Salondamen und Frauenzimmer: Selbstemanzipation deutsch-jüdischer Frauen in zwei Jahrhunderten 9783110276633, 9783110276497

This volume unites portraits of Jewish women in Brandenburg-Prussia in their path to self-emancipation in religion, cult

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German Pages 170 [174] Year 2016

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Salondamen und Frauenzimmer: Selbstemanzipation deutsch-jüdischer Frauen in zwei Jahrhunderten
 9783110276633, 9783110276497

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Aufgeklärte Frauen – koschere Küche?
Manches mehr als Musen ... – Preußens „jüdische Salonièren“
Die Damen Mendelssohn und die Mode in Berlin zwischen 1760 und 1850
Emanzipiert aber keine Frauenrechtlerin! Ottilie Assing, ein engagiertes Leben zwischen Europa und Amerika
„Möge der Frauenverein blühen und gedeihen in alle Zukunft!“ Der Israelitische Frauenverein Potsdam und dessen Vorsitzende Anna Zielenziger
Kunst und Leben. Die Sammlerinnen Felicie Bernstein und Margarete Oppenheim
Gegenwart tanzen – schreiben – malen. Die Ausdruckformen der Neuen Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Berlin: Valeska Gert – Gabriele Tergit – Lotte Laserstein
Bauen für ein neues Land. Die Architektin Lotte Cohn zwischen Berlin und Erez Israel
„Ich bin eine Dichterin, ja, das weiß ich.“ Zum Selbstverständnis von Nelly Sachs, Gertrud Kolmar und Edith Anderson
Lebensklänge. Die Pianistin Ellen Epstein
Literaturverzeichnis
Verzeichnis der Autorinnen
Personenregister

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Salondamen und Frauenzimmer

Europäisch-jüdische Studien Beiträge

Herausgegeben vom Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Potsdam, in Kooperation mit dem Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg Redaktion: Werner Treß

Band 5

Salondamen und Frauenzimmer Selbstemanzipation deutsch-jüdischer Frauen in zwei Jahrhunderten Herausgegeben von Elke-Vera Kotowski

ISBN 978-3-11-027649-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-027663-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039549-5 ISSN-2192-9602 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Satz: Dr. Rainer Ostermann, München Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort

Vorwort

Wenn ich selbst mir nicht helfe, wer denn? und wenn nicht heute, wann dann? Hillel, Sprüche der Väter 1,14

Traditionell waren die Geschlechterrollen im Judentum klar getrennt. Das Studium der Tora und der Besuch des Lehrhauses galten ausschließlich als Domäne des Mannes und unterstrichen seine Vormachtstellung. Die jüdische Frau fand ihre Rolle ausschließlich als Hüterin des Hauses und wachte über die religiösen Gebote in den eigenen vier Wänden. Im Zuge der europäischen Aufklärung und insbesondere der Haskala (jüdische Aufklärung) lösten sich die traditio­nellen Rollen zunehmend auf. Innerhalb der Ende des 18. Jahrhunderts in Brandenburg-Preußen entstandenen Reformbewegung wurden erstmals Vorschläge zur (religiösen) Emanzipation der jüdischen Frau formuliert. Die Frauen forderten darüber hinaus zudem säkulare Bildung. Wie ihre Brüder wollten sie teilhaben an der Kultur der Umgebungsgesellschaft. Literatur, Kunst und Musik gewannen für sie eine größere Bedeutung als die Einhaltung der religiösen Gebote und ihre Beschränkung auf die Rolle als Hausfrau. Allerdings war es ein langer und vorwiegend selbstemanzipatorischer Weg, als Frau die rechtliche wie religiöse Gleichstellung zu erzielen. Selbstemanzipation, ein Begriff, der Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge des Zionismus aufkam, mag zunächst, nicht allein im Kontext der Frauenfrage, paradox klingen, doch wer sonst als die Frauen und hier die Jüdinnen selbst, die sich gleich in zweifacher Hinsicht emanzipieren mussten, hätten sich aus ihrer sozialen wie religiösen Abhängigkeit und Unmündigkeit befreien und ihre erkämpfte Autonomie halten können? Das vorangestellte Zitat aus den Sprüchen der Väter, das Hillel dem Älteren, einem berühmten vorchristlichen Rabbiner zugeschrieben wird, unterstreicht dieses Faktum nur zu treffend. Der vorliegende Sammelband, in dem ausschließlich Frauen über Frauen schreiben, widmet sich in einer historischen Abfolge beispielhaft jüdischen Frauen in Brandenburg-Preußen und ihrer Selbstemanzipation innerhalb der Familie, der Religion und der Gesellschaft. Im Focus stehen Repräsentantinnen der Kunst, Literatur, Musik, Politik, des Gemeinde- und Sozialwesens – die einen weitgehend bekannt, die anderen zu Unrecht in Vergessenheit geraten. Allen gemein war der Kampf um das Recht auf Selbstbestimmung und gesellschaftliche Gleichstellung als Frau aber auch als Jüdin. Die Beiträge spannen einen Bogen von der Zeit Friedrichs des Großen bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts und verfolgen den Einfluss der Salonièren auf das kulturelle Berlin, die wachsende weibliche Mitsprache in Politik und Gesellschaft sowie deren beruflichen Vorstoß in klassische Männerdomänen.

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 Vorwort

Unter dem Titel „Aufgeklärte Frauen – koschere Küche?“ eröffnet Annie Falk (Concordia, USA) die Thematik unter religionshistorischem Blickwinkel und verweist auf die zunehmende Liberalisierung der jüdischen Speisegesetze (kaschrut) in deutsch-jüdischen Haushalten seit Ende des 18. Jahrhunderts. Liberalen Rabbinern erschien eine Reform der Gottesdienste weit wichtiger als die des weiblich dominierten Bereiches der Küche, sodass die Auseinandersetzung mit den Speisegesetzen und ihren Auslegungen zunehmend in den von Jüdinnen verfassten Kochbüchern stattfand. Diese nahmen sich dem Thema jedoch nicht als professionelle Köchinnen oder gar autorisierte Interpretinnen der Speisegesetze an, sondern beriefen sich stattdessen auf ihre langjährige Erfahrung als Hausfrauen und Führerinnen jüdischer Küche. Das erste jüdische Kochbuch erschien 1815 in deutscher Sprache, in den nächsten Jahrzehnten folgten Dutzende weitere, in denen fortan wichtige Aspekte der jüdischen Gesetze diskutiert wurden. Im Anschluss stellt Hanna Lotte Lund (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften) unter dem Motto „Manches mehr als Musen ... Preußens ,jüdische Salonièren‘“ um 1800 vor. Aufgrund einer eher schwierigen Quellenlage und des Reizes großer Namen sind bisher leider oft anstelle von wissenschaftlicher Forschung Legenden geschaffen worden. So sind die Lebensläufe der Salonièren facettenreicher als es vielfach dargestellt wird. Jene legendären jüdischen Salonièren lassen sich nicht auf die Rolle bloßer Musen oder Moderatorinnen großer Männer reduzieren. Ganz im Gegenteil. Mit ihrer Bildung und ihrem Inter­ esse an zeitgenössischen Diskursen können sie eher als Maskilot, d.h. weibliche Maskilim (jüdische Aufklärer) charakterisiert werden. Noch heute stellen die Motive zur Konversion, das jeweilige Selbstverständnis und das berufliche Engagement jüdischer Salonfrauen Forschungsdesiderate dar. Am Beispiel von drei Generationen der Familie Mendelssohn zeigt Elke von Nieding in ihrem Beitrag „Die Damen Mendelssohn und die Mode in Berlin zwischen 1760 und 1850“ wie modebewusst die Salonièren waren, aber ebenso unter welchem Modediktat sie bei der Wahl ihrer Kleidung standen. Die Autorin eröffnet damit eine Perspektive sowohl des Modebewusstseins der Töchter- und Enkelinnengeneration von Fromet Mendelssohn, die den neuesten Chic aus Paris in die Berliner Salons trugen; aber damit einher ging oftmals auch eine zunehmende Abkehr von den Traditionen der Elterngeneration, die nicht selten zur Konversion vom Judentum zum Christentum führte, wie es sich am Beispiel der Tochter Brendel Mendelssohn zeigt. Dass es den aufgeklärten jüdischen Frauen (Maskilot) nicht allein um Mode und Salonkultur ging, zeigt Jutta Dick (Moses Mendelssohn Akademie, Halberstadt) in ihrem Beitrag „Emanzipiert aber keine Frauenrechtlerin! Ottilie Assing, ein engagiertes Leben zwischen Europa und Amerika“. Die 1819 in Hamburg geboren Ottilie Assing beteiligte sich schon früh an den politischen Diskussio-



Vorwort 

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nen und Leseabenden im Salon ihrer Mutter Rosa Maria Varnhagen, die unter anderem Heinrich Heine und die Dichter des Jungen Deutschland empfing. Nach dem Tod ihrer Eltern siedelte sie 1842 gemeinsam mit ihrer Schwester Ludmilla zu ihrem Onkel Karl August Varnhagen von Enses nach Berlin über. 1852 emigrierte Ottilie Assing in die USA, wo sie die Nachfolge der Jugendfreundin ihrer Mutter, Amalie Schoppe, als Korrespondentin beim Morgenblatt für gebildete Leser antrat. Sie schloss sich der Anti-Sklaverei-Bewegung an und lernte den Bürgerrechtler Frederick Douglass kennen, dessen Biographie sie ins Deutsche übersetze. Zudem wurde sie seine wichtigste Mitarbeiterin und Geliebte. Ein Jahr nach dem Tod ihrer Schwester Ludmilla kehrte Ottilie Assing 1881 nach Europa zurück und verstarb drei Jahre später in Paris. Jeanette Toussaint (Potsdam) zeichnet in ihrem Beitrag „,Möge der Frauenverein blühen und gedeihen in alle Zukunft!‘. Der Israelitische Frauenverein Potsdam und dessen Vorsitzende Anna Zielenziger“ exemplarisch die Entwicklung des deutschen Judentums vom wirtschaftlichen und kulturellen Aufstieg Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Verfolgung und Ermordung im 20. Jahrhundert am Beispiel der Biographie Anna Zielenzigers (1867–1943) nach. Anhand der aus Glogau stammenden und zur Hochzeit mit einem Kaufmann 1888 nach Potsdam gezogenen Zielenziger zeigt Toussaint zudem auf, wie jüdische Frauen in der deutschen Gesellschaft und innerhalb ihrer religiösen Gemeinschaft für Gleichberechtigung kämpften. So gründeten sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt jüdische Frauenvereine, deren Ziel die gleichberechtigte Anerkennung von Frauen im Gemeinde- und Berufsleben war. Zielenziger übernahm 1906 für mehr als 30 Jahre den Vorsitz des 1851 gegründeten Israelitischen Frauenvereins Potsdam. Im Anschluss daran beschäftigen sich Anna-Carolin Augustin (Jüdisches Museum, Berlin) und Anna-Dorothea Ludewig (Moses Mendelssohn Zentrum, Potsdam) in ihrem Beitrag „Kunst und Leben“ mit den Kunstsammlerinnen und Mäzeninnen Felicie Bernstein (1852–1908) und Margarethe Oppenheim (1857–1935), welche in Berlin mit ihrem ausgeprägten Kunstverständnis in eine Männerdomäne einbrachen. Anhand dieser beiden Protagonistinnen werfen die Autorinnen die Frage nach einer weiblichen Kunstperspektive jenseits von konservativen und antiemanzipatorischen Ansätzen auf und skizzieren Geschlechterbilder innerhalb der weitgehend männlich dominierten Kunstwelt. So galten Frauen zwar als stilsicher, künstlerischer und wissenschaftlicher Sachverstand wurden hingegen von männlicher Seite ausschließlich dem eigenen Geschlecht zugeschrieben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestand für Frauen erstmals die Möglichkeit an einer Universität zu studieren und damit die bisherigen Schranken einer akademischen Ausbildung zu überwinden. Sowohl in den Künsten als auch in den

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 Vorwort

Geistes- und Naturwissenschaften stürmten junge Akademikerinnen die Hörsäle der Akademien und Hochschulen. Elke-Vera Kotowski (Moses Mendelssohn Zentrum, Potsdam) stellt in ihrem Beitrag „Gegenwart tanzen – schreiben – malen. Die Ausdrucksformen der Neuen Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Berlin“ gleich drei Protagonistinnen der Weimarer Republik vor: die Tänzerin und Avantgardistin Valeska Gert (1892–1978), die Schriftstellerin und Chronistin Gabriele Tergit (1894–1982) und die Malerin und neusachliche Porträtistin Lotte Laserstein (1898–1993). Alle drei repräsentieren in unterschiedlichen Genres jenen Typus der Neuen Frau zwischen Kaiser- und „Drittem“ Reich: emanzipiert, selbstbewusst und gestaltend. Um die Jahrhundertwende geboren, erobern sie die Großstadt und entwickeln wie Seismografen Sensoren, mit denen sie den Puls der Zeit darstellen aber genauso bestimmen. Auf dem Höhepunkt ihrer Karrieren wurden sie nach dem Sieg der Nationalsozialisten aus Deutschland vertrieben und ihr Schaffen als „entartet“ verfemt. Die 1893 in Berlin geborene Architektin Lotte Cohn (1893–1983) kam ihrer Vertreibung zuvor. Ines Sonder (Moses Mendelssohn Zentrum, Potsdam) verweist in ihrem Beitrag „Bauen für ein neues Land“ auf jene Entschlusskraft ihrer Protagonistin, die schon früh erklärte, Architektin werden zu wollen. Im Alter von 23 Jahren legte Lotte Cohn als eine der ersten Frauen die Diplom-Prüfung an der TH Charlottenburg ab. Mit ihrer Einwanderung in das heutige Israel war Cohn 1921 nicht nur eine der ersten deutschsprachigen Zionisten der Dritten Alijah (Einwanderungswelle), sie war auch die erste graduierte Architektin des Landes. Fast fünf Jahrzehnte lang beteiligte sie sich maßgeblich am Aufbau Israels. Helen Thein (Zentrum für zeithistorische Forschung, Potsdam) untersucht in ihrem Beitrag „,Ich bin eine Dichterin, ja, das weiß ich.‘ Zum Selbstverständnis von Nelly Sachs, Gertrud Kolmar und Edith Anderson“ jenes „Schreiben ohne Ort“ und verweist auf die schwierigen Lebens- und Schreibbedingungen jüdischer Autorinnen im Exil. Die Pianistin Senka Brankovic bestärkt in ihrem Beitrag „Lebensklänge“ die von Hanna Lotte Lund zu Beginn formulierte These, dass deutsch-jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert nicht nur Musen, sondern auch gestaltende Künstlerinnen oder einflussreiche Beraterinnen waren, so beispielsweise die Pianistin Ellen Epstein (1898–1942), deren nur schwer zu rekonstruierende Biographie hier vorgestellt wird. Nur wenige der hier vorgestellten Frauen sind heute noch bekannt, geschweige denn im kollektiven Gedächtnis der deutschen Gesellschaft verankert. Es ist das Verdienst der hier schreibenden und auf andere Forscherinnen und Forscher verweisenden Frauen, die allesamt durch ihre Rechercheergebnisse einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungskultur geleistet haben und noch immer leisten. Indem sie



Vorwort 

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sich der hier vorgestellten Salondamen und „Frauenzimmer“, aber auch Pionierinnen, Chronistinnen, Künstlerinnen und ungemein starken Frauen annahmen, haben sie dazu beigetragen, jene bemerkenswerten Frauengestalten nicht nur in Erinnerung zu rufen, sondern auch deren bemerkenswerte Leistungen zu würdigen. Daher danke ich allen Autorinnen sehr herzlich für ihre in diesem Band vereinten Beiträge. Die Herausgeberin

Inhalt Vorwort 

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Annie Falk Aufgeklärte Frauen – koschere Küche? 

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Hannah Lotte Lund Manches mehr als Musen ... – Preußens „jüdische Salonièren“

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Elke von Nieding Die Damen Mendelssohn und die Mode in Berlin zwischen 1760 und 1850  29 Jutta Dick Emanzipiert aber keine Frauenrechtlerin! Ottilie Assing, ein engagiertes Leben zwischen Europa und Amerika Jeanette Toussaint „Möge der Frauenverein blühen und gedeihen in alle Zukunft!“ Der Israelitische Frauenverein Potsdam und dessen Vorsitzende Anna Zielenziger  53 Anna-Carolin Augustin und Anna-Dorothea Ludewig Kunst und Leben Die Sammlerinnen Felicie Bernstein und Margarete Oppenheim

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Elke-Vera Kotowski Gegenwart tanzen – schreiben – malen Die Ausdruckformen der Neuen Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Berlin: Valeska Gert – Gabriele Tergit – Lotte Laserstein  89 Ines Sonder Bauen für ein neues Land Die Architektin Lotte Cohn zwischen Berlin und Erez Israel Helen Thein „Ich bin eine Dichterin, ja, das weiß ich.“ Zum Selbstverständnis von Nelly Sachs, Gertrud Kolmar und Edith Anderson  119

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 Inhalt

Senka Brankovicz Lebensklänge. Die Pianistin Ellen Epstein Literaturverzeichnis

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Verzeichnis der Autorinnen Personenregister Inhalt

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Annie Falk

Aufgeklärte Frauen – koschere Küche? Die jüdischen Speisegesetze (auch kaschrut genannt) bilden einen wichtigen Bestandteil der jüdischen Religion und sind ein wesentliches Element ihrer Ausübung im alltäglichen Leben. Die drei Hauptregeln der jüdischen Küche, bis heute von frommen Juden aus aller Welt befolgt, werden aus biblischen Versen abgeleitet. Diese Hauptregeln finden sich in den Fünf Büchern Mose, der Tora. Erstens werden im 3. Buch Mose, dem Buch Levitikus, bestimmte Tiere, wie bekanntlich das Schwein, für unrein erklärt und ihr Verzehr ausdrücklich verboten. Zweitens wird die Mischung von Fleisch und Milch untersagt, ein Verbot, das auf die Auslegung des biblischen Verses „Du sollst ein Boeckchen nicht in der Milch seiner Mutter kochen“ (Ex. 34.26) zurückgeht. Drittens wird es den Israeliten auch verboten, Blut zu konsumieren (Lev 17.11–12: „Keine Seele von euch soll Blut essen [...] Denn die Seele des Fleisches ist im Blut.“). Daher darf nur das Fleisch eines Tieres verzehrt werden, das von einem Schochet, d.h. einem rituellen Schlachter, geschlachtet wird, der das völlige Ausbluten des Tieres zu gewährleisten vermag. Aus diesen drei Gesetzen hat sich eine ganze Tradition des Kochens und des Essens entwickelt, die den heutigen Juden noch mit dem Israeliten der biblischen Zeit verbindet. Die Gebote und Verbote, die bei der Vorbereitung des Essens eingehalten werden, die typischen Gerichte, die immer wieder auf den Tisch kommen, und die Gebete, die während der Mahlzeit gesprochen werden, machen die jüdische Tafel zu einem heiligen Ort des rituellen Verhaltens im Alltag und zu einer identitätsstiftenden Stätte, an der sich die Grenzen zwischen Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem im gemeinsamen Mahl verwischen. Gleichwohl wäre es falsch zu behaupten, dass die Speisegesetze statische Vorschriften seien, die im Lauf der Zeit keinen Veränderungen unterworfen waren. In Perioden der zunehmenden Pietät, wie z.B. in der sich entwickelnden chassidischen Bewegung, intensivierten die Frommen die Observanz der Vorschriften. In Zeiten der allmählichen Lockerung der Tradition stellten hingegen Kritiker die Relevanz der Speisegesetze in Frage. Man denke in diesem Zusammenhang an die Zeit der Aufklärung im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts. Die deutsche Aufklärung war keineswegs religionsfeindlich und verhältnismäßig tolerant, was ihre Einstellung zur jüdischen Religion anging. Gleichwohl förderten die Aufklärer eine Auffassung der Religion, die letztendlich einen durchgreifenden Wandel in der Observanz der Speisegesetze verursachte. Laut aufklärerischem Denken lag der Sinn der Religion nicht etwa in Offenbarungsmythen oder vernunftwidrigen Dogmen, sondern in rationalen Wahrheiten und in der Erbauung der Seele zur Tugend. Alles, was in der Religion als unvernünftig erschien, wie z.B. absonder-

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liche Riten oder geheimnisvolle Praktiken, deren tieferer Sinn dem Ausübenden verborgen blieb, wurde von den christlichen wie auch den jüdischen Aufklärern heftig kritisiert. Das Judentum wurde als eine Religion verstanden, die sich eher mit der Erfüllung dieser absonderlichen Gesetze beschäftigte als mit der Erziehung des Menschen zur Sittlichkeit. Die Juden und ihre „lächerlichen Gebräuche“ und „absurden Zeremonien“ – so lautete die typische Kritik am Judentum sowohl in antisemitischen Pamphleten wie Karl Grattenauers Über die physische und moralische Verfassung der heutigen Juden (1791) als auch in Foren der jüdischen Reformbewegung wie beispielsweise der Zeitschrift Sulamith (1805). Als plakatives Beispiel dieses jüdischen Hangs zu „lächerlichen Gebräuchen“ könnten die Speisegesetze betrachtet werden. Für die radikalsten Reformer der jüdischen Religion erschienen sie a) als vernunftwidrig, da kein Jude verstand, warum er die Gebote und Verbote einhielt, wie auch b) als irrelevant, da die Observanz der Gesetze dem sogenannten wahren Zweck der Religion, d.h. der moralischen Erbauung, auf keiner Weise diente. Was habe das Verbot des Schweine­fleisches mit dem tieferen Sinn der Religion zu tun? Inwiefern erbaue und bilde sich ein Mensch moralisch, indem er Milch von Fleisch trenne? In einer furiosen Schrift aus dem Jahre 1847 setzte sich der radikale Reformer Samuel Holdheim für die Abschaffung der Speisegesetze ein: [Wenn] wir mit der Beobachtung der Speisegesetze keine Idee zu verbinden vermögen, so können wir sie als vernünftige Menschen nicht mehr halten, wir müßten sie denn sklavisch wie ein Joch auf unsere Schultern legen. […] Wir sind aus dem ganzen Gedankenkreis des Alterthums herausgetreten, und keine Macht kann uns wieder in sie hineinzaubern. Was einst heilig und rein war, hat aufgehört ein solches zu sein, ebenso das, was einst als unrein und unheilig gegolten. Wir kennen keine andere Heiligkeit als eine sittliche und haben keinen Begriff mehr vom Unreinen als eben vom sittlich Unreinen.1

Aus diesen Zeilen lässt sich der Problemkomplex deutlich herauslesen, nämlich dass die antirituelle Tendenz der Aufklärung sich mit dem rituellen Charakter des mosaischen Zeremonialgesetzes schwer versöhnen ließ. Das rituelle Vorgehen, das die Speisegesetze vorschrieben, sorgte aber darüber hinaus für weitere Konflikte mit dem Zeitgeist des frühen 19. Jahrhunderts. Die Aufklärung brachte bekanntlich die Verbürgerlichung sowohl für den aufkommenden christlichen Bürgerstand als auch für das deutsche Judentum mit sich. Verbürgerlichung hieß in erster Linie für die Juden Staatsbürger werden, d.h. das Bürgerrecht erteilt zu 1 Holdheim, Samuel: Materialien zu einem Commisionsbericht über die Speisegesetze. In: Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie 2 (1847). S. 59–61.



Aufgeklärte Frauen – koschere Küche? 

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bekommen. Das Wort beinhaltete aber eine weitere Bedeutung für die Juden: Sie sollten nicht nur Bürger werden, d.h. zivile Rechte erhalten, sondern auch bürgerlich werden, d.h. sittliches und geselliges Betragen erwerben. Auch in diesem Zusammenhang gerieten die koschere jüdische Tafel und ihre Vorbereitung in Konflikt mit dem Wunschbild, das hinter dem Begriff der sozialen Verbürgerlichung steckte. Seit mehr als einem Jahrtausend galt die jüdische Küche in den Augen ihrer Verächter als eine moralisch verdorbene und sittlich abstoßende Stätte. An diesem Ort – so die uralte Anschuldigung des Ritualmords – würden jedes Jahr zu Ostern unschuldige christliche Kinder ermordet und ihr Blut im Passah-Brot verzehrt. An diesem Ort würden jährliche Feste auf unanständige Weise gefeiert und groteske Exzesse betrieben. Und an diesem Ort übten die Juden seit der biblischen Zeit ihre berüchtigte Ungeselligkeit aus, indem sie es verweigerten, am selben Tisch mit einem Goj (d.h. einem Nichtjuden) zu sitzen und Brot mit ihm zu teilen. In einer Rezension von Christian Wilhelm Dohms Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, der Schrift, die 1781 die Debatte um die Emanzipation der Juden in Deutschland auslöste, äußerte der Orientalist Johann David Michaelis seine Bedenken, dass die Juden jemals imstande sein würden, in bürgerliche Verhältnisse mit den Deutschen zu treten: „Solange die Juden Moses’ Gesetze halten, solange sie z.E. nicht mit uns zusammen speisen und bey Mahlzeiten oder der Niedrige im Bierkrug vertrauliche Freundschaft machen können, werden sie [...] nie mit uns so zusammenschmelzen, wie Catholike und Lutheraner, Deutscher, Wende und Franzose, die in einem Staat leben.“2 Es zeigt sich, dass in der Zeit des frühen 19. Jahrhunderts die jüdische Küche plötzlich unzeitgemäß wurde. Die Speisegesetze verloren immer mehr an Überzeugungskraft, und die Umgangsformen an der jüdischen Tafel begannen dem aufwärts strebenden Juden selber peinlich zu werden. Den Impuls zur Reform gab es auf jeden Fall, aber von den einzelnen oben zitierten Fällen ausgenommen, wurde diesem Thema in der jüdischen Reformbewegung eigentlich wenig öffentliche Aufmerksamkeit geschenkt. Die liberalen Rabbiner, die eine Erneuerung des Judentums anstrebten, konzentrierten sich eher auf eine Reform des Gottesdienstes und der Schulen und kümmerten sich wenig um die privaten Angelegenheiten der Küche. In den Schriften der Reformbewegung ist daher kein festes Bild erkennbar, wie die Reformrabbiner sich die moderne jüdische Küche vorstellten und wie sie sich die Zukunft der Vorschriften dachten. Die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Relevanz der Speisegesetze in einem liberalisierenden, modernisierenden, reformierenden Jahrhundert blieb in diesen Foren vorwiegend aus und fand eher anderswo statt – und zwar in Kochbüchern, in 2 Dohm, Christian Wilhelm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Zweyter Theil. Mit Königl. Preußischen Privilegio. http://deutsch-juedische-publizistik.de/dohm.shtml. S. 11 (8.10.2015).

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denen eine Reihe jüdischer Frauen sich dem Thema widmete und die Zukunft dieses wichtigen Aspektes des jüdischen Gesetzes entscheidend bestimmte. 1815 wurde das erste jüdische Kochbuch in deutscher Sprache veröffentlicht und die Gattung somit ‚erfunden‘. Im darauffolgenden Jahrhundert erschienen mehr als zwei Dutzend weitere Kochbücher, alle von jüdischen Frauen verfasst. Die Tatsache mag nicht sonderlich überraschen. Als ein weiblich dominierter Bereich gehörte die Küche der Sphäre der Frau an. In ihrer Rolle als Hausfrau regelte die jüdische Frau die Angelegenheiten der Küche und verfügte deshalb am ehesten über das Fachwissen, das zum Verfassen eines jüdischen Kochbuchs erforderlich war. Das Hinaustreten aus der privaten Sphäre in die Öffentlichkeit und das Übernehmen der öffentlichen Rolle der Autorin stellte hingegen etwas definitiv Neues für die jüdische Frau dar. Durch den Akt des Schreibens wurde ihr eine Autorität zuteil, die der typischen Hausfrau der Zeit fehlte. Durch den Akt des Auslegens gelangte sie zu noch größerer Autorität. In der Tat gaben die jeweiligen Autorinnen Anweisungen nicht nur zur Vorbereitung bestimmter Gerichte, sondern auch zur Führung einer religiösen Küche nach den Speisegesetzen, die sie dann aber für ihr Publikum auslegten bzw. revidierten. Die Aufgabe des Auslegens des jüdischen Gesetzes war ein Privileg, das in der Regel den männlichen Studenten des Judentums vorbehalten blieb. In diesem Fall wurden aber die Kochbuchverfasserinnen de facto zu Interpretinnen des mosaischen Zeremonialgesetzes, indem sie und nicht die Rabbiner für die Öffentlichkeit auslegten, was die Vorschriften eigentlich bedeuteten, inwiefern sie eingehalten werden sollten und auf welche Art und Weise sie in Einklang mit der modernen Zeit zu bringen waren. Dadurch lag die Zukunft der Speisegesetze in den Händen der jüdischen Frau bzw. Kochbuchautorin, der die Aufgabe zufiel, eine aufgeklärte und verbürgerlichte koschere Küche zu erfinden. Das erste Kochbuch, von dem hier die Rede sein soll, wurde 1851 in Berlin von Rebekka Wolf verfasst und trägt den Namen Kochbuch für israelitische Frauen. Im Vorwort berichtet die Autorin von ihren Absichten: Dieses Buch ist zunächst für solche israelitische Frauen und Bräute bestimmt, welche eine religiöse Wirthschaft zu führen wünschen. [...] Es trifft sich nicht selten, daß Töchter im elterlichen Hause nicht Gelegenheit haben, sich mit diesen religiösen Gebräuchen bekannt zu machen und deshalb in große Verlegenheit gerathen, wenn religiös gesinnte Männer sie zu Hausfrauen begehren.3

3 Wolf, Rebekka: Kochbuch für israelitische Frauen, enthaltend die verschiedensten Koch- und Backarten sowie einer genauen Anweisung zur Einrichtung und Führung einer religiös-jüdischen Haushaltung. Berlin 1851. S. III–IV.



Aufgeklärte Frauen – koschere Küche? 

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Der Einfluss der Reformbewegung auf die Lebensweise der damaligen Juden lässt sich aus diesen Zeilen herauslesen. Es sind die Töchter unfrommer Juden, an die Wolf appelliert, die nun zum traditionellen Judentum wiederkehren möchten, aber das rituelle Gesetz gar nicht kennen. Wolf sieht also ihr weibliches Publikum als mindestens zwei Generationen vom frommen traditionellen Judentum entfernt. Vielleicht gerade deswegen fasst Wolf die Vorschriften so genau auf. Man liest zum Beispiel ihre haarscharfe Anweisung zur Einrichtung der Küche: [E]in religiös-jüdischer Haushalt muß folgendermaßen eingerichtet sein: In der Küche muß sich zweierlei Geschirr befinden, zu Fleischspeisen und zu Milchspeisen. Darunter ist von jeder dieser beiden Arten begriffen: Koch- und Speisegeschirr, Messer, Gabel und Löffel, Salzmetzen, Schleifbretter, hölzerne Löffel [...] verschiedene Bretter, Aufwaschgefässe, und zu jedem ein besonderes Küchenhandtuch und besondere Messerlappen. Ferner zwei Tische und zwei kleinere Küchenspinden [...] In der Stube müßen zwei Tischtücher im Gebrauch sein, eins zu Fleisch- und eins zu Milchspeisen.4

Von Zugeständnissen an die Forderungen des Reformjudentums ist in dieser Schilderung nirgendwo die Rede. Genauso wenig kann man Nachlässigkeit finden, wenn Wolf vorschreibt, wie Fleisch und Geflügel koscher gemacht werden, welches Vorgehen am Sabbatabend erwartet wird, und welche Gebete bei verschiedenen Mahlzeiten verlesen werden müssen. Diese orthodoxe Haltung kommt auch in den individuellen Rezepten zum Ausdruck. Die Sortierung der Rezepte reflektiert die Vorschriften, die die Mischung von Milch und Fleisch verbieten: „von Fleisch-Suppen; von künstlichen mit Fett bereiteten Suppen; künstliche, ohne Fett bereitete Suppen; künstliche Suppen zu Milchsuppen.“ Auch zwischen Butter und Fett (in der Regel Gänsefett, d.h. fleischig) unterscheidet Wolf sehr deutlich in den jeweiligen Rezepten. Man liest zum Beispiel dieses Rezept für dicken Reis: „Will man ihn zu Fleischspeisen haben, quillt man ihn [...] im Wasser mit vielem Fett und Salz oder in Fleischbrühe aus [...] Oder will man ihn als Milchspeise, so setzt man ihn mit Milch oder halb Wasser halb Milch mit etwas Butter und Salz an, läßt ihn dick ausquellen [...].“5 Auch dieses Rezept für Pasteten liefert Wolf: „Da wir Fleisch nicht mit Butter vermischen dürfen, so können wir zu den Fleischpasteten keinen Blätterteig, sondern nur einen mürben Teig nehmen wie derselbe bei Torten angegeben wird.“6 An solchen Sätzen sieht man, dass Wolf den Klagen der Reformer und dem Zweifel an den Speisegesetzen nicht nachgibt. Die Autorin geht zwar 4 Wolf, Kochbuch (wie Anm. 3), S. 2. 5 Wolf, Kochbuch (wie Anm. 3), S. 65. 6 Wolf, Kochbuch (wie Anm. 3), S. 87.

