterbliche Verdienste um die Menschheit erworben hat, wird sogleich den erhabenen Verfasser jenes Werkes erkennen!« 103 Intelligenzblatt der ALZ, Nr. 102 vom 22. August 1792, Sp. 848. 104 GgZ, 69. St. vom 29. August 1792, S. 633. 105 Ebenda. Hier zeigt sich zum einen die Gegnerschaft zum Jesuitenorden, der 1773 verboten wurde. Zum anderen wird das solidarische Eintreten für die toleranten Ideen des Illuminatenordens deutlich, dessen Gründer nach dem Verbot des Ordens in Bayern Zuflucht bei Herzog Ernst II. in Gotha gefunden hatte.

Rezensierung Immanuel Kant 1791–1804

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Verselbständigung des Willens des Menschen als Akt absoluter Spontaneität, in dem die Wirklichkeit geschaffen und damit auch die Identität von moralischer Gesetzgebung und göttlicher Allmacht konstatiert wird.106 Die Kritik des Fichteschen religionsphilosophischen Konzepts beschloss der Rezensent mit dem Satz: Uebrigens bleiben wir der Kritik aller Offenbarung selbst von ganzem Herzen zugethan.107

Diese Haltung bewiesen die GgZ schon Anfang des Jahres 1794 in der Rezensierung der 1793 erschienenen Schrift von Immanuel Kant »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«. Sie wurde quasi als Schlussstein des von Kant entworfenen kritischen Systems empfunden. Die Verbindung von Selbsterkenntnis und Selbstgestaltung der Existenz des menschlichen Subjekts, die Kant als unendlichen Prozess entwarf, der eine Unsterblichkeit der menschlichen Seele zu denken ermöglichte, wurde in den Gothaer Kreisen erwartungsvoll aufgenommen und mit vitalem Interesse diskutiert. Um jegliche Redundanz in der Darlegung des Inhalts der Schrift zu vermeiden, wurde einleitend erklärt: »Anstatt unsere Leser mit einer vorläufigen Lobpreisung, die doch nur nach der Schule schmecken würde, aufzuhalten, wenden wir uns sogleich zum Buche selbst, wovon wir sie so vollständig als möglich zu unterrichten gedenken.«108 Nun ist aus der Begeisterung des Verfassers der Rezension für die Kantsche Konzeption, aus der Diktion der Darlegung und aus den Zusätzen religionshistorischen Wissens zu vermuten, dass Friedrich Heinrich Gebhard der Rezensent ist. Es wurde eine komprimierte Darlegung des Inhalts der Kantschen Schrift auf 14 Druckseiten vorgenommen. Das Werk Kants wurde als Quintessenz des Vernunftglaubens, d. h. gleichsam als Synthetisierung von Moralität und Religion, vom Rezensenten geradezu gefeiert. Kants Religionsphilosophie (Moraltheologie) wurde in ihrer Struktur stringent vorgestellt. 106 GgZ, 72. St. vom 6. September 1794, S. 663. Der Rezensent kritisierte Fichtes Konstrukt von der Fähigkeit des reinen Bewußtseins (des reinen Willens, des oberen Begehrungsvermögens), durch einen spontanen Akt eine reale Vorstellung, unabhängig von äußeren Verhältnissen, zu schaffen: Die absolute Spontaneität als ein die Wirklichkeit produzierendes Vermögen, als Tatsache des Bewußtseins, gibt »zu einigen Zweifeln« Anlaß. Denn: »Daß aber eine solche Form eines solchen Vermögens da sey, die von allem äußern Stoffe, und von aller Naturnothwendigkeit abstrahirt, ist Thatsache des Bewußtseyns. Hier wird nun der Ort zu einigen Zweifeln seyn. Kein Bewußtseyn lehrt uns, oder kann uns lehren, daß im Acte des Wollens die reine Form des obern BV [Begehrungsvermögen] Stoff einer Vorstellung sey. Das Bewußtseyn lehrt weiter nichts, als: daß man wolle, daß man sich, von der Einwirkung des Aeussern unabhängig, selbst bestimme, und zwar zu einer Handlung überhaupt, nicht – zu der bestimmten Handlung der Hervorbringung einer Vorstellung, noch weniger – einer Vorstellung von der jetzt angenommenen Art.« 107 Ebenda, S. 664. 108 GgZ, 11. St. vom 5. Februar 1794, S. 81.

252 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Den Kerngedanken der Kantschen Darlegungen aus der Vorrede der Schrift, der die Existenz eines höchsten Wesens und damit die religiösen Vorstellungen aus dem durch die Vernunft postulierten Moralgesetz begründet, legte der Rezensent in Anlehnung an die Diktion Kants in aller Eindeutigkeit dar. Den Kantschen Text adaptierend, leitete er ein: Die Moral bedarf zu ihrem eigenen Behuf keineswegs der Religion, da sie sich auf den Begriff des Menschen, als eines freyen, sich selbst gesetzgebenden Wesens gründet, und da ihre Gesetze, ohne allen materialen Bestimmungsgrund, durch die bloße Form der allgemeinen Gesetzmäßigkeit verbinden. (Sich nach einem Zwecke umsehen, um dessentwillen man z. B. die Wahrheit sagen will, ist schon Nichtswürdigkeit.)109

Jedoch rückte er im Sinne der Intention Kants die Zwecksetzung, die dem menschlichen Handeln innewohnt, als Verbindung zwischen dem moralischen Handeln als Streben nach dem höchsten Gut und der Existenz eines obersten Zwecksetzers in den Mittelpunkt seiner Interpretation des Kantschen Anliegens. Dazu führte er aus: Der Mensch kann überhaupt nicht, und also auch nicht m o r a l i s c h handeln, ohne sich einen Erfolg seiner Handlungen zu d e n k e n , und diesen Erfolg zu beabsichtigen. Das Moralgesetz aber fordert einen m o r a l i s c h e n Zweck, der durch die Vernunft zum objektiven E n d z w e c k e erhoben wird. Dieser kann kein andrer, als Glückseligkeit nach Maaßgabe der Würdigkeit seyn. Zu dieser Glückseligkeit kann aber der Mensch, von dem die Weltumstände unabhängig sind, nicht wirken, ohne die Hülfe eines obersten machthabenden Wesens, so wie er, wenn seine Handlungen moralisch bleiben sollen, Glückseligkeit nicht einmal zum bestimmenden Zwecke derselben machen darf. Folglich ist der Glaube an ein solches Wesen practisch nothwendig.110

Im Folgenden wurden die einzelnen Stücke der Kantschen Schrift sachlich und in ihren wesentlichen Inhalten vorgestellt. Drei Gesichtspunkte spielten eine besondere Rolle: Erstens wurde Kants Erklärung der »Einwohnung des bösen Princips« bzw. das »radical Böse in der menschlichen Natur« herausgestellt.111 Es resultiere aus der Nichteinhaltung des moralischen Gesetzes in den Maximen des Handelns, denn der Mensch wähle die Selbstliebe zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes. Dieses Böse ist radical, weil es den Grund aller Maximen verdirbt. [Dieser] H a n g z u m B ö s e n ist der subjective selbst verschuldete Grund der Möglichkeit der Abweichung der Maximen vom moralischen Gesetze.112 109 110 111 112

Ebenda. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 3. GgZ, 11. St. vom 5. Februar 1794, S. 81 f. Ebenda, S. 82. Ebenda, S. 83.

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Zweitens wurden Kants moralische Postulate zur Überwindung des Bösen im Menschen hervorgehoben. Es sind nicht die Neigungen des Menschen überhaupt, sondern »nur das Moralischgesetzwidrige ist an sich selbst böse, und muß ausgerottet werden«.113 Da Tugend empirisch als bloße Gesetzmäßigkeit nur allmählich erworben werde, müsse ein entschiedeneres Vorgehen zur Abkehr vom Bösen erreicht werden. Mit Kant wurde gefordert: Aber Tugend, nach dem intelligiblen Charakter, muß nicht durch allmälige Reform der Sinnesart und der Sitten, sondern durch eine Revolution der Denkungsart und Gesinnung bewirkt werden.114

Drittens wurde die Verbindung von vernunftbegründeter Moralität und den christlichen Moralvorstellungen, die sich in einem vom höchsten Willen vorgegebenen Streben nach moralischer Vollkommenheit der Menschheit manifestiert, als besonders überdenkenswert gehalten. So meinte der Rezensent: (Was der große Kant über einen dies Ideal darstellenden übernatürlichen Menschen sagt, trifft mit den Aussprüchen unsrer besten Theologen zusammen, und ist äußerst merkwürdig. S. 73 und 74.)115

Er berief sich auf Passagen in Kants Schrift, in denen Kant das personifizierte Ideal des vollkommenen Menschen zur moralischen Orientierung anerkennt, aber gleichzeitig im Hinblick auf dessen Übernatürlichkeit Bedenken äußert. Es könnte für den irdischen Menschen als unerreichbar erscheinen und ihn somit eher mutlos und gleichgültig werden lassen. Der Rezensent stimmte Kant in der Weise zu, dass sich der Mensch im Streben nach Vollkommenheit aus eigener Gesinnung und Kraftanstrengung vom Ideal nicht abschrecken lassen soll, aber als orientierenden Maßstab seines Handelns und der Prüfung seines Gewissens anzunehmen bereit sein muss. Deshalb pflichtete er Kant bei: Einer moralischen Religion, d. i. den Vorschriften der Pflicht nicht ohne Wunder glauben wollen, ist sträflicher Unglaube.116 113 Ebenda, S. 84. 114 Ebenda. 115 Ebenda. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 6, S 64. Dazu führte Kant an der vom Rezensenten genannten Stelle (S. 74/75) seiner Schrift aus: »Denn wenn gleich jenes Gott wohlgefälligen Menschen Natur in so weit als menschlich, gedacht würde: daß er mit eben denselben Bedürfnissen, folglich auch denselben Leiden, mit eben denselben Naturneigungen, folglich auch eben solchen Versuchungen zur Übertretung wie wir behaftet, aber doch so ferne als übermenschlich gedacht würde, daß nicht etwa errungene, sondern angeborne unveränderliche Reinigkeit des Willens ihm schlechterdings keine Übertretung möglich machen ließe: so würde diese Distanz vom natürlichen Menschen dadurch wiederum so unendlich groß werden, daß jener göttliche Mensch für diesen nicht mehr zum Beispiel aufgestellt werden könnte.« 116 GgZ, 11. St. vom 5. Februar 1794, S. 85.

254 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Nach dem Eingehen auf einige religionsgeschichtliche Details schloß der Rezensent: Wir gestehen gern, halte man auch dies Geständniß allenfalls für Eitelkeit, daß wir von dieser kantischen Vernunft wie begeistert sind, und daß es uns schmerzt, uns von der Gemeinschaft mit diesem reinen Geiste für diesmal trennen zu müssen. Uebrigens thaten wir möglichst das Unsrige, dem Leser in einem treuen, verständlichen, obgleich bey dieser Reichhaltigkeit des Buchs sehr dürftigen Auszuge zu zeigen, was er hier zu suchen habe; und nun entscheide jeder, der Kopf und Herz und Gewissen hat, für sich selbst, ob es Pflicht für ihn sey, den großen Lehrer Deutschlands auch hier zu hören, oder nicht.117

Die Konstitution des Vernunftglaubens durch Kant, die in dieser Rezension durch einen instruktiven Überblick vorgestellt wurde, bildete die Grundlage für das publizistische und praktische Wirken der Gothaer Theologen, in deren Zentrum der Generalsuperintendent Josias Friedrich Christian Löffler (1752–1816) stand. Denn sie sahen in der eigenständig-dynamischen Aktivierung der menschlichen Vernunft zur permanenten moralischen Vervollkommnung des Menschen die praktische Verwirklichung des christlichen Evangeliums. Sie begrüßten die sich gegenseitig befruchtende Verbindung von kritischer Philosophie und christlichem Glauben.

1.4. Die Rezension zu Kants Schrift »Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf« (1795) Obwohl im Denken Kants, ausgehend von seinen moralphilosophischen Vorstellungen, rechtsphilosophische Probleme immer eine bedeutende Rolle gespielt haben, waren es sicher die Zeitereignisse, wie die Französische Revolution und der nachfolgende Koalitionskrieg, die mitbestimmend waren, dass sich Kant dem Thema der Friedenssicherung als Fundament der menschlichen Selbstbestimmung, direkt zuwandte. Kants Schrift erschien zur Michaelismesse 1795 in Königsberg. In der Redaktion der GgZ wurde sie mit höchstem Interesse und sichtlichem Wohlwollen aufgenommen. Das zeigt nicht zuletzt die Erinnerung an die Schrift von Charles-Irénée Saint-Pierre: »Traktat vom ewigen Frieden« (dt. 1713), einem Schüler und Freund von Rousseau. Kant war mit dessen Ideen bekannt.118 Zur Möglichkeit der Gestaltbarkeit dieser Grundidee leitete der Rezensent ein: Die Idee des Abts St. Pierre von einem ewigen Frieden, ist immer als Traum und Grille eines gutmüthigen Schwärmers belächelt, und damit zugleich die entgegenge117 GgZ, 12. St. vom 8. Februar 1794, S. 95 f. 118 Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 313.

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setzte Idee von der Nothwendigkeit eines ewigen Kriegszustandes, die sich von dem Nebeneinanderseyn der Staaten gar nicht trennen lasse, als Grundsatz angenommen worden. So schädlich diese letztere Idee für die Selbstständigkeit eines jeden Staats, der sie als Maxime befolgen wollte, selbst ist, so unerweißlich ist auch die absolute Unausführbarkeit der erstern, da sie nur von dem Willen der Mächte, die das Ruder der Staaten lenken, abhängt, von dem man doch, ohne ihm das Prädikat der Freyheit zu entziehen, die Unmöglichkeit des Vorsatzes der Realisierung dieser Idee, so wie die Unmöglichkeit der Vereinigung des Willens dieser Mächte zu ihrer Würklichmachung, nicht würde behaupten können.119

Der Rezensent ging davon aus, dass Kant, durch die aktuellen Umstände inspiriert,120 sich diesem existentiellen Thema aller Zeiten als Fortsetzung seiner kritischen Analyse der Vernunftfähigkeit des Menschen zugewandt hat. Der Mut und die Konsequenz seines Denkens wurden hoch geschätzt. Der Rezensent fuhr fort: Wahrscheinlich von dieser Betrachtung geleitet, und in der Voraussetzung, daß die jetzige höhere moralische Kultur der Menschheit überhaupt, und der höhern Stände insonderheit, so wie der Anblick der durch den gegenwärtigen Krieg verursachten unsäglichen Leiden und Beschwerden, die Gemüther zur leichtern Annahme jener menschenbeglückenden, wahrhaft praktischen Idee, jetzt mehr als jemals empfänglich gemacht haben werde, hat der vortrefliche K a n t dieselbe von neuem zur Sprache gebracht, und nach Anleitung der Grundsätze des allgemeinen Privat- und Völkerrechts die Bedingungen gezeigt, unter welchen allein ein ewiger Friede unter den Staaten möglich ist.121

Kants Rechtsverständnis, das auf einem durch Vernunftkritik begründeten und damit legitimierten Anrecht zur eigenständigen Existenzgestaltung des Menschen als Bürger beruht, wurde in ihrer von Kant vorgestellten Struktur (Herrschaftsformen, Gewaltenteilung, Repräsentativsystem usw.) begrüßt und dargelegt. Desgleichen wurde der Möglichkeit, einen Friedenszustand zu erreichen, wie ihn Kant mit der Konstitution eines Staatenbundes auf der Basis einer republikanischen Verfassung im Einzelstaat entwarf, entschieden zugestimmt. Die nachfolgenden Darlegungen Kants würdigte der Rezensent als Konsequenz aus dessen Rechtsauffassung, die der Autor in ihren Teilbereichen aus den bis dahin entworfenen Vernunftgrundsätzen entwickelt habe. Es sind die Rechtsformen, die auch Kant, gemäß der naturrechtlich begründeten gesellschaftlichen Organisiertheit des Menschen, in einer Hierarchie von Gesetzen darstellt. Sie eröffnen unter der Voraussetzung der Existenz einer bürgerlichen Verfassung für alle Menschen – dies betont der Rezensent ausdrücklich – die Möglichkeit des friedlichen Zusammenlebens aller Bürger der Welt. Dieser Standpunkt Kants wird adaptiert: 119 GgZ, 17. St. vom 2. März 1796, S. 140. 120 Der erste Koalitionskrieg (1792–1797) endete für Preußen mit der Abtretung der links­ rheinischen Gebiete an Frankreich (Basler Friede vom 5. April 1795). 121 GgZ, 17. St. vom 2. März 1796, S. 140.

256 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Die Schließung des D e f i n i t i v f r i e d e n s selbst, setzt als Postulat voraus: daß alle Menschen, die auf einander wechselseitig einfließen können, zu irgend einer bürgerlichen Verfassung gehören müssen. Alle rechtliche Verfassung aber ist, was die Personen betrift, die darin stehen, entweder eine s t a a t s b ü r g e r r e c h t l i c h e, oder v ö l k e r r e c h t l i c h e, oder w e l t b ü r g e r r e c h t l i c h e.«122

Unter dieser Gliederung werden Kants Vorstellungen dargelegt und beurteilt. Die entscheidende Voraussetzung sei, so wird Kants Idee zur Konstitution eines vom Bürger getragenen Staatssystems vorgestellt, dass diesem Staat eine »bürgerliche Verfassung« von »republikanischer« Prägung zugrunde liegt. Diese »republikanische Verfassung« muss nach den Prinzipien der rechtlichen »Freiheit« (die Glieder des Staates stimmen den Gesetzen zu), der rechtlichen »Abhängigkeit« (alle Glieder des Staates stehen unter der gemeinsamen Gesetzgebung) und unter der rechtlichen »Gleichheit« (alle Glieder bzw. Staatsbürger sind dem Gesetz verpflichtet) bestimmt sein. Daraus folge: Diese republikanische Verfassung liegt einer jeden bürgerlichen Konstitution zum Grunde, und ist auch die einzige, die zum ewigen Frieden hinführen kann: weil in einer Staatsverfassung, in welcher die Beystimmung der Staatsbürger zum Kriege erfordert wird, diese sich sehr bedenken werden, zu einem so schlimmen Spiel einzuwilligen, bey welchem sie alle Drangsale des Krieges selbst übernehmen müssen.123

Dieser uneingeschränkten Zustimmung zu Kants Entwurf eines republikanischen Staatssystems standen Bedenken des Rezensenten gegenüber, da Kant hinsichtlich der Tauglichkeit der Herrschaftsform der »Demokratie« als republikanisches Staatsgebilde Vorbehalte äußerte. Denn der »Republikanismus« setzte die repräsentative Gewaltenteilung voraus, den die Demokratie nicht darstelle. Sie sei eine Form des »Despotismus«, da sie kein repräsentatives System sei. Denn: Bey der demokratischen Verfassung sey es aber unmöglich, daß sie eine dem Geiste des repräsentativen Systems gemäße Regierungsform annehmen könne, weil Alles da Herr seyn wolle.«124

Dieser Meinung Kants, dass unter den Formen der Herrschaft des Staates (Autokratie, Aristokratie und Demokratie) der »Republikanismus« in der Demokratie nicht möglich sei, da er im Despotismus ende (»da alle über und allenfalls auch wider Einen (der also nicht mit einstimmt), mithin Alle, die doch nicht Alle sind, beschließen«125), widersprach der Rezensent. Er hielt Kant entgegen, dass er in seiner Betrachtung der Demokratie die exekutive gegenüber der gesetzgebenden Gewalt hervorhebe und die Einheit beider vernachlässige. So betrachtet, sei durch diese Trennung der Gewalten der Despotismus in der Demokratie eine Folge. Der Rezensent äußerte den Wunsch: 122 123 124 125

Ebenda, S. 141. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 349. GgZ, 17. St. vom 2. März 1796. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 349 f. GgZ, 17. St. vom 2. März 1796, S. 142. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 352.

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Wir hätten aber die Gründe, die Herr Kant von der gewöhnlichen Erklärung der drey Regierungsformen abzugehen, und die Begriffe derselben blos aus dem Begriffe der exekutiven Gewalt herzunehmen vermocht haben, um so mehr dargelegt zu sehen gewünscht, als aus der Verbindung beyder, der exekutiven und gesetzgebenden Gewalt überhaupt, in Einem (physischen oder moralischen) Subjekt, nicht hervorzugehen scheinet, daß die den richtigen Principien des natürlichen Privatrechts gemäß gegebenen Gesetze, darum gerade als Privatwille des Souveräns nothwendig gehandhabt werden müsten; ob wir gleich nicht leugnen wollen, daß solches wohl geschehen könne, und daher die Trennung beyder Gewalten, nach der P o l i t i k anzurathen seyn möchte.126

Der Rezensent erweiterte die Sicht auf die mögliche Wirkungsweise der Demokratie. Wohl unter dem Einfluss der staatstheoretischen Vorstellungen und der aktuellen Politik, die in England und Frankreich entworfen (Locke, Montesquieu, Rousseau) bzw. praktiziert wurde (Konstitutionelle Monarchien – in Frankreich bis 1792), gab er zu bedenken: Ausserdem scheint uns auch der Begriff der Demokratie, wenn man ihn, ohne durch Gründe des allgemeinen Staatsrechts dazu gedrungen zu werden, blos auf eine Selbstverwaltung der gesetzgebenden und exekutiven Gewalt des Volks, im eigentlichen Verstande genommen, einschränkt, zu eng zu seyn; da auch eine repräsentative Demokratie, nemlich eine solche, wo das Volk seine höchsten Gewalten in seinem Namen durch von Zeit zu Zeit von ihm selbst gewählte Stellvertreter verwalten läßt, denkbar ist, die doch unter keine der beyden übrigen Gattungen der Regierungsformen gezogen werden kann.127

Diese indirekte Kritik an Kants Meinung sowie die direkte Fürsprache für eine repräsentative und liberal geprägte Demokratie entsprach den illuminatischen Vorstellungen, die auf reformerischem Weg in Deutschland erreicht werden sollten.128 Aus Kants Darlegungen wurden weitere Themen und Probleme hervorgehoben: – Das »Völkerrecht«, das gegründet »auf einem Föderalism freyer Staaten«, ermöglicht, den Zustand des Krieges zwischen den Staaten zu überwinden, wenn sie »aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, heraus zu kommen«129 versuchen, indem sie, wenn nicht eine Weltrepublik nach eigener Gesetzlichkeit, so doch einen den Krieg verhindernden Bund bilden. – Das »Weltbürgerrecht« soll einerseits auf die allgemeine Bedingung der Hospitalität (Besuchsrecht) eingeschränkt werden. Andererseits wurde Kants Meinung adaptiert: 126 GgZ, 17. St. vom 2. März 1796, S. 142 f. 127 Ebenda, S. 143. Der Rezensent hat die in den beiden letzten Zitaten geäußerte Meinung durch Klammern von der inhaltlichen Darstellung der Kantschen Schrift abgesetzt. Vgl. V.3.4.). Die Vorstellung Ewalds von der Staatsform der Pantokratie. 128 Ewald verfolgte diese Intention in seiner verfassungstheoretischen Schrift. 129 GgZ, 17. St. vom 2. März 1796, S. 143.

258 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Das i n h o s p i t a l e Betragen der gesitteten, vornehmlich handeltreibenden Nationen unseres Welttheils, die ihre B e s u c h e i n E r o b e r n verwandeln, ist also gegen das Naturrecht.130

Kants großartiges Plädoyer für ein Weltbürgerrecht veranlasste den Rezensenten, diese Kernpassage mit geringfügigen Änderungen zu übernehmen: Da es aber doch mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen (engern oder weitern) Gemeinschaft so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an e i n e m Platz der Erde, an a l l e n gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine nothwendige Ergänzung des ungeschriebenen Codex, sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt, und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der continuirlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf.131

– Die Zusammenstimmung von Moral und Politik sowie der Gegensatz zwischen »politischem Moralisten« und »moralischem Politiker«. Die Priorität der Moral gegenüber der Politik. Kant-Zitat: Die wahre Politik kann keinen Schritt thun, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben, und ob zwar Politik für sich selbst eine schwere Kunst ist, so ist doch Vereinigung derselben mit der Moral gar keine Kunst; denn diese haut den Knoten entzwey, den jene nicht aufzulösen vermag, sobald beyde einander widerstreiten.«132

– Die Bedeutung der »Publizität« als transzendentale Formel des öffentlichen Rechts. Kants Auffassung zur Unrechtmäßigkeit des Aufruhrs, die sich mit Publizität nicht verträgt, wird im Sinne Kants interpretiert: Allein die Vertragsamkeit einer Maxime mit der Publicität, soll hier nicht durch die K l u g h e i t, sondern vielmehr durch das R e c h t bestimmt werden. Es soll hier nicht gefragt werden: werde ich auch meine Absicht erreichen, wenn ich die Maxime, nach der ich mein Recht behaupten will, bekannt mache? sondern es soll gefragt werden: ist die Maxime, nach der ich handeln will, überhaupt so beschaffen, daß sie, wenn sie ruchbar wird, das Urtheil der Vernunft in Allen Andern nicht scheuen darf?133

Der Rezensent untermauerte den Standpunkt, den Kant hinsichtlich einer durch Vernunft begründeten Rechtmäßigkeit von politischen Entscheidungen vertrat: Ob nun obige Maxime diese letztere Beschaffenheit habe, mag der Leser selbst beurtheilen. So viel scheint aber gewiß zu seyn, daß eine Handlung, die recht ist, dadurch nicht unrecht werde, wenn durch die Offenbarung ihrer Maxime meine Absicht blos vereitelt werden kann; weil daraus, daß sie auch würklich vereitelt 130 131 132 133

Ebenda, S. 143 f. Ebenda, S. 144. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 360. GgZ, 18. St. vom 5. März 1796, S. 148. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 380. GgZ, 18. St. vom 5. März 1796, S. 149.

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würde, noch nicht folgt, daß meine Maxime sich nicht mit dem öffentlichen Urtheil der Vernunft verträgt.134

Der Rezensent unterstrich die Kontinuität des Kantschen Rechtsprinzips: Nach dieser von uns angezeigten nähern Bestimmung jener transscendentalen Formel des öffentlichen Rechts, bedient sich Hr. K. derselben auch in allen übrigen von ihm gegebenen Beyspielen, und gibt dadurch zu erkennen, daß er sie auf keine andere Art verstanden wissen wolle.135

So wird der Schlußgedanke Kants hervorgehoben: Das Misstrauen gegen die Maximen der Publizität kann nur überwunden werden, wenn »diese auch mit dem Recht des Publikums in Eintracht stehen; denn in diesem allein ist die Vereinigung der Zwecke Aller möglich«.136 Dieses Recht auf Publizität nahm Ewald in Anspruch, indem er, wenngleich anonym, in den neunziger Jahren an der Diskussion um eine bürgergerechte Verfassung in einem zukünftigen deutschen Nationalstaat teilnahm.

1.5. Die Rezensionen zu Kants Schrift »Die Metaphysik der Sitten« (2 Teile, 1797) 1.5.1. Die Rezension zum ersten Teil: »Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre« (1797) Das Urteil Ewalds137 in den Rezensionen zu dieser grundlegenden Schrift Kants, in der die praktische Philosophie eine weitere systematische Präzisierung erfuhr, stand unter dem Vorzeichen seiner Darstellung der gleichen Probleme in seiner Schrift »Von dem Staate und den wesentlichen Rechten der höchsten Gewalt« (Göttingen 1794, 360 S.). Gleich den Anhängern des kritischen Systems von Kant erwartete Ewald dieses Werk mit großem Interesse. Durch ihn erfuhr es in den GgZ mit 14 Druckseiten eine der umfangreichsten Rezensierungen aller Schriften Kants. Einleitend erklärte er seine Meinung über die Stellung dieser Schrift im Gesamtwerk Kants: Mit dem gegenwärtigen Werke, und den wie wir hören, auch schon unter der Presse befindlichen metaphys. Anfangsgründen der Tugendlehre, hat der ehrwürdige Greiß die ganze Arbeit im Felde der praktischen Philosophie beschlossen.138 134 Ebenda. 135 Ebenda. 136 Ebenda, S. 150. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 386. 137 Auch hier kann man davon ausgehen, dass Ewald der Verfasser der Rezensionen zu dieser Schrift Kants ist. Dafür sprechen der Umfang, die Setzung der Schwerpunkte, die Bezüge zu seiner staatstheoretischen Schrift, die formale Gestaltung und die Diktion. 138 GgZ, 46. St. vom 10. Juni 1797, S. 420.

260 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Der Rezensent verwies insbesondere auf die Vertiefung des philosophischen Fundaments des Rechtsverständnisses durch Kant sowie auf dessen Bestreben, dieses in seiner Anwendung im empirischen Bereich zu demonstrieren. Er meinte: So wie ihre Vorgänger, wird auch diese Rechtslehre dazu beytragen, manche Begriffe zu berichtigen, und manche Fragen zu lösen, die bis jetzt noch Räthsel geblieben sind, weshalb sie denn und da sie, nebst den ersten Grundsätzen und Thesen des Privatund öffentlichen Rechts, auch die Anwendung derselben auf besondere Erfahrungsfälle in zum Theil weitläuftigen Anmerkungen vorträgt, nicht blos von akademischen Lehrern, sondern auch von praktischen Rechtsgelehrten beyderley Art, studiert zu werden verdient.139

Als Rezensent konzentrierte sich Ewald auf die Wiedergabe der Grundstruktur der Kantischen Schrift. Hierbei sind seine in Klammern ( ) gekennzeichneten Einwände oder eigene Vorstellungen zum Problem bemerkenswert. Folgende Schwerpunkte wurden hervorgehoben: – Einleitung: Begriffserklärung – Begehrungsvermögen, Wille, Willkür, Wunsch, Unterschied zwischen Rechts- und Tugendlehre (rechtliche und ethische Gesetzgebung). – Definition: Recht; angeborenes Recht und erworbenes Recht. – System der Rechtslehre: Naturrecht und positives Recht; Privatrecht und öffentliches Recht. – Privatrecht und Besitz: sinnlicher und intelligibler Besitz. – Sicherung des äußeren Besitzes durch bürgerliche Verfassung. »Denn die bürgerliche Verfassung ist allein der rechtliche Zustand, durch welchen jedem das Seine nur gesichert« werden kann.140 An dieser Stelle erhob Ewald den Einwand, dass auch im vorbürgerlichen Zustand, d. h. im Naturzustand, ein soziales Gefüge, das er als ein »gesellschaftliches« bezeichnet, rechtliche Regelungen erforderlich sind. Er fügte folgende kritische Anmerkung ein, die mit den Vorstellungen in der genannten staatstheoretischen Schrift übereinstimmen: Die Behauptung, daß der bürgerliche Zustand allein der rechtliche sey, daß das Mein und Dein nur in diesem Zustand gesichert, und jeder mit uns in einen solchen Zustand zu treten genöthiget werden könne, will uns doch nicht so ganz einleuchten. Wenn es im Naturstande schon Rechte gibt, so muß auch in demselben Rechtlichkeit statt finden können, besonders in dem blos gesellschaftlichen, der nach dem Hrn. Verfasser selbst zu dem Naturzustande gehört, und zwischen Familien zur Sicherung des Besitzes ihres Bodens und ihrer Habe gestiftet werden kann; das Recht zur Nöthigung anderer, mit uns in einen Staat zu treten, würde also von selbst weg­ fallen.141 139 Ebenda. 140 GgZ, 47. St. vom 14. Juni 1797, S. 425. 141 Ebenda, S. 425 f.

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Ewald hatte wohl Bedenken, dass der bürgerliche Zustand durch das erforderliche Zwangsrecht die Freiheit der Individuen einschränken würde. Diese Befürchtung übertrug er auch auf das Zusammenleben der Staaten. Dazu setzte er fort: Soll dieser Grundsatz [Nöthigung zur Staatsgründung – H. S.] allgemein und für alle Fälle seiner Anwendbarkeit gelten, so würde folgen, daß, so wie jeder Mensch im Naturzustande andere seines Gleichen, also auch jeder Staat andere mit ihm coexistirende, aber noch nicht rechtlich verbundene Staaten, zur Stiftung eines rechtlichen Zustandes unter öffentlichen Zwangsgesetzen zu zwingen berechtiget seyn würde. Da aber bey wechselseitiger Unabhängigkeit der Staaten, einer gegen den andern solche Maximen gar wohl befolgen kann, nach welchen die Freyheit aller nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, so scheint auch ein solches Zwangsrecht unter Staaten sowohl als unter Individuen im Naturzustande ohne Grund zu seyn.142

Ewald ging in seiner staatstheoretischen Schrift von 1794 davon aus, dass im Naturzustand der Menschheit ein bestimmter Grad bzw. Zustand von Gesellschaftlichkeit und Rechtssicherheit existierte. Denn die Bildung des Eigentums, die durch Besitzergreifung von Boden durch Gemeinschaften von Menschen erfolge, werde durch Vereinbarung zwischen Individuen und sozialen Gruppen begleitet, um ihre jeweilige Subsistenz zu sichern. So erklärte Ewald, daß, nachdem die nomadischen Jäger-Fischer- und Hirtenvölker den Ackerbau zu treiben angefangen hatten, der Besitz der Ländereyen anfänglich nicht einzelnen Personen, sondern mehreren Familien zusammen genommen zugestanden habe, die sich und ihre Besitzungen gegen Fremde, die ihnen dieselben streitig machen wollten, vertheidigten; bis sie sich allmälig, wenn sie nicht von der Stelle, die sie eingenommen hatten, verdrängt wurden, in ihrem Besitze befestigten, eine Art von bürgerlicher Gesellschaft unter sich einführten, mit der Zeit die gemeinschaftlichen Aecker unter die einzelnen Familien vertheilten, und durch gemeinschaftliche Verabredung ein wirkliches Eigenthum gründeten.143

An anderer Stelle argumentierte Ewald: Das aber hat uns die Geschichte von mehreren Völkern aufbewahrt, daß anfänglich, als eine Art von gesellschaftlicher Verbindung unter den Menschen errichtet war, die Grundstücke unter die Familien, die eine solche Gesellschaft ausmachten, gleich vertheilt gewesen sind.144

Letztlich ging Ewald von der Überlegung aus, dass es in der »Natur jeder menschlichen Vernunft« liege, dass moralisch begründete Regelungen das Überleben des Einzelnen und der Gemeinschaft in Sicherheit und Menschenwürde »in allen Verhältnissen und Zuständen, auch in dem außergesellschaftlichen oder natürlichen« ermöglichen.145 142 143 144 145

Ebenda, S. 426. Ewald, Von dem Staate, S. 18 f. Ebenda, S. 19. Ebenda, S. 23. Vgl. auch S. 331, 357 f.

262 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Auch in den nachfolgenden Anmerkungen in der Rezension, zu Vorstellungen Kants über das Eigentum, ging Ewald vom gesellschaftlichen Charakter des Naturzustandes aus. So hielt er die Besitzerwerbung auch im Naturzustand für möglich. Er wandte ein: auch können wir nicht mit dem Hrn. Verfasser einstimmen, daß B e e r b u n g o h n e V e r m ä c h t n i s im Naturzustande nicht gedacht werden könne. Sobald in diesem Zustande ein Eigenthum, gesetzt auch nur provisorisch, statt findet, und zwischen Mann und Frau, und Eltern und Kindern, ein Miteigenthum denkbar ist, sobald muß auch, sollten wir denken, in demselben eine Beerbung ab intestato angenommen werden.146

Im weiteren bemerkte der Rezensent zum öffentlichen Recht (Staats-, Völkerund Weltbürgerrecht): Da das Wesentliche dieser Lehre vom öffentlichen Recht, aus der Schrift des Hrn. Verf. v o m e w i g e n F r i e d e n, in welcher er dieselbe angewendet hat, schon bekannt ist, so können wir uns hier kürzer fassen, und schränken uns nur auf einige Anmerkungen ein.147

Ausführlich hat Ewald Kants Ansichten zur Erwerbung von »Eigentum« und dessen rechtliche Fixierung dargestellt. Im Hinblick auf die Erwerbungsart von Besitz (Ersitzung, langer Besitz, Beerbung), den auch Kant in den von ihm dargestellten Formen für möglich hält, wandte der Rezensent ein, dass das Naturrecht die Besitzgarantie von Eigentum, vor allem hinsichtlich der sogenannten langen Besitznahme (Verjährung von Voransprüchen), nicht ohne die Verletzung von Rechten anderer Individuen oder der Allgemeinheit eindeutig bestimmen könne. Er forderte hier klare Bestimmungen des positiven Rechts.148 Ewald verfolgte weiterhin die schon dargestellte Vorstellung, dass im Natur­ zustand der Menschen immer rechtliche Beziehungen – wenn auch nicht sichere – anzutreffen sind. Sie kommt in seiner Entgegnung zur Auffassung von Kant zum Ausdruck, die dieser im § 44 seiner Schrift äußerte. Kant erklärte, dass der Zwang 146 GgZ, 47. St. vom 14. Juni 1797, S. 431. 147 GgZ, 48. St. vom 17. Juni 1797, S. 437. 148 GgZ, 47. St. vom 14. Juni 1797, S. 431. Dazu meinte er: »Wir zweifeln doch, ob nach dem N a t u r r e c h t die Gültigkeit oder rechtliche Möglichkeit der Erwerbung durch langen Besitz, oder Verjährung, wie man es gewöhnlich nennt, sich bestimmen lasse; da es hier doch auf eine Zeitbestimmung ankömmt, die blos willkührlich ist, und das Recht des wahren Eigenthümers dadurch, daß ein Anderer die Sache, wenn auch ehrlich, mehrere Jahre hindurch besessen hätte, nie ohne den Willen des erstern verloren gehen kann. Aber gerade deswegen, weil das Naturrecht über den langen Besitz und das daraus entspringende Recht nichts entscheiden kann, gleichwohl aber dem gemeinen Wesen sehr daran liegt, daß in Ansehung der Erwerbungsarten nichts unbestimmt bleibe, so muß und kann auch nur die p o s i t i v e G e s e t z g e b u n g über diesen Fall entscheiden und festsetzen, daß und nach welcher Zeit eine solche justo titulo geschehene Erwerbung rechtsgültig seyn soll«, vgl. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 292.

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der Menschen zum bürgerlichen Zustand nicht in der Erfahrung begründet liege, sondern »a priori in der Vernunftidee eines solchen (nicht-rechtlichen) Zustandes« begründet ist, da – ungeachtet aller vorhandenen Gutartigkeit der Absichten – jeder einzelne tut, »was ihm recht und gut dünkt«.149 Dazu meinte Ewald: Wir sollten meinen, daß, wenn die Menschen würklich so gutartig und rechtliebend wären, wie sie hier doch als möglich vorgestellt werden, dieses schon auf einen rechtl. Zustand unter ihnen hinweise, und die Vorstellung eines nichtrechtlichen Zustandes entferne und ausschließe. Da der Idee eines nichtrechtlichen Zustandes die Idee eines rechtlichen zur Seite geht, so folgt zwar aus dem Vorhandenseyn des erstern, daß ein rechtlicher Zustand gestiftet werden müsse, aber wo dieser schon vorhanden ist, bedarf es auch so wenig einer Stiftung desselben überhaupt, als einer bürgerlichen Verfassung insbesondere, zumal da sich auch im Naturzustande eine blos g e s e l l s c h a f t l i c h e rechtliche Verbindung denken läßt. Obwohl wir also zwar nicht leugnen wollen, daß die Gründung einer bürgerlichen r a t h s a m sey, so können wir uns doch nicht überzeugen, daß sie unbedingt nothwendig sey [...].150

In Ewalds Vorstellung zeigte sich zwar der Ansatz zu einer historischen Sichtweise der gesellschaftlichen Verhältnisse, die stabilisierende Veränderungen sowohl im Naturzustand als auch im bürgerlichen Staatswesen einschließen. Gleichzeitig befürchtete er, trotz aller Fortschritte der bürgerlichen Staatlichkeit in Westeuropa, bestimmte Repressionen der herrschenden Gewalt gegenüber der einzelnen Persönlichkeit. Folgende Passage unterstreicht die Intention Ewalds hinsichtlich der konstruktiven Rolle des Staates und seiner Befugnisse für die Sicherung der Existenz des Einzelnen. Er befürwortete die Reformierung des Staatsgefüges durch den legitimen Souverän. So bemerkte Ewald: Den Satz S. 173. der Unterthan soll nicht über den Ursprung der obersten Gewalt, als ein noch in Ansehung des ihr schuldigen Gehorsams zu bezweifelndes Recht werkthätig vernünfteln, so wie den S. 174. der Herrscher im Staate (der Inhaber der gesetzgebenden Gewalt) hat gegen den Unterthan lauter Rechte und keine Zwangspflichten; nehmen wir in so fern als richtig an, als in beyden eine würklich rechtliche repräsentative Verfassung, und eine derselben gemäße Verwaltung des Staats vorausgesetzt wird.151

In diesem Sinne setzte Ewald fort: Eben diese Rücksicht muß bey der Stelle S. 178. genommen werden: »Eine Veränderung der fehlerhaften Staatsverfassung, die wohl bisweilen nöthig seyn mag, kann also nur vom Souverän selbst durch R e f o r m, aber nicht vom Volk, mithin (nicht) durch R e v o l u t i o n verrichtet werden, und wenn sie geschieht, so kann jene (die Reform) nur die a u s ü b e n d e Gewalt, nicht die gesetzgebende, treffen.«152 149 Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 312. 150 GgZ, 48. St. vom 17. Juni 1797, S. 437 f. 151 Ebenda. 152 Ebenda, S. 438. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 321 f. Die Zusätze in Klammern von Ewald.

264 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Kants Vorstellungen von der bürgerlichen Selbständigkeit stimmte er prinzipiell zu. Jedoch merkte er an, dass er dessen Meinung nicht teilt, dass die von Kant so genannten »Handlanger des gemeinen Wesens« (Wanderarbeiter, wie Holzhacker, Schmiede, Hauslehrer u. a., die ihre »Arbeit als Waare«153 anbieten) »dieser bürgerlichen Persönlichkeit ermangeln«,154 da sie von anderen Individuen befehligt oder beschützt werden. Ewald hingegen meinte, dass diese Personengruppe durchaus die »Attribute der Staatsbürgerschaft« besitzt, da diese sämmtlich unmittelbar für sich selbst und für ihren eigenen Nutzen arbeiten, und produktive Geschäfte treiben, und keines andern, als des Schutzes des Staats selbst und unmittelbar bedürfen.155

Diese Vorstellung hatte Ewald schon in seiner staatstheoretischen Schrift ge­ äußert.156 Ewald beendete die Rezension mit Kants Darlegungen zum Strafrecht, das als Wiedervergeltungsrecht nach dem Prinzip der Gleichheit nur vor den Schranken des Gerichts für Anwendung von Strafen zur Verfügung stehe. Davon werde die Qualität und die Quantität der Strafe bestimmt. So werde Mord mit dem Tode bestraft. Bei dem mütterlichen Kindesmord und dem Duell sei zweifelhaft, so die allgemeine Diskussion, diese Verbrechen mit der Todesstrafe zu belegen. Zu diesen Taten verleite die Geschlechtsehre und die Kriegsehre. Deshalb könnten diese Vergehen auch als Tötung und nicht als Mord angesehen werden. Daran schloss Ewald folgenden Einwand an: In diesem Räsonnement ist unverkenntlich Wahrheit, weniger aber in folgendem Zusatz, der uns auch etwas Zurückstoßendes an sich zu haben scheint.«157

Nun zitierte Ewald die Bemerkung Kants zum unehelichen Kind und kommentierte sie: Das uneheliche Kind ist außer dem Gesetz, (denn das heißt Ehe) mithin auch außer dem Schutz desselben, gebohren. Es ist in das gemeine Wesen gleichsam eingeschlichen, wie verbotene Waare, so, daß dieses seine Existenz, weil es billig auf diese Art nicht hätte existiren sollen, mithin auch seine Vernichtung ignoriren kann, und die Schande der Mutter, wenn ihre uneheliche Geburt bekannt wird, kann keine Verordnung heben.158 Daraus, daß die Wörter Gesetz und Ehe ehemals gleichbedeutend waren, folgt doch noch nicht, daß das uneheliche Kind außer dem Gesetz, in dem ganzen Umfange des Sinnes dieses nun von dem, was nach dem jetzigen Sprachgebrauch Ehe heißt, ganz verschiedenen Wortes, gebohren werde; und wenn die bürgerliche Verfassung ein 153 Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 315. 154 GgZ, 48. St. vom 17. Juni 1797, S. 438. 155 Ebenda. 156 Vgl. Ewald, Von dem Staate, S. 69. 157 GgZ, 48. St. vom 17. Juni 1797, S. 439. 158 Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 336.

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gesetzlicher Zustand seyn soll, so muß er es auch für alle in demselben befindlichen und entstehenden menschlichen Wesen seyn, das Gesetz muß sich über sie alle er-­ strecken, und kein Recht irgend eines vernünftigen Wesens unbestimmt, so wie keines der letztern gänzlich ohne Recht lassen. Man kann also nicht sagen, das uneheliche Kind werde a u ß e r dem Gesetz g e b o h r e n, sondern es wird nur dem Gesetz z u w i d e r gezeugt, sobald es gebohren ist, und schon als Embryo schützt es das Gesetz.159

Insgesamt referierte Ewald Kants Vorstellungen zustimmend. Jedoch ist zu bemerken, dass er hinsichtlich der Charakterisierung des Menschen als Bürger zu einer die Kantschen Intentionen erweiternden Sichtweise drängte. Hier wird sein liberales Denken, das durch die Erfahrung der Regierungspraxis getragen wird, besonders deutlich. Ungeachtet der kritischen Einwände Ewalds zu einzelnen Aspekten der Rechtsvorstellungen Kants, lag auch dieser rezensorischen Begleitung des kritischen Denkens, die dessen rechts- und staatsphilosophische Erweiterung betraf, die Überzeugung zugrunde, dass alle Beziehungen und Aktivitäten des Menschen nur auf dem Fundament der moralphilosophischen Prinzipien Kants zu entwerfen und praktisch zu gestalten sind. Das daraus abzuleitende Ideal von Humanität soll vor allem den Bürger aufklären und aktivieren, der die eigene und gemeinschaftliche Subsistenz erarbeitet, organisiert und die staatliche Gemeinschaft kultiviert.160 1.5.2. Die Rezension zu: »Erläuternde Anmerkungen zu den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre von Immanuel Kant«, Königsberg 1798 Auf diese am 31. Mai 1800 in den GgZ erschienene kurze Rezension (1 Seite) soll hier aufmerksam gemacht werden, weil sie mit prägnanten Bemerkungen auf Kants ergänzende Darstellung wichtiger Probleme eingeht. Diese Separatausgabe der Schrift, die auch nachgedruckt wurde, war ursprünglich als Zusatz zur 2. Auflage der Rechtslehre (1798) von Kant beigefügt worden. Ungeachtet ihrer Kürze ging der Rezensent sachlich und kritisch auf die Ergänzungen ein. Die Zusätze betreffen u. a. den Begriff des Begehrungsvermögens, der Vielen schwierig vorgekommen ist, (der Rec. ist von der Zulässigkeit der kantischen Definition überzeugt, glaubt aber nicht, daß das vom Hrn. Verf. hier gesagte für jedermann hinlänglich deutlich sey) [...].161

Im Vergleich zur Definition des Begriffs in der »Kritik der praktischen Vernunft« (Vorrede S. 9 u. a.) ist die Anmerkung des Rezensenten berechtigt. Die Funktion des Begehrungsvermögens für das Praktischwerden von Ideen hatte 159 GgZ, 48. St. vom 17. Juni 1797, S. 439. 160 Vgl. Ewald, Von dem Staate, S. 357 f. 161 GgZ, 44. St. vom 31. Mai 1800, S. 366. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 356–372.

266 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Kant vorher transparenter dargestellt. Zum Eherecht forderte er noch genauere Erläuterung zu dem Problem, dass jeder außereheliche Genuß der Geschlechtslust unrechtmäßig sey, da ja der Mensch sich auch Vergnügen vorsetzen darf und bei der wechselseitigen Hingabe jeder auch seinen eigenen Zweck befördert, also nicht bloßes Mittel zum Genusse des andern wird [...].162

Zustimmend äußerte er sich zu dem Recht der Ersitzung und Beerbung, welche, nach des Rec. Einsicht, nicht wenig zur Aufklärung dieser schwierigen Materien des Naturrechts beitragen.163

Das Gleiche betreffe die Klarstellung der Rechte des Staates »in Ansehung ewiger Stiftungen für seine Unterthanen«.164 Der Rezensent ging besonders auf das von Kant zuletzt erläuterte Problem der »Unterwerfung unter den Willen des jedesmaligen Staatsoberhauptes« ein. Hier soll die Meinung des Rezensenten – es wird Ewald als Verfasser angenommen – aufgrund ähnlicher Intentionen in seinen staatstheoretischen Schriften (Verhältnis von Revolution und Reform) vollständig zitiert werden: Daß das, was der Hr. Verf. behauptet, in Ansehung einzelner Mitglieder des Staates richtig sey, davon ist der Rec. hinlänglich überzeugt. Minder leuchten ihm die Anwendungen ein, die das Staatsrecht des Hrn. Verfasser davon auf das ganze Volk macht. Ist die gesetzgebende und regierende Macht Repräsentantin des gesammten Volkswillens (in der Idee), so scheint es, daß auch eine Uebereinstimmung dieses Volkswillens zur veränderten Repräsentation, also zur Staatsveränderung, sehr wohl gedacht werden kann und also nach der Metaphysik des Rechts die Unrechtmäßigkeit derselben absolut nicht behauptet werden darf. Ob aber bei der Anwendung die Bedingungen Statt haben und erfüllet werden können, die durch die Idee einer rechtmäßigen Staatsveränderung aufgegeben sind, das wäre dann eine neue, von jener ersten noch zu unterscheidende Untersuchung. – Die Grundideen des kantischen Staatsrechts hält Rec. für vollkommen richtig; es scheint aber noch mancher Untersuchungen und Aufklärungen zu bedürfen, um in seiner ganzen Bündigkeit zu erscheinen.165

In der Anzeige »Ueber die Buchmacherei. Zwei Briefe an Hrn. Friedrich Nicolai, von Immanuel Kant«, Königsberg 1798 (22 S.), die am 10. November 1798 in den GgZ erschien, bemerkte der Verfasser, dass Kant im ersten Brief die Auffassung seiner Rechtslehre (die Unrechtmäßigkeit des Erbadels) verteidigt. Er habe erklärt: Nicht was ein Volk wählen werde, sondern »was es wählen solle, und ob ein Souverain berechtiget sey, einen Mittelstand zwischen sich und dem Volke zu gründen«. Außerdem zeige Kant, »wie man jede aufs Glückseligkeitsprincip 162 GgZ, 44. St. vom 31. Mai 1800, S. 366. 163 Ebenda. 164 Ebenda. 165 Ebenda, S. 366 f.

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gegründete Verfassung ins Lächerliche parodiren könne.« Der zweite Brief enthalte »eine kleine Portion scharfer, aber hundertfach verdienter Lauge für Hrn. Nik’s Verzerrungen der kantischen Philosophie im Gundibert«. Zudem sei die Schreibweise so anziehend und munter, »daß man auch hierin den ehrwürdigen Greis bewundern muß«.166 1.5.3. Die Rezension zum zweiten Teil: »Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre« (1797) Die Rezension erschien erst am 9. Januar 1799. Vermutlich hat sie sich verzögert, da sie von einem auswärtigen Rezensenten angefertigt wurde. Die Behandlung der Struktur und der Probleme der Schrift sowie der Hinweis des Verfassers, dass er die Rezension »abgesandt« habe, sprechen für diese Tatsache. Die systematische Vorstellung des Werkes stand hier nicht im Vordergrund. Dennoch hatte der Verfasser die moralphilosophischen Vorstellungen Kants im Blick und erörterte von daher wohlwollend-kritisch die ihm wichtigen Probleme. Der Rezensent warb mit der rationalen und emotionalen Wirkung der Kantischen Moralphilosophie, wenn er einleitend schrieb: Den ganzen Werth dieses Buches kann nur derjenige schätzen, der einen vorzüglichen Sinn für philosophische Gründlichkeit, Genauigkeit und systematische Form durch anhaltendes Studium der Philosophie sich erworben hat. Aber auch für Andere, wenn sie nur nicht ohne Anlage zum philosophischen Denken, und nicht ohne alle Uebung in der Abstraction sind, wird es, wenigstens durch viele neue, vortrefliche, und zum Theil sehr gut gesagte Gedanken anziehend und lehrreich seyn können. Und den würden wir bedauern, den der moralische Geist, welcher darin lebt, nicht mit Achtung erfüllte, nicht erwärmte, nicht erhöbe.167

Der Rezensent betonte, dass Kant ein metaphysisches Werk vorgelegt habe, das angewandte Moral und moralische Anthropologie ausschließe; wenngleich eine Abhandlung von Kant über »Anthropologie« als ein dankenswertes Geschenk anzusehen ist. Schließlich betonte er, dass die metaphysische Darlegung zur »Moralität« notwendig sei: Denn da selbst der metaphysische Begriff der Pflicht nicht erörtert werden kann, ohne den Menschen, als ein sinnliches Wesen, das sich auch subjektive Zwecke vorsetzt, zu betrachten; so scheinen auch alle Pflichten, welche sich ohne neue empirische Data, nach dem vorauf gehenden Begriffe eines nothwendig nach Glückseligkeit strebenden, aber durch Vernunftgesetze zu bestimmenden Wesens, erkennen lassen, schon in die Metaphysik der Sitten zu gehören.168 166 GgZ, 90. St. vom 10. November 1798, S. 807. Es handelt sich um die Schrift von Christoph Friedrich Nicolai, Leben und Meinungen Sempronius Gundibert’s eines deutschen Philosophen, Berlin / Stettin 1798. 167 GgZ, 3. St. vom 9. Januar 1799, S. 17. 168 Ebenda, S. 18.

268 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Auf den Unterschied zwischen dem Vorgehen Kants in der Rechts- und Tugendlehre eingehend, unterstützte er Kants Vorstellung, dass die Bestimmung der objektiven Zwecke des menschlichen Handelns erst durch die Erkenntnis des »Moralgesetzes« möglich ist, da sonst dem »Eudämonismus« gefolgt wird, »der, man mag ihn auch noch so sehr verfeinern, allemal auf einen Zirkel hinaus läuft, und den sanften Tod aller Moral nach sich zieht«.169 Unter diese Grundposition ordnete der Rezensent das von Kant bestimmte Verhältnis von subjektivem Streben nach Glückseligkeit, nach moralischer Vervollkommnung und nach fremder Glückseligkeit ein und betonte: daß Alle, die so viel von überspannten Forderungen der (ihnen so gut als ganz unbekannten) Kantischen Moral zu reden wissen, dadurch hinlänglich zurückgewiesen sind.170

In der Polemik mit Karl Heinrich Heydenreich verteidigte er das Kantsche Moralgesetz als formales Prinzip zur Bestimmung der Maximen des Handelns. Er begrüßte die Erziehung der Jugend zur freudigen Erfüllung der Tugenden mit der Aufforderung: Möchten doch bald recht Viele sich den Geist dieses Buches eigen machen, und besonders viele Lehrer der Jugend und des Volkes durch ihn belebt werden.171

Nach dem Überblick über die Disposition des Werks und der Zurückweisung von Einwänden gegen Kants Vorstellungen ging der Rezensent auf die »Kasuistischen Fragen« ein, die Kant nach der Elementarlehre behandelte. Sie stehen unter dem Aspekt der Pflicht der Selbsterhaltung des Einzelnen. Hier hat Kant die Pockeninokulation bzw. -impfung als problematisch für die Erhaltung des Lebens angesprochen. Da sie ein selbstgewähltes, hohes Risiko für die Geimpften darstellte, betrachtete er sie skeptisch. Seine Bemerkungen zu diesem Thema schloss er mit der Frage Kants, »Ist also die Pockeninoculation erlaubt?«172 Der Rezensent griff diese Problematik auf und bemerkte: Aus der Art, wie der Verf. sie dargestellt hat, läßt sich nicht entscheiden, wie er die Sache ansehe. Es hat sich aber, auf Veranlassung dieser Stelle [Kants Bemerkung zur Pockeninoculation – H. S.], Hr. S t e p h a n i i m R e i c h s - A n z e i g e r (1798, Nr. 187) gegen die Impfung erklärt, weil es unerlaubt sey, sich, um das Leben zu erhalten, in Todesgefahr zu begeben.173

Entschieden trat der Rezensent der Skepsis Kants und der ablehnenden Haltung von Heinrich Stephani entgegen. Gleichzeitig verwies er auf Gleichgesinnte, die 169 Ebenda. 170 Ebenda, S. 20. 171 Ebenda, S. 18. 172 Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 424. 173 GgZ, 3. St. vom 9. Januar 1799, S. 21.

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auf Kantischen Positionen stehen und doch eindeutig die Pockenimpfung bejahen. Er antwortete: Damit ist aber die Sache noch gar nicht ausgemacht. Denn da es Pflicht ist, mein Leben zu erhalten, so folgt daraus, daß ich alles dasjenige zu thun habe, wenigstens thun darf, wovon ich h o h e W a h r s c h e i n l i c h k e i t habe, es werde mich gegen Todesgefahr sichern, wenn es gleich kein unmöglicher Fall ist, daß das Mittel seinen Zweck nicht erreiche, und wohl gar den Tod beschleunige.174

In der Anmerkung fügte der Rezensent hinzu: Noch ehe die Recension abgesandt wird, findet der Recens. daß Hr. G e b h a r d (im R. Anz. Nr. 218) den Stephanischen Aufsatz in der Kürze gut beantwortet hat. Auch einige andre Antworten, die ebenfalls manches Gute enthalten, findet man daselbst Nr. 214 u. 224.175

Die Diskussion, die im von Becker in Gotha herausgegebenen »Reichs-Anzeiger« (1798, Nr. 182, 187, 214, 218, 224) über die Frage der Einführung und Rechtmäßigkeit der Pocken-Impfung geführt wurde, ist ein herausragendes Beispiel für die Klarstellung eines existentiellen Problems der Menschen dieser Zeit mit Hilfe der Erfahrungen der Wissenschaft (Medizin) und den orientierenden Grundsätzen der kritischen Philosophie. Nach der bejahenden und solide begründeten Beantwortung der Frage eines sachkundigen Mitbürgers, der betonte, »kein Philosoph von Profession«176 zu sein, hat der ausgewiesene Kantianer Friedrich Heinrich Gebhard, nunmehr Pfarrer in Bienstädt / Gotha, seine Meinung geäußert. Er gab ein treffendes Beispiel, wie das allgemein bewegende Problem der Pockeninoculation im Lichte der medizinischen Erfahrung und mit Hilfe der Dialektik von materialen und formalen Grundsätzen der Kantischen Moral zu beurteilen ist. Er zog die grundlegenden Register der kritischen Philosophie für eine stichhaltige Argumentation, die ihm als Anleitung zum praktischen Verhalten diente. Am 20. September 1798 veröffentlichte er im »Reichs-Anzeiger« in der Rubrik »Moralische Gegenstände« unter dem Titel »Ist die Inoculation der Pocken auch nach reinsittlichen Grundsätzen erlaubt? (in Bezug auf Nr. 187.)« folgenden Beitrag: So lange das eudämonistische System das herrschende war, hielt man diese Frage in der Theorie mit Recht für entschieden, weil die Erfahrung bewies, dass die inoculirten Pocken zehn Mahl weniger Gefahr, als die natürlichen haben, und nach jenem Systeme n i c h t a l l e s N ü t z l i c h e − denn sonst hätten die Eudämonisten z. B. auch den Diebstahl für pflichtmäßig erklären müssen, − sondern all e s G e m e i n n ü t z l i c h e, oder m o r a l i s c h b e d i n g t e N ü t z l i c h e für Pflicht galt. Da nun, wie Hrn. S t e p h a n i, wenn er, wie es scheint, eines solchen Beweises bedürfen 174 Ebenda. 175 Ebenda, S. 21 f. 176 Reichs-Anzeiger, Nr. 214 vom 15. September 1798, Sp. 2440.

270 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe sollte, bewiesen werden kann, alle materialen Moral-Principien, so fern man sie, recht verstanden, d e m f o r m a l e n u n t e r o r d n e t, vollkommene Gültigkeit und Richtigkeit haben; da ferner ein materialer Zweck, um reinsittlich zu seyn, nur einer Maxime bedarf, welche die Bedingung der Qualification zu einer möglichen allgemeinen Gesetzgebung enthalte, d. i. unter d e n s e l b e n Umständen für alle Menschen zum Gesetze gemacht werden könne; da nicht die practische Vernunft, die nur den Zweck aufstellt, der a l s s o l c h e r zugleich Pflicht ist, sondern vielmehr die Erfahrung, und die über sie reflectirende Urtheilskraft die materialen Zwecke gibt: so folgt von selbst, daß entschiedene N ü t z l i c h k e i t, weit entfernt, eine Maxime und die ihr gemäße Handlungsweise verwerflich zu machen, auch in der r e i n e n M o r a l sie vielmehr zur p f l i c h t m ä ß i g e n qualificiren kann. Und nun entscheidet – n i c h t d e r M o r a l i s t, sondern der A r z t, ob unter gewissen Umständen die Pocken inoculirt werden sollen, oder nicht, weil unter gewissen Umständen diese Inoculation das einzigmögliche Mittel seyn kann, eine so viel größere und wahrscheinlichere Lebensgefahr zu vermeiden. Wenn also sehr viele Eltern, von den großen, ü b e r w i e g e n d e n Vortheilen jenes medicinischen Kunststücks i n n i g s t ü b e r z e u g t, sich dennoch nicht entschließen konnten, dasselbe auch an ihren Kindern versuchen zu lassen: so handelten sie wider ihre innigste Ueberzeugung, folglich höchst unmoralisch; und ihre unmoralisch falsche Praxis, die alle Stärke eines männlichen, gewissenhaften Entschlusses verleugnend, den Sophistereyen einer weichlichen Zärtlichkeit folgte, welche den Gegenstand ihrer Handlung nur b e ä u g e l t, nicht mit festem Blicke durchschaut, kann weder eine moralische, noch medicinische Theorie in Verdacht bringen. Wenn nun die Anstalten des Staats zur Pocken-Vertilgung, denen jeder Menschenfreund mit Sehnsucht entgegen sieht, bis jetzt noch ein sehr weit aussehendes F u t u r i b i l e sind; und wenn die Verwahrung vor natürlicher Ansteckung ihre großen, beynahe unüberwindlichen Schwierigkeiten, die künstliche Mittheilung aber den größten Theil der bewährtesten Aerzte für sich hat: so steht hoffentlich zur Anwendung auf den gegenwärtigen Fall der Grundsatz fest: »Es ist Pflicht, mich und die Meinigen einer sehr geringen Todesgefahr zu unterwerfen, um einer künftigen, (nicht bloß im Allgemeinen, sondern) selbst für uns unvergleichbar größern zu entgehen, so lange, bis es auf eine andere, eben so pflichtgemäße, und noch zweckdienlichere Art geschehen kann.« Und überhaupt läßt das nunmehr glücklich aufgefundene wahre Moralsystem, das aber nicht jede Kantische Casuistik zur untrüglichen macht, in der teleologisch-moralischen äußern Praxis Alles, w i e e s w a r u n d i s t. Bienstädt im Gothaischen 1798. Gebhard.177

Auf die von Heinrich Stephani aufgeworfene Frage gab es einen weiteren, noch ausführlicheren Beitrag in der Nr. 224 des »Reichs-Anzeigers«. Es ist gleichfalls eine Argumentation, die sowohl auf der Abwägung der realen Verhältnisse und der medizinischen Erfahrung als auch auf den moralphilosophischen Grundsätzen 177 Reichs-Anzeiger, Nr. 218 vom 2. September 1798, Sp. 2487–2489.

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Kants beruht. Der Verfasser unterzeichnete den Beitrag mit Kürzel »E..l.« Es liegt die Vermutung nahe, dass Ewald der Verfasser des Beitrages ist; denn das moralphilosophische Prinzip Kants bildet die Basis der Argumentation (Hinführung zu einer stringenten Fixierung des Problems). Gegen Stephanis Meinung, dass das Kind durch die Einimpfung der Pocken in Todesfurcht gerate und durch zweckmäßigere Mittel der Ansteckung vorzubeugen sei, gestand der Verfasser zu, dass es bei den ersten Versuchen der Inoculation der Blattern »in der That eine Art Heroismus« benötigte, wenn Eltern an ihren Kindern die Inoculation, deren Gefahr nur drey Mahl geringer war, als bey den natürlichen Pocken vornehmen ließen.178

Da geschickte Ärzte die Gefahren dieser Impfung verringert haben, sollte man sie zur Vorbeugung anwenden. Man darf sie nur als ein Präservativ, als eine Cur betrachten, welcher man sich unterwirft, wie man sich der Brunnencur auch oft in gleicher Absicht bedient, um den Körper wider Krankheiten zu sichern.179

Auch der noch vorkommende unglückliche Ausgang einer Inoculation widerspreche nicht dem überwiegenden Heilerfolg. Die Ausrottung der Blattern sei aufgrund der Zeitverhältnisse (Kriege in Europa, Tausende Tote, Zerstörung der gesetzlichen Ordnung und des Wohlstandes ganzer Völker) noch nicht zu erwarten. Erst wenn die Zwietracht verbannt sei und die Nationen sich verbinden, könne man darauf hoffen, dass durch öffentliche Schutzeinrichtungen dieses Ziel zu erreichen sei. Der Rezensent gab seine Antwort auf die aufgeworfene Frage: Die Einimpfung der Blattern ist nicht allein nach reinsittlichen Grundsätzen erlaubt, sondern die Pflichten gegen ihre K i n d e r, gegen s i c h s e l b s t und gegen die m e n s c h l i c h e G e s e l l s c h a f t, verbinden alle Eltern, welche in der Nähe eines geschickten Arztes wohnen und hinlänglich bemittelt sind, dieselbe an ihren Kindern, im angemessensten Alter, von einem erfahrnen Arzte vornehmen zu lassen.180

Mit einer fundierten moralphilosophischen Argumentation zu den drei genannten Aspekten, die für die notwendige und pflichtgemäße Inoculation sprechen, sowie die Schilderung der zerstörenden Wirkungen dieser Krankheit für den Körper und die sozialen Bindungen unter den Menschen, schloss der Verfasser: Wider die vielen und manchfaltigen Uebel, welche diese Krankheit begleiten, wider die gewaltsame Zerreißung gesellschaftlicher und Familienbande, gibt es bis jetzt nur ein einziges, aber leichtes, sicheres und gefahrloses Mittel, frühe Inoculation. E..l.«181 178 179 180 181

Reichs-Anzeiger, Nr. 224 vom 27. September 1798, Sp. 2560. Ebenda, S. 2560 f. Ebenda, S. 2562. Ebenda, S. 2564.

272 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Der Verfasser beendete die Rezension zum einen mit der Kritik an Heydenreichs Einwänden gegen Kants Moralgesetzgebung mit dem Hinweis auf Kants Schrift »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« (S. 56, §§ 19, 30, 46, 47). Zum anderen verwies er auf Kants Vorschläge zur Übung der Tugend unter den Menschen, um »Gemüthsstimmung« zu erreichen, um »wackeren und fröhlichen Gemüths in Befolgung ihrer Pflichten zu seyn.«182

1.6.