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 Annie Falk

davon aus, dass die jüngere Generation den Umgangsformen der traditionellen jüdischen Küche fernsteht, aber indem sie es sich zur Aufgabe macht, „für diese jungen Mädchen [… ein] in allen Anforderungen einer religiös-jüdischen Wirtschaft belehrendes Buch“7 zu liefern, scheint sie den Geist der Reform überhören zu wollen. Es ist ein sehr traditionelles Buch, das Wolf verfasst, das vor allem auf Kontinuität der Tradition und strenger Einhaltung des rituellen Gesetzes besteht. Anders verhält es sich mit dem nächsten Werk, das hier in Betracht kommt, nämlich das Israelitische Kochbuch von Rebekka Hertz.8 In diesem Kochbuch lässt sich vor allem der Einfluss des Verbürgerlichungsprozesses auf die jüdische Küche des späten 19. Jahrhunderts deutlich feststellen. Die Titelseite gibt zwar deutlich zu erkennen, dass das Kochbuch ein jüdisches und für jüdische Frauen bestimmt ist: „gründliche Anweisungen, alle Arten Speisen, vorzüglich die Originalgerichte der israelitische Küche nach den Ritual-Gesetzen zu bereiten. Nach fünfzigjährigen Erfahrungen gesammelte und bewährte Rezepte.“ Indem sie auf die Ritualgesetze Bezug nimmt und an die Tradition appelliert, verfolgt Hertz eine anscheinend ähnliche Strategie wie Wolf. Die Verfasserin fügt aber dann eine zusätzliche Unterschrift hinzu: Anleitung zur Tranchir-, Servir- und ServiettenlegeKunst mit Illustrationen. In der Tat unterscheidet sich das Israelitische Kochbuch von Wolfs Kochbuch für israelitische Frauen in der Art und Weise, wie Hertz sich bemüht, ihren Leserinnen diese Aspekte der Kochkunst beizubringen. Auf dem Programm stehen nicht nur Anweisungen zur Führung einer koscheren Küche, sondern auch Ratschläge zur Erwerbung und Anwendung bürgerlicher Umgangsformen am Tisch. Die verschiedenen Regeln der Etikette und der Tischmanieren scheinen der Autorin sogar wichtiger als die Anordnungen der Speisegesetze. Diese neue Richtung lässt sich in einer Untersuchung verschiedener Textpassagen nachweisen. Von explizit jüdischen Themen ist sehr selten die Rede in diesem Kochbuch. Man könnte zwar einräumen, dass Hertz auf den ersten Seiten des Textes erklärt, was die Speisegesetze sind, wie Fleisch koscher gemacht wird, wie eine koschere Küche eingerichtet sein soll und wie das Passah-Fest (Pessach) gefeiert wird. Danach hören dann aber alle Hinweise auf das Jüdische völlig auf. Von der Einleitung ausgenommen scheint die Autorin das Thema ignorieren zu wollen. Anders als Wolf gibt Hertz in den individuellen Rezepten z.B. keine Hinweise, wie ein Gericht milchig bzw. fleischig vorbereitet werden kann. „Fett“ wird als generalisierter Begriff angegeben und zwischen Butter und Gänsefett keine Unterscheidung gemacht. Dadurch wird die ganze Problematik der Trennung von Milchund Fleischspeisen sublimiert. Wenn die Autorin hingegen darauf Bezug nimmt, 7 Wolf, Kochbuch (wie Anm. 3), S. IV. 8 Hertz, Rebekka: Israelitisches Kochbuch. Berlin 1890.



Aufgeklärte Frauen – koschere Küche? 

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artikuliert sie sich äußerst diplomatisch: „Geeigneten Falles können Butter und Käse apart serviert werden“9, heißt es an einer Stelle. Diese Strategie des Euphemismus wird ignoriert, wenn es um die Menüzusammenstellungen geht. Am Ende des Buches gibt Hertz allerlei Vorschläge, wie Gäste zu bewirten und Gesellschaftstafeln zu gestalten sind. Im Kontrast zu Wolfs eher praktischen Anweisungen und Vorschlägen liefert Hertz hochstilisierte Menüs für verschiedene Gelegenheiten. Auffallend ist vor allem, wie anspruchsvoll die Menüs sind. Hertzs Bemühungen, ihren Leserinnen die Vorteile der feineren bürgerlichen Küche anzuempfehlen, sind nicht zu übersehen. In ihren Bestrebungen nach Vornehmheit gerät Hertz aber immer wieder in Konflikt mit dem jüdischen Ritual­ gesetz. Man findet z.B. Menüs, bei denen zuerst ein Braten auf den Tisch kommt und dann zum Dessert eine Torte mit Butterteig serviert wird, oder nach einem Fleischgericht Rahm zum Kaffee angeboten wird. Dadurch wird das Kochbuch zu einem Dokument der Widersprüchlichkeit. In der Einleitung werden zwar die Vorschriften, wie sie theoretisch aufzufassen sind, beschrieben, aber am Schluss werden sie in der Praxis, d.h. in den Menüs vernachlässigt. Die Widersprüche rühren sicherlich daher, dass Hertz bemüht ist, zwei gegensätzlichen Anforderungen nachzukommen, nämlich der Einhaltung traditioneller Umgangsformen und der Entwicklung bürgerlicher Etikette. Diese zwei Richtlinien lassen sich ohne bestimmte Kompromisse nicht vereinbaren, und daher muss die Autorin bessere Formulierungen hinsichtlich der Observanz der Speisegesetze finden. Denn letztendlich ist klar, welche Richtung die Autorin einschlägt. Ihre Absicht, die jüdische Tafel bürgerlich zu gestalten, erhält bei ihr ohne Zweifel den Vorrang. Diese Tendenz lässt sich zum Beispiel in den verschiedenen Kapiteln zu Themen wie „Anleitung zum Tranchiren; Die Kunst des Serviettenlegens; Das Tafeldecken und Servieren“ feststellen sowie in Rezepten für Eis und Gelee, Essenskategorien, die gar nicht zu den traditionellen Speisen der jüdischen Küche gehören. Anders als Wolf interessiert sich Hertz eigentlich nicht so sehr dafür, ihren Leserinnen beizubringen, wie man einen jüdischen-religiösen Haushalt führt. Wie man als Jüdin ein geselliges Haus und eine vornehme Tafel gestalten kann – darauf zielt Hertz in ihren Anweisungen. Ein Appell an die Traditionen der jüdischen Küche geht nicht ganz verloren, aber es liest sich eher wie ein Lippenbekenntnis. Obwohl Hertz keinen öffentlichen Bruch mit der traditionellen jüdischen Küche vorschlägt, bahnt ihr Kochbuch den Weg zu einer jüdischen Tafel, an der die Speisegesetze keine dominante Rolle mehr spielen. Man könnte nun leicht glauben, dass im Lauf des 19. Jahrhunderts die Lockerung der Tradition immer stärker wurde und dass jedes neue Kochbuch immer weiter von den Vorschriften abwich. Das letzte Kochbuch, von dem hier die Rede 9 Hertz, Israelitisches Kochbuch (wie Anm. 8), S. 314.

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sein soll, beweist jedoch das Gegenteil. Ein sehr außergewöhnliches Beispiel bietet das Kochbuch des Jüdischen Frauenbundes aus dem Jahre 1926, dessen Verfasserinnen es sich explizit zur Aufgabe erklärten, „die Voraussetzungen und Forderungen der neuen Zeit in Einklang zu bringen mit der treuen Erfüllung religiöser Pflichten“10. Sehr bewusst verfolgen die Autorinnen dieses Ziel im Vorwort des Buchs. Die ersten Sätze berichten von der „modernen Zeit“ in der die Bedeutung der Hausarbeit ein neues Gewicht erhalten hat: Die Tätigkeit der Frau im Haushalt findet in unsere Zeit eine ganz neue Anerkennung [...] Die geistig geschulte, an systematisches Arbeiten und klares Denken gewöhnte Frau hat in ihr ursprünglichstes und eigenstes Gebiet, die Haushaltführung, einen neuen Geist gebracht. Wissenschaftlichkeit und systematisches Arbeiten, straffe Organisation sind die Merkmale unserer neuen Arbeitsweise auch im Hause, und wir versuchen, mit dem geringsten Aufwand an Zeit, an Material und Geld das Bestmöglichste zu erreichen.11

Der neue Ton ist nicht zu überhören – mit Begriffen wie „geistig geschult“, „systematische Arbeit“ und „klares Denken“ bringen die Verfasserinnen die Arbeit der Hausfrau in Zusammenhang mit dem wissenschaftlichen Geist der Moderne. Aber es ist nicht nur die Arbeit der Hausfrau, die neu gedacht wird, sondern auch die jüdische Küche. An einer Stelle schreiben die Autorinnen z.B. von der Eintracht, die zwischen den Vorschriften und der wissenschaftlichen Richtung der Zeit erreicht werden kann: Unbeschränkt und unbegrenzt […] läßt das Religionsgesetz den Genuß der Vegetabilien zu. Gemüse und Obst, die Lieblinge der neuen Ernährungswissenschaft, stehen in ihrer ganzen Fülle uns zur Verfügung; und nichts hindert die jüdische Frau, sich nach den neuesten Ergebnissen der Wissenschaft zu richten.12

Äußerst faszinierend ist die Art und Weise, wie die Verfasserinnen sich bemühen, eine Auslegung der Speisegesetze zu liefern. Wie bei Wolf und Hertz werden die Vorschriften detailliert beschrieben, aber die Autorinnen fühlen sich weiter dazu genötigt, Gründe für die verschiedenen Vorschriften anzugeben. Bei der Beschreibung der Trennung von Milch und Fleisch z.B. wird folgende Erklärung gegeben: „Der erste Grund für diese Bestimmung ist wohl eine Empfindung der einfachen Menschlichkeit. Es ist grausam, das junge Tier in der Milch der Mutter zu kochen.“13 Über die Untersuchung eines geschlachteten Tieres auf innerliche 10 Kochbuch für die jüdische Küche. Hrsg. v. Verlag Jüdischer Frauenbund Berlin. Düsseldorf 1926. 11 Kochbuch für die jüdische Küche (wie Anm. 10), S. V. 12 Kochbuch für die jüdische Küche (wie Anm. 10), S. VI. 13 Kochbuch für die jüdische Küche (wie Anm. 10), S. IX.



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Mängel hin bieten sie diese Erklärung: „Alles Kranke, Schwache und Unreine soll vom Menschen ferngehalten werden, damit sein Lebensgefühl rein und gesund bleibe.“14 In diesen Versuchen, die Vorschriften auszulegen, kommen die Verfasserinnen den Forderungen der Aufklärer nach: nach dem tieferen Sinn der Speisegesetze zu suchen und rationale Hypothesen für die logischen Ursprünge der Vorschriften aufzustellen. Die besondere Leistung des Kochbuchs des Jüdischen Frauenbunds besteht darin, auf der traditionellen koscheren Küche zu bestehen, ohne die neuen Früchte, die die moderne Zeit geerntet hat, zu verleugnen. In dieser außergewöhnlichen Schrift gelingt den Autorinnen eine prekäre Synthese zwischen Tradition und Modernität, zwischen Glauben und Wissenschaft. Die rituellen Gesetze werden aufgeklärt, aber das moderne Alltagsleben wird ebenso berücksichtigt. In diesem Sinn schließen die Autorinnen ihre Schilderung der rituellen Speisegesetze: Die Speisegesetze, die hier in großen Umrissen, und unter Verzicht auf jegliches Detail dargestellt werden, sind seit den ältesten Zeiten im Judentum beobachtet worden. Für die nicht-jüdische Welt waren sie von jeher auffallend, oft auch anstößig, und seit einigen Menschenaltern werden sie auch von manchen Juden bekämpft und von vielen Juden mindestens nicht beachtet. Ihretwegen hat man die jüdische Religion als ‚Küchenreligion‘ stigmatisiert. Den echten Juden kann das nicht beirren. Wenn wirklich Leib und Seele in innigem Zusammenhang miteinander stehen, und wenn es möglich ist, durch die Speise den Leib und damit die Seele zu beeinflußen, dann kann auch die Speise Gegenstand des Religionsgesetzes sein. Je ernster wir die Frage nehmen, die Hermann Cohen einmal in seiner Ethik des reinen Willens aufwirft, was denn eigentlich die Speise des Menschen von dem Fraße des Tieres unterscheide, da doch der Stoff in beiden Fällen derselbe ist, desto dankbarer müßen wir für die heilige Energie sein, mit der unsere Religion in den Speisegesetzen Speise und Trank geregelt hat.15

14 Kochbuch für die jüdische Küche (wie Anm. 10), S. IX. 15 Kochbuch für die jüdische Küche (wie Anm. 10), S. X.

Hannah Lotte Lund

Manches mehr als Musen ... – Preußens „jüdische Salonièren“ Das Schiller’sche Biederweib denkt und sorgt nur für das eigene Haus, die jüdische Hausfrau hat auch noch für Andere Etwas übrig. Nahida Remy, 1894 [Rahel Levin Varnhagen] selbst vertritt als höchstausgebildeter Typus die zeitgenößischen Phasen jener beiden Culturentwickungen, die sich in den Schlagworten der geistigen Emancipation des Weibes und der gesellschaftlichen Emancipation des Judenthums zusammenfaßen laßen. Allgemeine Deutsche Biographie, 18951

Sich mit Emanzipation im und durch den Salon zu beschäftigen ist außergewöhnlich reizvoll – nicht weil die Frage neu wäre, sondern, im Gegenteil, wegen der vielen Inanspruchnahmen des Salons durch zahlreiche, auch gegensätzliche gesellschaftsverändernde Bewegungen und deren Geschichtsschreibung. Es nahmen und nehmen die jeweiligen Forschungskontroversen über die gültige Historiographie der Frauen- und Geschlechtergeschichte bzw. über den preußischen Weg der Judenemanzipation den Salon immer wieder als Beispiel, sowohl für eine gelungene wie für eine fehlgeleitete Emanzipation.2 Wie das Zitat aus der ADB andeutet, ist damit nicht notwendig gemeint, dass die Salonièren oder der Salon als wesentliche Kraft dieser Bewegungen galten, sondern dass der Salon häufig als typische Erscheinung oder Metapher verändernder Prozesse, als Kristallisationspunkt gesellschaftlicher Entwicklung betrachtet wurde. Die beteiligten Frauen selbst haben dabei ebenso wenig von „Emanzipation“ gesprochen, wie sie den Begriff „Salon“ für ihr Engagement verwandten oder sich als „Salonièren“ bezeichneten. Konzeptionelle Texte oder ausführliche Reflektionen über 1 Remy, Nahida: Das Jüdische Weib. Mit einer Vorrede von M. Lazarus. Leipzig 1892. S. 160; Walzel, Oskar F.: ‚Varnhagen von Ense, Rahel‘. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 39 (1895). S. 780–789, hier: S. 780f. Bemerkenswert ist, dass zwischen einer geistigen Emanzipation der Frauen und einer gesellschaftlichen der Juden unterschieden wurde. 1895 war das allgemeine Frauenwahlrecht noch über 20 Jahre entfernt, und auch bei geistiger Emanzipation kann nicht das Frauenstudium gemeint sein, das in Preußen erst 1908 legalisiert wurde. 2 Dieser Beitrag ist ein auf die Fragestellung des Bandes zugespitzter Extrakt meiner Dissertation, in der ich die Überschneidung der Emanzipationsdiskurse um 1800 und den Salon im Schnittpunkt der Forschungsdebatten zur Emanzipation ausführlich diskutiere. Vgl. Lund, Hannah Lotte: Der Berliner „jüdische Salon“ um 1800. Emanzipation in der Debatte. Berlin/New York 2012.

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ihre geselligen Bestrebungen und Erlebnisse haben die Beteiligten nicht verfasst. Es gibt auch keine Memoiren, die über Preußens jüdische Salonièren um 1800 und deren gesellschaftlichen Status Auskunft gäben. Stattdessen finden sich in ihren Schriften, vor allem in Briefen, zahlreiche, oft ironische oder aphoristische Äußerungen zum Thema Selbstveränderung, die sich zusammenzutragen lohnen. An dieser Stelle soll daher mit einer Auswahl emanzipatorischer Momente im Salon dazu angeregt werden, das Etikett „Emanzipation im Salon“ zu hinterfragen, aber einzelne Lebensläufe sehr emanzipierter Frauen durchaus weiter zu erforschen. Die Begriffe Salon und Saloniére werden hier daher weitergeführt als Merkmal der Rezeptionsgeschichte, nicht als Selbstbeschreibung der Frauen, denn sie waren manches mehr.

Salon und Emanzipation in der Literatur Mit einer aus den „Klassikern der Salonforschung“3 gefilterten Minimaldefinition wäre Salon zu verstehen als Kommunikations- oder Geselligkeitsform, die von einer Frau initiiert, in den Räumen einer Frau stattfindet und bei der Männer und Frauen verschiedener beruflicher, gesellschaftlicher und konfessioneller Herkunft zusammenkommen. Ziel der Zusammenkunft ist das Gespräch, vornehmlich über Literatur, Philosophie und Kunst. So betrachtet wurden Salons in der großen kulturgeschichtlichen Darstellung zunächst als Wegbereiter und Foren der bürgerlichen Öffentlichkeit diskutiert.4 Als emanzipatorische „Leistung“ der Salonièren wurde dabei oft vermerkt, welche berühmten Gäste die Frauen um sich zu versammeln verstanden, auf die ihnen mehr oder minder kultivierender oder fördernder Einfluss zu haben attestiert wurde: Sei es, dass im Vorzimmer der Madame de Lambert5 über die Aufnahme in die französische Akademie der Wissenschaften entschieden wurde, sei es, dass Hester

3 Ein „klassisch“ gewordenes Modell der Definition findet sich bei Wilhelmy, Petra: Die Berliner Salons im 19. Jahrhundert (1780–1914). Berlin u.a. 1989 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 73). 4 Grundlegend Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt/M. 1990. Zum Salon als Strukturelement der Öffentlichkeit auch Goodman, Dena: The Republic of Letters. A Cultural History of the French Enlightenement. Ithaca u.a. 1994. bes. S. 12–15. 5 Anne Therese de Marguenat de Courcelles (1647–1733), Marquise de Lambert, ragt insofern aus der Gruppe der Salonièren des 18. Jahrhunderts heraus, als sie sich innerhalb und außerhalb der Salons für eine verbesserte Frauenbildung einsetzte. 1727 erschienen ihre Réflexions nouvelles sur les femmes.



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Thrale Piozzi6 den bedeutenden englischen Aufklärer Samuel Johnson durch Tischmanieren gesellschaftsfähiger gemacht haben soll, sei es schließlich, dass Rahel Levin Varnhagen Heinrich Heine mit „Makaroni und Geistesspeise“ stärkte.7 Dieser spezifische „Beitrag“ der Frauen zur Literatur- und Kulturgeschichte wurde nicht zuletzt propagiert durch die Erinnerungen mancher (männlicher) Salongäste, die ihre ideale Salonière als Muse verherrlichten, und so auch deren Rolle in der Salonforschung nachhaltig definierten: „anspornend, vermittelnd und ausgleichend im kulturellen wie soziologischen Bereich“.8 In der Frauenforschung, vor allem in der Historiographie getrennter Sphären für die Geschlechter, galt der Salon lange insofern als Ort der Emanzipation, da er als einer der wenigen Räume betrachtet wurde, der es Frauen gestattete, sich frei zu äußern und zu bilden. Literarische Salons gaben demnach Frauen die Möglichkeit, Vertreter der literarischen oder politischen Öffentlichkeit zu sich in ihre privaten Räume zu bitten und so am herrschenden Diskurs teilzuhaben. Oder wie es eine Salonsatire 1803 in Berlin formulierte: „Und während ich strickt an meinen Strümpfen, habe ich lernen auf Wieland schimpfen ...“9. An dieser Stelle muss betont werden, dass die länderübergreifende Definition vom Salon als „Ort weiblicher Kultur“ die tatsächlichen Lebensumstände und die Unterschiede im Handlungsspielraum verschiedener Salonièren zu wenig berücksichtigt: In dem Maße kulturpolitisch einflussreich wie einige Pariser Salonièren, die das Hauptwerk der Aufklärung, die Encyclopédie, förderten, indem sie deren Autoren bei sich wohnen ließen oder ihre Bibliotheken erwarben, waren die Berliner Salonfrauen zu keiner Zeit. So wohlhabende Mäzeninnen wie die englischen Bluestockings, von denen einige zu den reichsten Frauen Englands zählten, waren sie auch nicht. Aber die Tatsache, dass Heinrich Heine oder Wilhelm von Humboldt bei Rahel Levin Varnhagen (1771–1833) verkehrten, 6 Hester Thrale Piozzi, geb. Salusbury (1741–1821), Salonière und Autorin, war eine der umstrittensten Figuren des englischen Salons Bluestocking Circle. In der Literaturwissenschaft wurde sie zunächst vor allem berücksichtigt wegen ihrer engen Freundschaft zu Samuel Johnson, dessen erste Biographie sie schrieb. Sie publizierte aber selbst in ganz unterschiedlichen Genres, beispielsweise Reiseberichte und ein Synonymlexikon. 7 So erinnerte Heine, „wie Sie beyde [das Ehepaar Varnhagen] mir so viel Gutes und Liebes erzeigt, und mich mürrischen, kranken Mann aufgeheitert, und gestärkt, und gehobelt, [...] mit Makaroni[!] und Geistesspeise erquickt.“ An Karl August Varnhagen, 17.6.1823, zit. als titelgebende Widmung in: Gatter, Nikolaus (Hrsg.): Makkaroni und Geistesspeise . Berlin 2002 (Almanach der Varnhagen Gesellschaft, 2). Vorblatt. 8 Heyden-Rynsch, Verena von der: Europäische Salons. Höhepunkte einer versunkenen weiblichen Kultur. Reinbek 1995. S. 11. 9 Kotzebue, August von: Expectorationen. Ein Kunstwerk und zugleich ein Vorspiel zum Alarcos, zit. nach: Schmitz, Rainer: Die Ästhetische Prügeley. Streitschriften der antiromantischen Bewegung. Göttingen 1992. S. 210.

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verschaffte ihr in der Nachwelt den Ruf einer einflussreichen Frau. (Dass die Genannten dort nie zusammen verkehrten und auch nicht als „große Namen“, sondern jeweils als junge Männer von einer klugen Frau in ihrer Berufswahl bestärkt wurden, ist eine andere Geschichte.) In der Rezeption wurden die Berliner Salonfrauen wie die europäischen als Musen gepriesen. Dabei mag die Rolle der Muse im Vergleich etwa zur Hausfrau emanzipiert wirken, aber viele Schriften der Salongäste machten deutlich, dass eigene dichterische und intellektuelle Ambitionen der Frauen nur in Ausnahmefällen und nur dann geschätzt würden, wenn die herkömmlichen Pflichten nicht vernachlässigt würden. Mit den Worten des britischen Salongastes und Aufklärers Samuel Johnson: „My old friend, Mrs. Carter [...] can make a pudding, as well as a translate Epictete from the Greek, and work a handkerchief as well as a compose a poem.“10 Kritisch gelesen heißt das: Poesie war gestattet, wenn der Pudding schmeckte. Während europäische Salons so generell als Orte der Emanzipation der Frauen gepriesen und hinterfragt wurden, diskutierte man bei den jüdischen Salons in Berlin und Wien die Möglichkeiten einer sogenannten doppelten Emanzipation als mögliche Befreiung der Frauen und Jüdinnen aus einem diskriminierenden Umfeld. (Wien gehört in diesen Kontext preußischer Salons, denn auch die bedeutendsten Salonièren Wiens um 1800, Fanny von Arnstein (1758–1818) und Cäcilie von Eskeles (1760–1836), waren gebürtige Preußinnen, Töchter des „naturalisierten“ Berliner Kaufmanns Daniel Itzig). Besonders die Tatsache, dass die Frauen der Salons mit christlichen bürgerlichen und adligen Männern umgingen und viele konvertierten, um diese in erster oder zweiter Ehe zu heiraten, galt und gilt vielen als „Kultursprung“ – oder in negativer Sicht, als Riss durch die Gemeinde. Jüdische Frauen hohen und niederen Standes, die Töchter der reichsten und angesehensten Familien voran, fühlten sich ihrer Ketten ledig, aber unfähig, die wahre Freiheit zu erkennen, erblickten sie in ihrer Zügellosigkeit ihr einziges Heil. Ludwig Geiger, 1871

In diesem Zusammenhang deuten auch die zahlreichen negativen Apostrophierungen der Salonièren als prominente „Abtrünnige“ auf ein dem Salon zugestandenes Veränderungspotential, auf das zumindest angenommene Wegbrechen oder Überwinden von gesellschaftlichen oder moralischen Grenzen.11 Aus den Briefwechseln der Beteiligten konnten die verschiedenen Emanzipationen als Leit10 Zitiert in: Birkbeck Hill, George (Hrsg.): Johnsonian Miscellanies. 2 Bde. Reprint New York 1966. Bd. 2. S. 11. 11 Unter dem Begriff „Abtrünnige“ werden die Salonfrauen diskutiert von Remy, Weib (wie Anm. 1), S. 221–242.



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motiv gelesen werden, als unmöglich zu leistender Auftrag. Schon 1793 schrieb Rahel Levin Varnhagen über einen Gedanken, der sie nicht verlasse und der die verschiedenen emanzipatorischen Herausforderungen in einem Satz umfasste: ... Dabei fällt mir etwa ein, was ich Ihnen mittendrin sagen muß, und woran ich jetzt entsetzlich oft denke, daß man nämlich, und schlimmlich, weder über sein Zeitalter hinaus kann noch über sein Alter, Geschlecht, noch sogar – Stand, noch Temperament. 12

Rahel Levin Varnhagen lebt ein Paradox Die Geschichte der Berliner Salons könnte nachgezeichnet werden an der Interpretation eines einzigen Zitates, der sogenannten letzten Worte Rahel Levin Varnhagens. Die oft als „berühmteste Berliner Salonière“ bezeichnete Gastgeberin und Autorin hatte sich 1814, kurz vor der Eheschließung mit dem Diplomaten Karl August Varnhagen von Ense, taufen lassen. Ihr Mann, der gemeinsam mit ihr alle ihre Briefe und Aussprüche sammelte und nach ihrem Tod zu einem „Buch des Andenkens“ machte, überlieferte auch ihre letzten Worte: Welche Geschichte! [...] eine aus Ägypten und Palästina Geflüchtete bin ich hier und finde Hülfe, Liebe und Pflege von euch! [...]. Was so lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach, das herbste Leid und Unglück war, eine Jüdin geboren zu sein, um keinen Preis möcht’ ich das jetzt missen.13

In dieser Form wurde das Zitat vor allem berühmt durch die Biographie Hannah Arendts, die „Rahels Lebensgeschichte“ als Reihe von Versuchen deutet, aus dem Judentum herauszukommen: durch einen Salon, Briefe oder eine Liebesgeschichte. Sie resümierte: „Rahel ist Jüdin und Paria geblieben. Nur weil sie an beidem festgehalten hat, hat sie einen Platz gefunden in der Geschichte der europäischen Menschheit.“14 Tatsächlich aber bezog sich Hannah Arendt damit nur auf die erste Hälfte eines längeren Zitats. Wie Michael A. Meyer treffend feststellte, haben in Arendts Nachfolge „die Interpreten, die den Versuch unternom-

12 Rahel Levin Varnhagen an David Veit, 13.12.1793. In: Rahel-Bibliothek, Rahel Varnhagen: Gesammelte Werke. 10 Bände. Hrsg. v. Konrad Feilchenfeldt, Uwe Schweikert u. Rahel E. Steiner. München 1983. Bd. VII/I. S. 75. 13 Rahel Levin Varnhagen, 2.3.1833, Notat von Karl August Varnhagen. In: Rahel-Bibliothek (wie Anm. 12), Bd. I. S. 43. 14 Arendt, Hannah: Rahel. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. München 2001. S. 237.

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men haben, Rahel Levin Varnhagen als Jüdin zu verstehen, [...] den Schluß eben dieser Äußerung außer acht gelassen.“ Dieser lautete: Lieber August, mein Herz ist im Innersten erquickt; ich habe an Jesus gedacht, und über seine Leiden geweint; ich habe gefühlt, zum ersten Mal es so gefühlt, daß er mein Bruder ist. Und Maria, was hat die gelitten. [...] Das hätte ich nicht gekonnt, so stark wäre ich nicht gewesen. Verzeihe es mir Gott, ich bekenne es, wie schwach ich bin.15

Diejenigen Forschenden, die sich für die „getaufte Rahel“ interessierten, betonten und zitierten die zweite Hälfte des Zitats. Wenn in der Literatur noch immer von „Konversionswellen“ die Rede ist, die im und durch den Salon entstanden seien, muss auch noch immer daran erinnert werden, dass hier eine Zahl von etwa 13 Salonièren in Berlin um 1800 zugrunde gelegt wird, von denen neun jüdischer Herkunft waren.16 Von diesen konvertierten sieben, davon die bekanntesten allerdings keineswegs in der „Blütezeit ihres Salons“, sondern später – Rahel Levin Varnhagen 1814 und Henriette Herz 1817, nach dem Tod ihrer Mutter. Die beiden berühmtesten Wiener Salonièren Fanny von Arnstein und Cäcilie von Eskeles ließen sich gar nicht taufen, ebenso wenig wie ihre Berliner Schwester und Salonière Sara Levy (1761–1815). Dennoch ergab sich für jüdische Historiographen des 19. Jahrhunderts das Dilemma, die Konversionsraten in der Generation nach Moses Mendelssohn zu erklären, besonders bei den als prominent geltenden Salonièren. Die eleganteste Lösung fand Ludwig Geiger, indem er zwischen Ausnahmepersönlichkeiten, die aus schicksalhaften persönlichen Verwirrungen und jedenfalls pietätvoll die Taufe nahmen (zu denen er Rahel Levin Varnhagen und Henriette Herz zählte), und einem allgemeinen Umsichgreifen von Taufe und Unsittlichkeit in allen Schichten der jüdischen Gemeinde (welches aber nicht durch Statistiken belegbar ist) unterschied.17 Die Frage nach den Motiven und der Konsequenzen der Konversionen um 1800 hat für die Forschung bis heute Brisanz. Während die ältere Forschung meist von einem, wenn auch entschuldigenden Moment 15 Meyer, Michael A.: Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz. Jüdische Identität in Deutschland 1749–1824. München 1994. S. 132. Hieraus auch das Schlusszitat. Das „doppelte Erbe“ Rahel Levin Varnhagens betont zuletzt Deborah Hertz: Hertz, Deborah: How Jews became Germans. The History of Conversion and Assimilation in Berlin“. Yale 2007, S. 215. 16 Hertz, Deborah: Die jüdischen Salons im alten Berlin. Aus dem Amerikanischen von Gabriele Neumann-Kloth. Frankfurt/M. 1991. Meine eigenen Forschungen fügen zu der Zahl noch mindes­tens drei Jüdinnen als Gasteberinnen gemischter Geselligkeiten hinzu, von denen zwei konvertierten. 17 Geiger, Ludwig: Geschichte der Juden in Berlin. Festschrift zur 2. Säkulärfeier; Anmerkungen, Ausführungen, urkundliche Beilagen und 2 Nachträge; (1871–1890). Reprint der Orig.-Ausg. Berlin, Guttentag 1871–1890. Mit einem Vorw. von Hermann Simon. Leipzig 1988. S. 113ff.