Die Rezension zu Kants Schrift »Der Streit der Fakultäten« (1798)

Einleitend stellte der Rezensent, vermutlich Ewald, in komprimierter Form die Zielsetzung der Kantischen Schrift hinsichtlich der Funktion des vernunftgeleiteten philosophischen Denkens und ihrer Träger in der philosophischen Fakultät im Prozess der Wahrheitsfindung mit den Wissenschaften der oberen Fakultäten (Theologie, Jurisprudens, Medizin) vor. Dazu schrieb er: Der Zweck dieser höchst interessanten und an neuen Ideen und Ansichten reichhaltigen Schrift ist, zu zeigen, daß die philosophirende Vernunft in ihren Depositären, den zur philosophischen Fakultät gehörigen Professoren, alle Theile des menschlichen Wissens zum Gegenstande ihrer Prüfung und Kritik, zum Vortheil der Wissenschaften zu machen befugt, ja sogar verpflichtet sey, und wie weit sich der Wirkungskreis einer jeden Fakultät erstrecke, zu welchem Ende der Verfasser die streitigen Verhältniße jeder der obern Fakultäten (der theologischen, juristischen und medizinischen) mit der untern, oder der philosophischen, aufstellt, und wie der Streit unter ihnen beizulegen sey, ausführlich darlegt.183

Der Rezensent folgte der grundlegenden Intention Kants hinsichtlich der Bedeutung der philosophischen Fakultät als Einrichtung zur Förderung und kritischen Begleitung der Entwicklung der Wissenschaften im Sinne der Wahrheitsfindung. Da die oberen Fakultäten »die ihnen von der Regierung anvertrauten Lehren auf Schrift, die Bibel, das Landrecht, die Medicinalordnung« vertreten, sei die philosophische Fakultät mit folgender Aufgabe betraut: Die philosophische Fakultät muß in so fern, als sie für die W a h r h e i t d e r L e h r e n, die sie aufnehmen, oder auch nur einräumen soll, stehen muß, auch als ganz frei, und 182 GgZ, 3. St. vom 9. Januar 1799, S. 24. 183 GgZ, 17. St. vom 27. Februar 1799, S. 138. Zur Entstehung der Schrift vermutete der Rezensent: »Die Veranlassung zu dieser Schrift, hat wahrscheinlich das unter der vorigen Königl. preußischen Regierung an den würdigen Verfasser im J. 1794. erlassene königl. Rescript, worin ihm zum Vorwurf gemacht wurde, daß er seine Philosophie zur Entstellung und Herabwürdigung der Grundlehren der h. Schrift und des Christenthums mißbrauche, gegeben, welches nebst der ihm abgeforderten Erklärung, in der Vorrede hier zum erstenmale mitgetheilt wird.« Vgl. Nekrolog. Immanuel Kant, in: GgZ, 19. St. vom 7. März 1804, S. 170.

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nur unter der Gesetzgebung der Vernunft stehend, gedacht werden. Ihr Geschäft ist, die obern Fakult. zu kontroliren, und ihnen eben dadurch nützlich zu werden, weil auf W a h r h e i t, als der ersten und wesentlichen Bedingung der Gelehrsamkeit überhaupt, alles ankommt. Sie erstreckt sich auf alle Theile des menschlichen Wissens, mithin auch historisch über die obern Fakult., nur daß sie nicht alle (nemlich die eigenthümlichen Lehren und Gebote der Obern) zum Inhalte, sondern zum Gegenstande ihrer Prüfung und Kritik macht. Sie kann von der Regierung, ohne, daß diese ihrer eigentlichen wesentlichen Absicht zuwider handle, nicht mit einem Interdikt belegt werden, und die obern Fakult. müssen sich ihre Einwürfe und Zweifel gefallen lassen.184

Der Rezensent hob Kants Vorstellung hervor, dass der Streit zwischen Philosophie und Wissenschaften nur um den »gemeinschaftlichen Endzweck« geführt wird. Unter diesem Vorzeichen wird der Leser in die drei zu bewältigenden Kontroversen eingeführt. Den Streit zwischen der philosophischen und der theologischen Fakultät ließ er in folgendem Resümee enden: In Absicht der Religion eines Volks, ist die doktrinale Schriftauslegung, welche sich auf sein moralisches Interesse – der Erbauung, sittlichen Besserung, und so der Seeligwerdung – bezieht, zugleich die authentische; weil der Gott, der durch unsere eigene Vernunft spricht, ein untrüglicher, allgemein verständlicher Ausleger dieses seines Werks ist. Und so haben die Theologen der Fakultät die Pflicht auf sich, mithin auch die Befugniß, den Bibelglauben aufrecht zu erhalten: doch unbeschadet der Freiheit der Philosophen, ihm jederzeit der Kritik der Vernunft zu unterwerfen, welche im Fall einer Diktatur (des Religionsedikts) die jener obern etwa auf kurze Zeit eingeräumt werden dürfte, sich durch die solenne Formel bestens verwahren: Provideant consules, ne quid Res publica detrimenti capiat [Die Konsuln mögen zusehen, daß der Staat keinen Schaden nehme].185

Zudem wurde Kants Lob für den jungen Karl Arnold Willmanns, dessen Brief über seine Erfahrungen mit der Lebensgesinnung einer Gemeinschaft von Mystikern im Anhang abgedruckt ist, so kommentiert: Hr. Prof. K. fället ein sehr günstiges Urtheil von diesem jungen Arzte; äußert aber, daß er durch die Bekanntmachung dieses Briefs, die Aehnlichkeit der Vorstellungsart seines Verfassers vom reinen Mysticism, mit seiner Religionslehre unbedingt einzugestehen nicht gemeinet sey.186

Komprimiert und stringent wurde der Diskurs mit der juristischen Fakultät verfolgt, indem die Vorstellungen Kants durch die fast wörtliche Übernahme von Kernsätzen vorgestellt werden. Es wurde der Grundgedanke hervorgehoben, dass durch die moralische Anlage zum Besseren im Menschen eine gesellschaftliche Konstitution in Gestalt einer bürgerlichen Verfassung und des republikanisch 184 Ebenda. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 28 f. 185 GgZ, 17. St. vom 27. Februar 1799, S. 143. 186 Ebenda, S. 144.

274 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe geprägten Staates in einem evolutionären Prozess zustande kommen kann. Damit könnten Kriege verhindert und das Fortschreiten des Menschengeschlechts zur Verwirklichung der Vernunftideen ermöglicht werden. Den Streit der philosophischen Fakultät mit der medizinischen referierte der Rezensent, indem er wohlwollend und ausführlich Kants Antwort auf Christoph Wilhelm Hufelands Anfrage einging. Dieser bat um »sein Urtheil über sein Bestreben, das Psychische im Menschen moralisch zu behandeln, und die moralische Kultur als unentbehrlich zur physischen Vollendung der überall nur in der Anlage vorhandenen Menschennatur zu zeigen«.187 Die Antwort Kants an Hufeland fasste er in dem Satz zusammen: Der Grundsatz der Diätetik ist kein anderer als der Stoizism, (sustine u. abstine) [leide und meide] und gehört also nicht blos zur praktischen Philosophie, als Tugendlehre, sondern auch zu ihr als Heilkunde, die alsdann philosophisch ist, wenn blos die Macht der Vernunft im Menschen, über seine sinnlichen Gefühle, durch einen sich selbst gegebenen Grundsatz Meister zu seyn, die Lebensweise bestimmt [...].188

Überaus wohlwollend und ausführlich werden Kants Erfahrungen zur Erhaltung seiner Lebens- und Arbeitsfähigkeit vorgestellt und gewürdigt.

1.7. Die Rezension zu Kants Schrift »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« (1798/1800) Die hier vorgelegte »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« (im Gegensatz zur physiologischen), so der Rezensent (die Art und Weise der Struktur der Rezension sowie die herausgehobenen Schwerpunkte verweisen auf Ewald als Verfasser), gehe »auf das, was er [der Mensch – H. S.] selbst aus sich macht, oder machen kann und soll«.189 Kant konzentriere sich auf die »Hauptlehren«, aber: Überall ist das Buch voll von Beweisen einer feinen Welt- und Menschenkenntniß, so wie einer ausgebreiteten Lektüre und Gelehrsamkeit; von dem philosophischen Geiste wäre es überflüssig, etwas zu sagen.«190

Der Rezensent, der die Schrift nach Inhalt und Form genauestens gelesen hat, beabsichtigte, in einem kurzen Abriss das Ganze vorzustellen. Seine Ansicht zu einigen Darlegungen Kants setzte er in eckigen Klammern hinzu. So fügte er zum Thema »Vom Bewußtsein seiner selbst« aus dem Blickwinkel eigener Erfahrung« (Ewalds Söhne wurden am 20. September 1784 und am 23. Februar 1791 geboren) folgenden Zusatz an: 187 188 189 190

GgZ, 18. St. vom 2. März 1799, S. 150. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 97 f. GgZ, 18. St. vom 2. März 1799, S. 151. GgZ, 47. St. vom 12. Juni 1799, S. 394. Ebenda, S. 395.

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S. 4 heißt es: »Die Erklärung dieses Phänomens, (daß das Kind spät anfängt, durch Ich zu reden, und daß ihm gleichsam ein Licht aufgegangen scheint, wenn es den Anfang damit macht, von welchem Tage an es nie in die Sprechart durch die dritte Person zurück fällt) möchte dem Anthropologen ziemlich schwer fallen.« [Sollte nicht etwas darin liegen, daß der Ausdruck Ich in der That abstrakt ist, und der Gebrauch ohne vorhergehende Abstraktion nicht statt haben kann? Recens. bemerkt hier übrigens noch eine Erfahrung, die er an einem – aber auch nur an Einem Kinde gemacht hat, daß es eine geraume Zeit dein statt mein, du statt ich, und umgekehrt sagte.]191

In dieser und ähnlicher Weise ging der Rezensent auf folgende Themen ein, die in Ewalds Schriften eine wichtige Rolle spielten. Zum Beispiel der »logische Egoismus« im Erkenntnisvorgang, die »Apologie der Sinnlichkeit« oder die Anforderung an die »Gesinnung« zur praktischen Umsetzung des »Moralgesetzes«. Zum Bezeichnungsvermögen (Original S. 106) – er zitierte Kants Auffassung über den Mangel an Begriffen in den frühen Dichtungen (Homer bis Ossian) – meinte er: [Sehr richtig! Hätte man nur diese Bemerkung immer deutlich gedacht, so würde man sich über die Frage, ob Poesie früher sey, als Prose? und ob die älteste Geschichte Poesie sey? eher vereinigt haben.]192

Aus der Sicht des Gesamtwerkes von Kant merkte er zum »Erkenntnisvermögen« an: Hier vermissen wir die Definition des Verstandes in besonderer Bedeutung, so fern er von Urtheilskraft und Vernunft unterschieden wird, da doch die letzteren, so wie der Verstand in weiterer Bedeutung, definiret werden. Da dieses Buch auch für solche brauchbar ist, die mit der Kritik der reinen Vernunft nicht bekannt sind, so wäre jene Erklärung nöthig gewesen, zumal, da man aus dem, was hier gesagt wird, sie nicht ganz leicht sich selbst bilden wird, wenn gleich im Folgenden verschiedene Stellen vorkommen, aus denen auch der, welcher des Verf. übrige Schriften nicht studiert hat, seinen Begriff von dem Verstande abnehmen kann. Den Witz erklärt der Verf. als das Vermögen, zum Besondern das Allgemeine auszudenken, [also reflektirende Urtheilskraft.]193

Weiterhin bemerkte der Verfasser zum Abschnitt »Gefühl der Lust und Unlust«, speziell zum Sinnlichen: Der erste [Teil – H. S.] handelt vom Gefühl für das Angenehme; der zweite vom Gefühl für das Schöne. Die Hauptgrundsätze hierüber, sind in der Kritik der Urteilskraft schon vorgetragen; doch findet auch derjenige, welcher sie dorther schon kennt, hier viele neue Bemerkungen.194 191 Ebenda. 192 Ebenda, S. 397. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 191. 193 GgZ, 47. St. vom 12. Juni 1799, S. 398. 194 Ebenda.

276 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Eine Reihe von Beispielen wird angegeben. Hinsichtlich des »Begehrungsvermögens« merkte er zu Problemen, die die Schauspielkunst (Ewald hat sich in seinem Magazin damit beschäftigt) betreffen, u. a. an: S. 224. Ein Akteur, der selbst kalt ist, übrigens aber nur Verstand und starkes Vermögen der Einbildungskraft besitzt, kann durch einen gekünstelten Affekt oft mehr rühren, als durch den wahren. (Man kann noch mehr behaupten: die Darstellung dessen, der wirklich im Affekt wäre, würde gewiß mißrathen) [...].195

Zuletzt bemerkte er: Ganz vorzüglich ist das, was am Schlusse dieses Hauptstücks über gesellschaftlichen Umgang und Unterhaltung gesagt wird.196

Zum zweiten Teil des gleichen Themas, in dem Kant u. a. über den »Charakter« der Person schreibt, merkte der Rezensent an: Zusammengesetzte Temperamente gibt es, nach der Behauptung des Verf. gar nicht. Es kommt hier sehr darauf an, wie man sich erklärt; und die Materie ist nur kurz abgehandelt. Dem Recens. scheint es, als ließe sich ein sanguinisch cholerisches Temperament wohl denken. Der Sanguinische empfindet schnell und stark, aber nicht dauerhaft (nach S. 258); sollte denn damit die rasche Thätigkeit des Cholerischen (S. 261.) nicht vereinigt, nicht Eins durch das Andere modificirt seyn können?197

Zu den Vorstellungen Kants zum »ersten Menschenpaar«, so der Rezensent, hätte der Verf. auf seine Abhandlung in der »Berliner Monatsschrift« Januar 1786 verweisen können, wo einiges vorkommt, das darüber Licht geben könnte.198

Zur »moralischen Anlage« des Menschen, wie sie Kant in der Schrift vorstellt, äußerte der Rezensent: Was S. 320 von der moralischen Anlage gesagt wird, ist, gehörig verstanden, nach des Recens. Einsicht, sehr richtig; indessen hält dieser es doch für bequemer, die Ausdrücke gut und böse, hier wegzulassen, und für das aufzusparen, was der Mensch aus sich durch seine Freiheit macht; und da kann man denn sehr richtig sagen: Der Mensch ist von Natur weder gut noch böse.199

Nach der hier vorgestellten Auswahl von kritischen Anmerkungen zum Inhalt der Schrift spricht nicht zuletzt die entschiedene Kritik an der mangelhaften Korrektur des Textes für Ewald als Rezensenten. So beschloss er, nach vorangegangenem Nachweis von Druckfehlern, die Rezension mit dem Satz: 195 Ebenda, S. 399. 196 Ebenda. 197 Ebenda. 198 GgZ, 47. St. vom 12. Juni 1799, S. 400. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 107–129. 199 GgZ, 47. St. vom 12. Juni 1799, S. 400. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 324.

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Das Werk ist nicht so korrekt gedruckt, als es zu wünschen wäre: man stößt nicht selten wegen eines ausgelassenen Wortes, oder einer unrichtigen Interpunktion an.200

Auch die Rezension zur zweiten verbesserten Auflage der Schrift in den GgZ vom 8. November 1800 zeigt das hohe Interesse des Rezensenten an der inhaltlichen Substanz der Schrift, welches auch sein kritisches Betrachten der formalen Gestaltung der Edition erklärt. Bekanntlich hat Christian Gottfried Schütz (Jena) die Korrektur der zweiten Auflage übernommen.201 Der Rezensent kam zu folgendem Ergebnis: Da wir (im 47sten St. des vor. J.) die erste Ausg. dieses Werks ausführlich angezeigt haben, so wollen wir jetzt blos die Veränderungen der zweiten Auflage anmerken. Hinter der unveränderten Vorrede ist eine Uebersicht des Inhalts eingeschaltet. Dafür sind nun die drei Bücher (das in unserer Rec. bemerkte Versehen, daß beim 2. u. 3ten Buche Haupst. gesetzt war, ist abgeändert) nicht wieder in Abschnitte und Kapitel eingetheilt, weil der Verf. nun ohne Zweifel gesehen hat, daß nach den bei der ersten Ausg. gewählten die Titel nicht alles andeuten, auch manches Versehen in der Fortzählung eingeschlichen war; welches sich daraus erklären läßt, daß der Herr Verf. seinem Hefte die Abtheilung bei der Herausgabe erst beisetzte. Nun ist blos die Ueberschrift für jeden Absatz geblieben, die dessen Inhalt angibt. Auch die Zählung der §§. ist berichtiget und fortgeführt, obgleich noch einige Versehen begangen sind.202

Danach folgt auf drei Druckseiten eine Auflistung der wichtigen Korrekturen und einiger unkorrigierter Fehler. Diese gründliche Sichtung endet mit dem Satz: Uebrigens wünschen wir, daß die von dem verehrungswürdigen Verf. noch zu erwartenden Werke wenigstens mit eben so vieler Sorgfalt mögen gedruckt werden, als diese 2te. Ausgabe der Anthropologie.203

1.8. Die Rezension zur Schrift von Reinhold Bernhard Jachmann »Prüfung der kantischen Religionsphilosophie in Hinsicht auf die ihr beigelegte Aehnlichkeit mit dem reinen Mystizismus. Mit einer Einleitung von Immanuel Kant« (1800) Die Anregung zu dieser Schrift Jachmanns, die auf Kants Bestreben zur Klärung seines religionsphilosophischen Standpunktes zurückgeht (vgl. Kant, »Streit der Fakultäten, Anhang. Von einer reinen Mystik in der Religion«), wurde korrekt wiedergegeben. Die angebliche Identität zwischen Mystizismus und Kantscher 200 GgZ, 47. St. vom 12. Juni 1799, S. 400. 201 Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 12, S. 307. 202 GgZ, 90. St. vom 8. November 1800, S. 750. 203 Ebenda.

278 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Religionsphilosophie unterzog Jachmann, nicht zuletzt angesichts der Ausformung des deutschen Idealismus in Jena, einer kritischen Untersuchung. Da es, so wird Jachmann zitiert, in unsern Tagen von neuem wichtig wird, die kritische Philosophie in ihrer Lauterkeit zu erhalten und sie vor der Annäherung des Mystizism zu bewahren; denn in der Fichtischen Streitsache zeigt sich das besondere Phänomen, daß Philosophen, welche den Kritizism verließen und ihren eignen dogmatischen Weg gingen, in ein gefährliches Labyrinth geriethen und endlich in den Mystizism verfielen, um in einem exaltierten Gefühl ein Vereinigungsmittel zu finden, wo der Verstand keinen Frieden mehr hoffen ließ.204

Der Standpunkt des Rezensenten zum Anliegen von Jachmann: Der Verf. hat sehr deutlich die gänzliche Verschiedenheit des Kritizismus und des Mystizismus, sowohl in Absicht der ersten Gründe des Erkennens, Glaubens und Handelns, als auch in Absicht einzelner Lehrsätze gezeigt, und seine Schrift kann zugleich als ein recht guter Abriß der Hauptmomente der kritischen Philosophie in so fern diese sich auf Religion bezieht, gelten.205

Das abschließende Urteil über Jachmanns Darlegung verband der Rezensent mit dem Hinweis auf die Nähe des Mystikers zu praktischen Aspekten der Philosophie Kants: Was nun die Hauptsache der vor uns liegenden Schrift betrift, so sind wir völlig mit dem Verf. einverstanden: die kantische Philosophie ist kein Mystizismus, sondern durchaus von demselben verschieden. Allein damit kann ein anderes Urtheil sehr wohl bestehen, nehmlich, daß der Mystiker (der, wie aus einigen, auch von dem Verf. nicht übergangenen Inkonsequenzen in dem Systeme des Mystizismus erhellet, dieses eigentlich nur annimmt, weil er sich selbst nicht hinlänglich versteht) zwar nicht in philosophischer, doch aber in praktischer Rücksicht den Wahrheiten, welche die kritische Philosophie entwickelt und erweiset, näher ist, als es bei der bloßen Hinsicht auf sein System, als System, scheinet.206

1.9. Die Rezension zu »Immanuel Kant’s vermischte Schriften« (3 Bände, 1799) Am 5. März 1800 erschien die Besprechung dieser wichtigen Edition, die für das Verständnis der Genesis und der Systematik der kritischen Philosophie schon für die Zeitgenossen von fundamentaler Bedeutung war. Der Rezensent leitete ein: 204 GgZ, 91. St. vom 12. November 1800, S. 766. 205 Ebenda. 206 Ebenda, S. 766 f.

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Die bisher veranstalteten Sammlungen kleiner Schriften Kant’s sind fehlerhaft und enthalten sogar untergeschobene Schriften. Dies bewog den Verf. schon vor mehreren Jahren, Hoffnung zu einer von ihm selbst veranstalteten Sammlung seiner zerstreuten Schriften zu machen. Bei seinen anderweitigen Arbeiten aber trug er, nach eigener Uebersicht des Ganzen, die Besorgung der Herausgabe dem Hrn. T i e f t r u n k auf.207

Zu Tieftrunks Tätigkeit als Herausgeber meinte der Rezensent (auch hier liegt die Vermutung nahe, dass Ewald aufgrund der Gründlichkeit der Rezension deren Autor ist): Dieser hat eine ausführliche und ungemein lesenswürdige Vorrede vorangeschickt, in welcher er nicht nur von dem Rechenschaft gibt, was er als Herausgeber gethan und beobachtet hat, besonders in Ansehung der allmäligen Emporarbeitung desselben zur Transscendentalphilosophie liefert, so weit sie aus dessen eigenen Werken der Zeitfolge nach abgenommen werden können.208

Weiterhin führte der Rezensent aus: H. T. versäumt aber auch nicht, die Gründe zu entwickeln, warum das Verstehen, ungeachtet der Deutlichkeit der gebrauchten Ausdrücke, seine großen Schwierigkeiten hatte, und er setzt hier, so wie in der Folge, die Hauptpunkte deutlich und gründlich auseinander, so daß diese Vorrede in der That zu einer Einleitung in die kritische Philosophie dienen kann.209

Es folgt eine genaue Auflistung der vorkritischen Schriften und der kleineren Beiträge der kritischen Periode, oft mit Angabe ihrer Ersterscheinung in Zeitschriften (z. B. in der »Berlinischen Monatsschrift«). Der Rezensent resümierte: Man wird bemerkt haben, daß unter den neuern kleinen Schriften Kant’s einige fehlen (über die Entdeckung etc. 1790 und zum ewigen Frieden), welche aber auch noch in jedem Buchladen zu haben sind. Es wäre zu wünschen, daß von denjenigen Stücken, die nicht mehr zu haben sind, auch besondere Abdrücke gemacht wären, für diejenigen, die schon mehrere von diesen Schriften besitzen. Uebrigens hat der Herausgeber, wo es nöthig schien, einige Anmerkungen beigefügt.210

Außerdem verwies der Rezensent auf die Anzeige der neuen Auflage der Schrift »Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels« (1797 in Frankfurt, Leipzig). Diese von Kant berichtigte Auflage der Schrift wurd in den GgZ (5. St. vom 16. Juni 1799) angezeigt. Am gleichen Tag wurde auf S. 39 auf den Nachdruck der Schrift von Kant »Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren« (1762, Nachdruck 1797) verwiesen. 207 GgZ, 19. St. vom 5. März 1800, S. 153. 208 Ebenda. 209 Ebenda, S. 155. 210 Ebenda, S. 157.

280 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe

1.10.

Die Rezension zu »Immanuel Kants Logik, ein Handbuch zu Vorlesungen« (hrsg. von Gottlieb Benjamin Jäsche, 1800)

Die Auftragserteilung von Kant an seinen Schüler Gottlieb Benjamin Jäsche (1762–1842), die Handschrift seiner Logik-Vorlesung, die er seit 1755 nach dem Lehrbuch von Georg Friedrich Meier (1718–1777) vorgetragen hat, sei, so der Rezensent, durch Jäsche im Wesentlichen erfüllt worden. Aber es bleiben Bedenken; denn: Es ist also nicht ganz nach dem architektonischen Entwurfe angelegt, dessen Grundlinien die Kritik der Vernunft enthält und nach welchem K. ohne Zweifel selbst gearbeitet haben würde, wenn seine übrigen Arbeiten ihm erlaubt hätten, auch diesen Theil der Philosophie selbst für das Publikum zu bearbeiten.211

Ungeachtet der Vorbehalte habe sich Jäsche an Kants Vorstellungen zur Logik (Theorie der 3 Hauptfunktionen des Denkens) gehalten. Es seien keine neuen Aufschlüsse über die »Logik« zu erwarten, da auch nach K’s Urtheile, die eigentliche Logik seit A r i s t o t e l e s an wissenschaftlicher Begründung nichts hat gewinnen können. Zwar soll, nach neuern Versuchen, auch die Logik noch einer höhern Begründung bedürfen. Mit Recht erinnert aber Hr. J. daß selbst, wenn die Logik auch höhern Grundsätzen (der Wissenschaftslehre) subordinirt wäre, sie doch im Innern ihres Bezirkes dem Wesentlichen nach unverändert bleibe.212

Zudem werde auch der mit der Logik vertraute Leser manches Bemerkenswerte finden. Der Rezensent stimmte Jäsche zu, der eine vortreffliche Entwicklung des Begriffs der »Logik« gegeben und deren Grenzen aufgezeigt habe, dass auf folgenden Kerngedanken hinzuweisen ist: Einiges, was nie genug eingeschärft werden kann, wollen wir anführen: Gesetzt, es wäre eine Philosophie wirklich vorhanden; so würde doch keiner, der sie auch lernte, von sich sagen können, daß er ein Philosoph sey. – Wer philosophiren lernen will, darf alle Systeme der Philosophie nur als Geschichte des Gebrauchs der Vernunft ansehen und als Objecte der Uebung seines philosophischen Talents. – Wir werden also zum Behuf der Uebung im Selbstdenken oder Philosophiren mehr auf die M e t h o d e unsers Vernunftgebrauchs zu sehen haben, als auf die Sätze selbst, zu denen wir durch dieselbe gekommen sind.213

Die Abweisung des Standpunktes der Nützlichkeit bezüglich der Wissenschaft wurde begrüßt, da der Mensch als Verstandeswesen der inneren logischen Vollkommenheit seiner Erkenntnisse bedarf und nicht auf das Niveau der Tiere 211 GgZ, 21. St. vom 14. März 1801, S. 169. 212 Ebenda, S. 170. 213 Ebenda. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 9, S. 25 f.

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absinken soll. Neben Hinweisen auf die Wolffsche Logik als Vorläufer der Kantischen und kritischen Anmerkungen zur Begriffsbestimmung erfolgte der lobende Hinweis auf eine »Sammlung einiger bisher unbekannt gebliebener kleiner Schriften von Immanuel Kant« (1800), die Friedrich Theodor Rink herausgegeben hat.

1.11. Die Rezension zu »Immanuel Kant über Pädagogik« (hrsg. von Friedrich Theodor Rink, 1803) Kants Bemerkungen über »Pädagogik«, die er nach der »Erziehungskunst« von Friedrich Samuel Bock gelesen hat, sind »als wahre Bereicherung der Erziehungskunst« anzusehen. Denn, so wurde aus der Vorrede von Rink zitiert: Daß Kant die neuen Ideen damaliger Zeit auch in dieser Hinsicht kannte, über sie nachdachte, und manchen Blick weiter hinausthat, als seine Zeitgenossen; das versteht sich freilich von selbst und ergibt sich auch aus diesen hingeworfenen Bemerkungen.214

Es wurde auf die Systematik der Schrift eingegangen, die von der Definition des Begriffs, des Grundsatzes und der Einteilung der Erziehungskunst ausgeht. – Kritik an mechanischer Erziehung, diese müsse »judiciös« werden, »wenn sie die menschliche Natur so entwickeln soll, daß sie ihre Bestimmung erreiche.« 215 Der Mechanismus der Erziehung müsse sich in Wissenschaft verwandeln. – Der Plan der Erziehung müsse auf die Zukunft orientiert sein: Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich bessern Zustande des menschlichen Geschlechts, d. i. der Idee der Menschheit, und deren ganzer Bestimmung angemessen, erzogen, die Anlage zu einem Erziehungsplane muss kosmopolitisch gemacht werden.216

– Die Entwicklung zur »Disziplinirung, Civilisirung (Kultur)« und »Moralisi rung« des gesellschaftlichen Menschen (im Sinne der »Idee der Menschheit«); – er soll nicht blos zu allerlei Zwecken geschickt seyn, sondern auch die Gesinnung bekommen, daß er lauter gute Zwecke erwähle. 217

– Eine Kultur der Gemütskräfte und des Körpers sei grundlegendes Erfordernis für die Ausbildung des moralischen Charakters. 214 GgZ, 72. St. vom 7. September 1803, S. 609. 215 Ebenda, S. 610. 216 Ebenda. 217 Ebenda.

282 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe – Kritische Bemerkung des Rezensenten: Herr R. gibt keine Nachricht von der Art, wie er sein Mspt. bearbeitet hat, ob sein Buch ein bloßer Abdruck, oder etwas darin von ihm verändert worden ist. 218

– Es wurde die Forderung erhoben, die Materialien planmäßiger zu ordnen, z. B. die negative und positive Erziehungskunst nicht mehr getrennt zu behandeln. – Ein Grundgedanke des pädagogischen Wirkens sei: Die Gemüthskräfte werden am besten dadurch kultivirt, wenn man alles selbst thut, was man leisten will [...].219

– In der Ausbildung der Vernunft muß man sokratisch verfahren. [...] Doch muß man überhaupt dahin sehen, daß man nicht Vernunftkenntnisse in sie [die Kinder – H. S.] hineintrage, sondern dieselben aus ihnen heraushebe. Die sokratische Methode sollte bei der katechetischen die Regel ausmachen. 220

– Die moralische Erziehung erfordere die Bildung des Charakters, d. h. die Fähigkeit, nach Maximen zu handeln. Im Anfange gehorcht das Kind Gesetzen. Maximen sind auch Gesetze, aber subjektive; sie entspringen aus dem eigenen Verstande des Menschen.221

– Gehorsam (freiwilliger), Wahrhaftigkeit (gegen Notlüge) und Geselligkeit – Grundlage für Geschicklichkeit, Weltklugheit und Sittlichkeit des Individuums. – Kants Forderung nach einem Katechismus des Rechttuns, um das Recht des Menschen zu sichern und zu vervollkommnen, erfordere eine »Casuistik des Menschenrechts«.222 Gerade zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der pädagogischen Vorstellungen Kants (1803) zeigte Ewald, dass er auch in der Beurteilung von individuellem Verhalten die Prinzipien der kritischen Philosophie zugrundelegt: Der Mensch vermag durch vernunftgeleitete Maximen seines Handelns seine »Gemüthskräfte« und damit seinen »Charakter« zu kultivieren. Zu einer derartigen Stellungnahme wurde Ewald veranlasst, als er den Sohn des Hamburger Kaufmanns, den sechzehnjährigen Martin Hieronymus Hudtwalcker (1787–1865), den späteren Hamburger Senator, von Juni 1803 bis Mai 1805 in seine Familie zur Betreuung aufnahm. Er ermöglichte ihm den Besuch der Selekta des bekannten Gothaer Gymnasiums Ernestinum, unter dessen Lehrerschaft den jungen Hudtwalcker Friedrich Jacobs (1764–1847), ein »Universalist« der klassischen Philologie, am stärksten beeindruckte. 218 Ebenda, S. 611. 219 Ebenda, S. 612. 220 Ebenda, S. 613. 221 Ebenda. 222 Ebenda, S. 614.

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In seinen Erinnerungen beschrieb Hudtwalcker seinen Pensionsvater: [Ich] ward in Gotha bei einem auch als Schriftsteller, z. B. durch drei Bände über das menschliche Herz, Erfurt 1784, bekannten in vielem Betracht sehr wackeren Manne in Kost und Auftsicht gegeben. Es war dies der Hofsekretär, nachmalige Rat Ewald, ein langer, sechszigjähriger, aber noch sehr rüstiger Kantianer. Obgleich auch mit den Musen befreundet, war dieser Mann doch durchaus undichterisch und ohne Begeisterung für die freilich schwachen Hoffnungen, welche die Jugend Deutschlands damals empfinden konnte. Er teilte weder die politischen noch die romantischen Schwärmereien seines jungen Hausgenossen, zu dessen nicht geringen Verdrusse. Und doch schwärmte auch er! Er sah Bonaparte schon in England gelandet, die Guelphen vom Thron gestoßen und den Frieden wieder hergestellt.223

Als der junge Hudtwalcker während dieser Zeit an Lungenentzündung erkrankte und sich sein ausgeprägtes aktives Verhalten zu einem krankhaften Zustand steigerte, nahm Ewald brieflichen Kontakt zum Vater auf. Im Antwortbrief an den Vater erklärte Ewald: Sonderbar ist es, daß auch Sie die Bemerkung, so wie wir, von Martins Heftigkeit gemacht haben. Sein Naturell ist und war schon im gesunden Zustande und als er zu uns kam, lebhaft und eifrig; was er that, that er mit ganzem Gemüth, aber doch bei Weiten nicht in dem Grade, wie nach seiner Krankheit. Er muß es auch selbst wissen, daß wir ihm bei vorgekommener Veranlassung diese Bemerkung oft gemacht haben. Sollte diese Heftigkeit von einem physischen Reiz herrühren, so läßt sich demselben durch physische Mittel wohl abhelfen; ich meine aber, diese Reizbarkeit über die Gebühr läßt sich auch durch strenge Herrschaft des Willens über jene Antriebe verbessern und in den alten Gang seiner ursprünglichen Natur zurückführen; denn Geist und fester Vorsatz vermögen doch erstaunlich viel über das Physische des Menschen. Sagen Sie ihm das, wie ich es ihm schon gesagt zu haben glaube, das Mittel ist zwar nicht aus der Apotheke, aber nach eigener und vieler anderer Menschen Erfahrung probat. Die Veränderung des Charakters darf schlechterdings nicht die Folge eines überstandenen physischen Leidens sein und bleiben, sie ist die Sache unseres starken oder schwachen Willens. Und ich habe zu Martin das gute Zutrauen, daß er, d. i. seine Vernunft, sein Wille, über das, was nicht sein eigentliches Selbst ist, zu herrschen oder die Herrschaft zu gewinnen verstehen wird.224

Hier offenbarte Ewald seine ganz eigene und tief verinnerlichte Zustimmung zu den Erkenntnissen der kritischen Philosophie und den Lebensmaximen Kants, 225 die seine Geisteshaltung und sein praktisches Verhalten lebenslang bestimmten. 223 Zitiert nach: Schmidt-Ewald, Das Gothaer Gymnasium in Hamburger Sicht, S. 4. 224 Ebenda, S. 10 f. 225 Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 100 f. Kant erklärte: »Diese [die Heilkunst – H. S.] ist alsdann philosophisch, wenn bloß die Macht der Vernunft im Menschen, über seine sinnliche Gefühle durch einen sich selbst gegebenen Grundsatz Meister zu sein, die Lebensweise bestimmt. Dagegen, wenn sie diese Empfindungen zu erregen oder abzuwehren die Hilfe außer sich in körperlichen Mitteln (der Apotheke, oder der Chirurgie) sucht, sie bloß empirisch und mechanisch ist.«

284 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe

1.12. Der »Nekrolog. Immanuel Kant« vom 7. März 1804 in den GgZ Dieser Nekrolog auf Immanuel Kant, der drei Wochen nach dem Ableben des Königsberger Philosophen (12. Februar 1804) erschien, stellt eine herausragende Würdigung der Persönlichkeit und der epochalen Leistung Kants durch einen Zeitgenossen dar. Während andere Publikationsorgane lediglich über den Tod Kants und die Trauerfeierlichkeiten informierten, 226 veröffentlichte das gotha­ ische Journal eine ausgewogene und differenzierte Beurteilung über das Wirken von Kant als Mensch, als Wissenschaftler und Philosoph sowie als Lehrer der selbst zu gestaltenden Gesellschaftlichkeit des Menschen in einer göttlichen Weltordnung.227 Der Nekrolog ist ganz an der von Friedrich Schlichtegroll im Jahre 1790 in Gotha begründeten Tradition des »Nekrologs der Teutschen« (ab 1802) orientiert. Obwohl die Verfasser von Rezensionen und Anzeigen auch in den GgZ nicht genannt wurden und nicht dokumentiert sind, kann davon ausgegangen werden, dass Ewald als Redakteur der Zeitschrift und da er der beste Kenner des kritischen Systems Kants in Gotha war, der Verfasser dieses Nachrufs ist. Dafür sprechen dessen Gesamtanlage, die Setzung der Schwerpunkte, der Stil des Beitrags, die literarischen Bezüge (Vergil) und die metaphorischen Vergleiche aus der Vorstellungswelt der Freimaurer. Der resümierende Blick Ewalds auf Kants Habitus und sein Werk ist sowohl durch seine kontinuierliche Rezeption des kritischen Denkens des Philosophen geprägt als auch durch seine eigenständige Anwendung dieser Grundsätze in seinen naturreligiösen, moralphilosophischen und staatstheoretischen Darlegungen. Zum ersten Schwerpunkt: Ewald sah in Kant eine Persönlichkeit, der es durch einfache und natürliche Lebensgestaltung sowie durch diszipliniertes Streben und Handeln gelungen war, die vorgenommene Zielsetzung unter den irdischen Bedingungen erreicht zu haben: N e k r o l o g. I m m a n u e l K a n t. Den 12. Februar Mittags 11 Uhr starb in Königsberg an völliger Entkräftung im achtzigsten Jahre s. A. I m m a n u e l K a n t. Bey einer höchst einfachen, ruhigen und einförmigen, durch keine heftigen Leidenschaften erschütterten Lebensweise, bei einer harmonischen Ausbildung seiner ganzen Natur und einer großen Macht seines Gemüths, seinen eignen Körper zu beherrschen (die er in seiner bekannten Schrift über diesen Gegenstand beurkundet hat) brachte er sein Leben bis zum höchsten Greises-Alter. Freilich waren seine letztern Jahre ein allmähliges Absterben aller Kräfte seines großen Geistes und seines Körpers, und der Tod war schon lange der Gegenstand seiner Sehnsucht. Obgleich Menschenfreund in hohem Grad, 226 Vgl. Intelligenzblatt der ALZ, Nr. 36 vom 3. März 1804, Sp. 286; ALZ, Nr. 47 vom 24. März 1804, Sp. 380 f. 227 Vgl. Schröpfer, Der »Nekrolog. Immanuel Kant«, S. 279–285.

Rezensierung Immanuel Kant 1791–1804

285

hatte er doch immer das Leben als ein im Ganzen verächtliches Spiel und Getriebe von Leidenschaften und Thorheiten angesehen, das kein Vernünftiger noch einmal von vorn durchzuspielen wünschen könne228 und so muste ihm die Versetzung »von diesem niedern Globen in die Unsterblichkeit«, in einen andern, bessern Stern, wünschenswerth seyn, wohin, wie er ahndete, diejenigen entrückt werden dürften, die hier ihre Rolle nicht schlecht gespielt hätten. Welch’ ein Himmel muste auch in dem Herzen des Mannes seyn, der mit dem Selbstgefühl abtreten konnte: Vixi, et, quem dederat cursum fortuna, peregi: Et nunc magna mei sub terras ibit Imago. Urbem praeclaram statui: mea moenia vidi.229

Zum zweiten Schwerpunkt: Ewald verehrte Kant als philosophischen und wissenschaftlichen Selbstdenker, der durch die Konstitution seines Systems dem Menschen als Subjekt seines Erkennens und Handelns eine realistische Welterklärung und Selbstgestaltung seiner Existenz aufzeigte. Insbesondere verinnerlichte er Kants Grundlegung der Moralität, die für ihn die notwendige und unabdingbare Basis zur Realisierung von praktischer Humanität in allen Formen der menschlichen Gemeinschaft darstellte: Er hatte ja das weitläuftige Gebiet der Philosophie im Laufe eines langen, einzig der verborgenen Weisheit gewidmeten Lebens mit seltnem Tiefsinn durchforscht und ausgemessen, seine Grenzen abgesteckt, feste Fundamente gelegt und ein Gebäude errichtet, das er selbst noch vollendet erblickte und das die Bewunderung aller Zeiten seyn wird. Wie Aristoteles umfaßte er alle Theile der Philosophie mit seinem Geiste; seine Naturgeschichte des Himmels, die Anfangsgründe der Metaphysik der Natur u. a. Schriften verkündigen den scharfdenkenden Mathematiker und Physiker; Metaphysiker war er im prägnantesten Sinne des Wortes; seine Critik der theoretischen und praktischen Vernunft war das Feldgeschrey zum Erwachen der Vernunft. Wie er überall in die philosophische Speculation, statt leichter, oberflächlicher Declamation, Gründlichkeit und Strenge der Beweise einführte, so hat er insonderheit in der praktischen Philosophie durch sein Anstreben gegen den Geist einer laxen Zeit=Moral und durch den unerbittlichen Ernst des categorischen Imperativs eine der Wissenschaft nothwendige und selbst den Sitten wohlthätige Revolution hervorgebracht. Seine Critik der Urtheilskraft untersucht, ihrem ästhetischen Theil nach (Critik der ästhetischen Urtheilskraft), ein Feld, welches der Verf. vielleicht verhältnißmäßig am wenigsten das seine nennen konnte: aber auch hier sah man, wie der hohe Genius selbst über Gegenden, in denen der Verf. nicht ganz einheimisch schien, Licht zu verbreiten weiß, und die größten Aesthetiker und Dichter unsrer Tage, die Göthe, die Schiller u. a. haben von ihm gelernt und seine Ideen verarbeitet. In seiner Anthropologie, seiner Pädagogik und physischen Geographie bemerkt man überall den originellen Denker und den 228 Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 434. 229 GgZ, 19. St. vom 7. März 1804, S. 169. Vergil, Aeneis, VI, S. 653–655. Übersetzung in: Vergil, Sämtliche Werke, hrsg. und übers. von Johannes und Maria Götte, München 1972, S. 195. Aus: Klage der Königin Dido: »Habe gelebt und den Lauf, den Fortuna verliehen, vollendet, unter die Erde wird jetzt erhaben wandeln mein Abbild. Ich erbaute die Stadt, ich sah meine Mauern [...].«

286 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe kenntnißreichen Kopf. Seine »Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft« war ein Erzeugniß, das zum Theil nach Local- und Zeit=Verhältnissen beurtheilt werden muß. Dieses und die Schrift »über den Streit der Facultäten« ist unter den seinigen am reichsten an Paradoxen, wiewohl er überall von einem Hange zu diesen nicht frey zu sprechen ist, einer Folge seiner Genialität. Seine sämtlichen Schriften – ihrer ist eine große Zahl – verkündigen einen so reichen, vielseitig gebildeten, auch mit einem so großen Schatz empirischer Wissenschaften ausgerüsteten Geist, wie nach Leibnitz keiner gewesen ist.230

Zum dritten Schwerpunkt: Ewald war tief beeindruckt von Kants selbstlosem Tätigsein im Dienste der Wahrheit, der Gemeinschaft und einer Weltordnung, die er von einer höchsten Vernunft geprägt sah. Sein Wirken als Autor, als akademischer Lehrer sowie als Freund und Förderer von Gleichgesinnten war für Ewald ein herausragendes Beispiel für ein erfülltes Lebenswerk, das kommenden Generationen als Vorbild diente: Aber der Weise von Königsberg war nicht blos ein Weiser für die Schule, er war es auch für das Leben. Bei einem der Berufspflicht und der Wissenschaft geweihten Leben, verschmähte er nicht die feinen Lebensgenüsse, im täglichen Umgang mit Menschen nach seinem Herzen und bei sokratischen Mahlen. Seine unerschöpfliche Unterhaltungsgabe hatte ihn zum Liebling aller Gesellschaften gemacht. Aber er bildete um sich nach und nach einen geweihtern Cirkel ausgezeichneter Menschen, aus welchen Hippel vor einigen Jahren abschied. Bei höchst mäßigen Einkünften machten es ihm seine Wirthschaftlichkeit und seine mäßigen Bedürfnisse möglich, dürftige Mitglieder seiner Familie reichlich zu unterstützen, zu gemeinnützigen Anstalten theilnehmend beizutragen und die edelste Gastfreundschaft zu üben. Er heirathete nie und lebte in philosophischer Stille. Schlicht und fromm war sein Wandel, und, ob er gleich, seinem System nach, derjenigen Mystik nicht huldigte und nicht huldigen konnte, die unmittelbare Berührungen mit der Gottheit für möglich hält, und er jeder Schwärmerei abgesagter Feind war, so neigte sich sein Herz doch zu der echten Mystik oder dem religiösen Sinn und zu einer gewissen Art von Pietismus. Der Beifall, den er in einer langen Reihe von Jahren als akademischer Lehrer genoß, der Tribut der lauten Bewunderung seiner in seinem Alter erschienenen langsam gereiften Werke, den ihm die Nation zollte, konnten seinen bescheidnen Sinn eben so wenig aus seinem Gleichgewicht bringen, als der Tadel und die zahllosen Befehdungs=Schriften seiner Gegner. Er ließ sich fast nie auf Streitigkeiten ein, sondern überließ, nachdem er seine Ueberzeugung öffentlich niedergelegt hatte, den Erfolg von allen dem der Zeit, den Umständen und der Kraft der Wahrheit. Diese hat gesiegt, die Schlacken abgesondert, und das reine Metall ist geblieben. Ephemere Systeme hat uns die letzte Decade ohne Zahl gebracht; aber es waren Meteore, die da kamen und gingen. Auch Kant hat den Schleier der Isis nicht ganz weggenommen; – und welcher Sterbliche vermöchte das? – er hat ihn nur gelüftet. Möge es nun auch in der Zukunft so ernste, so tiefsinnige, so redliche Forscher der geheimen Wahrheit geben; nur solchen, darf man hoffen, wird sie sich in ihrer wahren Gestalt zeigen!231 230 GgZ, 19. St. vom 7. März 1804, S. 170. 231 Ebenda, S. 170 f.

Rezensierung Immanuel Kant 1791–1804

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Es muss eine Genugtuung für Ewald gewesen sein, dass dieser Nekrolog der GgZ in Königsberg zur Kenntnis genommen worden ist. Es war Reinhold Bernhard Jachmann, einer der ersten Biographen des Verstorbenen aus dem Kant-Kreis, der in seiner Schrift »Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund« (1804) erklärte, dass er bei Kant zu keiner Zeit mystische Vorstellungen oder ein mystisches Gefühl festgestellt habe. Deshalb merkte Jachmann zum Gothaer Nachruf an: Ich muß daher dem Nekrolog in dem 19. Stück der Gothaischen gelehrten Zeitung dieses Jahres widersprechen, wenn er behauptet: »Kant habe einer gewissen feinern Mystik angehangen.« 232

Weiterhin kritisierte Jachmann die im Nekrolog dargelegte Meinung zur zeitbedingten Entstehung der religionsphilosophischen Schrift Kants: Nur muß ich bei dieser Gelegenheit der Äußerung des obgedachten Nekrologs auch darin widersprechen, daß Kant seine »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« gewisser Zeitumstände wegen geschrieben habe.233

Die kritischen Bemerkungen Jachmanns schmälern in keiner Weise das Verdienst Ewalds, nach dem Ableben Kants als Erster mit einer Würdigung der Gesamtleistung des Verstorbenen an die Öffentlichkeit getreten zu sein. Im Gegenteil, er gab damit ein Signal bzw. den Auftakt zur permanenten Auseinandersetzung mit dem Leben und Werk Kants als wegweisendem Denker für die auf Humanität gegründete Selbstorganisation der Menschheit. Erstaunlich ist, dass die Grundzüge des Urteils über Kant, die Ewald als Zeitgenosse hervorhob, im Wesentlichen ihre Gültigkeit bewahrt haben. Selbstverständlich haben sie durch die traditionsreiche und aktuelle Forschungsarbeit über Kants Werk und seine Wirkung eine differenzierte Vertiefung und Präzisierung erfahren.

1.13. Die Rezensionen zu den Biographien von Immanuel Kant 1.13.1. Ehregott Andreas Christoph Wasianski: »Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren« (1804) Dem Untertitel der Schrift entsprechend (»Ein Beytrag zur Kenntniß seines Charakters und häuslichen Lebens aus dem täglichen Umgange mit ihm« 234), 232 Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen: Die Biographien von L. E. Borowski, R. B. Jachmann und E. A. Ch. Wasianski, hrsg. von Felix Groß, Nachdruck mit Einleitung von Rudolf Malter, Darmstadt 1993, S. 149 f. 233 Ebenda, S. 150. 234 GgZ, 77. St. vom 25. September 1804, S. 649.

288 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe nutzte der Rezensent die Möglichkeit, Wasianskis Darstellung der Persönlichkeit Kants wärmstens zu empfehlen. Denn sie rühre aus der Feder eines Mannes, der lange Zeit Kants persönliche Bekanntschaft genoß, dessen uneingeschränktes Zutrauen besaß und dem Kant in den letzten Jahren seines Lebens die Aufsicht über seine Person, sein Hauswesen und sein Vermögen anvertraute, welcher derselbe sich auf die edelste, überlegteste und uneigennützigste Weise unterzog.235

Man erfahre hier manches Charakteristische über den »Verewigten von Seiten seines Geistes und Herzens«.236 Alles trage das Gepräge der Wahrheit und der Unparteilichkeit, da der Verfasser der Amanuensis von Kant in den siebziger Jahren war und die Bekanntschaft 1790 erneuert wurde. Wenn auch aus dieser Schrift, so der Rezensent, keine Vertiefung über die Philosopheme des Kantischen Systems zu erfahren seien, so informiert die Rezension auf drei Druckseiten über dargestellte Begebenheiten, die Kant dem Leser als Menschen (Elternhaus, Geselligkeit u. a.) nahebringen. Die Rezension schließt mit einer Bemerkung zu Kants Reflexionen in seiner letzten Lebensphase: Sein letztes Werk, das vom Uebergange der Metaphysik der Natur zur Physik handeln sollte, ist unvollendet geblieben. Nach dem Urtheil des Hrn. H. P. S. (Hofpred. Schultz) ist es nur der Anfang eines Werks, dessen Einleitung noch nicht vollendet, und das der Redaktion nicht fähig ist. Dies mag genug seyn, um unsere Leser selbst zur Lesung dieser interessanten Schrift zu reizen. Auch wird gewiß keiner derselben sie aus den Händen legen, ohne dem trefflichen Verfasser für den thätigen und überlegten Beystand, den er dem verewigten Weisen in den letzten Jahren und bey der Abnahme seiner Kräfte geleistet hat, den gerührtesten Dank zu zollen.237

1.13.2. Ludwig Ernst Borowski: »Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kants« (1804) Die Rezension gibt einen Überblick über Borowskis Anliegen, in drei Abteilungen das Leben Kants, sein Werk und die Abfolge seiner Schriften vorzustellen. Ursprünglich von ihm als »Skizze« für eine Rede entworfen, legte er sie Kant vor, der einiges ausstrich, änderte und zusetzte, sich aber sowohl die Vorlesung als den Druck derselben bey seinen Lebzeiten verbath, welches denn auch unterblieb. In der von K. veränderten Gestalt erscheint die Skizze nun hier. Die durchstrichenen und abgeänderten Stellen hat aber der Verf. dennoch in Noten beygebracht. Nur auf die erste Abtheilung beziehen sich die Worte auf dem Titel: v o n K a n t s e l b s t g e n a u r e v i d i r t u n d b e r i c h t i g e t.« 238

235 Ebenda, S. 650. 236 Ebenda. 237 Ebenda, S. 656. 238 GgZ, 98. St. vom 8. Dezember 1804, S. 826.

Rezensierung Immanuel Kant 1791–1804

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Sie informiert über Kants Leben und Wirken bis 1792. Die zweite Abteilung setzt die »Nachrichten« bis zum Tode Kants fort. Die dritte Abteilung, die Aufstellung seiner Schriften, endet mit der Bemerkung: Die erste [Schrift – H. S.], mit welcher er in seinem 22sten Jahre seine literarische Laufbahn antrat, ist die: G e d a n k e n v o n d e r w a h r e n S c h ä t z u n g d e r l e b e n d i g e n K r ä f t e.239

Unter den umfangreichen Hinweisen des Rezensenten auf die von Borowski dargestellten Ereignisse und Aktivitäten im letzten Lebensabschnitt Kants hob er dessen Einsatz für den jungen Fichte (1791) besonders hervor. Einen augenscheinlichen Beweis für die auch in Gotha existierende Sympathie für Kant und sein philosophisches Schaffen lieferte die Bemerkung des Rezensenten, die sich auf die bildliche Darstellung der Person Kants bezieht: Zu den Medaillen, Kupferstichen und andern Bildnissen von Kant fügen wir noch hinzu, daß in der hiesigen Porcellanfabrik, die sich besonders durch schöne Formen und Mahlerey auszeichnet, weiße Tassen mit Kants Brustbild in Relief verfertiget wurden, von welchen Anzeiger dieses selbst ein Exemplar besitzt.240

Der Rezensent ging auf diejenigen Aspekte in Borowskis Darstellung ein, die die Zielstrebigkeit und die Konsequenz Kants hinsichtlich des systematischen Durchdenkens der Probleme belegen. So die Bemerkung zu den äußeren Umständen der Entstehung des Kantschen Hauptwerks: Der Entwurf zu seiner Kritik der reinen Vernunft ist, wie Kant selbst erzählt hat, hauptsächlich auf dem sogenannten philosophischen Gange, auf welchem K. fleißig spatzieren ging, gemacht worden; an einem Orte also, wo man bey dem herumwandelnden Philosophen eher Erholung und Abspannung von der Arbeit, als solche tiefe Spekulationen geahnet hätte.241

Die Rezension endet mit Hinweisen auf Borowskis kritische Äußerungen zu Kants Haltung zur christlichen Religion und ihrer Ausübung: Zuletzt noch von Kants Meynungen und Benehmen in Ansehung der positiven, besonders der christlichen Religion, deren Misbilligung der Verf. durch Wünsche ausdrückt. Er wünscht z. B. daß Kant Jesum nicht blos für ein personificiertes Ideal der Vollkommenheit, sondern für den hinlänglich beglaubigten Gesandten und Sohn Gottes, für den Heiland der Menschen laut und öffentlich declarirt, daß er dem öffentlichen Cultus beygewohnt und an den seegensvollen Stiftungen unsers Herrn Antheil genommen haben möchte u.s.w.242

239 240 241 242

Ebenda, S. 827. Ebenda, S. 827 f. Ebenda, S. 831. Ebenda, S. 831 f.

290 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe 1.13.3. Reinhold Bernhard Jachmann: »Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund« (1804) Die Rezension beginnt mit der Feststellung: Herr J a c h m a n n hat einen vieljährigen genauen Umgang mit Kant gehabt und er gibt die Versicherung, daß er alles, was man in diesen Briefen lesen werde, aus dem Munde Kants selbst gehört und in seinem nahen freundschaftlichen Umgange mit ihm selbst bemerkt und erfahren habe. Es ist ihm in diesen Briefen, deren 18 sind, um getreue Darstellung der merkwürdigsten Umstände von K’s Leben zu thun.243

Es wurden die vom Rezensenten gewählten Titel der 18 Briefe genannt. Auf den folgenden Seiten wurden die Entwicklung Kants und seiner Persönlichkeit in wichtigen Aspekten vorgestellt. So wurde herausgehoben: Kant besaß ein seltnes Sach- und Wortgedächtniß, auch eine bewundernswürdige innere Anschauungs- und Vorstellungskraft.

Als Beispiel wurde seine genaue Beschreibung der »Westmünsterbrücke« genannt. Auf Jachmanns Schilderung von Kants mitreißendem Vortrag über die reine Tugendlehre wurde eingehend hingewiesen. Kant habe seine Hörer aus den Fesseln des Eudämonismus zu dem hohen Bewußtsein der reinen Willensfreyheit, zum unbedingten Gehorsam gegen das Vernunftgesetz und zu dem Hochgefühl einer uneigennützigen Pflichterfüllung

geführt.244 Ferner wurde auf Kants unentwegtes Interesse an wissenschaftlichen Ergebnissen und neuen Wissensgebieten aufmerksam gemacht. K. hatte nach seinem 60sten Jahre ganz besonders die Chemie liebgewonnen und studirte die neuen chemischen Systeme mit dem grösten Eifer.245

Aus den »Anekdoten« über Kant wählte der Rezensent das Zustandekommen der Freundschaft zwischen Kant und dem in Königsberg lebenden englischen Kaufmann Joseph Green (1712–1786) aus. Beide sind sich, und das wird betont, durch die Diskussion um die Bewertung des amerikansichen Unabhängigkeitskrieges nähergekommen. Ihre vertraute Freundschaft bestand bis zum Tode von Green und war für Kants Schaffen bedeutsam. Denn: Kant, setzt der V. hinzu, fand in Green einen Mann von vielen Kenntnissen und von so großem Verstande, daß er mir selbst versicherte, er habe in seiner Kritik der reinen Vernunft keinen einzigen Satz niedergeschrieben, den er nicht zuvor seinem Green vorgetragen und von dessen unbefangenem und an kein System gebundenem Verstande hätte beurtheilen lassen.246 243 244 245 246

GgZ, 99. St. vom 12. Dezember 1804, S. 833. Ebenda, S. 835. Ebenda, S. 834. Ebenda, S. 837.

Entwurf eines Staats- und Rechtssystems

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Auf die Kritik von Jachmann am »Nekrolog. Immanuel Kant«, der am 7. März 1804 in den GgZ erschienen war, hinsichtlich der Annahme, dass mystische Aspekte in den Religionsvorstellungen von Kant zu erkennen seien, 247 reagierte der Rezensent nicht. Bis zur letzten Ausgabe und bis in die letzten Zeilen hinein blieben die GgZ unter der Redaktion von Ewald ihren Grundsätzen zur Beförderung der Aufklärung und des Selbstdenkens der Bürger treu. Die vierseitige Rezension zu der von dem Kantianer Paul Johann Anselm Feuerbach 248 verfassten Schrift »Ueber Philosophie und Empirie in ihrem Verhältnisse zur positiven Rechtswissenschaft. Eine Antrittsrede« (Landshut 1804, 100 S.) gipfelte – auf der vorletzten Seite der letzten Ausgabe der Zeitschrift (29. Dezember 1804) – in ungebrochener Kantischer Tradition in der Erkenntnis, dass auch die theoretische und praktische Wirkung der Rechtswissenschaft auf der ausgewogenen Handhabung der Einheit von philosophisch-theoretischen Prinzipien und realitätsgerechten empirischen Untersuchungen beruht. Der Rezensent schloss: Endlich ist auch nur der philosophische Rechtsgelehrte (weder der bloße empirische Rechtsgelehrte, noch der bloße Rechtsmetaphysiker) zum Rathgeber für den Gesetzgeber des Staates berufen. Denn nur er weiß das Nothwendige neben dem Wirklichen, neben dem was ist, auch das, was seyn und werden soll; er kennt das Vorhandene und seine Mängel, und weiß daher, wo zu verbessern sey; er kennt außer den Gesetzen des Staats auch das ewige Gesetz der Gerechtigkeit, und weiß also, wie sie zu bessern sind u.s.w.249

Unter diesem Grundgedanken verfasste Ewald in den neunziger Jahren seine staatstheoretischen Schriften.

2. Der Entwurf eines Staats- und Rechtssystems von Ewald 2.1. Die staats- und rechtsphilosophische Interpretation der Moralphilosophie Kants Zur Anonymität der Ewaldschen Schrift Zu Beginn der neunziger Jahre begann Ewald, die moralphilosophischen Grundsätze Kants, die er in seiner Zeitschrift aufmerksam rezensiert hatte, als Fundament seiner staats- und rechtstheoretischen Überlegungen zugrunde zu 247 Immanuel Kant, Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen, S. 149 f. 248 Der junge Feuerbach begann das Studium der Philosophie Kants 1792 in Jena bei Karl Leonhard Reinhold. 249 GgZ, 104. und letztes Stück vom 29. Dezember 1804, S. 886 f.

Entwurf eines Staats- und Rechtssystems

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Auf die Kritik von Jachmann am »Nekrolog. Immanuel Kant«, der am 7. März 1804 in den GgZ erschienen war, hinsichtlich der Annahme, dass mystische Aspekte in den Religionsvorstellungen von Kant zu erkennen seien, 247 reagierte der Rezensent nicht. Bis zur letzten Ausgabe und bis in die letzten Zeilen hinein blieben die GgZ unter der Redaktion von Ewald ihren Grundsätzen zur Beförderung der Aufklärung und des Selbstdenkens der Bürger treu. Die vierseitige Rezension zu der von dem Kantianer Paul Johann Anselm Feuerbach 248 verfassten Schrift »Ueber Philosophie und Empirie in ihrem Verhältnisse zur positiven Rechtswissenschaft. Eine Antrittsrede« (Landshut 1804, 100 S.) gipfelte – auf der vorletzten Seite der letzten Ausgabe der Zeitschrift (29. Dezember 1804) – in ungebrochener Kantischer Tradition in der Erkenntnis, dass auch die theoretische und praktische Wirkung der Rechtswissenschaft auf der ausgewogenen Handhabung der Einheit von philosophisch-theoretischen Prinzipien und realitätsgerechten empirischen Untersuchungen beruht. Der Rezensent schloss: Endlich ist auch nur der philosophische Rechtsgelehrte (weder der bloße empirische Rechtsgelehrte, noch der bloße Rechtsmetaphysiker) zum Rathgeber für den Gesetzgeber des Staates berufen. Denn nur er weiß das Nothwendige neben dem Wirklichen, neben dem was ist, auch das, was seyn und werden soll; er kennt das Vorhandene und seine Mängel, und weiß daher, wo zu verbessern sey; er kennt außer den Gesetzen des Staats auch das ewige Gesetz der Gerechtigkeit, und weiß also, wie sie zu bessern sind u.s.w.249

Unter diesem Grundgedanken verfasste Ewald in den neunziger Jahren seine staatstheoretischen Schriften.

2. Der Entwurf eines Staats- und Rechtssystems von Ewald 2.1. Die staats- und rechtsphilosophische Interpretation der Moralphilosophie Kants Zur Anonymität der Ewaldschen Schrift Zu Beginn der neunziger Jahre begann Ewald, die moralphilosophischen Grundsätze Kants, die er in seiner Zeitschrift aufmerksam rezensiert hatte, als Fundament seiner staats- und rechtstheoretischen Überlegungen zugrunde zu 247 Immanuel Kant, Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen, S. 149 f. 248 Der junge Feuerbach begann das Studium der Philosophie Kants 1792 in Jena bei Karl Leonhard Reinhold. 249 GgZ, 104. und letztes Stück vom 29. Dezember 1804, S. 886 f.

292 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe legen. Er war überzeugt, dass eine vernunftgeprägte und harmonische Gestaltung der Beziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft nur auf der Basis der Akzeptanz und der konsequenten Anwendung des Kantischen Moralgesetzes möglich ist. – »Justa Imperia sunto.« Gerecht sollen die höchsten Gewalten sein! Das war der Leitgedanke, den Ewald auf dem Titelblatt seiner Schrift »Von dem Staate und den wesentlichen Rechten der höchsten Gewalt« (Göttingen 1794, 360 S.) voranstellte. Es waren offensichtlich die kritische Substanz der Konzeption der Schrift, die aufgezeigten Missstände und die Probleme in der gesellschaftlichen Praxis sowie die Vorschläge zur Reformierung der Staatsund Rechtsordnung, die Ewald veranlassten, die Schrift anonym in Göttingen bei Johann Christian Dieterich erscheinen zu lassen und nicht bei einem ihm bekannten Verleger, wie Ettinger in Gotha oder Bertuch in Weimar.250 Vermutlich war es nicht zuletzt Ewalds frühe Bekanntschaft mit dem in Göttingen erfolgreich wirkenden Verleger Johann Christian Dieterich (1722–1800), die es ihm ermöglichte, seine Schrift zu veröffentlichen, ohne ihn als Autor zu nennen.251 Denn Dieterich, der als Kaufmann in Berlin und später in Gotha ein Seiden­warengeschäft betrieb, übernahm nach der Heirat mit der Tochter des Gothaer Buchhändlers und Hoflieferanten Johann Paul Mevius im Jahre 1752 dessen Buchhandlung. Es gelang ihm, mit der Edition des »Gothaischen Hofkalenders« (»Almanach de Gotha«), der von 1765 bis 1775 erschien, überregionale Anerkennung zu erreichen. Da zu dieser Zeit an der Universität Göttingen das Interesse an einer weiteren Universitätsbuchhandlung aufkam, haben die an der Universität Göttingen wirkenden Professoren Johann Stephan Pütter und Gottfried Achenwall, die offizielle bzw. verwandtschaftliche Beziehung zu Gotha hatten, Dieterich zur Eröffnung einer zweiten Universitätsbuchhandlung empfohlen. Eine befördernde Rolle spielte Ludwig Christian Lichtenberg, der Bruder von Georg Lichtenberg, der am Gothaischen Hof wirkte und u. a. dem Naturalienkabinett vorstand. 1760 eröffnete Dieterich in Göttingen eine Filiale, erwarb 1770 dort eine Druckerei und siedelte 1776, nachdem er die Gothaer Buchhandlung an seinen Geschäftsführer Carl Wilhelm Ettinger verkauft hatte, nach Göttingen über. Er wurde zu einem der erfolgreichsten Verleger seiner Zeit, u. a. von Georg Christoph Lichtenberg. Die produktiven Beziehungen zu seinen Gothaer 250 Die Universitätsbibliothek Göttingen weist Ewald als Autor der genannten Schrift aus. Auf dem Titelblatt ist sein vollständiger Name unter dem Titel in handschriftlicher Eintragung erfolgt, deren Schriftzug auf den Beginn des 19. Jahrhunderts orientiert. Die Universitätsbibliotheken Bayreuth, Leipzig und Tübingen nennen die Schrift ohne Angabe des Autors. Vgl. die Angabe des Autors dieser Schrift in: Spinoza im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts, hrsg. von Eva Schürmann / Norbert Waszek / Frank Weinreich, Stuttgart / Bad Cannstatt 2002, S. 41. 251 Elisabeth Willnat (Hrsg.), »Liebster, bester, einziger Freund«. Erinnerung an den Verleger, Buchdrucker und Buchhändler Johann Christian Dieterich (1722–1800), Mainz 2000. Zu Dieterich vgl. auch NDB 3 (1957), S. 670 f.

Entwurf eines Staats- und Rechtssystems

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Autoren bestanden bis zu seinem Tode, wie zum Beispiel die verlegerische Betreuung des »Revolutions-Almanach« (1793–1800) zeigt, den der Intendant des Hoftheaters Heinrich August Ottocar Reichard herausgab. Reichard verfolgte als Freimaurer und Hofbeamter auf der Grundlage einer liberal orientierten Regierungspraxis das Ziel, bestehende Machtstrukturen im Sinne der Sicherung der Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten des Besitzbürgers sukzessive zu reformieren und nicht radikal zu beseitigen. Dieses Konzept bewog ihn, seine Position gegen den Jakobinismus in dem »Revolutions-Almanach« durch eigene Beiträge und durch den Abdruck anderer gegenrevolutionärer Darstellungen zu dokumentieren. Das Ergebnis sollte eine »Ordnung« sein, so erklärte Reichard, Edmund Burke zitierend, im »Vorbericht« (S. IV) des »Revolutions-Almanach« von 1795, die »das Eigenthum dem Eigenthümer« sichert. Indem er sich gegen die prorevolutionären Aktivitäten von Rebmann wandte, erklärte er, dass der Zweck des R.[evolutions] A.[lmanachs] [...] von jeher kein andrer war, als deutschen Gemeinsinn, deutsche Vaterlands- und Ehrliebe, aus dem Schlummer zu wecken, und die Verheerungen des Revolutions-Orkans von Deutschlands Fluren und Bewohnern, wenigstens nach meinen geringen, individuellen Kräften, zu entfernen zu suchen.252

Diese Meinung Reichards teilte Ewald als dessen Freimaurerbruder und Amtskollege unter der Voraussetzung, dass reformerische Veränderungen im Staatswesen durch die Regierenden zur Sicherung der Rechte der Bürger unbedingt vorgenommen werden. Diese Position hat er in der genannten Schrift klar und unmissverständlich vertreten. Hierdurch konnte Dieterich als Bürger und Unternehmer zustimmen, wenngleich er wohl, nicht zuletzt aufgrund der kritischen Äußerungen Ewalds zu aktuellen Machtstrukturen, zu einer anonymen Veröffentlichung geraten hat. Der Lehrauftrag von Johann Stephan Pütter in Gotha Im Hinblick auf das Rechtsverständnis und die Regierungspraxis im Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter der Regentschaft von Herzog Ernst II. (1772–1804) war es – auch für das hier zu behandelnde Thema – von nicht zu unterschätzender Bedeutung, dass der an der Universität Göttingen erfolgreich wirkende Staatsrechtler Johann Stephan Pütter (1725–1807) auf Einladung des regierenden Herzogs Friedrich III. (1699–1772), inspiriert durch seine Gemahlin Luise Dorothea (1710–1767), von Ostern 1762 bis Ostern 1763 als Lehrer des Erbprinzen (der spätere Herzog Ernst II.) und dessen Bruder in Gotha wirkte. Er war gebeten worden, die Prinzen in die deutsche Reichsgeschichte und das Staatsrecht einzuführen. Pütter hat sich dieser Aufgabe intensiv und einfühlsam gewidmet. Die Aufgeschlossenheit und die Ziel252 Revolutions-Almanach, Göttingen, bey Johann Christian Dieterich, 1797, Vorbericht des Herausgebers, o. S.

294 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe strebigkeit der Prinzen, die sie in der Aneignung des Stoffes an den Tag legten, erleichterten seine Bemühungen. Er berichtete: Meine Lehrstunden waren so eingerichtet, daß ich alle Morgen um 10. Uhr den Erbprinzen unterrichtete. Den Anfang machte ich mit einer kurzen Uebersicht der wichtigsten Begriffe und Grundsätze des allgemeinen Staatsrechts. Hernach ging ich die Reichsgeschichte durch, worin der Erbprinz schon manche gute Vorkenntnisse hatte. Und so schritt ich dann zum heutigen Teutschen Staatsrechte fort. Ueber alles das entwarf ich kürzere Anleitungen, die ich, heftweise von meinem Bedienten abgeschrieben, so wie ich sie nach und nach in den Lehrstunden brauchte, dem Prinzen zustellte, um sowohl in der Stunde selbst als vor = und nachher sie nach Belieben gebrauchen zu können. Beide Lehrbücher habe ich nachher zu Göttingen in Druck gegeben (g), und da mehrmal in meinen Lehrstunden zum Grunde gelegt [...]. (g) Unter dem Titel: K u r z e r B e g r i f f d e s T e u t s c h e n S t a a t s r e c h t s, Göttingen 1764, Ausgabe II. 1768; G r u n d r i ß d e r S t a a t s v e r ä n d e r u n g e n d e s T e u t s c h e n R e i c h s, IIIte Ausarbeitung, Göttingen 1764, Ausgabe IV. 1769.253

Pütter führte den Erbprinzen nicht nur in ein breites Spektrum der Rechtswissenschaft systematisch und historisch ein, sondern verband seine Unterrichtung über die Grundzüge des jeweiligen Rechtsgebietes mit konkreten Beispielen der regionalen Rechtspraxis. Dies wäre ihm nicht so gelungen, so Pütter, wenn ich nicht den außerordentlichen Vortheil eines freyen Zutritts sowohl zum Hauptarchiv als zur geheimen Kanzley gehabt hätte [...]. Und dann benutzte ich die Willfährigkeit, womit aus allen Landes=Collegien mir Acten, wie ich sie nur selbst aussuchen konnte, zu diesem Gebrauche verabfolgt wurden, um meinen erhabenen Lehrling von allem eine anschauende Erkennntniß fassen zu machen. So ging ich z. B. ein vollständiges Stück Criminalacten, die über einen Mord verhandelt waren, mit ihm durch, um ohne große Mühe begreiflich zu machen, was dazu gehöre erst die Thatsache, daß das in Frage stehende Verbrechen würklich begangen, als das sogenannte corpus delicti, in völlige Gewißheit zu setzen [...].

Pütter resümierte anschließend: Ich brachte es doch soweit, daß der Erbprinz einige Acten aus dem Archive und der geheimen Canzley selbst für sich durchlas; aus etlichen auch den Versuch machte nach einer von mir gegebenen Anleitung kurze Auszüge und eine Art von Relation zu verfertigen. Es gelang mir alles das ihm dadurch interessant zu machen, daß ich ihm vorstellte, wie vortheilhaft es sey, in solchen Sachen nicht ganz ein Fremdling zu seyn, nicht um selbst solche Arbeiten machen zu müssen, aber desto mehr um doch den Werth oder Unwerth dessen, was ein jeder Geschäfftsmann in seinem Fache arbeite, mit eigenen Augen prüfen und beurtheilen zu können.254 253 Johann Stephan Pütter, Selbstbiographie zur dankbaren Jubelfeier seiner 50jährigen Professorstelle zu Göttingen, Bd. 1, Göttingen 1798, S. 394 f. 254 Ebenda, S. 410–412.

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Pütter war mit seinem einjährigen Aufenthalt in Gotha sehr zufrieden. Seine Lehrtätigkeit hat bei der herzoglichen Familie hohe Anerkennung gefunden. Am gesellschaftlichen und kulturellen Geschehen des Hofes, der Beamtenschaft und der Gothaer Bürger nahm er als willkommener Gast regen Anteil. Vor allem konnte er durch Einblicke in die unmittelbare Regierungstätigkeit eines Landes neue Einsichten und Erkenntnisse gewinnen. Einen besonderen Höhepunkt bildete für ihn der Besuch des Königs von Preußen Friedrich II., der im November 1762 in Begleitung des Generals Seydlitz Gotha besuchte. Bei einem Empfang arrangierte die Herzogin für Pütter ein Gespräch mit dem König. Er zeigte sich an Pütters Lehrgebieten (Reichsgeschichte, Staatsrecht) sehr interessiert und betonte, dass er die deutsche Reichsgeschichte von Père Barré kenne. Pütter wandte ein, dass dieser Autor die in deutscher Sprache geschriebenen Urkunden nicht berücksichtigt habe. Daran anknüpfend hob der König, auf ein Gespräch mit Johann Christoph Gottsched (1700–1766), dem Förderer der deutschen Schriftsprache in Leipzig Bezug nehmend, die Vorzüge der französischen Sprache hervor. In dieser könne, so der König, ein Wort in vielerlei Bedeutung verwendet werden, wofür in der deutschen Sprache immer mehrere Ausdrücke zusammengesucht werden müssten. Wohl ohne öffentlich zu widersprechen, setzte Pütter in seiner Darstellung in Klammern (S. 408) hinzu: (das ich zwar mehr für eine Armuth der Französischen Sprache, und für einen Reichthum der unsrigen halten würde.)

Die Verbindung zwischen Göttingen und Gotha festigte Pütter auf ganz persönliche Weise. Während seines Aufenthaltes in Gotha blieb sein Haus, das er mit Gottfried Achenwall (1719–1772), seit 1748 Professor für Philosophie und seit 1753 auch der Rechtsgelehrsamkeit (Wegbereiter der Statistik; die fünfte Auflage von Achenwalls »Ius naturae« legte Kant seinen Naturrechtsvorlesungen als Textbuch zugrunde) bewohnte, in dessen Obhut. Beide waren seit ihrer Studienzeit in Jena freundschaftlich verbunden. Während der Kriegseinwirkung, die Göttingen zu erleiden hatte, verstarb Achenwalls Ehefrau. Ihm blieb allein die Sorge um die heranwachsende Tochter. Pütter hatte auf der Rückreise nach Göttingen die Fürsorge über eine Gothaer Bürgerstochter übernommen, die nach Uslar weiterreisen wollte. Sie musste einige Tage in Göttingen bleiben. Nach näherer Bekanntschaft mit der Besucherin gab Achenwall seinem Freund den Auftrag, um ihre Hand anzuhalten. Pütter erfüllte den Wunsch des Freundes. Die Besucherin gab ihre Zustimmung, Pütter verhandelte mit Gotha und beförderte letztlich eine glückliche Verbindung. Bei seinem Besuch in Gotha im Jahr 1786 wurde Pütter vom nunmehrigen Herzog Ernst II. erfreut und gleichzeitig mit dem wohlwollenden Vorwurf empfangen: Es seien immerhin 23 Jahre vergangen, ehe er Gotha wieder besucht habe. In der Zwischenzeit sind jedoch eine Reihe der in Gotha etablierten Juristen und Gelehrten Hörer in seinen Vorlesungen und Teilnehmer an den Übungen gewesen. Pütter erwähnte aus Gotha:

296 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Reichsgeschichte / Staatsrecht, Practica: Sommer 1763 – Joh. Christian Bertuch ” ” ” ” ”

Friedrich Wilhelm Gotter 1767 – Friedr. Emil von Uechtritz 1768 – H. A. O. Reichard 1769 – J. G. A. Galletti 1780 – Wilhelm von Wangenheim 1782 – Chr. Th. Seyfrieden

Zu vermuten ist, dass auch Ewald während seines Aufenthalts in Göttingen Vorlesungen von Achenwall und Pütter besucht hat. In seiner verfassungstheoretischen Schrift sind die Veröffentlichungen von Pütter präsent. Kants Moralphilosophie – Basis der Staatstheorie Ewalds Ewalds Entwurf eines Staats- und Rechtssystems, der auf die vernunftgeleitete Existenzgestaltung der Staatsbürger und ihrer Gemeinschaft als Staatsendzweck gerichtet war, stellte eine konsequente Adaption bzw. Anwendung der Grundsätze der Moralphilosophie Kants dar, insbesondere des kategorischen Imperativs in seiner Zweck-Mittel-Beziehung. Damit gehörte Ewald zu den Vertretern des jüngeren Naturrechts, die in ihren Vorstellungen mit unterschiedlicher Intensität dieser philosophischen Grundlegung folgten.255 Norbert Hinske weist darauf hin, dass »Kants Rechtsphilosophie aus seiner Moralphilosophie erwächst und in ihr auch ihre innere Begründung findet«. Durch deren Grundlegung auf die Prinzipien moralischen Handelns habe Kant »die Durchschlagskraft seiner Rechts- und Staatsphilosophie« bewirkt.256 Diese Intention Kants verfolgte Ewald in seiner Schrift mit seltener Konsequenz, noch bevor Kant seine rechtsphilosophischen Werke veröffentlichte. Es erhebt sich hier die Frage: Inwieweit haben die von Kant bis 1794 geäußerten rechts- und staatsphilosophischen Vorstellungen die staatstheoretischen Darstellungen Ewalds beeinflusst? Es kann davon ausgegangen werden, dass Ewald die Feststellung Kants in seinem Hauptwerk über das Verhältnis von vernunftgeleiteter Freiheitsaktivität und allgemeiner Gesetzgebung in der Gesellschaft (Staatsverfassung), die dieser als Garant für 255 Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976. Ders., Ideen zur Revision des Naturrechts. Die Diskussion zur Neugründung des deutschen Naturrechts um 1780, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000), S. 73–90. Martin Reulecke, Gleichheit und Strafrecht im deutschen Naturrecht des 18. und 19. Jahrhunderts, Tübingen 2007, S. 191–217. 256 Norbert Hinske, Staatszweck und Freiheitsrechte. Kants Plädoyer für den Rechtsstaat, in: Günter Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1987, S. 376. Vgl. Hariolf Oberer, Noch einmal zu Kants Rechtsbegründung, in: Kant-Studien, 2010, Band 101, Heft 3, S. 380–393.

Entwurf eines Staats- und Rechtssystems

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die Gestaltung der bürgerlichen Existenz ansah, 257 stets geteilt hat. Zudem hatte Ewald diesen Grundgedanken in dem von ihm selbst mit angeregten Aufsatz Kants »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« (1784) wiedergefunden und in der Ausarbeitung der praktischen Philosophie durch Kant in den achtziger Jahren weiter verfolgt. Auf dem Weg der systematischen Darstellung der Rechtslehre, die Kant in der Schrift »Die Metaphysik der Sitten« (1797) vornahm, bildete dessen Abhandlung »Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis« (»Berlinische Monatsschrift«, Bd. 22, September 1793, S. 201–284) einen wichtigen Meilenstein. Obwohl diese Abhandlung Kants in den GgZ nicht rezensiert und späterhin nur als Titel genannte wurde, kann man davon ausgehen, dass sie von Ewald studiert wurde und seine staatstheoretischen Vorstellungen beeinflusst hat. Denn dieser Beitrag Kants enthielt seine erste Reaktion auf die Ereignisse in Frankreich hinsichtlich fundamentaler Probleme der Sozialphilosophie. Er erörterte sie in Auseinandersetzung mit Garve, Hobbes und Mendelssohn. Kant gab hier die Grundorientierung für die systematische Darstellung seiner Rechtslehre. Zwischen dem Erscheinen der Abhandlung Kants (September 1793) und der Edition der Schrift Ewalds lag ein volles Jahr. Denn, obwohl Ewalds Buch auf dem Titelblatt das Erscheinungsjahr 1794 ausweist, wurde es im »Meßkatalog« (Frankfurt am Main, Leipzig) erst Ostern 1795 angekündigt. Vermutlich hatte sich die Fertigstellung der Schrift über die Michaelismesse 1794 hinaus verzögert, so dass das Jahr 1794 auf dem Titelblatt angegeben wurde. Damit hatte Ewald hinlänglich Zeit, sich mit Kants Abhandlung zu beschäftigen. Die von Kant angesprochenen Schwerpunkte finden sich in den staatstheoretischen Schriften von Ewald in grundsätzlich ähnlicher Intention. Es sind die Themen: Vernunft – Freiheit – Moralität Vernunftrecht – Menschenrechte – Gesellschaftsvertrag Verfassung – Zwangsgesetze – Freiheit / Gleichheit Staatsbürger – Gesetzgebung – Gemeinwesen Staatsbürger – Eigentum – Privilegien Denkfreiheit – Freiheit der Feder – Widerstandsrecht Religiöse Toleranz Staatsverfassung – Gewaltenteilung – Patriotismus Entstehung der Geheimen Gesellschaften. Die hier genannten Probleme wurden bekanntlich in dieser Zeit des Umbruchs in Europa auch in Deutschland in Wort und Schrift intensiv diskutiert. 257 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 316. Kant schrieb: »Eine Verfassung von der g r ö ß t e n m e n s c h l i c h e n F r e i h e i t nach Gesetzen, welche machen, daß j e d e s F r e i h e i t m i t d e r a n d e r e n i h r e r z u s a m m e n b e s t e h e n k a n n, (nicht von der größten Glückseligkeit, denn diese wird schon von selbst folgen;) ist doch wenigstens eine notwendige Idee, die man nicht bloß im ersten Entwurfe einer Staatsverfassung, sondern auch bei allen Gesetzen zum Grunde legen muß [...].«

298 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Das Moralgesetz und der Staatsendzweck Es ist die von Ewald angestrebte Unbedingtheit, das Recht im Allgemeinen und im Einzelnen auf den kategorischen Imperativ zu gründen und auf dessen konkrete Verwirklichung durch die positive Gesetzgebung hinzuwirken, die ihn unter der großen Anzahl von Autoren wie Gottlieb Hufeland u. a. heraushebt. Jede praktische Gesetzesbestimmung maß er am Staatszweck, den er unmittelbar aus dem Moralgesetz ableitete. Seine Ungeduld entsprang wohl zum einen der Tatsache, dass er als Beamter im Hofmarschallamt des größten Herzogtums in Thüringen, das intensive Kontakte nach Westeuropa pflegte, einen gründlichen Einblick in die aktuellen Strukturen der Machtgestaltung hatte und deren Defizite kannte. Zum anderen wusste er als Jurist, vielseitig gebildeter Intellektueller, Redakteur, Freimaurer (Illuminat) sowie als Übersetzer der Schriften Spinozas um die Relevanz der staatstheoretischen Probleme im geistigen und politischen Geschehen Europas. Hinzu kamen die revolutionierenden Umbrüche in Frankreich seit 1789, die das Fehlen des systematisch ausgearbeiteten Standpunktes von Kant zu diesem Thema als Desiderat besonders deutlich werden ließ. Denn auch in den deutschen Staaten stand die Lösung der Frage an: Wie können bestehende Staats- und Rechtsstrukturen im Sinne der Sicherung der Existenz des Bürgers für alle Staatsangehörigen stabilisiert bzw. reformiert werden? Sie wurde bekanntlich von den Illuminaten intensiv diskutiert. Ewald sah die einzige Lösung dieser Problematik in der grundsätzlichen Fundierung, die die kritische Philosophie Kants durch die Fixierung des Moralgesetzes als Grundlage jeglichen Zusammenlebens der Menschen in Sicherheit und Würde aufgezeigt hatte. Denn, so leitete Ewald seine Darstellung ein: Die M e n s c h e n sträuben sich jetzt gegen willkührliche Regierung, sehnen sich nach einer Gesetzgebung, deren Maximen sich nicht mit jedem politischen Winde, der dem Staate von außen her zuweht, und mit den Launen und Meinungen der G e s e t z g e b e r verändern.258

Die bisherigen Grundsätze der Leitung des Staates, so Ewald, die nicht unmittel­ bar von dem »Endzwecke der Staatsverbindungen« ausgehen, wie: G e m e i n e W o h l f a h r t, E r h a l t u n g u n d B e f ö r d e r u n g d e r Vo l l k o m m e n h e i t, S i c h e r h e i t, B e q u e m l i c h k e i t u n d N a h r u n g s s t a n d 259

haben aus der Erfahrung des Regierens die Frage aufgeworfen, ob diese Ziele und die dazu eingesetzten Mittel zur »Beförderung des Staatsendzwecks« dienen? Die Untertanen wünschen sich vom Regenten deshalb die Formel eines Grundsatzes, die ihnen bey jeder ihrer gesetzlichen Verordnungen und Einrichtungen in allen Zweigen der Staatsverwaltung als Kompaß diene, der sie orientiere und jederzeit den richtigen Lauf zum Ziel des Staates halten lasse.260 258 Ewald, Von dem Staate, Vorrede, S. 3. 259 Ebenda, S. 4 f. 260 Ebenda, S. 4.

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Ewald insistierte auf die Begründung und Ableitung des gesamten Rechtssystems aus einem Grundsatz; denn nur dann sei es möglich, »eine Anwendung des Grundsatzes des allgemeinen Staatsrechts und der Gesetzgebung auf einen vorkommenden Fall« vorzunehmen, um zu wissen, »w a s, und o b etwas r e c h t ist«.261 Hieraus leitete er das Anliegen seiner Darstellung ab: Die »wesentlichen Rechte der höchsten Gewalt« sollen »in beständiger Rücksicht auf den Grundsatz nach ihrem durch denselben bestimmten Umfange und Gränzen ausführlich abgehandelt« werden.262 Gleichzeitig sprach er zwei Mahnungen aus: Einerseits dürfe diese Untersuchung nicht zu der Vermessenheit führen, Einrichtungen und Rechte gewaltsam antasten zu wollen, zu welchem sich unter den Sätzen des allgemeinen Staatsrechts und des Systems der Gesetzgebung kein Grund finden ließe.263

Andererseits könnten die Regenten nicht leugnen, so Ewald, dass die bestehende »Disharmonie sich noch heben und mit den wahren Grundsätzen der Staatsverwaltung in Einheit bringen läßt«, »um ihre Regierung dem Ideale einer vollkommenen Gesetzgebung, so viel möglich ist, näher zu bringen«.264 Ewald formulierte den reformerischen Auftrag an die Rechtswissenschaft und ihre Anwendung: Die »Wissenschaft der Gesetzgebung« kann nur unter standhafter Beachtung dessen bestehen, »was die Vernunft, durch den Staatsendzweck geleitet, als recht im Staate festsetzt«.265 Es war die von ihm angestrebte prinzipielle Fundierung der Existenz des Menschen in seiner Sozialität, die ihn veranlasste, das »Recht« in allen seinen Wirkungsbereichen auf den »kategorischen Imperativ« zu gründen. Jede praktische Gesetzesbestimmung maß er am Staatszweck, den er unmittelbar aus dem Moralgesetz ableitete. Dieser Anspruch enthält zum einen eine weittragende humane moralische Substanz. Zum anderen sind in der systematischen Durchführung des Prinzips, nicht zuletzt durch den Grad der Verallgemeinerung des moralischen Grundsatzes bedingt, bestimmte idealisierende Betrachtungen der Probleme sowie die Begrenzung der reformerischen Postulate unvermeidbar. Dessen ungeachtet enthält Ewalds Entwurf rechtsstaatliche Vorstellungen, die das Individuum als Bürger auf einen rechtlich gesicherten Raum orientiert, in dem es die Möglichkeit zur Selbstgestaltung seiner Existenz vorfinden soll. 261 Ebenda, S. 6. 262 Ebenda, S. 7. 263 Ebenda, S. 9. Allerdings benannte Ewald historisch bedingte Defizite: »Die Verfassungen und Einrichtungen der Staaten und ihrer Gesetzgebung, die jetzt bestehenden Rechte der Regenten, Unterthanen, einzelner Stände und Personen sind freylich Kinder des Zufalls, der Vorurtheile, des Aberglaubens, der Gewalt der jedesmaligen Bedürfnisse und der nach Zeit und Ort bestimmten Umstände [...]«. 264 Ebenda, S. 10. 265 Ebenda.

300 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Naturrecht – Individuum – Gesellschaft – Staat Unter diesem Vorzeichen war Ewald bemüht, die Tradition des vernunftgeleiteten Ideals von Humanität, wie seine Berufung auf Lukrez, Horaz und Cicero zeigt, durch die Zeiten weiterzutragen. Hat er der Beschreibung des »Naturzustandes« des Menschen ein Zitat aus dem Werk von Lukrez »De rerum natura« vorangestellt,266 so setzte er in seiner Schrift dem ersten Abschnitt »Von dem Staate« ein längeres Zitat aus der Schrift von Marcus Tullius Cicero »De re publica« voran. Es beginnt mit einer Version der Definition des Staates: Res publica est res populi. Populus autem non omnis coetus multitudinis, sed coetus iuris consensu, et utilitatis communione sociatus. Res publica res est populi, cum bene ac iuste geritur, sine ab uno rege, sine a paucis optimatibus, sine ab universo populo [...].267

Auch Ewald erklärte, wie allgemein in der neuzeitlichen Rechtsphilosophie angenommen wurde, die aktuelle, sogenannte bürgerliche Gesellschaft als eine durch Menschen, die ursprünglich im Naturzustand gelebt haben, errichtete Konstitution. Darin besaßen alle Individuen gleiche Rechte auf Freiheit, Gleichheit und Eigentum. Ewald verlegte diesen Vorgang im Wesentlichen in die vorchristliche Zeit. Dieser Zustand, so meinte er, wurde durch die »B e s i t z e r g r e i f u n g« von Boden durch Familien, Stämme u. ä. allmählig beendet. Hieraus entstand eine »Art von bürgerlicher Gesellschaft«, die »durch gemeinschaftliche Verabredung ein wirkliches Eigenthum« gründete.268 Das hatte zur Folge, dass es »damals schon einen doppelten Stand, der F r e y e n und L e i b e i g e n e n, gab«.269 Die Transformation bzw. die Erhaltung der menschlichen Existenzrechte des Naturzustandes im bürgerlichen Zustand erklärte Ewald gleichfalls durch den 266 Ebenda, S. 13. Ewald zitierte Lukrez: »Nec commune bonum poterant spectare, nec ullis Moribus inter se scibant nec legibus uti; Quod cuique obtulerat praedae fortuna, ferebat Sponte sua sibi quisque valere et vinere doctus. Lucret. L. V:« Übersetzung nach: Lukrez, Über die Natur der Dinge, Lateinisch und Deutsch von Josef Martin, Berlin 1972, 5. Buch, Vers 958–961: »Auch das gemeinsame Gute konnten sie noch nicht beachten noch verstanden sie, irgendwelche Gebräuche unter sich noch Gesetze zu haben: was jedem das Glück an Beute bot, das nahm er mit fort, jeder gelehrt, nach seinem Willen zu leben und stark zu sein.« 267 Ebenda, S. 36. Übersetzung nach: Cicero. Staatstheoretische Schriften, Lateinisch und Deutsch von Konrat Ziegler, Berlin 1974, S. 128/129. Scipio »empfiehlt seine kurze Definition des Staates, in der er gesagt hatte, er sei die Sache des Volkes; ein Volk aber, so definiert er, sei nicht jede Ansammlung einer Menge, sondern eine Ansammlung, die sich auf Grund der Anerkennung einer Rechtsordnung und der Gemeinsamkeit des Nutzens zusammen geschlossen habe. Sodann legt er dar, wie groß bei einer Diskussion der Nutzen einer Definition sei, und schließt aus jenen seinen Definitionen, einen Staat, d. h. die Sache eines Volkes, habe man dann vor sich, wenn er gut und gerecht geführt werde, sei es von einem König, sei es von einigen Optimaten, sei es von dem gesamten Volk [...].« 268 Ebenda, S. 18 f. 269 Ebenda, S. 20.

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Abschluss eines Vertrages zwischen den Individuen zum Zweck ihres Überund Weiterlebens. Das Streben nach Lösung des Problems, die Unsicherheit in der »freyen Ausübung und des Genusses ihrer Menschenrechte« sowie deren Verteidigung gegen Gewalt zu sichern, habe dazu geführt, so Ewald, dass sich die Menschen genötigt sahen, »sich in Gesellschaft zu begeben« und »gesetzliche Einrichtungen« zu schaffen.270 Diesen Weg des Übergangs vom Naturzustand zum gesellschaftlich-bürgerlichen Zustand, der eine dem Menschen gemäße Existenz gewährleisten soll, begründete Ewald mit Vorstellungen Kants aus der gleichen Schrift, die er zehn Jahre zuvor mit veranlasst hatte. Der Mensch, (sagt K a n t in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht) ist ein Thier, das, wenn es unter andern seiner Gattung lebt, einen H e r r n nöthig hat. Denn er mißbraucht gewiß seine Freyheit in Ansehung anderer seines Gleichen; und ob er gleich als vernünftiges Geschöpf ein Gesetz wünscht, welches der Freyheit aller Schranken setzt; so verleitet ihn doch seine selbstsüchtige thierische Neigung, wo er darf, sich selbst auszunehmen. Er bedarf also einen Herrn, der ihm den eignen Willen breche, und ihn nöthige, einem allgemein gültigen Willen, dabey jeder frey seyn kann, anzugehorchen.271

Ewald folgte Kant, indem er – ausgehend von allgemeinen vertragstheoretischen Vorstellungen – die Entstehung der Gesellschaft als Vertrag zwischen Personen ansah, die sich zu einem gemeinschaftlichen Endzweck verbunden haben. Gilt das Kriterium der allseitigen Rechtssicherheit der Menschen als Endzweck dieser entstandenen Gesellschaft, »so heißt die Gesellschaft ein S t a a t«. Denn: Der E n d z w e c k d e s S t a a t s kann nach diesem Begriffe kein anderer seyn, als die Sicherung der ursprünglichen und noch zu erwerbenden mit jenen verträglichen Rechte der Verbundenen.272

Dieser Endzweck habe zum einen die Qualität des »Allgemeinen«, weil weder ein einzelner Mensch noch ein Staat an der Ausübung seiner ursprünglichen Rechte gehindert werden darf. Zum anderen müssen die Menschen seine »Notwendigkeit« einsehen, da ohne die Rechtssicherheit die Entfaltung ihres physischen Lebens und ihrer persönlichen Würde notwendig verloren ginge. Deshalb forderte Ewald von jedem Menschen als »unnachlaßliche Pflicht« bzw. durch ein existentielles Wollen, die Verwirklichung des Endzwecks des Staates in der von allen annehmbaren Form eines Macht- und Rechtssystems zu fördern.273 Andererseits 270 Ebenda, S. 36 f. 271 Ebenda, S. 37. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 23. Es ist das einzige Kant-Zitat in Ewalds Schrift. Ewald hat die Sperrungen von Kant, außer einer, weggelassen. Bestimmte Getrennt-, Groß- und Kleinschreibungen haben keine inhaltliche Bedeutung. Am Schluss des Zitats eine Wortänderung: Statt »zu gehorchen« schrieb Ewald »anzugehorchen«. 272 Ebenda, S. 38. 273 Vgl. ebenda, S. 39. Er ergänzte: »Alle Menschen m ü s s e n, wegen des Dranges ihrer körperlichen und intellectuellen Bedürfnisse, deren Befriedigung die Bedingung ihres leiblichen

302 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe kann der allgemein akzeptierte Staat diesen Endzweck nicht aufgeben, »ohne den Keim der Vernichtung in sich selbst entstehen zu lassen, und sich selbst aufzulösen.« 274 Freiheit – Sittengesetz – Recht / Gesetze Er ging davon aus, dass der Mensch die Gesetze der Freiheit der Handlung in doppelter Weise befolgen kann. Zum einen seien es die »Gesetze der practischen Vernunft«; zum anderen seien es die »Gesetze der Sinnlichkeit«. Er konstatierte: Die menschliche Freyheit zu handeln richtet sich entweder nach dem durch die practische Vernunft bestimmten Sittengesetze, oder bloß nach besonderen Neigungen und empirischen Triebfedern.275

Nur die erste Art könne man allein mit Grund Gesetze nennen, weil sie allgemeine, für alle vernünftige Wesen gültige Regeln enthalten [...].276

Der Grund der Verbindlichkeit dieser Gesetze liege bloß in der Form, oder der Art und Weise, wie sie etwas zu thun befehlen [...].277

So war es Ewald wichtig, Kants Begründung und definitorische Festlegung des Moralgesetzes in Form des »kategorischen Imperativs« als einzig mögliches Gesetz des Handelns von universaler Humanität hervorzuheben und sich von jeglichen »hypothetischen Imperativen« abzugrenzen.278 Ohne Umschweife ging er zur Konstitution seines rechtsphilosophischen Prinzips über. Er wählte die dritte Variante des kategorischen Imperativs, wie sie Kant mit der Orientierung auf die menschheitliche Qualität bzw. die noumenale Seite des menschlichen Individuums in der Schrift »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« (1785) dargelegt hat. Er nahm eine Adaption der wesentlichen Elemente dieser Variante und geistigen Lebens ist und auf welche sich ihre natürlichen Rechte gründen, die sie im Stande der Natur nicht geltend machen können, i h n w o l l e n.« 274 Ebenda. 275 Ebenda, S. 21. 276 Ebenda. 277 Ebenda, S. 21 f. 278 Ebenda, S. 22. Zu Geboten des Handelns durch »empirische Triebfedern« schrieb Ewald: Ein empirisches Gesetz enthalte keine allgemeingültige Regel, da es »bloß die Befriedigung einer besondern sinnlichen Neigung, die Erlangung eines individuellen vorübergehenden Vortheils zur Absicht hat, weder eine allgemeine für alle vernünftigen Wesen gültige Regel ist, die sowohl für den, der sie befolgt, noch für alle übrigen, nichts enthält, das ihnen die Beobachtung derselben nothwendig geböte, noch einen andern als bloß materiellen Verpflichtungsgrund, d. i. Vorstellungen von den Eindrücken der Gegenstände der sinnlichen Anschauung aufweisen kann.«

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des Moralgesetzes vor, wie sie in der definitorischen Fassung von Kant und dem zu ihr hinführenden Text zu finden sind. Der hier formulierte Kern, die ZweckMittel-Relation des individuellen Handelns in menschheitlicher Dimension, wurde für Ewald das Beziehungsfundament seiner staats- und rechtsphilosophischen Vorstellung. Ewald erklärte: Das Grundgesetz der Vernunft zur Bestimmung des menschlichen Willens, auf welches sich alle besondere moralischen Gesetze zurückführen lassen, wird durch folgende Formel ausgedrückt: H a n d l e s o, d a ß d u d i e v e r n ü n f t i g e N a t u r ü b e r h a u p t, s o w o h l i n d e i n e r P e r s o n, a l s i n d e r P e r s o n j e d e s a n d e r n, j e d e r z e i t z u g l e i c h a l s Z w e c k, u n d n i e m a l s b l o ß a l s M i t t e l b e t r a c h t e s t. Jeder Mensch ist nämlich vermöge aller der Fähigkeiten und Kräfte, die ihn zum Menschen machen, und die ihm auch in dem natürlichen Zustande wesentlich eigen sind, also vermöge seiner Menschheit, ein Zweck an sich. Diese Menschheit, und die mit derselben unzertrennlich verknüpfte Würde, muß ein jeder Mensch in allen andern Menschen nothwendig anerkennen; jeder Mensch muß wollen, daß ein jeder andere so gut und in eben dem Maße und Grade, als er, das sey und werde, wozu er durch seine Menschheit, d. i. den ganzen Inhalt und Umfang seiner Fähigkeiten, Vermögen und Kräfte, und durch eine vernunftmäßige Bildung und Ausübung derselben bestimmt ist. Er darf ihn also niemals bloß als Mittel zu seinen billigen Zwecken gebrauchen, sondern muß ihn immer mit sorgfältiger Rücksicht auf seine M e n s c h e n ­ w ü r d e, und als Gegenstand behandeln, der nicht bloß für i h n, sondern für s i c h s e l b s t vorhanden ist.279

In dieser Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs wurde auch von Ewald der Begriff »Menschheit« als Handlungsfähigkeit des Menschen verstanden, die sich durch frei und verantwortungsvoll bestimmtes sowie rational begründetes Aktivsein auszeichnet. Wenn er erklärte, dass diese Fähigkeit, »die den Willen bestimmende Vernunft«,280 als eine Grundqualität der menschheitlichen Existenzweise anzusehen ist, so meinte er im Kantischen Sinne, dass der Mensch als intelligibles Wesen über sein sinnliches Wirken zu bestimmen vermag. Seine Vorstellung von Menschheit war für ihn das Synonym für sittliches Verhalten des Einzelnen überhaupt. Letzteres war Basis, Ausgangspunkt und Kriterium seiner Version der empirischen Betrachtung der gesellschaftlichen Verhältnisse und den daraus abgeleiteten Vorschlägen zu ihrer Veränderung. Es war deshalb folgerichtig, dass Ewald aus der existentiellen Bestimmung der Vervollkommnung der »Sittlichkeit« der Menschheit auf deren »rechtliche« Absicherung schloss. Damit insistierte er auf den für ihn untrennbaren Zusammenhang von vernunftbestimmter Moral und konform gestalteter Staats- und Rechtsordnung. Zu der von ihm gewählten Variante des »kategorischen Imperativs« erklärte er: 279 Ebenda, S 22 f. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 429. 280 Ebenda, S. 24.

304 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Dieses Gesetz ist nothwendig und muß beachtet werden, weil ohne dasselbe gar kein s i t t l i c h e r und r e c h t l i c h e r Zustand unter den Menschen möglich wäre, der unterscheidende Charakter der Menschheit völlig vernichtet werden würde, und das gar nicht würde geschehen können, wessen die Menschheit in ihrem ganzen Umfange, vermöge ihrer practischen Vernunft, fähig ist. Jenes Gesetz läugnen, die Menschen für nicht daran gebunden, oder dasselbe für unnöthig und überflüssig erklären, heißt die den Willen bestimmende Vernunft, folglich einen der wesentlichsten Bestandtheile des Charakters der Menschheit, alle Sittlichkeit und alle Rechte derselben, selbst aufheben.281

Unter diesem Grundgedanken entwarf Ewald die Schritte zur Realisierung der »Selbstzwecksetzung« des Menschen. Sie war für ihn das Menschenrecht zur selbst zu gestaltenden Ausprägung seines Körpers, seines Gemüts282 und seiner Sozialität nach dem Maßstab der Vernunft bzw. der Menschheitlichkeit. Die Menschen sind also Selbstzwecke sowohl in Ansehung ihrer körperlichen als intellectuellen Natur.283

Daraus ergeben sich ihre für alle Menschen natürlichen Rechte, d. h. »Menschenrechte«, zu deren vernunftgemäßer Ausübung sie befugt sind. Niemand darf sie mit Gewalt daran hindern. Denn: wer mich, so lange ich selbst dem höchsten Vernunftgesetze gemäß handle, in dem freyen Gebrauche und Genusse meiner Menschenrechte beeinträchtigt und stört, begeht ein Verbrechen gegen jenes höchste Gesetz, das mir so zu handeln erlaubt. Jene Menschenrechte sind also Z w a n g s r e c h t e.284

In diesem Sinne verlange die Einhaltung der Menschenrechte Verbindlichkeiten von allen, sich diesen Rechten nicht zu widersetzen. Endzweck des Staates – praktische Gesetzgebung – Politische Freiheit / Gleichheit Ewald erklärte: Der Endzweck des Staates besteht in der Sicherstellung des Genusses der Menschenrechte, in wiefern sie nicht durch den Eintritt in den Staat eingeschränkt werden, und der im Staate rechtmäßig erworbenen Rechte. J e d e s G e s e t z m u ß a l s o s o b e s c h a f f e n s e y n, d a ß d i e s e r E n d z w e c k d a d u r c h a n 281 Ebenda. 282 Ebenda, S. 29. Zur Ausbildung des »Gemüts« schrieb Ewald u. a.: »1) Das Recht, seine Sinnlichkeit, sein Gedächtniß, seine Einbildungskraft, seinen Geschmack, seinen Verstand, seine Vernunft und sein Begehrungsvermögen zu bilden. 2) Das Recht, sich aller Mittel zu bedienen, die seinen Geschmack verfeinern, seine Begriffe, Urtheile und Schlüsse berichtigen, seinen Willen der Herrschaft der Sinne entziehen und den Gesetzen der Vernunft unterwürfig machen können. 3) Das Recht, seine Neigungen und Triebe zu befriedigen, so fern es mit dem Bestand des höchsten Vernunftgesetzes und unbeschadet des Rechts anderer geschehen kann.« 283 Ebenda, S. 25. 284 Ebenda, S. 26.

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j e d e m I n d i v i d u o e r r e i c h t w e r d e. Es ist der allgemeine Wille eines jeden Staatsgliedes, daß ein jeder diesen Endzweck im Staate durch die Gesetzgebung erreiche. Jedes Gesetz muß also die Eigenschaft haben, daß es ein jedes Staatsglied muß wollen können. Es muß der Ausdruck des allgemeinen Willens seyn.285

Diese Postulate verband Ewald mit der Forderung, dass ein jeder Bürger aufgrund seiner politischen »Freiheit« und politischen »Gleichheit« nicht genötigt werden kann, einem »positiven Gesetz« zuzustimmen, wenn es zum Endzweck des Staats im Widerspruch steht; denn die höchste Gewalt ist zur Beachtung beyder, der politischen Freyheit und Gleichheit der Staatsglieder durch das überall gebietende Sittengesetz verpflichtet.286

Mit geradezu rigoroser Unbedingtheit forderte er die öffentliche, unabhängige und verantwortungsbewusste Selbstentscheidung des Bürgers ein, um den Wirkungsrahmen für sich, für andere und für die Gemeinschaft zu gestalten. In juristischer Diktion formulierte er den Grundsatz: Ein jedes Gesetz und eine jede Anordnung und Einrichtung im Staate muß also so beschaffen seyn, daß durch sie die politische Freyheit und Gleichheit eines jeden Staatsgliedes mit der politischen Freyheit und Gleichheit aller übrigen zugleich bestehen kann, und folglich alle ohne Unterschied das Gesetz oder die Anordnung und Einrichtung wollen müssen.287

Ewald verschärfte die Forderung im Hinblick auf ihre juristisch-praktische Handhabung, indem er erklärte, dass es der allgemeine Wille des Volkes sei, daß kein Staatsglied bloß als Mittel zu Beförderung der Privatabsichten des Regierenden gebraucht werde.288

Er hob hervor: In allen Gesetzen, Verordnungen und Befehlen müssen also alle diejenigen, denen durch das Gesetz die Verordnung, und durch den Befehl eine Verbindlichkeit aufgelegt wird, nicht bloß als Mittel, sondern auch als Zwecke an sich selbst behandelt werden.289

Damit kehrte Ewald zur moralphilosophischen Grundlegung als dem Ausgangspunkt der Konstitution seines staats- und rechtstheoretischen Konzepts zurück. Er war wieder bei Kants grundlegendem Anliegen: Er teilte dessen Meinung, dass die Philosophie die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesent­ lichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae)290

ist. Sie orientiere auf den 285 Ebenda, S. 82. 286 Ebenda, S. 83. 287 Ebenda. 288 Ebenda, S. 83 f. 289 Ebenda, S. 84. 290 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 839.

306 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Endzweck, [der] ist kein anderer, als die Bestimmung des Menschen, und die Philosophie über dieselbe heißt Moral.291

Er teilte die Hoffnung Kants, dass das »Gute«, welches bisher durch die »bürgerliche Verfassung und deren Gesetze« sowie durch das entstandene »Staatsverhältniß« bewirkt wurde, zu einem »Leitfaden« dienen kann, den Endzweck des Staates zu erreichen.292 Von diesen Prämissen ausgehend, war für Ewald die Fundamentalverbindung von moralischer Zielsetzung der menschlichen Vernunft und ihre rechtsphilosophische Ausstrahlung bzw. Absicherung sowie deren Konkretisierung in der positiven Gesetzgebung unlösbar und konstruktiv bestimmt. Er sah es als ein existentielles Verhältnis, ohne dessen wechselseitiges Einwirken die »Menschengattung« ihre moralische Vervollkommnung nicht gestalten könnte.293 Das zeigt sich darin, dass für ihn diese unter dem Primat des Kantschen Moralgesetzes stehende Koinzidenz von Endzweck des Staates und Persönlichkeitsentwicklung als Zweck-Mittel-Beziehung grundlegend blieb. Allerdings artikulierte Ewald, bedingt durch eigene Erfahrungen und die Kenntnisnahme der europäischen Ereignisse, eine eigenständige Variante dieses Verhältnisses. Es ist durch folgende Züge geprägt: Erstens sind es die freimaurerischen Ideale, in die in hohem Maße neostoische Vorstellungen eingeflossen sind. Sie werden durch die Rezeption von gesellschaftstheoretischen Ideen Rousseaus (Verhältnis von »volonté de tous« und »volonté générale«) verstärkt. Beide Einflüsse bestimmten Ewalds philanthropische Ansichten sowie seine reformerischen Vorschläge für das Staats- und Rechtssystem. Zweitens sind es die revolutionären Ereignisse in Frankreich. Von daher kritisierte er willkürliche Bestimmungen und Maßnahmen des absolutistischen Systems in Frankreich und Deutschland. Seine Empfehlungen und Vorschläge an die Regierenden in den deutschen Ländern waren auf die Gestaltung einer Regierungspraxis gerichtet, die durch die Einhaltung der Subsistenzrechte des Staatsbürgers auf eine soziale und politische Balance hinarbeitet, um französische Verhältnisse zu vermeiden. Drittens befürwortete er ein verantwortungsvolles Handhaben der gesetzgebenden und exekutiven Gewalt in der Staats- und Rechtspraxis. Denn mit Blick auf die aktuelle Situation in Frankreich und England kam er zu der Meinung, dass die Trennung von legislativer und exekutiver Gewalt nicht notwendig den Missbrauch der exekutiven Macht gegenüber den Bürgern verhindert. Er urteilte: Die Beschlüsse der Parlamente sind bloße Formalitäten, und bey der gewonnenen größern Anzahl der rojalistischen Parthey, und ungeachtet der noch so trifftigen 291 Ebenda, A 840. Vgl. Reinhard Brandt, Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Hamburg 2007, S. 331–339, 351 ff. 292 Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 30. 293 Ebenda.

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Gründe der ohnmächtigern Volksfreunde nichts weniger als Resultate einer freyen Wahl. Sie sind der Wille des H e r r n der seinen D i e n e r f r a g t, ob er d a r f.294

Da das »gerühmte Gleichgewicht« beider Gewalten meist nur von kurzer Dauer sei, so Ewald, komme es darauf an, dass die Freiheit und Gleichheit der Staatsglieder respektiert und der Endzweck des Staates gesichert werde. Zwar gebe es monarchische Staaten, die »ihre Macht zur Unterdrückung der bürgerlichen Freyheit und Gleichheit mißbrauchen«,295 aber es gebe bei diesen auch die gegenteilige Regierungspraxis. Ewald gab den Rat: Wenn eine »Nation« sich selbst eine »Verfassung« schafft, so sollte sie sich vorbehalten, der »executiven Gewalt«, wenn sie diese auf einen oder mehrere Personen überträgt, den ersten Schritt zur Eigenmacht und zur ungebührlichen Vergrößerung ihres Einflusses, nicht nachzusehen, und über die ihr vorgeschriebenen Gränzen mit Argus=Augen zu wachen.296

Wenn aber eine Regierungsform ihre Gewalten ausgewogen einsetzt, urteilte Ewald im Interesse seiner Zielsetzung, »da bleibt es am sichersten b e i m A l t e n«.297

2.2. Die Funktion des Staates, das System der Gewalten und der Gesetzgebung Ewald entwarf, ausgehend von der Bestimmung des Endzwecks des Staates, die Verbindung zu realen staatlichen Strukturen und deren rechtlichen Fixierungen. Er artikulierte die Zielsetzung des Staates als Grund- und Leitidee seiner Vorstellung über gesellschaftliche Verhältnisse insgesamt. Dazu gab er folgenden Ausblick: Ohne diesen angegebenen Endzweck wäre auch kein a l l g e m e i n e s S t a a t s r e c h t möglich; denn da dieses den Umfang und die Gränzen der Rechte und Verbindlichkeiten der höchsten Gewalt und der ihr subordinirten Staatsglieder bestimmen soll, diese sich aber aus keinem besondern, willkürlichen, jenen allgemeinen und nothwendigen Endzweck nicht erschöpfenden oder ihn wohl gar ausschließenden Zweck, z. B. Bereicherung durch Handel, Eroberungen u. dergl. bestimmen lassen, auch, da sie nicht in der Vernunft, sondern in Neigungen gegründet sind, keinen Erkenntnißgrund von der zweckmäßigsten Verwaltungsart der verschiedenen Zweige der Staatsregierung enthalten; so folgt nothwendig, daß man auf einen Endzweck zurückkommen müsse, der alle diese Bestimmungen an die Hand gibt; und daß der oben angegebene diese Eigenschaft besitze, wird sich aus der Folge ergeben.298 294 Ewald, Von dem Staate, S. 360. 295 Ebenda, S. 359 296 Ebenda, S. 360. 297 Ebenda. 298 Ebenda, S. 40.

308 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Mit dieser Erklärung wies Ewald auf das Wesen seiner rechtsphilosophischen Grundlegung hin, die er der Darstellung, der Reflexion und der kritischen Betrachtung des Staats- und Rechtssystems sowie der positiven Gesetzgebung zugrunde legte. Er war bestrebt, durch die Ausführung dieses antizipatorischen Grundgedankens zu demonstrieren, wie dieser – ganz im Sinne einer Ziel-InhaltMethode-Beziehung – die Funktion des Staates, dessen Macht- und Rechtssystem sowie dessen politische Praxis bestimmt. Es war sein Credo, das humanistische Potential des Kantschen Moralgesetzes sowohl in seiner rechtsphilosophischen Konsequenz aufzuweisen, als auch dessen reale Möglichkeiten in der Staats- und Rechtspraxis darzustellen. Dabei machte er, wenn auch in verhaltener Kritik, auf Inkonsequenzen bzw. Defizite in der Realisierung dieser fundamentalen Intention aufmerksam. Ewald handelte das gesamte Spektrum des hier umrissenen Themas in drei »Abschnitten« ab: – »Von dem Staate« (Naturzustand; Errichtung und Begriff des Staates – End zweck; Menschenrechte) – »Von der höchsten Gewalt« (Souveränität, Volk, Gewalt; Grenzen der Macht, politische Freiheit und Gleichheit; Herrscher und Untertanen, Bürger) – »Von den wesentlichen Rechten insonderheit« (Krieg / Frieden, Verträge; politische Gleichheit und Bürgerrechte; Polizei-, Zivil- und Kriminalgesetz gebung; Besteuerung; legislative und exekutive Gewalt) Die geradezu apodiktische Konsequenz des Entwurfs von Ewald zeigt sich besonders in seinen Vorstellungen über den Wesensgehalt der Gesetzgebung. Da auch die Staatsverfassungen das Mittel sind, das Menschengeschlecht von einer Stufe der sittlichen Vollkommenheit zur andern und bis zu jener zu erheben, wo es sich selbst und seinen eigennützigen Trieb durch Vernunft zu beherrschen im Stande ist,299

so trage die höchste Gewalt, wer es immer auch sei, im Sinne des Staatsendzwecks die Verantwortung.300 Mit aller Entschiedenheit gestand Ewald nur den Gesetzen 299 Ebenda, S. 73. 300 Ebenda, S. 78. Ewald stellte diesem Kapitel (Erster Titel. Von der Gesetzgebung überhaupt) auf S. 78 ein Zitat von Cicero, De re publica (3. Buch, 22, 33) voran. Der Anfang lautet: »Est enim vera lex, recta ratio, naturae congruens, diffusa in omnes, constans, sempiterna, quae vocet ad officium iubendo, vetando a fraude deterreat: quae tamen neque probos frustra iubet, aut vetat, nec improbos iubendo aut vetando mouet. Huic legi nec obrogari fas est, neque derogari ex hac aliquid licet, neque tota abrogari potest. Nec vero aut per senatum, aut per populum solui hac lege possumus [...]«. Übersetzung nach: Cicero. Staatstheoretische Schriften, Lateinisch und Deutsch von Konrat Ziegler, Berlin 1974, S. 149: »Das wahre Gesetz ist die richtige Vernunft, die mit der Natur im Einklang, durch alle ergossen, beständig und ewig ist, die durch Gebot zur Pflichterfüllung ruft, durch Verbot von Unredlichkeit abschreckt, die jedoch weder den Redlichen vergebens gebietet und verbietet, noch die Unredlichen durch Gebieten und Verbieten beeindruckt. Diesem Gesetz etwas von seiner Gültigkeit zu nehmen ist Frevel, und es darf ihm nichts

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des durch die Vernunft bestimmten Willens und der Freiheit diese Fähigkeit zu. Hier zeige sich die »Selbstthätigkeit der Vernunft«,301 die gebietet, was notwendig und unbedingt zu tun ist. Es sind »Pflichten« – »ihr gesetzlicher Codex ist die E t h i k «.302 Was jedoch diese Gesetzgebung der Vernunft nur erlaubt und was nicht notwendig geschehen oder unterlassen werden muss, »sondern vermittelst des Sittengesetzes durch Freyheit des Willens bloß möglich ist, sind Rechte«. – »Ihr Codex ist das V e r n u n f t r e c h t.« 303 Ewald schlußfolgerte: Da die Regelung des Handelns des Menschen allgemein auf der moralischen Gesetzgebung der menschlichen Vernunft beruht, muss die Festlegung der Rechte für alle Glieder der Gesellschaft sich diesem Prinzip unterwerfen. Die moralische Grundlegung muss das Rechtssystem bis zur positiven Gesetzgebung durchdringen. Ewald erklärte dazu: Nichts d a r f geschehen oder unterlassen werden, was nach dem Gebote der Vernunft nothwendig geschehen oder unterlassen werden muß. Kein Recht darf eine Pflicht aufheben; nur das d a r f geschehen oder unterlassen werden, was keiner Pflicht widerstreitet. – Die Vernunft gibt dem Menschen und kann ihm auch nur allein in allen Verhältnissen und Lagen, in die er gesetzt werden mag, Gesetze und Vorschriften in Ansehung dessen was er thun darf, geben. Als einzelnes isolirtes Subject gibt sie ihm solche durch das absolute; in Verhältnissen mit seines Gleichen, durch das hypothetische V e r n u n f t r e c h t; welches so viel Abtheilungen ihres General-Codex sind.304

Hieraus leitete Ewald die Struktur des Rechtssystems ab. Er untergliederte es, ausgehend vom allgemeinen Gesellschaftsrecht, in allgemeines Staatsrecht mit seinen spezifischen Rechtsformen und in Völkerrecht. Für ihn war entscheidend, dass die vom Regenten zu verantwortende positive Gesetzgebung der Verbindlichkeit und der Autorität des »Codex der P f l i c h t e n« nicht widerspricht.305 Denn: Die Vernunftmäßigkeit eines positiven Gesetzes kann aber nicht anders als aus dem in der Vernunft selbst gegründeten Endzwecke des Staats, und dem gesammten vernünftigen Willen des Volks beurtheilt werden.306

Ewald erhob die Gesetzgebung in ihrem gesellschaftlich gestalterischen Anspruch auf ein Fähigkeitsniveau, das ihr die Möglichkeit eröffnet, eine Übereinstimmung der Interessen des Einzelnen und der Gemeinschaft hinsichtlich einer aktiven Existenzgestaltung herbei zu führen. Ewald sah jedoch, dass sein abgedungen werden, noch kann es ganz außer Kraft gesetzt werden, noch auch können wir durch den Senat oder durch das Volk von diesem Gesetz gelöst werden [...]«. 301 Ebenda, S. 79. Vgl. Leitgedanke vor Einleitung. 302 Ebenda. 303 Ebenda, S. 80. 304 Ebenda. 305 Ebenda, S. 81. 306 Ebenda, S. 82.

310 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Ideenkonstrukt idealen Charakter trug und nur in bescheidenen Ansätzen in der aktuellen Staats- und Rechtspraxis verwirklicht werden konnte. Der Zwiespalt zwischen human-liberalem Konzept, tatsächlichen Verhältnissen und ihren notwendigen Veränderungen war ihm bewusst. Dennoch waren ihm inhaltliche Leitlinien und Schwerpunkte für die Gestaltung des Staatssystems, das vom aktiven Bürger getragen wird, besonders wichtig. Dessen formal juristische Ausformung stellte er zurück. Entscheidend blieb für ihn, dass das Staats- und Rechtssystem dem Bürger seine Freiräume für die Vervollkommnung seiner Persönlichkeit einräumte und damit die Realisierung des Endzwecks des Staates förderte. Jedoch bewahrte sich Ewald als Hofbeamter, Freimaurer, Illuminat und aufmerksamer Zeitgenosse einen sachlichen und kritischen Blick auf die Verhältnisse. Er sprach Defizite und zu lösende Probleme an. Er wollte das feudale Staats- und Rechtssystem so reformieren, dass dem Einzelnen, ungeachtet seiner Standeszugehörigkeit, seine Existenzgestaltung in Sicherheit und Würde möglich ist. Die Erklärung zum Endzweck des Staates vorausgesetzt, zeichnen sich in Ewalds Darstellung zumindest vier Schwerpunkte bzw. Fragestellungen ab: 1. Wer ist Staatsbürger? 2. Wie sind die Rechte und Verbindlichkeiten (Pflichten) des Staatsbürgers gesetzlich zu sichern? 3. Wie wird der Staatsbürger befähigt, seine Rechte und Pflichten wahrzunehmen? 4. Wie ist die Erhaltung des Staates, die Subsistenz des Bürgers und das Gemeinwohl durch eine gerechte Steuergesetzgebung zu gestalten? Auf dieses von Ewald dargestellte Verhältnis von Gestaltungsfähigkeit des Staates und der Entfaltung der Staatsbürgerlichkeit soll im Folgenden eingegangen werden.

2.3. Zur Bestimmung des Staatsbürgers Da sich nach Ewald die ursprünglich lebenden Menschen zum einen durch den Gesellschaftsvertrag ihre unveräußerlichen Menschenrechte und die zu erwerbenden Rechte sicherten, und sich zum anderen durch den »Unterwerfungsvertrag« verpflichteten, den Staatsendzweck durch die Übertragung ihrer Rechte und deren Anwendung auf eine oder mehrere Personen zu übertragen, stellte sich die Frage: Welchen Status besitzt der Einzelne im entstandenen System des Staates? Im Vertragskonstrukt gibt es nach Ewald »zwey Hauptclassen« von Personen: Die Regierenden, die den allgemeinen Willen des Volkes repräsentieren, und die Gehorchenden bzw. die »Unterthanen«. Letztere sind »Bürger und Schutzverwandte oder Schutzgenossen« (gemeint sind Dienende).307 307 Ebenda, S. 68.

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Ewald war bestrebt, die Grundeigenschaft des Menschseins, d. h. seine Existenz durch zielgerichtete Tätigkeit in der gegebenen Gemeinschaft zu erhalten, auf die Bestimmung des Bürgers als tragendes Element des Staates anzuwenden. Das Kriterium war für ihn die eigenständige, produzierende Erwerbstätigkeit des Einzelnen, deren gegenständliches oder geistiges Produkt er als Ware zum Austausch in die Gemeinschaft einbringt. Ewald formulierte: Unter jenen [Bürgern – H. S.] versteht man solche im Staate wohnende Menschen, die ein Eigenthum besitzen durch welches sie erwerben und sich ernähren können. Also nicht bloß Länderey und Hauseigenthümer, sondern auch solche, die um sich zu ernähren, für das nöthige Bedürfniß eine S a c h e, eine Waare, ein Product ihrer intellectuellen oder physischen Kräfte geben, d a r r e i c h e n können.308

Auf der Basis dieser qualitativen Ausweitung des Eigentumsbegriffs auf die Allseitigkeit der Fähigkeiten des Menschen als Mittel zur Selbsterhaltung war es Ewald möglich, ein erstaunlich breites Spektrum der Zugehörigkeit des Einzelnen zum Status des Bürgers vorzunehmen. Seine Vorschläge gingen über das offizielle Verständnis des Problems hinaus, wenn er meinte: Man pflegt gemeiniglich zu Bürgern nur solche, die entweder im Staate ein Grundstück besitzen, oder ein so genanntes bürgerliches Gewerbe treiben, zu Bürgern aufzunehmen, [...] es ist aber nicht einzusehen, warum man andere, die auf eine minder gewöhnliche Weise ohne eigentlichen Dienst sich nähren und erwerben, von der Aufnahme unter die Bürger ausschließt, z. B. Schriftsteller oder solche, welche sich auf die so genannten freyen und schönen Künste gelegt haben und betastbare Arbeiten liefern. Zugleich erhellet aber auch, warum z. B. bloße Schauspieler, öffentliche Deklamatoren, Tagelöhner, Bedienten u. dergl. keine Bürger werden können.309

Aus der Sicht dieses, wenn auch noch eingeschränkten Verständnisses vom Bürger als selbständig erwerbender Teil des Staatswesens, war es für Ewald folgerichtig, wenn er den Frauen grundsätzlich das Bürgerrecht einräumte. Er argumentierte: Uebrigens liegt in der Vernunft selbst kein Grund, dem Frauenzimmer die Eigenschaft, Bürgerinnen zu werden, streitig zu machen. Eine Frau, die bürgerliche Nahrung treibt, Stickereyen u. dergl. verfertiget, verkauft und sich damit nährt, kann mit gleichem Rechte Anspruch machen, unter die Bürgerschaft aufgenommen zu werden, wie der Mann, der ein gleiches oder ähnliches Geschäfte treibt.310 308 Ebenda. 309 Ebenda, S. 69. 310 Ebenda, S. 69 f. Mit seiner Erklärung dieses Unrechts plädierte Ewald letztlich für die Anerkennung der Frauen als Bürgerinnen: »Ohne Zweifel liegt aber die Ursache, warum man sie von diesem Vorrechte ausschließt, nicht in einer persönlichen Unvermögenheit und Unbefugtheit, sondern theils in ihrer Eigenschaft als wirkliche oder dereinstige kindergebährende Gattinnen, die sie längere Zeit von dem Staatsdienste entfernen würde, theils in der Art ihrer gewöhnlichen Beschäftigungen, die sie auf die Besorgung des Hauswesens und der Oeconomie einschränken, welche zum Schaden und Nachtheil des Bürgers

312 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Bei seinen Betrachtungen der Struktur der Bürgerschaft hatte Ewald nicht zuletzt die Gothaer Verhältnisse im Blick. Insbesondere die Ausprägung des geistigkulturellen Bereichs als eigenständiger Erwerbssektor (Wissenschaftliche Sammlungen und Einrichtungen, Ekhof-Theater, Zentrum der Publizistik u. a.) beeinflusste sein Urteil. Sie waren als moderne, bürgerliche Erwerbsstrukturen entstanden und drängten zur Aufhebung der ständischen Vorrechte, insbesondere der des Adels.

2.4. Die Staatsgewalt und die politische Vernunft Ausgehend vom Staatsendzweck entwarf Ewald ein breites Spektrum von Postulaten und konkreten Vorschlägen zur Reformierung des allgemeinen Staatsrechts und der positiven Gesetzgebung. Sein Ziel war es, die Menschenrechte in gesetzlicher Form zu fixieren und den Bürger zur Wahrnehmung seiner Rechte und Verbindlichkeiten bzw. Pflichten anzuhalten. Denn, so Ewald, der p o l i t i s c h e n F r e y h e i t geht die p o l i t i s c h e G l e i c h h e i t zur Seite, welche in der Theilnehmung aller Glieder des Staats an den von der höchsten Gewalt durch Gesetze bestimmten Rechten und Verbindlichkeiten ohne Unterschied des Standes, Ranges, der Geburt, des Geschlecht u.s.w. besteht. Denn da alle die vernunftgemäßen Mittel zur Erreichung des Staatsendzwecks wollen, diese Mittel aber keine andere sind als die Gesetze; so muß angenommen werden, daß es der Wille aller sey, sich das gefallen zu lassen, was durch diese Gesetze bestimmt wird.311

Unter diesem Vorzeichen sei es Pflicht der höchsten Gewalt, die Erhaltung eines gerechten Friedens zwischen den Nationen durch Bündnisse anzustreben, um »die Sicherung, Beförderung und Erreichung des Staatsendzwecks« 312 zu garantieren. Denn seit der Einführung des Erbfolgerechts habe die unmäßige Herrschbegierde der Regenten sowie das Vergrößerungssystem unter den Potentaten den »Keim zu immerwährenden Kriegen gepflanzt«,313 so dass selbst der Vertheidigungskrieg [...] oft ohne volle, so wie der Eroberungskrieg immer mit einem Schein der Gerechtigkeit geführt werden.314

Da die Könige und die Fürsten »für ihr eigenes Interesse« Kriege führen, so ist es

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und des Unterthans vernachlässigt werden würden, wenn sie, besonders zu Kriegszeiten, Dienste und Lasten, die der Bürger und Unterthan als Pflicht zu übernehmen hat, gleich diesem und mit diesem zugleich übernehmen sollten«, ebenda. Ebenda, S. 62. Ebenda, S. 75. Ebenda, S. 74. Ebenda, S. 75.

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also nicht wohl thunlich, nach Grundsätzen des allgemeinen Staatsrechts bestimmen zu wollen, wann und wie lange sie der S a l u s p u b l i c a, d. i. der Sicherheit und der Erhaltung der Rechte der Staatsglieder, im Besondern und Allgemeinen gemäß sind.315

Ewald benannte das Kriterium für die Außenpolitik der höchsten Gewalt: Der Endzweck des Staats, die Rettung und Erhaltung der Rechte der Unterthanen, und der Staatsverfassung muß auch hier die Fackel seyn, die der höchsten Gewalt zur Beurtheilung der Nothwendigkeit oder Schädlichkeit eines Friedensschlusses vorleuchtet.316

Er warnte nachdrücklich vor dem Anwachsen eines übermäßigen Reichtums in der Hand eines Standes oder einer Person. Denn es sei die Aneignung von Vorrechten zu befürchten. Dieser Vorgang gebe die Mittel in die Hand »sich eine Parthey zu machen«, die den »Staat in seinen Grundfesten erschüttert, bestandene Einrichtungen und Verfassungen können aufgehoben und andere eingeführt werden«.317 Er erklärte: Uebermäßiger Reichthum gibt seinen Besitzern Mittel, sich über das Ansehn der Gesetze zu erheben, andere ungestraft zu bevortheilen und zu beleidigen, und ist, eine von den Ursachen des Verfalls und Untergangs des Römischen und der Griechischen Freystaaten, innerer Empörungen und Revolutionen, zu welchen der große Haufe des armen unbemittelten Volks um so williger die Hände bietet, als er auf der einen Seite den Versuchungen der Bestechung nicht widerstehen kann, und auf der andern eher in der Unordnung und Verwirrung als auf gesetzliche Weise sein Glück zu finden glaubt.318

In diesem Zusammenhang äußerte Ewald die Meinung, dass die »Selbsterhaltung« und die »Aufrechthaltung der innern Sicherheit« 319 des Staates nicht durch geheime und unbekannte Gesellschaften bzw. Sozietäten gefährdet werde. Wenn sie dem Zweck des Staates entgegenarbeiten, so müssten sie verboten werden. Jedoch als Illuminat und Freimaurer forderte er: Hingegen kann die höchste Gewalt keine Gesellschaften im Staate vernichten, die Gutes thun, wohlthätig sind, Aufklärung, gesunde Vernunft und Sittlichkeit und alles das zu befördern trachten, wovon angenommen werden muß, daß es dem allgemeinen als vernünftig vorauszusetzenden Willen der Staatsglieder gemäß sey. Nach den Grundsätzen des allgemeinen Staatsrechts, welche wegen ihrer Allgemeinheit und Nothwendigkeit eher und mehr sind als die veränderlichen Maximen der Staatsklugheit, die bloß aus Fehlern, Mängeln und Mißbräuchen entstanden ist, können wohleingerichtete auf dem Staatsendzwecke entsprechenden Zwecken hinarbeitende Gesellschaften nicht verboten werden [...].320 315 Ebenda, S. 77. 316 Ebenda, S. 76 f. 317 Ebenda, S. 89. 318 Ebenda. 319 Ebenda, S. 92. 320 Ebenda, S. 93 f.

314 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Aus diesem Grunde mahnte Ewald den Gesetzgeber und die Staatsgewalt in ihren Entscheidungen jeden Schimmer des Lichts der Vernunft verbreiten zu helfen, damit das Ganze Theil daran nehme und allmählig mit der Aufklärung der Einzelne fortschreite; Einheit der Erkenntnisse mit der Einheit des vernünftigen Willens in Beförderung des Staatsendzwecks jederzeit Schritt halte [...].321

Mit Leidenschaft mahnte er die Aufklärung der Staatsbürger an, da deren Vernachlässigung immer Missstände hervorgebracht habe. Er sah deren Quelle in angenommenen Meinungen, Vorurtheilen, Aberglauben, in Eingenommenheit gegen und Vorliebe für gewisse Lehrsätze und Lehrer, im Orthodoxismus und Libertinismus, in der Unfähigkeit und Unaufgelegtheit derer, die die höchste Gewalt verwalten, jederzeit in Rücksicht auf alles die Wahrheit zu erkennen, und im Schlendrianismus, vermöge dessen man alles auf dem Fuße läßt, und fortführt, wie es uns von unsern Vorfahren hinterlassen worden, und in andern ähnlichen Ursachen mehr liegen mögen; diese Vernachlässigung hat, in der falschen Voraussetzung, daß alles seinen ordentlichen Gang gehe, und daß es von Anbeginn der Staaten an nicht besser habe gehen können, noch künftig gehen werde, den unseligen Gedanken erschaffen, daß Aufklärung des Verstandes und der Vernunft schädlich und der Bürger und Bauer glücklicher und besser daran sey, wenn er in Unwissenheit gelassen werde.322

In Anlehnung an Platons Vorstellung vom Philosophen an der Spitze der Staatsgewalt äußerte er die Idee vom Wechselverhältnis zwischen Gesetzgeber und Philosophen, um eine vernunft- und zweckmäßig eingerichtete Verfassung des Staates und seiner Verwaltung zu erreichen: Denn, wenn in manchen Stücken der Gesetzgeber, der, als solcher, der Philosophie schlechterdings nicht entrathen kann, dem Philosophen die Bahn brechen und vorarbeiten muß, so muß hingegen, in andern Fällen, der Philosoph wieder dem Gesetzgeber vorarbeiten; da bekannt ist, daß selbst die höchste gesetzgebende und ausübende Gewalt [...] durch eine Menge von Vorutheilen, Mißbräuchen [...] in ihren Vorsätzen und Unternehmungen zur Beförderung des gemeinschaftlichen Staatsendzwecks gestöret wird.323

Auf diesen fundamentalen und funktionalen Zusammenhang von Weltweisheit und Machtgestaltung, konzentriert in den Händen der höchsten Gewalt, gründete Ewald letztlich seinen Entwurf eines Staats- und Rechtssystems. Die Konstellation von Geist und Macht eröffnete für ihn die Möglichkeit, die Selbstgestaltung der Existenz des Menschen als moralisches Wesen zu befördern.