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der Überredung oder Verführung zum neuen Glauben durch Salongäste, etwa den Theologen Friedrich Schleiermacher, ausging, beginnt die neuere Forschung, den Frauen eigene religiöse Entwicklungswege zuzugestehen, ist aber in der Deutung gespalten. So erschienen in jüngster Zeit von ausgewiesenen Salonforscherinnen zwei Monographien, die sich mit ganz unterschiedlichem fachlichen und methodischen Ansatz mit der Identität getaufter Jüdinnen auseinandersetzen und dabei Salonfrauen als Beispiel heranziehen, besonders Rahel Levin Varnhagen.18 Während Deborah Hertz, hierin Arendt nachfolgend, die Lebensgeschichte zunächst als Versuch sieht, aus dem Judentum herauszukommen und Identitätsbrüche konstatiert, beschreibt Barbara Hahn Rahel Levin Varnhagen als Urfassung eines Kulturtypus der deutschsprachigen Jüdin, in dem sich verschiedene Identitäten verbinden. In einer umfassenden Neubetrachtung ausgewählter als Salonièren bekannten Frauen als Mitgestalterinnen der jüdischen Aufklärung hat zuletzt Natalie Naimark-Goldberg vorgeschlagen, die (oft späten) Konversionen nicht als Ausdruck eines Bruches oder des ultimativen Emanzipationswillens zu deuten, sondern nur als einen Schritt unter vielen in einem langen Akkulturationsprozess, in dem es äußere und innere Widerstände zu überwinden galt.19 Das Studium der Originaltexte bestätigt diesen Ansatz. Es gibt ein anderes „halbes Zitat“, das ebenfalls als Maßstab der Emanzipation oft herangezogen wird, das „Geständnis“ Rahel Levin Varnhagens gegenüber ihrem Jugendfreund

18 In ihrem 2002 erschienenem Buch Die Jüdin Pallas Athene. Auch eine Kulturgeschichte der Moderne analysiert Barbara Hahn Texte von und über schriftstellerisch tätige Jüdinnen aus zwei Jahrhunderten. Bedeutsam sind dabei die Traditionslinien, die sie aufdeckt, Bezugnahmen auf Texte anderer Jüdinnen in vermeintlich vergleichbarer Situation über Jahrhunderte hinweg – etwa wenn Hannah Arendt Rahel Levin Varnhagen als ihre beste Freundin bezeichnete, die leider schon lange verstorben sei. Oder die Entwicklungsgeschichte Nahida Remys, die über die Arbeit an einer Studie über jüdische Frauen sich selbst zum Judentum hin bewegte und schließlich konvertierte. Deborah Hertz untersucht zum Teil dieselben Protagonistinnen in einem disziplinär ganz anders gelagerten, sozialhistorischen Buch. Die 2007 erschienene Studie How Jews became Germans. The History of Conversion and Assimilation in Berlin arbeitet schwerpunktmäßig mit der „Judenkartei“, dem von Nationalsozialisten erarbeiteten Verzeichnis konvertierter Juden in Berlin. Ausgehend von diesem Material, der umfänglichen Forschungsdebatte zum Thema Konversion und Assimilation und dem explizit gemachten persönlichen Interesse an Motivforschung, stellt Hertz zahlreiche Fallstudien zwischen 1645 und 1833 zusammen. 19 Naimark-Goldberg, Natalie: Jewish Women in Enlightenment Berlin. Oxford/Portland 2013. „All these women, then, spent many years distancing themselves in practice from the traditional Jewish way of life, blurring the borders that separated the Jewish and Christian worlds. […] nevertheless [they] remained affiliated (albeit sometimes weakly and even against their own inclinations) to the Jewish people.“ Ebd., S. 260.

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David Veit, sie ginge sogar am Feiertag ins Theater: „Auch geh ich nicht selten zur Marchetti; et, imaginez, ich bin gestern mit ihr am helllichten Sabbath in einem Königlichen Wagen um halb drei Uhr nach der Opernprobe gefahren.“20 In der Sekundärliteratur wird dieses Zitat, als gebrochenes Gebot der Sabbatruhe, oft als Ausdruck gelungener oder vorschneller Akkulturation gelesen.21 Tatsächlich in der langen Version gelesen, deutete Rahel Levin Varnhagen durchaus Skrupel gegenüber diesem Traditionsbruch an, da sie nahtlos fortsetzte: „es hat mich niemand gesehen, ich hätt’s, und würd’, und werd’ es jedem abstreiten – und der mir aus dem Wagen geholfen hätte! mich dünkt, so kann und muß man’s in meiner Lage machen.“22 David Veit ging auf diese Stelle nur am Rande ein und bestätigte die Übergangssituation, in der sich beide befanden, in einem für die Salongesellschaft üblichen spöttischen Ton: „Wenn Sie am Sabbath fahren, müßen Sie es nicht abläugnen, sonst werde ich glauben, daß Sie zu der Reformation der Juden nichts beitragen wollen.“23 Man muss es zusammen denken: der Versuch, ein eigenes Leben zu gestalten, verbunden mit dem Respekt vor einigen Traditionen. Für Hannah Arendt galt der Versuch als gescheitert, Rahel sei Jüdin und Pariah geblieben. Die Dialektik im Leben Rahel Levin Varnhagens löste sich demnach nur, weil sie einen Erben fand, der ihr und sein Dilemma in weltgültige Verse gießen konnte: Heinrich Heine. Aber auch ihre eigenen Briefe legen bis heute Zeugnis ab von vielleicht mehreren Identitäten, von einem gelebten Paradox.

20 Rahel Levin Varnhagen an David Veit, 15.12.1793. In: Rahel-Bibliothek (wie Anm. 12), Bd. VII/I. S. 76. Manchen Opernsängerinnen wurde als Teil ihres Vertrages ein königlicher Wagen zur Verfügung gestellt. 21 Zuletzt sieht Amos Elon in dieser Stelle einen Beweis für den Abscheu, den Rahel Levin Varnhagen, „diese außerordentlich assimilierte Jüdin“, gegenüber ihrer Herkunft empfindet. Vgl. Elon, Amos: Zu einer anderen Zeit. Portrait der deutsch-jüdischen Epoche. 1743–1933. München u.a. 2002. S. 83. Meiner Meinung nach lässt sich diese Stelle aber durchaus als Beleg für ein Unbehagen lesen, zumindest dafür, dass es 1794 für sie nicht selbstverständlich war, das Gesetz des Feiertags derart offensichtlich zu brechen. 22 Rahel Levin Varnhagen an David Veit, 15.12.1793. In: Rahel-Bibliothek (wie Anm. 12), Bd. VII/I. S. 76. 23 David Veit an Rahel Levin Varnhagen, 24.12.1793. In: Rahel-Bibliothek (wie Anm. 12), Bd. VII/I. S. 90.



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Travels in the interior disctricts of Africa – Henriette Herz übersetzt In ihrer frühen Zeit, wo sie das Wort Religion noch nicht verstand (wie wir unglücklichen aufgeklärten Juden, denn Gott danken müßen, wenn uns der Sinn davon nur im spätern Leben aufgeht) ... Henriette Herz über ihre Jugendfreundin Dorothea Mendelssohn24

Von Henriette Herz, geborener de Lemos (1764–1847), wird berichtet, dass sie über viele Jahre ein offenes Haus führte und als Schönheit und gebildete Frau berühmte Persönlichkeiten anzog. Ihre eigenen Aussagen bzw. Zitate aus ihren nur fragmentarisch überlieferten Erinnerungen25 trugen dazu bei, dass sie primär als gebildete Schönheit in die Literaturgeschichte einging, an der Seite eines gelehrten Gatten, des Arztes und Aufklärers Markus Herz: H. ward mehr u. mehr als guter Arzt bekandt u. las philosophische Collegia, dadurch kamen viele u. bedeutende Leute in unser Haus, die auch zuweilen zu Abendmahlzeiten eingeladen worden – doch meistens nur Männer, u. so jung u. unwissend ich auch war unterhielten sie sich doch viel mit mir. 26

Dass sich bald darauf ein eigener Zirkel literarisch interessierter Männer um sie selbst zu versammeln begann, führte zur These vom „Doppelsalon“, bei dem Ehemann und Ehefrau zwei verschiedene Kreise nebeneinander in verschiedenen Zimmern geleitet haben sollen.27 Das berühmte Bild von Henriette Herz als Göttin Hebe, gemalt von Anna Dorothea Therbusch 1778, wird zurecht als Grenz24 Henriette Herz an Immanuel Bekker (über ihre Jugenfreundin Dorothea Mendelssohn Veit Schlegel), 29.7.1818. In: Putzel, Max J.: Letters to Immanuel Bekker from Henriette Herz, S. Pobeheim and Anna Horkel. Berne [?] 1972. S. 19. 25 Die sogenannten Lebenserinnerungen Herz’ sind das Werk eines Journalisten. Fürst, J.: Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Erinnerungen. Berlin 1850. Die Darstellung Fürsts, der sich von Herz in die Feder diktiert haben lassen will, war schon bei Zeitgenossen sehr umstritten und die zweifelhafte Authentizität der von ihm ‚herausgegebenen‘ Memoiren ist von der Forschung immer wieder angemerkt worden. Nichtsdestotrotz beziehen sich zahlreiche Neueditionen und auch wissenschaftliche Artikel auf diesen Text, der in Formulierung und Inhalt keineswegs als original „Herz“ zu betrachten ist, da die wirklichen Erinnerungen abbrechen, bevor es zu einer Beschreibung ihrer Salongeselligkeit kommt. Das authentische Fragment erschien erstmals unter dem Titel: Herz, Henriette: Jugenderinnerungen. In: Mittheilungen aus dem Litteraturarchiv Berlin. Berlin 1896. S. 141–184. 26  Herz, Jugenderinnerungen (wie Anm. 25). Zur Hinterfragung dieses Bilds und zur Gestaltung verschiedener ineinander übergehender Geselligkeitsformen durch Henriette und Markus Herz s. Lund, „jüdische Salon“ (wie Anm. 2), bes. S. 172ff. 27 Vgl. ausführlich Lund, Salon (wie Anm. 2), S. 172ff.

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überschreitung und Symbol veränderter Frauenrollen im Berliner Judentum diskutiert. Henriette-Hebe ist dargestellt in leichter Kleidung, mit beinahe entblößter Brust und offenem Haar und symbolisiert darüber hinaus eine Figur aus fremdem Götterhimmel. Wenn dieses Bild als Brautgeschenk überreicht wurde, deutet es darauf hin, dass weder Auftraggeber noch Empfänger sich allen jüdischen Traditionen verpflichtet fühlten.28 Unter anderem der jüdischen Bildungstradition jedoch verdankte Henriette Herz ihre umfassende Ausbildung. Anregungen zu umfänglichem Literaturstudium und gute Kenntnis in mindestens sechs Sprachen vermittelten ihr zum Großteil ihr Vater und ihr Ehemann, die beide als Maskilim der jüdischen Aufklärung verbunden waren. Dieser Umstand gehört genauso zu ihrem geselligen Engagement, wie etwa die langjährigen Freundschaften mit dem protestantischen Theologen Friedrich Schleiermacher und dem weltreisenden Forscher Alexander von Humboldt. Und fast vergessen ist heute, dass Henriette Herz ihre Bildung, vermittelt durch die Salonbekanntschaft mit Schleiermacher, in Übersetzungen investierte und so nicht nur Gastgeberin blieb, sondern sich zumindest textlich um die Welt bewegte. Sie übertrug zeitgenössische Reiseberichte von Mungo Park und Isaak Weld aus dem Englischen ins Deutsche.29 1817 ließ sie sich nach dem Tode ihres Mannes und ihrer Mutter taufen. Sie finanzierte sich viele Jahre über Unterricht und erfüllte sich spät den Traum einer Italienreise. Dass die Arbeiten von Henriette Herz, die zeittypisch anonym erschienen, deren Autorschaft aber im 19. Jahrhundert durchaus bekannt war30, heute wieder 28 Anna Dorothea Therbusch: Henriette Herz als Hebe (1778), Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Die Tatsache, dass von Henriette Herz mehrere Portraits aus verschiedenen Phasen ihres Lebens überliefert sind, lädt tatsächlich zu Fragen nach Repräsentationsformen des Jüdischen oder des Weiblichen ein. Neben dem Therbusch-Bildnis existieren unter anderem ein Gemälde von Anton Graf von 1792 und Zeichnungen von Wilhelm Hensel und Gottfried Schadow. Die kritischere Forschung, namentlich mehrere Arbeiten Liliane Weissbergs und Marjanne Goozés, fokussiert daher auf die Körpersprache und die Repräsentation Henriette Herzens. Vgl. exemplarisch: Weissberg, Liliane: Weibliche Körpersprachen. Bild und Wort bei Henriette Herz. In: Jutta Dick u. Barbara Hahn (Hrsg.): Von einer Welt in die andere. Jüdinnen im 19. und 20. Jahrhundert. Wien 1993. S. 71–92; Goozé, Marjanne E.: Posing for Posterity. The representations and portrayals of Henriette Herz as „beautiful Jewess“. In: Marianne Henn u. Holger A. Pausch: Body Dialectics in the Age of Goethe. Amsterdam u.a. 2003 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 55). 29 Die Arbeiten erschienen 1799 unter dem Titel: „Reisen im Innern von Afrika auf Veranstaltung der Afrikanischen Gesellschaft in den Jahren 1795 bis 1797, aus dem Englischen übersetzt“ bzw. 1800 als „Isaac Weld: Reise durch die noramerikanischen Freistaaten und durch Ober- und Unter-Canada in den Jahren 1795, 1796 und 1797, aus dem Englischen frei übersetzt“ in Berlin. 30 Vgl. dazu z.B. den handschriftlichen Eintrag in der Staatsbibliothek zu Berlin auf der Karteikarte: Mungo Park: Reisen im Inneren von Afrika auf Veranlassung der afrikanischen Gesell-



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weniger bekannt sind, kann durchaus auch als ein Ergebnis der Salon-Forschung gelten, in der ihr Leben nach dem Tod ihres Mannes, der Weg zur Konversion und in die berufliche Selbständigkeit fast komplett unbeachtet geblieben ist. Das Dekorum weiblicher Zurückhaltung besitzt anscheinend noch in der Rezeptionsgeschichte des 21. Jahrhunderts einiges an Ausstrahlungskraft. Einer der jüngsten Aufsätze über sie sieht sie wieder primär als geselligkeitsstiftende Schönheit.31

Esther Gad mischt sich ein Das Recht des halben Menschengeschlechts ist der höchste Gegenstand der Moral, der von allen Seiten betrachtet werden muß, um es endlich von der rechten zu werden, und dazu trägt nichts so zwekmäßig[!] bei als die mannigfache Darstellung durch verschiedene Individuen. Esther Gad, Salonière und Publizistin 179832

Interessant ist der Zusammenhang zwischen Salon und Emanzipation um 1800 auch aus ideengeschichtlicher Sicht. Die jüdischen Salons in Berlin waren „Zeitgenossen“ zweier großer Emanzipationsdiskurse. Anders formuliert fielen die großen zeitgenössischen Debatten um die „bürgerliche Verbesserung der Juden“ bzw. die „der Weiber“ in eben die gesellschaftliche Umbruchsphase zwischen 1770 und 1830, in der auch die Salons zur Blüte kamen. Wobei einer der Fürsprecher der Frauenemanzipation bewusst auf die Debatte um die Bürgerrechte für Juden anspielte: „Man hat uns in letzter Zeit so sehr die bürgerliche Verbesserung der Juden empfohlen; sollte ein wirkliches Volk Gottes (das andere Geschlecht) weniger diese Sorgfalt verdienen, als das so genannte?“ 33 Viele der Autoren dieser Debatten, darunter beispielsweise Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schlegel, waren Gäste der Salons. Sie schrieben, zuge-

schaft in den Jahren 1795 bis 1797 unternommen. Aus dem Englischen, durch Henriette Herz, geb. de Lemos, mit sechs Kupfern. Berlin 1799. 31 Greulich-Janssen, Gisela: Henriette Herz – die erste deutsche Salonière. In: Elke Pilz (Hrsg.): Bedeutende Frauen des 18. Jahrhunderts. Elf biographische Essays. Würzburg 2007. S. 83–101. Der Aufsatz attestiert Herz mehrfach „Kleinmut“ in ihren Äußerungen. Dass es sich dabei auch um zeittypische Rhetorik gehandelt haben könnte, wird nicht diskutiert. 32 Gad, Esther: „Einige Aeußerungen über Herrn Kampe’ns Behauptungen die weibliche Gelehrsamkeit betreffend“. In: Der Kosmopolit. Eine Monatsschrift zur Beförderung wahrer und allgemeiner Humanität, hg. von Ch. D. Voß. Bd. 3. Halle 1798. S. 557–590, hier: S. 577. 33 Hippel, Theodor Gottlieb von: Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber. Nachwort von Ralph-Rainer Wuthenow. Frankfurt/M. 1977. S. 20f.

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spitzt formuliert, ihre Texte pro und contra Gleichstellung am Schreibtisch, bevor oder nachdem sie am Teetisch einer Salonfrau saßen. Über den Emanzipationsgrad einiger dieser Männer ist hier nicht Raum zu spekulieren. Im Zusammenhang mit der Selbstemanzipation der beteiligten Frauen aber muss vor allem eine jüdische Autorin und Salonfrau erinnert werden, die sehr selbstbewusst in diese Debatte eingegriffen hat. Esther Gad, geschiedene Bernhard aus Breslau (ca. 1767–183334), in ihrer zweiten Ehe und als Schriftstellerin auch bekannt als Lucie Domeier, ist heute vor allem überliefert als Freundin Rahel Levin Varnhagens und Jean Pauls. Sie war zugleich aber in verschiedenen Genres schriftstellerisch tätig und ihre Reiseberichte aus Spanien und Portugal wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Esther Gad war jedoch auch eine der wenigen Frauen, die in die Debatte um die Gleichstellung der Geschlechter mit einem Sachtext eingriff: mit der Schrift Einige Aeußerungen über Herrn Kampe’ns Behauptungen die weibliche Gelehrsamkeit betreffend von 1798.35 Joachim Heinrich Campe hatte in seinem bekannten Väterlichen Rath an meine Tochter von 1789 eine Art Handbuch der pragmatischen Entsagung verfasst, unter anderem mit dem Motto „Er die Eiche, sie das Efeu“ die Ungleichheit der Geschlechter genau benannt, um anschließend ihre freiwillige Unterwerfung zu fordern, da „das Geschlecht zu dem Du gehörst, nach unserer jetzigen Weltverfassung, in einem abhängigen und auf geistige sowohl als körperliche Schwäche abzielenden Zustande lebt.“36 Damit verbunden waren Ratschläge, die Ungleichheit zu ertragen: „Geduld erträgt, was nicht zu ändern ist; Sanftmuth entwaffnet den männlichen Starrsinn durch milde Freundlichkeit [...] und Gewöhnung an Selbstverleugnung gibt zu allem die erforderliche Seelenkraft.“37 Esther Gad fand es grundsätzlich „unverantwortlich, wenn ein Mann [...] Meinungen a priori, öffentlich hinwirft, die durch die anerkannte Autorität eines solchen Mannes, zu Gesezzen[!] gestempelt werden.“38 Sie wehrte sich dagegen, eine Ungleichheit als naturgegeben anzunehmen und auf dieser Grundlage 34 Beide Lebensdaten sind in der Literatur angezweifelt worden. Diese Angaben nach der Kritischen Jean Paul Edition bei der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. http://tetola.bbaw.de/jeanpaul/jp_personen.php#B (15.10.2010) 35 Vgl. Gad, Einige Aeußerungen (wie Anm. 29), S. 557–590. 36 Campe, Joachim Heinrich: Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron; der erwachsneren weiblichen Jugend gewidmet. In: Braunschweigisches Journal, 6. Stück (1789), zit. nach: Lange, Sigrid (Hrsg): Ob die Weiber Menschen sind? Geschlechterdebatten um 1800. Leipzig 1992. S. 24–37, hier: S. 26. 37 Campe zit. nach Lange, Ob die Weiber Menschen sind? (wie Anm. 36), S. 27 bzw. 30. 38 Gad, Einige Aeußerungen (wie Anm. 32), S. 581. Ihre Kritik bezog sich auf die Person Campes, zugleich aber auch auf das methodische Vorgehen, Unbeweisbares als Naturvorgabe zu behaupten. „Meinungen a priori“ meint unbewiesene Argumente. (Hervorhebung von mir – H.L.L.).



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Frauen die Ausbildung geistiger Fähigkeiten zu verbieten. Eines ihrer Hauptargumente war die Analogie zwischen Haushalts- und Staatsökonomie, die beide vom Wissen ihrer Lenker nur profitieren könnten. Ironisch schrieb sie: Denn wenn Kenntnisse und Gelehrsamkeit diejenige[!] so despotisch beherrschten, die sich ihnen widmen, so müste der Staat, wo oft Gelehrte das Ruder führen, ebenso zerfallen als die Haushaltung eines Privatmanns, dessen Frau sich mit Kenntnissen der Wissenschaften abgiebt.39

Indem sie bei seinem Besuch in ihrer Heimatstadt Breslau dem König „für die Breslauer Juden eine kurze Ansprache“ hielt und den Text dem König überreichte, war Esther Gad auch eine der wenigen Frauen um 1800, die sich mit einem Text über die Situation der Juden an die herrschende Öffentlichkeit wandte.40 Die Debatten um die „bürgerliche Verbesserung“ der Juden und der Frauen läsen sich anders, wenn die historisch stattgehabten Einmischungen der Betroffenen in der Forschung mehr mitgelesen würden.

Sara Meyer Grotthus wird Autorin Eine andere Salonière, die sich als Autorin selbst einmischen musste, war Sara Meyer Grotthus (1763–1828). Auch sie war höchst sprachbegabt – ihr Vater, Aaron Meyer, hatte sie in seinem Comptoir in Berlin und Potsdam arbeiten lassen – und politisch wie literarisch interessiert. Ihren hinterlassenen Briefen nach empfing sie in den 1780er und 1790er Jahren gemischte Geselligkeiten und war zu Lebzeiten ähnlich bekannt und gut vernetzt wie Rahel Levin Varnhagen. Heute muss sie, vielleicht mangels eines so engagiert überliefernden Ehemannes, als Schriftstellerin und Kritikerin wiederentdeckt werden.41 Sie hat noch keine Aussicht auf öffentliche Würdigung durch eine Plakette ähnlich der am Wohnhaus Rahel Levin Varnhagens, aber auch sie wohnte, empfing und schrieb in der Jägerstraße. Aus einer Randbemerkung weiß man, dass zu den frühen Bekannten und Verehrern Sara Meyer Grotthus der Musiker Carl Friedrich von Zelter gehörte.42 Die 39 Gad, Einige Aeußerungen (wie Anm. 32), S. 579. 40 Heppner, A.: Jüdische Persönlichkeiten in und aus Breslau. Breslau 1931. S. 14f. 41 Vgl. dazu zuletzt Hahn, Barbara: Die Jüdin Pallas Athene. Auch eine Theorie der Moderne. Berlin 2002. Bes. S. 44–48 und Anderson, Donovan: Franco-German Conversations: Rahel Levin and Sophie von Grotthuß in Dialogue with Germaine de Staël. In: German studies review 29, 3 (2006). S. 559–577. Der Nachlass Grotthus findet sich in der Sammlung Varnhagen in Polen. 42 Vgl. eine Bemerkung in einem Brief an Goethe, in dem er „Frau von Grotthuß, eine 40jährige Bekanntschaft“ erwähnt und anfügt: „Lieber Gott! sic transeat – Es war ein hübsches Wesen.

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berühmten Bekanntschaften von Sara Meyer Grotthus, wie etwa die Madame Genlis fielen in die Jahre nach 1796. Spätestens zu diesem Zeitpunkt verkehrte sie regelmäßig auch im Hause Cohen und schauspielerte in deren Privattheater.43 Grotthus arbeitete in Gattungen, die nicht als „typisch weiblich“ galten: sie schrieb Kantaten, Dramen und politische Abhandlungen. Typisch für die Zeit und bezeichnend für die Rezeptionsgeschichte, die diesen Fakt lange ausblendete, ist das nationalpatriotische Engagement jüdischer Frauen. In ihrem Pamphlet Ansichten einer deutschen Frau zeigt und bezeichnet sich Grotthus als Preußin, die ihre Landsmänninnen vor zu viel Gallizismus warnen möchte: Sie lobt die Bildung, die die deutschen Frauen jetzt besitzen, da sie Talent und Wissen vereinen, sich die Schätze der Literatur geeignet, wie das eigenthümliche Nachdenken der Deutschen einen gewissen Ernst in ihre Liebenswürdigkeit mischt, der die tiefsten Dencker anzieht und unterhält. Diese Vereinigung des Nützlichen mit dem Angenehmen würde von den Alten als Ideal verehrt Worden seyn, wenn die Frauen jetzt ihren Werth nicht selbst verkennen und ihn durch Nachahmungssucht entstelleten – den Gallischen Weibern ähnlich zu werden.44

Zusammen mit ihrer Freundin Rahel Levin Varnhagen versuchte sie zudem Goethe zu bewegen, ein nationalpatriotisches Drama zu verfassen, um so ihrem politischen Interesse durch einen bedeutenden Namen Nachdruck zu verleihen. Den Weimarer Dichter hatte die beiden Berliner Schwestern Sara und Marianne Meyer 1795 bei einem Kuraufenthalt in Karlsbad kennengelernt.45 Es folgte eine jahrzehntelange Korrespondenz: Marianne verband sich Goethe vor allem als komplimentierende Leserin und begabte Kolumnistin, Sara sandte auch Reflektionen, etwa über den Gegensatz zwischen traditioneller jüdischer Lebensund Familienordnung und deutscher Literatur, die ihrem Wesen viel mehr entUnser waren viele, und ich bin davon gelaufen, weil ich das Schmachten nicht aushalte.“ Carl Friedrich Zelter an Johann Wolfgang von Goethe, 15.7.1824. In: Max Hecker (Hrsg.): Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter: 1799–1832. 3 Bände. Frankfurt/M. 1987. 1987. Bd. 2. S. 325. 43 Die Schriftstellerin und Prinzenerzieherin Stephanie Felicité de Genlis (1746–1830) verbrachte einige Monate ihres Exils in Berlin. In ihren Memoiren, die leider ohne Jahreszahlen arbeiten, erwähnt sie Sara Meyer Grotthus bei ihrem zweiten Aufenthalt als Teilnehmerin an einem Liebhabertheater im Hause Cohen: „Die Baronesse Grotthus spielte nach meiner Anleitung die Rolle der Galathee zum Entzücken.“ Faurat, August von (Hrsg.): Memoiren der Frau Gräfin von Genlis aus dem achtzehnten Jahrhundert und aus der französischen Revolution vom Jahr 1756 bis zur gegenwärtigen Zeit nach dem Französischen frei bearbeitet von August von Faurat. 8 Bde. Leipzig 1826. Bd. 5. S. 32. Ob dies, wie es oft geschieht, ein Hinweis darauf ist, dass die Genlis Gast im Salon Grotthus war, bleibt offen. 44 Grotthus, Sara Meyer: Ansichten einer Deutschen Frau. Manuskript. SV 78. 45 Sein Verhältnis zu Marianne Meyer Eybenberg ist in der Literatur womöglich bekannter geworden, weil es durchaus erotische Züge trägt und sich leichter in die Reihe „Goethe und seine Verehrerinnen“ einordnen lässt.



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spräche. Goethe antwortete nicht unfreundlich, bedankte sich aber vor allem für ihre Anteilnahme, ihre Empfindungen und Aufmerksamkeiten. Die Liste der Anhänge zu den Briefen beider Schwestern enthielt regelmäßig Köstlichkeiten wie Kaviar, Gänse oder Schokolade. Überspitzt könnte man formulieren, Goethes Interesse an der Beziehung zu den Schwestern werde im fröhlichen Nebeneinander der Wünsche in seinen Briefen deutlich; ihn interessierten Gerüchte – und Gerichte: „Laßen Sie von Zeit zu Zeit etwas von sich hören und geben uns einige Nachricht, besonders auch wie es mit dem academischen Wesen in Berlin aussieht. [...] Nun aber empfehle ich Ihnen meine Küche, und meine Tafel, für welche Sie mir zu rechter Zeit einige Leckerbissen zu senden versprochen haben, als da sind: Caviar, Sander und Dorsche.“ 46 Ludwig Geiger sieht in dem Umstand, dass Goethe sich bei beiden Schwestern mit der Übersendung seiner neuesten Werke bedankte, „nicht blos die Quittungen für substantielle Tafelgenüsse, die ihm von Wien und Berlin aus bereitet wurden, auch nicht blos galante Aufmerksamkeiten, sondern eine Anerkennung der geistigen Stellung der Beschenkten.“47 Dass Goethe ihr 1797 überhaupt antwortete, lag daran, dass er ihr ein gerade fertiggestelltes episches Gedicht schicken wollte, „dem ich eine so gute Aufnahme, auch in Ihrem Zirkel wünsche als die Neigung stark ist.“48 Bemerkenswert ist daher, wo in diesem Austausch von Freundlichkeiten Goethe eindeutige Grenzen zog. Als Gastgeberin und Vermittlerin von Dichtern und Künstlern nahm er Sara Meyer Grotthus durchaus ernst. Mit Schweigen aber antwortete er auf ihre Emanzipationsversuche, als Jüdin und als Autorin. Als Leserin hatte er sie selbst adressiert, und eine Diskussion über Madame de Staël mit ihr begonnen. Als sie aber die Diskussion textlich weiterführen und ihn in einem politischen Aufsatz zitieren wollte, reagierte er nicht. Dabei hatte sie ebenso höflich wie dem Zeitgeschmack entsprechend „weiblich devot“ formuliert: [S]o habe ich zum Beyspiel einen Aufsatz gegen die hier herrschende Vorliebe der Franzosen & ihre Sitte und Sprache geschrieben, der sich blos fürs weibliche Geschlecht eignet, auch ziemlich schwächlich ist, aber doch ein Wort zu seiner Zeit enthält, [...] ob das Gesandte sich zur Publicität oder zum Verbrennen eignet, gewiß meine Eitelkeit kann er nicht belei-

46 Johann Wolfgang Goethe an Sara Meyer Grotthus, 28.10. 1810. In: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik und Literatur (1846). S. 500. 47 Geiger, Ludwig: Einundzwanzig Briefe von Marianne von Eybenberg, acht von Sara von Grotthus, zwanzig von Varnhagen von Ense an Goethe, zwei Briefe Goethes an Frau von Eybenberg. In: Goethe-Jahrbuch 14 (1893). S. 27–142, hier: S. 101. 48 Johann Wolfgang Goethe an Sara Meyer Grotthus, 9.2.1797. In: Die Grenzboten 25 (1846). S. 498.