321 Ebenda, S. 136. 322 Ebenda, S. 136 f. 323 Ebenda, S. 137 f.

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2.5. Die Notwendigkeit der moralischen Erziehung und Bildung der Staatsbürger Nicht zuletzt aus der Einsicht in die differenzierte Struktur der Gesamtheit der Staatsbürgerschaft ergab sich für Ewald die besondere Bedeutung der moralischen Bildung und Erziehung aller Staatsbürger zur Realisierung des Staatsendzwecks. Mit Leidenschaft und Weitsicht setzte er sich für deren zielgerichtete Gestaltung in einem öffentlich geförderten System der sittlichen Aufklärung ein. Letztere sah er als Hauptaufgabe an, wenn die von Kant konzipierte Zweck-Mittel-Dialektik der moralischen Kultivierung gelingen sollte. Nur unter dieser Voraussetzung werde der Bürger die bestehende Rechtsordnung und Regierungspraxis als die Seinige anerkennen und mitgestalten. Denn, so Ewald: Quid leges (sagt schon H o r a z in der 24ten Ode des dritten Buchs) fine moribus vanae, proficiunt? Was nützen Gesetze, die ohne Sitte vergeblich sind? oder, was können Gesetze ausrichten, wenn sie nicht durch Sittlichkeit unterstützt werden?324

Obwohl er davon ausging, dass Handlungen in Rücksicht ihrer Beweggründe bloß vor den innern Richterstuhl der Vernunft gehören, man wegen derselben dem weltlichen Richter keine Rechenschaft zu geben schuldig sei, so lange die Handlung selbst den Gesetzen der höchsten Gewalt im Staate gemäß ist [...],

sah er die Repräsentanten des Staates in der unabweisbaren Verantwortung, die »Beförderung der Sittlichkeit« als permanente Aufgabe anzusehen.325 Er stellte seine Position klar: Die höchste Gewalt hat nur die Hälfte ihrer Pflicht erfüllt, wenn sie, bloß zufrieden mit der bürgerlichen Tugend ihrer Unterthanen, die lediglich in der Erfüllung der Vorschriften der bürgerlichen Gesetze aus Furcht vor den mit ihrer Nichtbefolgung verbundenen nachtheiligen Folgen besteht, gegen die Beförderung solcher Handlungen, die aus höhern und edlern Bewegungsgründen und bloß aus Achtung für das Sittengesetz geschehen, gleichgültig bleibt.326

Ewald war sich der Tatsache bewusst, dass zwischen der vernunftgeleiteten moralischen Motivation einer Persönlichkeit und ihrem Handeln ein spannungsreiches Verhältnis besteht. Deshalb drang er darauf, dass die »sittliche Erziehung« nach den Prinzipien der Vernunft durch die Repräsentanten des Staates gefördert wird. Aus der Erfahrung, so unterstrich Ewald seine Forderung, weiß ich, daß die Sittlichkeit durch Belohnungen, sie mögen zum voraus versprochen, oder hinter her ertheilt werden, nicht befördert werden kann, weil dadurch ein 324 Ebenda, S. 103. 325 Ebenda, S. 101 f. 326 Ebenda.

316 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe sinnlicher Bewegungsgrund an die Stelle des bloß sittlichen, reinvernünftigen unvermerkt untergeschoben werden und die Beyspiele der Belohnung ihrer Vorgänger eine Folge von Nachahmern nach sich ziehen würden, die, so vortrefflich und nützlich auch ihre Thaten ihren Folgen nach wären, gleichwohl, da sie gleiche Belohnung erwarten dürfen, allen Anspruch auf reine Tugend aufgeben müßten.327

Im Sinne des von ihm zugrunde gelegten Moralprinzips forderte Ewald nachdrücklich, dass sich die Staatsgewalt mit ihren gesetzgeberischen und exekutiven Möglichkeiten dieser Zweck-Mittel-Beziehung annimmt. Da Ewald feststellte, dass die traditionellen Belohnungen der Staatsbürger durch die Herrschenden die reine Tugend nicht befördern und lediglich die bestehenden Verhältnisse äußerlich stabilisieren, argumentierte er für die allseitige »moralische Bildung und Erziehung« unter der Leitung des Staates. Allein man kann daraus nicht folgern, dass der Staat sich um die Beförderung und Verbreitung der Sittlichkeit und der Befolgung ihrer Grundsätze nicht zu bekümmern habe, und dieselbe außer der Sphäre der höchsten Gewalt liege. Diese ist vielmehr vollkommen berechtiget sich der Beförderung der Sittlichkeit mit Nachdruck anzunehmen, da nicht allein von derselben die leichtere und willigere Befolgung der positiven Gesetze abhängt, sondern auch durch Sittlichkeit die Gemüther der Unterthanen geneigter gemacht werden, den Endzweck des Staates, so viel an ihnen liegt, in ihren rechtlichen Verhältnissen befördern zu helfen.328

Ewald wusste als erfahrener Staatsbeamter, dass die Einhaltung der bürger­ lichen Gesetze durch Menschen erfolgen kann, die alle möglichen legalen Vorteile egoistisch nutzen und nicht befürchten müssen, von der gesetzgebenden Gewalt eingeschränkt zu werden. »Sogar die Verfolgung des strengen Rechts ist oft mit der größten Beleidigung und Kränkung der wichtigsten Menschenrechte verbunden«, und die gesetzgebende Gewalt könne nur mittelbar eingreifen, indem sie allseitig »mit dem größten Ernste bey der Erziehung der Menschen zur Sittlichkeit« 329 zur Mäßigung erziehe. Deshalb forderte er: Ohne Unterricht in den Grundsätzen und Vorschriften der Moral läßt sich von dem größten Theile der Menschen, die bloß für ihr Privatinteresse sorgen, ihre Gedanken täglich auf die Mittel ihres Erwerbs und ihrer Bereicherung richten, und vom Morgen bis an den Abend mit der Moral ganz fremder und heterogener Geschäfte überhäuft sind, folglich keine Zeit und Gelegenheit, und bey dem Mangel aller Bildung auch keine Anlage und Geistesstärke haben, um jene Grundsätze aus sich selbst herzuholen, keine Sittlichkeit erwarten.330

327 328 329 330

Ebenda, S. 102. Ebenda, S. 102 f. Ebenda, S. 103 f. Ebenda, S. 104.

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Aus diesem Zwiespalt zwischen der rauhen Wirklichkeit der Existenzsicherung durch den Einzelnen sowie den unterschiedlich privilegierten Schichten und den Postulaten der vernunftbegründeten Moral ergaben sich für Ewald fundamentale Fragen zur moralischen Bildung und Erziehung. Sie implizierten Forderungen, die sich – solange menschliche Gemeinschaften existieren – als zeitlos und unabweisbar erweisen. Er beschrieb die Mängel in der praktischen Gestaltung der moralischen Erziehung und benannte drei Schwerpunkte der staatlichen Arbeit: Die Mittel, welche die höchste Gewalt zur Vermehrung und Erhaltung des Fonds der Sittlichkeit im Staate in Händen hat, bestehen in öffentlichen Anstalten zur sittlichen Bildung; in Kennzeichen der öffentlichen Achtung gegen tugendhafte Personen und Handlungen; und in der Verhinderung alles dessen was Unsittlichkeit veranlassen kann.331

Den Schwerpunkt der Verantwortung des Staates zur Hebung des sittlichen Verhaltens der Staatsbürger sah Ewald in der inhaltlichen und institutionellen Gestaltung eines moralischen Bildungssystems für alle Bürger. Insbesondere für die heranwachsende Generation forderte er dessen praktische Einrichtung ein: Wo aber sind die Schulen, wo dem Bürger von seiner frühen Jugend an, dieser Unterricht ertheilet würde? wo die Schulen, wo man ihn die Tafel der Gebote und Pflichten nicht bloß auswendig lernen ließe, sondern ihm dieselben auch nach ihren in seiner vernünftigen Natur selbst liegenden, obwohl noch nicht zu seinem Bewußtseyn empor gehobenen Gründe, und nach ihrem ganzen Umfange und Interesse, übersehbar und eindringlich machte? wo die Schulen, in welchen ihm außer dem Geschichtlichen und Mysteriösen seiner Religion auch der bey weitem wichtigere Theil derselben, die Vorschriften der reinsten Sittenlehre vorgetragen würden? wo die Schulen für den gemeinen Mann, in welchen man solche Lehrer angestellt sähe, die von dem Werthe und der Wichtigkeit der Moral durchdrungen wären und dabey auch das Talent besäßen, die Aufmerksamkeit ihrer Zuhörer durch leichten und eindringlichen Vortrag zu fesseln, die Gemüther derselben dieser großen menschenbeglückenden Lehren der Moral empfänglich zu machen, und in ihnen den Willen, diesen Grundsätzen gemäß zu handeln, zu erregen und zu befestigen?332

Ungeachtet dieser Kritik setzte Ewald auf die »Erziehung zur Sittlichkeit« als »ein Hauptgegenstand des öffentlichen Unterrichts«, da ein tugendhafter Mensch die gegebenen Gesetze, wenn sie dem Endzweck des Staates entsprechen, nicht bloß formal, sondern auch dem Geiste und der vernünftigen Absicht des Gesetzgebers nach, erfüllen wird.333 331 Ebenda, S. 106. 332 Ebenda, S. 105. 333 Ebenda.

318 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Er kritisierte die »gesetzgebende Gewalt«, ohne ein Land zu nennen, weil sie nicht selten durch unsittliche Mittel, wie Betrug, Gewalttätigkeit, Heuchelei und Verstellung, der Unsittlichkeit Vorschub leistet. Deshalb maß er, neben der allgemeinen Gottesverehrung, den öffentlichen Schulen eine besondere Bedeutung für die moralische Erziehung aller Menschen im Staatsgebiet bei. Sie sollten vor allem für den »gemeinen Mann«, der nicht studieren wird, den Charakter von »Sittenschulen« erhalten. Bei deren Konzeption empfahl Ewald – hier trat sein frühes psychologisch-pädagogisches Interesse hervor – drei Kurse des moralischen Unterrichts einzurichten, die die Altersstufen der Heranwachsenden berücksichtigen. Er schlug vor: Der erste würde die Moral nach dem Grundsatze der e i g e n e n Glückseligkeit, der den ersten Kinderjahren am angemessensten ist; der zweyte eine Moral nach dem Systeme der a l l g e m e i n e n Glückseligkeit; der dritte endlich das r e i n e Moralsystem lehren.334

Allerdings erkannte Ewald, dass dieses Vorhaben wohl scheitert, weil der letzte Kurs, der inhaltlich wichtigste, die Jugendlichen nicht mehr erreicht, da sie »schon nach Zurücklegung ihres dreyzehnten Jahres, folglich in einem Alter aus der Schule entlassen« werden, »wo sie noch gar keines eigentlichen moralischen Unterrichts fähig sind«.335 Deshalb sei es leicht einzusehen, dass die Jugend, da sie nun in andere Verhältnisse, zur Erlernung einer Kunst, eines Handwerks u. dergl. eintrifft, für sie jede Gelegenheit, in den Grundsätzen einer reinen Sittenlehre unterrichtet zu werden, verloren ist.336

Deshalb empfahl er, »weltliche Anstalten« einzurichten, in denen allen jüngeren Bürgern, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, die Grundsätze der Moral vermittelt werden.337 Wichtig war ihm, dass die Religionszugehörigkeit der Entscheidung des Gewissens des Einzelnen überlassen bleibt und die höchste Gewalt nur insofern »ein Mittel die Moralität zu befördern« darstellt, als ihr bloß das Recht zusteht, darüber zu wachen, daß keine die Sittlichkeit beleidigende Lehren, Gebräuche und Ceremonien in denselben [Gottesdiensten – H. S.] aufgenommen und befolgt werden [...].338 334 Ebenda, S. 107. 335 Ebenda. 336 Ebenda. 337 Vgl. ebenda, S. 107 f. Ewald schlug vor: »Um diesen in der That sehr beträchtlichen Mangel zu ersetzen, wäre es sehr nützlich und zweckmäßig, Anstalten zu errichten, in welchen der gemeine Mann diesen so unentbehrlichen Unterricht durch Vorlesungen erhielte, an welchen alle Glieder des Staats ohne Unterschied der Religionen gleichen Antheil nehmen könnten, und die außer ihrem eigentlichen Zwecke noch den großen Vortheil nicht verfehlen könnten, daß Leute, die der Unterschied des religiösen Glaubens trennt, einander näher gebracht, und die Religionsvorurtheile, mit welchen sie wechselseitig gegen einander eingenommen sind, endlich vernichtet« würden. 338 Ebenda, S. 142.

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Er forderte nachdrücklich, dass in öffentlichen Bildungseinrichtungen die Lehren der »besonderen Religionspartheyen« den Kindern nur historisch vorgelegt und eingeprägt werden. Hingegen sollte eine »auf reine Prinzipien hinweisende Tugendlehre, und eine politische Pflichtenlehre« im Vordergrund stehen. Denn in wie fern der Erkenntnißgrund des Inhalts eines religiösen Satzes in der Vernunft selbst liegt, gehört er eigentlich zur Moral oder zur Vernunftreligion; liegt er aber außer der Vernunft so läßt sich gar keine Erklärung davon geben, und bloße Accommodation der Glaubensartikel einer g e o f f e n b a r t e n Religion ist willkürlich, es mag sie geben wer da will [...].339

Ferner befürwortete er, dass »wahrhaft tugendhafte Menschen öffentlich geehret« werden; denn: Wenn es wahr ist, daß nur derjenige glücklich zu seyn verdient, der sich hierzu würdig gemacht hat, das Reich der Natur und Sitten, Glückseligkeit und Tugend aber auch schon auf der Erde so viel möglich in Harmonie gebracht 340

hat, den sollte die höchste Gewalt als »Vorbild« ehren.

2.6. Die Sicherung der Subsistenz der Bürger und die Steuerpolitik des Staates Das Problem der Subsistenzerhaltung der Staatsbürger wollte Ewald im Sinne des Staatsendzwecks unbedingt gelöst wissen. Hier seien, so meinte er, willkürlich gewählte »Maximen der Staatsklugheit« völlig fehl am Platz, weil aus dieser Verfahrensart nichts als Inconsequenzen entstehen, und die höchste Gewalt ohne Unterlaß Gefahr läuft, mit sich selbst in Widerspruch zu gerathen.341

Er sah das Funktionieren der »Staatsmaschine« 342 in Gefahr, wenn die höchste Gewalt die Selbsterhaltung der Bürger nicht befördert. Schon beim Thema sittliche Erziehung hatte er die Notwendigkeit hervorgehoben, dass sich die Staatsgewalt um die eigenständige Existenzerhaltung aller Bürger zu sorgen hat, um die Quelle des »Müßiggangs«, der »aller Laster Anfang ist«, mit geeigneten Mitteln zu verstopfen.343 Auf eine geradezu moderne Sichtweise artikulierte Ewald den Zusammenhang von selbsterhaltender Arbeit und moralischer Gesinnung für den Staatsbürger. Er schlug folgendes Konzept für die Einflussnahme der höchsten Gewalt auf die Lösung dieses Problems vor: 339 Ebenda, S. 143. 340 Ebenda, S. 110 f. 341 Ebenda, S. 133. 342 Ebenda. 343 Ebenda, S. 116.

320 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Zu dem Ende muß sie dafür sorgen, daß Handel, Manufacturen und Fabriken, die mehrere Hände zu beschäftigen, und den Arbeitern Nahrung zu geben geschickt sind, entstehen, in Aufnahme kommen, folglich die Hindernisse, die den Unternehmern in den Weg treten möchten, gehoben, und dieselben so viel möglich unterstützt und begünstiget werden. Sind in einem Lande Handel und Fabriken noch nicht von dem Umfange, daß sie die Einwohner hinreichend beschäfftigen und einem jeden, der arbeiten will, Nahrung geben können, so muß eine für das Wohl ihrer Unterthanen besorgte höchste Gewalt den arbeitlosen auf andere Art Arbeit zu geben suchen. Dieses geschieht am zweckmäßigsten durch Errichtung öffentlicher Werk= oder Arbeitshäuser, in welchen dürftigen Meistern Materialien zur Verarbeitung dargereicht, denselben die Arbeiten bezahlt, und die gefertigten Waaren von ihnen in die Niederlagen zum Verkaufe abgeliefert werden.344

Zur Versorgung der Menschen, die aus objektiven Gründen ihre Subsistenz durch Arbeit nicht sichern können, schlug Ewald ein sozial gerechtes Verfahren zur Vergabe von »Almosen« vor: Almosenanstalten dienen eher zur Beförderung als zur Abstellung des Müßiggangs, wenn jeder ohne Unterschied, der an den nothwendigsten Bedürfnissen Mangel leidet, Antheil daran nehmen darf. Niemand ist im Staate verpflichtet den andern, der noch zu arbeiten im Stande ist, ernähren zu helfen, und ohne andern zu dienen und zu arbeiten, kann keiner mit Recht Anspruch auf Erwerb machen. Almosen sollte man nur solchen dürftigen Personen ertheilen, die durch Alter, Gebrechlichkeit, und anderes körperliches Unvermögen zur Arbeit und zum Dienste unfähig, so wie armen Witwen, die mehrere Kinder haben, und auch bey allem Fleiße solche mit ihrer Arbeit zu ernähren nicht im Stande sind.345

Von diesen Voraussetzungen ausgehend, lehnte Ewald das öffentlich geduldete »Betteln« – wie es zeitweise auch im Herzogtum Gotha üblich war – strikt ab; denn: Das Betteln und Privatalmosengeben muß, wenn der Staat zur Ernährung der Einwohner die nöthigen Vorkehrungen und Einrichtungen getroffen hat, schlechterdings, sowohl in Ansehung der Bettelnden als der Gebenden, verboten seyn; weil sonst ein wichtiger Zweck, die Steuerung des Müßiggangs, und die dadurch beabsichtigte Beförderung der Sittlichkeit vernichtet werden würde.346

Da Ewald davon ausging, dass die materiellen Bedingungen für die Existenz des Staates und die Subsistenz seiner Bürger, neben der allgemeinen Aufklärung und der Sicherung der Rechtsverbindlichkeit, von elementarer Bedeutung sind, äußerte er sich detailliert mit kritischen Hinweisen und konstruktiven Vorschlägen zu den bestehenden Eigentums- und Besteuerungsverhältnissen. Vermutlich 344 Ebenda, S. 116 f. 345 Ebenda, S. 117. 346 Ebenda. An anderer Stelle bemerkte Ewald: »Wenn Einrichtungen in einem Staate vorhanden sind, wo, wer nur arbeiten will, seinen Unterhalt durch Arbeit finden kann, da darf keinem, der Kräfte zu arbeiten hat, aber müßig geht, das Betteln verstattet, noch weniger öffentliches Almosen gegeben werden. Ein Staat, wo öffentliche Betteley geduldet wird, ist sicher sehr schlecht verwaltet, und in der Cultur noch weit zurück«, ebenda, S. 286.

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von Rousseau angeregt und durch die revolutionären Umbrüche in Frankreich beeinflusst, plädierte er in diesen Bereichen für einen angemessenen Ausgleich der Interessen. Er hielt es für notwendig, Extreme im Besitz von »Eigentum« und in der »Besteuerung« abzubauen, um soziale Spannungen und Revolten zu vermeiden. Obwohl Ewald das Eigentum des Staatsbürgers und dessen rechtliche Sicherung als Fundament der politischen Freiheit und Gleichheit ansah, warnte er vor der »Uebermacht« von »ü b e r m ä ß i g e m R e i c h t h u m eines Bürgers« und »dem u n v e r h ä l t n i s m ä ß i g g r o ß e n A n w a c h s eines Standes«.347 Die Beispiele chaotischer Verhältnisse aus Geschichte und Gegenwart veranlassten ihn, folgende Warnung auszusprechen: Sobald das Vermögen oder die Macht eines Privatmannes oder einer Classe von Bürgern so groß wird, daß sie den Kräften der im Staate bestehenden höchsten Gewalt das Gleichgewicht hält, oder wohl gar dieselben überwiegt, welches durch die Bereitschaft der Mittel sich eine Parthey zu machen, und solche zu vergrößern, leicht geschehen kann; so bald kann auch der Staat in seinen Grundfesten erschüttert, bestandene Einrichtungen und Verfassungen können aufgehoben und andere eingeführt werden, die den der alten Verfassung ergebenen Bürger seiner vorigen Rechte verlustig machen, oder ihn wenigstens in dem Gebrauche und dem Genusse derselben einschränken und belästigen.348

Es waren die politischen und sozialen Auseinandersetzungen in Frankreich, vor deren destabilisierender Wirkung er warnte. Er forderte die Begrenzung des Eigentums und vor allem die Freizügigkeit zu dessen Erwerb für alle Bürger: Die Mittel, welche die höchste Gewalt zu diesem Ende ins Werk setzen kann, sind: die Aufhebung der Untheilbarkeit liegender Grundstücke; der Majorate; der ausschließenden Privilegien und Monopolien; die Einführung eines völlig freyen Handels; die Bestimmung der Gränzen des Rechts zu testiren, sowohl in Rücksicht der Summen der Vermächtnisse, als der Anzahl der Erben; die Bestimmung der Gränzen der Schenkungen und des Besitzes der so genannten u n s t e r b l i c h e n Gesellschaften, z. B. Klöster, Ritterorden; das Recht des Wiederkaufs und der Wiedereinlösung; endlich auch Veranlassungen, die man Reichen gibt, einen ihrem Reichthume angemessenen Staat und Aufwand zu machen.349

Ein wesentliches Mittel, diese soziale Balance im Sinne des Staatsendzwecks zu erreichen, sah Ewald in der Einführung einer Besteuerung »aller« Staatsbürger, die ihren Lebensverhältnissen entspricht und die Grundlage ihrer Subsistenz nicht in Frage stellt. Er wollte Steuergerechtigkeit erreichen, indem er ungerechtfertigte »Privilegien«, insbesondere die des »Adels«, zu beseitigen suchte. Auch hier warnte Ewald die Herrschenden eindringlich vor dem Missbrauch der Besteuerung der Untertanen durch das sogenannte »subsidiarische Mittel der 347 Ebenda, S. 88. 348 Ebenda, S. 88f . 349 Ebenda, S. 90 f. Ewald empfahl den Reichen die »Errichtung gemeinnützlicher Institute« (Sammlungen, Bibliotheken u. ä.) zum nützlichen Gebrauch der Reichtümer.

322 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Steuerausschreibung«.350 Dabei werde ohne Not und willkürlich über das Eigentum von Privatpersonen verfügt. Die Folge wäre, daß der Regent über den Beutel seiner Unterthanen so oft gebieten könnte, als er in dem Falle zu seyn glaubte, zur vorgeblichen Erhaltung des Staats einen ansehnlichen Aufwand machen zu müssen. Ein Regent, der nach dieser Maxime verführe, der das Eigenthum seiner Unterthanen als das seinige betrachtete, würde sich dann freylich, in der Meinung, daß die Erreichung seiner Privatabsichten den Staat eben so sehr interessire und den Vortheil desselben so gut als den seinigen befördere, in kostbare Unternehmungen einlassen, die am Ende den gerade entgegengesetzten Erfolg hätten, und die Wohlfahrt des Ganzen, so wie den Wohlstand der Privatpersonen, zu Grunde richten würde.351

Im Missbrauch dieser Besteuerung der Staatsbürger sah Ewald eine Ursache, die die revolutionären Zustände und die ungeordneten Verhältnisse in Frankreich herbeigeführt haben: Dieß ist die Maxime, nach welcher seit einem Jahrhundert die Könige in Frankreich diesen von der Natur so gesegneten Staat verwalteten, und die völlige Umkehrung der Regierungsform und alle Gräuel, die diese Revolution begleitet haben und noch begleiten, der Erfolg, den ihre Anwendung endlich hervorgebracht hat.352

Um einen derartigen Missbrauch353 zu vermeiden, formulierte Ewald den »Grundsatz des Besteuerungssystems«.354 Er leitete ihn konsequent aus der Zweck-Mittel-Beziehung der Zielsetzung des staatstheoretischen Entwurfs ab: Der Grundsatz des Systems der öffentlichen Auflagen ist: J e d e s S t a a t s g l i e d m u ß i n e b e n d e m Ve r h ä l t n i ß v o n d e m r e i n e n E r t r a g e s e i n e s E i g e n t h u m s, z u B e s t r e i t u n g d e s z u E r r e i c h u n g d e s S t a a t s e n d z w e c k s e r f o r d e r l i c h e n A u f w a n d e s b e y t r a g e n, a l s e s A n t h e i l a n d e m ö f f e n t l i c h e n S c h u t z e d e r G e s e t z e, u n d der zur Sicherstellung des Genusses der persönlichen und d i n g l i c h e n R e c h t e g e t r o f f n e n A n s t a l t e n n i m m t.355

Ewald präzisierte die soziale Struktur der Steuerpflichtigen und den Gegenstand der Besteuerung: 350 Ebenda, S. 276. 351 Ebenda. 352 Ebenda, S. 276 f. 353 Ebenda, S. 284. Ewald erklärte: Was den Endzweck des Staates in keiner Weise befördert, »kann nicht als Bedürfniß des Staates angesehen werden. Gastmale und Schmausereyen, Belohnungen für Mätressen und Günstlinge, so wie überhaupt jeder Aufwand, der von den Inhabern der höchsten Gewalt über die Gränzen ihres öffentlichen und Privateinkommens gemacht wird, trägt zur Beförderung des Staatsendzwecks gar nichts bey, und kann also keinen Grund abgeben, die Unterthanen mit Abgaben zu beschweren.« 354 Ebenda. 355 Ebenda.

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Alle Staatsglieder, welche ein Eigenthum an Grundstücken oder an Capitalien besitzen, oder ein erwerbendes Geschäfft treiben, keiner ausgenommen, sind schuldig Abgaben zu entrichten; jedoch ein jeder nach dem Verhältniß des Quantums seines reinen Gewinnes.356

Das Subsistenzrecht des Staatsbürgers soll diejenigen von Steuern befreien, die kein Eigentum besitzen oder Almosen empfangen, also keinen reinen Gewinn erzielen, und nur so viel verdienen bzw. erhalten, was sie zum »nothdürftigen Unterhalte« benötigen. Andererseits ist der Staat nicht verpflichtet, gesunde Bettler zu ernähren, vielmehr ist jeder, der Kräfte zu arbeiten hat, verpflichtet, sich durch Arbeit wenigstens so viel zu verdienen, daß er dem gemeinen Wesen nicht zur Last falle.357

Denn »Müßiggang ist eine Pflichtverletzung« und die Obrigkeit hat das Recht, jeden Bürger »zur Rede zu stellen, und zu fragen, wovon nährst du dich?«.358 Nachdem Ewald detailliert auf die Steuergesetze eingegangen war und Vorschläge für die Auflagen auf Staatseigentum, privates Grundeigentum, Gewerbe und Handel vorgelegt hatte, sprach er das neuralgische Problem der »S t e u e r f r e y h e i t d e r a d l i g e n G ü t e r b e s i t z e r « 359 an, deren Rechtmäßigkeit er kritisch hinterfragte. Er setzte sich mit der historischen Entstehung dieses Privilegs der »R i t t e r g u t s b e s i t z e r« auseinander und kam zu dem Schluss, dass sich die »Lehensverfassung«, auf der diese »Vorrechte« beruhen und die »Freyheit des Adels von gemeinen Abgaben« rechtfertigt,360 überlebt hat. Ewald stellte die Frage: Aber was sind das für Vorrechte, die zwey mächtige Partheyen [Landesherr und Adel – H. S.] eines Staats zu ihrem eigenen Vortheile, und zum Nachtheile des größten übrigen Theils der Staatsbürger, wechselseitig sich ausbedingen, ohne diesen darum zu fragen, und ohne sich dieselben von diesem bestätigen zu lassen?361

Vehement forderte er im Interesse des Staatsendzwecks den demokratischen Gebrauch der Zweck-Mittel-Beziehung, wenn er meinte: Offenbar ist hier der Fall, wo der gemeinschaftliche Wille, wenn man ihn gefragt hätte, anders entschieden haben würde, der Fall, wo politische Freyheit und Gleichheit aufgehoben sind, wo der größte Theil der Staatsglieder bloß als Mittel gebraucht wird.362

Ewald verwies, wenn auch sehr allgemein, auf die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die auch neue Rechtsverbindlichkeiten hervorgebracht haben. 356 Ebenda, S. 285. 357 Ebenda, S. 286. 358 Ebenda, S. 291 f. 359 Ebenda, S. 323. 360 Ebenda, S. 326 f. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 370–372. 361 Ebenda, S. 326. 362 Ebenda.

324 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Sein Urteil lautete: Gegenwärtig ist kein Schatten von der alten Lehnspflicht mehr übrig; wie kann man also noch Vorrechte, die sich auf jene Pflicht gründeten, genießen wollen, da diese gar nicht mehr vorhanden ist?363

Von daher wagte Ewald einen perspektivischen Blick und hoffte aufgrund des erfolgten Gesinnungswandels auf eine gerechtere Gesellschaft: Die Denkungsart der Menschen hat sich jedoch zur Erhöhung ihres moralischen Werthes so sehr verändert, daß man nicht ungegründete Hoffnung fassen darf, sie werde auch mit der Zeit und unter begünstigenden Umständen, bis zu dem Grade gedeihen, wo die Betrachtung der gemeinen Wohlfahrt jede Rücksicht auf Privatvortheil und Vorzug entfernt.364

Nach einer umfänglichen Argumentation gegen die historisch geführte Rechtfertigung der Privilegien des Adels (z. B. das gesamte Grundeigentum habe ursprünglich dem Adel gehört 365) kam er zu dem Ergebnis: Aus diesem allen, was bisher ausgeführet worden, resultirt dann von selbst, daß der adelige Gutsbesitzer so gut als der gemeine, zu den Bedürfnissen des Staats mit beyzutragen verbunden ist, und daß die Gründe, die von den Rechtsgelehrten, die sich an den bloßen Buchstaben der Gesetze und das alte Herkommen halten, zum Beweise der Steuerfreyheit des Adels angeführt worden, ganz verlegen und von einer Beschaffenheit sind, daß sie zu dem Geiste und der Verfassung der gegenwärtigen Zeiten, gar nicht mehr passen.366

2.7. Ewalds Antizipation einer vernunftgeleiteten Entwicklung der Gesellschaft Ewald war von Kants geschichtsphilosophischer Vision der Ausformung eines weltbürgerlichen Zustandes, dem die Idee der Moralität als gesellschaftliches Movens für die Gestaltung eines bürgergerechten Staatswesens zugrunde liegt, überzeugt. Als ein Vertreter des jüngeren deutschen Naturrechts beförderte er 363 Ebenda, S. 326 f. 364 Ebenda, S. 327. 365 Ebenda, S. 331. Ewald erklärte: »Die älteste Geschichte Deutschlands weiß nichts vom Adel; alles Land war ein gemeinschaftliches Eigenthum der Mannien oder Bauernschaften. Erst unter der Herrschaft der Fränkischen Könige, und als Deutschland ein monarchischer Staat wurde, entstand der Adel, und der Despotismus der Könige, die sich als alleinige Eigenthümer der Länder aufwarfen, beliehen ihr Gefolge mit den gemeinschaftlichen Besitzthümern der alten Mannen, die sich dieses Verfahren aus Noth gefallen lassen und zinsbar werden mußten.« 366 Ebenda, S. 336.

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dessen Neubegründung mit dem Ziel, die Funktion des Staates auf die Entwicklung und Sicherung der vernunftgeleiteten Möglichkeiten der Entfaltung des aktiven und erwerbenden Staatsbürgers zu konzentrieren. Unter diesem Grundgedanken kam er zu einer vorerst überraschend wirkenden Schlussfolgerung: Er erklärte, dass die Gründung des Staates mit seiner Endzwecksetzung nur deshalb notwendig sei, um die Menschen zu kultivieren, d. h. sie zur Handhabung ihrer Vernunftfähigkeit auszubilden. Er sah die Konstitution des Staates als notwendiges Durchgangsstadium zu einem vernunftgeprägten Zustand des gesellschaftlichen Zusammenlebens an. Damit würde ein Zustand erreicht, so Ewald, der dem unserer Vorfahren vor der Gründung des Staates ähnlich wäre. Unterstellt man ihm, dass er ein stufenweises Fortschreiten in der Menschheitsgeschichte annahm, so ist in seiner Version ein Drei-Stadien-Zyklus erkennbar, der zum einen den illuminatischen Vorstellungen entsprach.367 Zum anderen ließ er eine visionäre Perspektive aufscheinen, die er auch bzw. gleichzeitig als Konsequenz seiner moralphilosophisch begründeten Zielsetzung ansah. Ewald erklärte: Die Errichtung der Staaten ist nicht u n b e d i n g t nothwendig, sondern nur in so fern und so lange, als die Menschen nicht vermögend sind, ihren eigennützigen Trieb unter das Gesetz ihrer Vernunft zu beugen, und durch dasselbe einzuschränken und zu regieren. Die Errichtung der Staaten ist nur als der Uebergang der rohen in Wildheit lebenden Menschheit zur Cultur ihrer Vernunft zu betrachten, und soll ihnen den Weg bahnen, sich in Zukunft – wie weit diese auch noch entfernt seyn mag, – in einer bloß gesellschaftlichen Verbindung selbst zu regieren; sie soll einen Zustand hervorbringen, der, mit Beybehaltung, Aufbewahrung und Fortpflanzung aller die Vernunft erleuchtenden, den Willen im Guten bestätigenden, den Geschmack bildenden, das Leben verschönernden und die Befriedigung der ersten Bedürfnisse befördernden Wissenschaften, Künste und Gewerbe, demjenigen ähnlich wäre, in welchem unsere alten Vorfahren zur Zeit ihrer ersten Entdeckung durch die Römer lebten. Durch den Staat sollen die Menschen in einem ungleich vollkommneren Grade das wieder werden, was sie zuvor waren, ehe Könige und Fürsten sie beherrschten.368

Wenngleich die idealisierende Betrachtung der Menschheitsentwicklung, insbesondere des vor- und nachstaatlichen Stadiums, offensichtlich ist, so blieb Ewald doch seiner staatstheoretischen Zielsetzung vom Staatsendzweck treu. Kants Vision vom elementaren Vermögen der Vernunft zur Gestaltung eines weltbürger­lichen Zustandes hat er auf seine Weise durch grundlegende Züge menschheit­licher Humanität ausgedeutet. Damit hatte Ewalds Entwurf einer 367 Vgl. Schüttler, Geschichtsphilosophie des Illuminatenordens, S. 273 ff. 368 Ewald, Von dem Staate, S. 357 f. Vgl. ebenda, S. 11. Die gleiche Grundidee als Einleitung zum Inhaltsverzeichnis: »Der Mensch für sich betrachtet hat Rechte, von deren Gebrauch die Befriedigung seiner wesentlichen intellectuellen und physischen Bedürfnisse, die Erhaltung seiner Persönlichkeit, abhängt. Wenn der natürliche oder außergesellschaftliche Zustand ihm den ungestörten Gebrauch jener Rechte gewährte, so würde die Einrichtung und Verfassung der Staaten, so wie die positive Gesetzgebung überflüssig seyn.«

326 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe zukünftig zu gestaltenden Staats- und Rechtsordnung, deren Zweck-Mittel-Relation auf dem Fundament der Kantschen Moralgesetzgebung beruht, ihren Höhepunkt erreicht. Er antizipierte das Ringen um ein liberales und demokratisches Staatssystem, wie es in den politischen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts angestrebt wurde. Diese Vorstellungen hat Ewald seinem Entwurf für eine natio­nale deutsche Verfassung, den er von 1796 bis 1798 veröffentlichte, zugrunde gelegt.

2.8. Zur Resonanz des rechtsphilosophischen Entwurfs von Ewald in den Zeitschriften Die Rezensierung der Schrift Ewalds in den Jahren 1795/96 war überwiegend durch Zustimmung zum Anliegen gekennzeichnet. Es wurde der Versuch begrüßt, mittels der kritischen Philosophie das Rechtssystem auf das für den Menschen existentiell wesentliche Fundament der Moralität zu gründen. Anhand von zwei Rezensionen soll auf die Zustimmung bzw. Ablehnung in den zeitgenössischen Journalen eingegangen werden.369 Zustimmend reagierten 1795 die GgZ; kritisch und ablehnend äußerte sich 1796 die »Neue allgemeine deutsche Bibliothek«.370 Es war zu vermuten, dass Ewalds Schrift zur grundsätzlich neuen Fundierung des Rechtssystems in den GgZ als wegweisend gewürdigt wurde. Sein Ausgangspunkt und damit sein Bestreben zur Reformierung des Rechtsverständnisses nach dem Maßstab der kritischen Vernunft wurde einleitend als Zeitproblem hervorgehoben: Es ist unstreitbar ein Vorzug unsres Zeitalters, daß nicht nur Pflicht und Recht auf daß Geheiß der denkenden Vernunft den Thron wieder behaupten, den sie bisher der launenhaften Gnade und unbestimmt fühlenden Menschlichkeit einräumen mußten; sondern, daß auch die einzelnen Fälle ihrer Ausübung in einer streng systematischen Verzeichnung auftreten, und sich nach einem Grundsatze bequemen müssen, der die Schule in das Leben selbst einführt.371

Der Rezensent übt Kritik an der Willkür und Beliebigkeit der Regenten in ihrer praktischen Handhabung des Rechts. Die Verbindung von Moral und Politik sei 369 Vgl. Allgemeines Repertorium der Literatur für die Jahre 1791 bis 1795, Bd. 1, Weimar 1799, VI, Nr. 686. Weitere Rezensionen in: Oberdeutsche Allgemeine Litteraturzeitung 10 (1797) 1, Sp. 452–459; Staatswissenschaftliche und juristische Litteratur 2 (1795) 2, S. 139–146; Annalen der Philosophie und des philosophischen Geistes, 146. St. vom 7. Dezember 1795, Sp. 1165–1168 und 147. St. vom 9. Dezember 1795, Sp. 1169–1175. 370 GgZ, 36. St. vom 2. Mai 1795, S. 321–326; Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek, Bd. 24, 1. St., 2. Heft, Intelligenzblatt Nr. 19 von 1796, S. 158–163. 371 GgZ, 36. St. vom 2. Mai 1795, S. 321.

Entwurf eines Staats- und Rechtssystems

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zwar schon oft der Gegenstand der Denker gewesen. Sie sei aber in den Hörsälen verhallt und gleich einem Meteor über den Kabinetten verschwunden, »und diejenigen, für welche das: Justa imperia sunto, eigentlich gesagt ist, nehmen davon keine Notiz«.372 Jedoch gebe es Hoffnung: Jede ausführlichere, auf das positive Staatsrecht anwendbare Darstellung, ist sie nicht ganz mißlungen, verdient daher den Dank des Patrioten und Kosmopoliten; und Recens. freut sich, eine solche in dem vorliegenden Werke, von dessen Verfasser es zweifelhaft bleibt, ob er mehr den Ruhm eines juristisch gelehrten Philosophen, oder den eines philosophischen Juristen behaupte, anzukündigen.373

Die Rezension konzentrierte sich, neben der Inhaltsangabe, auf folgende Probleme: – In der Zweck-Mittel-Relation des kategorischen Imperativs sollte die Funktion des Mittels im Dienste des Zwecks stärker hervorgehoben werden.374 – In einer sicheren Begründung des Naturrechts sollte die Sanktionierung der Besitzergreifung des Eigentums erklärt werden. – Prinzipielle Bedeutung der Sicherung des Rechts für das Erreichen des Staats endzwecks. »(Beiläufig! Hier und in andern Fällen springt in die Augen, wie moralisch nothwendig die wirkliche Behauptung wahrer Rechte, wie wenig also der Begriff eines Rechts mit dem der Willkühr verwandt sey.)« 375

– Die Erziehung zur Sittlichkeit (1) und das Konzept zur Gestaltung der Steuer gesetzgebung (2) hob der Rezensent besonders lobend hervor: (1) »Besonders gefällt uns das Räsonnement über die Vermehrung der Sittlichkeit, ob man gleich zweifeln könnte, daß der Staatsgewalt in dieser Rücksicht die gehörige gesteckt sey. Practische, sehr beherzigenswerthe Vorschläge.« 376 (2) »Noch interessanter ist die Abhandlung vom Rechte der Auflagen, bey der wir verweilen müssen. Es wird hier gehandelt vom Zwecke des Staatsaufwandes, von den 372 Ebenda. 373 Ebenda, S. 322. 374 Ebenda, S. 323 f. Der Rezensent akzentuierte die Rechte und Grenzen der höchsten Gewalt: »Sie soll den Staatsendzweck zu realisieren suchen. Sie darf also die Staatsglieder nicht als bloße Mittel (Rec. würde sagen: nie als Mittel) zu eignen persönlichen Zwecken behandeln. Politische Freyheit ist die Unabhängigkeit des Willens der Staatsglieder von andern Bestimmungen der höchsten Gewalt, als solchen, die dem Endzwecke des Staats gemäß sind. Politische Gleichheit ist die Theilnehmung aller Glieder des Staats an den von der höchsten Gewalt durch Gesetze bestimmten Rechten und Verbindlichkeiten ohne Unterschied des Standes, Ranges, der Geburt, des Geschlechts u. a. Denn die Gesetze können nur der Ausdruck des allgemeinen vernünftigen, durch den Staatsendzweck bestimmten Willens seyn.« Rat an Regenten, die weise Maßregeln ohne oder wider das Volk ergreifen: »warum nehmen sie nicht lieber die Publicität zu Hülfe, um der Weisheit ihrer Maaß­ regeln die Beystimmung zu verschaffen?«. 375 Ebenda, S. 324. 376 Ebenda, S. 325.

328 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Domänen und Regalien, (mit Zuziehung der Geschichte) von den Auflagen, als subsidiarischen Mitteln, dem Ursprunge und Fortgange derselben in Deutschland. Der G r u n d s a t z d e s S y s t e m s d e r ö f f e n t l i c h e n A u f l a g e n ist: Jedes Staatsglied muß in eben dem Verhältnisse von dem reinen Ertrage seines Eigenthums zur Bestreitung des nothwendigen Aufwandes beytragen, als es Antheil an dem öffentlichen Schutze der Gesetze, und der seine Rechte sichernden Anstalten nimmt.« 377

Der Rezensent ging auf die Struktur einer gerechten Besteuerung aller Staatsbürger ein. Er teilte die Meinung, dass die Steuerfreiheit des Adels historisch und rechtlich nicht zu begründen ist und forderte gleichfalls deren Beseitigung. Er müsse anmerken, daß, wenn in irgend einem philosophischen Werke, vor allem in diesem mit der Gründlichkeit ein bewundernswürdiger Grad der Deutlichkeit des Styls verbunden sey.378

In der kritisch angelegten Rezension der Zeitschrift »Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek« 379 verdächtigte der Rezensent den Verfasser der Schrift, dass er hinsichtlich der Schwerpunkte seines Lehrgebäudes, wie die gesetzgebende und die vollziehende Gewalt sowie die politische Freiheit und Gleichheit, die »Vermuthung« nährt, ob nicht der Verf. von der f r a n z ö s i s c h e n C o n s t i t u t i o n einen Reißer genommen habe, um ihn auf deutschen Grund und Boden zu verpflanzen.380

Desweiteren vermerkte er zur philosophischen Grundlegung des neuen Lehrgebäudes: Die S p r a c h e aber und die R e c h t s f o r m e l n, deren sich der V. bedient, sind der k r i t i s c h e n P h i l o s o p h i e abgeborgt; und demnach sollte man meynen, des V. Zweck sey kein geringerer gewesen, als der in den auf so mannichfaltige Weise organisirten Staaten umher getriebenen Menschheit ein S t a a t s r e c h t s s y s t e m d e r r e i n e n V e r n u n f t in die Hände zu geben.381

Der Rezensent zog diese Neubegründung des Staatsrechts in Zweifel, da z. B. die höchst wichtige Materie der Reichsstände und die Reichstagssachen einer eingeschränkten Monarchie fehle. Ferner kritisierte er das Bestreben von Ewald, das Kriterium des Vernunftgemäßen in der Konstitution des Rechts zugrunde zu legen: Auch vergißt sich der V., der aus dem einzigen und e i n z i g h a l t b a r e n G r u n d s a t z der kritischen Philosophie ein allgemeines Staatsrecht der reinen 377 Ebenda. 378 Ebenda, S. 326. 379 Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek, Bd. 24, 1. St., 2. Heft, Intelligenzblatt Nr. 19 von 1796, S. 158–163 – das Verfasserkürzel lautet »Fr.«. 380 Ebenda, S. 158. 381 Ebenda.

Entwurf eines Staats- und Rechtssystems

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Vernunft in der Vorrede angekündigt hat, im Strome seiner Vernunftergießungen in manchen Stellen so sehr, daß man E x c e r p t e aus irgend einem Handbuche oder Kompendium des p o s i t i v e n d e u t s c h e n S t a a t s r e c h t s vor sich zu haben glaubt.382

Nach Vorstellung des Inhalts verwies der Rezensent mit ironischem Unterton auf die »Würdigung des philosophischen Geistes« in einigen Aspekten: – Er forderte eine Konzentration in der Bestimmung des Endzwecks des Staates. – Er belächelte die Vision Ewalds, die dieser auf S. 385 entwarf, als einen Zustand, in welchem unsere alten Vorfahren zur Zeit ihrer ersten Entdeckung durch die Römer lebten.383

– Widersprüchlich: Kritik an Bestimmung der Regalien: S. 237 lehrt die kritische Philosophie, als die devoteste Hofpublicistinn, aus gar vielen Gründen, daß die Flüße, Seen, Meere und Häfen, Wälder, Landstraßen, Berg- und Salzwerke Regalien seyn.

Der Rezensent bezweifelte diese extensionale Ausdehnung; gab aber zu, daß der Verfasser auf S. 319 die Landstände als Mitbestimmende über die Verwaltung der Domänen und Regalien sehen möchte.384 Durch weitere kritische Anmerkungen ließ der Rezensent erkennen, dass er die Konzeption Ewalds, das gesamte Staats- und Rechtssystem auf die Moralpinzipien der kritischen Philosophie zu gründen, ablehnte. Ewald konnte schon aus diesen öffentlichen Reaktionen erkennen und verbuchen, dass er mit seiner Schrift einen soliden Beitrag zur Diskussion um ein liberales Staatswesen in Deutschland geleistet hat.

382 Ebenda, S. 159. 383 Ebenda, S. 161. 384 Ebenda, S. 162.

330 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe

3. Die republikanische Verfassungskonzeption von Ewald auf der Grundlage der moral- und rechtsphilosophischen Prinzipien Kants 3.1. Zur Autorschaft der Schrift »Kritik der deutschen Reichsverfassung« In den Jahren 1796 und 1798 erschien anonym und ohne Angabe des Verlegers sowie des Druckortes die dreibändige Schrift »Kritik der deutschen Reichsverfassung«.1 Ein Neudruck der Schrift erschien 2009 im Verlag Olms-Weidmann (Hildesheim / Zürich / New York) unter dem Titel »Johann Nikolaus Becker, Kritik der deutschen Reichsverfassung. Mit einer Einleitung herausgegeben von Wolfgang Burgdorf« (70 S.). In einer ausführlichen und instruktiven Einleitung mit umfangreichen Anmerkungen würdigte Burgdorf die Schrift in ihrem historischen, geistig-kulturellen und wissenschaftlich-philosophischen Kontext am Ausgang dieses durch dynamische Umbrüche in Europa gekennzeichneten Jahrhunderts. Er zeigte auf, dass die Zielsetzung des Autors und ihre inhaltliche Gestaltung, d. h. Strukturen einer nationalen deutschen Verfassung zu entwerfen, auf der Zugrundelegung der moralphilosophischen Prinzipien Kants und deren rechtsphilosophischen Implikationen beruht. In der analytischen Betrachtung der Ausführungen des Autors suchte er die wesentlichen realhistorischen und vor allem rechtshistorischen Aspekte dieser Probleme, wie sie in der zeitgenössischen Diskussion erörtert wurden, zu erfassen bzw. darauf aufmerksam zu machen. Letztlich charakterisierte Burgdorf die Positionen des von ihm benannten Autors der Schrift als »antizipierend konstitutionell-bürgerlich-liberal im Sinne des Vormärz«.2 Diesem formelhaften Resümee kann man vorbehaltlos zustimmen. Leider entspricht die Nachweisführung für die Zuschreibung der Autorschaft der Schrift an Johann Nikolaus Becker nicht dem sonstigen soliden Niveau der historischen Einordnung dieser Publikation. Sie ist nicht stichhaltig, da zum 1 2

Titel der Schrift: Kritik der deutschen Reichsverfassung, Germanien 1796–1798. – Erstes Bändchen: Kritik der Regierungsform des deutschen Reichs, Germanien 1796, 270 S. – Zweites Bändchen: Kritik der Kriegsverfassung des deutschen Reichs, Germanien 1798, 224 S. – Drittes Bändchen: Kritik der staatswirthschaftlichen Verfassung des Deutschen Reichs, Germanien 1798, 350 S. Schüttler identifiziert den in der Schrift genannten Erscheinungsort »Germanien« mit der thüringischen Stadt »Gotha«. Vgl. Hermann Schüttler, Der Bund der deutschen Freimaurer, in: Quatuor Coronati, Jahrbuch Nr. 30, 1993, S. 146, Anmerkung 1. Johann Nikolaus Becker, Kritik der deutschen Reichsverfassung. Mit einer Einleitung hrsg. von Wolfgang Burgdorf, Bd. 1, Hildesheim / Zürich / New York 2009, S. XXXVIII.

Republikanische Verfassungskonzeption

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einen an keiner Stelle ein empirischer Sachverhalt vorgestellt wird, der die Zuschreibung rechtfertigt. Die Tatsache, die Burgdorf favorisiert, dass Becker ein mehr oder weniger ausgewiesener Anhänger der Philosophie Kants in den neunziger Jahren war, teilte dieser mit vielen Zeitgenossen. Zum anderen geht aus der Vorstellung des Werdegangs und denVorstellungen Beckers nicht hervor, dass er das kritische System Kants, wie es damals vorlag, so rezipiert hatte, dass er die in der Schrift demonstrierte grundsätzliche und eigenständige Anwendung des kritischen Denkens, gepaart mit einem reichen Fundus von wissenschaftlichen Kenntnissen und praktischen Erfahrungen, hätte leisten können.3 Vor allem wenn man bedenkt, dass Johann Nikolaus Becker (1773–1809), der, wie Burgdorf berichtet, 1794 in Göttingen promoviert hat, nach so kurzer Zeit eine solche durch umfangreiches Wissen und durch vielfältige konkrete Kenntnisse angereicherte Darstellung mit geradezu abgeklärter und dennoch leidenschaftlicher Überzeugung zu einem brisanten, national bedeutsamen Thema hätte liefern können. Burgdorf bewertet die Schrift als »exorbitant« und als ein »monumentales« Werk.4 Den entscheidenden Hinweis auf den Autor der Schrift Kritik der deutschen Reichsverfassung gab der schon genannte Max Berbig5 in seiner biographischen Skizze »Schack Hermann Ewald. Ein Beitrag zur Geschichte des Hainbundes«, die 1903 in den »Mitteilungen der Vereinigung für Gothaische Geschichte und Altertumsforschung« erschienen ist. Im letzten Teil seines Beitrags ging Berbig auf das grundlegende Interesse Ewalds an Kants Philosophie und deren Fortentwicklung im Kantianismus sowie auf Ewalds Auseinandersetzung mit Spinoza ein. Die Hinweise auf die Alterswerke von Ewald schloss er mit der Bemerkung: Einmal noch machte Ewald von seinen staatsrechtlichen Kenntnissen Gebrauch: in den Jahren 1796–98 schrieb er eine »Kritik der Regierungsform des deutschen Reichs«.6

Die Aussage von Berbig zu Ewald als Autor der genannten Schrift kann als authentisch angesehen werden, da Berbig engeren Kontakt zu den in Gotha lebenden Nachfahren von Schack Hermann Ewald hatte. Das beweist u. a. sein biographischer Beitrag zu dem Schriftsteller Hermann Adolf Ewald (1824–1895), dem Enkel des Ersteren, in der »Allgemeinen Deutschen Biographie«.7 Als Quelle seiner Darstellung gab Berbig an: »Gothaischer Historienkalender 1896 3 4 5

6 7

Vgl. ebenda, Bd. 1, S. 63/64. Vgl. ebenda, Bd. 1, S. XXXVII, XLVI. Maximilian Arno Berbig (geb. 16. November 1856 in Großkunsdorf / Berga; gest. 24. August 1926 in Gotha), Lehrer für Mathematik an der Handelsschule in Gotha, Seminarlehrer (Studienrat), veröffentlichte mathematische Lehrbücher, literarhistorische Beiträge sowie Aufsätze zur Geschichte des Herzogtums Gotha. Berbig, Schack Hermann Ewald, S. 107/108. ADB 48 (1904), S. 452 f.

332 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe und Mitthlgn. aus d. Familie. M. Berbig.«8 Diese engere Beziehung von Berbig lässt sich aus den Materialien des kleinen Nachlasses von Max Berbig erkennen, der sich in der Forschungsbibliothek Gotha befindet.9 Neben Konspekten, Entwürfen und Beiträgen zur Regionalgeschichte sowie Materialien über das Wirken von Berbig in Vereinen und der Stadtverwaltung Gothas befindet sich der handschriftliche Gedichtband von Schack Hermann Ewald von 1772, der im gleichen Jahr im Druck erschienen war. Eingelegt in diesen Band ist ein gedruckter Handzettel (7 x 5 cm) mit dem Glückwunsch zur Vermählung von Ewald (1783) mit den Initialen von 8 Bekannten (Ettinger, Manso, Schlichtegroll, Dumpf, Hamberger u. a.). Weiterhin sind die Lebensdaten der Kinder von Ewald notiert. Von dem zitierten Aufsatz von Berbig über Schack Hermann Ewald ist leider nur eine Seite als handschriftlicher Entwurf vorhanden, der Passagen enthält, die auf S. 91 des gedruckten Aufsatzes (Erste Jahre als Anwalt in Gotha, Aufbruch nach Göttingen) Bezug nehmen. Es ist offensichtlich, dass diese Materialien Berbig von der Familie übergeben wurden. Leider ist bisher kein weiterer dokumentarischer Hinweis auf Ewald als Autor der Verfassungsschrift aufgefunden worden. Die von ihm gewählte Anonymität sah er wohl aufgrund seiner zielstrebig geäußerten Liberalität für notwendig an, um Konflikten als Hofbeamter aus dem Weg zu gehen. Jedoch die Analyse des Textes der Schrift und deren Vergleich mit den von Ewald früher verfassten staatstheoretischen Vorstellungen sowie den Rezensionen der GgZ, insbesondere zu Kants staats- und rechtsphilosophischen Werken, verdeutlichen die Kontinuität und Authentizität seiner Überlegungen und Reflexionen. Aus den genannten Gründen wird Schack Hermann Ewald als Autor der Schrift »Kritik der deutschen Reichsverfassung« (Germanien, 1796 und 1798) angegeben.

3.2. Die Vorstellung Ewalds zur Lösung der nationalen Problematik in Deutschland Nachdem Ewald in seiner Schrift »Von dem Staate und den wesentlichen Rechten der höchsten Gewalt« (1794) seine staats- und rechtstheoretischen Vorstellungen über ein von allen Bürgern getragenes Gemeinwesen dargelegt hatte, wandte er sich dem schwierigen Problem der konkreten Konstitution einer nationalen Gesetzesgrundlage in Deutschland zu, die die Realisierung der bürgerlichen Existenz in einem einheitlichen Staatswesen ermöglichen sollte. Es ist die konsequente Fortführung seiner gesellschaftstheoretischen Konzeption, d. h. der Anwendung bzw. die Zugrundelegung des Systems der kritischen Philosophie 8 9

ADB 48 (1904), S. 452 f. Forschungsbibliothek Gotha, Chart. A 2124 (10).

Republikanische Verfassungskonzeption

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Kants – insbesondere dessen moralphilosophische Prinzipien – zur analytischen Betrachtung der nationalen Verhältnisse und der daraus zu entwickelnden Schritte für die Konzeption einer gesamtstaatlichen Verfassung. Deren Erarbeitung sollte die Perspektive für ein deutsches Staatswesen mit republikanischem Charakter befördern. Da der erste Band von Ewalds »Kritik der deutschen Reichsverfassung« zur Ostermesse 1796 erschien, konnte er zwar Kants Schrift »Zum ewigen Frieden«, die zur Michaelismesse 1795 herauskam, wohl zur Kenntnis nehmen, aber nicht mehr in seine Argumentation einbeziehen. Dies geschah erst in den 1798 erschienenen Bänden. Wie schon darauf hingewiesen wurde, kann davon ausgegangen werden, dass Ewald Kants Abhandlung »Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis«, die in der »Berlinischen Monatsschrift« (Bd. 22, September 1793, S. 201–284) erschienen war, doch sehr genau gekannt hat. Zumal diese Zeitschrift durch die herzogliche Bibliothek abonniert wurde. Die inhaltlichen Schwerpunkte, die Kant vor allem im 2. Abschnitt (»Vom Verhältniß der Theorie zur Praxis im Strafrecht«) in der Polemik gegen Hobbes abhandelte, finden sich bei Ewald, wie bei vielen Zeitgenossen, in grundsätzlich ähnlicher Intention wieder. Es sind die Themen: Vernunftrecht – Gesellschaftsvertrag Bürgerliche Verfassung – Zwangsgesetze Freiheit und Gleichheit des Bürgers Staatsbürger – Gesetzgebung – Gemeinwesen Bürger – Eigentum – Privilegien Menschenrechte – Widerstandsrecht Denkfreiheit – Freiheit der Feder Staatsverfassung – Patriotismus. In der Vorrede zum ersten Band mit dem Titel »Kritik der Regierungsform des deutschen Reichs« (Germanien 1796) umriss Ewald sowohl sein Anliegen als auch seine theoretische und gesellschaftliche Position, die ihn bestimmte bzw. befähigte, sich diesem Thema zuzuwenden. Mit sachlicher und geradezu staatsbürgerlicher Verantwortlichkeit kennzeichnete er sein Vorhaben: Die in den nachfolgenden Blättern enthaltenen Betrachtungen sind Früchte einer reflektirenden, mit reiner und ungeheuchelter Vaterlandsliebe verschwisterten Vernunft. Der ächte Patriot verschließt seine Augen nicht vor den Fehlern, die in der Verfassung seines Vaterlandes liegen; eben wegen seines Patriotismus wünscht er diese Verfassung von ihren Mängeln gereiniget und zu dem möglichen Grade der Vollkommenheit erhoben zu sehen [...].10

10 Schack Hermann Ewald, Kritik der Regierungsform des deutschen Reichs, Germanien 1796, Vorrede, S. V f.

334 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Er verehre die Regenten, die die Mängel der Verfassung zu mäßigen suchen, da »diese Mängel nicht sowohl durch die Regenten selbst veranstaltet, als vielmehr das Werk des Zufalls, des Dranges der Umstände und des unaufhaltbaren Ganges der Begebenheiten sind«.11 Ewald offenbarte sich hier in der Dualität seines praktischen Wirkens als Hofbeamter und als Redakteur eines Journals, das sich auf dem aufblühenden Markt der Publikationsorgane zu behaupten hatte. So habe er sich bei der Betrachtung der Verfassungsmängel bloß an die »Sachen« gehalten und das Recht der Unverletzlichkeit der Personen der Regenten nicht berührt. Er könne schon deshalb nicht beleidigend in der Kritik und reformationssüchtig in seinen Vorschlägen sein, so Ewald: da er selbst Geschäftsmann, und mit dem, was sich zur Herstellung des Gleichgewichts in dem Triebwerke der Staatsmaschiene, ohne Bewirkung eines gänzlichen Stillstandes oder einer gänzlichen Verwirrung derselben thun und nicht thun läßt, bekannt ist [...].12

Dann benannte er das philosophische und wissenschaftliche Fundament seiner Erkenntnisgewinnung: Allenthalben fließen seine Urtheile [des Verfassers – H. S.] aus Grundsätzen der Moral, des allgemeinen Staatsrechts und der sittlichen Klugheitslehre. In wiefern seine Aussprüche Wahrheit enthalten, sind sie nicht sowohl s e i n e, als Aussprüche der V e r n u n f t selbst, die sie also auch selbst vertheidigen und verantworten muß.13

Damit formulierte Ewald den Grundgedanken seiner auf Erfahrungserkenntnis beruhenden Reflexionen und Schlussfolgerungen als kritischer Selbstdenker. Unter diesem Vorzeichen hoffte er auf die Resonanz in einer gleichgesinnten Öffentlichkeit. Schluss seiner Vorrede: Auf diese Stützen gelehnt, übergibt er, im Bewußtsein der Reinheit seiner Absichten und Unverfänglichkeit seines Unternehmens, diesen Versuch seinen aufgeklärten und weisen deutschen Zeitgenossen zur gerechten und bescheidenen Prüfung, die ihn allein bestimmen wird, ob er die Ausführung seines Entwurfs weiter vor die Hand nehmen, oder unterlassen soll.14

Im Folgenden ist beabsichtigt, der von Ewald deklarierten philosophischen Grundlegung, die ihn in der Ausarbeitung seiner staatstheoretischen Vorstellungen leitete, nachzugehen. Oder: Inwiefern und inwieweit dienten ihm die 11 Ebenda, S. VI. Vgl. Ewald, Von dem Staate, S. 9. Ewald schrieb: »Die Verfassungen und Einrichtungen der Staaten und ihrer Gesetzgebung, die jetzt bestehenden Rechte der Regenten, Unterthanen, einzelner Stände und Personen sind freylich Kinder des Zufalls, der Vorurtheile, des Aberglaubens, der Gewalt der jedesmaligen Bedürfnisse und der nach Zeit und Ort bestimmten Umstände«. 12 Ebenda, S. VI f. 13 Ebenda, S. VII. 14 Ebenda, S. VII f.

Republikanische Verfassungskonzeption

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moral- und rechtsphilosophischen Ideen Kants als Orientierung zur Konzipierung eines deutschen Verfassungsentwurfs, in dem der Bürger zur eigenständigen Mitgestaltung des Gemeinwesens aufgerufen ist und in dem er seine Freiräume erkennen kann? Es ist zu vermuten, dass Ewald die wohlwollende Aufnahme des ersten Bandes, der zur Ostermesse 1796 herauskam, bestimmte, die weiteren Teile auszuarbeiten.15 Die in den angegebenen Rezensionen der Zeitschriften geäußerten Meinungen und einige kritische Hinweise hatten Ewald bewogen, zwei weitere Teile zu diesem Thema zu veröffentlichen. Es hat den Anschein, dass sich Ewald als Redakteur der GgZ dem Verfasser der Rezension in seinem Journal nicht als Autor der Verfassungsschrift zu erkennen gegeben hat. So konnte dieser sein Lob hinsichtlich des Inhalts und der Form der Darstellung unbeeinflusst aussprechen: Der erste Theil enthält blos die Kritik der Regierungsform. Der Kritik der andern Theile der allgemeinen Staatsverfassung, sehen wir in der Fortsetzung dieses Werks, mit welcher der Hr. Verf. den Lesern kein unangenehmes Geschenk machen wird, entgegen.16

15 Vgl. ALZ, Nr. 166 vom 26. Mai 1797, Sp. 508; GgZ, 71. St. vom 7. September 1796, S. 633; Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek, Bd. 38, 1. St., 1. Heft, Intelligenzblatt Nr. 25 von 1798, S. 68–72. 16 GgZ, 71. St. vom 7. September 1796, S. 634. Der Rezensent wertete Autor und Konzeption: »Ueberdieß ist der Hr. Verf. ein ruhiger, heller und konsequenter Denker, und hat auch als Geschäftsmann (Seit. VI. der Vorrede) vorzüglich Beruf gehabt, über die deutsche Reichsverfassung zu schreiben. Sein ganzes Werk beweist, daß er genau mit ihr sowohl, als mit den neuesten Fortschritten der Philosophie bekannt ist. Auch kann ihm Recens. das Zeugniß geben, daß er mit unpartheyischer Wahrheitsliebe ächten Patriotismus verbindet, weder im Lobe noch im Tadel unbillig und übertrieben ist, alle gewaltsame Reformationen verabscheut, und (wie er es uns in der lesenwürdigen Vorrede S. VII. versichert) das heilige Recht der Unverletzlichkeit der Personen der Regenten nirgends mit frecher Hand berührt, so wie überhaupt in dem ganzen Buche keine einzige Persönlichkeit und Invective gefunden wird«, ebenda, S. 633 f. Vgl. ALZ, Nr. 166 vom 26. Mai 1797, Sp. 505–508. Der Rezensent resümierte: »Der Vf. hat nach Rec. Urtheile dem, wozu er sich in der Vorrede verbindlich gemacht hat, im allgemeinen vollkommen Genüge geleistet. Er ist in seiner Kritik, bey welcher er sowohl die Geschichte und Entstehung der dermaligen Verfassung, als die Grundsätze des allgemeinen Staatsrechts immer zu Rathe gezogen hat, weder bitter, noch beleidigend in seinen Vorschläge weder überspannt, noch reformationssüchtig. [...] Wir wünschen, daß der Beyfall des Publikums den Vf. ermuntern möge, seinen Entwurf bald weiter fortzusetzen«, ebenda, S. 508.