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digen, denn waß mich eigentlich in meinen Augen ziert, ist mir gewiße Wahrheit, da auch meine Mittelmäßigkeit deutlich ist.49

Als er einen Monat lang nicht antwortete (obwohl auch dieser Brief von Schokolade, Zander und Gänsen begleitet war), verzichtete sie sogar auf den ganzen Plan: Verehrungswürdiger Freund! Ob es zwar scheint daß ich in meinem letzten Brief etwas Ihnen misfälliges geschrieben, so halte ich’s für Pflicht Ihnen darüber etwas zu sagen daß ich nie indiscret sein kann noch werde daher bitte meine Anfrage als nicht geschehen anzusehen. ich habe auf dieses Project etwas zu schreiben renoncirt, nur bitte ich entziehen Sie mir Ihr schätzbares Vertrauen nicht (...). 50

Versöhnlich bot ihr der Dichter im Februar daraufhin an, er würde ihre Veröffentlichung gern unterstützen – in seinem Weimarer Kreis: „Mögen Sie von Ihren Empfindungen und Gedanken irgend etwas schriftlich mittheilen, so senden Sie es nur grade an mich, damit in dem Kreise unserer Weimarischen Natur=, Kunst=, und Sittenfreunde wir uns an diesen noch immer langen Abenden erbauen.“51 Möglicherweise war das für sie ein Grund, den Briefwechsel hier abzubrechen. Als sie ihn Jahre später wieder aufnahm, schrieb sie nicht nur als Verehrerin seiner Werke, sondern als Autorin. Sie zählte ihm gedruckte Versuche in verschiedenen Gattungen auf, erwähnt z.B. anonym gedruckte Übersetzungen und Dichtungen.52 Goethe antwortet freundlich, ein Treffen im Badeort wurde in Aussicht gestellt. Als sie ihn jedoch bat, sie in ihrem Schreiben zu unterstützen und bei dem Verleger Cotta ein freundliches Wort für sie einzulegen, ging er darauf wieder nicht ein. So kann man die letzte Sendung Sara Meyer Grotthus metaphorisch lesen. Sie beendete die Korrespondenz mit „eine[m] Korb von Zuckerblumen so täuschend die Natur nachahmend gemacht“ und endgültig.53 Goethes Nichtantworten auf ihre persönlichen Geständnisse kann man, in der Formulierung Florian Krobbs, als Weigerung deuten, die ihm zugedachte Rolle 49 Sara Meyer Grotthus an Johann Wolfgang Goethe, 25.11.1814. Goethe- und- Schiller-Archiv (GSA) 28/375. 50 Sara Meyer Grotthus an Johann Wolfgang Goethe, 26.12.1814. GSA 28/375. 51 Johann Wolfgang von Goethe an Sara Meyer Grotthus, 2.2.1815. In: Weimarer Ausgabe, Bd. 25. S. 127f. Hier nach Manuskript zitiert, Sammlung Varnhagen (SV) 71. Die Empfängerin kommentierte den Inhalt auf dem Umschlag: „Als ich ihm Vorwürfe über seine Schweigen gemacht und die Manuscripte die ich geschrieben ihm zu senden versprochen.“ Ebda. 52 „Wenn Ihnen vielleicht eine Erzählung Die 12 Worte und ein Roman Julie von Fiorabella und ein Lustspiel die Wahl zur Ansicht kömt, so seyn Sie nachsichtig, denn sie sind in doloribus scripcit“, 19.2.1824. GSA 28/375. Die hier erwähnten Werke sind leider nicht überliefert. 53 Sara Meyer Grotthus an Johann Wolfgang von Goethe, 18.5.1824, ungedruckt, GSA 28/375.



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des „Emanzipationsbefürworters“ zu übernehmen.54 Sara Meyer Grotthus musste sich trotz ihrer Salonbekanntschaft mit einem bedeutenden Dichter als Autorin selbst emanzipieren. Einer zweifelhaft neutralen Muse der Salongeschichtsschreibung hat sie es zu verdanken, dass sie dennoch heute vor allem als Autorin der Briefe an Goethe bekannt ist. Die wenigen Beispiele zeigen: es geht nicht an, für die verschiedenen Lebensgeschichten auch und gerade der preußischen jüdischen Salonièren einen Maßstab der Emanzipation finden zu wollen – vor allem, da trotz der reichen Legendenbildung und anhaltenden Forschung noch vieles en detail zu hinterfragen ist. Festzuhalten bleibt: Die Berliner jüdischen Salonièren waren sicher Frauen der Emanzipation, auch wenn der Preis für diese Emanzipation vielleicht anders aussah, als oft vermutet. Ein wesentliches Mittel, ein Weg, die Widersprüche in ihr Leben einzubinden, war ein gewisses Maß an Ironie. Das vorletzte Wort hat noch einmal Sara Meyer Grotthus, die am Ende ihres Lebens gegenüber einer anderen Salonière die Schwierigkeiten benannte, von den Gästen als gleichberechtigte Gesprächspartnerin anerkannt zu werden: Männer, selbst die ausgezeichnetesten wollen das [!] die Frauen nur von Allem wie die Schmetterlinge kosten sollen, die ganze wirkliche Nahrung schöner und gesunde Früchte soll für sie bleiben, wenn sie mit Weibern raisoniren, so soll das Gesagte oder Gefragte sie neu mit der eignen Tiefe und Gründlichkeit nur mehr bekant machen u durch den Contrast vergewißern daher mögen sie keine philosophisch denkende Frau.55

Ganz ähnlich hatte sich Rahel Levin Varnhagen einmal gegen eine Überhöhung ihrer selbst durch einen Gast mit den Worten gewehrt: „daß Sie sich so sehr schwach gegen mich stellen, mich so hoch über sich setzen, dadurch machen Sie mich zum Idole, und sich zum lebenden Menschen.“56 Muse zu sein war nicht genug.

54 Krobb, Florian: ‚Überdies waren die Mädchen hübsch‘. Goethes Jüdinnen. In: Oxford German Studies 20/21 (1991/1992). S. 33–45, hier: S. 42. 55 Sara Meyer Grotthus an Rahel Levin Varnhagen, 27.1.1825. SV 78, auch in: Barbara Hahn: Unter falschem Namen. Von der schwierigen Autorschaft der Frauen. Frankfurt/M. 1990. S. 35. 56 Rahel Levin Varnhagen an Gustav von Brinckmann, 5.2.1795. SV 38.

Elke von Nieding

Die Damen Mendelssohn und die Mode in Berlin zwischen 1760 und 1850 Selbstbewusst und mit einem Lächeln blickt die junge Frau uns aus dem Minia­ turbildnis entgegen (Abb. 1, S. 30). 1767 entstand es und ist das einzige, das wir von ihr kennen.1 30 Jahre alt ist Fromet Gugenheim damals, seit fünf Jahren die Frau Moses Mendelssohns und Mutter von vier Kindern, von denen zwei schon verstorben sind. Mendelssohn hat sie in Hamburg kennengelernt, sich unsterblich in diese Tochter seiner Geschäftspartner verliebt und, nachdem er unter großen Schwierigkeiten ein Niederlassungsrecht für ausländische Juden bei der preußischen Regierung für sie erlangt hat, 1762 in Berlin die Ehe mit ihr geschlossen. Eine ungewöhnliche Ehe, nicht gestiftet von den Eltern, um Geschäftsbeziehungen zu verstärken oder zu erweitern, wie es bei jüdischen Familien zu der Zeit üblich war, sondern basierend auf gegenseitiger Zuneigung. Fromet erscheint auf diesem Bild damenhaft elegant und, soweit es ihr möglich ist, modisch gekleidet. Der Philosoph und Aufklärer Moses Mendelssohn lebt streng nach den mosaischen Gesetzen2 und so befolgt Fromet selbstverständlich die Kleidervorschriften für fromme jüdische Frauen3. Sie trägt eine vollständige Kopfbedeckung über dem wahrscheinlich kurz geschnittenen Haupthaar. Dazu gehört eine eng anliegende Seidenkappe, an der sich vorn ein breites seidenes Stirnband in der Farbe der Haare befindet, darüber eine reich mit Rüschen und Spitzen verzierte Haube. Eine jüdische Frau soll „züchtig“ gekleidet sein und mit ihrem Körper keinen unerwünschten Reiz auf Männer ausüben. Demnach muss sie völlig verhüllt, auch die Füße stets mit Strümpfen und Schuhen bedeckt sein. Fromet trägt also ein knöchellanges bis an den Hals geschlossenes Kleid mit Ärmeln bis zum Ellenbogen. Einzig ihre Unterarme und Hände sind exponiert und durch Spitzenrüschen betont. Fromet hat sich in eine Mantille gehüllt, die aus bedrucktem Samt oder Brokat besteht. Das ist ebenso wie die großen Schultertücher eine Vorform des Mantels. 1 Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz – Mendelssohn Archiv. 2 Janetzki, Ulrich (Hrsg.): Henriette Herz, Berliner Salon, Erinnerungen und Portraits. Frank­ furt/M. Berlin 1986. S. 28. 3 Somogyi, Tamar: Die Schejnen und die Prosten, Untersuchungen zum Schönheitsideal der Ostjuden in Bezug auf Körper und Kleidung unter bes. Berücksichtigung des Chassidismus. Berlin 1982. S. 99, 107 (Kölner Ethnologische Studien Bd. 2).

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 Elke von Nieding

Abb. 1: Fromet Mendelssohn, geborene Gugenheim [Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz – Mendelssohn Archiv]

Die vorherrschende bürgerliche Frauentracht im 18. Jahrhundert besteht aus Hemd, Leibchen und mehreren Unterröcken aus feinem Leinen oder Batist. Darüber ein ärmelloser Schnürleib und ein Oberrock zuweilen über einem weiten Reifen. Vom Hemd sind Halskrause und Ärmel mit Spitzenbesatz sichtbar. In Mode kommt auch eine gefütterte langärmelige Damenjacke aus gemusterter Seide, ein sogenannter Caraco. Wer es sich leisten kann, wählt für die Oberkleidung Samt, Atlas, Damast, bunt gemusterten Brokat, Mohair, Mousseline de laine, Gold- und Silberstickereien. Winterkleider werden oft mit Pelzen verbrämt. Moses Mendelssohn ist etwa zur Zeit seiner Eheschließung bereits der soziale Aufstieg in die noch stadtbürgerlich geprägte christliche Gesellschaft gelungen.4 Neben seiner Reputation als Schriftsteller und Aufklärer wirkt er als erfolgreicher Geschäftsmann. Er ist Prokurist und später Teilhaber bei Isaak Bernhard, dem zweitgrößten Unternehmer in der Berliner Seidenherstellung mit zeitweise 60 Webstühlen in Berlin und Potsdam. Seit 1779 handelt er mit italienischer Rohseide auf eigene Rechnung, betreibt auch einen Handel mit Wechseln. Seine Geschäftsverbindungen reichen vom italienischen Mailand bis nach Hamburg, Ostpreußen und Polen. Es ist anzunehmen, dass er, der in den Bernhardschen Betrieben Färbeexperimente macht und Musterzeichnungen für die beliebten Seiden- und Halbseidenzeuge auf den Zugwebstühlen entwirft, auch seine Ehefrau mit seidenen Stoffen versorgt. Die Herstellung von Kleidung erfolgt zu dieser Zeit auf herkömmliche Weise. Wer ein neues Kleidungsstück benötigt, muss einen entsprechenden Stoff, die passenden Accessoires wie Knöpfe, Besätze, Bänder, Spitzen und Stickereien etc. in den Schnittwaren- oder Manufakturhandlungen kaufen und diese zu einem 4 Meier, Brigitte: Jüdische Seidenunternehmer und die soziale Ordnung zur Zeit Friedrichs II. Bd. 52. Berlin 2007. S. 228f.



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Schneider bringen oder das Kleidungsstück selbst anfertigen. Seit 1780 gibt es Modejournale wie das Journal des Luxus und der Moden oder das französische Journal des dames et des modes, nach denen sich die Schneider richten können. Erste, bereits vorgefertigte Artikel wie Strümpfe, Handschuhe, Shawls, Umlegetücher und Taschentücher können auch schon fertig erworben werden. Kleidung ist kostbar und teuer in der Anschaffung und so ist es nicht verwunderlich, wenn in der Vossischen Zeitung immer wieder Versteigerungen aus privaten Nachlässen oder Auflösungen von Modehäusern oder Warenlagern angekündigt werden.5 So schickt der Bräutigam Moses Mendelssohn 1761 Kleider nach Hamburg, darunter ein grauseidenes, das auch nach seinem Geschmack ist, von Fromet aber als zu teuer bewertet wird.6 Ebenfalls sendet er künstliche Blumen, die die Tochter seines Prinzipals verfertigt, einen Strohhut für die Schwägerin mit grünem, gelben und rotem Band nach Hamburger Geschmack und an die Schwiegermutter geht eine Sendung mit zwei Anzügen und Brabanter Kanten.7 Fromets Brautkleid wird in Berlin genäht, natürlich aus Seide der Bern­ hardʼschen Produktion. Daraus wird Jahre später, 1775 ein Thoravorhang für die Synagoge in der Berliner Rosenstraße gearbeitet. Weißseiden, mit Ornamenten in Gold und bunten Farben bestickt.8 Fromet ist belesen, spricht Französisch und führt energisch ihren Haushalt in der Spandauer Vorstadt. Mit Grazie bewirtet sie die zahlreichen Gäste und Schüler ihres Ehemanns und erzieht die sechs überlebenden ihrer zehn Kinder mit Strenge. Sie entspricht vollständig dem Ideal einer guten, bescheidenen und sich zurückhaltenden jüdischen Ehefrau. Diese Tugenden werden auch später in ihren Nachrufen lobend erwähnt.9 Ganz anders ihre älteste Tochter Brendel (1763–1839), die sich später Dorothea nennen wird. Moses Mendelssohn hatte sie in bester Absicht 1783 mit dem Bankier Simon Veit verheiratet und ihr damit einen gesicherten Status in der Berliner jüdischen Gemeinde verschafft, aber Brendel ist nicht glücklich. Das begabte, phantasievolle Mädchen ist gemeinsam mit ihrem ältesten Bruder und einigen anderen Jugendlichen vom Vater in seinen „Morgenstunden“ umfassend gebildet worden, hat den Umgang mit den geistig hervorragenden oder vorneh5 Waidenschlager, Christine (Hrsg.): Berliner Chic, Mode aus den Jahren 1820–1990. Stiftung Stadt­museum Berlin. Tübingen–Berlin 2001. S. 12. 6 Moses Mendelssohn, Brautbriefe. Berlin 1936. Briefe vom 12. Juni und 7. Juli 1761. 7 Brief vom 22. September 1762 (wie Anm. 6). 8 Lackmann, Thomas: Das Glück der Mendelssohns, Geschichte einer deutschen Familie. Berlin 2005. S. 36 sowie Jüdisches Museum Berlin. 9 Keuck, Thekla: Hofjuden und Kulturbürger, die Geschichte der Familie Itzig in Berlin. Göttingen 2011. S. 397.

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men Gästen kennengelernt, die in ihrem Elternhaus verkehren, und kann sich nun schlecht in das Dasein einer braven Hausfrau und Mutter in einer Kaufmannsfamilie fügen.10 Brendel ist seit Kindertagen mit Henriette Herz, geb. de Lemos (1764–1847) befreundet. Diese, eine viel bewunderte Schönheit, ist mit dem 15 Jahre älteren Arzt Marcus Herz glücklich verheiratet. Herz hält in seinem Haus in der Spandauer Straße sehr begehrte naturwissenschaftliche Vorlesungen ab, zu denen u.a. die Brüder Humboldt mit ihrem Erzieher und der Kronprinz erscheinen. Henriette versammelt indessen Freunde und Bekannte in ihren Räumen, man diskutiert und liest die Neuerscheinungen der deutschen und englischen Literatur. Auch Brendel Veit (geborene Mendelssohn) hat in ihrem Haus eine Lesegesellschaft eingerichtet. Meist werden Dramen gelesen und zu den Zuhörern gehört zuweilen auch Moses Mendelssohn und gibt sein Urteil über Leser und Gelesenes ab. Es ist die Zeit der Empfindsamkeit, der Freundschafts- und Tugendbünde, aus denen sich später vor allem durch die Initiative von Rahel Levin, spätere Varnhagen (1771–1833) die Berliner Salons entwickeln. Beeinflusst von den Gedanken der Aufklärung liefern die zeitgenössischen literarischen Strömungen Impulse für emanzipatorische Tendenzen und hier werden die reichen, hoch gebildeten, sprachgewandten jüdischen Frauen zu Vorreiterinnen. In ihren Häusern treffen sich junge Intellektuelle, aufstrebende Autoren, Politiker und junge Adlige. Es kann nicht ausbleiben, dass der neue Geist, der aus dem revolutionären Frankreich herüberweht, auch im äußeren Erscheinungsbild der jungen Leute zu Veränderungen führt. Junge Männer zeigen sich im sogenannten Wertherlook, einem schlichten blauen Frack, gelber Weste, weißledernen Hosen und Stulpenstiefeln. Natürlichkeit ist Trumpf und so bevorzugen junge Frauen weiße Musseline-Kleider in fließenden Linien. Den jungen jüdischen Frauen erlauben die Rabbiner jetzt zwar nicht das Tragen eigener Haare, aber Perücken, und die unkleidsamen großen Kopfbedeckungen fallen. Bald aber werden auch die Perücken beiseitegelegt.11 Um 1800 zeigen Gemälde von Anton Graff Rahel Levin, verheiratete Varnhagen von Ense, Henriette Herz und Brendel, jetzt Dorothea, verheiratete Veit, mit wallenden von Bändern durchflochtenen Locken und großen Dekolletés. Das ist revolutionär, wenn auch nicht so freizügig, wie sich Amalie Beer von Carl Kretschmar darstellen lässt. Für Brendel/Dorothea sind diese Veränderungen nicht nur äußerlich. 1797 lernt sie bei Henriette Herz den Dichter und Journalisten Friedrich Schlegel kennen und lieben, wird zum Gegenstand eines als skandalös empfundenen Romans, lässt sich 10 Janetzki, Henriette Herz (wie Anm. 2), S. 58ff. 11 Janetzki, Henriette Herz (wie Anm. 2), S. 25.



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von Simon Veit scheiden und führt seither ein wechselvolles Leben als Autorin, Übersetzerin und, nach ihrem Übertritt zum Christentum, als Ehefrau Schlegels. Obwohl Moses Mendelssohn für sich selbst und seine Familie jüdische Sitten und Vorschriften genau beachtet, bleibt die Haskala, die jüdische Aufklärung, die in seinem Hause von ihm und befreundeten Gelehrten eifrig diskutiert wird, nicht ohne Einfluss auf seine Kinder und deren Freunde. Zunehmend entfremden sie sich der jüdischen Gemeinde. Im Laufe der Zeit lassen sich seine Söhne Abraham und Nathan sowie seine Töchter Brendel und Jente/Henriette taufen. Sohn Joseph vertritt ein sehr offenes (nicht orthodoxes) Judentum. Auch das modische Erscheinungsbild der jüdischen Damen gleicht sich immer stärker dem ihrer christlich-bürgerlichen Umgebung an. So trägt Abraham Mendelssohns Frau Lea, eine Enkelin des Oberältesten der jüdischen Gemeinde, Daniel Itzig, auf ihrem 1823 von Wilhelm Hensel gemalten Bild im Kupferstichkabinett in Berlin zwar eine Rüschenhaube unter ihrem Schutenhut, aber dunkle Korkenzieherlocken umrahmen ihr Gesicht. Reichlich mit Rüschen versehen ist auch ihre bis zum Hals geschlossene Mantille über dem hoch gegürteten Empirekleid, aber das entspricht durchaus dem Bild einer modisch gekleideten verheirateten Dame der damaligen Zeit. 1804 schreibt die jung verheiratete Lea Mendelssohn ihrer Schwägerin Henriette, die ihr wahrscheinlich Kleider aus Paris geschickt hat: […] [A]m Abend meiner Ankunft (in der neuen Hamburger Wohnung) habe ich mir noch den Spaß gemacht, mein Pariser Kistchen nicht allein zu öffnen, sondern die beiden Prachtgewänder anzuziehen. Himmlisch! Aber nur zur Cour bei Kaiser Napoleon zu gebrauchen. Das herrlichste, reichste, glänzendste, seidenweichste, chamois pektinartige Atlaskleid, und das zarteste, mit Weiß vermischte fassonierte Rosa, göttlich garniert und gemacht! Mendelssohn war im höchsten Enthusiasmus […].12

Es gibt leider keine Abbildung jener Gewänder, es wird sich jedoch um solche im Empirestil handeln. In Berlin entstehen ab 1820 zahlreiche Modehandlungen, die man als Begründer der Berliner Konfektion bezeichnen kann. Es handelt sich um exklusive Geschäfte, in denen das elegante Publikum, Hüte, Hauben, Tücher und Mäntel erwerben kann. In der Jägerstrasse, Gertrauden-, Breite- und Brüderstrasse eröffnen Sara Loewen, Blumenreich und Loewenstein, Leander, Mannheimer, Rudolph Herzog, Hermann Gerson u.a. ihre Geschäftslokale.13 Viele dieser Geschäftsleute sind Juden, die sich nach und nach, veranlasst durch die offensichtlich große Nachfrage auf die Herstellung konfektionierter Kleidung verlegen. Ihr geschäft12 Hensel, Sebastian: Die Familie Mendelssohn 1729–1847. Erster Band. Leipzig 1924. S. 104. 13 Waidenschlager, Berliner Chic (wie Anm. 5), S. 14ff.

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licher Weitblick ermöglicht es ihnen, das Vorbild Paris vor Augen, wo Pierre Parrissot als erster mit der serienmäßigen Herstellung von Kleidung begonnen hatte und sie ab 1824 in seinem Geschäft „La Belle Jardinière“ verkauft, auf die Berliner Bedürfnisse zu übertragen und in der Fertigung von serienmäßig hergestellter Kleidung einen zukunftsträchtigen Geschäftszweig zu finden. Mode spiegelt stets die moralischen, ständischen und politischen wie geistigen Strömungen ihrer Zeit wider. Um 1800 finden revolutionäre, freiheitliche oder sentimentale Strömungen modischen Ausdruck in den wallenden, hoch gegürteten Chemisekleidern im griechischen Stil. Die gestärkten Hauben weichen Turbanen, Bändern oder kecken Hüten. In der nachnapoleonischen Zeit sind es eher restauratorische Tendenzen, die die Mode beeinflussen und zunehmend gibt hier Paris den Ton an. Der Wirkungskreis von Frauen beschränkt sich wieder auf Familie und gesellschaftliche Repräsentation, an den sozialen und technischen Umwälzungen haben sie keinen Anteil.14 Die Kleider werden „steifer“ und haben komplizierte Schnitte. Dieser 1824 abgeschlossene und damit ins Biedermeier überleitende Prozess hat zugleich die Wiedereinführung des Korsetts bewirkt, damit eine schmale Taille erreicht wird. Außerdem setzt in der bürgerlichen Kleidung eine Differenzierung zwischen Tages- und Abendkleidung ein. Das Tageskleid ist hochgeschlossen. Besonders das „Altdeutsche“ Kleid hat eine Art Halskrause oder einen Stuartkragen, während beim Gesellschaftskleid ein Dekolleté erhalten bleibt. Für den Tag gibt es eine separate Taille (Oberteil), aus der sich später die Bluse entwickelt, und einen separaten Rock. Bei der Fußbekleidung verdrängt die Stiefelette den Kreuzbandschuh. Strümpfe mit bestickten oder kunstvoll gewirkten Zwickeln sind unerlässliches Accessoire, da der mäßig weite, von Unterröcken unterstützte Rock fußfrei bleibt. Bei kleinen Mädchen darf das Kleid sogar nur wadenlang sein. Darunter zeigt sich eine knöchellange, spitzenbesetzte Hose, sogenannte Pantalons. Zu sehen ist das z.B. bei „Paulinchen“ im Struwwelpeterbuch. Sonst besteht das „Darunter“ nur aus einem Hemd unter dem Korsett. Unterhosen tragen Damen meist im Winter oder höchstens Aristokratinnen beim Reiten. Ab 1837, der Zeit des hohen Biedermeier, wird die Silhouette durch die großen Hammelkeulenärmel charakterisiert, der die eng geschnürte Taille noch schmaler erscheinen lässt. Die Röcke werden durch die Stahl- oder Korbreifenkonstruktion der Krinoline unterstützt. Das Kleid kann durch eine taillierte Schoßjacke und ein Chemisette ergänzt werden. Das Haar wird am Oberkopf zu einem kunstvollen Knoten und seitlich mit Korkenzieherlocken arrangiert, manchmal trägt es die Dame auch glatt in der Mitte gescheitelt mit seitlichen Locken oder einem Knoten (Chignon) am Hinterkopf. Abends wird die Frisur gern mit künstlichen Blumen 14 Reclams Mode & Kostümlexikon. Hrsg. v. Ingrid Loschek. Stuttgart 1999. S. 71f.



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oder Bändern geschmückt. Tagsüber trägt die verheiratete Frau ein Spitzenhäubchen im Haus, und auf der Straße sind alle weiblichen Wesen mit reich dekoriertem Schuten- oder Kapotthut zu sehen. So malte Wilhelm Hensel z. b. seine Frau Fanny und andere Damen. Henriette Mendelssohn, obwohl selbst sehr zurückgezogen lebend, scheint öfter Modisches aus Paris geschickt zu haben. Sie berichtet über modische Tendenzen und gibt Hinweise, wie ein leichter Stoff (Barège) über rosa Atlas zu einem Ballkleid zu verarbeiten sei.15 1822 nimmt sie Anteil an der Schweizer Reise von Abrahams Familie und schreibt ihrer 17-jährigen Nichte Fanny: Wie gern hätte ich dir für diese Reise so ein lächerliches Kleid geschickt, wie man es in diesem Sommer in Paris trägt. Es sind sehr weite, faltige Fuhrmannshemden, Bluse genannt, die gerade so wie jene oben am Hals und an den Schultern mit bunten Stickereien verziert sind und gar keine Form haben, sondern von einem ledernen Gurt unter der Brust festgehalten werden. Du hast Dich mir aber als so korpulent geschildert, daß ich nicht den Mut hatte […] denn bloß Kinder oder Nymphengestalten sehen erträglich darin aus.16

1835 besucht Fanny Hensel zusammen mit Mann, Sohn und Schwägerin Paris. Obwohl der in Paris lebende Giacomo Meyerbeer die 30-jährige Fanny als „unbeschreiblich häßlich“17 beschreibt, hat ihr Mann Wilhelm Hensel ein sehr anmutiges Bild von ihr zu dieser Zeit gezeichnet. Sie trägt ein dekolletiertes, eng geschnürtes Kleid aus gemustertem Stoff, darüber eine seidene Stola. Die Frisur ist von einem zarten, reich mit Blüten dekorierten Spitzenhäubchen bedeckt. In Briefen an die Familie in Berlin berichtet sie ausführlich über modische Einkäufe, die sie im Auftrag von Mutter, Schwester Rebecka und Schwägerin Albertine getätigt hat.18 Dem fünfjährigen Sohn Sebastian hat sie ein lila gestreiftes Röckchen und Höschen gekauft, ähnlich den Bildern der Knaben im bereits erwähnten Struwwelpeter, worin sie ihn allerliebst aussehend findet: „[D]iese Kinderkleider findet man zu tausenden in allen Größen fertig im palais royal, und man braucht die kleinen Leute nur hinein zu stecken“. Die Auswahl an konfektionierten Kleidungsstücken erscheint ihr größer als in Berlin. Sie schreibt: Es ist nicht zu läugnen, daß das Kaufen hier einen ganz eigenen Reiz hat, und wer viel Geld und wenig Charakter besitzt, kann Gelegenheit finden, das Erstere ebenfalls los zu werden. Da bei mir aber jene Eigenschaften in umgekehrtem Verhältnis stehn, so beschränken sich meine Folien (Torheiten) auf Folgende, die keine sind, sondern nothwendig: 15 Mendelssohn-Studien. Bd.6. Berlin 1986. S. 53ff. 16 Mendelssohn-Studien. Bd. 14. Berlin 2005. S. 163. 17 Hensel, Fanny: Briefe aus Paris an ihre Familie 1835. Hrsg. v. Hans-Günter Klein. Wiesbaden 2007. S. 12. 18 Hensel, Briefe (wie Anm. 17), S. 32ff.

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1 Corset vortrefflich, 10 Paar Handschuh, göttlich, 2 Kleider schön! Nämlich ein lila musselin Kleid gewöhnlicher Art, zum Ausgehn, und ein schönes Musselin laine Kleid, was hier sehr viel getragen wird. Ueber ein leichtes Tuch und einen Sonnenschirm debattiere ich noch mit meinem Gewissen, ein Kragentuch habe ich ihm schon abgeschwatzt, und eine Haube werde ich ihm bei unserer Abreise vorschlagen.

Mutter und Schwester möchte sie Handschuhe besorgen, die im Dutzend 28 francs kosten und ganz vortrefflich sind, ebenso hat sie den Auftrag, Schuhe zu besorgen und fragt, ob sie schwere Seidenzeuge mitbringen soll. Sie ist mit ganz exakten Preisvorstellungen aus Berlin gekommen und entschuldigt sich bei ihrer Mutter, wenn sie ein getüpfeltes Wollmousseline Kleid für Schwägerin Albertine teurer eingekauft hat. Es sollte 68 francs kosten und sie hat es dann auf 55 francs herunter gehandelt. Ganz exakt macht sie die Rechnung für die bestellten Einkäufe auf und bringt auch die Quittungen mit. Insgesamt hat sie 250 francs ausgegeben und dafür une robe brodée, une robe de mousseline de laine erworben die geheftet sind, während Ärmel und Röcke fertig genäht sind, ein graues Kinderkleidchen, 2 Dtzd Paar Handschuhe, eine Blume, mehrere Bänder und Cravatten, ein kleines seidenes Tuch, ein Paar gestickte Manchetten.

Paul Mendelssohn-Bartholdy, Fannys jüngster Bruder, hat im Mai 1835 nach langer Verlobungszeit Albertine Heine geheiratet. Auch sie entstammt einer jüdischen Bankiersfamilie und wurde wie er bereits als Kind zusammen mit den Geschwistern getauft. Ihr Bild im Jüdischen Museum Berlin zeigt Albertine als Braut. Gestaltet wie ein Altarbild, enthält es Anspielungen auf christliche Madonnendarstellungen wie der Blick auf die Marienkirche, die Lilienvase und das Gebetbuch. Der Spitzenschleier der Braut unter dem Myrtenkranz fällt jedoch über ein modisches, dekolletiertes Korsagenkleid mit Keulenärmeln und Krinolinenrock (Abb. 2)19. Symbolhafte Darstellungen scheinen in Pauls Familie beliebt zu sein: Das posthum entstandene Gemälde der 1863 mit 23 Jahren verstorbenen Tochter Pauline zeigt eine junge Dame im Ballkleid aus duftig weißem Musseline (Abb. 3). Der ernste, ein wenig traurige Ausdruck des Mädchens, die düsteren Bäume im Sonnenuntergang, die kaum erblühte Rose im Gürtel des Kleides, die verschränkten Hände auf dem Gesangbuch20 deuten auf etwas Unwirkliches, engelhaftes hin. 19 Kaselowsky, August Theodor: Albertine Mendelssohn-Bartholdy als Braut. Jüdisches Museum Berlin. 20 Nieding, Elke von: Die unbekannte Tochter. In: Mendelssohn-Studien. Bd. 13. Berlin 2003. S. 221f.



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Abb. 2: August Theodor Kaselowsky, Albertine Mendelssohn Bartholdy als Braut, 1835 [Jüdisches Museum, Berlin]

Abb. 3: Pauline Mendelssohn Bartholdy. Posthum entstandenes Ölgemälde von Julius Schrader [Mendelssohn-Gesellschaft]

Abb. 4: Pauline Mendelssohn Bartholdy mit ihren Schwestern [Privatbesitz]

Abb. 5: Cécile, die Ehefrau von Felix Mendelssohn Bartholdy. Gemälde von Eduard Magnus, 1835 [Staatsbibliothek Berlin, Mendelssohn-Archiv]

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Ein anderes Bild (Abb. 4) zeigt Pauline zu Lebzeiten mit ihren Schwestern. Die Mädchen tragen schottisch karierte Kleider aus Wollmusseline, die ähnlich gearbeitet sind wie ein 1842 entstandenes Kleid aus der Sammlung des Berliner Stadtmuseums.21 1846 malt Eduard Magnus das Bild von Cécile, der Ehefrau Felix Mendelssohn Bartholdys (Abb. 5). Es entsteht zwar in Leipzig, aber wie ihre Schwägerinnen in Berlin folgt Cécile den angesagten Pariser Modevorschlägen. Die Frau des weltberühmten Komponisten präsentiert sich in einem eng geschnürten, braunroten Satinkleid mit weitem Krinolinenrock. Unter dem in Falten gelegten Dekolleté blitzt das gerüschte Hemd hervor. Die tief angesetzten Ärmel sind mit Knöpfen über den Ellbogen gerafft, damit sich die bauschigen Unterärmel aus Batist zeigen können. Eine rote Pelzstola vervollständigt den Anzug. Auf der gescheitelten Frisur mit den modischen Ringellocken sitzt keck ein rotes Käppchen im türkischen Stil mit Quasten. Ebenfalls von Magnus gemalt ist das Bildnis der jungen Marie Warschauer, Tochter von Alexander Mendelssohn, das sich bei einer Nachfahrin befindet. Sie trägt ein silbergraues Gesellschaftskleid aus Atlasseide. Eng tailliert ist dessen tief dekolletiertes Oberteil das reichlich mit Spitzen dekoriert ist. Auch hier wieder die breiten gerüschten Ärmel und ein Krinolinenrock. Als verheiratete Dame trägt sie die Andeutung eines Häubchens aus Spitze. Beinahe hundert Jahre dauerte der Weg von den jüdischen Seidenunternehmern zur Zeit Friedrichs II. bis zu den international agierenden Bankiers des Vormärz und des beginnenden Industriezeitalters. Es ist auch der Weg der Mendelssohns auf dem sie mit Fleiß und Geschick und nicht zuletzt dank ihrer künstlerischen Begabungen in der Mitte der bürgerlichen preußischen Gesellschaft angekommen sind. Ihre Frauen haben sie auf diesem Weg nicht nur begleitet, sondern durch ihr Auftreten in der Öffentlichkeit, ihre Bildung und die Geselligkeit, die sie in ihren großzügigen Wohnungen pflegten ganz zweifellos unterstützt. Folgt man den Äußerungen in ihren Briefen und Tagebüchern, legten diese Frauen keinen allzu großen Wert auf Äußerlichkeiten, aber es fällt doch auf, dass sie sich gern in modischer Kleidung darstellen ließen, die sie sehr überlegt in Paris und wohl auch in Berlin einkauften. Es ist anzunehmen, dass ihnen dabei die seit 1830 aufstrebende Berliner Konfektion entgegen kam, von der Hermann Gerson sagte, dass aus Krämern Kaufleute wurden, deren Angebote den Vergleich mit der Modemetropole Paris nicht zu scheuen brauchte.22

21 Waidenschlager, Berliner Chic (wie Anm. 5), S. 14ff. 22 Waidenschlager, Berliner Chic (wie Anm. 5), S. 24.

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Emanzipiert aber keine Frauenrechtlerin! Ottilie Assing, ein engagiertes Leben zwischen Europa und Amerika Zwischen dem Adam Clayton Powell Jr. und dem Frederick Douglass Blvd, bzw. zwischen der 7. und 8. Avenue, befindet sich in Harlem, New York City, das Appollo Theater, dessen Bühne Startpunkt der Showkarrieren zahlreicher schwarzer Stars war und ist. Der Boulevard im Herzen Harlems ist nach dem Führer der Abolitionisten – der Slavenbefreiungsbewegung, Frederick Douglass, benannt. Er wurde 1817 oder 1818 in Maryland als Sohn einer Sklavin und vermutlich ihres Besitzers in die Sklaverei geboren. Beschrieben wird er als groß gewachsener, schlanker Mann mit attraktiven Gesichtszügen, der ein mitreißender Redner und Verfasser von überzeugenden politischen Schriften war. Eine 2008 in den USA erschienene Publikation stellt Frederick Douglass und Abraham Lincoln nebeneinander – übrigens schon mit ihren Porträts auf dem Buchcover – vor dem Hintergrund der Parallelen in ihren Biografien und ihrer politischen Wirkung.1 Die beiden politischen Aktivisten kannten sich zudem persönlich und schätzten einander. Keine offizielle Erwähnung und kaum öffentliche Wahrnehmung erfährt hingegen die aus Deutschland stammende Ottilie Assing (1819–1884) – die Frau, die beinahe 30 Jahre, von 1855 bis zu ihrem Tod, eng mit Douglass verbunden war. Assing und Douglass waren ein Liebespaar und beflügelten einander in ihren intellektuellen und politischen Aktivitäten. Ottilie Assing war hingerissen von Douglass’ Intelligenz und Energie, Douglass sog die europäische Geistesgeschichte auf, in deren Kontext Assing aufgewachsen war und die sie ihm vermittelte. Wer war diese Ottilie Assing? Als erste Tochter der Dichterin Rosa Maria und des Arztes und Schriftstellers David Assing wurde Ottilie in Hamburg geboren. Ihre Mutter, eine Schwester Karl August Varnhagen von Enses, gehörte zum Kreis der schwäbischen Romantiker um Ludwig Uhland und Justinus Kerner. 1809 hatte Rosa Maria Justinus Kerner kennen gelernt, als diesen eine Bildungsreise auch nach Hamburg zu seinem Bruder führte. Mit ihm und ihrer Freundin Amalie Weise, nachmalig Schoppe, erkundete Rosa Maria die Stadt. Aus dem gemeinsamen Erleben der „Volkspoesie“ in der „großen Stadt“ erwuchs ein Dialog, der, über 1 Stauffer, John: Giants – The Parallel Lives of Frederick Douglass and Abraham Lincoln. New York/Boston 2008.

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einen umfangreichen Briefwechsel hinausgehend, Ausdruck in mehreren Jahrgängen des von Kerner herausgegebenen Poetischen Almanachs fand.2 Weitere Gedichte Rosa Marias – so ihr Pseudonym – wurden in den Sammelband Deutscher Dichterwald von 1813 aufgenommen.3 Darin finden sich auch Gedichte des jüdischen Arztes und Teilnehmers an den Freiheitskriegen David Assur. Durch Rosa Marias Bruder Varnhagen lernten Rosa Maria und David Assur einander kennen. Sie heirateten 1815, nachdem David Assur zum Christentum konvertiert war und den Namen Assing angenommen hatte. Das Paar ließ sich in Hamburg nieder. Assing praktizierte dort als Arzt. Das Assingsche Haus in der Poolstraße war ein Zentrum der zeitgenössischen Schriftsteller; es trafen sich dort Friedrich Hebbel, Amalia Schoppe und Heinrich Heine, der es sich nicht nehmen ließ, anlässlich seiner Besuche in Hamburg bei Rosa Maria vorzusprechen. In späteren Jahren kamen im Haus der Assings die Vertreter des Jungen Deutschland zusammen. Zum engsten Kreis gehörte Karl Gutzkow während seiner Zeit als Redakteur des Telegraphen. Natürlich bestand eine enge Verbindung nach Berlin zu Rosa Marias Bruder Karl August Varnhagen von Ense, der 1814 die für ihren Salon berühmte Rahel Levin geheiratet hatte. Sie hatte vor der Eheschließung, ebenso wie David Assur, die „Taufe genommen“. Rosa Maria und David Assing unternahmen den Versuch, romantische Geselligkeit zu leben und in diesem Sinn ihre Töchter Ottilie und die 1821 geborene Ludmilla zu erziehen. Die Tagebuchaufzeichnungen Rosa Marias lassen erkennen, dass in ihrem Verständnis der Zweck der romantischen Geselligkeit Erziehung und Menschenbildung sei. Die Geselligkeit sei nicht Erfüllung, sondern Mittel, um dem „Ideal“ des aufgeklärten, gebildeten Menschen nahe zu kommen. Demzufolge beobachtete Rosa Maria die Entwicklung ihrer Töchter aufmerksam und hielt sie in ihren Tagebüchern fest. Mit Freude vermerkt sie den Wunsch der fünfjährigen Ottilie, Lesen und Schreiben lernen zu wollen, und berichtet in der Folge über die raschen Fortschritte der Tochter, die sie, als ausgebildete Erzieherin, selbst unterrichtete. Schon früh stellte Rosa Maria bei beiden Töchtern eine große Sensibilität für sprachliche Phänomene fest und notierte zahlreiche Beispiele.4 Ottilie Assing erscheint in den Aufzeichnungen ihrer Mutter und auch später in denen ihrer Schwester Ludmilla als extrovertiert, gesprächsfreudig und streitlustig. Diese Eigenschaften waren offenbar Quelle eines andauernden Kon2 Poetischer Almanach für das Jahr 1812, besorgt von Justinus Kerner. Heidelberg 1812; ebd.: Heidelberg 1813. 3 Deutscher Dichterwald. Hrsg. v. Justinus Kerner, Friedrich Baron de la Motte Fouqué, Ludwig Uhland u.a. Tübingen 1813. 4 Biblioteka Jagielonska Krakau (BJK): Sammlung Varnhagen, Kasten 17: Rosa Maria: Tagebücher.



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flikts zwischen den beiden Schwestern, da Ludmilla unter dem Gefühl litt, zurück gesetzt zu sein, und, obwohl sie die Folgsame war, weniger geliebt zu werden. Dieser schwelende Konflikt kam zum Ausbruch, als Rosa Maria 1840 starb und David Assing, den Verlust seiner Frau nicht verwindend, 1842. Der Tod der Eltern bedeutete für die beiden jungen Frauen einen radikalen Bruch mit dem bisherigen Leben, dessen Zentrum und Rahmen das elterliche Haus mit seinem regen gesellschaftlichen Leben gewesen war. Im November 1837, also als Achtzehnjährige, hatte Ottilie Assing in einem Brief an den Schriftsteller Theodor Mundt ihre „Heimatgefühle“ zu diesem Lebensmittelpunkt beschrieben. Anlass dazu war die Rückkehr des mit den Assings eng befreundeten Ehepaares Steinheim. Für das kinderlose Ehepaar waren die Assing-Töchter Kindersatz, und ihr Haus an der Altonaer Palmaille war die zweite Heimat der Schwestern. Allerdings wollte Steinheim, der rund 20 Jahre als Arzt praktiziert hatte und nun von einer Erbschaft sehr auskömmlich lebte, Altona verlassen, da er die Lage der Juden in Hamburg für inakzeptabel hielt. 1837 machten Steinheims deshalb den Versuch, sich im württembergischen Bockenheim niederzulassen, wo der ebenfalls aus Hamburg stammende Jurist und Vorkämpfer für die Emanzipation der Juden Gabriel Riesser lebte. Ottilie Assing an Theodor Mundt: Steinheims werden zu unserer großen Freude gegen das Ende dieses Monats in Altona zurückerwartet; das alte verbrauchte Ding wie Laube die Heimat nennt, zieht sie doch wieder an. Welch ein unbehaglicher Gedanke muß es aber auch sein, keine Heimat zu haben, besonders wenn man eine so wohleingerichtete trauliche Häuslichkeit gegen ein solches Umherziehen vertauscht hat. Es wäre alles noch ganz gut, wenn sie hier nur gleich fortleben könnten, wo sie aufgehört haben, aber was wird das für ein Zurückkommen sein, keins wie das unsrige, kein ungeduldiger Vater, kein bellender Frisch, kein sich freuendes Cappel, nicht das bekannte Haus in der Poolstraße, indem sich nichts geändert hat als daß vielleicht die Cappel indessen die Türen angestrichen und die Küche geweißt hat, und einige Tage darauf der erste Besuch des Dr. Mundt, sondern eine fremde Wohnung, neue Mädchen, wohl die alten Sachen, aber diese nicht einmal auf dem alten Fleck; die alten Freunde sind freilich noch da und das ist schon sehr viel.5

1842 kam zu dem Verlust der Eltern hinzu, dass das vertraute Haus in der Poolstraße gravierende Schäden bei dem verheerenden Brand erlitten hatte, der in jenem Jahr in Hamburg wütete. Deshalb holte der seit 1833 verwitwete Karl August Varnhagen von Ense noch im selben Jahr, also 1842, seine Nichten Ottilie und Ludmilla zu sich nach Berlin. Dort brach der zwischen den Schwestern seit Jahren schwelende Konflikt zu einem offenen aus: Ludmilla fand bei ihrem Onkel eine neue Heimat und fügte 5 BJK: Autographensammlung: acc.nr.1935.144.

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sich umgehend in die Nachfolge Rahel Varnhagens. An die mütterliche Freundin Johanna Steinheim in Altona schrieb sie bald nach ihrer Ankunft in Berlin: Im Posthof erwartete uns schon ein Wagen, der Bediente des Onkels und seine Dora, die uns mit der liebenswürdigsten Aufmerksamkeit empfing, und dann fuhren wir rasch in des Onkels Wohnung, die ich noch von damals her gleich wiedererkannte. Der Onkel war vor lauter Ungeduld schon um drei aufgestanden und trat uns voll Liebe und Herzlichkeit entgegen. Wir hatten ihn in fünf Jahren nicht gesehen, und er war so oft leidend, und ich war ordentlich bange, er möchte viel älter geworden sein; zu meiner unaussprechlichen Freude fand ich ihn aber ganz unverändert und seine teuren Züge, die mich lebhaft an die teure Mutter erinnern, kann ich nie ohne freudige Bewegung ansehen. Seine Nähe hat einen ganz eigentümlichen Zauber für mich, und ich fühle mich recht heimisch bei ihm. Unsere Zimmer würden Dir gewiß gefallen; sie sind so geräumig, wohnlich und elegant und haben eine freundliche Aussicht die schöne französische Straße entlang. Wir fanden bei unserer Ankunft Alles mit Kränzen geschmückt. Wir bewohnen gerade Rachels Zimmer, was es mir doppelt lieb und teuer macht; überall begegnet man Erinnerungen an sie. Wir haben während der wenigen Tage unsres Hierseins schon so viel des Anregenden, Schönen und Interessanten erlebt, daß nur leider die Zeit zu kurz wird für heute Dir von Allem zu erzählen […].6

Die beiden Schwestern nahmen in Berlin Kontakte in die literarische Welt auf, d.h. in den literarischen Freundeskreis der verstorbenen Eltern. Im August 1843 berichtete Ottilie Assing über einen Besuch bei Bettina von Arnim: […] [A]m meisten besprochen wird Bettinas neues Buch, über welches die verschiedensten Urtheile laut werden; die einen finden es langweilig und behaupten es sei nicht durchzulesen; manchen ist es zu liberal und wieder andere sagen sie habe noch nichts so schönes geschrieben. Wir haben es noch nicht gelesen, aber nach dem was ich höre möchte ich glauben ihr erstes Buch sei noch ihr bestes gewesen. – Wenn wir sie mitunter sehen macht sie immer den angenehmsten Eindruck auf mich und hat uns bis jetzt noch keine ihrer verschrieenen Wunderlichkeiten gezeigt. (Unberufen!) In diesen Tagen besuchten wir sie einmal wieder und brachten einen herrlichen Morgen bei ihr zu. Sie war voll Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit und erzählte uns viel von ihrem Buch über welches ihr der König sehr anerkennend und freundlich geschrieben hat, nachdem sie es ihm im Manuskript zugeschickt und anheim gestellt hatte, ob es existieren solle oder nicht. Was uns die Leute von der Unordnung gesagt hatten, die bei ihr herrschen sollte, von allem dem habe ich nichts gesehen, sondern nur mehre schöne wohleingerichtete Zimmer mit einigen Gipsbüsten und in denen außer den Gardinen nichts fehlt was man anderswo antrifft. Bei so vielen dummen Geschichten die über sie verbreitet werden, kann man ihr nicht verdenken wenn sie nicht jedem neugierigen Journalisten zur Schau sitzen will […].7

6 Staatsarchiv Hamburg: Bestand 88, Steinheim II 18/1: Ludmilla Assing an Johanna Steinheim. Berlin, den 15. Oktober 1842. 7 BJK: acc.ms.1935.145: 6. August 1843.



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Doch kurze Zeit später brach Ottilie Assing aus diesem Umfeld aus. Schon im selben Jahr, 1843, war sie wieder in Hamburg. Über das Zerwürfnis der Schwestern untereinander hinausgehend war es wohl zum Bruch zwischen Ottilie Assing und Varnhagen gekommen. Ludmilla Assing erwähnt mehr als ein Jahrzehnt später, Ottilie habe schon immer eine unerklärliche Abneigung gegen Varnhagen gehegt. In der Tat finden sich in einem Brief Ottilies an Karl Gutzkow aus dem Jahr 1847 maliziöse Äußerungen über den Onkel, der sich „pyramidal lächerlich“ benommen habe.8 In Hamburg arbeitete Ottilie Assing als Erzieherin. Sie führte die Beziehungen aus dem Assingschen Haus in der Poolstraße fort und versuchte, den alten Kreis wieder zu beleben. Karl Gutzkow, Georg Schirges, der Nachfolger Gutzkows als Redakteur des Telegraphen war, und Therese von Bacheracht öffneten Assing den Weg in die Zeitungsredaktionen. Bisher konnten jedoch nur einige Theaterrezensionen über die vorliegenden Korrespondenzen nachgewiesen werden, da ihre Artikel anonym erschienen. Assings Thema war die von ihr so wahrgenommene Kulturlosigkeit der Hamburger; sie nahm Anstoß an den reichen „Pfeffersäcken“. Hier stimmte sie mit ihrem Freund Karl Gutzkow überein, der mit seinem gleichnamigen Drama einen Skandal in Hamburg ausgelöst hatte. Belegt ist Ottilie Assings Eingreifen in die Auseinandersetzungen um das Hamburger Schauspielhaus und das Thalia-Theater Ende der 1840er Jahre, als sie für deutsche Dramenkunst und gegen Tingeltangel kämpfte. Sie focht mit Worten im Hamburger Correspondenten und zufolge Gerüchten auch mit Geld. Dem Schauspieler und Direktor des Schauspielhauses, Jean Baptiste Baison soll sie ihr ererbtes Vermögen zur finanziellen Rettung der Bühne zur Verfügung gestellt und damit verloren haben. In den Auseinandersetzungen um die Hamburger Bühnen war Ottilie Assing so exponiert, dass noch fünfzig Jahre später der Chronist der Geschichte des Hamburger Theaters „der älteren Schwester der sattsam bekannten Ludmilla“ mehrere Seiten widmete, um abschließend ihr Engagement als Ausdruck einer hysterischen Verliebtheit in den Schauspieldirektor Jean Baptiste Baison abzutun.9 Die private Beziehung von Ottilie Assing zu Baison war tatsächlich Thema des Klatsches in der Hamburger Gesellschaft. Der Skandal war der Einzug Ottilie Assings – die Position Baisons ist nicht überliefert – bei Baison, dies bedeutete konkret, bei seiner Familie, d.h. Ehefrau und Kindern. Ottilie Assing nahm für sich in Anspruch, sie sei die adäquate Frau für Baison und könne auch seine Kinder besser erziehen. Rahel de Castro, die eifrige Briefschreiberin aus dem Freundeskreis des Ehepaares Steinheim, beschrieb in ihren 8 BJK: acc.ms.1935.56. 9 Uhde, Herrmann: Das Stadttheater in Hamburg 1827–1877. Ein Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte. Stuttgart 1879. S. 235ff.

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Briefen turbulente Szenen zwischen Ottilie Assing und Madame Baison in deren Salon. Dieses Szenario fand ein Ende durch den überraschenden Tod von Jean Baptiste Baison 1849. Als Hommage an den verehrten Schauspieler publizierte Ottilie Assing 1851 dessen Biografie – allerdings wieder – wie bei ihren Theaterrezensionen ohne Preisgabe ihrer Autorschaft. Hier nannte sie als Verfasser „einen Schauspieler“.10 Im selben Jahr 1851 begann Ottilie Assing, vermittelt durch die Schriftstellerin Amalie Schoppe, für das Cotta’sche Morgenblatt für gebildete Leser zu schreiben – „Übersende ich auf die freundliche Empfehlung der Frau Doctorin Schoppe beiliegend einen Korrespondenzartikel aus Hamburg […]“11 –, und im Laufe von vierzehn Jahren erschienen dort 125 Artikel aus ihrer Feder. Später folgten Artikel in den Jahreszeiten und in der deutsch-amerikanischen Zeitschrift Atlantis. Ottilie Assings erster Bericht im Cottaʼschen Morgenblatt behandelt Amalie Schoppes Einschiffung zur Auswanderung nach Amerika, einen Gesellschaftsskandal und – wieder – die Kulturlosigkeit der Hamburger: Das Vorherrschen der materiellen Interessen ist nun einmal der Entwicklung der geistigen und künstlerischen Elemente nicht günstig. Überhaupt rechnen unsere Geldaristokraten Kunst und Literatur im Allgemeinen unter die brotlosen Künste, die man höchstens toleriert […] Die angebliche Kunstliebe ist nur eine dünne Tünche und der Philister bleibt inmitten aller Kunstschätze derselbe, der er auf dem Comptoire unter seinen Commis und Lehrlingen ist.12

Wenig später, wiederum im Cotta’schen Morgenblatt bemerkt sie: Eine gewisse, der Bevölkerung eigentümliche Schwerfälligkeit, eine dem Hamburger angeborene Nüchternheit und Phantasielosigkeit hält ihn ab, das Neue zu ergreifen, auf welchem Gebiet sich dieses auch zeigen möge. Diese Nüchternheit äußert sich sowohl im geringen Kunstsinn, wie in der ganzen Lebensweise der Hamburger.13

In diesem Tenor berichtete Ottilie Assing zwei Jahre lang aus Hamburg. Kontra­ punktisch zu der Verurteilung der Kulturlosigkeit der Geldaristokratie steht die Darstellung sozialer Probleme, da sie als Ursache beider Phänomene mangelnde Bildung ausmacht. Der ökonomische Hintergrund sozialer Probleme sollte erst in den USA zu einem Thema werden. 10 Assing, Ottilie: Jean Baptiste Baison. Ein Lebensbild. Hrsg. von einem Schauspieler. Hamburg 1851. 11 Schiller Nationalmuseum/Deutsches Literaturarchiv: Nachlass Hauff, Inv.-Nr. 33754. 12 Schiller Nationalmuseum/Deutsches Literaturarchiv: Cotta’sches Morgenblatt, Cotta-Archiv. Stiftung der Stuttgarter Zeitung, 45 Jgg., Nr. 192–197, 12.–18. August 1851. S. 783–785. Des Weiteren zitiert Cotta’sches Morgenblatt. 13 Cotta’sches Morgenblatt. 46. Jg., Nr. 4, 25. Januar 1852. S. 90.



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Der erste Korrespondenzbericht für das Cotta’sche Morgenblatt aus New York erschien im Juli 1853, nach einer Pause von beinahe einem Jahr.14 Wie in einer Nachricht der Altonaer Freundin Rahel de Castro an Ludmilla Assing zu lesen ist, war Ottilie Assing am 27. September 1852 mit der Indian Queen in New York angekommen. Die Gründe für den Entschluss zur Auswanderung sind nicht explizit bekannt. Entscheidend dazu beigetragen haben sicherlich der Tod Jean-Baptiste Baisons 1849 und die konfliktreiche Beziehung zu ihrer Schwester Ludmilla. Letzteres deutet Rahel de Castro an, wenn sie, ausgehend von Streitigkeiten in der eigenen Familie, die große räumliche Distanz als eine Möglichkeit sieht, wieder zueinander zu finden.15 Diese Annahme findet ihre Bestärkung darin, dass sich in der Sammlung Varnhagen kein einziger Brief Ottilie Assings aus der Zeit vor der Auswanderung befindet, wohingegen die aus Amerika vorliegen. 1852 verbrachte Ottilie Assing nach einem kurzen Aufenthalt in New York die Wintermonate auf dem Land. Im Frühjahr 1853 ließ sie sich endgültig in New York nieder. Wenn ihr auch Amerika als das Land der unbegrenzten Möglichkeiten erschien und sie für ihr eigenes Leben viel erhoffte, so sah sie es von Anfang an nicht als das Land der Seligen. Schon ihr erster Korrespondenzbericht für das Cotta’sche Morgenblatt schreibt die Themen fest, die für die folgenden Jahre Leben und Schreiben bestimmen sollten.16 Sie berichtet über die menschenunwürdige Unterbringung von Gefangenen in dem berüchtigten New Yorker Gefängnis, den „Tombs“, das sie selbst besucht hatte, und die ihr willkürlich erscheinende Justiz. Gleichgewichtig werden die Washington Exhibition und eine Show der Minstrels am Broadway behandelt. Die Struktur, die Themenbereiche „soziale Ungerechtigkeit, politische Unterdrückung“ und „kulturelles Leben, Unkultur am Broadway“ gleichgewichtig zu behandeln, behielt Ottilie Assing bei, da für ihr vom Geist der Aufklärung geprägtes Menschenbild das eine Spiegelbild des anderen war. Deshalb widmete sie den ihr unsäglich erscheinenden Shows am Broadway und deren Protagonisten Barnum und Christy die gleiche Aufmerksamkeit wie sozialen Verhältnissen und politischen Ereignissen. Auf den ersten Bericht folgte über ein Jahr hin eine Reihe von Artikeln, die Impressionen amerikanischer Landschaften und des American Way of Life lieferten. Im Juni 1854 erschien Ottilie Assings erster Bericht zur Sklavenfrage, Ein Antisclaverei Meeting17, und in den folgenden zehn Jahren ergriff sie zunehmend Partei für die Slavenbefreiungsbewegung. Amerika bedeutete für Ottilie Assing 14 Cotta’sches Morgenblatt. 47. Jg., Nr. 27, 3. Juli 1853. S. 643–646. 15 BJK: Sammlung Varnhagen, Kasten 44, Rachel de Castro an Ludmilla Assing. Oevelgoenne, den 1. September 1853. 16 Cotta’sches Morgenblatt. 47. Jg., Nr. 27, 3. Juli 1853. S. 643–646. 17 Cotta’sches Morgenblatt. 48. Jg., Nr. 32, 6. August 1854. S. 468–473.

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die Convention of Human Rights und Fluchtpunkt für zahlreiche deutsche Emigranten der gescheiterten 1848er Bewegung, wie den Sohn ihrer mütterlichen Freundin Amalie Schoppe, denen sie eng verbunden war. Die Sklaverei war in diesem Kontext ein Anachronismus, den es aufzulösen galt. Diesem Kampf widmete sich Ottilie Assing fortan. Er nahm für sie eine ganz persönliche Bedeutung an, als sie 1855 anlässlich eines Interviews den Führer der Abolitionistenbewegung, Frederick Douglass, kennen lernte. Aus dieser Begegnung wurde eine beinahe 30 Jahre andauernde Liebesbeziehung. Eine Legalisierung der Beziehung sei, wie Ottilie ihrer Schwester Ludmilla schrieb, nicht möglich, die Beziehung jedoch in Amerika, in Nordamerika lebbar. Douglass sei im Freundeskreis von Ottilie Assing, der aus Intellektuellen, Emigranten der 1848er Revolution und Republikanern bestand, akzeptiert. Das beteuerte Ottilie ihrer Schwester gegenüber immer wieder. Dabei betrachtete sie nur den gesellschaftlich-politischen Aspekt ihrer Beziehung und ließ völlig außer Acht, dass Douglass – wie Baison – verheiratet war und zudem sieben Kinder hatte. Wieder sah sie sich als die geeignetere Gefährtin und Mutter. Wieder griff sie massiv in die bestehenden Verhältnisse ein, indem sie u.a. für eine solide Bildung und Ausbildung von Douglass’ Söhnen sorgte. Entwarf Ottilie Assing in den Anfangsjahren ihrer Beziehung zu Douglass von seiner Frau, deren Namen sie niemals erwähnt, noch das freundlich-herablassende Bild einer einfachen, aber liebenswerten und herzlichen Frau, so verzerrte sich dieses Bild mit den Jahren zu dem einer ungebildeten, einfältigen und abergläubischen „Negerin“, die Ottilie Assing der Verhexung des Ehemannes und der Kinder bezichtigte. Ottilie Assing reflektierte ihre eigene Rolle als Frau in der Gesellschaft kaum, die in den Beziehungen zu Baison oder Douglass überhaupt nicht. Gegenüber anderen Frauen schlug sie durchgängig einen mal milderen, mal schärferen Ton der Herablassung bis hin zur Verachtung an. Ihr persönlich lieferte Amerika den Rahmen, innerhalb dessen sie angemessen agieren konnte. Ihre Kritik an politischen und sozialen Problemen war für sie als Frau nur dort möglich, dessen war sie sich bewusst. Sie berauschte sich geradezu an dieser Situation, schöpfte ihre Möglichkeiten aus, agierte „als einzige Frau, der Politik so viel bedeutet“18 in Männerkreisen. Die Frauenemanzipationsbewegung wies sie zurück. Ihrer Ansicht nach wurden die amerikanischen Frauen im Kampf um die Gleichberechtigung und um das Stimmrecht durch republikanische Politiker angemessen und geistreich vertreten. Die Frauenrechtlerinnen stellte sie als lächerliche Erscheinungen dar, deren Auftreten in der Öffentlichkeit eine Zu18 BJK: Sammlung Varnhagen, Kasten 19, Ottilie Assing an Ludmilla Assing. New York, den 20. November 1866.



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mutung sei, und berichtete dies auch nach Deutschland. So schrieb sie 1851 anlässlich einer „women’s right convention“ im Cotta’schen Morgenblatt: Nach dieser Rede, dem Glanzpunkt des heutigen Meetings, wäre es eigentlich hinlänglich genug gewesen; aber wie im englischen Theater nach dem ernsten Drama die Posse nicht fehlen darf, erschien eine solche unerwartet, statt der angekündigten Miß Lucy Stone, der bekannten Verfechterin für Menschenrechte, Frauenrechte und der Himmel weiß was noch für Rechte, die sich aber nicht eingefunden hatte, in der Person einer Mrs. Abby Kelly Foster, einer der in Amerika so zahlreichen Damen, welche unabänderlich und überall bei Gelegenheiten zur Hand sind, wo sie besser täten den Männern nicht gleich tun zu wollen, und ich bewunderte wahrlich die Galanterie und Geduld des Publikums, mit welcher es […] noch die abgetretenen Gemeinplätze und Gefühlsergüsse dieser Emancipierten aufnahm, welche zum Überfluß noch mit dem schrecklich monotonen hohlen Pathos und den einstudierten, obgleich keineswegs graciösen Handbewegungen vorgetragen wurden, wie man es von den Schauspielern schlechter Winkelbühnen nicht ärger erwarten kann […].19

Im Laufe der Jahre wurde Ottilie Assings Beurteilung der Frauenemanzipations­ bewegung milder. Sie lernte einige aktive Frauen kennen und schätzen, ent­ wickelte jedoch keine Nähe zu ihnen. Sie blieben ihr, der gebildeten Deutschen, fremd. Sie vermisste Bildung, aber auch Grazie und, was sie immer wieder betonte, hausfrauliche Fähigkeiten. In einem Beitrag, der sich mit „Boardinghouses“ beschäftigte, entwarf Assing 1855 folgendes Bild: Außerdem sind die Amerikanerinnen im Ganzen viel zu träge, um sich der Mühe eines Haushaltes zu unterziehen. Es versteht sich von selbst, daß es auch hier glänzende Ausnahmen gibt, aber ebenso gewiß ist, daß die Masse der Amerikanerinnen an einer Trägheit leidet, welche für europäische Begriffe jedes Maß übersteigt und sie gerade in der Untätigkeit des Boardinghouselebens, welche für regsamere Naturen unleidlich wäre, sich wohl fühlen läßt, wobei sie innerlich ganz zugrunde gehen. Ich spreche natürlich nicht von einer höheren Elite, denn eine wirklich geistig gebildete und strebsame Frau wird sich stets in jeder Lage und unter allen Verhältnissen zu beschäftigen wissen, aber für die Masse der gewöhnlichen Weiber, welche zu nüchtern und ungebildet für geistige Beschäftigung sind, ist ja die Sorge für ein Haus und die Familie das einzige, was sie vor gänzlicher Verflachung, ja vor dem Überflüssig- und Unnützwerden schützen kann, und nimmt man ihnen diese, so werden sie – was wirklich viele Amerikanerinnen sind – bloße, und zwar sehr kostspielige Gegenstände des Luxus für ihre Männer […] Strebsamere Naturen, in denen aber der Tätigkeitstrieb nicht durch Erziehung und andere gute Einflüsse in die rechte Bahn geleitet werden, treten dagegen ganz aus ihrer Sphäre und bilden sich, im unersprießlichen Contrast mit jenen, zu Blaustrümpfen aus, welche für women’s rights und ähnlichen Unsinn öffentlich auftreten, als Emissairinnen für Mäßigkeits- und andere Vereine das Land durchziehen oder schlechte Romane und Erzählungen schreiben, deren hier von Frauen mehr als irgendwo sonst prucirt werden, zum Glück andrer Nationen aber nicht den Ocean überschreiten.20 19 Cotta’sches Morgenblatt. 45. Jgg., Nr. 2, 11. Januar 1851. S. 46–48. 20 Cotta’sches Morgenblatt. 49. Jg., Nr. 19, 6. Mai 1855. S 448–451.