336 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe

3.3. Die vernunftgeleitete naturrechtliche Erklärung der Verfassung und der Regierungsform des deutschen Reichs In der Einleitung der Schrift (18 S.) ging Ewald von der naturrechtlich begründeten Notwendigkeit der Entstehung der Gesellschaft durch den »Gesellschaftsbzw. Unterwerfungsvertrag« aus. Diesen Vorgang hatte er in der 1794 erschienenen Schrift über den Staat und dessen Gewalten ausführlicher beschrieben. Er konstatierte den Endzweck der Bildung der Gesellschaft als Sicherung der Rechte der Menschen durch Übertragung der Rechte des Einzelnen auf einen oder mehrere Repräsentanten, um die Mittel zu wählen, diese Endzwecke zu erreichen: Wem die Wahl der Mittel zum Endzweck der bürgerlichen Gesellschaft übertragen ist, heißt der S o u v e r a i n, und das Recht zu dieser Wahl die h ö c h s t e G e w a l t. Der S o u v e r a i n hat seine Rechte nicht minder als das V o l k oder der U n t e r t h a n.17

Er benannte das allgemeine Recht der Repräsentanten: Die höchste Gewalt modificirt sich also in das Recht der h ö c h s t e n A u f s i c h t oder der a u f s e h e n d e n G e w a l t, in die g e s e t z g e b e n d e und v o l l z i e h e n d e G e w a l t.18

Die allgemeinen und die besonderen Rechte der höchsten Gewalt kennzeichnete Ewald als grundlegende Strukturen des Rechtssystems zur Erreichung des Staatsendzwecks. Erstere sind die »wesentlichen«, die »einer Bestimmung a priori fähig sind«. Letztere sind »zufällige«, die »nur durch die Erfahrung an die Hand gegeben werden«.19 Unter die besonderen Rechte subsumierte er die Beziehung des Staates nach außen (Kriege führen, Bündnisse schließen, Verträge zur Förderung des Handels und der Schifffahrt u. a.). Nach innen sind es alle Rechte zur Sicherung der Bedürfnisse des Staates und seiner Staatsmitglieder (Finanzgewalt, Ziviljustizgewalt). Da alle jene Rechte der höchsten Gewalt die unerläßlichen Bedingungen sind, ohne welche der Endzweck des Staates nicht erreicht werden kann,

muss der Souverain, berechtigt durch den »Unterwerfungsvertrag«, diese von den Bürgern zur Befolgung einfordern.20 17 Ewald, Kritik der Regierungsform, S. 1. Vgl. Ewald, Von dem Staate, S. 56 f. Ewald erklärte: »S o u v e r a i n heißt die höchste Gewalt, in wie fern sie keine andere Auctorität im Staate, die ihren eigennützigen Trieb einschränkte, über sich hat, und anzuerkennen berechtiget ist, als das allgemeine Gesetz der Vernunft und die demselben und in den Unterwerfungsvertrag gegründete Verbindlichkeit zur Beförderung und Erreichung des Staatsendzwecks.« 18 Ewald, Kritik der Regierungsform, S. 2. 19 Ebenda, S. 5 f. 20 Ebenda, S. 6.

Republikanische Verfassungskonzeption

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Die Rechte der Staatsmitglieder als Menschen kommen ihnen in ihrer Eigenschaft als Mensch sowie in ihrem Verhältnis mit anderen im Staate zu: Die Rechte, die dem M e n s c h e n in beiden Fällen gebühren mögen, müssen sich sämmtlich auf seine Persönlichkeit, d. i. die Fähigkeit, sich nach eigner Einsicht selbst zu bestimmen, gründen. Diesen Charakter des Menschen muß nicht allein jeder andere Mensch, sondern auch der Staat anerkennen: denn sonst wäre der Mensch blos ein Gegenstand des Naturgesetzes und der bloßen Willkür, ein bloßes Mittel in der Hand des Stärkern, und es wäre schlechterdings kein Staatsrecht denkbar [...].21

Unter dieser Voraussetzung, so Ewald, hat der Mensch zum einen »alle Rechte der S u b s t a n z i a l i t ä t« (»G e w i s s e n s f r e i h e i t [...] D e n k f r e i h e i t [...] alle Rechte der F r e i h e i t [...] die Rechte der G l e i c h h e i t« 22): Das Höchste, was ein Mensch erreichen kann, ist die Persönlichkeit, und diese ist in jedem Menschen dieselbe.23

Zum anderen habe der Mensch das Recht auf das Eigentum seines »Körpers« und den Genuss seines »Lebens« sowie seines »Eigentums«. Von diesen hier skizzierten rechtsphilosophischen Prämissen zur Sicherung der Menschen- und Bürgerrechte des Individuums und der Gemeinschaft ausgehend, gelangte Ewald zur Notwendigkeit einer Konstitution, d. h. zu einer Verfassung, die den vernunftgeleiteten Endzweck des Staates durch die Fixierung einer Grundordnung für alle Bürger befördert und deren Realisierung garantiert. Sie muss als »Mitendzweck« des Staates die Gesamtheit der Rechte für die Regierenden und die Regierten festlegen und die Mittel zu deren Einhaltung bestimmen.24 Mit dem Blick auf das deutsche Reichsgebiet setzte Ewald den Fall, dass der einzelne Staat zu schwach ist, seine Selbständigkeit zu erhalten, wenn Angriffe von außen erfolgen, Machtmissbrauch betrieben wird oder Angriffe der Untertanen ihn gefährden. Wenn sich daraufhin Staaten verbinden, um diesen Gefahren gemeinsam entgegenzutreten, so entstehe daraus ein Staatensystem. Dieses wiederum bedürfe, um seinen Endzweck zu sichern, einer Konstitution und Organisation des Staatensystems, nebst dessen gesammten Territorium [...].25 21 22 23 24

Ebenda, S. 6 f. Ebenda, S. 7 f. Ebenda, S. 8 f. Ebenda, S. 9 f. Ewald schlussfolgerte: »Wenn die Vertheidigung und Beförderung des Genusses der äußern vollkommenen Rechte der Staatsglieder der Endzweck des Staats ist, und nicht allein diese Menschenrechte, sondern auch die dem Souverain durch den Unter­werfungsvertrag übertragenen Rechte solche vollkommene Rechte sind, so muß die Vertheidigung und Erhaltung der wesentlichen Rechte der höchsten Staatsgewalt, welche zusammen genommen mit der Art des Subjekts dieser Gewalt, die K o n s t i t u t i o n ausmachen, mithin auch der Konstitution des Staats, der Mitendzweck des letztern seyn«, ebenda. 25 Ebenda, S. 11.

338 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Die Notwendigkeit der Konzipierung einer solchen Staatenkonstitution sah Ewald für die auf dem Territorium des Reichs deutscher Nation existierenden Teilstaaten für unabdingbar an. Damit trat er direkt in die rechtsphilosophische und rechtshistorische Begründung seines Anliegens ein. Er erklärte und konkretisierte die Zielsetzung sowie das Objekt seiner Bestrebung: Das d e u t s c h e R e i c h ist ein solches Staatensystem, das folglich keinen andern Endzweck hat und haben kann, als die Vertheidigung seiner eigenen Selbstständigkeit, als System; der Selbstständigkeit aller dasselbe konstituirenden Staaten, gegen Angriffe von Aussen und von Seiten mitverbundener Staaten; und die Vertheidigung der Rechte der Regenten und der Unterthanen der einzelnen verbundenen Staaten gegen Angriffe und Erschwerungen von Innen.26

Es ist offensichtlich, dass Ewald sowohl die territoriale Zerrissenheit Deutschlands aufgrund seiner historischen Entwicklung im Blick hatte, als auch die aktuelle Situation im Nachbarland Frankreich, dessen Staatsgefüge aus seiner Sicht durch eine zerstörerische Instabilität gekennzeichnet war. Als Patriot hielt er die Arbeit am Entwurf einer gesamtstaatlichen Verfassung als Orientierung bzw. quasi als Ferment zur praktischen Gestaltung der Einheit des deutschen Vaterlandes für unbedingt erforderlich. Aus den erörterten Anforderungen bzw. »Endzwecken« zog Ewald die Schlussfolgerung: Diese Endzwecke sind, da sie die Vernunft, geleitet durch den Begriff des Staats, selbst an die Hand gibt, nothwendig, die Vereinigung der Staaten des deutschen Reichs mag nun zu Stande gekommen seyn, wie sie wolle. Ohne diese Endzwecke würde diese Verbindung ohne alle Haltung und Festigkeit seyn, die Verfassung auf bloßer Willkühr beruhen, von veränderlichen Maximen abhängen, aller feste Grund der Rechte und Verbindlichkeiten der Staaten sowohl als der Regenten und Unterthanen gegen einander, würde aufgehoben werden, und überhaupt gar kein deutsches allgemeines und Territorial-Staatsrecht möglich seyn.27

Ewald meinte, obgleich in dem Reichsgrundgesetz nur der Hauptzweck (Verteidigung der Selbständigkeit der Staaten) direkt enthalten ist, komme es in einem Verfassungsentwurf darauf an, alle übrigen notwendigen Bereiche staatlicher Tätigkeit rechtlich zu fixieren und in den Gesamtentwurf einzubeziehen. Er stellte die grundlegende Frage: Welches sind die notwendigen und richtigen Mittel, wodurch dieser Endzweck des deutschen Staatensystems erreicht werden soll [...]?28

Es sei dabei zu berücksichtigen: Die Selbständigkeit des deutschen Reichs, die 26 Ebenda, S. 11 f. Vgl. Ewald, Von dem Staate, S. 138. »Keiner kann aber ein wahrer Patriot seyn, der nicht überzeugt ist, daß die Verfassung des Staats, in welchem er lebt, den durch die Vernunft selbst festgesetzten Endzweck desselben zu befördern und zu erreichen geeignet sey«. 27 Ewald, Kritik der Regierungsform, S. 12. 28 Ebenda, S. 15.

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Rechte der Regenten gegen die Untertanen und umgekehrt, die Rechte der Teilstaaten und schließlich, wie trägt das deutsche Staatssystem, als solches, zur Beförderung der Kultur der Verstandeskräfte, der Wissenschaften, der Künste, des Handels und der Gewerbe seiner Glieder bei?.29

Die Mittel sah Ewald in der gesetzgeberischen Funktion der höchsten Gewalt. Der Souverain habe seine allgemeinen Rechte für den spezifischen Gebrauch in besonderen Rechten anzuwenden. Diese Zweige bzw. Struktur der Rechte und die darauf beruhende Regierungsform bilden die allgemeine Staatsverfassung. Aufgrund der Anforderungen an die Stabilität der inneren Verhältnisse des Staates hielt es Ewald für notwendig, die Hauptbereiche des staatlichen Wirkens einer analytischen Betrachtung bzw. einer Kritik zu unterziehen. Deren Auflistung bildete gleichzeitig die Disposition der weiteren Darstellung. Ewald schlussfolgerte: Eine Kritik der allgemeinen deutschen Staatsverfassung wird also die besonderen Kritiken 1. der Regierungsform, 2. der Kriegsverfassung, 3. der Finanz-, 4. der Civil- und Criminaljustiz- und 5. der Polizei-Verfassung, enthalten müssen.30

Im folgenden untersuchte Ewald ausführlich die Machtstrukturen des deutschen Reiches (Reichsstände, Kaiser, Reichseinrichtungen) in ihren historischen und aktuellen Sachverhalten sowie auf deren Wirksamkeit im Hinblick auf die Beförderung der Endzwecksetzung des deutschen Staatssystems. Er kam zu dem Ergebnis, dass die aristotelische Einteilung der Regierungsformen (Monarchie, Aristokratie, Demokratie)31 nicht hinreichend bzw. zutreffend ist, um das aktuell bestehende Reich in seinen Grundzügen zu charakterisieren. Ewald bestimmte, entgegen der Meinung von deutschen Staatsrechtslehrern,32 das bestehende Macht29 30 31 32

Ebenda, S. 16. Ebenda, S. 18. Vgl. ebenda, S. 25. Ebenda, S. 58. Ewald erklärte dazu: »Es ist daher auch ein großer und doppelter Fehler, wenn die deutschen Staatsrechtslehrer in der Definition oder Beschreibung des deutschen Reichs in Rücksicht seiner Regierungsform, die Versammlung der deutschen Reichstände, als der mitgesetzgebenden Repräsentanten der einzelnen deutschen zum System gehörigen Staaten, mit Stillschweigen übergehen, und durch die Bestimmung des deutschen Reichsstaats, als einer e i n g e s c h r ä n k t e n M o n a r c h i e, nur indirekt auf die Stände d e u t e n. Denn Deutschland ist keine Monarchie, und die Reichsstände, im Ganzen genommen, sind die Hauptdepositärs und Hauptmitverwalter der Gesetzgebung.«

340 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe system nicht als eine eingeschränkte Monarchie. Er definierte, ausgehend von der dominierenden Rolle der Reichsstände (auch Reichsstädte u. a. eingeschlossen) in der Gesetzgebung und ihrer praktischen Durchsetzung sowie der Funktion des Kaisers in diesem Machtgefüge, die Regierungsform des deutschen Reiches als »Pantokratie«: Diesem gemäß würde das deutsche Reich seiner Regierungsform nach so bestimmt werden müssen; es sey: e i n e P a n t o k r a t i e d e r R e p r ä s e n t a n t e n d e r einzelnen vereinigten deutschen Staaten unter der g e s e t z m ä ß i g e n A u t o r i t ä t d e s Ve t o e i n e s a u s i h r e r M i t t e s e l b s t g e w ä h l t e n E i n z i g e n.33

Ewald betonte, dass durch diese Definition sowohl das Übergewicht der Reichsstände (weltliche und geistliche Kurfürsten, Fürsten und Bischöfe verschiedener Stufen, Reichsstädte, Abteien) charakterisiert werde, als auch das Bestätigungsund Konfirmationsrecht sowie das Vetorecht des Kaisers. Mit dieser begriff­ lichen Konkretion des Sachverhalts hatte sich Ewald eine systematische und methodische Basis geschaffen, die ihm zum einen den Interpretationsrahmen bot, um die Analyse der aktuellen Machtpositionen im deutschen Reich zu einer in hohem Maße realistisch geprägten Beurteilung zu führen. Dabei war es unvermeidlich, dass unter dieser verallgemeinerten Form der Bestimmung der Machtstrukturen sehr unterschiedliche Verhältnisse hinsichtlich ihres konservativen oder progressiven Charakters subsumiert werden mussten. Dennoch enthält sie ein wesentliches kritisch-konstruktives Potential. Zum anderen bot sie im Sinne der Zweck-Mittel-Relation zur weiteren Gestaltung des Staatswesens perspektivisch-antizipatorische Ausblicke. Da sie z. B. Mehrheitsverhältnisse als tragende Basis für die Gesetzgebung akzentuierte, war es möglich, die wachsende Bedeutung der erwerbenden Bürger für die Gestaltung eines zukünftigen Verfassungsentwurfs stärker zu berücksichtigen. Es ist zu vermuten, dass für Ewald die englischen Verhältnisse, d. h. der im Wesentlichen stabile Zustand der Gewaltenteilung in der konstitutionellen Monarchie dieses Landes, von orientierender Bedeutung waren. Denn seine Begründung, die zwar hinsichtlich der Bedeutung des »Allgemeinwillens« eine Adaption des Fundaments des Rousseauschen Gesellschaftsvertrages darstellte, insistierte jedoch auf das bürgerlich-­ liberale Wesen der Staatsgestaltung. Er stellte fest: Wenn Gesetze der Ausdruck des a l l g e m e i n e n Willens sind, oder doch seyn sollen, so wird, in Abstrakto genommen, diejenige Regierungsform unter allen die beste seyn, wo jeder Antheil an der Gesetzgebung nimmt, oder doch, im Falle der Nichtübereinstimmung aller, die von allen in dem bürgerlichen Verein beliebte Mehrheit der Stimmen Gesetze gibt. Eine solche Regierungsform heißt: P a n t o k r a t i e, G e s e t z g e b u n g A l l e r.34 33 Ebenda, S. 57. 34 Ebenda, S. 60 f.

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Allerdings hielt Ewald die Anwendung dieses Modells in Deutschland in reiner Form aufgrund der hier anzutreffenden komplizierten Machtstrukturen für nicht möglich. Deshalb plädierte er dafür, dass die Repräsentanten (Stände des Reichs) der jeweiligen staatlichen Gebilde im Namen ihrer Staatsglieder die Gesetzgebung mit einem aus ihrer Mitte gewählten Oberhaupt ausüben. Die Skepsis Ewalds gegenüber der Staatsform der »Demokratie«, die er aus historischen und aktuellen Sachverhalten begründen konnte, leitete ihn wohl zu dem Kon­strukt einer Staatsform, die die allseitige Teilhabe des Bürgers am Staatsgeschehen sichern sollte. Mit deren Charakterisierung als »Pantokratie« wollte er offensichtlich auf ein zukünftig zu gestaltendes Staatssystem orientieren. In dieser idealisierten Form eines Staates der Bürger kommt Ewalds moralphilosophisch begründetes Postulat nach praktischer Humanität in der Lebenswelt der Menschen zum Ausdruck.

3.4. Die Regierungsform der Pantokratie vor dem Richterstuhl der Vernunft Das entscheidende Problem der Pantokratie sei es nicht, so Ewald, den Anteil jedes Repräsentanten an der Gesetzgebung zu diskutieren und zu fixieren, sondern es sei zu beurteilen, wie er das Recht in seinem Bereich verwaltet habe. Wesentlich aber ist für ihn, diese Art der Pantokratie an sich, nach ihrem Verhältnis zur Moral, zu den Grundsätzen des allgemeinen Staatsrechts, und der natürlichen Politik, zu prüfen.35

Damit war Ewald mit zu erwartender Folgerichtigkeit bei seiner Grundposition als Anhänger des kritischen Denkens Kants direkt angelangt. Er blieb in seinen Überlegungen dem grundlegenden Zusammenhang von Moral und Recht zur Begründung der Rechte der Menschen treu. Die Realisierung des Staatsendzwecks, d. h. die sichere Gestaltung der staatlichen Gemeinschaft durch die aktiven Staatsbürger, konnte er sich nur unter dieser ideellen Vorgabe vorstellen. Die Anwendung des Maßstabes des moralischen Gesetzes zur Prüfung der staatlichen, juristischen und politischen Verhältnisse blieb für ihn prinzipielles Postulat, um die Tauglichkeit der bestehenden Verfassung zu beurteilen sowie einen perspektivischen Entwurf zu konzipieren. Die Bewertung der Regierungsform der »Pantokratie« im allgemeinen und das Wirken ihrer verantwort­ lichen Träger im besonderen nahm er, immer auf der Basis des Kantischen Moralgesetzes stehend, in der folgenden begrifflichen Struktur vor: Die Vernunft und der Wille des Menschen, die Menschenrechte, das Moralgesetz, der Endzweck des Staats- und Rechtssystems, der Mensch als Persönlichkeit und 35 Ebenda, S. 63.

342 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Bürger. Ewald lag daran, dass bei allen theoretischen und praktischen Überlegungen »die Fackel der Moral, des allgemeinen Staatsrechts und der sittlichen Klugheit vorleuchten« möge.36 Ewald konzentrierte das Kriterium der vernunftbegründeten Moral im Abschnitt »Von der Pantokratie« (S. 63 bis 70) auf die inhaltlichen und praktischen Anforderungen, die die Akteure zur Realisation des Staatsendzwecks zu leisten verpflichtet sind: Erstens trat er dafür ein, dass die Repräsentanten der Territorialstaaten die Aufgabe der Gesetzgebung und deren Durchsetzung übernehmen. Denn: In der Moral ist kein Grund vorhanden, aus welchem die Ausübung der Gesetzgebung von Mehrern überhaupt und der Repräsentanten der einzelnen verbundenen Staaten, von der Vernunft gemißbilliget werden könnte; und ob diese gleich diese Art der Regierungsform nicht kategorisch gebietet, so verbietet sie doch auch dieselbe nicht [...].37

Zweitens sah er die Repräsentanten als Entscheidungsträger in der moralischen Verpflichtung, die Gesetzgebung im Sinne eines allgemein vernünftigen Willens, gleichsam nach Rousseauschen Vorstellungen, anzustreben. Denn die Moral, so Ewald: Sie gebietet nur denen, die die Gesetzgebung verwalten, nur solche Gesetze zu geben, die als Ausdruck des allgemeinen vernünftigen Willens gültig sind, kein äußeres vollkommenes Recht irgend eines Staatsglieds verletzen, und mit den Grundsätzen einer vernünftigen Politik bestehen können, oder, mit andern Worten, die der Form der allgemeinen und der Staatsgesetzgebung angemessen und geschickte und durch die Moral nicht untersagte Mittel sind, den Endzweck des Staats zu erreichen.38

Drittens forderte er, in Anlehnung an Platons Vorstellung vom Philosophen auf dem Königsthron,39 die Übertragung des Rechts der Gesetzgebung nur solchen Personen anzuvertrauen, die hinreichend mit philosophischen und speziellen 36 Ebenda, S. 77. Zur Metapher der »Fackel« als Quelle des Lichts und des Lebens sowie als Symbol der Aufklärung und Erleuchtung äußerte sich bekanntlich auch Kant. Zur Beständigkeit des Sonnenfeuers schrieb dieser: »Gleichwohl siehet man die deutlichen Merkmale der Vergänglichkeit auch an diesem unschätzbaren Feuer, das die Natur zur Fackel der Welt aufgestecket. Es kommt eine Zeit, darin sie wird erloschen sein.« Zitiert nach Immanuel Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels [1755], in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 326. Vgl. auch Ders., Der Streit der Facultäten, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 28: »ob diese [die Philosophische Fakultät – H. S.] ihrer gnädigen Frau [der Theologischen Fakultät – H. S.] die F a c k e l v o r t r ä g t oder d i e S c h l e p p e n a c h t r ä g t«. 37 Ewald, Kritik der Regierungsform, S. 63. 38 Ebenda, S. 63 f. 39 Platon, Der Staat, übers. von Otto Apelt, Leipzig 1923, S. 213 f.

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Kenntnissen, Einsichten und Lebenserfahrung ausgestattet sind. Hier sah er die Kantische Philosophie als grundlegendes Orientierungssystem auf dem notwendigen ideellen Niveau der Zeit: Die Moral gebietet nur, das Recht der Gesetzgebung solchen Subjekten zu übertragen, die zugleich mit dem für Menschen möglich größten Gebrauch der praktischen Vernunft, auch den der theoretischen Vernunft, einen gebildeten Verstand, Menschenkenntnis und Einsicht in die mannichfaltigen staatsrechtlichen Verhältnisse verbinden, sie bestimmt nur die allgemeinen Bedingungen der Wahl; in Ansehung der besondern Subjekte bestimmt sie aber nichts [...].40

Eine solche Person, deren Verhalten durch die vernunftbegründete Moral bestimmt wird, war für Ewald prädestiniert, als Gleicher unter Gleichen zu wirken. Denn die Moral urteilt unabhängig von dem individuellen Habitus und Stand der Person. Dazu erklärte Ewald: Der so aufgeklärte Mann sey ein Fürst, oder ein simpler Bürger; vor ihrem Richterstuhl [der Vernunft – H. S.] sind alle, wenn sie nur ihre Bedingungen erfüllen, vollkommen gleich; es ist ihr nicht entgegen, vielmehr scheint sie ihren Beifall zu geben, wenn sich unter der gesetzgebenden Masse der Fürst mit dem bloßen Bürger vermischt: denn sie sieht hier ein Bild der Gleichheit, von der sie selbst das Original aufstellte.41

Viertens sah Ewald den befähigten Bürger, ungeachtet des einmaligen Vorgangs der Übertragung seines Rechts zur Gesetzgebung an einen Anderen, weiterhin als permanenten Inhaber seiner ursprünglichen menschlichen Rechte. Da diese Rechtsübergabe auf der Basis eines vernunftgeprägten Willens aller geschah, hat der Einzelne seine Rechte und damit seine Autonomie nicht verloren. Im Gegenteil: Es ist das Prinzip und das Kriterium der Vernunftmoral, welches dem Einzelnen, gleichsam durch Selbstgesetzgebung, die praktische Chance eröffnet, sein Vernunftvermögen aktiv im Gemeinwohl zu realisieren. Ewald erklärte: Betrachtet man diese Gesetzgebungsart von Seiten der U e b e r t r a g u n g des Rechts der Gesetzgebung, das die Vernunft, vermöge ihrer Inwohnung in jedem, und da sie das Vermögen der Gesetze ist, allen gegeben hat; so ist jene Uebertragung keinesweges als eine Entäusserung anzusehen. Denn wenn das gesetzgebende Subjekt nur solche Gesetze gibt, die die Vernunft in jedem billigen muß; so hat sich auch im Grunde jedes Individuum, in wiefern es das Gesetz billiget und billigen muß, dasselbe selbst gegeben, und es ist eine wahre Autonomie vorhanden, obgleich nur eine physische oder moralische Person, als Stellvertreter aller, und nicht alle unmittelbar, das Gesetz geben.42

40 Ewald, Kritik der Regierungsform, S. 64. 41 Ebenda. 42 Ebenda, S. 64 f.

344 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Hier erreichte das rechtsphilosophische Plädoyer von Ewald für die Selbstgesetzgebung des Bürgers und dessen Mitgestaltung des Staatssystems seinen Höhepunkt. Von seinem Verständnis der kritischen Moral ausgehend, verwies er auf die dem Menschen innewohnenden und zu aktivierenden Vermögen des rationalen Denkens und verantwortungsbewussten Handelns, die in alle Aktivitäten zur Verwirklichung des Endzwecks des Staates einfließen sollten. Ewald versprach sich von diesem Vorgang die Entfaltung eines möglichst hohen Grades der Identifikation von Einzel- und Staatsbedürfnis. Unter dieser Voraussetzung warnte er den Bürger allgemein, keinen Missbrauch des Rechts zur Gesetzgebung zu dulden. Wenn dieser vorliege, so erklärte er, sei Widerstand und Ungehorsam gegen Gesetze, die der auf Vernunft gegründeten Vereinbarung widersprechen, angebracht. Denn: Sind die Gesetze von der Beschaffenheit, daß sie jene Bedingungen des Sittengesetzes, des allgemeinen Staatsrechts und der moralischen Klugheit nicht erfüllen, und denselben zuwiderlaufen, so gebietet die Vernunft nirgend einen unbedingten Gehorsam auch gegen solche Gesetze; die Uebertragung des Gesetzgebungsrechts kann nur unter der Bedingung geschehen, daß solches nach den Vorschriften der Moral, des allgemeinen Staatsrechts und der sittlichen Staatsklugheitslehre ausgeübt werde; denn die Vernunft kann und darf kein Mensch, wenn er sich nicht von dem Range seiner Persönlichkeit zu einer bloßen S a c h e erniedrigen will, und das darf er ebenfalls nicht, von sich geben, folglich auch nicht unbedingt das Recht der eigenen Gesetzgebung, denn die Vernunft ist ja selbst das Vermögen der Gesetze.43

Ewald hob nachdrücklich hervor, dass der Bürger nur in einem einmaligen Vorgang sein ihm eigenes Recht der Gesetzgebung an einen Anderen oder Mehrere übertragen hat. Das bedeutet nicht, dass ihm dieses Recht damit verlustig gegangen ist. Im Gegenteil, er ist verpflichtet, die korrekte Ausübung seines Rechts durch Andere zu kontrollieren und zu kritisieren. Er erklärte: Nur einen einzelnen A k t u s der eigenen Gesetzgebung verstattet ihm das Sittengesetz zu veräußern, den nämlich nur, einen andern statt seiner das Gesetz geben zu lassen, nicht aber den, dieses gegebene Gesetz an die Normen zu halten, die ihm in den Grundsätzen der Sittenlehre, des allgemeinen Staatsrechts und der sittlichen Staatsklugheitslehre aufgestellt sind, und es darnach zu prüfen, ob es mit der Gesetzgebung aller und also auch der seinigen übereinstimme und der Befolgung würdig sey.44

Ewald kennzeichnete die drei für ihn durch die Vernunft bestimmten rechtstheoretischen und zugleich praktisch orientierten Reflexionsbereiche seiner Staatstheorie (Moral, Allgemeines Staatsrecht, sittliche Klugheitslehre). Sie enthalten die Zweck-Mittel-Relation, um den Staatsendzweck zu bestimmen, zu prüfen und seine Realisierung zu befördern. Diese drei Bereiche klären den Menschen bzw. Bürger über seine Stellung und Rolle im Staatswesen auf: 43 Ebenda, S. 65 f. 44 Ebenda, S. 66.

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Die Moral lehrt ihn nur, was er im bürgerlichen Verein seyn und bleiben soll, sie stellt ihm den höchsten Zweck der Menschheit auf; das allgemeine Staatsrecht bestimmt ihm seine R e c h t e und V e r b i n d l i c h k e i t e n als Staatsglied überhaupt, und stellt den Zweck der Menschen im Staate auf; die Staatsklugheitslehre, als ein besonderer Theil der allgemeinen Klugheitslehre, gibt ihm Regeln, welche Mittel er unter bestimmten Umständen und Verhältnissen im Staate anzuwenden hat, um den Zweck desselben an sich selbst möglich zu machen, und auch an den übrigen Mitbürgern erreichen zu helfen.45

Ewald offenbarte auch hier, dass die Kantischen Vernunftprinzipien die unabdingbare Grundlage bzw. den Begründungsrahmen seiner Vorstellungen bilden. Zum Problem führte er aus: Eben so wenig ist auch sowohl in dem allgemeinen Staatsrechte eine Thesis, als in der theoretischen Vernunft selbst, die nicht weniger die Materialien als die Form zu einem Gebäude hergibt, ein Grund vorhanden, warum in einer möglichen Regierungsform die Erfüllung der Bedingungen der Sittenlehre, des allgemeinen Staatsrechts und der moralischen Klugheitslehre schlechterdings unmöglich seyn sollte. In Rücksicht der Uebertragung des Rechts der Gesetzgebung aber erkennt das allgemeine Staatsrecht das Gebot der praktischen Vernunft an, und muß es anerkennen, wenn es sich nicht selbst zerstören will. Auch nach ihm gibt es keine V e r ä u ß e r u n g dieses Rechts, sondern nur eine b e d i n g t e U e b e r t r a g u n g.46

Für die Art und Weise des Regierens gab es nach Ewald seitens der drei genannten Bereiche keine Bedenken. Wesentlich für ihn war, dass die Zielsetzung und das Procedere mit dem Staatsendzweck übereinstimmt. In diesem Sinne erörterte er das Für und Wider der Übertragung des Rechts der Gesetzgebung an einen oder mehrere Repräsentanten. Für die letztere Variante spricht, dass »eine Anzahl von Mehrern der Zahl der ganzen Volksmasse näher kommt«47 und durch spezielle Arbeitsteilung die Staatsgeschäfte leichter und schneller erledigt werden könnten. Zur Wahl eines »Einzigen« würde ein freies Volk erst dann schreiten, so Ewald, wenn der innere Streit der Parteien das Erreichen des Staatsendzwecks gefährdet. Dann könnte ein Einzelner tätig werden, um »in den gesetzgebenden Körper wieder Einheit und zweckmäßige Thätigkeit zu bringen«.48 In diesem hier behandelten Abschnitt seiner Darstellung hat er die philosophische und davon abgeleitet die rechtsphilosophische Basis seiner staats- und rechtstheoretischen Vorstellungen und Antizipationen über ein vom Bürger getragenes und mitzugestaltendes Staatssystem vorgestellt und fixiert. Er unternahm den Versuch, aufbauend auf den naturrechtlichen Betrachtungen der europäischen Aufklärung, die Teilhabe und Verantwortung eines jeden Bürgers an der Gesetzgebung und am Gewaltenpotential zu begründen. 45 Ebenda, S. 67 f. 46 Ebenda. 47 Ebenda, S. 69. 48 Ebenda.

346 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Die Sicherung und die weitere Ausprägung der Rechte des Menschen als Bürger eines Gemeinwesens erblickte er nur gewährleistet, wenn alle Überlegungen zur Lösung dieser Aufgabe, die dem Menschen gemäße Moralgesetzgebung, wie sie Kant durch sein kritisches System begründet hat, zugrunde gelegt wird. Nur unter dieser Voraussetzung sah er die Möglichkeit, dass die Konstitution des Staates, die Einführung einer Verfassung und die Ausübung der Gewalten einem Staatsendzweck dient, in dem die humane Entfaltung des Menschen durch ein ihm selbsteigenes Staatswesen erfolgt. Der Inhalt seiner Thesen antizipiert die Vision eines auf rechtliche Gleichheit und politische Freiheit des Bürgers gerichteten Gemeinwesens, das über seine Zeit hinausweist. Unter diesem Vorzeichen überschritten seine Betrachtungen und Reflexionen weit seine pantokratisch angelegte Sichtweise des deutschen Reichszustandes. So ging Ewald gleitend von der Eingrenzung des Rechts der Gesetzgebung auf die Repräsentanten der Teilstaaten des deutschen Reichs zur Ausdehnung dieses Rechts auf alle Bürger über. Damit griff er auf die naturrechtlich begründete Vorstellung der Gesellschafts- bzw. Staatsgründung zurück, die von der Teilnahme aller an dem Vertragsvorgang ausging. Entscheidend ist jedoch, dass er den konstitutiven Zusammenhang von vernunftbegründeter Moralität und gesetzlicher Ordnung für die Gestaltung einer würdigen Existenz des Menschen weiterzutragen suchte.

3.5. Es wird »ein Gesetz durch ganz Deutschland herrschen«49 – Eine Verfassung, gegründet auf Vernunftprinzipien und deutschem Patriotismus Zum Charakter der zukünftigen Verfassung Der Entwurf Ewalds für eine deutsche Reichsverfassung wird zum einen von seinen Vorstellungen einer pantokratisch geprägten Regierungsform getragen. Zum anderen ist es sein kritischer Blick auf die Machtverhältnisse und ihre konkreten Strukturen im deutschen Reichsgebiet, die seine Überlegungen und Vorschläge beeinflussen. Unter diesen Vorzeichen ließ er seinen philosophischen Standpunkt, seine wissenschaftlichen Kenntnisse sowie seine praktische Erfahrung in die Bestimmung der Wesenszüge des Grundgesetzes des Staates einfließen. Er erklärte: Die Güte einer Staatsverfassung hängt erstlich von ihrer Fähigkeit, dem Bürger die freie Ausübung seiner ihm als M e n s c h e n unveräußerlich zustehenden Rechte zu sichern, ihn als U n t e r t h a n von keinen andern als solchen Gesetzen abhängig zu machen, von welchen angenommen werden kann, daß er sich solche selbst habe wollen geben können, und endlich ihn als S t a a t s b ü r g e r an allen Rechten und Vorzügen, wenn er die Bedingungen derselben erfüllen kann, Theil nehmen zu lassen; zweitens aber von der Art und Weise des Gebrauchs, den der Staat von seiner Gewalt macht, ab.50 49 Ebenda, S. 76. 50 Ebenda, S. 249 f.

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Ewald insistierte auf den zielstrebig zu gestaltenden Zusammenhang zwischen der Stabilisierung der Machtstrukturen nach der Vorgabe des Staatsendzwecks und der Entfaltung eines demokratisch orientierten Patriotismus, der auf die nationale Einheit des Landes gerichtet war. Aus gutem Grund hob er hervor, dass die Staatsverfassung, die sich in ihrem Charakter durch eine dreifache Güte auszuzeichnen hat, nur zur Realisierung gelangen kann, wenn die Art und Weise des Machtgebrauchs ihrer Zielsetzung entspricht; denn die Art und Weise des Gebrauchs der Rechte der höchsten Gewalt bestimmt es allein, ob in einem Staate die einzelnen Glieder desselben, als M e n s c h e n f r e i, als U n t e r t h a n e n von fremder Gesetzgebung u n a b h ä n g i g und als S t a a t s b ü r g e r einander in Ansehung der möglichen Theilnahme an den Rechten und Vorzügen im Staate, gleich sind.51

Hieraus leitete Ewald die Forderung nach einer qualitativen und quantitativen Stärkung der »Repräsentation« der höchsten Gewalt ab. Der Staat müsse so verwaltet werden, wie die gesammten Glieder des Staats moralischer Weise wollen können, daß er verwaltet werde.52

Deshalb müsse sich auch der Staat wirklich r e p r ä s e n t i r e n lassen; so muß er nothwendig gewisse Personen aus seinem Mittel hierzu ernennen, denen er den Auftrag gibt, in seinem Namen die Rechte der höchsten Gewalt auszuüben [...].53

Nur von moralisch integren und erfahrenen Persönlichkeiten, die nicht auf das persönliche Interesse ihres Machtgebers, sondern nur auf das Interesse des Ganzen, mit welchem jenes unzertrennlich verknüpft54 [ist und] denen auch die Regenten die Ausübung ihrer durch die Moral und das allgemeine Staatsrecht sanktionirten Rechte unbedenklich anvertrauen könnten,55

erhoffte sich Ewald die entscheidenden Impulse zur Entwicklung eines von allen Staatsbürgern getragenen und einheitlich regierten deutschen Staates. Er erklärte sein grundlegendes Anliegen: Erst dann, wann dieser Wunsch in Erfüllung gegangen ist, kann und wird eine wahre Einheit, ein systematisches Ganzes der deutschen Reichsverfassung und Gesetz­ gebung, die alle Glieder dieses großen Körpers zusammenhält und verbindet, und vermöge dieser Einheit ein allgemeines deutsches Vaterland, und ein deutscher Patriotismus entstehen, von welchen weder dieser noch jenes bei der gegenwärtigen Trennung durch das besondere Interesse und die besondere Gesetzgebung jedes einzelnen 51 52 53 54 55

Ebenda, S. 250. Ebenda, S. 251. Ebenda, S. 252. Ebenda, S. 77. Ebenda, S. 75.

348 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe deutschen Staats zu finden ist. Denn die erste und wichtigste Angelegenheit des deutschen Reichstags wird der Entwurf eines allgemeinen systematischen Gesetzbuchs seyn, das alle Zweige der Gesetzgebung umfaßt, und auch denjenigen nicht unausgeführt läßt, der die Rechte und Pflichten der Regenten der einzelnen deutschen Staaten sowohl in Ansehung ihres Verhältnisses zu dem gesammten Reiche, als zu ihren eigenen Staaten und Unterthanen darstellt; die imponirende Vortrefflichkeit und der gesunden Vernunft einleuchtende innere Güte des Werks, wird die Sanktion, Annahme und Einführung desselben in jedem deutschen Staate befördern, und e i n Gesetz durch ganz Deutschland herrschen.56

Grundzüge der Verfassungskonzeption Auf einige Gesichtspunkte der Überlegungen Ewalds zur Gestaltung eines republikanischen Staatswesens in Deutschland im Sinne des von ihm umrissenen Staatsendzwecks soll hier hingewiesen werden: 1. Die Repräsentation des Staates durch kompetente Persönlichkeiten. 2. Das System der Machtausübung und die Trennung von gesetzgebender und vollstreckender Gewalt. 3. Die Beteiligung aller Stände und Körperschaften an der Gestaltung und Ausübung des Regierungsgeschehens. 4. Die Denk- und Glaubensfreiheit sowie die Beförderung der religiösen Toleranz. Zu 1. Ewald sah eine wesentliche Ursache für Missstände im deutschen Reichsgebiet in der oft fehlenden moralischen Integrität der Herrschenden, um ihr Amt mit der notwendigen Verantwortung wahrnehmen zu können. Ewalds Kritik erinnert an Platons und Kants Meinung, dass die Leiden der Menschen kein Ende nehmen, ehe nicht die Herrscher sich mit Philosophie befassen oder die Philosophen zur Regierung gelangen. Denn, so Ewald: so lange nicht sittliche Grundsätze in den Gemüthern der deutschen Regenten feste Wurzeln fassen, nicht von ihnen, auch in ihren politischen Verhältnissen befolgt werden, und dadurch der Dämon der Eroberungs- und Vergrößerungssucht verbannt wird: so lange wird auch in Deutschland an keinen Ruhestand zu denken, und die Selbstständigkeit des Reichs und seiner besondern Staaten, so wie die Erhaltung und der Genuß der Rechte ihrer Regenten und Unterthanen zweifelhaft und prekär seyn [...].57 56 Ebenda, S. 75 f. 57 Ebenda, S. 173 f. Vgl. Platon, Der Staat, S. 213 f.; Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 369. Kant forderte zur Lösung des Problems von Krieg und Frieden: »D i e M a x i m e n der Philosophen über die Bedingungen der Möglichkeit des öffentlichen Friedens sollen von den zum Kriege ger üsteten S t a a t e n z u R a t h e g e z o g e n w e r d e n«, zitiert nach: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 368.

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Ewald verschärfte seine Kritik an den Regierenden, indem er auch von deren charakterlicher und psychologischer Befindlichkeit als Individuen ausging. Die Überwindung ihrer Charakter- und Kompetenzdefizite hielt er nur durch die Verinnerlichung von moralischen Grundsätzen für möglich, die die menschliche Vernunft gebietet. In scharfer Form kritisierte er die häufige Fehlbesetzung der Machtpositionen sowie die eigennützige Willkür der Regierenden in ihren Entscheidungen. Er erwartete von den Repräsentanten im deutschen Reichsgebiet das verantwortungsbewusste Handeln zur Realisierung des Endzwecks des Staates. Es ist mit allen menschlichen Einrichtungen, also auch mit allen Arten oder Formen der Regierungen so: da sie durch Menschen verwaltet werden, so sind sie dem Mißbrauch und der Entstellung unterworfen, wenn sie aus den Händen männlicher, starker, aufgeklärter, von Vorurtheilen und Aberglauben freier, den Zweck und die Pflichten ihres Berufs in ihrem ganzen Umfange kennender thätiger Gemüther, in die Hände unwissender, kindischer, träger, abergläubischer, furchtsamer, leidenschaftlicher und von Vorurtheilen eingenommener Subjekte gerathen, die nicht wissen was sie thun, und wozu sie berufen sind, oder die ein zu jeder Zeit zum Losschlagen gerüstetes Kriegsheer, einen glänzenden Hofstaat, eine wohlbesetzte Tafel, die Aufbringung der Bedürfnisse zu Bestreitung ihres Aufwands, und die pünktliche Vollziehung und Beachtung ihrer willkührlichen Gesetze und Befehle, einzig zu Gegenständen ihrer Obsorge machen.58

Diese Meinung zur Rolle der Regierenden vertrat Ewald bei der Behandlung aller wichtigen Probleme der staatlichen Administration. Zu 2. Obwohl Ewald davon ausging, dass die Zwecksetzung des staatlichen Gemeinwesens dem aktiven erwerbenden Bürger durch die allgemeine und besondere Gesetzgebung den notwendigen Freiraum zur Gestaltung seiner Existenz sichert, kam er – mit Blick auf die seit dem Westfälischen Frieden (1648) bestehenden Zustände der Religionsspaltung und der Machtgestaltung – zu einem ernüchternden Ergebnis: Nirgend ist eine Spur vorhanden, daß die Menschheit und ihre ersten unveräußerlichen Rechte in dem gehorchenden Theile der Staatsglieder respektiret worden wären; allenthalben stehen die Menschen unter dem Einfluß der Macht und Willkühr: ihr ganzer Zustand ist, auch da wo er erträglich ist, prekär, und es bedarf nur eines äußern Anlasses, der die bisherige Anhänglichkeit der Fürsten an menschliche und vernünftige Grundsätze wankend und sie selbst geneigt macht, die ihnen ertheilten Rechte an ihre Stelle zu setzen und sie in ihrer Strenge anzuwenden, und die Menschen sind wieder was sie zur Zeit des Westphälischen Friedens galten, Z u b e h ö r u n g e n d e r G r u n d s t ü c k e ihrer Herren.59 58 Ewald, Kritik der Regierungsform, S. 190 f. 59 Ebenda, S. 162.

350 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe So kritisierte Ewald, von seiner Bestimmung der »Pantokratie« ausgehend, dass diese Regierungsform für das deutsche Reich aufgrund der seit dem 15. Jahrhundert bestehenden Trennung der Reichsstände in drei Kollegien (kurfürstliches, fürstliches und städtisches) und dem Übergewicht der Stimmen der Fürsten bei Entscheidungen »aus den Angeln gehoben« wurde.60 Diese Art der Regierung nähere sich der »oligarchischen« Form61 und »die so nöthige Annäherung der Gesinnungen, Grundsätze und Interessen zu einer Einheit« 62 könne durch diese geschaffenen Unterschiede nicht befördert werden. Die Beseitigung der ursprünglichen Gleichheit sei dem Zweck der pantokratischen Regierungsform nicht gemäß. Obwohl das Urteil Ewalds über die aktuellen Zustände nicht ermutigend ausfiel, äußerte er sich, konsequent seinen Grundsätzen folgend, über die nicht aufgebbaren Grundelemente für die Entwicklung zu einem demokratisch verfassten und einheitlichen Deutschland: Unter diesen Umständen ist es freilich kein Wunder, daß sich die Hoffnung des philosophischen deutschen Patrioten, eine innige Verbindung zwischen den besondern Staaten Deutschlands durch e i n e n Geist, durch e i n e r l e i richtige Grundsätze, durch e i n Interesse seiner Gesetzgeber und durch e i n e Gesetzgebung, deren Zweige sich durch alle Staaten winden, zu Stande gebracht zu sehen, noch immer entfernt hält [...].63

Denn nur eine solche Einheit könnte »eine allgemeine wohleingerichtete Ver­ theidigungs-Polizei-Justiz- und Finanzverfassung« 64 gewähren und die Selbständigkeit des Reichs sowie die Rechte der Regenten und Untertanen sichern. Aus dieser kritischen Bilanz der deutschen Staatlichkeit führte Ewald seine Überlegungen, gleichsam antizipatorisch, zu einer visionären Alternative. Sie ist von seiner pantokratischen Grundidee geprägt und mündet in die Vorstellung eines Staatswesens, in dem republikanisch-demokratische Verhältnisse angestrebt werden sollen. Das zeigte Ewald insbesondere anhand der Form der Machtausübung, d. h. der Art und Weise der Repräsentation der Staatsbürger, die an der Machtgestaltung ursprünglich teilhaben. Dazu erklärte er: 60 61 62 63 64

Ebenda, S. 91. Ebenda, S. 92. Ebenda, S. 83. Ebenda, S. 83 f. Ebenda, S. 84. Angesichts der eklatanten Einschränkung der Mitbestimmung des Einzelnen bei der Gesetzgebung durch die fürstlichen Reichsstände stellte Ewald als Bürger die Frage: »Und welchen patriotischen Antheil kann der deutsche Bürger an dem Nothstand des Reichs nehmen, welche Bestimmungsgründe hat er, sein Blut und seine Kräfte dem deutschen Staate, zur Aufrechthaltung der Selbstständigkeit desselben willig zum Opfer zu bringen, da er sieht, daß die allgemeine Regierung des Reichs wenig oder gar nichts für ihn selbst thut, sich größtentheils mit Gegenständen beschäftiget, die ihm ganz fremd sind, nichts zu seiner Erleichterung, nichts zur Vertheidigung seiner Rechte und gerechten Ansprüche gegen höhere Gewalt und mächtigern Einfluß, nichts zur freien und ungehinderten Treibung seines Handels, Gewerbes u.s.w. beiträgt«, ebenda, S. 94 f.

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In einem Staate, dessen Glieder keinen andern Unterschied unter einander kennen, als den ihnen die Art ihrer Beschäftigung gibt, wo alle nur Bürger und Unterthanen sind, und die Repräsentation eines jeden Kantons, einer jeden Gemeinheit, mit allen übrigen in der Gemeinschaft derselben Rechte und Ansprüche stehen, ist die Repräsentation die vollkommenste, so wie diejenige die unvollkommenste, bei welcher ganze Ordnungen und Stände, als an den allgemeinen Rechten des Staats keinen Theil nehmend, unrepräsentirt gelassen werden, und auf allgemeinen Reichs- oder Landtagen nicht durch ihre Abgeordneten erscheinen dürfen. Die Art der Repräsentation der Staatsgewalt bestimmt die Güte der Regierungsformen. 65

In dieser Vorstellung Ewalds sind sowohl illuminatische Einflüsse als auch seine Erfahrungen und Reflexionen über die Entwicklung der Staatssysteme in Westeuropa eingeflossen. Dies wird in seiner Forderung deutlich, die Konzentration der höchsten Gewalt in einer Hand zu vermeiden, da die Gefahr besteht, dass nur ein Wille vollstreckt werde. Wie viele Zeitgenossen sah Ewald in der Teilung der Macht eine Chance, den Machtmissbrauch wesentlich zu vermindern. Er folgte der Vorstellung der seit der englischen Revolution praktizierten Teilung der Macht in Legislative und Exekutive. Um die Nichtausführung des allgemeinen Willens zu verhindern, schlug Ewald vor: Damit also diese Unvollkommenheit nicht statt finde, müssen die allgemeinen Rechte der höchsten Staatsgewalt, nämlich die bestimmende oder gesetzgebende, welche die aufsehende mit unter sich begreift, und die vollstreckende, b e s o n d e r s repräsentiret werden; ein Theil der Repräsentation bestimmt, was geschehen soll, der andere bringt diese Bestimmungen in Ausführung. Daß dieser jenem subordiniret seyn müsse, bringt die Natur der Sache schon mit sich; denn der blos vollstreckende Theil kann nichts vollstrecken, was nicht zuvor bestimmt ist; und die nothwendige Trennung der beiden repräsentirenden Körper verstattet keine wechselseitigen Eingriffe des einen in die Verrichtungen des andern; der Repräsentant der vollziehenden Gewalt darf sich nicht der gesetzgebenden, und der Repräsentant der letztern, sich nicht der vollziehenden Gewalt anmaßen. 66

Die dominierende Rolle der gesetzgebenden Gewalt, die nach Ewald die »auf­ sehende«67 Gewalt einschließt, unterstrich er nachdrücklich, da sie verpflichtet ist, die Existenzbedingungen der Mitglieder des Staats festzulegen und zu schützen, und forderte: Die Repräsentation der gesetzgebenden Gewalt muß, wenn sie, wie sichs gebührt, vollständig seyn soll, so beschaffen seyn, daß sie jedem Gliede des Staats seine Rechte als Mensch, als Unterthan und als Bürger garantirt; sie muß den Grund der Ueberzeugung für jeden enthalten, daß die freie Ausübung seiner Menschenrechte, 65 Ebenda, S. 254. 66 Ebenda, S. 253. 67 Ebenda. Ewald meinte hier wohl eine Form der rechtsprechenden Gewalt; in Anlehnung eines Systems der Gewaltenteilung, wie es von Locke angelegt und von Montesquieu ausgearbeitet wurde. Im zweiten Teil seiner Schrift ging er von der Dreiteilung der Gewalten aus.

352 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe seiner Unabhängigkeit von andern Gesetzen als solchen, die er sich selbst geben konnte, und seine Theilnahme an allen Rechten und Vorzügen, deren Bedingungen er zu erfüllen im Stande ist, nicht gefährdet sey. 68

Zu 3. Ewald untersuchte detailliert die praktische Machtausübung in der Hierarchie der Regierungsebenen und Verwaltungsbereiche (Rechte und Privilegien des Kaisers und der Fürsten, Rechte der Stände und Reichskreise u. ä.). Hierbei kritisierte er die nicht zu rechtfertigende unzureichende Repräsentation der unteren Stände (der Bürger und der Bauern u. a.) bei Wahlen (z. B. des Kaisers) und wichtigen Entscheidungen. Denn: Soll diese zweckmäßig seyn, so müssen Gleiche sich durch ihres Gleichen, die dasselbe Interesse belebt, repräsentiren lassen, und eben so darf auch kein Theil des Volks bei der Repräsentation leer ausfallen, wie solches in Ansehung der von den Kammergütern abhängigen Bauern der Fall ist. In den meisten deutschen Ländern wird der Bauernstand durch Abgeordnete aus seinem Mittel gar nicht repräsentirt, und wo dieses auch noch in einigen wenigen Provinzen der Fall ist, concurriren jene Abgeordneten nur zur Bewilligung der Auflagen.69

Ferner kritisierte er die Vernachlässigung der »Kreißversammlungen«, die viel stärker als Vermittlungsbereich zwischen den Reichsständen und den Untertanen dienen könnten und damit dem deutschen Patriotismus förderlich sein würden. Zumal die exekutive Gewalt des deutschen Reichs hauptsächlich durch die »Kreiße« auf die Untertanen einwirke, um »die Befriedigung ihrer rationalen und physischen Bedürfnisse«70 zu befördern. So könnten viele praktische Maßnahmen erfolgreich gestaltet werden, wie z. B. die Emporbringung des Handels, des Ackerbaus, der Fabriken und Manufakturen nach den höhern und liberaleren Prinzipien der neuern Finanzwirtschaft, die größere Kultur der Wissenschaften und Künste, die Verbindung der Flüsse und Ströme durch Kanäle, die Verbesserung der Universitäten [...].71

Auch die weitere konkrete Arbeit des »Reichstags« und seiner Einrichtungen untersuchte Ewald auf die Einhaltungen der ursprünglichen, formal-gesetzlichen Festlegung der Kompetenzen dieses Gremiums. Er kritisierte hauptsächlich, dass die im Westfälischen Frieden festgelegte gleichberechtigte Mitwirkung der Reichstädte (z. B. Dezisivstimme auf Reichstagen) durch die fürstlichen Stände missachtet bzw. deren Rechte durch angemaßte Privilegien der Adelsstände streitig gemacht werden. In gleicher Art und Weise werde bei der Abfassung bzw. der Verabschiedung der Reichsgutachten verfahren. Auch hier müsste, so Ewald, 68 Ebenda, S. 253 f. 69 Ebenda, S. 262. 70 Ebenda, S. 176. 71 Ebenda.

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folglich der städtischen Stimme die ganze Kraft und Wirkung eingeräumt werden, die ihr auch, als decisiver, nach der Vernunft und dem positiven Grundgesetze zukommen muß.72

Das bisherige Verfahren gleiche »einer bloßen Ceremonie oder äussern Formalität«.73 Daß bei Nichteinigung die Entscheidung dem Kaiser übertragen werde, »ist in seinem ganzen Umfange mit der Würde eines gesetzgebenden Körpers schlechterdings nicht vereinbar« und »beurkundet einen wesentlichen Mangel in der Organisation seiner gesetzgebenden Gewalt«.74 Ewald resümierte: In einem pantokratisch regierten Staate ist es nicht allein eine der ersten Klugheitsregeln, sondern auch eine Pflicht, die das allen Theilnehmern an der Gesetzgebung gemeinschaftliche Recht der Gleichheit, ihnen allen ohne Unterschied auferlegt, einen jeden in gleichem Maaße an den Rechten, Vorzügen und Geschäften, die die unmittelbare Regierung des Staats nothwendig macht, Theil nehmen zu lassen, nicht aber, dieselben einem Einzigen für immer anzuvertrauen.75

Zu 4. Ausführlich und vehement polemisierte Ewald gegen die administrativ herbeigeführte Spaltung der deutschen Bevölkerung in zwei Religionskörper, nämlich in den k a t h o l i s c h e n und e v a n g e l i s c h e n, und die Moralität derselben verdient daher besonders beleuchtet zu werden.76

So werde aufgrund der Verordnung des Westfälischen Friedens im Falle eines Regentenwechsels ein Glaubenswechsel vorgenommen. Dieser schließe ein, daß ein jeweilig Andersgläubiger, so Ewald, von allen öffentl ichen Aemtern im Staate ausgeschlossen s e y n s o l l; eine neue Ungerechtigkeit, die vor dem Richterstuhl der Sitten und Recht bestimmenden Vernunft schlechterdings unverantwortlich ist.77

Diese Anmaßung des Rechts im Interesse der Glaubenspartei des Landesherrn habe die Einheit der Untertanen des Reichs zerstört. Ewald erklärte seine Grundposition zur Religionsspaltung in Deutschland bzw. zu deren Überwindung. Insbesondere begründete er die freie Wahl des Glaubens als ursprüngliches Menschenrecht. Hier offenbarte er in ungebrochener Kontinuität, dass er sowohl in der Tradition von Lessing, Mendelssohn und Spinoza stand, als auch die Kantischen Positionen des Vernunftglaubens, wie sie Kant besonders in seiner 72 Ebenda, S. 110. 73 Ebenda. 74 Ebenda, S. 112. 75 Ebenda, S. 120 f. 76 Ebenda, S. 133. 77 Ebenda, S. 161.

354 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe 1793 erschienenen religionsphilosophischen Schrift dargestellt hatte, verteidigte. Er stellte prinzipiell klar: Zuvörderst muß als Grundsatz angenommen werden, daß eines jeden Menschen Gewissensfreiheit vom Staate unangefochten bleiben müsse, und daß sich derselbe schlechterdings nicht darum zu bekümmern brauche, auf welche Gründe jener seine Beruhigung in diesem und seine Hoffnung in einem künftigen Leben bauen will. In dieser Rücksicht ihm etwas gesetzlich vorschreiben, ihn zum öffentlichen Bekenntniß gesetzlicher Glaubensartikel, und zur thätigen Theilnahme an vorgeschriebenen religiösen Formen und Gebräuchen zwingen wollen, hieße einem seiner ersten Menschenrechte, die ihm doch der Staat garantiren sollte, Gewalt anthun.78

Dem Staat gestand Ewald ein Eingreifen nur in dem Fall zu, wenn die öffentliche Ruhe und Sicherheit durch die Ausübung eines anderen Glaubens tatsächlich gefährdet ist.79 Schließlich betonte Ewald, dass kein Herrscher sich ein Recht anmaßen kann, das allen Menschen zukommt, das in der moralischen Natur des Menschen selbst gegründet ist, und ihm ohne diese moralische Natur, oder seine Persönlichkeit zu zerstören, nicht entzogen werden darf, nehmen kann.80

In diesem Sinne dürften sich auch die deutschen Gesetzgeber nicht anmaßen, über die Gewissen der deutschen unmittelbaren oder mittelbaren Glieder des Reichs zu herrschen. 81

Wie hier, sowie in allen Urteilen Ewalds über die behandelten Sachverhalte, ist der grundlegende Bezug zum System der kritischen Philosophie Kants und dessen Begrifflichkeit kontinuierlich zu erkennen. Kants moralphilosophische Konkretion des Wesens des Menschen, der zu selbstzugestaltender Humanität fähig ist und damit sein menschheitliches Sein eigenständig ermöglichen kann – das ist der Tenor in den Urteilen Ewalds über die aktuelle Situation in Deutschland 78 Ebenda, S. 133 f. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 133 f. Kant äußerte sich hier zur Ausübung des Gewissenszwangs durch die Regierung in Glaubensfragen. 79 Ewald, Kritik der Regierungsform, S. 134 f. Ewald setzte seine grundsätzliche Argumentation fort: »Aus diesem Grundsatze folgt, daß, so wie es einem jeden Individuum im Staate unbenommen bleiben muß, sich die Art, wie er Gott verehren will, nach seinen besondern religiösen Grundsätzen und Begriffen zu bestimmen, von der im Staate eingeführten Norm abzugehen, und solche für sich und seinen eigenen Gebrauch nach seiner eigenen Denkungsweise selbst zu modificiren, dasselbe Recht auch mehrern, die deshalb in Gemeinschaft treten, und folglich auch den Gliedern eines Dorfes, einer Stadt, einer Provinz, eines ganzen Staates zu Statten kommen müsse; daß also die höchste Gewalt des Staates in dieser Rücksicht ihren Unterthanen weder etwas gebieten noch verbieten, sondern nur insofern ihr Ansehn interponiren kann, in wiefern die öffentliche Ruhe und Sicherheit dabei, nicht e i n g e b i l d e t und blos für die Zukunft b e f ü r c h t e t, sondern w i r k l i c h Gefahr läuft.« 80 Ebenda, S. 135 f. 81 Ebenda, S. 136 f.

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und seiner antizipatorischen Vorstellungen über die Rolle des Bürgers in einem einheitlichen deutschen Staat. Dieses Vorgehen demonstrierte er am Beispiel der seit 1624 in Deutschland von territorialen Regenten vorangetriebenen Auswanderung von Andersgläubigen, um den Herrschaftsbereich religiös zu bereinigen. Ewald polemisierte gegen diese Anmaßung von Landesherrn, ein Recht auf Auswanderung zu erteilen und dieses noch als Wohltat zu deklarieren. Dies zeige, dass er uneingeschränkte Macht und Gewalt in Glaubensangelegenheiten ausübe. Sarkastisch kommentierte er: Ich habe, um nur nicht seiner unbegrenzten Willkühr ausgesetzt zu seyn, das Recht, mich von ihm und aus seinem Wirkungskreis, so weit sein gewaltiger Arm reicht, zu entfernen; und in so fern ist dieses Recht auch eine W o h l t h a t; eine Wohlthat, die auch die Natur dem Wilde nicht versagt hat; die ihm die Füße gab, um den Verfolgungen der Jäger zu entgehen. 82

Dieses Recht des Landesherrn setze voraus, dass er willkürlich den Glauben seiner Untertanen dulden, ihnen diesen entreißen oder sie zu seinen Überzeugungen nötigen kann. Ewald warf zur Lösung des Problems die für ihn prinzipielle Frage auf: Wo aber liegt wohl in der Vernunft der Grund zu einem solchen Recht, und wenn er nicht in der Vernunft zu finden ist, wie kann man ein positives Recht aufstellen, das nicht allein nicht durch die Vernunft begründet wird, sondern sogar derselben nicht weniger in praktischer als theoretischer Rücksicht widerspricht?83

Seine erste und spontane Antwort gab er mit Lukrez: »Tantum religio potuit suadere malorum!«84 Seine zweite und grundsätzliche Antwort gab er im Geist des kategorischen Imperativs von Kant: Es ist P f l i c h t, und das Sittengesetz gebietet es unbedingt, Menschen, die eines andern Glaubens sind, neben uns, die wir anders denken, zu dulden; ein R e c h t geben, sie zu dulden, heißt, jene Pflicht aufheben; denn wozu ich v e r p f l i c h t e t bin, dazu brauche ich nicht berechtiget zu seyn, oder, wenn ich dazu berechtiget zu seyn vermeine, muß ich zugleich in dem Gedanken stehen, daß ich zur Duldung nicht v e r p f l i c h t e t seye. 85

Letztlich sah Ewald in der Konstitution und der Einführung einer »Staatsverfassung«, die nicht nur die vernunftbegründeten Rechte der Staatsbürger sichert, sondern auch als Leitlinie und als Korrektiv des Handelns der Regierenden und der Regierten dient, um die Stabilität des Landes zu befördern, eine notwendige Aufgabe des Staates. Unter dieser Voraussetzung würden 82 Ebenda, S. 156. 83 Ebenda. 84 Ebenda, S. 157 – »Zu soviel Unheil vermochte die Religion zu raten«, nach Lukrez, Über die Natur der Dinge, Lateinisch und Deutsch von Josef Martin, Berlin 1972, Buch I, Vers 101, S. 38 f. 85 Ewald, Kritik der Regierungsform, S. 157.

356 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe die Unterthanen selbst der Erhaltung und des ungestörten Genusses ihrer Rechte versichert seyn, und indem alle Glieder des Reichs unmittelbar oder mittelbar an der Verfassung des Reichs Theil nähmen, würde ein allgemeines Vaterland entstehen und der bis jetzt erstorbene deutsche Patriotismus wieder aufleben.86

Unaufgebbar stand für Ewald im Hintergrund die grundsätzliche Vorstellung von der aktiven Bildung der menschlichen Gemeinschaft durch die Individuen bzw. die kleineren Gruppierungen mit Hilfe eines »Gesellschaftsvertrags«. Diese Verbindung aller miteinander, in der sie ihre Rechte zur Gesetzgebung und deren Durchsetzung an einen Dritten übergeben, soll ihre ursprünglichen Menschenrechte sichern und in der neuen, verfassungsmäßigen Gemeinschaft erweitern. In einer solchen gesellschaftlichen Konstellation sah Ewald die Perspektive für die Mitgestaltung des Staatswesens durch den Bürger. Diese Grundauffassung stand nur scheinbar im Gegensatz zu seinem aktuellen Vorschlag, in Deutschland eine stabile parlamentarische oder eingeschränkte Monarchie zu schaffen. Er sah darin eine Regierungsform, die den notwendigen Konsens zwischen den partikularen Bestrebungen erreichen könnte; denn: Bei dieser Einrichtung würde der Antheil aller besondern Mächte an der Konstituirung der Regierungsform des Reichs in einem gerechten Gleichgewichte stehen [...].87

Allen Erörterungen über aktuelle Probleme und Missstände im deutschen Reich zum Trotz, hielt Ewald an seiner Grundauffassung vom Menschen als vernunftgeprägtem Individuum und seinen ursprünglichen Existenzrechten fest. Er suchte diese als notwendig zu Bewahrendes in eine Konstitution der Gesellschaft als Bürger in einem rechtlich geordneten Staatswesen nicht nur einzubringen, sondern – gleichsam auf höherer Stufe – zu weiterer Entfaltung zu befördern. Das hier vorliegende humanistische Potential sollte letztlich in der selbst zu gestaltenden Gemeinschaft der Bürger (demokratisches Rechtssystem) eine realistische Perspektive finden.

3.6. Der Kriegszustand verstößt gegen das Vernunftgesetz Der Naturzustand ist nicht immer und nothwendig, sondern nur zufällig ein Zustand des Kriegs, wohl aber ist der Zustand des Kriegs nothwendig ein Naturzustand; denn Krieg würde auch unter einzelnen in keiner bürgerlichen Verbindung neben einander lebenden Menschen und Gesellschaften nicht Statt finden, wenn sie nach sittlichen Grundsätzen gegen einander handelten; und das ist nicht unmöglich.88 86 Ebenda, S. 269 f. 87 Ebenda, S. 269. 88 Ewald, Kritik der Kriegsverfassung, S. 5.

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Mit diesen Worten leitete Ewald den zweiten Band seiner Gesamtdarstellung (»Kritik der deutschen Reichsverfassung«) ein, der unter dem Titel »Kritik der Kriegsverfassung des deutschen Reichs« gleichfalls anonym und ohne Ortsangabe 1798 erschien. Er insistierte auf die ganze Wucht und Fülle des Systems der kritischen Philosophie, nunmehr auch auf die gedruckt vorliegenden rechtsund staatsphilosophischen Vorstellungen Kants, als tragendes Fundament, um dieses existentielle Problem lösen zu können. Ewald konzentrierte seine Verehrung für Kant in folgendem Satz: Das Ideal eines solchen friedlichen Naturzustandes haben die Dichter aufgestellt, und der kosmopolitische Weltweise setzt es als letztes Ziel, zu welchem alle bürgerliche Verfassungen und alle durch sie zur sittlichen Bildung der Menschen vorhandenen Mittel hinstreben. 89

Zu diesem Zeitpunkt hatte Ewald die neuesten Schriften Kants »Zum ewigen Frieden« (1795) und »Die Metaphysik der Sitten« (1797) in den GgZ rezensiert bzw. deren Rezensierung (»Tugendlehre« erst 1799) veranlasst. Damit sah er durch die nun weiter ausgearbeitete Philosophie Kants eine ganzheitliche Sichtweise auf die Wirklichkeit und auf die reale und mögliche Existenz des Menschen gegeben. Sie gab ihm die Hoffnung, auch unter deutschen Verhältnissen eine republikanisch organisierte Gemeinschaft der Menschen als selbstbewusste Bürger zu erreichen. Die Impulse und Ideen in den Kantischen Schriften zur Rechts- und Staatsphilosophie, die diese Vorstellungen beförderten, nahm er gezielt in die Einleitung (50 S.) und die gesamte Darstellung auf. Vom Natur- zum Gesellschaftszustand Ewald bedauerte, dass dieser Naturzustand, so wie er in seiner Zeit idealisierend und verklärend verstanden wurde, zerbrochen war. Er hoffte darauf, dass dieses Ideal des »Zustandes der Menschheit« zukünftig mit zutiefst menschlichen Mitteln erreichbar sein werde. Denn: Um es völlig zu erreichen und fest zu halten, bedurfte es nur eines höhern Grades der moralischen Kultur des Menschen, um den Leitungen und Anstalten der Natur zu ihrer Beglückung zu Hülfe zu kommen.90

Die Verbindung von List, Aberglaube und Stärke habe jedoch diese Familien­ periode der Menschheit zerstört. An die Kritik des frühen Rousseau erinnert Ewalds Gegenüberstellung des ursprünglich harmonisch erscheinenden Zustands der Menschheit bei allen Völkern mit den aktuellen zivilisierten, aber konflikt­ reichen Verhältnissen der Gesellschaft.91 Die Menschen der frühen Periode der 89 Ebenda. 90 Ebenda, S. 6. 91 Ebenda, S. 8. Dazu schrieb Ewald: »Zu allen den Vortheilen dieses Zustandes, die dem Menschen eine feste Gesundheit, Stärke und Fertigkeiten des Körpers, leichte und un-

358 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Geschichte der Menschheit, und dies habe man »durch das Zeugniß so vieler glaubwürdigen Reisenden, die sich unter Völkern, die in dieser Periode ihrer Kultur befangen waren, aufhielten, bestätigt« gefunden, seien durch die »Eingeschränktheit der Triebe und Begierden [...] mit aller Ruhm- und Eroberungssucht« unbekannt.92 Ewald fand sich durch die Darstellung der goldenen Periode der deutschen Geschichte von Justus Möser (1720–1794), die dieser in seiner »Osnabrückischen Geschichte« (1768–80) gab, bestätigt. Möser hat die Geschichte der Deutschen, eingeteilt in vier Perioden, als eine in historischer Kontinuität entstandene Gemeinschaft geschildert, die sich durch jeweils besondere Rechts- und Eigentumsverhältnisse unterscheiden. Diese erste Periode endete nach Möser mit der Errichtung des Lehnswesens. In diesem Übergang in das mittelalterliche Zeitalter, in dem sich die Formen des bäuerlichen Gemeinschafts- und Einzelbesitzes in feudales Grundeigentum und die daraus folgenden Abhängigkeitsverhältnisse wandelten, sah Ewald den entscheidenden Einschnitt in der gesellschaftlichen Entwicklung Deutschlands und Europas. Die darauf folgende Periode seit der Renaissance sah er im Sinne seines Drei-Stadien-Modells der historischen Entwicklung als Phase des Herausarbeitens aus den nun entstandenen Konfliktverhältnissen, um schließlich zukünftig auf höherer Stufe ein humaneres Zeitalter gestalten zu können. Die weitere Entwicklung nach der Besitzumwandlung kennzeichnete Ewald als Folge der Staatsbildung, der Einführung der christlichen Religion, des römischen Rechts, der neuen Erkenntnisse von Wissenschaften und Künsten, der geographischen Entdeckungen sowie der Entwicklung des Handels und der Gewerbe. Hierdurch seien manche Bequemlichkeiten erreicht und neue Bedürfnisse geweckt worden. Die Sitten seien geschliffener und die Art und Weise zu fühlen und zu empfinden, seien feiner geworden. Jedoch stellte auch Ewald, in der Nachfolge von Rousseau, die Frage: Ob wir aber dabey würklich gewonnen haben? Ob der Gewinn auf der einen Seite den Werth des Verlustes, den dieser Gewinn unmittelbar nach sich zog, aufwiegt?93

gestörte Befriedigung seiner wenigen Bedürfnisse, seine Unabhängigkeit und Freiheit, Dinge, die in der That nicht so ganz zu verachten sind, gewähren, gesellet sich noch das Glück der Unbekanntschaft mit mancherley Leidenschaften, Sorgen und Krankheiten des Gemüths, die nur das Resultat des Konflikts unserer gegenwärtigen staatsbürgerlichen Verhältnisse, der gar zu nahen Nachbarschaft der Menschen, und einer Menge selbst erschaffener Bedürfnisse sind, die diese Nähe und stete Reibung der Menschen hervorgebracht haben; und zuletzt die Furchtlosigkeit vor Anfällen von andern Menschen.« 92 Ebenda, S. 9 f. 93 Ebenda, S. 23.