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Die Fremdheit amerikanischen Frauen gegenüber blieb bestehen. In den Briefen an die Schwester Ludmilla, überliefert sind die aus den Jahren 1865–1876, wird keine Amerikanerin als Freundin genannt oder weitergehend erwähnt, es sei denn als Ehefrau eines für Ottilie Assing bedeutsamen Mannes. Die Distanz beschränkte sich offenkundig auf amerikanische Frauen, denn die mütterliche Freundin Amalie Schoppe findet häufig Erwähnung und über ihr Ergehen wurde treusorgend gewacht. In der Tat erlebte Ottilie Assing die amerikanische Gesellschaft, die amerikanische Männer-Gesellschaft, für sich selbst, die intellektuelle Deutsche, als befreiend. Jedoch konnte sie die Frauen, die diese Gesellschaft produzierte und die Rolle, die sie ihnen zuwies, nicht akzeptieren. Die Widersprüchlichkeit ihrer Wahrnehmung spiegelt sich insbesondere in den Reflexionen zum Frauenwahlrecht, wenn sie die „Blaustrümpfe“ in ihre Schranken weist, da es ihnen nicht nur an Bildung, an überzeugendem Auftreten sowie Brillanz des Vortrags mangle, sondern ihre Interessen von republikanischen Politikern viel überzeugender und geistreicher vertreten würden. Assings Maßstab war und blieb die europäische, aufgeklärte Welt. Sie ist, in ihrem Verständnis, die Wurzel, aus der im Zuge der Emanzipation der amerikanischen Gesellschaft zur Demokratie auch die Emanzipation der Frauen erwachsen werde. Ottilie Assings Beurteilungskriterien lassen sich aus ihrer Besprechung eines Vortrags, den Lola Montez zum Thema „Schöne Frauen“ in den 1860er Jahren in New York hielt, ableiten: Das Feuer der Augen, der Reiz ihres Lächelns, die Grazie und Elastizität ihrer ganzen Erscheinung ersetzen reichlich, was ihr an regelmäßiger Schönheit abgeht; und man braucht nicht einmal ein Mann zu seyn, um das sogenannte Lolaunwesen begreiflich zu finden, zumal da ihrer Erscheinung entschieden der Stempel der Intelligenz und Begabung aufgedrückt ist […] und so machte mir diese berüchtigte Schönheit den Eindruck, daß sie nicht nur viel besser als ihr Ruf, sondern auch besser als viele der tugendhaften Seelen seyn mag, welche salbungsvoll ein Kreuz schlagen, sobald ihr Name nur genannt wird.21

Die Frage der Frauenemanzipation war also weder ein Thema noch ein Aktionsfeld für Ottilie Assing. Sie konzentrierte sich ganz auf den Kampf gegen die Sklaverei. Schon ihr erster Bericht aus Amerika für das Cotta’sche Morgenblatt hatte ja ein „Antisclaverei Meeting“ zum Thema. Wohl nicht zuletzt durch die Beziehung zu Frederick Douglass behandelte Ottilie Assing das Thema Sklaverei nicht als theoretisches Problem, sondern es standen die betroffenen Menschen im Mittelpunkt. Dabei wurde Ottilie Assing nie sentimental, glitt nie auf das Niveau eines Romans à la Onkel Tom’s Hütte ab. Sie recherchierte vielmehr sorgfältig Einzelfälle, entwarf Fallbeispiele, legte die ökonomischen Hintergründe der Sklaverei 21 Cotta’sches Morgenblatt. 52. Jg., Nr. 13, 28. März 1858. S. 307–311.



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dar. Hier setzte sich Ottilie Assing mit dem Verhalten der deutschen Einwanderer auseinander: Sie kritisierte die Ignoranz derer, die sich nicht die Mühe machten, Englisch zu lernen und sich mit den politischen Verhältnissen vertraut zu machen. Solch ein Verhalten führe häufig dazu, dass aus Geschäftsinteressen, Gleichgültigkeit und Unkenntnis den Demokraten, den Verfechtern der Sklaverei, die Stimme gegeben werde. Resignierend schloss der Bericht: „Und als armer Sterblicher kann man sich zuletzt nicht einmal wundern, daß man sein Pulver umsonst gegen die Dummheit verschossen, gegen die ja selbst die Götter vergeblich kämpfen.“22 Als jedoch in Folge des Heimstättengesetzes von 1862 viele deutsche Siedler nach Texas einwanderten, sah sie in deren Streben nach Wohlstand ein Mittel, die Sklaverei zu brechen, denn: „Die Sklaverei schwindet vor dem deutschen Fleiß, mit welchem der Sklavenhalter nun einmal nicht wetteifern kann“. Die Landwirtschaft mit Sklaven zu betreiben, sei unökonomisch geworden, nicht mehr zeitgemäß. Und sie rechnete dem Leser vor, dass die Kosten für das Halten eines Sklaven um ein Vielfaches höher lägen als die für einen freien weißen Arbeiter: […] [G]anz abgesehen, von dem möglichen Verlust durch Davonlaufen und die vollkommen gerechtfertigte sogenannte Arbeitsscheu des Sklaven, seine Geneigtheit alles nur oberflächlich zu tun, da er keinen Grund auf der Welt hat, seine Kräfte weiter als er eben muß, zum Vortheil seines Feindes und Unterdrückers anzustrengen […].23

Ottilie Assing erkannte darüber hinaus, dass der Wandel der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse durch die industrielle Entwicklung zwar das Unwesen der Sklaverei beenden konnte, jedoch nicht das Rassenvorurteil. Denn der freie Arbeiter sei in seinem eigenen Interesse gegen die Sklaverei, aber „mancher, der heute auf Tod und Leben für die Republikaner kämpft, würde höchst aufgebracht seinen Platz verlassen, sollte sich etwa ein Neger einfallen lassen, sich an einer table d’hôte oder im Theater neben ihn zu setzen.“24 Zudem war Assing die Macht der Mythen bewusst, mit denen die eleganten weißen Herrenhäuser und das Leben auf den Plantagen besetzt waren. Deshalb verfolgte ihre Berichterstattung das Ziel, den Mythos der Südstaaten zu zerstören, wie er dann noch einmal im 20. Jahrhundert in Margaret Mitchells Roman Vom Winde verweht aufleben sollte. Während des Sezessionskrieges (1861–1865) prangerte Assing die menschenverachtenden, nur auf ihren Gewinn bedachten Plantagenbesitzer an und feierte 1865 in der Märzausgabe des Cotta’schen Morgenblattes den 31. Januar des Jahres, den Tag, an dem das amerikanische Volk durch Kongressbeschluss

22 Cotta’sches Morgenblatt. 50. Jg., Nr. 49, 7. Dezember 1856. S. 1173–1176. 23 Cotta’sches Morgenblatt. 52. Jg., Nr. 31, 1. August 1858. S. 738–741. 24 Cotta’sches Morgenblatt. 50. Jg., Nr. 49, 7. Dezember 1856. S. 1173–1176.

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den „Fluch der Sklaverei“ auf immer abgeschüttelt habe. Auch die Ermordung Abraham Lincolns am Tage der Siegesfeier über die Kapitulation des Südens könne die Sicherheit und Wohlfahrt des Staates nicht gefährden, denn [nichts kann die große Zukunft verhindern, welche der Nation bevorsteht, wenn sie selbst nur den errungenen Sieg in echt republikanischem Geist zu benutzen wissen wird, um allen Einwohnern des Landes, ohne Unterschied der Race und Hautfarbe, die gleichen Rechte einzuräumen.25

Als eine der Ursachen für das „Rassenvorurteil“ betrachtete Ottilie Assing den christlichen Glauben. Sie äußerte sich dazu nie in ihren Berichten für das Cotta’sche Morgenblatt – dort wandte sie sich nur gegen den starken Einfluss der in Amerika verbreiteten Sekten, wie die Shaker, Quäker, Mormonen u.a. Jedoch ist ein Brief an Ludwig Feuerbach erhalten, an den sie sich 1871 als eine ihm Unbekannte wandte, um ihm die Wirkung seines Werkes Das Wesen des Christentums auf ihren Freund Frederick Douglass zu schildern. Ihrer Freundschaft mit Douglass habe immer ein Hindernis im Weg gestanden, nämlich sein Glauben an „den persönlichen christlichen Gott“. Ottilie Assing schreibt: Der Lichtstral deutscher Freigeistigkeit war noch nie zu ihm gedrungen, während ich durch natürliche Anlage, Erziehung und den ganzen Einfluß deutscher Bildung und Literatur begünstigt, schon früh den Gottesglauben überwunden hatte. 26

Bei Douglass habe letztendlich die Lektüre Feuerbachs eine ungeheure Erweiterung des geistigen Horizonts bewirkt und ihre Freundschaft vertieft. Der Einfluss Ottilie Assings ist insbesondere in Douglassʼ Memoiren My Bondage und my Freedom zu erkennen, die von ihr ins Deutsche übersetzt wurden.27 Ottilie Assing war vom Geist der Aufklärung geprägt – dachte, fühlte und handelte in diesem Koordinatensystem. Sie stellte für sich keine anderen Bezugspunkte her, und es findet sich in ihren hinterlassenen Texten und Aufzeichnungen nirgends ein Hinweis auf eine irgendwie geartete Anbindung. Sie verlor kein Wort über ihre jüdischen Wurzeln, über die Kämpfe um die Bürgerrechte für die Juden in Deutschland, wie sie sie im engsten Familien- und Freundeskreis miterlebt hatte. Judentum und jüdische Lebenswelten sind Ottilie Assing bekannt. Jedoch hielt 25 Cotta’sches Morgenblatt. 59. Jg., Nr. 15, 9. April 1865. S. 356. 26 Feuerbach, Ludwig: Sämtliche Werke. Neu hrsg. v. Wilhelm Bolin und Friedrich Jodl. Bd. 12/13: Ausgewählte Briefe von und an Ludwig Feuerbach. Stuttgart/Bad Cannstatt 1988 (Faks.-Neudr. Leipzig 1904). S. 365f. 27 Douglass, Frederick: Sclaverei und Freiheit. Autobiographie. Übersetzt von Ottilie Assing. Hamburg 1860.



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sie für sich persönlich Distanz wie zu allen religiösen Welten. Antisemitismus prangerte Assing als eine Verletzung der Menschenrechte an. Für Ottilie Assing war Amerika das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das ihr Gelegenheit bot, ihre Fähigkeiten zu entfalten. Die Bedingungen, unter denen sie – vorwiegend in New York – lebte, sind nur vermittelt aus Briefen an ihre Schwester Ludmilla und an die Freundin Rahel de Castro zu erschließen. Es standen offenbar Mittel aus ererbtem Vermögen zur Verfügung, die ihr eine gewisse Unabhängigkeit gewährten. Aber in den ersten Jahren berichtete Assing auch von Einkünften, aus dem Verkauf von Gemälden, die von ihrer Hand stammten, von einem „Vermögen“, das sie durch schriftstellerische Arbeit erworben habe, von einer Tätigkeit als Hauslehrerin, die ihr Unterkunft und Versorgung in einer Familie sichere, oder von einer Beschäftigung als Organistin. Ihre Lebenssituation war lange geprägt von häufigen Wohnungswechseln, von der Notwendigkeit, immer neue Kontakte zu knüpfen und Beziehungen aufzubauen, sich ständig neu zu orientieren. Ihre Lebenssituation wurde Ottilie Assing 1874 anlässlich des Besuchs einer Jugendfreundin aus Hamburg bewusst, denn die erschien ihr in der neuen Welt in ihrer intellektuellen Entwicklung ebenso beschränkt wie in ihrer emotionalen. Sie bedauerte deren Schicksal und mutmaßte, ihr eigenes Leben wäre ohne die Auswanderung möglicherweise in ähnlichen Bahnen verlaufen. Ottilie Assing hatte in Amerika eine neue Heimat gefunden. Ab und an klang in Briefen an, zu einem Besuch nach Europa kommen zu wollen, aber vielleicht war das auch nur der Wunsch der Freunde dort, den sie erfüllen wollte. Erst nach dem Tod ihrer Schwester Ludmilla 1877 kehrte Ottilie Assing nach Europa zurück. In Florenz, wo Ludmilla gelebt hatte, musste sie sich nach mehr als 25 Jahren noch einmal dem Konflikt mit Ludmilla stellen. Dessen materielles Merkmal war, dass sie nicht, wie erwartet, das Erbe ihrer Schwester antreten konnte. Ludmilla hatte ihr Vermögen eingesetzt für die Errichtung einer „republikanischen Schule“ und als Kuratoren waren Aktivisten des Risorgimento eingesetzt. In einem Brief an Amalie Gutzkow, Vertraute aus Hamburger Zeiten, erregte sich Ottilie Assing gegen die Erben des Varnhagenschen Vermögens: […] eine Bande, die man nicht Räuber, Banditen oder Diebe nennen darf, weil man damit die Frau Diavolos und Rinaldinis von Profession beleidigen würde. Erst hier habe ich erfahren, daß die Schufte sich, als bei der Ludmilla der Wahnsinn ausbrach, durch richterliche Entscheidung zu Curatoren ernennen ließen, und folglich vor und nach ihrem Tode alles durchstöbern und stehlen konnten, so viel sie wollten.28

28 Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt/Main: Handschriftenabteilung, Nachlass K. Gutz­ kow, Abt. A2 II: Ottilie Assing an Amalie Gutzkow. Florenz, den 21. Oktober 1881.

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Darüber hinaus musste Ottilie Assing aus den nachgelassenen Aufzeichnungen ihrer Schwester erfahren, welchen Hass und welche Ablehnung Ludmilla ihr entgegengebracht hatte. Und obwohl ihr natürlich bewusst war, dass die Beziehung voller Probleme steckte, hatte sie damit nicht gerechnet – wieder an Amalie Gutzkow: Hinsichtlich des Todes der Ludmilla und der vorhergehenden zwei Jahre habe ich die vollständigsten Aufschlüsse erhalten, wie ich sie in der Ferne durch ellenlange Briefe nicht hätte erlangen können, aber es ist eine über alle Erwartung greuliche, schmerzliche und trostlose Geschichte, und es ist mir, als hätte sich vor mir ein Abgrund geöffnet, voll Bosheit, Unwahrheit, Unnatur und Scheinwesen auf der einen, Spitzbüberei, Brutalität und Undankbarkeit auf der anderen Seite.29

Ottilie Assing kehrte nicht nach Amerika zurück. Die folgenden Jahre verbrachte sie in Florenz oder auf Reisen. Ihr Traum, Frederick Douglass zu heiraten, war zerbrochen. Ihr gegenüber hatte Douglass all die Jahre argumentiert, aus politischer Räson könne er sich nicht von seiner schwarzen Frau scheiden lassen, um eine Weiße zu heiraten. Aber als seine Frau Anna Murray während Ottilie Assings Aufenthalt in Europa starb, heiratete er seine Mitarbeiterin, die Journalistin Helen Pitts – weiß, blond und viele Jahre jünger. Ottilie Assing hatte den Freunden in Amerika zugesichert, natürlich werde sie in die neue Heimat „Amerika“ zurückkehren. Nun verfiel sie in Schweigen. Am 21. August 1884 beging Ottilie Assing Selbstmord. Im Pariser Bois de Boulogne vergiftete sie sich mit Cyanid. Da Ottilie Assing keine Ausweispapiere bei sich hatte, konnte ihre Identität nicht festgestellt werden, und die Leiche sollte für die medizinische Forschung zur Verfügung gestellt werden. Im letzten Moment erfuhr ein Freund aus Florenz von ihrem Tod und sorgte mit dem amerikanischen Konsul für ihre Bestattung. Ottilie Assings Grab befindet sich auf dem Friedhof des Leichenschauhauses von Ivry. Ihr Testament, das eine Verfügung enthielt, die Frederick Douglass lebenslang eine kleine, aber auskömmliche Rente sicherte, hatte Ottilie Assing nicht geändert.30

29 Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt/Main, Handschriftenabteilung, Nachlass K. Gutz­ kow (wie Anm. 28). 30 Diedrich, Maria: Love Across the Color Lines. Ottilie Assing & Frederick Douglass. New York 1999. S. 372f.

Jeanette Toussaint

„Möge der Frauenverein blühen und gedeihen in alle Zukunft!“ Der Israelitische Frauenverein Potsdam und dessen Vorsitzende Anna Zielenziger Siebenunddreißig Frauen sind es, die auf Anregung des Gemeindevorstands im Januar 1851 den Israelitischen Frauenverein in Potsdam gründen.1 Es ist einer von vielen jüdischen Vereinen und Wohlfahrtseinrichtungen, die in Deutschland in Folge der jüdischen Emanzipation und der politischen Veränderungen durch die Märzrevolution von 1848 entstehen. Wohltätigkeit ist traditionell ein wesentliches Element der jüdischen Religion und gehört zu den ersten Pflichten der gläubigen Männer und Frauen. Verknüpft ist das Konzept der jüdischen Wohltätigkeit mit der Idee von Gerechtigkeit: Durch Wohltätigkeit soll ein Zustand wiederhergestellt werden, der als gerecht empfunden wird. In diesem Sinne haben Arme ein Anrecht auf Unterstützung.2 Jedoch besteht die höchste Stufe der Wohltätigkeit darin, den Bedürftigen in einer Weise zu helfen, die sie künftig finanziell unabhängig macht. Zugleich stellt die organisierte Wohltätigkeit in Zeiten des immer wieder aufflammenden Antisemitismus eine Form der Selbsthilfe und des Selbstschutzes einer Minderheit dar.3 Auch jüdische Frauenvereine engagieren sich zunächst im sozialen Bereich. Doch bald gehört dazu auch der Kampf für die Gleichberechtigung der Frauen in den Gemeinden und in der Gesellschaft. Damit bilden diese Vereine die spätere Grundlage für die jüdische Frauenbewegung.4 1 Kaelter, Robert: Geschichte der jüdischen Gemeinde zu Potsdam. Reprint. Hrsg. v. Julius H. Schoeps u. Hermann Simon. Berlin 1993. S. 90. 2 Torggler, Elisabet: Wohltätigkeit bürgerlicher jüdischer Frauen vor dem Ersten Weltkrieg. In: Margarete Grandner u. Edith Saurer (Hrsg.): Geschlecht, Religion und Engagement. Die jüdischen Frauenbewegungen im deutschsprachigen Raum. Wien/Köln/Weimar 2005. S. 57–77, hier: S. 57. 3 Kaplan, Marion A.: Jüdisches Bürgertum: Frau, Familie und Identität im Kaiserreich. Studien zur jüdischen Geschichte. Band 3. Hamburg 1997. S. 254. 4 Zur Entstehung von jüdischen Frauenvereinen im 19. Jahrhundert vgl. Lowenstein, Steven M.: Anfänge der Integration 1780–1871. In: Marion Kaplan: Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland. Vom 17. Jahrhundert bis 1945. München 2003. S. 123–224, hier: S. 197–199, 213; Richarz, Monika: Frauen in Familie und Öffentlichkeit. In: Steven M. Lowenstein, Paul MendesFlohr, Peter Pulzer u. Monika Richarz: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit. Band 3 (1871– 1918). München 1997. S. 69–100, hier: S. 93–100.

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Die Wohnung oder das Haus waren lange Zeit der einzige Wirkungsbereich im Leben vieler Frauen. Sie waren für den Haushalt und die Kindererziehung zuständig, auch wenn sie einer Arbeit nachgingen. Sie durften weder wählen noch studieren. Gleiche Rechte gab es nicht für Männer und Frauen. Die öffentliche Sphäre war dem Mann vorbehalten. Frauenvereine bieten den Frauen nun die Möglichkeit, in einem begrenzten öffentlichen Rahmen außerhalb der privaten Sphäre und ohne männliche Begleitung aktiv zu sein. Da die Wohltätigkeit im Mittelpunkt steht, erregen die Vereine kein Misstrauen, knüpfen sie doch mit ihrem Engagement an das traditionelle Rollenbild der fürsorglichen Frau an. Sowohl die Namensgebung als auch die gemeindenahe Gründung deuten darauf hin, dass sich der Israelitische Frauenverein Potsdam an die religiösen Regeln hält.5 Doch es ist kein orthodoxer Verein, denn das Gros der Gemeindemitglieder zählt zum reformorientierten Judentum. Zunächst ist der Frauenverein Teil der Chewra Kaddischa, der heiligen Beerdigungsgemeinschaft in der Gemeinde. Die Frauen helfen bei der Pflege der weiblichen Kranken, sie begleiten Sterbende und Hinterbliebene, halten die Totenwache, nähen die Gewänder für die weiblichen Toten und bereiten deren Körper für die Bestattung vor. Doch bald erweitert sich ihr Tätigkeitsfeld. Sie versorgen arme Wöchnerinnen, Witwen, Waisen und andere Bedürftige. 1902 stehen ihnen dafür rund 1.100 Mark zur Verfügung, zusammengetragen aus Mitgliederbeiträgen und Spenden.6 Die Frauen selbst arbeiten ehrenamtlich. Als 1903 die neue Synagoge neben der Post am heutigen Platz der Einheit eingeweiht wird – der Verein hat mittlerweile 99 Mitglieder – fertigen die Frauen unter anderem einen Altarvorhang und Decken zum Einhüllen der Thora an. Auch dies ist traditionell die Aufgabe von Frauen. Robert Kaelter, von 1902 bis 1908 Rabbiner der Potsdamer Gemeinde, nennt in seiner aus diesem Anlass erschienenen Geschichte der jüdischen Gemeinde Frauen, die seit 1851 im Vorstand aktiv waren: Johanna Hirschburg, Friederike Friedeberger, Täubchen Jacoby, Pauline Luboscher, Johanna Cohn-Philippson, Sophie Herz, Hermine Brauer und Bertha Lehmann. Des Weiteren Bertha Putziger sowie Henriette und Fanny Zielenziger, die zur weit verzweigten Familie des Getreidegroßhändlers Lesser Isaak Zielenziger und seiner Ehefrau Marie, geborene Jacobi gehören.7 Henriette ist ihre Tochter. Fanny ist die Ehefrau von Lesser Zielenzigers Cousin Samuel. Bertha Putziger ist die Schwiegertochter von Lesser Zielenzigers Schwester Friederike.

5 Torggler, Wohltätigkeit ( wie Anm. 2), S. 63. 6 Kaelter, Geschichte (wie Anm. 1), S. 91. 7 Kaelter, Geschichte (wie Anm. 1), S. 91.



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Abb. 6: Anna Landsberger um 1887 [Privatbesitz]

In diese Familie heiratet 1888 Anna Landsberger ein.8 Die junge Frau stammt aus dem preußischen Glogau. Am 1. Juni 1867 geboren, ist sie das jüngste von drei Kindern der jüdischen Bankiersfamilie Landsberger. Der Vater Immanuel ist ein angesehener Bürger in Glogau.9 Er besitzt ein Bankhaus, ist Direktor einer Melassefutterfabrik, Seniorchef einer Getreidefirma, erster Vorsitzender der jüdischen Gemeinde sowie Stadtrat, Mitglied des Kreistages und der Handelskammer. Über die Mutter ist nichts bekannt. Ebenso wenig über die Schulzeit von Anna Landsberger. Doch es ist anzunehmen, dass sie eine Schulausbildung erhalten hat, denn ihr Vater unterstützt den 1856 in Glogau gegründeten jüdischen Frauenverein, der sich für die Bildung und berufliche Ausbildung von

8 Zu ihrer Biografie vgl. Toussaint, Jeanette: Zwischen Tradition und Eigensinn. Lebenswege Potsdamer Frauen vom 18. bis 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Autonomen Frauenzentrum Potsdam e.V. Potsdam 2009. S. 54–69. 9 Zu Immanuel Landsberger vgl. Lucas, Franz D. u. Margret Heitmann: Stadt des Glaubens. Geschichte und Kultur der Juden in Glogau. Hildesheim 1991. S. 307–309.

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Frauen und deren gleichberechtigte Anerkennung im Gemeinde- und Berufsleben einsetzt.10 Am 11. Dezember 1888 findet die Hochzeit von Anna Landsberger und Julius Zielenziger, dem Sohn von Lesser und Marie Zielenziger, statt. 1890 werden ihr Sohn Kurt und 1894 ihre Tochter Gertrud geboren. Anna Zielenziger sorgt für den Haushalt und erzieht die Kinder. Ganz in der Tradition der Familien Landsberger und Zielenziger arbeitet auch sie im Israelitischen Frauenverein mit. 1906 wird sie dessen Vorsitzende. Dieses Amt hat zur gleichen Zeit ihre Schwägerin Hedwig Landsberger in Glogau inne.11 Damit gehören zunehmend repräsentative Aufgaben zu ihrem Alltag. Diese erweitern sich vermutlich noch durch das Engagement ihres Ehemannes: Julius Zielenziger ist wie sein Vater ein geachtetes Mitglied der jüdischen Gemeinde und der Potsdamer Bürgerschaft. 1895 hatte er den väterlichen Getreidegroßhandel übernommen. Er gehört der Potsdamer Kaufmannschaft an, ist Schatzmeister der Handelskammer, Vorstandsmitglied in der kaufmännischen Fortbildungsschule, Sachverständiger für Getreide, Futtermittel und Mehl.12 1916 wird er als Mitglied der Demokratischen Partei zum Stadtrat gewählt und ist nach 1922 in der liberalen Fraktion des Preußischen Landesverbandes jüdischer Gemeinden aktiv.

Der Israelitische Frauenverein in den Jahren 1909 bis 1931 Über die Arbeit des Vereins im 19. Jahrhundert schreibt Robert Kaelter 1903 rückblickend: „Oft gingen die Wellen ungünstiger Zeitverhältnisse gar hoch und drohten das schwankende Schifflein zu verschlingen, aber Energie und Ausdauer haben es doch glücklich hindurchgerettet und wohlgeborgen liegt es heut in sicherem Hafen.“13 Damit spielt er wohl vor allem auf die lang anhaltenden Folgen der Wirtschaftskrise von 1873 an. Doch wie ging es zu Beginn des 20. Jahrhunderts weiter? Befand sich der Frauenverein noch immer in sicherem Hafen? Einen Einblick gibt der Jahresbericht von 1909/1910.14 Es ist das bislang

10 Lucas, Heitmann, Stadt (wie Anm. 9), S. 299. 11 Lucas, Heitmann, Stadt (wie Anm. 9), S. 299. 12 Beck, Friedrich u. Henning Eckart (Hrsg.): Brandenburgisches Biographisches Lexikon. Pots­ dam 2003. S. 437f. 13 Kaelter, Geschichte (wie Anm. 1), S. 91. 14 Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum: Archiv, 1 (Gesamtarchiv der deutschen Juden), 75 A Po 4 (Potsdam), Nr. 9, # 6082.



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einzige Dokument, das über den Frauenverein erhalten geblieben ist. Im Folgenden sollen anhand dieser Quelle Rückschlüsse auf das Engagement der Frauen gezogen werden. 1909 stehen dem Verein rund 2.309 Mark zur Verfügung. Es sind vor allem Spendengelder, Mitgliederbeiträge und Zinserlöse. Die Spenden, in jenem Jahr 848 Mark, stammen in erster Linie von Frauen. Drei Spender zählt der Jahresbericht darüber hinaus auf, darunter Julius Zielenziger. Im Jahr darauf ist er der einzige männliche Geldgeber. Zuwendungen von Geschäften oder Firmen tauchen nicht auf. Unter den Mitgliedern befinden sich jedoch Ehefrauen von Fabrikbesitzern, Stadträten, Anwälten und Ärzten. Sie haben möglicherweise in die sogenannten Sparkästen eingezahlt. Diese hatte der Frauenverein anlässlich des 50-jährigen Bestehens im Januar 1901 eingeführt. Das damalige Jubiläum wurde festlich begangen. In Erinnerung daran erhielten alle Mitglieder des Vereins Sparbüchsen, die seitdem bei besonderen Anlässen wie Hochzeiten, Bar Mizwen, Beerdigungen oder Jubiläen herumgereicht werden.15 Auch im Jahresbericht bittet der Verein „alle unsere Vereinsmitglieder, bei allen Familienereignissen freudiger und ernster Natur unserer Bestrebungen freundlichst zu gedenken und uns durch reichliche Zuwendungen bei unserer Arbeit helfend zu unterstützen.“ 1910 nimmt der Verein rund 2.270 Mark ein. Die Spenden sind zurückgegangen, die Jahresbeiträge etwas höher ausgefallen. Neu ist der Erlös aus dem Verkauf von „Effekten“. Ob es sich dabei um Wertpapiere oder Wertgegenstände handelte, geht aus dem Bericht nicht hervor. Mit den gesammelten Geldern unterstützt der Verein bedürftige Gemeindemitglieder. Wer die Spenden erhält, ist nicht erwähnt. Das entspricht dem jüdischen Konzept der Wohltätigkeit, nachdem die Spenden möglichst anonym vergeben werden sollen, damit sich die Empfangenden nicht schämen müssen.16 Der Jahresbericht spricht von Frauen in Not und Krankheit. Laufende Unterstützungen erhalten verarmte Witwen, Waisen und andere mittellose Frauen. Sie sind wohl auch die Empfängerinnen von „Kräftigungsmitteln und Feuerungsmaterial“. Darüber hinaus bekommen Bedürftige Geld, um den Sabbat und andere Feiertage begehen zu können. Einmalige Unterstützungen und Geschenke gehen vermutlich an Wöchnerinnen und Familien, die sich auf ein besonderes Ereignis wie eine Bar Mizwa oder eine Hochzeit vorbereiten. Auch rituelle Gegenstände für Arme gehören dazu. Für Wöchnerinnen zahlt der Verein die Hebamme oder einen Arzt, Lebensmittel und Wäsche. Er hilft auch zukünftigen Ehefrauen mit Beihilfen zur Aussteuer. Zu den einmaligen Leistungen gehören wahrscheinlich Zuschüsse für Anschaffungen von 15 Kaelter, Geschichte (wie Anm. 1), S. 91f. 16 Kaplan, Jüdisches Bürgertum (wie Anm. 3), S. 255.

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Maschinen oder Geräten und kleine Darlehen. Dies war für diejenigen wichtig, die sich ein Gewerbe aufbauen und so finanziell unabhängig werden wollten. Wie die Spenden vergeben wurden, ist nicht bekannt. Wahrscheinlich mussten die Bedürftigen ein Gesuch an den Verein stellen, das die Frauen prüften. Neu in der Förderung ist vermutlich seit 1908 die Vergabe von Stipendien. In diesem Jahr hatte Preußen als letzter deutscher Bundesstaat Frauen zum Universitätsstudium zugelassen. Dies nutzen auch junge Frauen aus der jüdischen Gemeinde in Potsdam. Darüber hinaus fördert der Verein Mädchen während einer Berufsausbildung oder wie es im Jahresbericht heißt, „in ihrem praktischen [...] Beruf“. Diese Unterstützung existierte wahrscheinlich schon vor 1908. Da in dem Bericht weder die Empfänger der Spenden noch die konkrete Art der Ausgaben angegeben sind, ist es schwer einzuschätzen, ob der Verein ausschließlich traditionelle Wohltätigkeit leistet. Oberstes Ziel ist sicherlich die unmittelbare Hilfe für Bedürftige. Die Ausbildungsförderung für Mädchen ist präventiver Art, denn ein Berufsabschluss bietet die Möglichkeit eines finanziell eigenständigen Lebens. Dazu gehören auch Zuschüsse für den Kauf von Geräten als Voraussetzung für ein Gewerbe. Zu den weiteren Ausgaben des Israelitischen Frauenvereins zählen Vereinsbeiträge. Ein Teil davon geht sicherlich an den Jüdischen Frauenbund in Berlin. Anna Zielenziger ist mit einer der dort engagierten Frauen befreundet: Martha Ollendorff.17 1867 als Martha Wohlauer im schlesischen Prausnitz geboren18, gibt sie seit 1924 gemeinsam mit Hannah Karminski die Blätter des Jüdischen Frauenbundes heraus.19 Der Bund wurde 1904 auf Initiative von Berta Pappenheim und Sidonie Werner gegründet und tritt unter anderem für die gleichberechtigte Mitwirkung der Frauen in den Gemeinden ein. Die Organisation versteht sich als Gesamtvertretung der jüdischen Frauen in Deutschland. Ihm treten viele lokale Frauenvereine bei. 1917 sind unter seinem Dach über 200 Vereine und etwa 44.000 Mitglieder versammelt.20 Ob der Israelitische Frauenverein tatsächlich dem Bund und eventuell auch anderen Vereinen angehört hat, muss aufgrund bislang fehlender Forschungen offen bleiben. 17 Auskunft von Eric Zielenziger an die Autorin am 15.8.2008. 18 http://www.yadvashem.org/wps/portal/!ut/ p/_s.7_0_A/7_0_2KE?last_name=Ollendorff&first_name= Martha&location=Berlin&next_form=results: Eintrag in: The Central Database of Shoah Victims’ Names (28.7.2015). 19 Maierhof, Gudrun: Selbstbehauptung im Chaos. Frauen in der jüdischen Selbsthilfe 1933– 1943. Frankfurt am Main 2002. S. 45. Zum Bund vgl. Kaplan, Marion A.: Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland. Organisation und Ziele des Jüdischen Frauenbundes 1904–1938. Hamburg 1981. 20 Kaplan, jüdische Frauenbewegung (wie Anm. 19), S. 129.



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Das meiste Geld verwendet der Verein in beiden Jahren, neben der regelmäßigen Unterstützung für Bedürftige, für die „Anschaffung von Papieren“. Gemeint ist der Kauf von Wertpapieren. 1909 werden dafür rund 674 Mark investiert, ein Jahr später rund 922 Mark. Die Zinseinnahmen betragen 1909 rund 408 Mark, 1910 gut 447 Mark. Der Israelitische Frauenverein ist ein kleiner Verein. 1910 gehören ihm 108 Frauen an. Das ist knapp ein Viertel der jüdischen Gemeinde, die 1895 477 Mitglieder umfasste.21 Die jüdischen Frauenvereine in größeren Städten wie Stettin und Hamburg zählen 1908 bzw. 1913 über 600 Mitglieder.22 Männer konnten dem Potsdamer Verein offenbar nicht beitreten, was in anderen jüdischen Frauenvereinen durchaus möglich war.23 82 Mitglieder stammen aus Potsdam, die weiteren kommen aus Nowawes – das zu dieser Zeit noch nicht zu Potsdam gehört –, Berlin, Charlottenburg und Hamburg. Es sind zum Teil Frauen, die in Potsdam geboren wurden und später in eine andere Stadt verzogen sind. So unterstützt auch die Ehefrau des früheren Rabbiners Robert Kaelter, die mit ihrem Mann nun in Danzig lebt, den Verein. In ehrendem Gedenken wird im Jahresbericht auch an acht „immerwährende“ und bereits verstorbene Mitglieder erinnert. Es sind wohl alles Frauen, die im Vereinsvorstand aktiv waren, darunter Fanny und Emilie Zielenziger sowie Julius Zielenzigers Mutter Marie. Emilie Zielenziger war die Ehefrau von Lesser Zielenzigers Cousin Bernhard, Geheimer Sanitätsrat in Potsdam. In vielen Vorständen von jüdischen Frauenvereinen sind die Ehefrauen einflussreicher Repräsentanten der Gemeinde engagiert. In Potsdam gehört dazu die seit 1820 ansässige Familie Zielenziger. Lesser Zielenziger betrieb seit 1848 eine Getreidegroßhandlung. Er gehörte dem Gemeindevorstand an und war Mitbegründer der Chewra Kaddischa. Sein Onkel Hirsch Zielenziger arbeitete als Buchbinder und Händler. Dessen Sohn Samuel war Bankier und von 1851 bis 1895 Vertreter im Beisitz des Vorstandes der jüdischen Gemeinde.24 Der zweite Sohn, Bernhard, als Arzt auch in kaiserlichen Kreisen hoch geschätzt, übernahm bis 1888 in der Chewra Kaddischa die unentgeltliche Behandlung der Bedürftigen.25 Ihren Jahresbericht schließen die im Januar 1911 amtierenden Vorstandsfrauen Anna Zielenziger, Berta Lehmann, Hermine Brauer und Ernestine Philippsborn mit dem Wunsch: „Möge der Frauenverein zur Freude aller, die an 21 Arlt, Klaus: Potsdam. In: Irene A. Diekmann (Hrsg.): Jüdisches Brandenburg. Geschichte und Gegenwart. Berlin 2008. S. 271–291, hier: S. 279. 22 Kaplan, jüdische Frauenbewegung (wie Anm. 19), S. 127. 23 Torggler, Wohltätigkeit (wie Anm. 2), S. 60. 24 Kaelter, Geschichte (wie Anm. 1), S. 52; Adressbuch der Stadt Potsdam 1907. 25 Kaelter, Geschichte (wie Anm. 1), S. 82–84, 89.

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seinen edlen Bestrebungen Anteil nehmen, wachsen, blühen und gedeihen in alle Zukunft!“26 Gut dreieinhalb Jahre später beginnt der Erste Weltkrieg. Möglicherweise engagiert sich der Israelitische Frauenverein nun auch in der Kriegsfürsorge und arbeitet mit nichtjüdischen Frauenvereinen, dem Nationalen Frauendienst oder dem Roten Kreuz zusammen. Da auch jüdische Soldaten am Krieg teilnehmen, nimmt die Zahl der unterstützungsbedürftigen Familien, Kriegsversehrten, Witwen und Waisen zu. Aus der Potsdamer Gemeinde sterben 19 Männer.27 Unter ihnen Bertha Putzigers Sohn Hans. Am 13. April 1918 kommt auch Anna Zielenzigers Neffe Erich Landsberger im Rang eines Leutnants in Verdun ums Leben.28 Seit dem Krieg nimmt der ohnehin vorhandene Antisemitismus in Deutschland zu. Eine Folge davon ist die Rückbesinnung vieler Jüdinnen und Juden auf ihre Religion und Traditionen. Das macht sich auch an einem stärkeren Engagement im jüdischen Gemeinde- und Vereinsleben bemerkbar. Möglicherweise schließen sich nun in Potsdam mehr Frauen als zuvor dem Frauenverein an. Hier wird vor allem die Jugendarbeit gefördert und durch Vorträge und Veranstaltungen das Wissen um das Judentum stärker verbreitet.29 Bereits 1899 hatte sich der Verein für jüdische Geschichte und Literatur gegründet, dessen Anliegen es ist, im Zuge der Assimilation des liberalen Judentums in die christlichbürgerliche Gesellschaft, jüdische Kultur und Tradition zu erhalten sowie das jüdische Selbstbewusstsein zu stärken. Auf diese Weise soll das Wissen über das Judentum auch an Nichtjuden vermittelt werden. Auch dies war eine Reaktion auf den wachsenden Antisemitismus. Frauen konnten hier selbstständige Mitglieder werden. Das war noch nicht selbstverständlich, da ihnen zu dieser Zeit ansonsten nur Frauenvereine zugänglich sind.30 Seit 1903 gehören Frauen auch zum Potsdamer Synagogen-Gesangs-Verein, der den Gottesdienst musikalisch gestaltet. 1925 zählt die Synagogengemeinde Potsdam 632 Mitglieder, die in Potsdam, Nowawes, Neubabelsberg, Werder, Glindow und Caputh leben.31 Am 1. Februar 1926 begeht der Israelitische Frauenverein sein 75-jähriges Bestehen im Hotel Zum Einsiedler in der Schlossstraße. Anna Zielenziger hält die Festrede. Unter den Gästen befinden sich die führenden Mitglieder der Synagogengemeinde. 26 Stiftung Neue Synagoge Berlin (wie Anm. 14). 27 Arlt, Potsdam (wie Anm. 21), S. 282. 28 http://www.denkmalprojekt.org/Verlustlisten/rjf_muenchen_wk1.htm: Liste der im 1. Weltkrieg gefallenen Soldaten jüdischen Glaubens aus München (27.7.2015); Auskunft von Eric Zielenziger am 21.10.2008. 29 Arlt, Klaus: Chronologie der Synagogengemeinde Potsdam nach 1903. In: Kaelter, Geschichte (wie Anm. 1), S. 228–252, hier: S. 229. 30 Arlt, Potsdam (wie Anm. 21), S. 279. 31 Arlt, Potsdam (wie Anm. 21), S. 283.



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Auch diesen Anlass nutzt der Verein, um Spenden zu sammeln.32 Bedürftige wird es zu dieser Zeit viele gegeben haben, denn noch immer sind die Nachwirkungen der Inflation spürbar. Im März 1929 eröffnet in der Neuen Königstraße 66 (Berliner Straße 90) das Jüdische Mädchenheim. Die ersten Bewohnerinnen kommen aus dem 1894 gegründeten Verein Mädchenhaus Pankow, dessen Gebäude nun anderweitig genutzt werden.33 Das Heim bietet mittellosen jüdischen Mädchen vor allem die Möglichkeit einer hauswirtschaftlichen Ausbildung. Damit knüpft der Verein an traditionelle weibliche Rollen- und Berufsvorstellungen an, fördert jedoch zugleich die finanzielle Unabhängigkeit der Mädchen von ihren Familien. Darüber hinaus können Mädchen in verschiedenen Potsdamer Schulen auch einen Schulabschluss erhalten. Finanziert wird das Heim durch einen Förderverein, zu dem auch der Israelitische Frauenverein gehört.34 Möglicherweise unterstützt der Verein auch das kleine jüdische Kinderheim in der Luckenwalder Straße 3 b35 (Albert-Einstein-Straße) und ab 1932 das jüdische Kinder- und Landschulheim in Caputh, in dem Kinder von geschiedenen oder emigrierten Eltern aufgenommen werden. Anna Zielenzigers Enkel Wolfgang, 1920 geboren, erinnerte sich auch an Kinderfeste in der Gemeinde, an deren Vorbereitung wohl vor allem Frauen des Vereins beteiligt waren: „[...] die Synagogengemeinde veranstaltete jedes Jahr ein Kinderfest im Hotel ‚Einsiedler‘ [...] mit Geschenken, Getränken und gutem Kuchen“.36 Am 25. Februar 1931 feiert der Israelitische Frauenverein sein 80-jähriges Bestehen und zugleich Anna Zielenzigers 25-jähriges Jubiläum als dessen Vorsitzende. Im Rahmen der Feier werden Szenen aus Lion Feuchtwangers Buch Jud Süß besprochen.37

32 Arlt, Chronologie (wie Anm. 29), S. 234. 33 http://de.juedisches-leben.org/ausstellung.php3?topic_id=7: Ausstellung zu jüdischem Leben in Pankow mit Informationen zum Mädchenhaus Pankow (24.1.2011). 34 Arlt, Chronologie (wie Anm. 29), S. 237f. 35 Arlt, Chronologie (wie Anm. 29), S. 238. 36 Schriftliche Erinnerungen von Eric Zielenziger vom 28.6.2008. Ich danke Wolfgang Weißleder für die Kopie dieser Aufzeichnungen. 37 Arlt, Chronologie (wie Anm. 29), S. 239f.

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Die Arbeit des Vereins in den Jahren 1933 bis 1945 Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler im Januar 1933 beginnt die staatlich fundamentierte Ausgrenzung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland. Das Jüdische Mädchenheim in Potsdam wird geschlossen. Am 12. Juli 1933 eröffnet hier der Reichsjugendführer Baldur von Schirach persönlich die Reichsführerschule der Hitler-Jugend. In unmittelbarer Nähe entsteht Anfang 1934 die Reichsführerinnen-Schule für den B.D.M. Der Israelitische Frauenverein gewinnt durch die zunehmende gesellschaftliche und wirtschaftliche Ausgrenzung der Juden und Jüdinnen immer größere Bedeutung. Die Arbeit des Potsdamer Vereins in dieser Zeit, der 1933 100 Mitglieder zählt, ist wissenschaftlich noch nicht aufgearbeitet. Doch anhand von Berichten über die Tätigkeit des Jüdischen Frauenbundes und anderer jüdischer Frauenvereine in Deutschland soll hier versucht werden, die möglichen neuen Wirkungsbereiche darzustellen. Immer wichtiger wird der Zusammenhalt innerhalb der jüdischen Gemeinden. An Bedeutung gewinnt dabei die Stärkung des jüdischen Selbstbewusstseins, auch mithilfe von Vorträgen über jüdische Geschichte und Religion sowie der gemeinsamen Pflege jüdischer Traditionen. Der Schwerpunkt der Arbeit wird jedoch weiterhin die soziale und wirtschaftliche Hilfe sein. Die Berufsverbote lassen die Zahl der Bedürftigen ansteigen. 1938 wird die jüdische Bevölkerung von der Winterhilfe ausgeschlossen. Neu ist vermutlich die Unterstützung bei der Vermittlung von Arbeitsplätzen und insbesondere von Lehrstellen, da Juden und Jüdinnen nur noch in jüdischen Betrieben ausgebildet werden dürfen. Doch davon gibt es zunehmend weniger.38 Für Mädchen ist die Situation besonders prekär, denn häufig geben selbst Eltern und jüdische Hilfsorganisationen der Ausbildung von Jungen den Vorrang.39 Denkbar ist auch, dass der Verein jungen Frauen bei der Auswanderung hilft und sie in Hachschara-Lager vermittelt, wo sie sich auf ein Leben in Palästina vorbereiten und in einem landwirtschaftlichen oder hauswirtschaftlichen Beruf qualifizieren können. Das umfasst auch die kulturelle, sprachliche und soziale Vorbereitung auf ein gemeinschaftliches Leben im neuen Land und die Beschäftigung mit jüdischer Geschichte, die durch die Assimilation nicht mehr in jeder Familie vermittelt wird. Solche Lager existieren in Deutschland und in vielen

38 Maierhof, Selbstbehauptung (wie Anm. 19), S. 103–106. 39 Kaplan, Marion: Jüdische Frauen im Nazi-Deutschland 1933–1939. In: Mechthild M. Jansen u. Ingeborg Nordmann (Hrsg.): Lektüren und Brüche: Jüdische Frauen in Kultur, Politik und Wissenschaft. Königstein/Taunus 2000. S. 196–214, hier: S. 200.



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europäischen Ländern. Einige befinden sich auch in Brandenburg wie Ahrensdorf bei Trebbin und Gut Winkel bei Fürstenwalde.40 Hilfe zur Auswanderung bedeutet auch, sich generell für die Auswanderung von Mädchen und Frauen nach Palästina einzusetzen. Anfangs vergibt das dafür zuständige Palästina-Amt die meisten Auswanderer-Zertifikate an Männer. So erhalten im Sommer 1933 nur 250 Frauen eines der 1000 bewilligten Zertifikate. Im ersten Halbjahr 1934 sind es sogar nur 90 von 884 Bescheinigungen.41

Emigration aus Potsdam Zu denen, die bereits früh auswandern, gehören die mittlerweile erwachsenen Kinder von Anna und Julius Zielenziger. Gertrud emigriert mit ihrem Ehemann Richard Fränkel und den Töchtern Stefanie und Ellen im September 1933 nach Haifa. Im selben Monat geht Kurt mit seiner Ehefrau Lilly und dem Sohn Wolfgang nach Paris, 1934 nach Amsterdam. Anna und Julius Zielenziger besuchen ihre Kinder so oft wie möglich. Sie selbst wollen Potsdam nicht verlassen. Doch am 28. Mai 1938 stirbt Julius Zielenziger. Anna Zielenziger beschließt nun, zu ihrem Sohn nach Amsterdam zu ziehen. Es beginnt ein entwürdigendes Prozedere der Enteignung.42 Ihr Konto wird gesperrt. Sie darf nur über ein Guthaben von 500 RM verfügen. Benötigt sie mehr Geld, muss sie die Genehmigung des Oberfinanzpräsidenten von Brandenburg einholen. Ihr Umzugsgut muss sie detailliert auflisten und für Wertsachen Abgaben zahlen. Nach der Zahlung der sogenannten Reichsfluchtsteuer bleibt ihr nur noch die Hälfte des Vermögens. Aber auch das verbleibt auf einem Sperrkonto der Deutschen Golddiskontbank. Noch während ihrer Ausreisevorbereitungen erlebt sie das Novemberpogrom in Potsdam. Die Friedhofskapelle und die Synagoge werden zerstört, jüdische Geschäfte geplündert, Männer der Gemeinde verhaftet und in das KZ Sachsenhausen eingewiesen. Kurz danach müssen sich der Jüdische Frauenbund und wohl auch der Israelitische Frauenverein auflösen. Anna Zielenziger wird von der Polizei unter Druck gesetzt. Sie soll so schnell wie möglich ausreisen. Im April 1939 schreibt sie an den Sachbearbeiter der Devisenstelle beim Oberfinanzpräsidenten, Reinicke: „Leider bedrängt man mich 40 Fiedler, Herbert: Träume und Hoffnungen. Berichte, Erzählungen und Dokumente zur Hachschara-Stätte Landwerk Ahrensdorf. Hrsg. v. Förderverein für eine internationale Begegnungsstätte Hachschara-Landwerk Ahrensdorf. Luckenwalde 2001; Michaeli, Ilana u. Irmgard Klönne (Hrsg.): Gut Winkel – die schützende Insel. Hachschara 1933–1941. Berlin 2007. 41 Maierhof, Selbstbehauptung (wie Anm. 19), S. 38. 42 Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA) Rep. 36 A Nr. F 2093.

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schon, so war gestern ein Polizeiwachtmeister bei mir, um zu fragen, wann ich auswandere.“43 Ein Monat später wird ihr die Ausreise genehmigt. Zu dieser Zeit leben in Potsdam nur noch 175 jüdische Frauen und Männer.44 Am 3. Juni 1939 wendet sich Anna Zielenziger noch einmal an den Sachbearbeiter Reinicke: Bei meiner Abreise aus Potsdam beauftragte ich einen Verwandten mit der Abfertigung des Transportes meiner Möbel und Kisten [...] Mein Verwandter schreibt mir jetzt, dass bei der Verzollung das Silber, also die zwei mir erlaubten Bestecke sowie einige Teelöffel, im Gewichte von 200 Gramm, ebenfalls gestattet, aus den Kisten herausgenommen wurden, da das Silber im Verzeichnis nicht besonders aufgeführt war, und für dieses Silber eine besondere Genehmigung auf besonderem Formular erforderlich sei. Von dieser besonderen Genehmigung war mir bisher nichts bekannt. [...] Ich bitte hierdurch höflichst um die Genehmigung, mir zu gestatten, dass die oben erwähnten Gegenstände auf dem Zollamt Packhof Berlin neu verpackt und mir hierher nachgesandt werden dürfen.45

Obwohl sie nun in Amsterdam lebt, unterschreibt sie mit Anna Sara Zielenziger. Vermutlich hat sie Angst, ihre Bitte könnte abgelehnt werden. Anna Zielenziger kann dem Terror nur für kurze Zeit entkommen. 1940 überfällt Deutschland auch die Niederlande. Im November 1941 wird allen deutschen Juden und Jüdinnen, die im Ausland leben, die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Damit verliert Anna Zielenziger auch ihr letztes auf dem Sperrkonto verbliebenes Geld. Am 17. August 1942 wird ihre Freundin Martha Ollendorff von Berlin nach Theresienstadt deportiert und verstirbt dort knapp vier Monate später am 9. Dezember.46 Auch Anna Zielenziger droht die Deportation. Ihr Sohn Kurt und ihr Enkel Wolfgang arbeiten im Jüdischen Rat in Amsterdam und versuchen sie durch ihre Position zu schützen. Doch das gelingt nicht. Bereits an Krebs erkrankt wird Anna Zielenziger im Mai 1943 in das polizeiliche Durchgangslager Westerbork eingewiesen. Dort verstirbt sie am 2. November 1943. Kurt Zielenziger und seine Ehefrau Lilly versterben im KZ Bergen-Belsen bzw. kurz nach der Befreiung. Ihr Sohn Wolfgang taucht vor der Deportation unter und überlebt in Amsterdam. 1946 geht er in die USA und nennt sich von nun an Eric Zielenziger. Er stirbt am 21. November 2010. Anna und Julius Zielenzigers Tochter Gertrud Fränkel und ihr Ehemann sind vor ein paar Jahren in Haifa verstorben. Ihre Töchter leben noch heute dort. 43 BLHA (wie Anm. 42), Bl. 44. 44 Arlt, Chronologie (wie Anm. 29), S. 246. 45 BLHA (wie Anm. 42) Bl. 62. 46 http://www.yadvashem.org/wps/portal/!ut/p/_s.7_0_A/7_0_2KE?last_ name=Ollendorff&first_name=Martha&location=Berlin&next_form=results: Eintrag in: The Central Database of Shoah Victims’ Names (28.7.2015).



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Im März 2009 stiftet das Autonome Frauenzentrum Potsdam einen Stolperstein für Anna Zielenziger. Er liegt am Eingang der Gutenbergstraße 61, wo sie seit 1933 mit ihrem Ehemann gelebt hat.47 Im September oder Oktober 1938 zog sie zu der verwitweten Anna Cohn in die Kurfürstenstraße 34. Ungeklärt ist, ob es ein freiwilliger Umzug war oder ob die Wohnung zu einer jüdischen Sammelwohnung deklariert wurde, in die sie zwangsweise ziehen musste.

47 Adressbuch der Stadt Potsdam 1934.

Abb. 7: Rudolf Grossmann: Versteigerung bei Paul Cassirer. Einige Köpfe, 1924 [Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Zentralarchiv]

Anna-Carolin Augustin und Anna-Dorothea Ludewig

Kunst und Leben

Die Sammlerinnen Felicie Bernstein und Margarete Oppenheim Am 15. Februar 1924 fand im Berliner Kunstsalon Cassirer die Versteigerung von Teilen der Kunstsammlung des Frankfurter Sammlers Egon Zerner statt.1 Der Maler und bekannte Grafiker der politisch-satirischen Zeitschrift Simplicissimus, Rudolf Großmann, befand sich an jenem Tag in den Reihen der Bietenden, beobachtete das Geschehen und skizzierte einige Berühmtheiten der Berliner Kunstszene. Bei der Auktion, an der sich – nach Grossmanns Worten –„alles beteiligte, was in der Berliner Kunstwelt einen Namen hat“, waren unter anderem die Kunsthändler Alfred Flechtheim und Walter Feilchenfeldt sowie der Direktor der Berliner Kunstbibliothek, Curt Glaser, anwesend.2 Auch Portraits zweier Auktionsteilnehmerinnen hielt Großmann fest, die von ihm aber – im Gegensatz zu den durch Bildunterschrift kenntlich gemachten männlichen Portraits – nicht namentlich, sondern durch allgemeine Beschreibungen, wie „Eine Sammlerin“ und „Eine sachverständige Interessentin“, gekennzeichnet wurden.3 Diese Skizzen Grossmanns wurden unter dem Titel Versteigerung bei Paul Cassirer. Einige Köpfe publiziert. Sie sind ein Beispiel der Anonymität von Frauen, die aktiv als Kunstsammlerinnen, -kennerinnen oder -förderinnen an der Berliner Kunstwelt des späten Kaiserreiches und der Weimarer Republik partizipierten. Aus welchen Gründen die Namen der anwesenden Sammlerinnen von Grossmann nicht aufgeführt wurden, ob sie ihm nicht bekannt waren oder nicht benannt werden wollten, ist nicht rekonstruierbar. Als historisches Dokument bereiten solche Skizzen und ähnlich anonymisierte Quellen wie Leihgeberlisten, Provenienznachweise etc. insbesondere der historischen Frauen- und Geschlechterforschung Probleme, denn eine Annäherung an Personen und Sammlungen gestaltet sich hierdurch sehr diffizil. Nicht nur Formen der „Nichtnennung“ verzerren das Bild der sozialen Berliner 1 Vgl. Cassirer, Paul u. Hugo Helbing (Hrsg.): Die Sammlung Egon Zerner. Versteigerungskatalog, 15. Dezember 1924. Berlin 1924. 2 Grossmann, Rudolf: Versteigerung bei Paul Cassirer. Einige Köpfe, 1924. Zeitungsausschnitt zur Versteigerung der Sammlung Egon Zerner am 15. Februar 1924. Berlin, Staatliche Museen Preu­ßischer Kulturbesitz, Zentralarchiv. 3 Eine Ausnahme bildet Dr. Grete Ring (1887–1952), die als Kunsthistorikerin im Kunstsalon Cassirer beschäftigt war. Bei der „sachverständigen Interessentin“ handelt es sich auf Grund der opti­ schen Ähnlichkeit mit anderen Portraits mit hoher Wahrscheinlichkeit um die Porzellansammlerin Hermine Feist (1855–1933).

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Sammlungstopographie, sondern auch die Überlagerung weiblicher Aktivitäten durch die Verwendung männlicher Pseudonyme. Erschwerend kommt hinzu, dass sich im Deutschen Reich durch die traditionell starke Involvierung des Staates in Kulturangelegenheiten ein vergleichsweise gering ausgeprägtes bürgerliches Privatmäzenatentum entwickelte, das zudem durch den Ersten Weltkrieg und seine Folgen, die Inflation und spätere Wirtschaftskrisen, stark dezimiert wurde. Aber auch davor war die private Sammlungs- und Stiftungskultur in Deutschland nicht mit den entsprechenden Entwicklungen in den USA vergleichbar; durch große Sammlungen und private Museumsgründungen haben Stifterinnen und Stifter bis heute einen festen Platz im kollektiven Gedächtnis der Amerikaner. Namhafte Kunstförderinnen innerhalb dieses bürgerlichen Modells der Selbstorganisation sind Gertrude Vanderbilt Whitney, die Stifterin des Whitney Museum of American Art in New York, und Isabella Steward Gardner, deren Sammlung das gleichnamige Museum in Boston begründete.4 Zudem zerstörte die zwölf Jahre andauernde nationalsozialistische Herrschaft durch die Verfolgung eines Großteils der kulturellen Elite, die Gleichschaltung des Kultursektors sowie die Diffamierung und Zerstörung moderner Kunst jenes Netzwerk von Personen, das die private deutsche Sammlungslandschaft maßgeblich prägte. Gewiss hätte ohne die Zäsur von 1933 auch der öffentliche Kunstsektor eine andere Gestalt angenommen, möglicherweise wäre die ein oder andere Sammlung geschlossen Institutionen gestiftet worden oder hätte – ähnlich wie in den USA – als Grundlage eines eigenen Museums dienen können. Jedoch führten Vertreibung, Flucht und Krieg in den meisten Fällen zur (Zwangs-)Auflösung und Zerstreuung der Sammlungen sowie zur Vernichtung wichtiger historischer Quellen. Die Namen der einstigen Akteurinnen und Akteure verschwanden, einer damnatio memoriae gleich, über viele Jahrzehnte aus dem öffentlichen Bewusstsein. Erst das seit den letzten 20 Jahren zunehmende Interesse der kunst- und kulturhistorischen Forschung an Sammlungsgeschichte sowie die von der Politik intendierte Wiederbelebung eines „neuen“ bürgerlichen Mäzenatentums begannen die Erinnerung zu befördern; dieser Prozess äußert sich beispielsweise in Publikationen, die das Wirken von Kunstsammlern und -förderern würdigen, oder der Schaffung von Erinnerungsorten, wie beispielsweise dem James-SimonSaal im 2010 wiedereröffneten Neuen Museum in Berlin. 5 4 Vgl. Haxthausen, Charles W.: Der amerikanische Weg der Kunstförderung und Museumsfinanzierung. In: Braun, Günter und Waldtraut (Hrsg.): Mäzenatentum in Berlin. Bürgersinn und kulturelle Kompetenz unter sich verändernden Bedingungen. Berlin 1993. S. 175–199. 5 Vgl. u.a. Bärnreuther, Andrea u. Peter-Klaus Schuster (Hrsg.): Zum Lob der Sammler. Die staatlichen Museen zu Berlin und ihre Sammler. Berlin 2009; Luig, Sibylle u. Christina Steingräber (Hrsg.): Das Geschenk der Kunst. Die Staatlichen Museen und ihre Sammler. Berlin 2005.