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Obwohl Ewald diese Frage mit den Worten »Diese Frage dürfte schwerlich zu bejahen seyn« 94 gleichfalls verneinte, wenn auch mit einem nachdenklichen Zögern, so sah er die zivilisatorisch-kulturelle Entwicklung auch in ihrer produktiven Dualität von praktisch-nützlichem Fortschritt und sozial-politischen Fehlbildungen im Staatskörper. Er hoffte auf eine grundsätzliche Überwindung dieser Spannungen, die von allen Beteiligten getragen wird. Deshalb stellte er weitere und tiefer bohrende Fragen: Wir haben zwar die Grundsätze der Sittenlehre aufgestellt; aber sind wir auch würklich besser und humaner? Sind wir redlicher, ehrlicher, aufrichtiger und unschuldiger als unsere Vorfahren? Sind wir nicht in ein Gedränge von Verhältnissen und Ständen gerathen, die uns eifersüchtig, neidisch, mißgünstig und so hochmüthig machen, daß der Höhere gegen den Niedrigern schlechterdings alle Achtung, die jeder Mensch, er sey wer er wolle, vermöge seiner Persönlichkeit zu fordern berechtigt ist, aus den Augen setzt und die uns die Erfüllung der unvollkommenen äußern Pflichten, äußerst erschweren?95

Da unsere »Sinnlichkeit«, so meinte Ewald, durch viele erkünstelte Bedürfnisse und Erwerbsarten eine unerschöpfliche Quelle von Nahrung gefunden habe, die aber mit sittlichem Rückgang einhergehe (Heuchelei, Untreue u. a.), so warf er die Frage auf: »Und unsere Einsichten und Kenntnisse?« 96 Obgleich manche dieser vermeintlich beglückenden Erkenntnisse, so Ewald, besser nicht an das Tageslicht gekommen wären, so hätten die nützlichen und das Leben erleichternden Wissensgebiete auch im vorangegangen friedlichen Zustand der Gesellschaft erfunden werden können.97 Jedoch im Rückblick auf diesen entschwundenen Zustand kamen Ewald Bedenken, die ihn zu der entscheidenden Frage führten, die für die Perspektive der gesellschaftlichen Entwicklung von eminenter Bedeutung wurde: War dieser Zustand mehrerer vereinigter Familien und Marken oder Gauen ein Zustand der Sicherheit und des Friedens, von Innen und Außen?98 94 Ebenda. 95 Ebenda, S. 23 f. 96 Ebenda, S. 24. 97 Ebenda, S. 25. Dazu Ewald in Anlehnung an Kants Entwurf »Architektonik aller Erkenntnis aus reiner Vernunft« (Kritik der reinen Vernunft, A 835 f.): »Hieher können alle die Wissenschaften und Künste, die entweder schon in den natürlichen Anlagen des menschlichen Gemüths gegründet sind, und durch Reflexion erzeugt werden, oder auf die das Bedürfniß hinleitet, oder die die unmittelbare Erfahrung an die Hand giebt, gerechnet werden. Zu denen der ersten Art würden alle philosophischen und mathematischen Wissenschaften, die Zeichenkunst und die Dichtkunst, zu denen der zweiten die Schreibekunst, die mechanischen Künste und Gewerbe, und zu denen der dritten, die Kenntniß der Krankheiten und ihrer Heilung, die Naturkunde u.s.w. gehören«. 98 Ebenda.

360 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Krieg / Frieden – Republikanismus – Friedensbund Diese scheinbar nur retrospektiv ausgerichtete Frage von Ewald barg in ihrer Beantwortung für ihn den Schlüssel für die perspektivische Möglichkeit, die allseitige Entfaltung des Individuums und der Gesellschaft in sicheren und friedlichen Verhältnissen zu gestalten. Er kam bei seinen auf Möser gestützten Betrachtungen zu dem Schluss, dass auch auf deutschem Boden nach dem Ende des Naturzustandes die Menschen in »b ü r g e r l i c h g e s e t z l i c h e n Verhältnissen«99 gelebt haben. Nur auf diese Weise konnten alle Mitglieder der Gesellschaft, so Ewald, ihre Sicherheit, ihre Rechte und ihr Eigentum erhalten. Diesen Zustand, in dem existentielle Menschenrechte öffentlich bekundet, anerkannt und garantiert wurden, nahm Ewald als Ausgangspunkt und als grundlegendes Credo zur Konstitution einer Verfassung, die die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit für den Staatsbürger sicherte. Dieses Ideal eines Grundgesetzes des Staates charakterisierte er als republikanisch. Es ist dem der despotischen Hierarchie entgegengesetzt. Damit ist Ewald bei Kant. Er erklärte: Da Menschen, welche aus dem natürlichen Zustand in eine bürgerliche Gemeinschaft treten, alle ohne Unterschied auf gleiche Weise und in demselben Umfange und Grade frey und gleich sind; so erhellet daraus, warum einer jeden bürgerlich gesetzlichen Verfassung die Principien der Freiheit und Gleichheit zum grunde liegen müssen, wenn sie gerecht seyn soll. Vermöge derselben muß jeder Bürger die freie und ungehinderte Ausübung aller der Rechte haben, die ihm als Menschen unveräußerlich zustehen; er kann nur von solchen Gesetzen abhängig seyn, zu welchen er entweder seine Einwilligung selbst gegeben hat, oder von welchen angenommen werden kann, daß er sie sich selbst habe geben können, oder, mit andern Worten, er muß von einer Gesetzgebung abhängen, an welcher er selbst Theil nimmt; endlich muß er an allen Rechten und Vorzügen, die die bürgerliche Vereinigung zu gewähren vermag, wenn er nur die Bedingungen derselben zu erfüllen im Stande ist, Theil nehmen können. Eine solche Verfassung heißt die r e p u b l i k a n i s c h e.100

Nachdem er der Markgenossenschaft, wenngleich idealisierend, eine erhebliche Verträglichkeit und Stabilität zugesprochen hatte, sprang er in die aktuelle, weniger harmonische Realität. Er tat dies, indem er Kants Vorstellungen zitierte, die dieser in seiner Schrift »Zum ewigen Frieden« (1795) zur Überwindung der kriegerischen Konflikte zwischen den Völkern entworfen hatte. Er nahm eine Selektion und Adaption von Passagen aus dem »zweiten Definitivartikel« der Schrift Kants vor. Durch diese Vorgehensweise konnte Ewald sowohl die Zielsetzung Kants (Friedensbund der Völker) hervorheben als auch die Basis seiner Argumentation (Vernunft – oberste moralische Instanz) herausstellen. Ewald gab den Inhalt durch Zitate und eigene Formulierungen in seiner aus den vorangegangenen Schriften bekannten Art und Weise wieder: 99 Ebenda, S. 26. 100 Ebenda, S. 27 f.

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Da die Art, wie Staaten ihr Recht verfolgen, sagt K a n t, *) nur der Krieg seyn kann, durch diesen aber und seinen günstigen Ausgang, den S i e g, das Recht nicht entschieden wird, weshalb denn die Vernunft vom Throne der höchsten moralischen gesetzgebenden Gewalt herab, den Krieg als Rechtsgang verdammt, den Friedenszustand dagegen zur unmittelbaren Pflicht macht, welcher aber, ohne einen Vertrag der Völker unter sich, nicht gestiftet oder gesichert werden kann; so muß es einen B u n d von besonderer Art geben, den man den F r i e d e n s b u n d nennen kann. Dieser Bund geht auf keinen Erwerb irgend einer Macht des Staats, sondern lediglich auf Erhaltung und Sicherung der F r e i h e i t eines Staats, für sich selbst und zugleich anderer verbündeter Staaten, ohne daß diese doch sich deshalb (wie Menschen im natürlichen Zustande) öffentlichen Gesetzen und einem Zwange unter denselben, unterwerfen dürfen.101 *) Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Königsberg, 1795.

Obwohl Ewald der Auffassung war, dass die germanischen Marken als frühe Freistaaten die von Kant geforderten Bedingungen von Friedensbündnissen erfüllt haben, so musste er doch zugestehen, dass in der nachfolgenden Zeit durch die Selbstermächtigung der Könige, der Fürsten und des Adels die ursprünglich republikanische Verfasstheit der Gemeinschaft einem willkürlichen Despotismus gewichen war.102 Das Bestreben der Herrschenden, durch Eroberung, Hausmachtpolitik u. a. ihre Macht zu erweitern, führte zu Kollisionen, die »durch Krieg gehoben werden mußten«.103 Ewald resümierte: Alle diese Umstände und die Einführung der stehenden Heere, die mit dem unumschränkten Königsthum und dem Vergrößerungssystem von gleichem Datum ist, sind die nimmer versiegende Quelle zu ewigen Kriegen, die nicht eher verstopft werden kann, als bis die Soldmiliz abgeschafft, der Bürger- und Bauernstand wieder in seine ursprüngliche Rechte der Freiheit und Gleichheit eingesetzt, und dadurch die alte republikanische Verfassung, mittelst Trennung der gesetzgebenden von der exekutiven und richterlichen Gewalt der Könige und Fürsten, wieder hergestellet seyn wird.104

101 Ebenda, S. 32 f. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 355 f. 102 Ebenda, S. 36. Ewalds Sicht auf die nun eingetretenen Zustände: »Endlich wurde nicht allein die Königs- und Fürstenwürde erblich, sondern auch Land und Leute selbst ein Eigentum derselben, mit dem sie schalten und walten konnten, wie sie wollten. Sie konnten sie verkaufen, vertauschen, verschenken, vererben und auf alle Art frei darüber disponiren, sie zu ihrem Privatnutzen gebrauchen und verwenden und alles durch die ihnen zu Gebote stehenden Staatskräfte ausführen, ohne sich durch Rücksichten auf das gemeine Wohl, oder die Beförderung des wahren Staatszwecks, binden zu lassen.« 103 Ebenda, S. 37. 104 Ebenda, S. 37 f.

362 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Kriegsverfassung und stehendes Heer Ewald stellte fest: Die Erfahrung hat es vielfältig bestätiget, daß bloße Kriegsverfassung und immer zum Krieg bereitstehende Heere einem Staate und seinen Bewohnern weder innere noch äußere Sicherheit gewähren können.105

Im Gegenteil, im Innern bringen sie dem Bürger und Landmann Gefahr für Leben und Eigentum (Steuern, Lieferungen, Einquartierung, Kontributionen). Nach außen erhöhen sie die Gefahr des Krieges. Hier argumentierte Ewald wiederum mit Kant (3. Präliminarartikel: Stehende Heere (miles perpetuus) sollen mit der Zeit ganz aufhören. [Denn] sie bedrohen andere Staaten unaufhörlich mit Krieg durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu erscheinen; reizen diese an, sich einander in Menge der Gerüsteten, die keine Grenzen kennt, zu übertreffen, und, indem durch die darauf verwandten Kosten der Friede endlich noch drückender wird, als ein kurzer Krieg: so sind sie selbst Ursache von Angriffskriegen, um diese Last loß zu werden; wozu kommt, daß zum Tödten, oder getödtet zu werden in Sold genommen zu seyn, einen Gebrauch von Menschen als bloße Maschinen und Werkzeuge in der Hand eines Andern (des Staats) zu enthalten scheint, der sich nicht wohl mit dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person vereinigen läßt. *) *) K a n t zum ewigen Frieden. S. 8.106

Völlig im Geiste Kants bekräftigte Ewald entschieden dessen visionäre Zielsetzung sowie die Wahl der Mittel zu ihrer Realisierung: Jede Kriegsverfassung, sie mag beschaffen seyn, wie sie will, verstößt ganz gegen das Vernunftgesetz, wenn sie auf mehr als bloße Vertheidigung geht, und als Mittel zur Erreichung anderer mit dem Zwecke des Staats nicht in Verbindung stehender Absichten gebraucht werden kann. Dieses ist aber jederzeit der Fall, wenn ihr keine staatsbürgerrechtliche und völkerrechtliche Verfassung, die sie einzig und allein im Nothfall unterstützen und behaupten soll, zum Grunde liegt. Ohne dieselbe ist sie eine Last, unter welcher die Menschheit darnieder gedrückt liegt und seufzt [...].107

In einem Staat, der eine vom Vernunftrecht geprägte Verfassung besitzt, so Ewald, »wo der Bürger selbst Feuer und Heerd vertheidiget« und »für seine innere Sicherheit sorgt«,108 kann es keine »Angriffskriege« geben. Denn die Hauptbestimmung des Bürgers ist die seines Standes und Berufs (Staatsdiener, Gelehrter, Künstler, Kauf- und Handelsmann, Handwerker, Landmann und Ökonom, Tagelöhner). Jedoch die ernüchternde Realität sah Ewald in der Tatsache, 105 106 107 108

Ebenda, S. 38. Ebenda, S. 39. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 345. Ewald, Kritik der Kriegsverfassung, S. 39 f. Ebenda, S. 42.

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daß bis jetzt unter den Europäischen Nationen noch kein sicherer Friedenszustand durch Errichtung eines gemeinschaftlichen föderativen Systems gegründet ist, bedarf wohl keines weitläuftigen Beweises.109

Er stellte aus der Sicht des Staatsendzwecks eines Staatswesens der Bürger die völkerrechtliche Kardinalfrage zur Lösung des Problems der gemeinsamen Sicherheit in Europa: Wo wäre ein solcher Vertrag zur gänzlichen Einstellung aller Kriege, der den Potentaten, der ihn bräche, für einen gemeinschaftlichen Feind aller erklärte, und die Hülfe aller zur Vernichtung seiner Absichten aufböte?110

Seine zu erwartende Antwort: Kein diplomatischer Kodex des Europäischen Völkerrechts kann ihn noch zur Zeit aufweisen.111 [Denn:] Noch nirgends sieht man aber den Grundsatz aufgestellt: es soll nach dem höchsten Gebot der Vernunft kein Krieg mehr seyn, und jedes Volk hat das Recht seiner Gesetzgebung selbst.112

Den Ausweg aus dieser Misere wies Ewald im Sinne des grundsätzlichen Vorschlags von Kant, indem er die Durchsetzung des Republikanismus in den einzelnen Staaten und in der europäischen Völkergemeinschaft forderte, da diese Grundlage, nämlich die republikanische Verfassung der Staaten und der Friedensbund unter ihnen zur gemeinschaftlichen Vertheidigung dieser ihrer Verfassungen, noch fehlt.113

Ewalds Kritik am Machtanspruch der europäischen Potentaten, die in ihren stehenden Heeren und Flotten »das beste Mittel und die kräftigsten Stützen dieses ihres Staats- und Völkerdespotismus« sahen und damit »die Fackel des Kriegs«114 nicht erlöschen lassen, war mit der Sympathie für die unterdrückten Völker in Europa und anderen Erdteilen gepaart.115 Er war zu der Meinung gelangt: 109 Ebenda, S. 46. 110 Ebenda. 111 Ebenda. 112 Ebenda, S. 47. 113 Ebenda, S. 46 f. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 349 ff. 114 Ewald, Kritik der Kriegsverfassung, S. 51, 53. 115 Ebenda, S. 49 f. Ewald erklärte: »Aber eben der Geist des Despotismus, der in den Staaten herrscht, regiert auch eben so unumschränkt unter ihnen selbst, oder vielmehr unter den Souveränen derselben. Sie maßen sich gegen einander Rechte an, die der Freiheit und Unabhängigkeit der Nationen, die sie doch in Thesi gelten lassen, gänzlich zuwider sind. Die Einmischung der koalisirten Mächte in die innern Angelegenheiten des französischen, und der Russen in die des polnischen Reichs; die Theilung des letztern; und alle die gewaltsamen Schritte der Engländer, sich zu Alleinherren über die Meere und den Handel der Welt zu machen, sind nichts anders als Einbrüche in das Völkerrecht; und wenn die Mächte, die diesen Grundsätzen folgen, am Ende selbst die Nachtheile davon empfinden,

364 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Despotismus ist der höchste Grad des Unsinns und der moralischen Verdorbenheit,116

der sich, wie er hoffte, durch den Einfluß der Vernunft selbst zerstört. Eine tatsächliche Veränderung des aktuellen Zustandes erwartete er nur von der grundsätzlichen Umsetzung der republikanischen Machtgestaltung: Wenn sich die Staaten in ihren völkerrechtlichen Verhältnissen nach solchen Maximen betragen, die vor dem Richterstuhle der gesetzgebenden Vernunft gebilliget werden; keine Nation von der anderen in der Ausübung der Rechte ihrer staatsbürger- und völkerrechtlichen Freiheit eingeschränkt und beeinträchtiget wird; keine Regierung andere, als die allgemeinen und nothwendigen Staatszwecke in ihren Verhältnissen mit andern vor Augen hätte und zu erreichen suchte; so würden alle Besorgnisse von Beleidigungen wegfallen, und die Unterhaltung stehender Heere würde überflüßig seyn.117

Republikanische Verfassung und Gewaltenteilung Aus diesem Grund beharrte Ewald auf der Fixierung der Gewaltenteilung in der Verfassung, um ihren republikanischen Charakter zu fundieren. Er definierte: Eine Staatsverfassung ist r e p u b l i k a n i s c h, wenn die drey höchsten Gewalten, die sich aus dem Begriffe des Staats ergeben, die gesetzgebende, die vollziehende und die richterliche Gewalt, in den Subjekten, die in Ansehung dieser Gewalten die gesammte Masse der Staatsbürger repräsentiren, getrennt sind.118

Diese von Montesquieu entworfene Teilung der Gewalten fundierte Ewald mit Rousseauschen Grundelementen des Vertrages aller mit allen zur Bildung der Gesellschaft. Entscheidend war für ihn nicht allein die Subordination der Funktio­ nen der Gewalten (der gesetzgebenden Gewalt gehen die richterliche und exekutive zur Hand sowie die exekutive der richterlichen), sondern vor allem deren Fundierung durch »den allgemeinen vereinigten Willen aller Staatsbürger«.119 Diese Grundlegung der Gewalten, insbesondere die der gesetzgebenden, die »ursprünglich beim Volke ist und seyn muß«, sei notwendig. So werde Unrecht vermieden, »wenn Alle über Einen und Einer über Alle, folglich ein jeder auch über sich selbst beschließt«.120 Die exekutive Gewalt oder Regentschaft müsse, so Ewald, von der gesetzgebenden getrennt sein und gesondert ausgeübt werden.

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so sind sie, wenn sie anders konsequent handeln wollen, nicht einmal im Stande, völkerrechtliche Gründe gegen die Unternehmungen ihrer Gegner anzuführen; weil sie durch ihr eigenes Betragen gegen andere, jene unpolitischen Maximen zuerst geltend gemacht und gut geheißen haben.« Ebenda, S. 54. Ebenda, S. 51 f. Ebenda, S. 66. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 6. S. 313 f.; Louis Pahlow, Zur Theorie der Gewaltenteilung im 18. Jahrhundert, in: Aufklärung, Bd. 15, Jg. 2003, S. 292 ff. Ewald, Kritik der Kriegsverfassung, S. 66. Ebenda, S. 67.

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Sie kann nicht vom Volk selbst verwaltet werden, da die Überstimmung Einzelner oder Mehrerer mit dem allgemeinen Willen im Widerspruch stehen würde. Sie darf nicht in den Händen der gesetzgebenden Gewalt liegen, weil, wenn beide Gewalten sich in den Händen eines und desselben Subjekt zugleich befänden, nothwendig Despotismus, der in der eigenmächtigen Vollziehung selbst gegebener Staatsgesetze besteht, gegründet werden würde.121

Die richterliche Gewalt muss als Institution und als Person unabhängig von gesetzgebender und exekutiver Gewalt bestehen und handeln. Die gesetzgebende Gewalt würde in der Gefahr stehen, den Sinn der Gesetze nach willkürlichen Bedürfnissen zu gestalten. Der Richter hingegen habe sich an vorhandene Gesetze zu halten bzw. im Zweifelsfall »an die gesetzgebende Gewalt zu rekurriren«.122 Nur wenn eine solche Staatsverfassung eingeführt sei, könne der Zweck des Staates sicher erreicht werden. Dieser Zweck besteht in der Sicherung der angebornen und erworbenen Rechte der in einem Staat vereinigten Menschen, durch Zwangsgesetze.123

Angeborene und erworbene Rechte Obwohl Ewald die erworbenen Rechte, die das äußere Mein und Dein (»mithin alle rechtlich moralische Vermögenheiten, die auf Personen und Sachen Beziehung haben«124) als grundlegend ansah, widmete er der Wirkung und der Erhaltung der angeborenen Rechte besondere Aufmerksamkeit. In der Darstellung dieser Rechte bezog sich Ewald direkt auf Kants Schrift »Metaphysik der Sitten, Erster Teil, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre« (1797). Der folgende Text ist eine Mischung von wörtlicher Übernahme von Kants Ausführung und eigenständiger verbindender Formulierungen von Ewald: Die angeborenen Rechte gründen sich alle in dem Rechte der F r e i h e i t, vermöge dessen ein jeder von des Andern nöthigender Willkühr unabhängig ist. Dieses Recht specificirt in das Recht der G l e i c h h e i t, in wiefern keiner, vermöge jener Unabhängigkeit, von Andern zu etwas mehrerem verbunden werden kann, als wozu er diese wieder verbinden kann. Diesem Rechte zufolge hat jeder Mensch die Befugniß s e i n e i g n e r H e r r zu seyn; ingleichen von andern zu verlangen, ihn so lange für u n b e s c h o l t e n zu halten, so lange er keinem Unrecht gethan hat; und endlich die Befugniß, daß gegen Andere zu thun, was an sich das Ihrige nicht schmälert, wenn sie sich dessen nur nicht annehmen wollen; wozu hauptsächlich die Mittheilung unserer Gedanken an Andere gehört. *) *) K a n t s metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. S. XLV.125 121 Ebenda, S. 68. 122 Ebenda, S. 70. 123 Ebenda, S. 71. 124 Ebenda. 125 Ebenda, S. 71 f. Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 237 f.

366 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Eine despotische Verfassung, so erörterte Ewald, die keine Trennung der Gewalten kennt, werde den Staatsgliedern die angeborenen Rechte als Menschen und Bürger nicht sichern, so kollidirt doch auch gar oft das Mein und Dein des Unterthans mit dem Interesse des Despoten [...].126

Durch Begünstigungen, Vorrechte und Privilegien sei die rechtliche Freiheit »als das Fundament aller angeborenen Menschenrechte«127 nicht garantiert. Es zeige sich, dass schon der Begriff der Despotie den Begriff der Staatsbürgerschaft, der eben in jener Eigenschaft der Selbstgesetzgebung besteht, aufhebt.128

Ewald sah sich in seinen Überlegungen zur Gestaltung eines »republikanischen Staatswesens« in Deutschland durch die Ereignisse in Frankreich bestärkt. Wenngleich seine Sicht auf die Verhältnisse westlich des Rheins nicht frei waren von einer selektiven Betrachtung der neuentstandenen Regierungsformen, die seit Mitte der neunziger Jahre auf die Durchsetzung großbürgerlicher und expansio­ nistischer Interessen ausgerichtet waren, so erkannte er in ihnen doch wichtige Strukturen, die für die Gestaltung der republikanischen Verfasstheit des Staatswesens in Deutschland zukünftig von Bedeutung sein werden: Alle jene Vorurtheile, die in einer despotischen Verfassung für den Unterthan verlohren sind, gewährt ihm hingegen die republikanische, durch die Trennung der Staatsgewalten. Hier gibt der Unterthan, als Staatsbürger, seine Zustimmung zu den Gesetzen, durch seine Repräsentanten, im Parlamente oder der Nationalversammlung; in seinem Namen und an seiner Statt vollzieht der Regent oder das Direktorium, seine Gesetze und die Urtheile der richterlichen Gewalt; und eben so spricht diese einem jeden im Namen Aller und nach dem allgemeinen Willen das Recht, nach den von dem gesetzgebenden Körper, dem allgemeinen Willen gemäß, aufgestellten Rechts­ principien. Keinem kann Unrecht geschehen, weil auch sein Wille mit unter dem allgemeinen begriffen ist; keiner kann vor den übrigen begünstiget werden, weil der allgemeine Wille alle Begünstigung Einzelner vor den übrigen unmöglich macht.129

Von diesen Grundsätzen ausgehend, untersuchte Ewald in seiner weiteren Darstellung die Zustände im deutschen Reich im Hinblick auf Möglichkeiten zur Realisierung einer nationalen, republikanisch-demokratischen Verfassung. Er kritisierte die diesen Bestrebungen entgegen stehenden politischen und administrativen Verhältnisse. Zudem unterbreitete er Vorschläge für einen innerdeutschen Friedensbund bzw. Völkerbund sowie für eine defensiv orientierte Kriegsverfassung. Sie war darauf ausgerichtet, die stehenden Heere zu beseitigen und das legale Recht des Bürgers zur Selbstverteidigung einer Bürgermiliz zu übertragen. 126 Ewald, Kritik der Kriegsverfassung, S. 73. 127 Ebenda, S. 74. 128 Ebenda. 129 Ebenda, S. 74 f.

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Die republikanische Perspektive des deutschen Reichs Allerdings erkannte Ewald, dass der Realisierung einer republikanischen Verfassung im deutschen Raum ein grundsätzliches Hindernis entgegenstand. Den inneren Frieden sah er gefährdet, ja schon gestört, da nicht allen Staatsbürgern die gleichen Entfaltungsmöglichkeiten gegeben werden. Diese würden durch rechtlich fixierte Standesunterschiede verhindert.130 Er wies vor allem auf die Beschränkungen hin, die den aktiven und erwerbenden Bürgern und Bauern auferlegt wurden, während dem Adel die Privilegien stets allseitig garantiert werden. Mit aller Schärfe kritisierte er die bestehenden Rechts- und Besitzverhältnisse: Die Ungleichheit des rechtlichen Zustandes der Deutschen Staatsbürger liegt vor Augen. Der Bürgerliche ist von aller Theilnahme an der Gesetzgebung ausgeschlossen; bloße Fähigkeiten und erworbene Kenntnisse und Einsichten geben ihm noch kein Recht zu höhern Staatsbedienungen; adeliche Geburt geht ihm allenthalben vor und setzt ihn zurück; das wahre unbeschränkte Landeigenthum ist größtentheils in den Händen des Adels, von dem der Bauer seine Ländereien zu Lehn trägt; es fehlt diesem eine Haupteigenschaft des wahren Eigenthümers, das Recht der freien und unabhängigen Disposition. Allenthalben sieht sich der Deutsche Bürger und Bauer durch verstattete Monopole, Innungen, Verbote der Aus- und Einführung von Waaren und Erzeugnissen, durch schwere Abgaben aller Art, durch Fruchtsperren und andere dergleichen Zwangsgesetze, in seiner Thätigkeit und in dem freien Gebrauche seines Eigenthums und anderer durch den Staat erworbenen Rechte gehemmt und eingeschränkt. Er muß die Lasten der Staatsabgaben allein tragen, indeß der Edelmann auf seinem Gute dabey frey ausgeht und sich von dem Bauer frohnen und zinsen läßt.131

Diese Forderungen nach rechtlicher Gleichheit sowie nach politischer und wirtschaftlicher Liberalität leitete Ewald aus dem naturrechtlichen Fundament seines republikanischen Verfassungsentwurfs ab: Die republikanische Verfassung hingegen leidet es nicht, daß ganze Stände, einzelne Gesellschaften oder Individuen Vorrechte bekommen, und den Menschen die Aussichten auf die Verbesserung ihres äußern Zustandes benommen werden. Sie will 130 Ebenda, S. 82 f. Ewald erklärte: Der innere Frieden könnte gewährleistet werden, »wenn der gegenwärtige rechtliche Zustand der Staatsbürger dem wesentlichen und ursprüng­ lichen Endzwecke des ersten Staatsvereins, in Rücksicht einer durchgängigen Gleichheit, in der Möglichkeit der Erwerbung von Rechten, und ihres Genusses, entspräche. Da nun aber das nicht ist, so befindet sich der gemeine Bürger in dem Gebrauche seiner Rechte beständig in einem Zustande des Zwiespalts mit der Landespolicey auf der einen, und mit dem privilegirten Stande auf der andern Seite; und wenn dieser Zustand gleich kein offenbarer Krieg ist, der Blut und Leben kostet, so ist er doch ein Zustand der Unzufriedenheit, der Erbitterung und des Gefühls der Unterdrückung, der den Keim zu innern Kriegen enthält, den zufällige Ereignisse begünstigen, entwickeln und zum vollen Ausbruche bringen können. Er kann also eine Ursache der innern Ruhestörung und des Kriegs werden«. 131 Ebenda, S. 83 f.

368 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe vielmehr, daß jeder mit seinem Eigenthume mache, was er will; daß er zu jeder öffentlichen Bedienung gelange, wenn er dazu nur die nöthigen Eigenschaften besitzt; daß es jedem frey stehe, irgend einer Lebensart zu folgen, bey welcher er sein Fortkommen zu finden glaubt, und daß ihm alle diese Mittel und Wege nicht von Seiten der Regierung erschweret werden.132

Ewald hat aufgrund seiner umfangreichen Untersuchungen der deutschen und europäischen Zustände eine sachliche Analyse hinsichtlich der politischen, rechtlichen und militärischen Verhältnisse im Reichsgebiet vorgelegt. Er stützte sich auf kenntnisreiche und patriotisch gesinnte Zeitgenossen, wie die Staatsrechtler Johann Jakob Moser und Johannes Stephan Pütter sowie die Historiker Justus Möser und Johannes von Müller. Aus diesem Fundus leitete Ewald ein System von Vorschlägen ab, die die inhaltliche und praktische Gestaltung der bürgergerechten Machtausübung auf allen Ebenen betrafen. Sie orientierten auf das Ziel, durch systematische Veränderung der politischen und rechtlichen Bedingungen im Interesse aller Bürger und regionalen Bereiche ein national geeintes und republikanisches Staatswesen entstehen zu lassen. Ewald konzentrierte sich auf Maßnahmen zur Verhinderung des Krieges und zur gemeinsamen Sicherung des Friedens im Reichsgebiet. Letzteres setzte er voraus, denn: so müssen wir vor allen andern die Beschaffenheit dieses deutschen Friedensbundes und die Art, wie er geschützt und aufrechterhalten wird, in Erwägung ziehen.133

Deshalb forderte er gegen Rechtsverletzungen im Innern eine »Reichsexekutionsordnung« und gegen die äußeren Feinde eine »Reichskriegsverfassung«. Diese Rechts- und Ordnungssysteme müssen im allgemeinen wie im besonderen, »als Mittel, einen Friedenszustand zu gründen«,134 eingeführt werden. Allerdings sah Ewald die Realisierung eines solchen Friedensbundes speziell in Deutschland nur gewährleistet, wenn die Vereinbarung einer Kriegsverfassung mit der Gestaltung eines Staatswesens einhergeht, das sich auf eine republikanische Verfassung gründet. Denn auch in Deutschland müsse diese Kriegs- bzw. Verteidigungsverfassung die Bedingungen erfüllen, die aller Kriegsverfassung überhaupt durch die Vernunft, nach Anleitung des Staatszwecks und des Zwecks der Völkervereinigung, vorgeschrieben werden; diese nämlich: dass sie die Stiftung einer bürgerlichen Verfassung in den Staaten und einer völkerrechtlichen Verfassung unter den vereinigten Staaten mehrerer Nationen nicht hinderlich, sondern vielmehr beförderlich und zur Erhaltung dieser Verfassungen geschickt sind.135

Die Anwendung dieser Kriegsverfassung wird nur unter einer Bedingung erfolgen können, so konstatierte Ewald: 132 Ebenda, S. 84 f. 133 Ebenda, S. 58. 134 Ebenda, S. 55. 135 Ebenda.

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Ihr Krieg kann und wird nur ein Vertheidigungskrieg seyn. Die gesetzgebende Gewalt des Staats beschließt den Vertheidigungskrieg, und die ausführende führt ihn.136

Ewald präzisierte deren Funktion: Die Reichskriegsverfassung begreift einmal alle präparatorischen Anstalten zur Vertheidigung gegen innere und äußere feindliche Anfälle und hiernächst die Führung der Vertheidigung und des Krieges selbst, in Fällen, wo gegen die innern und äußern Feinde verfahren werden muß, in sich.137

Ewald verfolgte dieses Thema mit einem elementaren Impetus, der mit hoher Sachkenntnis und mit konstruktiver Ausdauer bis in die Überlegungen zu den notwendigen administrativen und militärischen Details der Schutzfunktion des Staatswesens getragen war. Es ist zu spüren, daß ihn die Sorge um das Schicksal Deutschlands antrieb, einen Weg zu finden, der das Land und seine Bürger aus seiner Zerrissenheit und Ohnmacht herausleitet. Denn: Es ist in der That zu beklagen, daß die edle Deutsche Nation immer so getrennt, zwiespältig, und in wechselseitiger Eifersucht und Mißtrauen gegen sich selbst erhalten werden soll; Deutsche führen Kriege gegen Deutsche, und wenn kein offener Krieg unter ihnen ist, so genießen sie doch auch keines sichern Friedens.138

Aus der prinzipiellen Kritik an den deutschen Zuständen erwuchsen bei Ewald, wie bei vielen Zeitgenossen, nicht nur wegweisende Vorschläge zur liberalen Reformierung der Gesellschaft, die im 19. Jahrhundert endgültig auf der politischen Tagesordnung stand. Gleichzeitig teilte er auch mit Kant, dem »kosmopolitische(n) Weltweise(n)«139 und anderen Gleichgesinnten, die Hoffnung auf das allmähliche und unentwegte Fortschreiten des Menschengeschlechts zu einer harmonischen Lebensgemeinschaft. Seinen Aufruf an alle gesellschaftlichen Stände und Völker, eine allgemeine Friedensordnung unentwegt anzustreben und zu gestalten, begründete er mit der Überzeugung, dass eine teleologisch wirkende Notwendigkeit, aktiviert durch einen obersten Gesetzgeber, die menschliche Vernunft befähigt, diese Zielsetzung zu erreichen. Zu dieser Vorstellung hatte ihn Kants Idee »in Ansehung des Pflichtbegriffs vom ewigen Frieden« angeregt, dem eine im gesellschaftlichen Fortgang wirkende Zweckmäßigkeit als tiefliegende Weisheit einer höheren, auf den objectiven Endzweck des menschlichen Geschlechts gerichteten und diesen Weltlauf prädeterminirenden Ursache140

zugrunde liegt. Hier sein ermutigender, mit Hoffnung erfüllter Aufruf an alle Menschen als Bürger dieser Erde: 136 137 138 139 140

Ebenda, S. 144. Ebenda, S. 162. Ebenda, S. 191. Ebenda, S. 5. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 361 f.

370 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Es giebt noch keine Weltbürgerrepublik, die allein alle Kriegsverfassung entbehrlich machen würde; es muß ein Friedensbund unter freien Staaten errichtet werden, durch welchen sie sich wechselseitig verbänden, alle Kriege auf immer aufhören zu lassen, und sich ihre freie bürgerliche Verfassung unter einander selbst und gegen nicht verbundene Staaten zu garantiren. Die besoldeten Heere müssen allmählig eingehen, und der freie Bürger, als natürlicher und kräftigerer Beschützer seines Eigenthums und seiner Verfassung, an ihre Stelle treten, um den Friedensbund nach seiner doppelten Rücksicht aufrecht zu erhalten. Die Zeit dieses friedlichen Zustandes, wo der Bürger und Landmann sein durch Fleiß und Anstrengung erworbenes Brod, ohne Sorgen und Gefahr genießen kann, wo die Menschheit einmal zur Ruhe und Erholung, nach Jahrtausenden von Unterdrückung, Noth und Kummer, gelangt, diese Zeit muß kommen, oder es wäre kein Plan, keine Einheit, kein Zweck in der Welteinrichtung – es wäre kein Gott! Schöpft Muth, arme unglückliche Völker; ihr werdet nicht ewig dem blinden Zufall und der Willkühr Preis gegeben seyn; der Plan, die Einheit, der Zweck wird sich entfalten! Es ist ein Gott!141

3.7. Die sozialökonomische Vernunft im republikanischen Staatssystem Mit dem dritten Band seiner »Kritik der deutschen Reichsverfassung«, der 1798 auch ohne Angabe des Autors und des Druckorts unter dem Titel »Kritik der staatswirtschaftlichen Verfassung des Deutschen Reichs« erschien, fundierte und erweiterte Ewald seine Staatstheorie durch die Einbeziehung der wirtschaftlichen Grundlagen der Gesellschaft in den Entwurf für ein republikanisches Staatssystem. Damit vollendete er seine Konzeption, indem er letztlich die Gesamtheit der wesentlichen Verhältnisse in die Betrachtung einbezog, in denen der Mensch als Staatsbürger lebt, wirkt und nicht zuletzt seine Subsistenz und die des Gemeinwesens sichern muss. So war es folgerichtig, dass er – angesichts der Industriellen Revolution in England (seit 1750) und deren umwälzenden Auswirkungen in Europa – sich diesem elementaren Wandel, der auch in Deutschland allmählich begann, zuwandte. Es kam hinzu, dass Ewald durch seine Tätigkeit im Hofmarschallamt des Herzogtums Gotha einen unmittelbaren Einblick in die Gesamtheit der finanziellen und ökonomischen Vorgänge des damals größten Staatswesens in Thüringen hatte. Vor allem stand Ewald unter dem Einfluss der Schrift von Adam Smith »Eine Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Reichtums der Nationen« (1776).142 Obwohl in Deutschland der Kameralismus als Wirtschafts- und Verwaltungslehre des Merkantilismus, der Wirtschaftsform der absolutistischen Staaten, vorherrschte, interessierte sich Ewald besonders für die rasche ökonomische 141 Ewald, Kritik der Kriegsverfassung, S. 45. 142 Vgl. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 289. Kant zitierte Smith’s Definition des Geldes als Form des Tauschwerts.

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Entfaltung des Manufakturkapitalismus in England. Dessen Wesenszüge hatte Smith in aller Deutlichkeit beschrieben. Die Grundsätze des ökonomischen Liberalismus, die Smith aus seiner Arbeitswerttheorie ableitete, betrachtete Ewald als innovative Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland. Deshalb rezipierte er sie für das erst noch zu schaffende republikanische Staatswesen. Er maß den politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen für die Entfaltung einer vom Bürger getragenen wirtschaftlichen Entwicklung, die in internationale Verhältnisse eingeordnet ist, grundsätzliche Bedeutung bei. Grundanforderungen an die Staatsökonomie Zunächst umriss Ewald, von der Zielsetzung eines republikanischen Staates ausgehend, den finanziellen Bedarf, den dieser zur eigenen Verwaltung benötigte sowie zur Förderung des allgemeinen Reproduktionsprozesses der Gesellschaft einzusetzen beabsichtige: Wenn man sich blos an den Begriff des Staats, als einer zur Sicherung ihres Eigenthums und ihrer Rechte unter einem gemeinschaftlichen Oberhaupte vertragsweise vereinigten Menschenmasse, hält, so werden die Mittel, zur Handhabung der innern und äußern Sicherheit die ganze Sphäre der Staatsbedürfnisse erfüllen, und auf die nöthigen Kosten für die Verwaltung der Gerechtigkeit und für die Vertheidigung gegen Anfälle von außen, sich einschränken.143

Da unter der Voraussetzung der Existenz eines Systems föderativer Staaten mit republikanischer Verfassung kein Krieg entstehen könne, lehnte Ewald die Erhaltung stehender Heere strikt ab; denn für die übrigen Verteidigungsaufgaben des Staates werde der Bürger als »der natürliche Vertheidiger desselben«144 selbst sorgen. Damit ein bürgergerechter Einsatz der materiellen Möglichkeiten des Staates erfolgen kann, bedarf er einer »S t a a t s w i r t h s c h a f t«, die »für die 143 Ewald, Kritik der staatswirtschaftlichen Verfassung, S. 7. 144 Ebenda, S. 8. Ewald verstärkte seine Kritik am Unwesen der stehenden Heere: »Die stehenden Armeen sind ein Beweis, wie weit die Menschen noch in der höhern Kultur und Humanität zurück sind. Es sollte schlechterdings in den Staaten kein Stand vorhanden seyn, der blos zum Verstümmeln, Verwunden und Tödten abgerichtet würde; kein Glied des Staates sollte gewerb- und arbeitlos, und kein Stand im Staate seyn, der denen die nicht arbeiten wollen und doch arbeiten können, einen Unterhalt auf Kosten der fleißigen und nützlichen Bürger verschaffte. Es ist zum Entsetzen, wenn man bedenkt, daß in Deutschland allein mehr als eine Million starker und rüstiger Jünglinge und Männer entbehrt werden können, um blos als Soldaten zu dienen; weil sie aber denn doch einmal zum Schlagen da sind und bezahlt werden, so hält man dafür, daß man sie auch zweckmäßig beschäftigen müsse, und führt oft blos um ihretwillen Kriege. In einer rechtlichen Verbindung der Staaten bedarf es keines stehenden Heeres, und es ist eine der ersten Bedingungen, daß kein verbundener Staat eine stets bewaffnete Macht unterhalte. Es bedarf also auch alles des großen Aufwandes nicht, der zur Erhaltung, Rüstung und Uebung desselben in Friedenszeiten erfordert wird«, ebenda, S. 9 f.

372 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Aufbringung und Verwaltung der zur Bestreitung der Staatsbedürfnisse erforderlichen Mittel«145 sorgt. Dies hat nach Ewald, neben dem staatseigenen Besitz (Domänen, Regalien u. a.), direkt durch Beiträge von allen Bürgern (Steuern, Abgaben) zu geschehen. Indirekt erhöhe der Staat seine Einnahmen durch die Förderung von Landwirtschaft, Industrie und Handel. Ewald konzipierte eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung des Staates, seiner Verwaltung und seiner Maßnahmen in der Hinsicht, dass seine Aktivität konsequent auf die Sicherung und Erweiterung der selbständigen und produktiven Tätigkeit des Staatsbürgers gerichtet war. Der Staat habe mit seinen direkten und indirekten ökonomischen Potenzen die Rahmenbedingungen für eine allgemeine Liberalität zu fördern, insbesondere die gleichberechtigten Bedingungen für die Wirksamkeit des erwerbenden Bürgers zu garantieren. Er fixierte die Anforderungen: Nach dem bisher Angeführten wird also der Staat für die Befriedigung folgender Bedürfnisse zu sorgen haben: 1. für den Unterhalt der gesetzgebenden, der ausführenden und der richterlichen Gewalt und der ihnen subordinirten Personen; 2. für öffentliche Werke und Anstalten zur Erleichterung der Manufakturen, der Fabriken, und des Handels; 3. für die Beförderung und Erleichterung des Unterrichts aller Art, und der Erziehung der Jugend und 4. für Staatsvertheidigungsanstalten.146

Diese Sichtweise der Rangfolge der ökonomischen Funktionen des Staates bestimmte einerseits Ewalds Untersuchungen der aktuellen Situation im deutschen Reich im Hinblick auf die Verwaltung seiner materiellen Ressourcen. Andererseits prägte sie seine Vorschläge im Sinne eines effektiv wirkenden Staatswesens zur Ausgestaltung seines liberalen republikanischen Charakters. Die Grundidee und das Kriterium seiner Reflexionen, die ihn sowohl bei seinen empirisch-kritischen Betrachtungen als auch bei seinen Schlussfolgerungen leiteten, war die Sinnhaftigkeit aller ökonomischen Aktivitäten des Staates zur Befähigung des bürgerlichen Individuums, die eigene und gemeinschaftliche Selbsterhaltung und Vervollkommnung zu bewirken. Rezeption der liberalen Wirtschaftslehre von Adam Smith Ewald sah sich in seinen Überlegungen zur befördernden Rolle des Staates im Hinblick auf die effektive Gestaltung des ökonomischen Bereichs der Gesellschaft durch die Vorstellungen von Adam Smith bestätigt. Seine Beschäftigung mit dessen Hauptwerk ergab, dass drei wesentliche Aspekte der ökonomischen Theorie von Smith in seine Reflexionen und Vorschläge zur Gestaltung der staatswirtschaftlichen Aktivitäten eines republikanischen Gemeinwesens einflossen: 145 Ebenda, S. 5. 146 Ebenda, S. 18. Vgl. Volker Bauer, Hofökonomie und Landesökonomie. Das Problem des Hofes im Kameralismus des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Hofkultur und aufklärerische Reformen in Thüringen. Die Bedeutung des Hofes im späten 18. Jahrhundert, hrsg. von Marcus Venzke, Köln / Weimar / Wien 2002, S. 170–196.

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1. Die industrielle Produktion erhält in der Wertschöpfung erstrangige Bedeutung. 2. Die Eigenständigkeit der produktiv tätigen Bürger, insbesondere als Kapitaleigner, ist durch staatliche Maßnahmen zu fördern. 3. Jegliche merkantilistisch orientierte Restriktion des Staates ist zu beseitigen und der Freihandel durch die höchste Gewalt zu gewährleisten. Unter dem Eindruck der Intentionen von Smith konzentrierte sich Ewald zuerst auf das Verhältnis von Staatseigentum (Kron- und Kammergüter, Domänen, bestimmte Regalien) und Privateigentum (kleineres Landeigentum, Manufakturen, Werkstätten u. a.). Er stellte fest, dass diese Formen von Staatseigentum »im Grunde unnöthig und überflüssig und drückend für das Publikum«147 sind; denn sie können den finanziellen Bedarf des Staates sowieso nicht decken. Dies geschehe letztlich durch Steuern, zu denen ja jeder Privatlandeigenthümer, vermöge seiner Eigenschaft als solcher und als Staatsbürger, ohnehin seinen Antheil an dem öffentlichen Aufwande zu tragen verbunden ist [...].148

Dieses umfangreiche Staatseigentum, oft verbunden mit den großen Grundbesitzern, schädigt nach Ewald die freie Konkurrenz auf dem Markt, indem durch Preismanipulation, gleichsam durch einen »künstlichen Prozeß« das Entstehen des »natürlichen Marktpreises« verhindert wird. Die Kammern und adlichen Gutsbesitzer treten durch dergleichen Finanzoperationen in die Eigenschaft der Monopolisten [...].149

Außerdem werde der staatliche Grundbesitz nicht effektiv bewirtschaftet. Erst durch seine Aufteilung an mehrere Eigentümer, so habe es die Praxis gezeigt (Aufteilung der Domänengüter in Böhmen [1776–1782] und in Reuß / Greiz), erhöhte sich die Kultur und das Ergebnis ihrer Bearbeitung. Ewald berief sich auch auf Adam Smith: Die Kronländereien Grosbritanniens, sagt S m i t h *) werfen jetzt nicht einmal ein Viertel der Rente ab, die man vermuthlich daraus ziehen würde, wenn sie Privatpersonen zugehörten. Wären die Kronländereien noch weitläuftiger, so würden sie vermuthlich auch noch schlechter verwaltet werden. *) Untersuchung der Natur und Ursachen von Nationalreichthümern. II. Band. S. 530. der Mauvillonschen Ausg. Leipz. 1776. Die Garvische habe ich nicht bey der Hand.150 147 Ewald, Kritik der staatswirtschaftlichen Verfassung, S. 22. 148 Ebenda. 149 Ebenda, S. 26. 150 Ebenda, S. 26 f. Vgl. Adam Smith, Untersuchungen der Natur und Ursachen von Nationalreichthümern, aus dem Englischen übersetzt von Johann Friedrich Schiller / Christian August Wichmann, 2 Bde., Leipzig 1776/1778, Bd. 1, S. 530. Vgl. dazu: Adam Smith, Eine Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Reichtums der Nationen,

374 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Staatseigentum: Umwandlung und Kontrolle Aus diesem Grunde plädierte Ewald zum einen für die Aufteilung der staatlichen Güter. Zum anderen forderte er die Einschränkung des Staates auf seine finanzpolitische Funktion für das Gedeihen der privaten bürgerlichen Aktivitäten. Grundsätzlich erklärte er: Ueberhaupt scheint es dem Zwecke und der Würde der Staatsregierung nicht angemessen zu seyn, sich selbst mit Landökonomie und Handel abzugeben, und mit ihren Unterthanen hierin in Konkurrenz zu treten und zu wetteifern. Sie soll Handel, Künste, Ackerbau und Gewerbe schützen und ihre Aufnahme befördern helfen, aber nicht den Bürgern und Bauern in ihre Geschäfte greifen.151

Deshalb gestand er dem Staat höchstens ein Landgut als Eigentum zu, »um nützliche Versuche darauf anstellen zu können, und den Privateigenthümern zur Nachahmung nützlicher Entdeckungen und Erfindungen, vorzuarbeiten und mit seinem Beispiele vorzugehen«.152 Die Regalien, die Hoheitsrechte der höchsten Gewalt über Bereiche des gesamten Territoriums, welche in ihrer natürlichen und von der Gemeinschaft geschaffenen Existenz nicht an Privatpersonen gegeben werden sollten, ordnete Ewald in »Landstraßen-, Wald- und Jagd-, Berg- und Salzwerks-, Post- und Münz- und Wasser-Regalien«.153 Er ging davon aus, dass diese allen Bürgern gemeinschaftlich gehören und der »Beförderung des gemeinschaftlichen Zwecks Aller« dienen. Allerdings müsse deren Verwaltung durch die Regenten verantwortungsvoll und zum allgemeinen Nutzen geschehen. So sollten z. B. die Einnahmen aus den Verkehrszöllen und der Post zum Ausbau des Straßennetzes und der Postlinien eingesetzt werden. Mit den Gegenständen aller dieser Regalien darf also im Lande nicht gewuchert, und sie dürfen nicht als Mittel, die Staatskassen reich zu machen, benutzt werden; auch aus übers. und hrsg. von Peter Thal, 3 Bde., Bd. 3, Berlin 1984, S. 214. Jakob von Mauvillon hat an der von Ewald benutzten Übersetzung des Werkes von Smith keinen Anteil. Die Übersetzung von Christian Garve: Adam Smith, Untersuchung über die Natur und die Ursachen des Nationalreichthums, 4 Bde., (1. u. 2. Bd.: 1794; 3. Bd.: 1795; 4. Bd.: 1796), Breslau 1794–1796. Die GgZ haben den Bd. 1 der ersten Übersetzung von Smith’s Werk am 24. Mai 1777 (42. St., S. 337–344) in einer informativen Rezension vorgestellt. In diesem »wichtigen Werk« habe Smith, so der Rezensent, hinsichtlich des Werts der Waren hervorgehoben, »daß Arbeit der einzige allgemeine, und einzig richtige und genaue Maaßstab des Werths, Geld aber nur der nominale Preiß sey, auch dann wenn man es nicht nach seiner Benennung, sondern nach seinem wahren Gehalt berechnet«, ebenda, S. 338). 151 Ebenda, S. 29. Ewald meinte: »Mit einem Worte: der einzige Gebrauch, den der Staat von den Domänen machen könnte und sollte, ist der, daß er sie unter einzelne Bürger unentgeltlich, und selbst ohne sie mit einem Kanon oder Grundzins zu belegen, vertheilte, und seine Bedürfnisse durch Steuern und Auflagen bestritte«, ebenda, S. 30 f. 152 Ebenda, S. 31. 153 Ebenda, S. 32.

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dem Grunde, weil der Handel mit denselben nicht anders als ein Monopol getrieben werden könnte, bey welchem der Bürger jeden geforderten Preis zu entrichten gezwungen wäre.154

Regalien Besonders sensibel reagierte Ewald auf die Nutzung bzw. den Missbrauch des Forst- und Jagdregals. Hier stand er wohl unter dem Eindruck der oft willkürlichen und missbräuchlichen Handhabung dieser Regalien durch ihm bekannte Territorialregenten. Was es auch mit der jetzt bestehenden Jagdgerechtigkeit für eine Beschaffenheit haben mag, so ist doch gewiß, daß nach den ursprünglichen Vorstellungen und Zwecken des Jagdregals, die, so empirisch auch der Gegenstand des letztern ist, die darüber reflektirende Vernunft selbst an die Hand gibt, die Jagdgerechtigkeit eines in einen Staat vereinigten Volkes unveräußerlich seyn, und daß, wenn sie auch das gesammte Volk nicht selbst ausüben wollte und könnte, die der höchsten Gewalt im Staate übertragene Ausübung derselben, doch zu seinem Vortheil geschehen müßte [...].155

So, wie das Jagdregal nicht zum Vorteil für Privatpersonen ausgeübt werden sollte, forderte Ewald aus Sorge um die gerechte Handhabung des Forstregals die Beteiligung der Bürger an dessen Nutzung: Hieraus ergiebt sich: daß an Wildpret, so wie an Holz, so viel, als jährlich in den Wäldern nachwächst, unter die Staatsbürger zu einem Preise verkauft werden müßte, der mit dem jährlichen Kostenaufwande für die Jagd- und Waldverwaltung in gerechtem Verhältnisse steht. Was an Wildpret, Nutz- und Brennholz über das Bedürfniß im Lande vorräthig bleibt, kann ein Gegenstand des freien Handels werden, und der Ertrag davon zur Bestreitung der öffentlichen Ausgaben in die Staatskasse fallen.156

Einer besonderen Kontrolle bedürfe auch das Münzregal. Insgesamt kritisierte Ewald die Missbräuche der Regalien im feudalstaatlichen System scharf.157 Vielfach 154 155 156 157

Ebenda, S. 34 f. Ebenda, S. 57. Ebenda, S. 59. Ebenda, S. 61 f. Ewald schrieb: »Es möchte noch hingehen, daß der größte Theil des Wildprets blos für die Tafeln der Fürsten bestimmt, und den Unterthanen nur selten eine ganz unbedeutende Quantität zu Theil wird, [...] aber daß man blos aus einem unmäßigen Hange zur Jagdlust den Wildstand ungebührlich vermehrt, die Unterthanen mit Jagdfrohnen zum Nachtheil ihrer Wirthschaft belästiget, die Gärten und Saatfelder des Landmanns dem Wilde preis giebt; daß man die Waldungen hauptsächlich als eine Quelle zur Vermehrung der Landesherrlichen Einkünfte betrachtet und behandelt oder übel bewirthschaftet, das geschlagene Holz an Aufkäufer zum Wucher überläßt, oder ohne Rücksicht auf den jährlichen Bedarf der Unterthanen ins Ausland versendet, und durch dieses ganze zweckwidrige Verfahren Theurung eines der ersten Bedürfnisse veranlaßt u.s.w., das alles läßt sich auf keine Weise entschuldigen [...].«

376 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe sprach Ewald die Mahnung aus, dass die Herrschenden mit diesem von der Natur und der Gesellschaft geschaffenen Reichtum verantwortungsvoll umgehen sollten. Da es allgemeine Güter sind, haben sie nicht das Recht, mit diesen Regalien (z. B. dem Bergwerksregal) blos nach ihrer Willkühr zu schalten und solche zu veräußern; weil sie nicht ihr persönliches Eigenthum, sondern ein Eigenthum des ganzen Staats sind.158

Gerechte Besteuerung aller Bürger Ewald analysierte die weiteren »Auflagen«, die im deutschen Reich in unterschiedlichster Weise erhoben wurden. Anhand zahlreicher Beispiele kam er zu dem Ergebnis, dass die gerechte Vorsorge durch eine bessere Verteilung der zu leistenden Abgaben im Sinne eines republikanischen Gemeinwesens zu verändern sei. Er forderte ein geordnetes Steuerwesen, das die Bedürfnisse des gesamten Staates abdeckt und in dem alle Bürger nach ihrem Vermögen besteuert werden. Jedoch seine Sicht auf die realen Verhältnisse ließ ihn erkennen, dass der Mangel einer »allgemeinen Gesetzgebung und ausführenden Macht«159 diese bürger­ gerechte Steuergesetzgebung verhindert. Denn: So lange die Deutschen Reichsfürsten zur Besteuerung ihrer Unterthanen selbst berechtiget bleiben, und in so fern vom Kaiser und Reich gänzlich unabhängig sind, so lange wird auch die systematische Einheit des Deutschen Reichs ein frommer Wunsch bleiben.160

Seine Kritik richtete sich auch gegen Maßnahmen der deutschen Zentralgewalt. Einen eklatanten Missstand sah er in der besonderen Besteuerung der Juden in Frankfurt und Worms durch den Kaiser. Diese Abgaben habe eigentlich das gesamte Reich zu erbringen. Er hielt sie für so ungerecht und diskriminierend, dass »sich jeder seine Würde fühlende Regent schämen muß«. Denn: In diesen Beiträgen der Judenschaft liegt auch etwas Widerwärtiges und Unschickliches, weil man sich dabey des Gedankens nicht erwehren kann, daß sie von dem gedrücktesten Theile der Deutschen Menschheit herrühren, und das Andenken ihres barbarischen Ursprungs erneuern, der darin zu suchen ist, daß die Juden mit dieser Steuer ihr Gut und Leben lösen mußten; weil man glaubte, daß der Kaiser befugt sey, mit ihrem Gute zu schalten und zu walten, wie er wolle, und sie nach Gefallen umbringen zu lassen.161

Dass Ewald erst in einer zukünftigen Gestaltung eines nationalen republikanischen Staatswesens ein gerechteres Steuerwesen erwartete, zeigt seine sarkastische 158 Ebenda, S. 67. 159 Ebenda, S. 108. 160 Ebenda. 161 Ebenda, S. 93 f.

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Bemerkung zur Haltung der deutschen Fürsten zu einer zentral geregelten Steuergesetzgebung: Will man, daß Deutschland ein in ein gesetzliches System vereinigter Staat seyn soll, so können unsere Deutschen Fürsten nicht mehr selbstständige Landesherren bleiben; oder, da sie dieses doch immer bleiben wollen, muß man den Gedanken aufgeben, aus ihren Ländern einen einzigen Staat zu formiren, und diesem eine rechtliche Verfassung zu geben, als welches ohne jene Voraussetzung, die freilich eine wahre philosophische Selbstverleugnung [!] von Seiten unserer Landesherren erfordert, gar nicht möglich ist. Dann gäbe es keine Territorialsteuern, sondern eine von dem gesetzgebenden Körper für alle Bedürfnisse berechnete allgemeine und beständige Reichssteuer [...].162

Durch die Reichsstände würde in den Ländern als Unterregentschaften »ein gleicher und unveränderlicher Steuerfuß eingeführt, und zu jeder Zeit würden für alle Bedürfnisse die nöthigen Mittel in Bereitschaft seyn«.163 Mit diesem mutigen Vorschlag, in Deutschland eine elementare und transparente Steuergesetzgebung zu schaffen, traf Ewald den Lebensnerv des spannungsreichen Verhältnisses von Zentral- und Partikulargewalt. Er ahnte wohl, dass dies auch in Deutschland ein immerwährendes Problem sein wird. Entfaltung der Industrie durch Förderung von Kapitalanlage Ewalds Postulat, eine allgemeine Steuergerechtigkeit anzustreben, stand in unmittelbarer Verbindung mit seiner Auffassung, den wirtschaftlichen Kernbereich im Staatswesen – den »Nahrungsstand« und die »Industrie« – zielstrebig zu entwickeln. Dem letztgenannten, innovativen Sektor der wirtschaftlichen Tätigkeit widmete er unter dem Titel »Von den Kapitalisten« besondere Aufmerksamkeit. Als »Kapital« bezeichnete Ewald, Adam Smith folgend, einen Geldvorrat, den sein Eigentümer, der Kapitalist, zum einen einsetzt, um seinen Unterhalt zu sichern (z. B. verzinsliche Anlagen), zum anderen nutzt, um durch produktive Arbeit (Ankauf von Grundstücken, Maschinen, Werkstätten, Rohstoffen u. a.) sein Kapital selbst oder durch Arbeiter zu vermehren. In diesem Sinne sah er das »Geldkapital« als Motor für eine höhere Stufe von wirtschaftlicher Innovation und Effektivität an, die auf die Entfaltung von manufakturkapitalistischen Verhältnissen in Deutschland hinwirkte. Das Kapital ist das erste und vornehmste Triebwerk, das alle zur Maschine der Staatswirthschaft gehörigen Theile der Industrie in Bewegung setzt, ihnen einen höhern und würksamern Schwung giebt, und dessen Unterbrechung und Störung zugleich den Stillstand und Verfall der ganzen Maschine nach sich zieht. Gleichwie sich ohne Geld überhaupt nur ein sehr eingeschränkter und im Detail höchst 162 Ebenda, S. 118 f. 163 Ebenda, S. 119.

378 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe beschwerlicher Tauschhandel von Waaren gegen Waaren und Arbeit denken läßt; so ist es auch nur das Geldkapital, durch welches alle Arten von produktiver Arbeit verbessert und vermehrt, und der Handel mit denselben erweitert und bis zum möglich höchsten Grad der Vollkommenheit empor gebracht werden kann.164

Ewald wies eindringlich darauf hin, dass die höchste Gewalt alle Maßnahmen, wie gesetzlich festgelegte Zinsen, hohe Zölle, Aus- und Einfuhrbeschränkungen u. a., unterlassen muss, da sonst die Kapitaleigentümer das Land verlassen.165 Denn diese sind nach Smith »Weltbürger« und nicht an ein bestimmtes Land gebunden. Gegen die Beschränkung der Kapitalaktivitäten argumentierte Ewald mit der Meinung von Smith, die er in folgendem Text adaptierte: Kapitalien bauen das Land und beschäftigen die Arbeiter. Eine Taxe, welche die Kapitalien aus einem Land vertriebe, würde auch in so fern jede Quelle von Einkünften, sowol für den Landesherrn als auch für die Gesellschaft, verstopfen. Durch das Wegziehen der Kapitalien würden nicht nur die Gewinnste an denselben, sondern auch die Landrente und der Arbeitslohn mehr oder weniger geschwächt und vermindert werden. *) *) S. A d a m S m i t h s Unters. der Natur und Ursachen von Nationalreichthümern, Leipzig 1778. Zweiter Band, S. 573 ff.166

So hielt Ewald das Vorgeben von positiven Gesetzen, die die Rechte der wirtschaftlich tätigen Bürger einschränken, für ein »unpolitisches« Verfahren von Regierungen; denn – so betonte er wiederholt: 164 Ebenda, S. 128. Ewald folgte Smith hinsichtlich der effektiven Gestaltung des Verhältnisses von Kapitalentfaltung und Wirtschaftspolitik des Staates. Vgl. Adam Smith, Eine Untersuchung über das Wesen und die Ursachen von Nationalreichthümern, Bd. 1, Leipzig 1776, S. 541–566. Smith erklärte: »Der Reichthum, und sofern die Macht vom Reichthum abhängt, auch die Macht eines jeden Landes müssen allzeit dem Werthe seines jährlichen Produkts, dem Fonds, woraus alle seine Abgaben endlich bezahlt werden müssen, proportioniret sein. Nun aber ist der Hauptzweck der Staatswirtschaft eines jeden Landes die Vermehrung seines Reichthums und seiner Macht«, ebenda, S. 561. 165 Ewald, Kritik der staatswirtschaftlichen Verfassung, S. 135 f. Ewald schrieb: »Hiernächst veranlassen dergleichen Taxen auf Kapitalien und die mit der Untersuchung des Vermögens der Privatpersonen verknüpften Plackereien die Eigner der Kapitalien, dieselben in andere Länder zu ziehen, wo sie ihre Geschäfte ruhiger und gemächlicher treiben und ihr Vermögen genießen können«. 166 Ebenda, S. 136. Smith stellte auf der Seite 573 seines Werks, die Ewald angegeben hat, zur Ursache der weltbürgerlichen Bestrebung des Kapitals fest: »Der Eigner von Ländereyen ist nothwendig ein Bürger des Landes, worinn seine Güter liegen. Der Eigner von Kapitalien hingegen ist eigentlich ein Weltbürger, weil an kein einziges Land nothwendig gebunden. Er würde geneigt sein, das Land zu verlassen, wenn er einer ärgerlichen Unter­ suchung unterworfen würde, um mit einer schweren Taxe belegt zu werden«, ebenda, S. 573. Vgl. Adam Smith, Eine Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Reichtums der Nationen, hrsg. und übers. von Peter Thal, Bd. 3, Berlin 1984, S. 245.

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der Kapitalist, der sich in der vortheilhaftesten Anwendung seines Kapitals eingeschränkt sieht, wird sein Kapital in das Ausland ziehen, wo er freier damit handeln kann. Die Regierung entziehet also durch willkührliches Verfahren dem Lande die Mittel, die produktiven Arbeiten zu vervollkommnen und mit ihnen zugleich den Reichthum des Landes zu vermehren.167

Er bezweifelte vehement, dass sich diese restriktive Art der Besteuerung des Kapitals überhaupt »mit den Grundsätzen einer gesunden Staatswirthschaft und der Staatsklugheit«168 vereinbaren lasse. So sei es z. B. für Regierungen nicht unrecht, die Zinsen von Kapitalien mit Abgaben zu belegen, »aber ob sie auch staatswirthschaftlich und klug handeln ist eine andere Frage«.169 Hier kommentierte Ewald dieses Problem als Kantianer unter dem Blickwinkel der praktischen Anwendung des Verhältnisses von »Moralität« und »Legalität«: Eine Handlung oder Verfügung, die nicht durch Pflicht geboten ist, wird, wenn sie auch mit dem Rechte besteht, dennoch besser unterlassen, wenn die Klugheit voraus sieht, daß sie statt des gehofften Nutzens Schaden bringen werde.170

Schließlich ging es Ewald nicht nur um die Verteidigung der innovativen Gruppe von Unternehmern (Kapitalisten) als wirtschaftlich treibender Kraft im Staat, sondern vor allem um die Sicherung der Rechte aller aktiven, gesellschafts- und staatstragenden Bürger schlechthin. Er wies dem Staat eine leitende Funktion zur Entfaltung der Eigenständigkeit des Einzelnen zu, die durch Gesetzgebung und administrative Maßnahmen befördert werden sollte. Jedoch war sich Ewald der Tatsache bewusst, daß die aktuellen Machtstrukturen (Kaiser, Fürsten u. a.) ein einheitliches Vorgehen verhinderten. Dennoch forderte er, in perspektivischer Sicht, dass Kaiser und Reich berechtigt und verpflichtet sind, dafür zu sorgen, daß den Unterthanen zur leichten und bequemen Entrichtung der verwilligten Abgaben, mithin zur leichten Anschaffung der Mittel ihrer Subsistenz und zur freien Treibung ihres Gewerbes, Handels und Wandels, kein Hinderniß in den Weg gelegt, sondern ihnen auch hier aller mögliche Vorschub gethan werde.171

Kritik am Lehnswesen So verwundert es nicht, dass Ewald in diesem Zusammenhang das Haupthindernis für die Entfaltung der Staatsbürgerlichkeit in Deutschland insbesondere im Fortbestehen des Lehnswesens erblickte. Er beschrieb die verschiedenen rechtlichen und ökonomischen Verhältnisse der Abhängigkeit, in der vor allem die Landbevölkerung, die Mehrheit der Einwohner in den deutschen Staaten, lebte. 167 Ewald, Kritik der staatswirtschaftlichen Verfassung, S. 143. 168 Ebenda, S. 173. 169 Ebenda, S. 174. 170 Ebenda. 171 Ebenda, S. 157.

380 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Sie standen sowohl der Entwicklung von freien und selbständigen Produzenten in allen Bereichen als auch dem Entstehen einer effektiven Rohstoff- und Nahrungsgüterproduktion völlig entgegen. Er wies auf den allseits bekannten Widerspruch hin, dass der den Boden bearbeitende Bauer diesen nicht besitzt und somit als Leibeigener oder Fröhner den Boden der adligen Landeigentümer interesselos und damit uneffektiv bearbeitet. Auch das Pachtsystem, so Ewald, habe diesen Zustand nicht verändern können.172 Aus diesem Grunde plädierte Ewald für die Übergabe des »Bodens« an die »Bauern«, um ihn nutzbringend für ihre und damit für die gesamtstaatliche Versorgung zu bearbeiten. Man ist darüber einverstanden, daß der Werth der Ländereien sich erhöhen, und der Ackerbau einen höhern Grad der Vollkommenheit erreichen würde, wenn man den Bauern ein vollkommenes Eigenthumsrecht an den ihnen verliehenen Grundstücken und eine gänzliche Befreiung von allen Frohndiensten verwilligte.173

Es käme der höchsten Gewalt (Kaiser und Reich) zu, »jene Hindernisse der höhern Kultur der Deutschen Landwirthschaft dadurch zu entfernen«, indem »die ganze Lehnsverbindung«174 aufgehoben würde. Das wäre ein großer Schritt »zur physischen und moralischen Vervollkommnung der Deutschen Menschheit«.175 Internationaler Freihandel – Leitidee für den ökonomischen Fortschritt Ewald weitete die Forderung nach nationaler Effizienz des Wirtschaftens auf die internationale bzw. kosmopolitische Dimension aus. Er forderte die Ausdehnung des Freihandels mit allen Staaten als wesentliche Voraussetzung zur friedlichen und völkerverbindenden Existenzsicherung der Menschheit. Die im merkantilistischen Wirtschaftssystem praktizierten Verbote der Ausfuhr, z. B. die von eigenen Rohstoffen, oder der Einfuhr von Waren, die im Ausland billiger produziert wurden, kritisierte Ewald heftig, da diesen Einschränkungen eine »sehr eigennützige, unweltbürgerliche und die Deutschen Staatenverbindungen trennende Maxime« zugrunde gelegt werde, die »dem Geiste einer vernünftigen 172 Ebenda, S. 195 f. Ewald erläuterte: »Noch nachtheiliger und ungünstiger für die Vervollkommnung des Ackerbaues ist es, wenn der Gutsherr seine Besitzungen durch Leibeigene oder Fröhner anbauen läßt. Die Arbeit, die sie ihm verrichten, ist freilich wohlfeil, da sie ihm weiter nichts kostet, als was sie mit dem Munde davon tragen. Aber im Grunde kömmt ihm doch ihre Arbeit theuer genug zu stehen, da sie viel zu essen und wenig und schlecht zu arbeiten pflegen; denn was interessirt sie ein fremder Boden, der nicht ihr eigen ist, und eine Arbeit, durch die sie ihren Zustand nicht zu verbessern im Stande sind, oder die sie die Beförderung ihres eigenen Nutzens zu vernachlässigen und ihre Hände und ihr Vieh von der Pflege und Kultur ihres eigenen Ackers abzuziehen zwingt.« 173 Ebenda, S. 197. 174 Ebenda, S. 198 f. 175 Ebenda, S. 199.

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Gesetzgebung gänzlich zuwieder«176 sei. Dieses restriktive Vorgehen der höchsten Gewalt, welche lediglich auf den eigenen Wohlstand bedacht ist, bewirke auch in Deutschland, dass »das auf Grundsätze des allgemeinen Rechts gebaute liberale, philanthropische und weltbürgerliche System verdrängt«177 werde bzw. sich nicht entwickeln könne. Den Zusammenhang von nationaler und internationaler Kooperation zur Hebung des Wohlstandes aller Staaten erkannte Ewald grundsätzlich und weitsichtig. Zum einen forderte er von den Staatsgewalten, die produktiven Aktivitäten zur Erhöhung der Effektivität der nationalen Wirtschaft zu unterstützen. Sie sei die unabdingbare Voraussetzung, um weltweit die Verhältnisse mitgestalten zu können. Er erklärte: Es ist wahr, auch nach den Grundsätzen einer kosmopolitischen Staatswirthschaft und Polizey, ist es die Pflicht der Regierungen, für die Verbesserung und mehrere Aufnahme i h r e r Unterthanen besonders zu sorgen, sie zur Betreibung nützlicher und einträglicher Gewerbe aufzumuntern, und alle sie darin störenden Hindernisse aus dem Wege zu räumen. Aber hierzu bedarf sie jener gewaltsamen, die Eigenthumsrechte einschränkenden und den freundschaftlichen Verkehr der Nationen vernichtenden Mittel nicht.178

Zum anderen orientierte er auf die kosmopolitische Ausrichtung der nationalen Wirtschaft, da diese Impulse zur Hebung der eigenen Konkurrenzfähigkeit auslöst. Denn, so meinte Ewald: Ihre Maximen sind liberaler. Sie weckt und befördert den Kunstfleiß, ohne irgend ein Volk von der Theilnehmung an den Gütern ihres Bodens auszuschließen, durch Mittel, die das öffentliche Recht heiliget, die um deswillen einem jeden Staate zu Gebote stehen können, und durch kein Zeichen des Neides, der Mißgunst und des Eigennutzes gebrantmarkt sind. Man lasse nur den Verkehr, Handel und Wandel der Staaten frey und ungestört; der dem Menschen so natürliche Hang, seinen Zustand zu verbessern, wird ihn schon von selbst leichter und früher auf den Weg führen, seine Arbeit und sein Kapital einträglicher zu machen, und andern, die weiter sind als er, die Vortheile abzulernen, die seine Einkünfte zu vermehren geschickt sind.179

Als Kronzeuge für diese nationale Unabhängigkeit und freie Betätigung des Kapitals in Industrie, Landwirtschaft und Handel berief sich Ewald auf A d a m S m i t h. Dieser verurteilte rigoros jegliche Beschränkungen des Handels durch staatliche Vorschriften und Zölle. Für Smith ist – in Anlehnung an die Losung der Physiokraten in Frankreich »laissez-faire, laissez-aller« – die produktive Arbeit, die Arbeitsteilung, die Konkurrenz und der Markt das Regulativ für eine effektive Wirtschaftsentwicklung. Dieser Intention von Smith stimmte Ewald zu, indem er dessen folgenden Text in seiner gewohnten Weise adaptierte: 176 Ebenda, S. 232. 177 Ebenda, S. 235. 178 Ebenda, S. 233. Vgl. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 313. 179 Ebenda, S. 233 f.

382 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Das Produkt einheimischer Industrie in irgend einem Gewerbe (durch Verbote der Einfuhr eben dieser Produkte und durch hohe Auflagen auf dieselbe) zu einem Monopol des einheimischen Marktes machen, sagt S m i t h sehr richtig, heißt gewißermaßen Privatleuten vorschreiben, auf welche Art sie ihre Kapitalien anwenden sollen, und ist in fast jedem Falle eine entweder unnütze oder sogar schädliche Verordnung. Kann das einheimische Produkt eben so wohlfeil, als das ausländische, auf den inländischen Markt gebracht werden, so ist eine solche Verordnung augenscheinlich unnütz, wo nicht, so wird sie schädlich seyn. Es ist, fährt S m i t h fort, die Maxime eines jeden verständigen Hausvaters, niemals etwas im Hause selbst zu verfertigen, was er außer dem Hause wohlfeiler kaufen kann. Der Schneider versucht es nicht, seine Schuhe selbst zu machen, da er sie vom Schuster wohlfeiler erhält; der Schuster macht sich seine Kleider nicht selbst, weil sie ihm der Schneider wohlfeiler macht, als er sie würde machen können; und der Landwirth versucht es nicht, Schuhe und Kleider zu machen, weil er sie von dem Schuster und Schneider wohlfeiler haben kann. Sie alle finden ihre Vortheile dabey, daß sie ihren Fleiß auf eine Art anwenden, worin sie ihren Nachbarn gewissermaßen überlegen sind, und daß sie mit einem Theile ihres Produkts, oder, welches einerley ist, mit dem Preise eines desselben, alles andere erkaufen, was sie sonst bedürfen. Was aber im Betragen einer jeden Privatfamilie eine Klugheit ist, kann wol schwerlich im Betragen eines ganzen Staats eine Thorheit seyn. Kann ein fremdes Land uns mit irgend einer Waare wohlfeiler versehen, als wir selbst sie verfertigen können, so ist es besser, sie mit irgend einem Theile des Produkts unsers eigenen Fleißes zu kaufen, der auf irgend eine Art angewendet wird, worin wir einigen Vorzug haben.180

Wie dieser umfängliche Text zeigt, haben Ewald die Erkenntnisse von Smith von der neuen Stufe der industriellen Entwicklung in England, d. h. den Manufakturkapitalismus, sowie von dem weltumspannenden Freihandel zum Überschreiten der in Deutschland dominierenden Positionen der merkantilistischen Wirtschaftspolitik außerordentlich angeregt. Sie bestätigten ihn in der Auffassung, daß in dieser Wirtschaftsform die ökonomische und wirtschaftspolitische Grundlage bzw. die notwendige Ergänzung zu seiner republikanischen Konzeption einer Verfassung zu sehen ist. In der freien und eigenständigen Betätigung der Bürger als Produzenten sah Ewald eine wesentliche Triebkraft für die kulturelle und moralische Vervollkommnung der Menschheit überhaupt. Der praktisch-gegenständliche Austausch von Waren – und damit auch von Innovationen und Informationen – sollte mit allen Mitteln gefördert werden, »d. i. sie dürfen den Grundsätzen des öffentlichen Rechts, folglich einer staatsbürger180 Ebenda, S. 314–316. Vgl. Adam Smith, Untersuchungen der Natur und Ursachen von Nationalreichthümern, Bd. 2, Leipzig 1778, S. 44 f. Vgl. ALZ, Nr. 397 vom 29. Dezember 1798, Sp. 822. Der Rezensent des Gesamtwerkes von Ewald schrieb zu diesem Aspekt im dritten Band: »Was die Grundsätze des Vfs. anlangt, so ist derselbe für eine völlige Gewerb- und Handelsfreyheit, und scheint grösstentheils Smith gefolgt zu seyn, den er auch an einigen Stellen anführt.« Dem Rezensenten gingen Ewalds Forderungen oft zu weit. Er meinte, der Autor sollte sich der Kürze befleißigen, und vor allem müsse er sich »in Sprache und Grundsätzen das Lob der Mäßigung ferner zu verdienen suchen«.

Republikanische Verfassungskonzeption

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rechtlichen, völkerrechtlichen und weltbürgerrechtlichen Verfassung nicht widerstreiten«.181 Im Sinne dieser liberalen Intention wollte er den ungehinderten »Freihandel« als notwendige Ergänzung zur Sicherung der Existenz des Individuums und zur Entfaltung seiner Persönlichkeit in der Gemeinschaft als grundlegend anerkannt wissen. Denn: Jeder Mensch hat das höchste Recht, seinen Vermögenszustand auf dem Wege des Handels durch Mittel, die das Privat- und öffentliche Recht gut heißt, zu verbessern, und er darf um so weniger darin gestört und eingeschränkt werden, als durch die Verbesserung seines Vermögens auch zugleich das Nationalvermögen vermehrt wird.182

Er verurteilte den »Schleichhandel« jeglicher Art als Verstoß gegen Moral und Gesetz und als Schädigung des Volksvermögens. Es sind die Urheber der Verletzung des öffentlichen Rechts vor ihrem innern Richter verantwortlich, und die Bestraften fallen als Opfer dieses öffentlichen Rechts.183

Kosmopolitische Ökonomie und globale Humanität Der hier erkennbare Zusammenhang von fundamentaler Orientierung des menschlichen Handelns nach dem Maßstab der Vernunft und deren praktische, staatstheoretisch begründete Umsetzung war für Ewald ein Wesenszug seiner Überlegung. Er war jedenfalls davon überzeugt, dass mit der Förderung des freien und allgemein nützlichen Handels zwischen den Völkern nicht nur Lebensbedürfnisse gegenseitig gesichert werden, sondern nicht zuletzt das Verständnis und die Achtung für den Anderen und sein Gemeinwesen gewinnen werden. Er erklärte: Und wenn eine Gemeinschaft und ein freundschaftliches Verhältniß unter den Völkern nur durch Verkehr und Handel zur Beförderung der Humanität und zur Abschleifung der äußern Sitten, die die Annahme sittlicher Grundsätze mit vorbereiten hilft, gestiftet werden kann, so ist ein Verbot und eine Erschwerung des Handels der Nation mit Produkten, die jeder ausschließend eigen sind, um so tadelnswerther, als ein Handel von dieser Art nicht einmal einen Schein von Nachtheil, den er jemanden bringen könnte, gegen sich hat.184

Diese Grundidee bis in ihre wichtigen Aspekte verfolgend, erörterte Ewald weitere staats- und finanzwirtschaftliche Probleme. Er schlug Maßnahmen vor, die der Sicherung und fortschreitenden Gestaltung der Subsistenz eines zukünftigen demokratisch orientierten Staatswesens dienen sollten. Sie müssen einer speziellen 181 Ewald, Kritik der staatswirtschaftlichen Verfassung, S. 301. 182 Ebenda, S. 334. 183 Ebenda. 184 Ebenda, S. 306.

384 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Darstellung überlassen bleiben. Anzumerken ist, dass in der Darstellung der staatsökonomischen Details besonders deutlich wird, dass sich Ewald nicht nur mit den neuesten Darstellungen zu diesem Thema beschäftigt hat, sondern durch das Tätigsein als Hofbeamter im Verwaltungs- und Finanzbereich eines Staatswesens eigene Erfahrungen einbringen konnte. Letztlich konzentrierten sich die Vorstellungen und Reflexionen von Ewald über ein national zu gestaltendes Staatswesen in Deutschland auf zwei Schwerpunkte: 1. Aus dem Konglomerat der deutschen Teilstaaten und Territorien soll auf der Grundlage einer republikanischen Verfassung ein von allen Bürgern getragenes nationales Staatswesen entstehen. Die gesetzgebende Gewalt, d. h. der Wille aller, bestimmt die ausführende und richterliche Gewalt. 2. Der zu errichtende Nationalstaat in Deutschland bedarf zur Sicherung seiner inneren und äußeren Aufgaben eine von staatlicher Seite geförderte und legitimierte liberale Wirtschaftsordnung, die es den Bürgern ermöglicht, ihre Erhaltung zu gewährleisten und die Bedürfnisse des Gemeinwesens zu sichern. Werden diese Grundanforderungen an einen zukünftigen Staat der Bürger nicht erfüllt, so urteilte Ewald, wird der Zustand der Zersplitterung durch partikulare Interessen in Deutschland nicht zu überwinden sein. Nur unter dieser Bedingung sah er das Land befähigt, in der Gemeinschaft der Völker gleichberechtigt mitwirken zu können. Nach scharfer Kritik am protektionistischen Verhalten der deutschen Teilstaaten im Handelsgeschehen umriss Ewald die Zielsetzung der genannten Forderungen: Es ist nicht möglich, diesen Mangel der Einheit im Deutschen Handelssystem zu heben, so lange die Organisation der gesetzgebenden und ausübenden Gewalten im Deutschen Reiche, den Forderungen der republikanischen Staatsverfassung nicht entspricht, und so unbeholfen und inkonsequent bleibt, als sie noch gegenwärtig ist. Die Menschen aller Länder des Erdbodens sollten darum, dass sie unter verschiedenen Regierungen leben, überhaupt nicht getrennt seyn, wie viel weniger diejenigen, welche zu einer und derselben staatsbürgerlichen Verfassung gehören, wie die Deutschen.185

Ewald erweiterte seine Antizipation eines politisch geeinten und wirtschaftlich prosperierenden Staatswesens in Deutschland auf die weltumspannend zu gestaltende Gemeinschaft der Völker. Insbesondere forderte er, alle Völker gleichberechtigt am Wirtschafts- und Handelsgeschehen teilnehmen zu lassen: Denn es ist nicht der Zweck jener eingeführten Regierungen, die Menschen ihrer Freiheit zu berauben, sondern nur ihre wilde gesetzlose Freiheit in die Gränzen ihres rechtlichen Gebrauchs zurückzuführen, und die Handlungen der Freiheit aller so zu lenken, dass keiner der Freiheit des andern Abbruch thue; es ist nicht ihr Zweck, das Interesse der Völker zu trennen, sondern die Gemeinschaft unter denselben zu 185 Ebenda, S. 276 f.

Republikanische Verfassungskonzeption

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erleichtern und zu befördern; es ist nicht ihr Zweck, sich mit dem Schaden ihrer Unterthanen und den benachbarten Völkern zu bereichern, sondern durch Vertheidigung und Begünstigung der Freiheit aller, einem jeden Individuo und einem jeden Mitvolke den rechtlich freien Gebrauch seines Vermögens und seines Fleißes zu sichern.186

Diesem praktischen Verkehr zwischen den Menschen und Völkern maß Ewald existentielle Bedeutung zur Beförderung von »Humanität« zu. Er verstand darunter die Bildung des Menschen, wie er wiederholt formulierte, zur Menschheit, d. h. zu einem Menschsein eines Jeden nach dem Ideal des Guten. Deshalb forderte er von der höchsten Gewalt aller Staaten die Einhaltung der Rechte des Einzelnen und der Völker zum ungehinderten Austausch ihrer Waren und Güter. Er steigerte diese Forderung – Kants Postulat nach »Hospitalität« zur Begründung adaptierend – im Hinblick auf die Notwendigkeit und Möglichkeit, die Interessen aller Bürger dieser Erde zu harmonisieren. Jeder fremde Ankömmling, aus welchem Volke oder Völkerbunde er sey, hat, vermöge des der Menschengattung zuständigen Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Erdoberfläche, die Befugniß, sich dem Volke, zu dem er kömmt, zur Gesellschaft anzubieten, und einen Verkehr mit dessen Einwohnern zu versuchen, und er kann so lange, als er dieses Volk in seinen Individuen nicht durch Unrecht verletzt, verlangen, daß er bei seinem Aufenthalte, Handel und Wandel unter demselben geschützt werde.187

Mit dieser staats- und wirtschaftstheoretisch untersetzten Erklärung näherte sich Ewald der geschichtsphilosophischen Intention Kants. Dieser sprach die Hoffnung aus, daß nach manchen Revolutionen der Umbildung endlich das, was die Natur zur höchsten Absicht hat, ein allgemeiner weltbürgerlicher Zustand, als der Schooß, worin alle ursprüngliche Anlagen der Menschengattung entwickelt werden, dereinst einmal zu Stande kommen werde.188

Auf seine Weise konkretisierte Ewald diese Vision, indem er nicht nur den von Kant inspirierten Zielpunkt, die republikanische Verfassung, anvisierte, sondern zur Gestaltung des dazu notwendigen materiellen Fundaments, speziell in 186 Ebenda, S. 277 f. 187 Ebenda, S. 302. Vgl. Kant, Zum ewigen Frieden, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 358. Kant erklärte, dass das Recht auf Hospitalität (Wirtbarkeit) kein Gastrecht ist, »sondern ein B e s u c h s r e c h t, welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der als Kugelfläche sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch neben einander dulden müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der Andere«. 188 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 28.

386 Dritte Phase: Staats- und verfassungstheoretische Entwürfe Deutschland, unabweisbare Forderungen aufgestellt und erläutert hat. Er folgte in allen seinen Reflexionen und Urteilen »der allgemeinen Menschenvernunft«, nach Hinske die »Basisidee«189 der deutschen Aufklärung. Es sind nach Kant letztlich die ursprünglichen Rechte der menschlichen Vernunft, welche keinen anderen Richter erkennt, als selbst wiederum die allgemeine Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat [...].190

Beurteilt man von dieser weit in die Zukunft gerichteten Vision den Anspruch Ewalds in seiner Schrift »Kritik der deutschen Reichsverfassung«, die Entwicklung einer sich selbst organisierenden Menschheit national und international zu befördern, so kann festgestellt werden: Ewald war darauf bedacht, dass seine Überlegungen und Vorschläge, sowohl in der Grundlegung der Konzeption als auch in der konkreten Darstellung der Sachverhalte, vor dem »Richterstuhl der theoretischen und praktischen Vernunft« bestehen können. Dieses Vorhaben, den Menschen als vernunftgeprägtes Gattungswesen zu verstehen und seine Handlungen zu orientieren, ist ihm als »Kantianer« im Rahmen seiner Möglichkeiten gelungen. Er zeigte, dass die Philosophie Kants eine Grundlegung bildet, um alle tragenden Säulen der menschlichen Existenz zu erkennen und zu aktivieren sowie das humane Streben der Menschheit praktisch zu gestalten. So war aus der Sicht der gesellschaftlichen und politischen Konstellationen, die sich am Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt hatten, Ewalds Antizipation eines republikanischen Gemeinwesens in Deutschland, welches in seiner Subsistenz und als sich vervollkommnende Gemeinschaft von allen Bürgern erhalten und gestaltet wird, zeitgemäß und zukunftweisend.

189 Hinske, Die tragenden Grundideen, S. 85. Hinske erklärt: »Ohne ein angemessenes Verständnis dieser Basisideen [die Bestimmung des Menschen, die allgemeine Menschenvernunft – H. S.] und der sie tragenden Überzeugungen muß jede Beschäftigung mit der deutschen Aufklärung trotz aller historischen Kenntnisse an der Oberfläche bleiben.« 190 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 752.

VI. Der esoterische Pantheismus von Ewald – eine Modifikation des Kantischen Vernunftglaubens (Vierte Phase)

1. Religion als Glaube durch Vernunft und Gefühl des Menschen In der Zeit der napoleonischen Herrschaft und der Befreiungskriege in Deutschland (1806–1813) war Gotha durch seine zentrale Lage an einer wichtigen Heerstraße von diesen Ereignissen ständig betroffen und belastet. Offensichtlich haben diese krisenhaften Zustände dazu beigetragen, daß sich Ewald einem religionsphilosophischen Fundamentalthema mit der Absicht zuwandte, den Glauben des Individuums an die göttliche Weltordnung zu befestigen und zu stärken. Nicht wenige Zeitgenossen Ewalds haben, angesichts der oft existentiellen Bedrohungen, dieses Bedürfnis in elementarer Weise empfunden. Sie leiteten daraus Bestrebungen zur Erneuerung der christlichen Dogmatik und zur Vertiefung der allgemeinen Religiösität ab. Im Rückblick beschrieb Carl Schwarz, Oberhofprediger und Oberkonsistorialrat in Gotha, diese Situation. Es seien die Kriegsjahre (1806–1815) gewesen, so Schwarz, die nach Schmach und Erniedrigung den Glauben der Zuversicht durch Hingabe an den göttlichen Willen geweckt haben und den Wunsch nach einer Herzensreligion beförderten: Dieser wichtige Factor war: d i e N o t h u n d d e r E r n s t d e r Z e i t. Der Kampf um das Höchste, um Heerd, Vaterland und Freiheit [...]. So kam mit den Freiheitskriegen über das deutsche Volk ein neuer religiöser Geist, eine Tiefe und ein Ernst des sittlichen Lebens, welcher seine Wurzeln in der Religion hat und sich aufs Wesentlichste von der flachen und selbstgefälligen Aufklärungsmoral unterschied.1

Von diesem Urteil waren Lessing und Kant ausdrücklich ausgenommen. Nun habe die Romantik eine Gegenströmung angeregt und darin versucht, so erklärte Schwarz, »den Durchbruch durch die Endlichkeit zum Unendlichen durch S i n n und G e f ü h l, durch alle die schöpferischen und unmittelbaren 1 Carl Schwarz, Zur Geschichte der neuesten Theologie, Leipzig 41869, S. 13 (11856, 21856, 3 1864). Carl Heinrich Wilhelm Schwarz (1812–1885) vertrat, von Schleiermacher ausgehend, eine »freisinnige« Haltung zur theologischen Lehre: 1837 Burschenschafter (sechs Monate Festungshaft), 1842 in Halle habilitiert, 1845 Lehrverbot durch Kultusminister, 1848 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, 1849 Prof. für Theologie in Halle. Die hier genannte Schrift »Zur Geschichte der neuesten Theologie« brachte ihm 1856 die Berufung nach Gotha. Dort erfolgreiche Tätigkeit als Kanzelredner und Autor, trat gegen das Staats­kirchentum und für Lehrfreiheit im Sinne einer modernisierten rationalen Theologie ein.

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Vierte Phase: Der esoterische Pantheismus

Kräfte, welche, die Verstandesvermittelungen überspringend, das Absolute als ein im Menschengeiste ewig Gegenwärtiges zu verkünden«. Jedoch sei daraus eine »U n m i t t e l b a r k e i t s m a n i e«, »eine A b w e n d u n g von der W i r k l i c h k e i t« sowie eine »F l u c h t v o r d e r G e g e n w a r t« entstanden, die nicht zu billigen sei.2 Mit dieser Wendung unzufrieden, plädierte Schwarz dafür, die religiöse Wahrnehmung auf der Grundlage aller menschlichen Befähigungen zu untersuchen und zu erklären. Gegen die Verherrlichung des nüchternen Verstandes wollte er die Rolle der Vernunft erhöht sehen; denn: Nur dann, wenn sie [die Vernunft – H. S.] die Wahrheit der Offenbarung, das sind die unmittelbaren und schöpferischen Kräfte des Geistes, in sich trägt. Nur dann, wenn sie nicht allein theoretische, sondern auch p r a k t i s c h e Vernunft ist. Wenn sie, mit Einem Wort, das g a n z e Geistesleben, in allen seinen Höhen und Tiefen, zusammenfaßt.« 3

In dieser von Schwarz beschriebenen Situation hat auch Ewald gelebt und über die Zeitumstände reflektiert. Von daher ist es erklärbar, dass er aus seiner Erfahrung und Erkenntnis eine eigenständige Variante des Vernunftglaubens entwarf. Hierbei verstärkte sein christlich geprägtes Traditionsverständnis als Freimaurer sein Streben nach einer historischen und systematischen Erklärung der Existenz des Übersinnlich-Absoluten. Sein Vorhaben wollte er in erster Linie durch die Erklärung der Entstehung der Religiösität im menschlichen Individuum erreichen. Er versuchte, die subjektive Wahrnehmung einer universal wirkenden Wesenheit durch eine Form der Synthetisierung der rationalen und emotionalen Komponenten, die das menschliche Subjekt zur Aneignung von Erkenntnissen der objektiven Realität nutzt, nachzuweisen. Hierbei erhielt das Empfinden und Wahrnehmen der Ganzheit des Wirklichen durch das »Gefühl« zumindest eine gleichberechtigte Bedeutung neben dem sachlich-logischen Erfassen der Totalität des Seins durch das Denken. Mit dieser Begründung des Religiösen im Selbstbewusstsein des Menschen wollte Ewald dessen bewusste Teilhabe am übergreifenden Ganzen der göttlichen Ordnung befördern. Das schloss für ihn die Teilnahme des Einzelnen an der Fortentwicklung der Gesellschaft, orientiert am Ideal des Guten, ein. Das Ergebnis seiner Überlegungen veröffentlichte er in der Schrift »Die Allgegenwart Gottes« (Gotha, bei Henning, 1817, 504 S.), der er einen zweiten Teil mit dem Untertitel »Eleusis, oder über den Ursprung und die Zwecke der alten Mysterien« (Gotha, bei Henning, 1819, 244 S.) folgen ließ. Am 18. März 1815 teilte Ewald in einem Brief an den Verleger und Freimaurerbruder Friedrich Justin Bertuch in Weimar mit, dass er ihm anbei das vom gemeinsamen Freund und Ordensbruder Reichard avisierte Manuskript zur Beurteilung zuschicke. Ewald hoffte, Bertuch als Verleger seiner Schrift zu gewinnen, denn er unterbreitete vorab schon Vorschläge zum Format, zur Schriftgröße, zur Korrektur und zur Honorarhöhe. Er erklärte: 2 3

Ebenda, S. 11. Ebenda, S. 8.

Vierte Phase: Der esoterische Pantheismus

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Ich habe die Schrift, die ich vor 9 Jahren auszuarbeiten anfing, schon mehrere Jahre im Pulte gehabt und seitdem immer daran verändert, gestrichen und hinzugesetzt. Daher die vielen eingelegten Blätter, [...]. Wegen der bisherigen ungünstigen Zeiten, habe ich es unterlassen, die Schrift einer Buchhandlung anzubieten. Die Anfrage bei Ihnen ist mein erster Versuch, und ich würde mir und meiner Arbeit Glück wünschen, wenn Sie dieselbe in das Publikum einführten [...].4

Ewald lag an der möglichst baldigen Veröffentlichung seines Manuskripts, da die von mir gewonnene Ansicht, die nach dem Urtheile einiger Theologen, die ich damit bekannt gemacht habe, über unsern alten und neuen Canon ein neues Licht verbreitet und darinn manche dunkle Stelle aufschließt, schon hier und da, wiewohl nicht in d e m Detail und d e m Grade der Bestimmtheit und Klarheit, öffentlich zu werden anfängt. Deshalb halte ich auch dafür, daß das Buch viele seines Inhalts empfängliche Gemüther finden und die jetzige Zeit die rechte zu seiner Erscheinung seyn werde.5

Im Falle einer Veröffentlichung des Manuskripts wollte Ewald, wie schon bei früheren Schriften, anonym bleiben. Ich wünsche auch, mich vor der Hand nicht als Verfasser nennen zu dürfen; weil ich den Eingang des Buchs in die theologische Welt, durch Nennung meines Namens, nicht stören und hindern möchte; denn ich bin ja nur ein Laie und kein Cleriker. 6

Von Bertuch hat Ewald, aus welchen Gründen auch immer, keine Antwort erhalten. Erst Jahre später fand Ewald in Gotha einen Verlag, welcher die beiden obengenannten Schriften ohne Nennung seines Namens veröffentlichte. Ohne 4 5

6

Goethe-Schiller-Archiv Weimar, 6/463, S. 2 f. Ebenda, S. 3. Vgl. Schack Hermann Ewald, Die Allgegenwart Gottes, Gotha 1817, S. 449. Ewald wies auf die Zustimmung von Josias Friedrich Christian Löffler (1752–1816), seit 1788 Generalsuperintendent in Gotha (studierte bei Johann Salomo Semler in Halle und Wilhelm Abraham Teller in Frankfurt / Oder), zur reinen Religion des Christentums in seiner Übersetzung der Schrift von Matthieu Souverain, Über den Platonismus der Kirchenväter (1781) hin: »Es heißt daselbst in der Uebersetzung des eben so gelehrten als einsichtsvollen Herrn General-Superintendenten Dr. Löffler’s S. 223, wo von dem wesentlichen Inhalte des apostolischen Glaubensbekenntnisses die Rede ist: ›Da diese Artikel sehr einfältig, sehr gering an Zahl und nicht spekulativ sind; da sie nichts, als die ursprünglichen Lehren des Christenthums enthalten: so war es leicht, ihren Sinn zu erhalten, und sie immer richtig zu verstehen. Dieser Glaube wird gleichsam mit uns geboren, er kommt uns entgegen, sobald wir in die Kirche treten; er befindet sich in dem Munde und in dem Herzen eines jeden Christen [...].‹ « Ebenda, S. 3. Zudem kündigte er Bertuch den zweiten Teil der Schrift an, der sich mit den ältesten Gotteslehren des Altertums und deren Bedeutung für die Freimaurerei beschäftigte. Die Schrift, die für ausgewählte »Brüder Meister« bestimmt sei, erwarte er nach 3 Wochen wieder zurück. Am 25. Mai 1815 erhielt Bertuch die Schrift mit Brief, in dem Ewald »um eine gefällige Nachricht« bat, »was Sie wegen meiner früher überschickten Handschrift beschlossen haben«, ebenda, o. S.

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Kantische Positionen aufzugeben, näherte sich Ewald den Vorstellungen, die um die Jahrhundertwende in den Kreisen der Romantiker (Jena, Berlin u. a.) und den mit ihnen verbundenen theologischen Reformbestrebungen im protestantischen Bereich hervortraten. So war die erhebliche Wirkung der frühen Schriften und Predigten von Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher (1768– 1834), die auch in Gotha bekannt waren, wohl darauf zurückzuführen, dass er die individuelle und unmittelbare Erfahrbarkeit des Daseins und des Wirkens Gottes nicht allein durch das vernunftgeprägte Wissen und Handeln, sondern durch das intensiver wirkende und den ganzen Menschen erfassende religiöse Gefühl zu erklären suchte. Es ermögliche nach Schleiermacher, im Gegensatz zur idealistischen Spekulation bei Kant und Fichte, die Betrachtung alles Endlichen, einschließlich des Menschen, in seinem Eingeordnetsein und der Verbundenheit mit der Ganzheit und Ewigkeit des Göttlichen. In diesem Verständnis sah er den Menschen in seiner Existenz in und durch Gott bestimmt. Das Gefühl für die so bezeichnete Totalität des Seienden war für Schleiermacher der Inbegriff der Religion. Dieser Erklärung der Religiösität im Menschen war Ewald, wie sich zeigen wird, sehr zugetan. Im Übrigen wurden in den GgZ die »Predigten von F. Schleiermacher« (Berlin 1801, 288 S.) rezensiert. Aus der zweiten Predigt (»Die Kraft des Gebets, insofern es auf äußere Begebenheiten gerichtet ist«) wurde hervorgehoben: Gebet ist dem Verf. der Zustand, wo der lebendige Gedanke an Gott alle unsere andern Gedanken, Empfindungen und Beschlüsse begleitet, läutert und heiliget; alle anderen Gestalten, welche es in einzelnen Fällen annimmt, müssen sich, wenn sie Gott wohlgefällig seyn sollen, in diese eine höchste, das ganze Leben umfassende, wiederum auflösen.7

Die Rezension schloss mit dem Satz: So wie die gewählten Materien wichtig sind, so zeichnet sich die Ausführung durch Reinheit und Bestimmtheit der Begriffe, durch Fülle der Gedanken und durch eine männliche Sprache aus, die so belehrend für den Verstand, als sie kräftig auf das Herz wirket. 8

Ewald wandte sich nun der Erklärung der existentiellen Ursache der Welt und deren Wirkung in der Gesamtheit aller Erscheinungen zu. Dies geschah auf der Grundlage der Kantischen Begründung des Glaubens an Gott (hier insbesondere mit Hilfe der theoretischen Philosophie), der Auseinandersetzung mit dem pantheistischen System Spinozas, seiner frühen psychologischen Studien sowie unter dem Einfluss der auch von den Mysterien geprägten Gedankenwelt der Freimaurer. Im Zentrum seiner Reflexionen stand für ihn das menschliche Individuum, dem er die Befähigung zur eigenständigen Erfahrbarkeit der höchsten 7 8

GgZ, 89. St. vom 6. November 1802, S. 782. Ebenda, S. 783.

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Weltursache zuschrieb. Diese sah er durch die dem Menschen eigene rationale und emotionale Wahrnehmung als gegeben an. In diesem Sinne griff er Kants Ideen der Vernunft auf, insbesondere die Idee des »Unbedingten«, und interpretierte bzw. transformierte sie in eine Form des subjektiven Erfassens der objektiven Welt in ihrer Ganzheit, die er »esoterischen Pantheismus« nannte. Der Bezug zur Esoterik der Freimaurer wird hier offensichtlich. Diesen ging es bekanntlich um die Suche nach Wegen zur Selbsterkenntnis, die über den Verstand nicht zu erlangen waren. Ewald war bestrebt, diese nach innen gerichtete Wahrnehmung des Menschen über sich selbst und seine Stellung im Universum für seine Vorstellungen zu nutzen. Denn sie schloss für ihn den subjektiven Blick auf die Allheit des Seins bzw. deren Empfinden ein. Ewald interpretierte sie als pantheistisch geartete Widerspiegelung der göttlichen Ordnung im menschlichen Bewusstsein. Von dieser speziellen Voraussetzung abgesehen, bemühte er sich, die hier vorgestellte Konzeption historisch und systematisch zu untersuchen und darzustellen. Hier sei angemerkt, dass sich Schleiermacher auf eine ähnliche Konstellation von philosophischen Quellen gestützt hat.9

2. Die Bestimmung des »esoterischen Pantheismus« durch Ewald Ewald war sich der Brisanz seiner Darstellung des Themas völlig bewusst. Da er von offizieller Seite kritische Einwände befürchtete, stellt er in der »Vorerinnerung« zur Schrift (Gotha, den 6. Februar 1816) in konzentrierter Form die Zielstellung, die inhaltlichen Schwerpunkte und das methodische Vorgehen seiner Darstellung vor. Um jegliche Fehldeutung des Titels der Schrift – die »Allgegenwart Gottes« – auszuschließen, bestimmte er den Grundgedanken, den er mit dieser begrifflichen Fixierung verband. In der Abhandlung habe er die A l l g e g e n w a r t G o t t e s [...] auch den ü b e r s i n n l i c h e n, e s o t e r i s c h e n, i n n e r n, r a t i o n a l e n P a n t h e i s m u s genannt, dessen Begriff kein anderer, als der, der göttlichen Allgegenwart ist, und der sich von dem rohen materialen Pantheismus, der Theophanie oder der Göttlichkeit der Erscheinungswelt wesentlich unterscheidet.10

Mit der folgenden definitorischen Festlegung stellte Ewald sein Verständnis der Existenz Gottes vor, welche er allen systematischen und historischen Betrachtungen zu diesem Thema zugrunde legte: 9

Ewalds Schrift »Die Allgegenwart Gottes« (2 Bde.) ist im Verzeichnis der Bibliothek von Schleiermacher eingetragen, vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 15, hrsg. von Hermann Fischer u. a., Berlin / New York 2005, S. 712. 10 Schack Hermann Ewald, Die Allgegenwart Gottes, Gotha 1817, S. III.

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Denn der Gegenstand dieser Schrift ist kein in die äußern Sinne fallender Gott, sondern das W e s e n a l l e r W e s e n – ein auch in der Christenheit sehr bekannter und allgemein gebräuchlicher Ausdruck –; das allen Erscheinungen, in intelligenter, geistiger und materieller Rücksicht zum Grunde liegende Göttliche, das intelligente, schaffende, bildende, regierende Wesen der Welt; das All des Uebersinnlichen, ohne welches kein All des Sinnlichen, der Erscheinungen, denkbar ist.11

Ewald versuchte, Kants Aussage, dass Gott als Ding an sich nicht erkannt werden kann, da dies nur für Erscheinungen zutrifft, zu relativieren. Er sprach dem Menschen die Befähigung zu, die Allgegenwärtigkeit Gottes ganzheitlich zu spüren bzw. zu fühlen, da er selbst ein Teil dieses göttlichen Seins ist. Die »Allgegenwart« ist die höchst wichtige Eigenschaft, welche die der Weisheit und der Macht Gottes, aus den engen Schranken eines bloßen Gebildes der Phantasie, über das Universum, so wie über das Einzelne desselben verbreitet, und das Wesen Gottes im Allgemeinen, so weit es der menschliche Verstand zu fassen vermag, am bestimmtesten bezeichnet.12

Entscheidend für Ewald war, dass es inzwischen erlaubt sei, Gott nicht »bloß sinnlich, in anthropomorphistischer Gestalt und andern symbolischen Anschauungen, sondern wie er in der Idee der Vernunft, mit welcher auch die der Verfasser der Offenbarungsschriften von gleicher Natur war, gegeben ist, zu denken«.13 Mit diesem Denken des höchsten Wesens zielte Ewald auf die philosophische Fundierung seiner Vorstellung vom höchsten Wesen ab, indem er sie auf Kants »Idee der Vernunft« als »transzendentales Ideal« zurückführte.14 Er betonte, dass er die Lehre von der Allgegenwart Gottes oder den esoterischen Pantheismus, der seit dem Altertum zum »Materialismus« oder zum »Spiritualismus« hin verdorben worden sei, wieder auf ihre ursprüngliche Basis zurückführen wolle. Den Vorwurf des Atheismus, dessen vormals S p i n o z a, um seines Systems willen, wiewohl mit großem Unrecht, bezüchtiget wurde, glaubt der Verfasser sowenig, als den Vorwurf irgend einer andern Ketzerei, befürchten zu dürfen.15

Ewald bemerkte hierzu, dass der Streit in der christlichen Kirche bisher weniger um den Begriff von Gott geführt worden sei, als vielmehr um die später entstandene Lehre von der Trinität (Vater, Sohn, Heiliger Geist) des Göttlichen. Dieses Problem werde von heutigen gebildeten Theologen, vor allem im Hinblick auf den 11 Ebenda. 12 Ebenda, S. IV. 13 Ebenda, S. V. 14 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 576–581. Kant schrieb: »Daher wird der bloß in der Vernunft befindliche Gegenstand ihres Ideals auch das U r w e s e n (ens originarium), sofern es keines über sich hat, das h ö c h s t e W e s e n (ens summum) und, sofern alles, als bedingt, unter ihm steht, das W e s e n a l l e r W e s e n (ens entium) genannt«, ebenda, S. 579 f. 15 Ewald, Die Allgegenwart Gottes, S. V.

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Sohn Gottes, so Ewald, weitgehend übereinstimmend beurteilt. Im rationalistisch-neologischen Verständnis meinte er wohl, dass die drei göttlichen Personen in ihrer immanenten Durchdringung der eine wahre Gott sind. Entscheidend war für ihn, dass seine hier vorgetragene Lehre dem Geist des Christentums gemäß ist und nicht »gegen die Konfessionen der christlichen, griechischen, römischen und protestantischen Kirchen«16 verstößt; denn keine beschränke das höchste Wesen auf eine sinnliche Form und Gestalt. Die Bestimmung seiner Sichtweise von Gott und die Aufhellung ihrer Entstehung im Schoß der Mysterien der antiken Völker führte Ewald zur Antizipation der Einheit der Christenheit, da alle Christen in ihrem Denken und Handeln von dem einen Gott geleitet werden. Mit missionarischem Impetus wirkte er für die heute so aktuelle ökumenische Bewegung in der christlichen Welt, wenn er erklärte: Der Zweck dieser Schrift ist also auch, wie aus ihr selbst genugsam erhellen wird, nicht, niederzureißen, sondern aufzubauen, die von Jesus und den Aposteln verkündigte wahre Lehre von Gott der Vergessenheit zu entziehen, auf diese Art den durch Irrthum verschütteten Grund des Urchristenthums wieder hervorzusuchen, das von demselben weggeschobene, in seinem Innern veränderte, erschütterte und wankende Gebäude der Religion und Religiösität von seiner unsichern, den völligen Einsturz desselben befördernden Stelle, wieder auf seinen alten Grund und Boden zu versetzen und fest zu stellen; dadurch aber auch zugleich der getrennten Christenheit die frohe Aussicht auf die Möglichkeit ihrer Wiedervereinigung in E i n e m Glauben zu eröffnen.17

Besonders erfreut war Ewald, dass er sich durch einen Zeitgenossen, den Philologen Georg Friedrich Creuzer (1771–1858), in seinem Vorhaben bestätigt fand. Dieser forderte in der Vorrede zu seiner Schrift »Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen« (4 Bde. 1810–1812), die Religionslehren der griechischen und römischen Mythologie sowohl hinsichtlich der Entstehung des »Religiösen« als auch als »nothwendige Vorstufe« des Christentums zu würdigen. Ewald berührte besonders, dass Creuzer nicht allein die Suche nach dem »Geheimniß unseres Daseyns und unserer Bestimmung« in allen Religionen als wesentlich« ansah, sondern vor allem deren lebensgestaltende Orientierung für den Menschen hervorhob. Es seien Ansichten, so Ewald, die ich deshalb auch zum Beschluß [der Vorerinnerung – H. S.] hieher setze, und zu der meinigen mache: Die Beurtheilung und Behandlung aller Religionstheorien ist nicht trennbar von dem eigenen Denken über den Werth der Religionen überhaupt. Was nun das meinige betrifft: so ist mir die Religion die beste, die den ethischen Charakter am reinsten bewahrt, und den Völkern das schärfste sittliche Maß vorhält [...].

Deshalb, so Creuzer: In dieser Ueberzeugung halte ich das Verfahren derer, die in der Griechischen und 16 Ebenda, S. VI. 17 Ebenda.

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Römischen Mythologie die bedeutsamsten Religionslehren und Philosopheme entweder durch Auslegung ihres wichtigen Inhalts zu berauben, oder geflissentlich in Schatten zu stellen, und die Zeugen dafür auf alle Weise verdächtig zu machen suchen, für durchaus falsch und unkritisch.18

Unter diesen Vorzeichen unternahm es Ewald, seine religionsphilosophischen Vorstellungen historisch und systematisch zu begründen. Er war bestrebt, eine konsistente und ontologisch fundierte Betrachtung der Einheit der von Gott durchwalteten Wirklichkeit zu erreichen. Deshalb wagte er, wenn auch zurückhaltend, den Rückgriff auf pantheistische Vorstellungen von Spinoza. Er versuchte, die Gesamtheit der Erscheinungen als von einer allumfassenden geistigen Substanz durchdrungen und getragen zu erklären. Er setzte sie mit Gott gleich. In ihm sah er den Urgrund allen Seins. Er offenbare sich in allen Erscheinungen. Diese wiederum – hier folgte er den Vorstellungen Kants – können durch die subjektiven Vermögen des Menschen, d. h. durch die apriorischen Potentiale seines Selbstbewusstseins, in ihren allgemeinen und notwendigen Zusammenhängen zumindest gedacht werden. Seine so entworfene Vorstellung benannte Ewald mit dem Begriff »Pantheismus«: Wenn wir also sagen: Gott und Natur sey eines und dasselbe, so verstehen wir unter Natur nicht die in die Sinne fallenden Erscheinungen, sondern die übersinnliche, ewig wirksame Ursache derselben. Das U n i v e r s u m oder das P a n der Griechen begreift nicht allein die Gesammtheit der Erscheinungen, sondern auch das allenthalben nothwendig gegenwärtige, übersinnliche Substrat derselben. Und in diesem letztern Sinne wird hier die Lehre von Gott P a n t h e i s m u s genannt [...].19

3. Kants Idee des Unbedingten und Ewalds rationaler Pantheismus Ewald begann die Darstellung seines religionsphilosophischen Entwurfs mit einer Abgrenzung von jeglicher »anthropomorphistischen Vorstellung von göttlicher Offenbarung«,20 die durch falsche Deutung der Mythen und alter sprachlicher Symbole entstanden seien. Außerdem sei das höchste Wesen, abgetrennt von der Welt und den Menschen, in weiter Entfernung gesucht worden, so dass dieses wiederum, so glaubte man, nur durch eine »übernatürliche Offenbarung« in Gestalt irdischer Zeichen erkannt werden könne. Im Gegensatz dazu behauptete Ewald, dass die Erkenntnis Gottes jenseits der geschriebenen Geschichte der Menschheit, also in »grauer Vorzeit«, entstanden sei. Denn die Menschen »empfingen ihre Erkenntniß von dem höchsten Wesen, weder durch unmittelbare 18 Ebenda, S. VI f. 19 Ebenda, S. 21. 20 Ebenda, S. 3.

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Anschauung, noch durch Vernunftschlüsse: sie ahneten, sie fühlten es nur«.21 Das religiöse Gefühl Diese vorrationale, in die Psyche des Menschen verlegte Erklärung der Wahrnehmung Gottes vertiefte Ewald: Das ursprüngliche, einzig natürliche und wahrhafte I n n e w e r d e n des höchsten Wesens ist das Resultat unseres unwillkührlichen Gefühls der Harmonie unseres inneren Intellektuellen mit den Ansichten und Eindrücken der außer uns wirkenden Natur. Der natürliche, nicht mehr thierische, auch nicht durch Kultur verzogene und verbildete Mensch vernimmt diese Harmonie, diese Stimme der zu ihm sprechenden Gottheit: aber er weiß sie sich nicht zu erklären [...]. Sein Glaubensbekenntniß von dem ihm unsichtbaren Höchsten, Uebersinnlichen, Unaussprechlichen, liegt nur in seinem namenlosen Gefühle. Religiösität und Religion waren eher als Theologie, die erst ein Erzeugniß späterer Zeit wurde, und entstand, als der menschliche Verstand jenes religiöse Gefühl und seinen Gegenstand in nähere Erwägung zog.22

Die, wie auch immer geartete, Wahrnehmung der Offenbarung des übersinnlichen Wesens durch den Menschen erklärte Ewald aus dessen existentiellem Enthaltensein in der göttlichen Weltordnung. In diesem Sinne enthält das Menschsein göttliche Eigenschaften und versteht sich als aktiver Teil der so verstandenen kosmologischen Realität. Er resümierte: Der Mensch ist kein von der allgemeinen Natur abgerissenes Fragment; er besteht durch sie, mit und in ihr; ihm ermangelt nichts, was nicht auch jener angehört. Das Göttliche in der Natur ist sein Erbtheil. Es ist also kein Zweifel, daß der Geist, das belebende Princip des Menschen, ein Attribut der allgemeinen göttlichen Natur sey. Das Resultat aus allem bisher Gesagten ist; dass alles Intellektuelle, Geistige und Materielle in dem Menschen auf eine göttliche Natur in und außer ihm hinweist, und das Wesen aller Wesen sich dadurch dem Innern des Menschen selbst offenbare; dem Menschen also dasselbe schlechterdings nicht verborgen bleiben könne, sondern ihm nothwendig, wenn auch nicht in klaren und deutlichen Vorstellungen, doch durch Ahnung im Gefühle, die der Zusammenhang seines Wesens mit der Natur außer ihm, auch unwillkührlich in ihm hervorbringen, kund werden müsse. 23

Ewald nahm für jeden Menschen, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, eine ursprünglich angelegte Dualität von Ahnung und Vernunftglaube hinsichtlich der Wahrnehmung der von Gott geprägten Weltordnung an. Allerdings hielt er die Ahnung des Wesentlichen und Ewigen ohne Vernunftglauben nicht für möglich. Die Unterschiede in der Ausprägung dieser Vermögen sind nach seiner Ansicht dem jeweiligen Bildungsstand der Individuen geschuldet. Hier 21 Ebenda, S. 4. 22 Ebenda. 23 Ebenda, S. 17 f.

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hat für ihn die allgemeine Aufklärung einzusetzen. Dazu meinte er: Wie sich aber der natürliche, ungebildete Mensch mit dieser bloßen, ihm unerklärlichen Ahnung begnügen muß; so erhebt und belebt sich dieselbe in dem gebildeten Gemüthe des guten, unverdorbenen, zu einer helleren und deutlicheren Erkenntniß, die ihm das Räthsel löst.24

Das Verhältnis von Wissen und Glaube Von dieser Position ausgehend, interpretierte Ewald das von Kant festgelegte apriorische Vermögen der Vernunft zur Begründung seiner Version des Vernunftglaubens. Nun hat Kant das »Gefühl« des Menschen als Wahrnehmung einer wie auch immer gearteten universellen Harmonie als Impuls für die Entstehung des religiösen Glaubens akzeptiert, aber nicht zur Erklärung des Daseins Gottes zugelassen. Nur die Schriftgelehrsamkeit und die Vernunftreligion sind für ihn die Basis zur Erörterung des religiösen Phänomens; jene als »Depositär« und diese als »Ausleger« des christlichen Glaubens.25 Ewald hingegen erhob das religiöse Gefühl zur Initial- und Basisrezeption jeglichen Wahrnehmens der Allgegenwart des göttlichen Wesens. Jedoch wandte er sich gleichzeitig und unmittelbar der rational-systematischen Erklärung des Religiösen als allgegenwärtigem Wesenszug der Wirklichkeit zu. Er versuchte, dieses Problem mit Hilfe des Systems der Philosophie Kants zu bewältigen. Das Innewerden des Menschen als Teil der göttlichen Weltordnung werde, so Ewald, durch die Kultur der Vernunft ergänzt. Seine Intelligenz befähige ihn zur Reflexion über diese außer ihm, aber ihn einschließende Natur. Ewald umriß die Konturen dieses Vorgangs: Besonders spricht sich das Wesen aller Wesen, in unseren intellektuellen Vermögen und Kräften vernehmlich aus. Diese Vermögen und Kräfte sind die Sinnlichkeit, mit der ihr angehörigen Einbildungskraft und Phantasie, der Verstand, die Vernunft und nebst diesen der Geist. Die drei ersten beruhen auf gewissen Formen, ohne welche sie schlechterdings nicht thätig sein können, und die ihre Natur ausmachen. Die Formen der Sinnlichkeit sind Zeit und Raum, die Formen des Verstandes die Uroder Stammbegriffe, und die Formen der Vernunft die Ideen.26 24 Ebenda, S. 19. 25 Vgl. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 482; Bd. 6, S. 113 f. 26 Ewald, Die Allgegenwart Gottes, S. 5 f. Bemerkenswert ist, daß Ewald der Erläuterung der Formen der Anschauung, Raum und Zeit, als »eine wesentliche Beschaffenheit unseres Gemüths, unserer Intelligenz überhaupt«, eine besondere Bedeutung beimaß. Inhaltlich kehrte er zurück zu seiner von Kant gelobten Rezension zur Kritik der reinen Vernunft (GgZ, 68. St. vom 24. August 1782). Es lag ihm daran, von Kant jegliche subjektiv-idealistische Unterstellung im Hinblick auf seine Raum-Zeit-Vorstellung fernzuhalten. Kant hat diese bekanntlich später selbst ausdrücklich zurückgewiesen (Kritik der reinen Vernunft, B XXXIX.).

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Anhand dieser Leitlinie Kantischer Strukturen der Erkenntnis entwickelte Ewald seine Vorstellungen des spekulativen Glaubens bzw. des Vernunftglaubens. Schließlich deutete er ihn nur tendenziell zu einer pantheistischen Sichtweise. Grundsätzlich hielt er an den Funktionen der Anschauungsformen (Raum / Zeit) und der Tätigkeit des Verstandes (Kategorien) in ihrer Notwendigkeit zur Gewinnung von Erfahrungswissen fest und erklärte die Aufgabe der Vernunft (Ideen) hinsichtlich ihrer systemordnenden Rolle und ihrer Bedeutung für die Konstitution seiner Vorstellung des Vernunftglaubens. Dass Ewald in seiner Argumentation im Hinblick auf den Inhalt und die Funktion des Wissens und des Glaubens das System Kants in seiner Ganzheit zugrunde legte, zeigt die abrissartige Darlegung der transzendentalen Struktur des Vernunftvermögens. Er interpretierte es sowohl als Instrumentarium der Erkenntnisgewinnung als auch zur Beweisführung des Daseins Gottes. Das Vermögen und die Grenzen des Wissens fasste er wie folgt zusammen: Das W i s s e n beruhet auf Anschauung und Begriff. Die Anschauung ist entweder eine äußere, oder eine innere. Die ä u ß e r e A n s c h a u u n g erstreckt sich über alles, was auf unsere Sinnenwerkzeuge Eindruck macht, über alles, was wir sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen. Die i n n e r e A n s c h a u u n g umfaßt alles, was in unserem Gemüthe vorgeht, alle Thätigkeiten, Zustände und Veränderungen desselben. So wissen wir nicht bloß von dem Daseyn der körperlichen Dinge und ihrer Formen, sondern auch von dem Daseyn der Formen und Vorstellungen des Raums und der Zeit in unserm Anschauungsvermögen; von dem Daseyn der Begriffe der Substanz, der Ursache u.s.w. in unserm Verstande; von dem Daseyn der Ideen des Unbedingten in unserer theoretischen, und den Ideen von Freiheit, Tugend und Recht in unserer praktischen Vernunft; von dem Daseyn des Schönen und Erhabenen, des Angenehmen und Reizenden, und ihrer Gegensätze in unserm Gefühle der Lust und Unlust.27

Aber, so stellte der Kantianer Ewald zur Reichweite des Verstandes, der das Wissen konstituiert, fest: In das innere Wesen der Dinge selbst, dringt der Verstand mit seinem Wissen nicht; er mag sich nun mit den Erscheinungen der äußern Sinne, oder mit den Erscheinungen in unserer körperlichen Maschine, oder in unserm Gemüthe beschäftigen.28

Dennoch maß er dem Wissen eine grundsätzliche Bedeutung für die Gestaltung des individuellen und gemeinschaftlichen Lebens der Menschen bei. In diesem Sinne skizzierte er die dazu notwendige Struktur der Wissenschaften.29 27 Ewald, Die Allgegenwart Gottes, S. 30. 28 Ebenda, S. 31. 29 Ebenda, S. 30 f. Ewald erläuterte: »Die reine M a t h e m a t i k in ihrem ganzen Umfange ist ein Gegenstand des menschlichen W i s s e n s, also eine W i s s e n s c h a f t im eigent­ lichen Sinne des Worts: denn sie beschäftiget sich mit dem Raume und der Zeit, und deren möglichen Bestimmungen, die wir innerlich anschauen, und deren wir uns unmittelbar

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Vernunft und philosophischer Glaube Nun überschritt Ewald den Horizont des Wissens über die Erscheinungen. Er sah die Möglichkeit, das Wesen der Dinge an sich durch die Fähigkeiten des Glaubens wahrzunehmen. Diese Entscheidung begründete er gleichfalls mit dem apriorischen Potential, wie es Kant aufgedeckt hatte. Ewald konzipierte: Tiefer dringt und weiter reicht der p h i l o s o p h i s c h e G l a u b e. Er hat sein Gebiet in dem Uebersinnlichen, in der Welt der Dinge an sich. Er verbreitet sich über das, was den Erscheinungen zum Grunde liegt, auf das, was erscheint, auf das Ewige, das Wesen. Er heißt der philosophische oder Vernunftglaube: weil er sich auf die Idee des Unbedingten, Unbeschränkten, welche die Natur der Vernunft ausmacht gründet. Vermöge dieser Idee ergänzt die Vernunft in der sinnlichen Erkenntniß das, was Anschauung und Begriff in ihrer Beschränktheit unvollendet lassen. Eben so reell, als unser Anschauungsvermögen und unser Verstand und ihre Resultate sind, ist auch unsere Vernunft mit ihren Resultaten. Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft sind mit gleicher Nothwendigkeit thätig, um durch die Vereinigung des Wissens mit dem Glauben unsere Erkenntniß vollständig zu machen.30

Die Sinnenwelt wäre nur ein bloßer Schein, so Ewald, wenn die Vernunft sie nicht zur Erscheinung erheben würde »und die Vernunft mit ihrer Idee des Unbedingten der Erscheinung nicht Leben, Wesen und wahre Realität gäbe«.31 Obwohl Ewald die moralische Begründung des Daseins Gottes, wie sie Kant als Glaubensgewissheit nur der »Moraltheologie« zuordnete, da sie »eine Überzeugung vom Dasein eines höchsten Wesens ist, welche auf sittliche Gesetze gegründet ist« (»Kritik der reinen Vernunft«, A 633), keineswegs aufgegeben hatte, folgte er hier der Kantischen Idee des »Unbedingten«. Er beabsichtigte, der Vorstellung des Übersinnlichen (Gott) als Totalität der Erscheinungen durch die Idee des Unbedingten, welche keiner anderen Bedingung zu seiner Existenz unterliegt, einen systematischen Abschluss bzw. Endpunkt zu geben. Obgleich Kant einerseits die Idee des Unbedingten von der Natur der Vernunft zum Erfassen der Einheit der Erscheinungen aufgegeben sah, so erklärte er andererseits, dass diese Idee der Vernunft »ein bloßes Selbstgeschöpf ihres Denkens« ist, »dem kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann« (»Kritik der reinen Vernunft«, A 584, 327). Ewald ging jedoch davon aus, dass das Bestreben der Vernunft, Gott als höchstes Wesen zu denken, dazu durch inneres Anschauen bewußt sind. Die p s y c h o l o g i s c h e und p h y s i o l o g i s c h e A n t h r o p o l o g i e sind ebenfalls eigentliche Wissenschaften: denn sie beschäftigen sich mit dem innern und äußeren Menschen, also mit Gegenständen, die unserm inneren und unsern äußeren Sinnen unterworfen sind. Zu den eigentlichen Wissenschaften gehören, aus demselben Grunde, auch P h y s i k, p h i l o s o p h i s c h e M o r a l, P r i v a t - u n d S t a a t s r e c h t l e h r e.« 30 Ebenda, S. 31. 31 Ebenda, S. 32.

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berechtigt, dass sowohl das Wissen als auch der Glaube zur Selbstbestimmung des Menschen erforderlich sind. Die gleichberechtigte Koexistenz von Wissen und Glauben im Hinblick auf ihre Bedeutung und ihre Fähigkeiten zur Welt- und Seinserkenntnis begründete Ewald ontologisch. Er ging davon aus, dass einerseits die Idee des Unbedingten, die im menschlichen Subjekt die Wahrnehmung, die Annahme oder die Überzeugung von der Existenz des Absoluten hervorbringt, einen realen übersinn­lichen Sachverhalt wiedergibt. Andererseits bedinge dieser, so Ewald, dass die geistige Befähigung der Menschen nur als eine von Gott gewollte Teilhabe an dessen universalem Gestaltungsgeschehen zu verstehen ist. Zu diesem Verhältnis von Ganzem (Gott) und Teil (Mensch) im System des geistgeprägten Seins erklärte er: Da es eine Vernunft in dem Menschen giebt, deren Natur auf alles Uebersinnliche gerichtet ist: so muß es auch, wenn sie nicht zwecklos und vergeblich seyn soll, eine übersinnliche Natur außer ihr geben. Es kann kein Vermögen, keine Kraft in der Intelligenz des Menschen geben, der nicht ein Etwas von ähnlicher aber höherer Natur außer ihr entspräche. So gut das Anschauungs- und Verstandesvermögen ihre Gegenstände außer sich haben und finden: müssen auch die Ideen der Vernunft, die dieser eben so wesentlich als die Formen der Zeit und des Raums der Sinnlichkeit, und die Urbegriffe dem Verstande, sind, ihre übersinnliche Gegenstände außer sich, in der großen Natur, haben und finden. Der Leib des Menschen ist aus dem großen und unerschöpflichen Vorrathe der Natur genommen; Geist und Intelligenz können auch nur aus demselben Schooße kommen.32

Diese Konzeption eines teleologisch geprägten Systems der Weltordnung begründete Ewald, wie dargestellt, mit der von Kant aufgedeckten Systemstruktur des menschlichen Selbstbewusstseins. Jedoch setzte er ausdrücklich, entgegen der Meinung Kants, auf die theoretische Komponente des Systems der kritischen Philosophie. Mit apodiktischem Anspruch stellte er fest: Dieser Glaube [wie er in den heiligen Schriften wiedergegeben ist – H. S.] hat seinen Grund keines weges in unserer praktischen Vernunft und in unserer sittlichen Anlage; er beruhet vielmehr lediglich in unserer theoretischen auf das Wissen gerichteten Vernunft, um das Wissen des Verstandes vollständig zu machen und zu begründen. Er ist unabhängig von dem guten Willen, der moralischen Gesinnung, der Sittlichkeit. Die Vernunft drängt uns, Kraft der Nothwendigkeit ihrer Natur, den Erscheinungen ein unbedingtes Seyn zum Grunde zu legen; wir mögen tugendhaft und rechtlich seyn, oder nicht.33

Esoterischer und rationaler Pantheismus Schließlich verband Ewald die beiden Grundsteine seiner Erklärung des Wahrnehmens und Denkens des göttlichen Seins – Gefühl und Vernunft – zu einer sich bedingenden Einheit, die zum Fundament seiner Glaubensvorstellung wurde: 32 Ebenda, S. 37. 33 Ebenda, S. 35 f.

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Der höchste der übersinnlichen Gegenstände ist Gott. Das Gefühl, von den Wirkungen der Natur außer uns und in uns erregt, gewährt uns das zwar dunkle, aber doch kräftige Bewußtseyn von ihm; und der Glaube der Vernunft erleuchtet, erhebt, verstärkt und vergewissert es.34

Obwohl es zum einen inkonsequent erscheint, dass Ewald als Kantianer so unterschiedliche Elemente des Wahrnehmens des Göttlichen der Wirklichkeit zu synthetisieren sucht, so ist es zum anderen verständlich, dass er auf der Basis der real vorhandenen Befähigungen des Menschen diesen Schritt gegangen ist. Auf diese Weise konnte er vom Menschen als zielsetzendem und aktivem Vernunft- und Gefühlswesen, das sich als Teil der göttlichen Weltordnung empfindet und zu bestimmen sucht, auf die existierende Totalität der zwecksetzenden göttlichen Ordnung schließen. Letztlich wandte Ewald das seit der Antike bekannte Denkmodell an, welches bedeutet, von der dem Menschen selbst eigenen Welt als Mikrokosmos auf die unbekannte und unbegrenzte Welt des Makrokosmos zu schließen. Auf der Grundlage dieser Identifizierung von Wissen und Glauben zur evidenten Bestimmung Gottes als Wesen aller Wesen bezeichnete Ewald seine Sichtweise auf die göttliche Weltordnung als Pantheismus bzw. reinen rationalen Pantheismus.35 Da diese ganzheitliche Betrachtung der Welt nach Ewald dem Menschen durch sein Gefühl unmittelbar in seiner ganzen Fülle, gleichsam als Mysterium (Mysterium tremendum), zuteil wird, in welches er in bestimmter Weise eingeweiht wird, benannte er seine Anschauung der von Gott geprägten Totalität – »esoterischen Pantheismus«. Es giebt kein A u ß e r - d e r - W e l t, kein U e b e r - oder A u ß e r - d e r - N a t u r; wo Natur ist, ist Gott, wo Gott ist, ist Natur.36

Von dieser These ausgehend, erklärte Ewald seinen Standpunkt: Der Begriff der Allgegenwart Gottes oder des reinen esoterischen Pantheismus erstreckt sich über alle Zeit und über allen Raum, und läßt sich weder auf eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Raum einschränken, noch von dem innern Wesen der Erscheinungswelt und von dieser selbst trennen. Gott war, ist und wird stets allgegenwärtig seyn; mit ihm wird zugleich das Wesen der Natur und folglich auch das All der Erscheinungen gesetzt. Wo sein Wesen ist, sind auch die Erscheinungen desselben; und wo diese sind, ist auch sein Wesen. Gott hat nie zu schaffen angefangen; er schafft, und wird nie aufhören zu schaffen.37

34 Ebenda, S. 37 f. 35 Ebenda, S. 21. 36 Ebenda, S. 40. 37 Ebenda.

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Gott ist nach Ewald, in spinozistischer Begrifflichkeit, zugleich »natura naturans« und »natura naturata«38 bzw. der Unsichtbare, der das Sichtbare schafft.39 Deshalb lasse es dieser reine Vernunftbegriff von Gott nicht zu, »daß man dieses Wesen hypostasire, personificire, individualisire« – es ist »k e i n B i l d« von ihm möglich.40 Diese Festlegung des Verständnisses von Gott auf ein unendlich wirkendes Sein als geistige Wesenheit bestimmte Ewald, jegliche Vorstellung von »Emanation« abzulehnen. Sie sei durch die Frage nach der Entstehung der Welt entstanden, die einen Zeitpunkt und eine Zeitdauer voraussetzt. Die sichtbare Natur als einen Ausfluss des Wesens Gottes anzusehen, sei »roher, materieller, exoterischer Pantheismus«.41 Denn, so fragte Ewald, sind die Ideen der Vernunft nicht noch mehr Offenbarung, als die Theorien des Emanatismus, des Materialismus und des Dualismus?42

Er antwortete: Die Wahrheit eines Systems bestätiget sich nur durch seine Vernunftmäßigkeit – einen andern Maßstab dafür hat der Mensch nicht – das System mag nun als unmittelbare göttliche Offenbarung verkündiget worden seyn oder nicht [...].43

Vernunftglaube und die Einheit der Welt Überblickt man Ewalds Entwurf, den er als philosophisch begründeten Vernunftglauben erklärte, so wird offensichtlich, dass er die von Kant im System der apriorischen Stufung vorgenommene konsequente Eingrenzung der Vernunft­ idee des Unbedingten bzw. des Absoluten auf die Denkmöglichkeit eines höchsten Wesens überschritten hat. Er argumentierte hier nicht mehr vom Kantischen Standpunkt der praktischen Vernunft (Moralgesetz), sondern er erweiterte bzw. transformierte die Idee des Unbedingten, unterstützt durch eine letztlich vorratio­ nale und emotionale Begründung, in Anlehnung an Spinoza, zu einer objektiven Wesenheit. Ungeachtet der Ausweitung der Erkenntnisfunktion des Apriorischen auf den Ideenbereich der Vernunft, hielt Ewald konsequent an dem von Kant 38 Ebenda, S. 23 ff. 40. 39 Ebenda, S. 34. Dazu Ewald: »Das Sichtbare ist die Offenbarung des Unsichtbaren; und ohne dieses Unsichtbare könnte kein Sichtbares seyn. Das Sichtbare ist das Gewand des Unsichtbaren, der Schleier der Isis.« Vgl. Schlußgedanke im Nekrolog. Immanuel Kant, in: GgZ, 19. St. vom 7. März 1804, S. 171. 40 Ebenda, S. 39. Ewald ergänzte: »Die Hypostasen, Personificirungen, Individualisirungen und Anthropomorphosen Gottes sind Geschöpfe, nicht der reinen Vernunft, sondern der schaffenden Einbildungskraft«, ebenda. 41 Ebenda, S. 43. 42 Ebenda, S. 44. 43 Ebenda.

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aufgedeckten Erkenntnispotential fest. Das zeigt u. a. der einzige direkte Hinweis auf Kant im ersten Teil dieser Schrift.44 Er musste sich jedoch den Vorwurf gefallen lassen, mit dem er früher Spinoza wegen dessen Identifizierung von Gott und Natur entgegengetreten war, eine dogmatische Begründung zu stützen, die nicht durch Erfahrung belegt werden kann. Das von ihm zugrunde gelegte subjektive Gefühl ist im Kantischen Sinne kein hinreichender empirischer Sachverhalt, der der Beweisführung für die Existenz eines höchsten Wesens dienen kann. Dass Ewald hier dem Apriorismus Kants auf der Stufe der Ideen der Vernunft, wie dargestellt, eine konstitutive Erkenntnisfunktion zuwies, kommentierte er nicht. Er sah seine These von der Allgegenwart Gottes in Kants »Idee des Unbedingten« angelegt. Es ist zu spüren, dass Ewald danach strebte, mit Hilfe des theoretischen Systems von Kant die geistige Totalität des Seins ohne Einschränkung auf der Basis des Vernunftvermögens zu begründen. Er erweiterte die regulativ zu handhabende Kantische Idee des Unbedingten zu einem konstitutiven Erkenntnisprinzip, indem er das pantheistische Denkmodell von Spinoza zu Hilfe nahm. Zudem versuchte er, diese Sichtweise der Wirklichkeit durch deren ursprünglich gefühlsmäßiges Erleben im Menschen zu stützen. Dieses Problem, durch das Überschreiten des subjektiv-apriorischen Horizonts des Denkens die Einheit des Seins, die durch die objektiv existierende geistige Wesenheit bewirkt wird, anzunehmen bzw. zu erklären, hat bekanntermaßen 44 Vgl. ebenda, S. 184 f. In seine Betrachtung über die Zahlentheorie der Pythagoreer fügte Ewald folgende Reflexion über die geistige Teilhabe des Menschen an der göttlichen Natur ein, indem er auf die Konsequenz des apriorischen Denkens von Kant verwies: »Was auch in der großen Natur für Verhältnisse und Gesetze, mathematische, physische und intellektuelle, liegen: sie liegen alle auch in der kleinen Natur, dem Menschen selbst, und er erkennet sie; denn in dieser menschlichen Natur hat der Unendliche sein höchstes Werk, in welchem sich das ganze All der Natur mit dem vollständigen Inhalte ihrer Gesetze und Kräfte, selbst ihrer Intelligenz ausgesprochen hat, vollendet. Wenn K a n t sagt, der menschliche Verstand schreibe der Natur ihre Gesetze, folglich die mathematischen so gut als die physischen, vor: so hat er vollkommen recht. Man muß dieses aber nur nicht so verstehen, als ob diese Gesetze blos in der Vorstellung der Menschen beständen, und die Natur außer ihnen, unabhängig von den Menschen nicht nach ihnen verfahre, oder, wie man zu sagen pflegt, daß diese Gesetze blos subjektiv, aber nicht objektiv gültig wären. Denn sie sind beides, subjektiv und objektiv zugleich, aus keinem andern Grunde, als weil der Mensch das höchste Werk der Natur ist, in welchem sich alles vereiniget, was die Natur an Gesetzen und Kräften hat; weil er, mehr als irgend ein anderes ihrer wandelbaren Erzeugnisse, an allen ihren Kräften Theil nimmt, weil er in, mit und durch diese Natur lebt und webt, mit ihr Eins ist und schlechterdings nicht von ihr getrennet werden kann und darf.« Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft A, S. 126 f. (»Es ist also der Verstand nicht bloß ein Vermögen, durch Vergleichung der Erscheinungen sich Regeln zu machen: er ist selbst die Gesetzgebung für die Natur [...].«). Vgl. Kant, Kritik der Urtheilskraft, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 167 f.

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auch Kant in seinen späten Jahren zunehmend bewegt. Es zeigt sich in seinen Bemerkungen zum Verhältnis von transzendentalem Idealismus und Spinozismus.45 In dieser Tendenz, die Einheit der Welt vom menschlichen Subjekt ausgehend zu denken, war für Ewald ein elementares Bedürfnis. Er war bestrebt, das Eingeordnetsein des Menschen in eine vom göttlichen Geist durchwaltete Wirklichkeit zu begreifen. Die menschliche Vernunft sollte sich in ihren Bestrebungen, so das grundlegende Anliegen von Ewald, stets als Teil dieser göttlichen Weltordnung bewusst sein und sich ihrer würdig erweisen.

4. Esoterischer Pantheismus – von der Pantokratie zur Theokratie Nach der philosophischen Grundlegung seines Vernunftglaubens widmete sich Ewald, kenntnisreich in den Quellen und der Literatur, der Suche nach den Ansätzen, den Elementen und den Ausprägungen seines Verständnisses des Göttlichen in den frühen Überlieferungen der Mysterien der Völker in Asien, Afrika und Europa. Die Entstehung des Menschen und der Gesellschaft sowie das Niveau der jeweiligen kulturellen Entwicklung erklärte er, wie viele Zeitgenossen, aus dem geographischen Milieu. So stimmte er Kant und anderen Autoren zu, die »die Wiege des Menschengeschlechts« in dem »so warmen, sanften und fruchtbaren Erdstriche Asiens« ansiedelten.46 Letztlich kam es Ewald darauf an, das pantheistische Schema der Entstehung der Religiösität im frühen Altertum nachzuweisen und diese Konstellation für den christlichen Glauben zu restituieren. Die göttliche Intelligenz, ihre Weisheit oder das Wort, offenbare sich 45 Vgl. Burkhard Tuschling, Transzendentaler Idealismus ist Spinozismus. Reflexionen von und über Kant und Spinoza, in: Spinoza im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts, hrsg. von Eva Schürmann u. a., Stuttgart / Bad Cannstatt 2002, S. 139–167. 46 Schack Hermann Ewald, Eleusis, oder über den Ursprung und die Zwecke der alten Mysterien, Gotha 1819, S. 15. Ewald schrieb: »I m m a n u e l K a n t (Phys. Geographie, 2ten Bds 1ste Abth. Mainz und Hamb. bei Vollmer, 1802.) versetzt den ersten Wohnsitz der Menschen nach Thibet. ›Die Entdeckung von Tybet oder Tüb-eth (heißt es das. S. 158 ff.) wäre wichtig. Denn alsdann hätten wir den Schlüßel zur alten Geschichte des menschlichen Geschlechts. Es ist das höchste Land, folglich wohl die erste Werkstätte der Natur, die Pflanzschule der Schöpfung, die Wiege des menschlichen Geschlechts.‹« Ewald hat aus den von dem Verleger Georg Vollmer herausgegebenen Nachschriften von Kants Vorlesungen zur Physischen Geographie, die der Verleger aus drei Nachschriften hatte zusammenstellen lassen, zitiert. Kant hat diese Veröffentlichung als »u n r e c h t m ä ß i g e A u s g a b e« bezeichnet. »Die r e c h t m ä ß i g e Herausgabe meiner physischen Geographie, habe ich Hn. Dr. und Prof. Rinck übertragen«, zitiert nach Intelligenzblatt der ALZ, Nr. 120 vom 24. Juni 1801, Sp. 968.

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in den weisesten, frömmsten, ehrwürdigsten Menschen, und unter diesen besonders in Christo Jesu dem Erneuerer der wahren Religion, von welchem Johannes sagt, daß in ihm das Wort Fleisch geworden.47

Im Schlußkapitel des ersten Teils der Schrift fasste Ewald seine Konzeption des Vernunftglaubens und seine aktuelle Umsetzung in 43 Thesen zusammen. Der Grundgedanke seines Resümees ist die Feststellung, dass durch die Begründung des t h e o r e t i s c h e n V e r n u n f t g l a u b e n s, der keinen geringern Grad der Überzeugung gewährt, als das Wissen um das Endliche und Beschränkte,48

die Lebensgrundlage für die aktive Gestaltung der Existenz des Menschen umfassend erklärt zu haben. Ewald schrieb: Der göttliche Geist ist das belebende und bewegende Prinzip. Er ist es, der so wie die Natur der Erscheinungen überhaupt, auch die intelligente und materielle Natur des Menschen erregt; der seine Vernunft, seinen Verstand, sein Begehrungsvermögen in Thätigkeit setzt, und sein Anschauungsvermögen zur Phantasie beflügelt; der die materielle Masse leicht macht, und das ganze Triebwerk der menschlichen Maschine in Bewegung setzt [...].49

Diese Synthetisierung bzw. Sublimierung von religiösem Gefühl, von Verstandeswissen und von Vernunftglauben, wie sie Ewald in seiner pantheistischen Vorstellung des Göttlichen kondensieren ließ, versuchte er historisch-genetisch zu begründen. Auf dieser Grundlage, die dem rationalen Supranaturalismus nahestand, strebte er nach der Wiederbesinnung auf das ursprüngliche Wesen der Göttlichkeit in all ihren Formen des Seins. Er sah sie auch in den aktuellen geistigen und materiellen Erscheinungen manifestiert. Über deren Wesenszüge bot nach Ewald der Vernunftglaube die notwendige Aufklärung. Diese gipfelte nach seiner Konzeption in Vorschlägen und Postulaten zur individuellen und gesellschaftlichen Lebensgestaltung der Menschen. Deren Leitung wies er einer geistigen Elite zu, die vom Verständnis der göttlichen Weltordnung durchdrungen ist. Dazu skizzierte er die Göttlichkeit als »D r e i e i n h e i t von I n t e l l i g e n z, G e i s t und M a t e r i e«,50 die in den Haupteigenschaften Gottes – es sind die Allwissenheit, die Allweisheit sowie die höchste Stärke und Güte – zum Ausdruck kommen. Unter dieser Voraussetzung standen die Versuche Ewalds zur Erklärung der Entstehung der Mysterien in der Welt des Orients und Europas. Er legte diesen seine geschichtsphilosophischen Vorstellungen zugrunde, wie er sie in seinen staatstheoretischen Schriften entworfen hatte. In den speziellen Untersuchungen sind mehr oder weniger folgende Phasen gesellschaftlicher Entwicklung der Menschheit zu erkennen: Nomaden (ursprüngliche Freiheit / Gleichheit) – Privat47 48 49 50

Ewald, Die Allgegenwart Gottes, S. 490. Ebenda, S. 484. Ebenda, S. 490. Ebenda, S. 486.

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eigentum – Vergesellschaftung / Herrschaft – Staat / Staatsverfassung – Aufhebung der natürlichen Freiheit und Gleichheit – Beginn der falschen Anbetung Gottes – Abfall des Menschen vom ursprünglichen Glauben an Gott.51 Der Abwendung vom Glauben an die wahre Natur Gottes wollte Ewald durch die Erneuerung bzw. die Restauration der Unschuld der ursprünglichen Menschheit entgegentreten. Er sah zur Wiederherstellung des urchristlichen Glaubens einen möglichen Weg: Nur durch die Lehre des Pantheismus, nach gegenwärtiger Vorstellung, kann in die entstellte christliche T h e o l o g i e Licht, Wahrheit und Verständlichkeit gebracht werden: denn jene Lehre liegt in unserm alten und neuen Kanon, und ist die Grundlehre beider.52

Die Abkehr des Menschen von seiner ursprünglichen Unschuld in der Frühzeit seiner Entwicklung erklärte Ewald durch das Aufkommen der Herrschsucht, die durch Interessen bestimmt worden sei. Hierdurch seien die Staaten und die Gesetze entstanden, die die natürliche Freiheit und Gleichheit beschränkt haben sowie die Gewalt und alle Übel beförderten. Die Folge war die Abwendung der Menschen von Gott und der Natur. Die Überwindung dieses Zustandes der »Sünde« und des »moralischen Todes«53 erblickte Ewald in der Aufklärung der Menschheit im urchristlichen Verständnis. Den Kerngedanken seiner Vorstellung hat er in folgender 34. These zusammengefasst: Durch den Abfall der Menschen von Gott und Unschuld und durch die Fortsetzung dieses Abfalls sind die Staaten, die durch diesen Abfall selbst entstanden, nothwendig geworden, um der fortgesetzten Verbrechen willen, von welchen nicht abzusehen ist, wann und wie sie in der einmal bestehenden und nothwendig gewordenen bürger­ lichen Verfassung ein Ende nehmen können. Aber das Gesetz wird nur dem Verbrecher gegeben, nicht dem Guten und Gerechten, der keines Gesetzes bedarf, als dessen, das ihm Gott selbst in das Herz geschrieben hat. Dieser wird also durch die Befolgung des göttlichen Gesetzes in ihm von dem positiven Gesetze außer ihm unabhängig seyn; und so viel an ihm liegt, den primitiven Zustand der Unschuld wieder herzustellen suchen, und in seiner Familie, seinen Umgebungen und Verhältnissen ein ächter Patriarch seyn.54

Offensichtlich waren es die Kriegsereignisse und die krisenhaften Zustände der Nachkriegszeit, die Ewald zwar nicht zur generellen Aufgabe seiner republikanischen Vorstellungen eines Staatswesens bewogen haben, jedoch zu einer Änderung seiner Ansicht über die staatstragenden Kräfte veranlassten. Im Vordergrund der Erneuerung und Fortentwicklung der staatlichen Gemeinschaft stand für ihn nicht mehr der selbstbewusste, erwerbende Bürger überhaupt, 51 Ewald, Eleusis, S. 220 ff. Ewald hat dieses Schema besonders deutlich in der Betrachtung des Judentums und des Christentums mit der Zielsetzung angewandt, das ursprüngliche Verständnis von göttlicher Vernunft wieder herauszustellen. 52 Ewald, Die Allgegenwart Gottes, S. 501. 53 Ebenda, S. 498. 54 Ebenda, S. 498 f.

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sondern eine geistige »Elite«, die im göttlichen Auftrag die Leitung des Staates und die christlich orientierte moralische Erneuerung bewirken sollte. Auf der Basis der genannten »Dreieinheit«, in der Gott wirkt und erscheint, behielt Ewald dennoch wesentliche Strukturen eines republikanischen Staates bei. Er favorisierte hier eindeutig die Staatsform der eingeschränkten Monarchie, die durch die Teilung der Gewalten den Machtmissbrauch durch Einzelne verhindern sollte. Er gründete sie jedoch auf die Dominanz des pantheistisch-christlichen Seins- und Weltverständnisses. In dessen Sinne sollte der Staatsendzweck – hier das Postulat nach der moralischen Vervollkommnung der Gemeinschaft der gläubigen Individuen – verwirklicht werden. In der 35. These versuchte Ewald dieses Problem zu erfassen: Nach der Lehre des Pantheismus, wie sie hier vorgestellt ist, soll die Staatsverfassung m o n a r c h i s c h, aber ihre Gewalten sollen getrennet seyn. Die g e s e t z g e b e n d e Gewalt im Staate entspricht der I n t e l l i g e n z, die v o l l s t r e c k e n d e dem G e i s t e; diese beiden machen den regierenden Theil aus; die G e s a m m t h e i t der G e h o r c h e n d e n entspricht der M a t e r i e. Die I n t e l l i g e n z der G e s e t z g e b u n g soll kein Gesetz geben, das sich nicht auch in der Intelligenz der Gesammtheit als nothwendig, allgemein und zweckmäßig ausspricht. Das Urtheil der Intelligenz der Gesammtheit bestimmt die ö f f e n t l i c h e M e i n u n g, welche die beiden Gewalten billig zu beachten haben. Die Gesammtheit der Gehorchenden soll sich aber, so wenig als ein Theil derselben, jenen Gewalten widersetzen: denn sie selbst ist keine gesetzliche, sondern nur eine materielle Gewalt. Der G e i s t d e r v o l l s t r e c k e n d e n G e w a l t soll sich lediglich an die gesetzlichen Bestimmungen der gesetzgebenden Gewalt der Intelligenz halten, und sie mit Kraft und Nachdruck, ohne materielle persönliche Rücksichten zu nehmen, geltend machen und anwenden.55

Da Religion, Wissenschaft und Recht der göttlichen Vernunft entsprungen sind, so Ewald, gehören die Menschen, die sich deren Dienst gewidmet haben, wie in ältesten Zeiten »zum Klerikate oder zur Priesterschaft.« 56 Denn: Auf gleiche Weise machen auch noch jetzt, die den Tempel- oder Kirchendienst verwalten, die Lehrer in Schulen, auf Universitäten und die Akademiker, ingleichen die Rechtsgelehrten, denen die Verwaltung der Gerechtigkeit und des Rechts im Staate, so wie der Staatswirthschaft, obliegt, die verschiedenen Zweige eines und desselben Klerikats aus: denn sie alle sind Gottes Diener.57

Von diesen Trägern des Staatswesens, konzentriert in den fünf Ständen, soll nach der Vorstellung Ewalds die gesetzgebende Gewalt ausgeübt, die vollstreckende Gewalt kontrolliert und die öffentliche Meinung wesentlich bestimmt werden. Indem Ewald dieser im göttlichen Auftrag wirkenden Elite die Gestaltung der Gesellschaft zubilligte, transformierte er seine früheren Vorstellungen eines 55 Ebenda, S. 499 f. 56 Ebenda, S. 500. 57 Ebenda.

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von allen Bürgern getragenen republikanischen Staatswesens, das er als »Pantokratie« charakterisierte, zu einer »Theokratie«, die von den irdischen Beauftragten des allgegenwärtigen Gottes bestimmt und geleitet wird. Dazu erklärte er: Jeder Staat soll also in so fern eine T h e o k r a t i e seyn, in wie fern nicht allein jede der drei Gewalten in demselben an Gottes Stelle tritt, in Gottes Namen die eine Gesetze giebt, die andere Recht spricht, und die dritte die Beschlüsse beider mit Nachdruck ausführt, sondern auch die Diener der Religion und der Wissenschaften die Verkündiger der göttlichen Gebote und Weisheit sind und seyn sollen.58

In die Realisierung des göttlichen Auftrags, den Ewald in seinen Darlegungen zum reinen Pantheismus erklärt sah, müsse die Wissenschaft mit allen grund­ legenden Bereichen einbezogen werden. Er benannte die ihm wesentlichen Fachgebiete: In demselben nahen Verhältnisse, in welchem Mathematik, Naturlehre, Staats- und Privat-Rechtslehre mit der Lehre des reinen rationalen Pantheismus stehen, stehen auch Theologie, Religion, Moral und Geschmackslehre.59

Ewald hob hervor, dass alle wissenschaftlichen und praktischen Aktivitäten auf der uns von Gott geoffenbarten Idee seiner Existenz beruhen. Sie sei der Urquell der Einheit von Theologie, Religion und Moral. Nach der Lehre des Pantheismus »fallen R e l i g i o n und M o r a l in Eins zusammen«. Es soll jedes »Handeln, Thun und Wirken nach dieser Gesinnung« geschehen. Denn, so betonte Ewald: Wir können den Grundsatz nicht anerkennen, daß Theologie und Religion auf der sogenannten philosophischen Sittenlehre, als von der Religionslehre abgesonderte Wissenschaft betrachtet, beruhe, und aus ihr her fließe.60

Auf der Grundlage dieses Entwurfs eines christlich-pantheistischen Seins- und Weltverständnisses kehrte Ewald zu einem Wesenszug seiner Vision des von ihm früher entwickelten Systems eines republikanisch geprägten Staatswesens, an dessen Gestaltung der Bürger selbstbewusst und aktiv teilnimmt, zurück (vgl. V.1.3.). Davon ausgehend, so argumentierte Ewald, dass der alles durchdringende Gott »als Logos oder Weisheit der Ordner und Regierer der physischen und moralischen Welt« 61 ist, wird jedes Individuum mehr oder weniger der göttlichen Vernünftigkeit teilhaftig und ist somit zur Mitgestaltung der Wirklichkeit, insbesondere der menschlichen Gemeinschaft, aufgerufen bzw. verpflichtet. Das Kriterium für die Mitwirkung des Einzelnen – hier kam Ewald auf den Staatsbürger als Erhalter der individuellen und gemeinschaftlichen Subsistenz zurück – sah er in dessen intellektueller Befähigung und moralischen Gesinnung als Person. In der 37. These erklärte Ewald: 58 Ebenda. 59 Ebenda, S. 501. 60 Ebenda. 61 Ebenda, S. 502.

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In einem wohlorganisierten Staate kann die materielle Erzeugung allein kein Grund von persönlichen Vorzügen seyn, die nur der Geist und die Intelligenz giebt, die beide ein Eigenthum auch der Individuen der Gesammtheit, wiewohl nach verschiedenen Graden, sind. Der Unterschied der Menschen in einem Staate soll nur durch den Grad der Intelligenz, ihrer Ausbildung und Anwendung in den verschiedenen Verhältnissen und Zweigen des bürgerlichen Lebens und der Lebensart bestimmt seyn.62

Ewald hob damit unmittelbar die Qualität des Menschen als vernunftbestimmte und nach moralischen Grundsätzen handelnde Persönlichkeit hervor. Es war die Intention Kants, die dieser in seiner Schrift »Die Metaphysik der Sitten« (1797) einleitend dargelegt hatte. Sie wurde in den GgZ ausführlich rezensiert. Ewald legte diese Schrift seinen verfassungstheoretischen Überlegungen zugrunde. Kant schrieb: P e r s o n ist dasjenige Subject, dessen Handlungen einer Z u r e c h n u n g fähig sind. Die m o r a l i s c h e Persönlichkeit ist also nichts anders, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen (die psychologische aber bloß das Vermögen, sich der Identität seiner selbst in den verschiedenen Zuständen des Daseins bewußt zu werden), woraus dann folgt, daß eine Person keinen anderen Gesetzen als denen, die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst giebt, unterworfen ist.63

Auch Ewald hat, eingeordnet in seine Vorstellung des Glaubens, eingefordert, dass der Mensch als Persönlichkeit seine irdische Befindlichkeit als Teil der göttlichen und moralischen Weltordnung zu begreifen sucht und diese mitgestaltet. Es war die Quintessenz seiner Bemühungen, durch den Entwurf eines rationalen Pantheismus – es ist im Kern ein philosophisch begründeter Vernunftglaube, der von Kants Idee des Unbedingten ausging – dem Menschen eine Gesinnung zu vermitteln, die ihn befähigt, seine Verantwortung zur Verwirklichung des göttlichen Auftrags wahrzunehmen. Er hatte damit seine Vorstellungen und Visionen zur Gestaltung eines dem Bürger und der allgemeinen Wohlfahrt dienenden Staatswesens nicht aufgegeben. Wenngleich Ewald in seiner letzten Schrift den Beweis für das Dasein Gottes ausdrücklich auf der Grundlage der theoretischen Philosophie Kants zu führen suchte und nicht mehr, wie in der Auseinandersetzung mit Spinoza geschehen, auf den Grundsätzen der praktischen Vernunft, so zeigte doch sein Insistieren auf den untrennbaren Zusammenhang von Religion und Moral in seinen rationalen pantheistischen Vorstellungen, dass er im Sinne Kants die Einheit des Vernunftvermögens zur Gestaltung von »Humanität« in der menschlichen Lebenswelt gewahrt wissen wollte. Unter dieser Voraussetzung sind für Ewald die Postulate der praktischen Vernunft als Imperative des Denkens und Handelns des Menschen von grundsätzlicher Bedeutung geblieben.

62 Ebenda, S. 501. 63 Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 223.

VII. Schlussbemerkungen

Es war für Ewald eine folgenreiche Entscheidung, als er zu Beginn der achtziger Jahre beschloss, seine dichterischen Bemühungen zugunsten der Beschäftigung mit den philosophischen Grundproblemen seiner Zeit zurückzustellen. Ihm war bewusst geworden, dass sein Interesse und seine Befähigung zur sachlichen und rationalen Durchdringung der Befindlichkeit des Menschen und seiner lebensweltlichen Einbindung in die natürliche und gesellschaftliche Wirklichkeit in zunehmendem Maße sein Denken und Fühlen bewegten. Dieses Bestreben zeigte sich besonders in seiner Darstellung der natürlichen Religion, die auch er auf die Vernunftfähigkeit des Menschen gründete. So war es auch kein Zufall, dass er sich – angeregt durch die Ideen und Vorstellungen von Lessing und Mendelssohn – sowohl den Schriften von Spinoza zuwandte als auch das Initial­ werk der kritischen Philosophie, Kants »Kritik der reinen Vernunft«, mit großem Eifer sofort studierte und seinen eigenständigen Reflexionen und Ideenentwürfen lebenslang zugrunde legte. Zum einen haben für Ewald die ganzheitliche Weltsicht und das sich daraus ergebende Toleranzverständnis von Spinoza in seinen Überlegungen zur Konstitution einer menschheitlich geprägten Gemeinschaft eine inspirierende Rolle gespielt. Zum anderen war es Kants kritische und evidente Bestimmung des Vernunftvermögens des Menschen und dessen Ausarbeitung in einem System, das die wissenschaftliche Erkenntnis fundierte und das praktische Handeln auf den Endzweck menschlichen Seins orientierte. Ewald war aufgrund seiner in den siebziger Jahren begonnenen Beschäftigung mit der Psyche des Menschen und ihren wesentlichen Äußerungen (Wahrnehmen, Empfinden, Denken, Urteilen) sowie der zu Beginn der achtziger Jahre hinzukommenden Reflexionen über die anthropologische Beschaffenheit des Menschen (Charakterbildung, beeinflussende Faktoren) vorbereitet und angeregt, sich mit der 1781 erschienenen Schrift Kants zur Analyse der Grundzüge, Strukturen und Potenzen des menschlichen Selbstbewusstseins zu beschäftigen. Er fand in Kants kritischer Philosophie einen Systemvorschlag zum Erfassen und Erklären der Vernunft, der auf die Bestimmung der Gesamtheit ihrer Vermögen gerichtet war. Denn Kant legte fest: Ich verstehe aber unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form des Ganzen, sofern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen sowohl, als die Stelle der Teile untereinander, a priori bestimmt wird.1 1

Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 832.

410

Schlussbemerkungen

Überblickt man unter diesem Gesichtspunkt das nahezu vierzigjährige Wirken von Ewald als Anhänger der Philosophie Kants, so zeigt sich, dass er dem innovativen Vorstoß Kants zur Neubestimmung des Menschen durch die Erkenntnis des aktiven Vermögens seiner Vernunft zur evidenten Erkenntnisgewinnung und zum zielgerichteten praktischen Handeln auf seinen moralischen Endzweck hin, nicht nur aufmerksam folgte. Er hat sich die Grundsätze der Kantischen »Revolution der Denkungsart« mit hohem Interesse angeeignet, sie mit Sachkenntnis als einer der ersten Publizisten verbreitet und sie als Autor eigenen Vorstellungen zugrunde gelegt. Wesentlich war für Ewald, dass die von Kant in der »Kritik der reinen Vernunft« dargelegten Prinzipien und Strukturen keine bloße Vorübung oder Einführung für eine noch zu erwartende Grundlegung zu einer, wie auch immer gearteten Systematik darstellten, sondern als die elementare Basis und der Rahmen für die weitere Vertiefung und Vervollkommnung des Systems der kritsichen Philosophie in seiner Ganzheit angesehen wurde. Er erkannte darin die neuartige, fundierte Erklärung für seine eigenen bis dahin unternommenen Bestrebungen: Der Mensch als vernunftbegabtes Wesen besitzt die Fähigkeit, als Subjekt seiner eigenen Entwicklung und seiner Umstände wirken zu können. Mit der Kantischen Bestimmung eines Systems der Vernunft, die dieser in der Definition der »Transzendental-Philosophie« präzisierte, hat sich Ewald identifiziert. Das apriorische Potential der Vernunft, welches Kant in seiner Transzendentalphilosophie sowohl zur Gewinnung von Erfahrungserkenntnis (Theoretische Philosophie) als auch zur Konstitution einer Moralgesetzgebung (Praktische Philosophie) zur elementaren und notwendigen Voraussetzung seiner Philosophie erklärte, rezipierte Ewald als Fundament seines Denkens. Er folgte Kant, indem er zum einen die Einheit der beiden Funktionsbereiche der allgemeinen gesetzgebenden Aufgabe der Vernunft betonte, weil, wie Kant hervorhebt, es doch am Ende nur eine und dieselbe Vernunft sein kann, die bloß in der Anwendung unterschieden sein muß.2

Dazu erklärte Ewald seinen Lesern, dass der scheinbare Widerspruch zwischen Natur und Freiheit darauf beruht, daß wir den Menschen in einem andern Sinne und Verhältnisse denken, wenn wir ihn frey nennen, und wieder in einem andern, wenn wir ihn als Stück der Natur den Gesetzen derselben für unterworfen halten, und daß beyde nicht allein gar wohl beysammen bestehen k ö n n e n, sondern auch als n o t h w e n d i g v e r e i n i g e t in demselben Subjekt gedacht werden müssen.3

Ewald teilte mit Kant nicht nur die Vorstellung über die dualistische Grundstruktur des apriorischen Potentials der Vernunft, sondern auch die überragende 2 3

Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 391. GgZ, 67. St., Beilage vom 20. August 1785, S. 548.

Schlussbemerkungen

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Bedeutung des Freiheitsvermögens für die Befähigung des Menschen zur Selbstbestimmung sowie zur unbedingten Moralgesetzgebung. Letztere galt auch Ewald als Voraussetzung für das Streben des Individuums und der Gemeinschaft nach einem Zustand der Moralität als Endzweck. Ewald stellte mit Kant die Harmonie bzw. den Systemschluss zwischen den Bereichen der Natur und der Freiheit, in denen der Mensch existiert, durch die Annahme bzw. Denkmöglichkeit eines höchsten, übersinnlichen und unabhängigen Wesens her. Es repräsentiert für ihn in seiner Vollkommenheit das höchste moralisch Gute, und es ermöglicht in der von ihm geschaffenen und durchwalteten Welt dem Menschen eine aktive Teilhabe. Otfried Höffe resümierte diesen inneren Zusammenhang bzw. die Konsistenz der Systemvorstellung Kants und ihre antizipatorische Bedeutung, indem er, ausgehend von Kants Weltbegriff und dessen Endzwecksetzung, feststellte: Dieser liegt nicht in einem vollendeten Wissen, sondern in der Moral bzw. reinen praktischen Vernunft samt deren Einheit mit der theoretischen Vernunft im Ideal des höchsten Guts.4

Unter diesem Blickwinkel erfüllte Kants System für Ewald erstens die Möglichkeit eine für ihn befriedigende universale Welterklärung zu erreichen. Zweitens fand er in dieser Systemkonstellation die wesentliche Basis zur Bestimmung des Menschen als selbstdenkende und verantwortungsbewusst handelnde Persönlichkeit, die als Bürger eines Gemeinwesens zur Mitgestaltung der sozialen und politischen Verhältnisse befähigt ist. Letztlich sah Ewald den Menschen in kantischer Intention als Subjekt des moralischen Gesetzes. Nur von dieser, in der Grundlegung kantischen Denkens verankerten Position Ewalds, die er sich gleichlaufend zur Ausarbeitung des kritsichen Systems durch Kant kontinuierlich angeeignet und verinnerlicht hat, ist es zu erklären, dass er an den in den neunziger Jahren aufkommenden Diskussionen um das System Kants, dem Defizite, Bruchstellen, unklare Begriffsbestimmungen, fehlende Letztbegründung u. a. vorgeworfen wurden, auf der Seite der Kritiker nicht teilgenommen hat. Jedoch hat er als Redakteur der GgZ, das zeigen die Rezensionen, bei durchaus kritischen Bemerkungen zu einzelnen Darstellungen hinsichtlich ihrer Verständlichkeit, die grundlegende Anlage und die systematische Ausführung der Intentionen Kants verteidigt. Entscheidend war für ihn, dass dessen Grundsätze nicht lediglich eine Propädeutik für ein erst noch zu schaffendes vollendetes 4 Ofried Höffe, Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie, München 2004, S. 345. Höffe erklärt dazu: »Die vom kosmopolitischen Begriff geforderte Vollendung der theoretischen Vernunft im ›System‹ erfolgt aus dem theoretischen Interesse an Einheit, das wiederum ergänzt und zugleich überboten wird durch das praktische Interesse, die Bestimmung des Menschen zur Moral. Und die veritable Vollendung erfolgt erst in der Einheit der praktischen mit der theoretischen Vernunft: im Ideal des höchsten Guts«, ebenda, S. 346.

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Schlussbemerkungen

System der Philosophie darstellte, wie Reinhold, Fichte und Schelling über Kants Vorstellungen urteilten. Für Ewald war es von vitaler Bedeutung, dass Kant die Autonomie des Menschen als Träger des Vernunft- und Freiheitsvermögens in seiner Philosophie, entsprechend den Ansprüchen der Zeit, einsichtig in Zielsetzung, inhalticher Ausführung und antizipatorischen Ausblicken entworfen hat. Deshalb richtete sich die Polemik in den GgZ um 1800 gegen das Bestreben der Vertreter des sich ausformenden deutschen Idealismus in Jena (Reinhold, Fichte, Schelling, Hegel) und anderen Orten, die von Kant fixierten Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten der menschlichen Vernunft mit dem Ziel zu überschreiten, die Totalität des Seins als Ergebnis des realen Wirkens eines obersten ideellen Prinzips (Idee, Gott) zu erklären. Dieser höchsten Idee – das war der Hauptkritikpunkt – wurde von den genannten Denkern eine objektiv reale Existenz zugeschrieben. Da hierzu meist von Kants Vernunftidee des Unbedingten, welche lediglich gedacht werden kann, ausgegangen und diese als real Existierendes gesetzt wurde, hat in den Rezensionen der Zeitschrift eine entschiedene Kritik hervorgerufen. Es wurde der Vorwurf erhoben, zum »Dogmatismus« der vorhergegangenen Metaphysik zurückgekehrt zu sein. Nach Kant stellt er ein Verfahren dar, reine Begriffe der Vernunft als Prinzipien anzunehmen, ohne eine vorherige Kritik des Vernunftvermögens vorgenommen zu haben, die die Möglichkeit einer solchen Ideensetzung grundsätzlich überprüft. So stand im Vordergrund der Polemik die Kritik, das einheitstiftende Prinzip durch das Überschreiten der Möglichkeiten der Gewinnung von Erfahrungserkenntnis vorgenommen zu haben. Beispielhaft wird diese Position der GgZ in der Rezension vom 7. August 1802 zur ersten selbständig erschienenen Schrift von Georg Wilhelm Friedrich Hegel »Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie« (Jena 1801) dargestellt. Es wird auf Hegels Bestreben eingegangen, sein philosophisches Programm aus der Kritik der Reflexionsphilosophie (Kant, Reinhold, Fichte), teilweise auch von Schelling abweichend, zu entwerfen. Da diese nach Hegel durch ihre Beschränkung auf die Verstandesebene nicht von der Einheit des Seins ausgehen kann noch zu ihr hinführen wird, so versuche der Verfasser, so der Rezensent, durch die »Spekulation der Vernunft« die Einheit von »Natur« und »Selbstbewußtsein« im »Absoluten« herzustellen. Denn, so wird Hegel zitiert: sie sind deswegen so an sich selbst, weil es die Vernunft ist, die sie setzt, und die Vernunft setzt sie als Subjektobjekt, also als das Absolute; und das einzige An sich ist das Absolute; sie setzt sie als Subjektobjekt, weil sie es selbst ist, die sich als Natur und als Intelligenz producirt und sich in ihnen erkennt.5

Auf dieses Überschreiten der Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten der Vernunft in den transzendenten Bereich, in dem Hegel eine Idee der Vernunft (das 5

GgZ, 63. St. vom 7. August 1802, S. 552. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Gesammelte Werke (Jenaer kritische Schriften), Bd. 4, Hamburg 1968, S. 67.

Schlussbemerkungen

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Unbedingte, das Absolute – Gott) als objektiv real und alles Sein umgreifend ansieht, entgegnet der Rezensent: Allein das Absolute erkennen wir doch nirgends her, als aus der Natur unserer Vernunft, deren Idee es ist; es ist also doch allemal die Naturphilosophie der Transcendentalphilosophie untergeordnet. Dazu kommt noch, dass sich aus der bloßen Idee des Absoluten in der That keine Wissenschaft der Natur ableiten lässt, obgleich dasjenige, was man aus der Reflexion auf das menschliche Vorstellungsvermögen und auf die Erfahrung weiß, der Idee des Absoluten untergeordnet werden kann und darf. Kurz, wenn die neuesten Philosophen den kritischen Weg verlassen, so haben sie uns bis jetzt noch durch nichts von der Befugnis dazu überzeugt; wir glauben vielmehr, einzusehen, dass über das kritische Gebiet hinaus nur scheinbare Eroberungen zu machen sind.6

Wenngleich zum einen die dialektische Substanz der Subjekt-Objekt-Konstellation in den Systementwürfen von Fichte bis Hegel, deren Vorstellungen ebenfalls aus Erkenntnissen über reale Sachverhalte gewonnen wurden, in den GgZ nur ansatzweise eingegangen worden ist, so ist zum anderen das Festhalten von Ewald am Kantischen System ein weiterer Beweis für den hohen Grad seiner Ausstrahlung und Einwirkung auf den geistig-kulturellen Prozess in Deutschland. Denn die kritische Philosophie erwies sich für die gothaischen Mitstreiter des Königsberger Vordenkers, allen voran Ewald, als zeitgemäßer und grundsätzlicher Reflex auf die aktuellen Probleme im zeitlichen Umfeld der tiefgreifenden Veränderungen in Westeuropa. So wurden die industrielle Entwicklung in England und die revolutionären Ereignisse in Frankreich von der gothaischen Publizistik aufmerksam verfolgt. Unter diesen Vorzeichen war es der Realitätsgehalt dieser Revolution des philosophischen Denkens, der seinen unmittelbar orientierenden und antizipatorisch wirkenden Einfluss auch auf die Selbstdenker in den intellektuellen Kreisen der thüringischen Residenz Gotha ausübte. Die konsequente Haltung der Anhänger der Philosophie Kants – Ewald hat sie im »Nekrolog« auf Kant (1804) dokumentiert – kann als Beweis für die überzeitliche Gültigkeit ihrer Zielsetzung angesehen werden, das vernunftgeleitete Streben des Menschen nach Verwirklichung seines menschheitlich geprägten moralischen Endzwecks zu befördern. Wenngleich Ewald über vier Jahrzehnte publizistisch wirkte, so war es der Zeitraum von 1782 bis 1804, in dem er sich bleibende Verdienste für die Propagierung und Fortentwicklung des aufklärerischen Denkens erworben hat. Seine Bestrebungen konzentrierten sich auf drei Bereiche: 6

Ebenda. Der Rezensent fügte hinzu: »Die Sprache des Verfs. haben die Leser einigermaßen aus den angeführten Stellen kennen gelernt. Der Rec. ist weit entfernt, von allen philosophischen Schriftstellern einerlei Sprache zu verlangen; aber er ist auch überzeugt, daß Hr. Hegel wie Hr. Schelling, vieles weniger gekünstelt hätte sagen können und sagen sollen«, ebenda.

414

Schlussbemerkungen

Erstens hat er durch die Übersetzung und Interpretation der Schriften von Spinoza dazu beigetragen, das Vorurteil und die Ablehnung gegenüber diesem bedeutsamen europäischen Denker der Neuzeit in Deutschland zu durchbrechen. Zweitens hat er als Redakteur der GgZ durch die kontinuierliche Rezensierung der Schriften Kants von 1782 bis 1804 die Ausarbeitung des kritischen Systems in seinen Grundsätzen und Teilbereichen popularisiert und verteidigt. Drittens hat Ewald in zwei anonym erschienenen Schriften auf der Grundlage der moral- und staatsphilosophischen Prinzipien Kants sowie illuminatischer Intentionen seine staats- und verfassungstheoretischen Vorstellungen entworfen, die ein republikanisch-demokratisches Staatswesen in Deutschland antizipierten. Mit seinen philosophischen Bestrebungen hat Ewald als Autor und Publizist, mit der ihm eigenen Bescheidenheit und Beständigkeit, einen soliden Beitrag zur Verbreitung und Vertiefung der produktiven Ideen des aufklärerischen Denkens in Deutschland geleistet. Unvergessen bleibt, dass er frühzeitig die innovative Bedeutung der kritischen Philosophie erkannt und sich kontinuierlich für deren Verbreitung eingesetzt hat. Denn, das sei hier noch einmal hervorgehoben: Es war Schack Hermann Ewald, der am 24. August 1782 in seiner Zeitschrift scharfsichtig erklärte, dass »Kants Kritik der reinen Vernunft« »die ersten Ansprüche machen« dürfe, die Augen des Publikums [...] auf ein Werk hin zu leiten, das der deutschen Nation zur Ehre gereicht« und »als Monument von der Feinheit und höchst subtilen Denkkraft der menschlichen Vernunft aufgestellt zu werden verdient.7

Von Anbeginn faszinierte Ewald die Strenge der Beweisführung, die Kant in der Bestimmung der Möglichkeiten und der Grenzen des menschlichen Vernunftvermögens demonstrierte. Zudem zeigte ihm das System der kritischen Philosophie Grundsätze und Erkenntnisstrukturen auf, die das Denken und Handeln des Einzelnen und der Gemeinschaft auf evidentes Wissen gründete und auf menschheitliche Ideale orientierte. Es war insbesondere die Grundlegung und die Konsequenz der Kantischen Moralphilosophie, die Ewald zu eigenen Vorstellungen über den Staat als wesentliche Form des Gemeinschaftslebens inspirierte. So hat er im »Nekrolog. Immanuel Kant«, dies sei hier wiederholt, am 7. März 1804 seine Sicht auf Kants Vermächtnis an die Nachwelt zum Ausdruck gebracht. Metaphysiker war er im prägnantesten Sinne des Wortes; seine Critik der theoretischen und praktischen Vernunft war das Feldgeschrey zum Erwachen der Vernunft. Wie er überall in die philosophische Speculation, statt leichter, oberflächlicher Declamation, Gründlichkeit und Strenge der Beweise einführte, so hat er insonderheit in der praktischen Philosophie durch sein Anstreben gegen den Geist einer laxen Zeit=Moral und durch den unerbittlichen Ernst des categorischen Imperativs eine der Wissenschaft nothwendige und selbst den Sitten wohlthätige Revolution hervorgebracht.8 7 8

GgZ, 68. St. vom 24. August 1782, S. 560. GgZ, 19. St. vom 7. März 1804, S. 170. Vgl. V.1.12.

Schlussbemerkungen

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Ewald stellte die Fundamentalität seines philosophischen Denkens als einer der ersten Kantianer unter Beweis, indem er Kants Erkenntnisse über das apriorische Aktivitätsvermögen der menschlichen Vernunft, insbesondere der in ihm objektiv angelegten Moralgesetzgebung, seinen Reflexionen und orientierenden Vorstellungen über wesentliche Bereiche der menschlichen Existenz zugrunde legte. Er kam, unterstützt durch eigene Untersuchungen und intensive Studien über gesellschaftliche Sachverhalte, zu dem Ergebnis, dass nur durch das Praktisch­ werden der von Kant begründeten Fähigkeit des Menschen zur vernunftgeleiteten, autonomen »Selbstbestimmung« als Individuum und als Gattungswesen ein Zustand nationaler und universaler »Humanität« angestrebt werden kann. Unter diesem Grundgedanken hat sich Ewald in die Reihe derjenigen Zeitgenossen eingereiht, die den Geist und die Botschaft der Philosophie Kants in die gesellschaftliche Vernunft getragen und in ihr verwurzelt haben.

Quellen- und Literaturverzeichnis

I. Quellen 1. Immanuel Kant Kant wird zitiert nach: Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen und seit 2002 der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, bislang 29 Bde., Berlin 21910 (11900) Kants »Kritik der reinen Vernunft« wird durch die Angabe der in der Akademie-­ Ausgabe (Band 3 und 4) vermerkten Seiten der Originalausgaben zitiert. Dabei bezeichnet A die erste Auflage und B die zweite Auflage.

2. Schack Hermann Ewald Die Allgegenwart Gottes, Gotha (Hennings’sche Buchhandlung) 1817 (anonym erschienen). Die Allgegenwart Gottes. Zweiter Theil: Eleusis, oder über den Ursprung und die Zwecke der alten Mysterien, Gotha (Hennings’sche Buchhandlung) 1819 (anonym erschienen). Kritik der deutschen Reichsverfassung, Germanien 1796–1798. Reprint [unter Zuschreibung der Autorschaft der Schrift an Johann Nikolaus Becker], hrsg. und eingeleitet von Wolfgang Burgdorf, Hildesheim / Zürich / New York 2009. Erstes Bändchen: Kritik der Regierungsform des deutschen Reichs, Germanien 1796 (anonym erschienen). Zweites Bändchen: Kritik der Kriegsverfassung des deutschen Reichs, Germanien 1798 (anonym erschienen). Drittes Bändchen: Kritik der staatswirthschaftlichen Verfassung des Deutschen Reichs, Germanien 1798 (anonym erschienen). Natürliche Religion nach Ursprung, Beschaffenheit und Schicksalen, Berlin 1784 (anonym erschienen). Ueber das menschliche Herz, ein Beytrag zur Charakteristik der Menschheit, 3 Bde., Erfurt (Johann Ernst Schlegel) 1784, neue Auflage 1799. Ueber Empfindungen, Leidenschaften, Charakter und Sitten – ein philosophischer Versuch für Schauspieler, in: Gothaisches Magazin der Künste und Wissenschaften 2 (1777), 3. St., Nr. X, S. 195–230.

Ueber die Sterndeutekunst, in: Der Teutsche Merkur, Nr. 1 vom Januar 1786, S. 3–32. Von dem Staate und den wesentlichen Rechten der höchsten Gewalt, Göttingen (Johann Christian Dieterich) 1794 (anonym erschienen).

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Quellen- und L iteraturverzeichnis

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Abkürzungsverzeichnis

A. L. Z Allgemeine Literatur-Zeitung Altes Testament A. T. Ausg. Ausgabe (Auflage) Begehrungsvermögen B. V. Berlinische Monatsschrift Berl. chapter (Kapitel) chap. Critik (Kritik) der reinen Vernunft Cr. / Critik d. r. V. dergl. dergleichen d. i. das ist (das heißt) d. J. dieses Jahres Dr. Doktor Durchl. Durchlauchtigste(r) Epist. Epistel et cetera etc. Ewr. Ewige(r) Geheimer (Rat, Sekretär) Geh. Gelehrte (Zeitung) Gel. GgZ Gothaische gelehrte Zeitungen gr. Groschen Gothaisch-Sächsischer (Sekretär) G. S. heilige (Schrift) h. H. / Hn. / Hr. / Hrn. / HE Herr / Herrn Herz. / Herzogl. S. Goth. Herzoglich Sächsisch-Gothaischer (Hofrat) Hrn. Nik’s Herrn Nikolais Hofprediger Schultz H. P. S. Herr Rink H. R. Hrsg. Herausgeber hrsg. herausgegeben Herr Tieftrunk H. T. J. Jahr Jahr seines Alters J. s. A. K. Kapitel Kr. Kriegsrat Kritik der reinen Vernunft K. D. R. V.  Kritik der reinen Vernunft Kritik d. r. Vern. K. der reinen Vernunft Kritik der reinen Vernunft Kritik der praktischen Vernunft Krit. d. p. Vern. Mos. Moses / Mosis Mspt. Manuskript n. Nr. der Zeitschrift nach unserer Zeitrechnung n. u. Z .

428 A bkürzungsverzeichnis ND Nachdruck N. N. Nomen nominandum (ein unbekannter, noch zu nennender Name) N. T. Neues Testament pract. praktische (Vernunft) Präs. Präsident p. p. perge, perge (fahre fort, fahre fort, und so weiter) Prof. Professor R. Raum R. A. Revolutions-Almanach Reichs-Anzeiger R. Anz. Rec. / Recens. Rezensent Rthl. Reichstaler reine praktische Vernunft r. p. V. r. V. reine Vernunft s. A. seines Alters seel. seelige(r), verstorbene(r) St. Sankt St. Stück (Nr. der Zeitschrift) sqq. sequentes (die folgenden Seiten) sr. seiner u. a. m. und anderes mehr u.s.w. / usw. und so weiter Verf. Verfasser Vice-Präs. Vize-Präsident Volumen (Band) vol. Z. Zeit z. T. zum Teil

Ortsregister

Altenburg 9, 21, 293

Ichtershausen 27

Berga 331 Berlin 44, 51, 62, 93, 118 f., 123, 137, 276, 279, 292, 297, 333, 390 Bienstädt 224, 229, 269 f. Bückeburg 25

Jena 94., 17, 24–27, 30 f., 34, 39 f., 47, 50, 63, 93, 109, 119, 186, 190, 204, 208, 221–224, 226, 229, 240, 242 f., 248, 277 f., 291, 295, 390, 412

Dessau 120 Erfurt 9, 17, 54, 56, 73, 119, 153, 186, 246, 283 Eisenach 21, 30 Ettenhausen 27 Frankfurt/Main 279, 297, 376, 387 Frankfurt/Oder 93, 389 Freystadt 93 Gera 177 f., 180 f., 186, 189 Göttingen 26 f., 30 f., 40, 47, 50, 52, 124, 184, 259, 292, 294–296, 331 f. Gotha 9 f., 17, 21, 23–26, 29–35, 38–42, 44, 47 f., 50, 56, 63, 65, 93, 96, 101 f., 105 f., 108 f., 116 f., 119 f., 122–124, 129, 137, 140, 142, 175, 177, 186, 197, 189, 220 f., 223 f., 226 f., 229 f., 240, 243 f., 247–251, 254, 269 f., 282–284, 287, 289, 292 f., 295, 312, 320 f., 331 f., 370, 387–391, 413 Greiz 373 Großkunsdorf 331 Halle 23, 26, 34 f., 45, 59, 93, 119, 137, 167, 387, 389 Hamburg 29, 65, 282 Hastrungsfeld 27 Heidelberg 27, 226 f.

Karlsruhe 221 Königsberg 17, 42, 44 f., 55, 105, 108, 116–118, 120–122, 135, 139, 154, 168, 179, 204, 217, 219, 250, 254, 265 f., 284, 286 f., 290, 361, 413 Kranichfeld 229 Leipzig 26, 29, 46, 50, 119, 124, 136, 169, 279, 292, 295, 297 München 23, 30 Mömpelgard (Montbeliard/Fr.) 24 Neudietendorf 27 Ohrdruf 31, 50 Prag 169, 204 Salzburg 227 Schnepfenthal 63, 120 Sonneborn 25 f. Stedten 244 Weimar 9 f., 17, 21, 34, 101, 179, 186, 292, 388 Wittenberg 48, 65 Wolfenbüttel 48 f., 63–66 Worms 376 Würzburg 23, 226 f., 229 Züllichau 93

Personenregister

(Schack Hermann Ewald und Immanuel Kant sind nicht in das Register aufgenommen.)

Abbt, Thomas 25 Abt s. Abbt Achenwall, Gottfried 52, 292, 295 f. Adair, James 31, 47 Aristoteles 38, 152, 223, 280, 285 August von Sachsen-Gotha-Altenburg 123 Bardili, Christoph Gottfried 222 Barré, (Le père) Joseph 295 Baumeister, Johann Carl 25 Baur, Franz Nikolau 226–229 Bayle, Pierre 192 Beaumarchais, Pierre-Augustin Caron de 31, 47 Becker, Johann Nikolaus 330 f. Becker, Rudolf (auch: Rudolph) Zacharias 19, 29, 41, 44, 101 f., 116 f., 119– 128, 137, 269 Bekman, Christoph Friedrich 181, 186 Berbig, Max 22, 24, 31, 331 f. Berkeley, George 115 Bertuch, Friedrich Johann Justin 34, 101, 292, 388 f. Bertuch, Johann Christian 296 Biester, Johann Erich 137 Blumenbach, Johann Friedrich 52 Böhme, Jakob 78 Boerhaave, Hermann 60 Boie, Heinrich Christian 27 Boje s. Boie Borowski, Ludwig Ernst 105, 249, 288 f. Böttiger, Karl August 179

Brahe, Tycho de 104 Brückner, Christian Friedrich August 27 Buchwald, Juliane Franziska von 24, 28, 56 Buchwald, Schack Hermann von 24 Bürger, Gottfried August 27 Büsch, Johann Georg 53 Burgdorf, Wolfgang 330 f. Burke, Edmund 293 Burkard s. Burkhardt Burkhardt, Johann Georg 27 Campe, Joachim Heinrich 56 Cassini, Giovanni Domenico 104 Cassiodor (i. e. Schack Hermann Ewald) 22, 31 f., 37 Cassiodorus, Flavius Magnus Aurelius 37 Chambers, William 28, 47 f. Chrysostomus s. Helmolt, Georg von 32 Cicero, Marcus Tullius 76, 300 Clemens von Rom 94 Coyer, Gabriel Francois 31, 47 Creuzer, Georg Friedrich 393 Crusius, Siegfried Lebrecht 119, 124 Dacheröden, Carl Friedrich von 119 Dalberg, Karl Theodor von 153 David, Alois Martin 104 Descartes, René 60, 90, 178 Diderot, Denis 60 Dieterich, Johann Christian 13, 30, 184, 292 f. Döll, Friedrich 48 Dorl, Georg 34

432 Personenregister Dumpf, Johann Wilhelm 29 f., 34, 48, 65, 332 Eberhard, Johann August 18, 51, 56, 167 Eichhorn, Johann Gottfried 31, 50 Ekhof, Conrad 21, 29, 50, 60, 312 Epikur 45, 138 Erhard, Johann Benjamin 222 Ernst I. (der Fromme) von SachsenGotha-Altenburg 20 Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg 29, 42, 93, 96, 123, 250, 293, 295 Ettinger, Carl Wilhelm 23, 29–31, 33 f., 47, 65 f., 102, 187, 219–222, 226, 229 f., 292, 232 Ewald, Anna Clemence 24–26 Ewald, Christian Friedrich 24 f. Ewald, Hermann Adolf 331 Ewald, Wilhelm Heinrich 22, 34 Fabricius, David 104 Falkner, Thomas 31, 47 Feder, Johann Georg Heinrich 16, 18, 56, 108 f., 115, 139 f. Feuerbach, Paul Johann Anselm 291 Fichte, Johann Gottlieb 209, 216 f., 221, 223, 225, 229, 240–243, 248, 250 f., 289 f., 412 f. Flaminius, Markus Antonius 23, 27, 47 Forster, Georg 221 Franklin, Benjamin 43 Friedrich II. von Preußen 295 Friedrich III. von Sachsen-Gotha-Altenburg 21, 293 Frommann, Carl Friedrich Ernst 93 Füchsel, Georg Christian 68 Gabler, Christian Ernst 223 Galletti, Johann Georg August 34, 41, 296 Garve, Christian 16 f., 109, 115, 297, 373f.

Gebhard, Friedrich Heinrich 19, 41, 187, 221, 224, 226, 229–247, 251, 269 f. Gebhardt, Carl 169, 181, 189 Gensel, Johann Christoph 27 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von 60 Goeze, Johann Melchior 65 Goethe, Johann Wolfgang von 26, 60, 216, 285 Goldoni, Carlo 60 Gotter, Friedrich Wilhelm 296 Gottsched, Johann Christoph 295 Grattenauer, Ernst Christian 226 Green, Joseph 290 Großmann, Friedrich Wilhelm 48 Hahn, Johann Friedrich 27 Haller, Albrecht von 59 f. Hamann, Johann Georg 17, 108, 120 Hamberger, Julius Wilhelm 34, 332 Hardenberg, Georg Gottlieb Leberecht von 32 Hartknoch, Johann Friedrich 17, 54, 108 f. Haun, Johann Ernst Christian 123 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 216, 248, 412 f. Helmolt, Georg von (i. e. Chrysostomus 32 Henricus Stephanus s. Becker, Rudolph Zacharias 120 Herder, Johann Gottfried 18, 34, 55 f., 60, 72, 120, 173–180, 189, 216 Herschel, Friedrich Wilhelm 104 Heydenreich, Karl Heinrich 268, 272 Heyne, Christian Gottlob 124 Heyne (der Jüngere), Christian Leberecht 124 Hinske, Norbert 9 f., 43, 124, 296, 386 Hipparch 104 Hippel, Theodor Gottlieb von 120– 122, 286

433

Personenregister

Hippokrates 70 Hobbes, Thomas 171, 297, 333 Höffe, Otfried 411 Hölty, Ludwig Heinrich Christoph Hönicke, Johann Friedrich 47 Homer 275 Horaz 300, 315 Hufeland, Christoph Wilhelm 274 Hufeland, Gottlieb 298 Hume, David 113 f., 242 Hutcheson, Francis 56, 242 Hudtwalcker, Martin Hieronymus 282 f. Irwing, Karl Franz von 85 f. Jachmann, Reinhold Bernhard 45, 105, 249, 277 f., 287, 290 f. Jacobi, Friedrich Heinrich 120, 137, 139, 169, 173–176, 188 Jacobs, Friedrich 34, 282 Jäsche, Gottlieb Benjamin 249, 280 Jakob, Ludwig Heinrich 44 f., 107, 136– 138, 173 f. Kanter, Johann Jakob 42, 142 Kepler, Johannes 104 Keyser, Georg Adam 47, 154 Klebe, Friedrich Albert 23, 32 f. Kleist, Heinrich von 25 Klopstock, Friedrich Gottlieb 25 Klüpfel, Emanuel Christoph 28–30 Knigge, Adolf von 18, 121 Konstantin I., der Große 91 Kopernikus, Nikolaus 104 Lambert, Johann Heinrich 104 Lehmann, Johann Gottlob 68 Leibniz (auch: Leibnitz), Gottfried Wilhelm 62, 147, 151, 153, 167, 177, 189, 193, 147, 151, 153, 167, 177, 227, 286 Lessing, Gotthold Ephraim 18, 47–49, 60–67, 73, 90, 168, 175, 353, 386, 409

Lichtenberg, Georg Christoph 42, 292 Lichtenberg, Ludwig Christian 29, 31 f., 42 f., 52, 292 Locke, John 62, 257, 351 Löffler, Josias Friedrich Christian 41, 93–96, 187, 221, 230, 254, 289 Lossius, Johann Christian 60, 139, 153–155 Luise Dorethea von Sachsen-GothaAltenburg 21, 24, 293 Lukrez (Titus Lucretius Carus) 300, 355 Macchiavelli, Niccolò 171 Manso, Johann Caspar 34, 332 Marius, Simon 104 Martin, Jacques 102 Mathomon s. Ewald, Anne Clemence Mauvillon, Jakob von 373 f. Mead, Richard 60 Meier, Georg Friedrich 280 Mendelssohn, Moses 18, 44 f., 56, 62 f., 107, 136–139, 168 f., 173–176, 180, 189, 297, 353, 408 Mevius, Johann Paul 292 Meyer, Johann Ernst 47 Michaelis, Johann David 50 Miller, Johann Martin 27 Möser, Justus 358, 360, 368 Moheau (eigtl. A. J. B. R. Auget de Montyon) 31, 47 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat 257, 351, 354 Moser, Johann Jakob 368 Müller, Johannes von 368 Münter, Friedrich 34 Napoleon Bonaparte 283, 386 Newton, Isaak 62 Nicolai, Christoph Friedrich 266 f. Niethammer, Friedrich Immanuel 31, 187, 221–226 Oberhausen, Michael 149 f.

434 Personenregister Origines Adamantius 94 Ossian 275 Perthes, Justus 34, 120 Philidor, André Danican 31, 47, 66 Platon 76, 91–93, 96–99, 314, 342, 348, 389 Plotin 91 Porphyrios 91 Primavesi, Karl Ludwig 221, 226–229 Prior, Matthew 31, 47 Pütter, Johann Stephan 292–296, 368 Pythagoras 76, 91 f. Ramler, Carl Wilhelm 25, 27 Rebmann, Andreas Georg Friedrich 293 Rehberg, August Wilhelm 188 Reichard, Heinrich August Ottocar 22, 29, 34, 293, 296, 388 Reichardt, Johann Friedrich 120 Reimarus, Hermann Samuel 48, 62–64, 66 f., 73, 90, 139–142, 150 Reinhold, Karl Leonhard 17, 34, 38, 101, 109, 189 f., 202–209, 217, 221, 234, 241 f., 248, 291, 412 Reiske, Johann Jacob 50 Reusch, Carl Daniel 42 Riedel, Friedrich Justus 26, 60 Rink, Friedrich Theodor 105, 179, 249, 281, 427 Rousseau, Jean-Jaques 184, 235, 254, 257, 306, 321, 340, 342, 357 f., 364 Saint-Pierre, Charles-Irénée 254 Salzmann, Christoph Gotthilf 120 Scheiding, Johann Adolf 25 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 209, 216 f., 221, 248, 412 f. Schiller, Friedrich von 118, 285 Schlegel, Johann Ernst 55 f. Schleiermacher, Friedrich Ernst Daniel 387, 390 f.

Schlichtegroll, Adolph Heinrich Friedrich 30, 40, 48, 284, 332 Schlosser, Johann Georg 221 Schmid, Carl Christian Erhard 34, 39, 229, 234, 240, 242 f. Schmidt, Jacob Friedrich 34 Schütz, Christian Gottfried 34 f., 129, 137, 190, 240, 277 Schulthes (auch: Schultheß), Gottlob Ernst Christian 26 f. Schultz, Johann 107, 116 f., 288, 427 Schulze s. Schultz Schwaiger, Clemens 132 Schwarz, Carl Heinrich Wilhelm 387 f. Semler, Johann Salomo 93, 389 Seneca d. J., Lucius Annaeus 76 Seydlitz, Friedrich Wilhelm von 295 Seyfrieden, Christian Theodor 296 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper 177, 242 Shakespeare, William 60 Siebold, Carl Caspar von 227 Smith, Adam 60, 230 f., 235 f., 239, 242, 370–374, 377 f., 381 f. Sokrates 76, 91, 97 Sophokles 60 Souverain, Matthieu 93 f., 389 Spalding, Johann Joachim 93 Spinoza, Baruch de 9, 14, 19, 23, 31, 35 f., 40, 55, 62, 67, 73, 83, 90, 101 f., 105, 112, 136, 164, 168–216, 292, 298, 321, 353, 390, 392, 394, 401– 403, 408 f., 414 Stark, Werner 44, 119 f., 122 f. Stephani, Heinrich 268–271 Studnitz, Ernst August von 28 Stuß, Johann Heinrich 25 Sulzer, Johann Georg 53, 56 Teller, Wilhelm Abraham 93, 389 Tetens, Johann Nicolaus 42 Theoderich 37 Tiedemann, Dietrich 139

435

Personenregister

Tieftrunk, Johann Heinrich 119, 279, 427 Tissot, Samuel Auguste 36, 60 Toussaint, Jean Claude 122 Uechtritz, Friedrich Emil von 296 Unzer, Johann August 59 f. Valentinus 97 Vergil 284 Voltaire (eigtl. Arouet, François-Marie) 60 Voß, Johann Heinrich 26 f. Voß, Christian Friedrich 48 Walch, Johann Ernst Immanuel 68 Wangenheim, Wilhelm von 296 Wasianski, Ehregott Andreas Christoph 105, 249, 287 f.

Weidner, Johann David 32 f. Weidner, Josina 33 Weishaupt, Adam 18, 38, 40 f., 106, 112, 139, 142 f., 145 f., 148–150, 152, 226 Westfeld, Christian Friedrich Gotthard Henning 25 Wezel, Johann Karl 60 Wieland, Christoph Martin 34 f., 101 Will, Georg Andreas 45 Willmann, Karl Arnold 273 Wizenmann, Thomas 139, 173 Wöllner, Johann Christoph 93 Wolf s. Wolff Wolff, Christian 90, 130, 150 f., 153, 188 f., 192–194, 227, 281 Wolframm, Johann Christian 244 Zedlitz, Karl Abraham von 93 Zückert, Johann Friedrich 60

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