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Trotz der schwierigen Quellenlage wird nun auch der Versuch unternommen, die Geschichte des Kunstsammelns und -förderns durch Frauen wissenschaftlichsystematisch aufzuarbeiten.6 Dieses Desiderat steht vor allem im Gegensatz zur angelsächsischen Forschung, die bereits seit den 1990er Jahren erfolgreich die Rolle von Kunstsammlerinnen im Kontext der Geschlechterverhältnisse, der strukturellen Machtkonstellationen, der Einflüsse auf Geschmacksbildung, Kunstkonsum und die Etablierung verschiedener Kunststile aufarbeitet und analysiert.7 Frauen, die sammelten und sich kunstfördernd betätigten, brachten sich als „Ausnahmefrauen“ in eine Männerdomäne ein. Das hat zunächst zwei einfachen Gründe: Zum einen blieben Frauen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wirtschaftlich meist unselbstständig und konnten nur eingeschränkt eigene Ausgaben tätigen. Zum anderen hemmte der institutionelle Ausschluss von Frauen – beispielsweise aus Kunst(förder)kreisen und Universitäten – sowohl die personelle Vernetzung – den Kontakt zu Künstlern, Händlern und Sammlern – als auch die Fachbildung und damit eine zentrale Grundlage des Sammelns. Es muss also berücksichtigt werden, dass „das Sammeln von Kunst nicht nur mit der Begeisterung für Gemälde oder Skulpturen oder mit ganz individuellen Sammelleidenschaften zu tun [hatte], sondern zugleich mit Reichtum, Status und Macht, worin Männer Frauen meist überlegen waren“8. Der unabhängige Aufbau einer eigenen Kunstsammlung oder die freie Entscheidung für kunstförderndes Engagement standen Frauen also nur in Aus6 Vgl. das Disserationsprojekt von Anna-Carolin Augustin: „Berliner Kunstmatronage. Zum Sammeln, Stiften und Fördern bildender Kunst durch Frauen um 1900“ [Arbeitstitel]. Ansatzweise auch bei: Kuhrau, Sven: Der Kunstsammler im Kaiserreich. Kunst und Repräsentation in der Berliner Privatsammlerkultur. Kiel 2005. S. 83–96; Grodzinski, Veronica: „The Artdealer and Collector as Visionary. Discovering Vincent van Gogh in Wilhelmine Germany 1900–1914“. In: Journal of the History of Collections, Jg. 21 (2) (2009). S. 221–228, hier: S. 224; Pucks, Stefan: „Von Manet zu Matisse – Die Sammler der französischen Moderne in Berlin um 1900“. In: Hohenzollern, Johann Georg Prinz von u. Peter-Klaus Schuster (Hrsg.): Manet bis Van Gogh. Hugo von Tschudi und der Kampf um die Moderne. Berlin 1997. S. 386–390, hier: S. 390; Wimmer, Dorothee, Christina Feilchenfeldt u. Stephanie Tasch (Hrsg.): Kunstsammlerinnen. Peggy Guggenheim bis Ingvild Goetz. Berlin 2009. 7 So u. a.: Gere, Charlotte u. Marina Vaizey: Great Woman Collectors. London 1999; James, Susan E.: The Feminine Dynamic in English Art, 1485–1603. Women as Consumers, Patrons and Painters. Farnham 2009; Iskin, Ruth E.: Modern Woman and Parisian Consumer Culture in Impressionist Painting. New York 2007; Lawrence, Cynthia: Woman and Art in Early Modern Europe. Patrons, Collectors and Connoisseurs. Pennsylvania 1997; Reist, Inge u. Rosella Mamoli Zorzi (Hrsg.): Power Underestimated. American Woman Art Collectors. Venedig 2011; Sachko Macleod, Dianne: Enchanted Lives, Enchanted Objects. American Women Collectors and the Making of Culture, 1800–1940. Berkeley 2009. 8 Jürgs, Britta (Hrsg.): Sammeln nur um zu besitzen? Berühmte Kunstsammlerinnen von Isabella d’Este bis Peggy Guggenheim [Vorwort]. Berlin u.a. 2000. S. 7–13, hier: S. 7.

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nahmefällen offen. Einen gesellschaftlich akzeptierten Rahmen boten hingegen gemeinsame Aktivitäten eines Ehepaars, die oft von den Frauen maßgeblich bestimmt, ihnen aber selten zugetraut wurden. Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Geschlechterbilder ist zu berücksichtigen, dass „die Fähigkeit zur Einschätzung der historischen Relevanz künstlerischer Qualität und damit kunsthistorisches Bildungswissen in der Regel Männern zugeschrieben, eine unmittelbare geschmackliche Sensibilität dagegen tendenziell Frauen zugebilligt wurde“9. Hier zeigt sich deutlich die Schnittstelle zum Diskurs über „Frauenkunst“, der seit Linda Nochlins Aufsatz Why Have There Been No Great Women Artists? (1971) in der Kunstgeschichte geführt wird. Denn Künstlerinnen wie Sammlerinnen wurde gleichermaßen abgesprochen, was das Genie kennzeichne: „ein freier Geist, der dennoch von ethischen Maßstäben geleitet ist“10. Gerade exzeptionelle Frauenbiographien sind nicht unkritisch zu betrachten, scheinen diese doch „die konventionelle bürgerliche Geschlechterordnung zu akzeptieren und diese so zu zementieren“11. Andererseits kann auch einer individuellen Grenzüberschreitung eine mehr oder weniger bewusste strukturelle Kritik immanent sein. Andersherum ausgedrückt ist es durchaus möglich, über einen „Ausnahmeweg“ Diskriminierung und Ausgrenzung sichtbar zu machen und damit neue Perspektiven für Frauen zu eröffnen. Anhand von zwei Fallbeispielen wird im Folgenden eine Annäherung an das Wirken von Kunst sammelnden und fördernden Salonièren in Berlin um 1900 unternommen: Dabei soll einerseits Aufschluss über die verschiedenen Voraussetzungen und Formen der Partizipation von Frauen in der Berliner Kunstwelt vom späten Kaiserreich bis zum Ende der Weimarer Republik gegeben und andererseits ein Beitrag für die analytische Erweiterung der bisherigen Berliner Sammlungsforschung geleistet werden.

9 Wimmer, Dorothee: Kulturtransfer – Emanzipation – Kunstpolitik. Europäische und amerikanische Sammlerinnen zeitgenössischer Kunst. In: Wimmer, Feilchenfeldt, Tasch: Kunstsammlerinnen (wie Anm. 6), S. 7–26, hier: S. 11. 10 Nochlin, Linda: Warum hat es keine bedeutenden Künstlerinnen gegeben? In: Söntgen, Beate (Hrsg.): Rahmenwechsel. Kunstgeschichte als feministische Kulturwissenschaft. Berlin 1996. S. 27–56. Die Publikation erschien erstmals wie folgt: Nochlin, Linda: „Why Have There Been No Great Women Artists?“ In: Art News 69 (1971). S. 22–39. 11 Graw, Isabelle: Die bessere Hälfte. Künstlerinnen des 20. und 21. Jahrhunderts. Köln 2003. S. 176.



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Felicie Bernstein Felicie Bernstein12 wurde 1850 in Sankt Petersburg als Tochter des Kommerzien­rats Leo Rosenthal geboren. Über ihre Kindheit ist wenig bekannt; nach dem frühen Tod ihrer Mutter wurde sie wohl in einem Dresdner Pensionat erzogen und kehrte als junge Frau zu ihrem Vater nach Sankt Petersburg zurück. Dort lernte sie Carl Bernstein kennen, einen zehn Jahre älteren Juristen, der aus Odessa stammte, in Deutschland studiert hatte und nun versuchte, als Rechtsanwalt in Sankt Petersburg Fuß zu fassen.13 Die Begegnung des Paares wird von Georg Treu, einem bekannten Kunsthistoriker und engen Freund Carl Bernsteins, beschrieben: Ich erinnere mich noch deutlich des Augenblicks, als mir Carl Bernstein zum ersten Mal aus der Ferne ,Fräulein Rosenthal‘ zeigte. Es war auf der Landungsbrücke von Peterhof, auf der das kleine Persönchen mit der ihr eigenen entschiedenen Lebhaftigkeit einem Dampfschiff zustrebte, gefolgt von ihrer Gesellschafterin, der hochgewachsenen, blondsanften Witwe eines in Florenz verstorbenen Leipziger Malers. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter war sie in einer Dresdner Pension Jung erzogen worden und damals eben nach Petersburg zum Vater zurückgekehrt. Dieser hatte eine große Wohnung des Utinschen Hauses in der Galeerenstraße inne und sah als einer der führenden Finanzmänner Rußlands eine Menge Leute bei sich. Wie die kaum Achtzehnjährige sich zwischen diesen, allen Schichten der Gesellschaft angehörigen Besuchern nicht nur zurechtfand, sondern sie auch an den, stets mit Herzklopfen erwarteten Mittwochs-Empfängen zu behandeln und zu unterhalten wußte, war erstaunlich. Noch bewunderungswürdiger aber war es, daß sie unter den Freiern aus den

12 Literatur zum Ehepaar Bernstein: Behrendt, Monica (Hrsg.): Sabine Lepsius: Ein Berliner Künstlerleben um die Jahrhundertwende. Erinnerungen. München 1972. S. 86f.; Brandes, Georg: Berlin som tysk Rigshovestad. Kopenhagen 1885. S. 535; Bilski, Emily D. (Hrsg.), Berlin Metropolis. Jews and the New Culture, 1890–1918. Berkeley 1999. S. 196f; Greifenhagen, Adolf (Hrsg.): Adolf Furtwängler: Briefe aus dem Bonner Privatdozentenjahr 1879/80 und seiner Tätigkeit an den Berliner Museen 1880–1894. Stuttgart 1965. S. 38, 42 und 64; Hahn, Barbara: Die Jüdin Pallas Athene. Auch eine Theorie der Moderne. Berlin 2002. S. 76f; Lepsius, Sabine: „Über das Aussterben der ‚Salons‘“. In: März. Eine Wochenschrift 7 (1913). S. 222–234 und S. 226–227; dies.: Vom deutschen Lebensstil. Leipzig [1916]. S. 42; Ludewig, Anna-Dorothea: „Haben Sie wirklich Geld für diesen Dreck gegeben?“ Die Sammlung Carl und Felicie Bernstein. In: Anna-Dorothea Ludewig, Julius H. Schoeps u. Ines Sonder (Hrsg.): Aufbruch in die Moderne. Sammler, Mäzene und Kunsthändler in Berlin, 1880–1933. Köln 2012. S. 90–103; Paul, Barbara: Drei Sammlungen französischer impressionistischer Kunst im kaiserlichen Berlin – Bernstein, Liebermann, Arnhold. In: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft, Bd. 42 (1988) H. 3. S. 11–30; Treu, Georg (Hrsg.): Carl und Felicie Bernstein. Erinnerungen ihrer Freunde. Dresden 1914; Weisbach, Werner: Und alles ist zerstoben. Erinnerungen aus der Jahrhundertwende. Wien 1937; Wilhelmy, Petra: Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780–1914). Berlin 1989. S. 311–314 und 612–614; dies.: Die Berliner Salons. Mit historisch-literarischen Spaziergängen, Berlin 2000. S. 309–311. 13 Vgl. Cohn, Gustav: Erinnerungen aus der Studienzeit. In: Treu, Carl und Felicie Bernstein (wie Anm.12), S. 7–14.

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Kreisen der nordischen Residenz den damals noch sehr ungeleckten Bären Carl Bernstein herausfand und bevorzugte, die Weise, wie sie ihn zähmte und in ihren Kreis gewöhnte.14

Auch über die Herkunft Carl Bernsteins ist wenig bekannt. Aus bürgerlichen Verhältnissen stammend, gelangte er wohl erst mit der Heirat Felicie Rosenthals in Besitz eines erheblichen Vermögens. Dafür spricht auch, dass Bernstein nach seiner Verehelichung nicht mehr gezwungen war, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und sowohl seine Mutter als auch seine unverheiratete Schwester zu sich nehmen konnte. Zwar habilitierte sich Bernstein auf dringenden Wunsch des Schwiegervaters in Sankt Petersburg, aber ein Lehrstuhl blieb für einen Juden in Russland unerreichbar, und eine Konversion scheint weder für Carl noch für Felicie in Frage gekommen zu sein. Da beide Ehepartner die Liebe zu Deutschland teilten, ließen sie sich nach der Hochzeitsreise in Berlin nieder, wo Carl Bernstein seit 1886 als außerordentlicher Professor für römisches Recht tätig war – denn auch im Deutschen Reich blieb eine ordentliche Professur für Juden eine Ausnahme. In Berlin knüpfte Felicie Bernstein an die Traditionen an, die sie aus ihrem Petersburger Vaterhaus kannte und etablierte einen jour fixe – auch als „Russischer Salon“ bezeichnet – der alte und neue Freunde anzog.15 Andreas von Tuhr, ein Freund und häufiger Gast der Familie, hat das Bernsteinsche Haus wie folgt geschildert: Durch völlige Beherrschung der vier großen Kultursprachen deutsch, französisch, englisch und russisch, verbunden mit einer gründlichen Kenntnis der Geschichte und Kultur dieser Völker und mit vielseitigen, nicht an der Oberfläche haftenden Interessen war in der Familie Bernstein eine Atmosphäre hoher geistiger Kultur entstanden, welchen in jedem, der diesen Menschen näher treten durfte, das nacheifernde Bestreben nach gleicher Ausdehnung des geistigen Horizonts weckte.

Das große kulturelle Interesse teilten die Eheleute offensichtlich, wobei sich die meisten Berichte auf Carl konzentrieren und die Persönlichkeit Felicies dahinter zurücktritt. Dennoch wird ihr in den verschiedenen Berichten ihrer Freunde eine durchaus aktive, gesellschaftlich und sozial engagierte Rolle zugebilligt: Felicie Bernstein, welche [...] auch jene liebenswürdigen Eigenschaften und Fähigkeiten besaß, die Gegensätze verbinden, heitere Gespräche hervorlocken, kurzum geistiges Behagen und geistige Bewegung zu geben. Sie war duldsam ohne lax zu sein, witterte starke Persönlichkeiten und würdigte die Bescheidenen. Sie huldigte den Berühmtheiten, ohne jemals zu schmeicheln und gab den Schüchternen durch Nachsicht ein Gefühl von 14 Treu, Georg: Aus Berlin und Petersburg. In: ders., Carl und Felicie Bernstein (wie Anm. 12), S. 15–19, hier: S. 17. 15 Vgl. Behrendt, Lepsius (wie Anm. 12), S. 86.



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Sicherheit. In diesem Salon sind Gespräche über Kunst oder andere geistige Gebiete geführt worden, die von weittragender Bedeutung waren. Solche Gespräche wurden von der Wirtin nicht unterbrochen, auch wenn sie sich ernst und leidenschaftlich gestalteten und doch wußte sie zu verhindern, daß sie in Richtungsstreiterein ausarteten.16

Felicie Bernstein war die Gastgeberin, die „Salonière“, denn ihre Gäste selbst sahen diese Gesellschaften vor dem Hintergrund des Salons von Henriette Herz.17 Die Halböffentlichkeit, die jene legendären Zusammenkünfte schon im 18. Jahrhundert auszeichnete, war auch Teil des Bernsteinʼschen Konzepts: Willkommen war jeder Freund oder Freundesfreund, der die sprichwörtliche „geistig Nahrung“ mitbrachte. Bereits die Wohnung der Bernsteins war ein Ereignis: Max Liebermann meinte, „man fühlte sich nicht nur in ein anderes Haus, sondern in eine andere Stadt versetzt: nach Paris“18. Denn Bernsteins hatten ausgesuchtes Mobiliar, Antiquitäten sowie zeitgenössische Einrichtungsgegenstände zusammengestellt; bereits auf der Hochzeitsreise, die das Paar im Jahre 1872 nach Wien, Venedig und Florenz führte, wurde ein Grundstock dieses erlesenen Mobiliars und Hausrats gekauft. Darunter befanden sich – sicher beeinflusst von der in dieser Zeit in Wien stattfindenden großen Kunstgewerbeausstellung – Möbel nach Entwürfen von Josef Storck und Friedrich Fischbach sowie Kristall aus dem weltbekannten Glashandelshaus Lobmeyr.19 Hinzu trat mit der Zeit eine geschmackvoll abgestimmte Mischung aus orientalischen Teppichen, japanischen Vasen, Gobelins sowie Landschafts- und Genrebildern20, die den Zimmern eine museale Prägung verliehen. Ergänzt wurde die Einrichtung zudem durch „Schmuckgegenstände der gleichen Zeit, in deren Geschmack ja auch die ganze Einrichtung gehalten war: Bijous, Fächer, vor allem Porzellanfigürchen und Gruppen“21, die mit dem Interieur korrespondierten. Daneben befanden sich in der umfangreichen Bibliothek Carl Bernsteins künstlerisch herausragende Werke, wie illustrierte französische Klassiker des 18. Jahrhunderts, Quintilians Institutionen von 1471 mit zwölf gemalten Initialen, Pietro Bembos Briefe für Papst Leo X. von 1535, Spinozas Werke in

16 Vgl. Lepsius, Deutscher Lebensstil (wie Anm. 12), S. 42. 17 Liebermann, Max: Meine Erinnerungen an die Familie Bernstein. In: Treu, Carl und Felicie Bernstein (wie Anm. 12), S. 47–53, hier: S. 50. 18 Liebermann, Erinnerungen (wie Anm. 17), S. 47 19 Vgl. Lessing, Julius: Das Kunstgewerbe auf der Wiener Kunstgewerbeausstellung 1873. Berlin 1874; Treu, Georg: Kunsteindrücke. In: ders., Carl und Felicie Bernstein (wie Anm. 12), S. 27–39, hier: S. 30. 20 Paul, Drei Sammlungen (wie Anm. 12), S. 11. 21 Wilhelm Bode: Ältere Kunstwerke. In: Treu, Carl und Felicie Bernstein (wie Anm. 12), S. 39– 40, hier: S. 39.

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ersten Drucken, die 34-bändige Prachtausgabe der Werke Friedrichs des Großen mit Adolph Menzels Zeichnungen sowie eine große Sammlung von Erstausgaben und Einzelblättern der deutschen Klassik, insbesondere der Werke Goethes.22 In die repräsentativen Räume hielten auch impressionistische Gemälde Einzug, die, zumindest auf den ersten Blick, nicht in dieses harmonische Gesamtbild passen wollten. Die Gemälde erwarben die Eheleute im Sommer 1882 in Paris und hängten sie in ihrem Musikzimmer auf. Wohl auf Veranlassung von Carl Bernsteins Cousin Charles Ephrussi, langjähriger Herausgeber der Kunstzeitschrift Gazette des Beaux-Arts und aktiver Förderer und Sammler impressionistischer Kunst, kauften sie Bilder von Édouard Manet, Claude Monet, Camille Pissarro, Alfred Sisley, Guiseppe de Nittis und anderen.23 Mit Mary Cassat, Berthe Morrisot und Käthe Kollwitz beinhaltete diese frühe Sammlung auch Werke von Künstlerinnen.24 Berlin hatte bislang von dieser neuen französischen Kunstrichtung noch wenig gesehen, es war durchaus ein kleiner Skandal, der weit über den privaten Rahmen hinaus diskutiert wurde und nicht wenig zu kunstpolitischen Umwälzungen beitrug. Bernsteins Gemälde waren, wie die Künstlerin Sabine Lepsius berichtet, „[...] leidenschaftlich bewundert oder verlacht, immer aber diskutiert, [...] Anlass zu Plänen, die sich dann später in der Begründung der Sezession verdichteten“25. Aus dieser Sammlung entstand 1883 auch die erste Ausstellung in Deutschland, die ausschließlich Impressionisten zeigte. Die Berliner Galerie Fritz Gurlitt zeigte die Bernsteinʼschen Gemälde gemeinsam mit weiteren aus dem Besitz des Pariser Kunsthändlers Paul Durand-Ruel.26 Wie zeitgenössischen Zeitungsberichten zu entnehmen ist, gab es kaum positive Reaktionen auf die neue französische Kunst. Und dennoch bedeutete die Präsentation der Bernstein’schen Sammlung in der Galerie Gurlitt, so umstritten sie auch war, einen Quantensprung für die Etablierung impressionistischer Kunst und darüber hinaus einen indirekten Beitrag zur Theoretisierung des Impressionismus. Denn der Dichter und Kunst22 Vgl. Treu, Kunsteindrücke (wie Anm. 19), S. 31. 23 Zu den Verbindungen der Bernsteins nach Frankreich vgl.: Helms, Knut: Esquisse d’un réseau libéral franco-allemand: Max Liebermann et la confraternité de l’Art. In: Kostka, Alexandre und Françoise Lucbert (Hrsg.): Distanz und Aneignung. Relations artistiques entre la France et l’Allemagne 1870–1945, Band 8. Paris 2004. S. 61–89, hier: S. 69 und 79; Waal, Edmund de: Der Hase mit den Bernsteinaugen. Das verborgene Erbe der Familie Ephrussi. München 2011. Zu den Bildern: Treu, Kunsteindrücke (wie Anm. 19). 24 Jensen, Susanne: „Wo sind die weiblichen Mäzene?“ Private Kunstförderung im „Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin“. In: Berlinische Galerie (Hrsg.): Profession ohne Tradition. 125 Jahre Verein der Berliner Künstlerinnen. Berlin 1992. S. 299–310, hier: S. 304. 25 Behrendt, Lepsius (wie Anm. 12), S. 86. 26 Vgl. Paul, Sammlungen (wie Anm. 12), S. 12f.



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kritiker Jules Laforgue (1860–1887) verfasste anlässlich der Gurlitt’schen Ausstellung 1883 einen Text, der eine Synthese Eduard von Hartmanns philosophischer Theorie des Unbewussten und Charles Darwins Evolutionstheorie zugrunde liegt.27 Nach Charles Baudelaires Essay Le Peintre de la vie moderne28 (1863) ist dieser Text eine der frühesten und eindringlichsten Analysen der impressionistischen Bewegung – und im unmittelbaren Umfeld der Bernsteins entstanden. Laforgue kam 1881 nach Berlin und wurde von Charles Ephrussi, dessen Sekretär er gewesen war, den Bernsteins empfohlen. Ein Notat von 1882 lässt erahnen, wie eng der Austausch mit Carl Bernstein gewesen sein muss: „Il [Carl Bernstein] doit être avec moi le seul homme de Berlin qui adore la décadence en tout.“29 Welche Rolle Felicie Bernstein in diesem Zusammenhang gespielt hat, ist en detail nicht mehr zu ermitteln. Zwar sprach Georg Treu die Erwerbung der Impressionisten eher Carl Bernstein zu,30 aber es ist naheliegend, dass es wenigstens eine gemeinsame Entscheidung des Ehepaares war, sich dieser neuen Kunst zu nähern und diese auch ihren Berliner Freunden zu erschließen. Erst nach dem Tod Carl Bernsteins im Jahr 1894 wird deutlich wie eng Felicie Bernstein selbst der Berliner Kunstwelt verbunden war. Sie legte nicht nur eine große Sammlung von Porzellanfiguren an und trat als Leihgeberin für Ausstellungen auf, sondern kaufte und förderte selbst zeitgenössische Künstler und Künstlerinnen und unterstütze durch Schenkungen und monetäre Zuwendungen die öffentlichen Berliner Kunstinstitutionen. Zu dem von Felicie Bernstein protegierten Kreis zählte insbesondere die Dresdner Goppelner Schule, darunter Carl Bantzer, Paul Baum, Emilie Mediz-Pelikan, August Hudler, Georg Müller-Breslau und Wilhelm Ritter.31 Diese Künstlerinnen und Künstler trafen sich seit den 1890er Jahren im Frühjahr in Goppeln bei Dresden, um – in Anlehnung an französische Vorbilder wie die Schule von Fontainebleau – die Natur im Sinne der Freilichtmalerei wiederzugeben. Die Gruppe, aus deren Mitgliedern sich 1893 die Vereinigung bildender Künstler Dresdens („Sezession“) in Opposition zur Dresdner Akademie bildete, war zwar kurzlebig und zahlenmäßig 27 Der Text von Jules Laforgue trägt den Titel „Impressionism“ und ist abgedruckt in: Nochlin, Linda (Hrsg.): Impressionism and Postimpressionism 1874–1904. Sources and documents. New Jersey 1966. S. 14–20. Eine deutsche Fassung des Textes wurde publiziert in: Zeitschrift Kunst und Künstler 3 (1904/05) H. 12, vom 8.9.1905. S. 501–506. 28 Baudelaire, Charles: Der Künstler und das moderne Leben. Essays, „Salons“, Intime Tage­ bücher. Leipzig 1994. 29 Laforgue, Jules: Œuvres complètes, Bd. 4: Lettres I (1881–1882). Paris 1925. S. 107. Vgl. auch Ludewig, „Haben Sie wirklich Geld für diesen Dreck gegeben?“ (wie Anm. 12), S. 96. 30 Treu, Kunsteindrücke (wie Anm. 19), S. 38. 31 Vgl. Treu, Georg: Sinkende Schatten. In: ders., Carl und Felicie Bernstein (wie Anm. 12), S. 53–71, hier: S. 61.

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von eher bescheidenem Rang, jedoch von kunstpolitischer Bedeutung, da sie die Entwicklung des deutschen Impressionismus beförderte.32 Felicie Bernstein blieb auch den französischen Impressionisten verbunden und erwarb noch in ihren letzten Lebensjahren im Berliner Kunsthandel ein kleinformatiges Stillleben: Édouard Manets Pfirsiche.33 Auch die geselligen Zusammenkünfte, die auf Grund des Todes von Carl Bernstein zunächst eingestellt worden waren, wurden von der Witwe in ihrer neuen, bescheideneren Wohnung in der Stülerstraße 6 ab 1896 erfolgreich wiederbelebt und „[v]ielen schien mit ihr und ihrem Kreise ein Stück aus Berlins bester Zeit wiedergekommen“.34 Ein jüngerer Gast, der Kunsthistoriker Werner Weisbach, berichtete über diesen zweiten und anscheinend nicht minder beliebten „Salon“ Felicie Bernsteins: Sie war Witwe, sehr wohlhabend, und führte ihren Hausstand zusammen mit der Schwester ihres schon lange verstorbenen Mannes [...]. Fein gebildet, besaß sie Gaben des Geistes und des Herzens, vermöge deren sie eine große Anziehungskraft ausübte. Ihr Ehrgeiz war einen ,Salon‘ im besten Sinne zu schaffen und ihre geschmackvoll eingerichtete Wohnung in der Stülerstraße bildete dazu einen köstlichen Rahmen. Hier hingen an den Wänden erlesene Bilder, teilweise von der Hand französischer Impressionisten [...]. Frau Bernstein war das echt weibliche Vermögen eigen, Menschen zu behandeln und zur Entfaltung zu bringen, und es war nicht nur die Geschicklichkeit einer Salondame, sondern Herzenstakt und tief­ innere Güte, die sie dazu befähigten. Wenn sie Freunde im kleineren Kreise zu sich lud, so wußte sie mit sicherem Instinkt solche, die zueinander paßten, auszuwählen. Von Zeit zu Zeit veranstaltete sie Sonntags nachmittags große Empfänge, bei denen ausgezeichnete Künstler musizierten, und sie verfolgte zugleich damit öfter den Zweck, diesen und jenen Musiker bekannt zu machen. Sie selbst war für alles verbindendes Element, war imstande, der Konversation mit ihrem Geist und Witz Belebung, Abwechslung, Färbung zu geben, und was von ihr ausging, hatte Niveau.35

Und auch Johanna und Andreas von Tuhr berichteten, dass das Haus Bernstein wieder „ein wirklicher Salon [wurde], in welchem man Anregung und Verständnis für alle geistigen Bestrebungen fand. Zu den alten Freunden des Hauses gesellte

32 Vgl. Schumann, Paul: Dresden und seine Kunststätten. Dresden 2011 [Nachdruck von 1909]. S. 289. 33 Rouart, Denis u. Daniel Wildenstein (Hrsg.): Edouard Manet. Catalogue Raisonné. Lausanne 1965. Nr. 412, Peches, 33 x 40 cm, 1882, Provenienz: Drouot, Paris, 4–5 Februar 1884, Nr. 92, Bernstein Paris (?), Mme Kurt Herrmann, Prettsfeld, Bayern, c. 1932, P.A. London. Edouard Manet, Matthiesen Berlin, 1928, Nr. 81; Tschudi, Hugo von: Neuere Gemälde. In: Treu, Carl und Felicie Bernstein (wie Anm. 12), S. 41–44, hier: S. 42. 34 Treu, Sinkende Schatten (wie Anm. 31), S. 64. 35 Weisbach, Und alles ist zerstoben (wie Anm. 12), S. 370f.



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sich ein starker Nachwuchs, namentlich aus dem Kreise der Künstler“36. Zum Kreise der befreundeten Künstler dieser Jahre zählten auch der neoimpressionistische Maler Curt Herrmann und der Jugendstil-Architekt und -Designer Henry van de Velde, die 1905 mittels einer Ausstellung bei Friedmann & Weber die Renaissance des künstlerischen Fächers befördern wollten, hier trat auch Felicie Bernstein als Leihgeberin einiger antiker Stücke ihrer kostbaren Fächersammlung auf.37 Bereits im Todesjahr von Carl Bernstein hatte Hugo von Tschudi, der Direktor der Berliner Nationalgalerie, Interesse an der Überführung der Bernstein’schen Impressionisten-Sammlung an seine Institution gezeigt. In einem Brief an seinen Hamburger Kollegen Alfred Lichtwark vom 13. November 1894 schrieb er in Bezug auf die Bernsteinʼsche Sammlung: Ich hätte sie gern [...] auf unserer nächsten Ausstellung. Frau B. will einige davon verkaufen, um eine Stiftung für Juristen mit dem Erlös zu dotieren. Davon habe ich sehr abgeraten [...]. Es wäre nützlicher, wenn die Frau noch einige gute Franzosen zukaufte und die Sammlung dann einem deutschen Museum zum Andenken an ihren Mann stiftete [...]. Am liebsten hätte ich die Sammlung für uns. Zur Ausstellung werden wir die Sachen wohl bekommen.38

Mit „zur Ausstellung“ meinte Tschudi die Präsentation der Sammlung Bernstein bei der Kunstausstellung des Kunstvereins in der Hamburger Kunsthalle im Frühjahr 1895, was – dem Ausstellungskatalog zufolge – glückte.39 Tschudis Plan, die Sammlung Bernstein geschlossen als Schenkung an die Nationalgalerie zu erhalten, wurde hingegen nicht in die Tat umgesetzt. Es ist nicht klar, was mit den Werken im Einzelnen geschah, doch Felicie Bernstein scheint die Sammlung aufgelöst und größtenteils an ihre Freunde verschenkt zu haben. „Kein Stück ihres Kunstbesitzes sollte veräußert werden. Jedes sollte mit dem Gedenken dem Empfänger auch ein wenig Freude und Förderung, einen Nachklang der Wirkungen bringen, die von der Scheidenden im Leben ausgegangen war“, berichtete Georg Treu.40 Schlüsselwerke der Sammlung lassen sich nach ihrem Tod im Besitz vieler ihrer Freunde nachweisen: Max Liebermann war beispielsweise später im Besitz von Claude Monets Mohnfeld sowie zwei Stillleben Édouard Manets, Päonien in einer bunten Emailvase und Tulpen, Flieder und Rosen in einem Glas; Alfred Sisleys Seine-Ufer ging an Georg Treu, Édouard Manets Pfirsiche waren im Besitz von Curt Herrmann. Hugo 36 Tuhr, Johanna und Andreas: Erinnerungen an die Familie Bernstein. In: Treu, Carl und Felicie Bernstein (wie Anm. 12), S. 20–27, hier: S. 27. 37 Berliner Fächerausstellung. Ausstellungskatalog. Salon Friedmann & Weber. Berlin 1905. 38 Zitiert aus Hopp, Gisela: Tschudis Wirken aus der Sicht Alfred Lichtwarks. In: Hohenzollern, Schuster, Manet bis Van Gogh (wie Anm. 6), S. 274–281, hier: S. 274. 39 Vgl. Ausstellungskatalog.: Führer durch die Große Kunstausstellung des Kunstvereins der (Hamburger) Kunsthalle. Hamburg 1895. 40 Treu, Sinkende Schatten (wie Anm. 31), S. 70.

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von Tschudi erhielt als Geschenk Édouard Manets Hafenansicht aus Boulogne und die Ziehtochter Felicie Bernsteins, Johanna von Tuhr und ihr Ehemann, erhielten das Porträt Carl Bernstein, das von Max Liebermann angefertigt worden war. Doch Felicie Bernstein überging keineswegs die öffentlichen Berliner Kunstinstitutionen, sie bedachte die Nationalgalerie in ihrem Vermächtnis mit der Schenkung von Édouard Manets Fliederstrauß und stiftete zu Lebzeiten 25.000 Reichsmark, deren Zinserträge frei nach Ermessen des Direktors zur Neuanschaffung von Gemälden genutzt werden sollten, also auch die Anschaffung impressionistischer Kunst ermöglichten.41 Zudem stiftete sie der Gemäldegalerie eine Flußlandschaft Jan van Goyens und dem Kupferstichkabinett der königlichen Museen Berlins die überaus wertvolle Bibliothek ihres Mannes. In der Kunstzeitschrift Das Atelier wurde diese Schenkung Felicie Bernsteins überschwänglich gepriesen: Dem Kupferstichkabinett [...] ist eine überaus werthvolle Schenkung zugefallen [...] eine umfangreiche Bibliothek, [...] etwa 100 Bände der werthvollsten, mit Kupfern geschmückten Werke, welche das französische Buchgewerbe des vorigen Jahrhunderts hervorgebracht: durchweg Exemplare von tadelloser Erhaltung, meist in kostbaren Maroquinbänden aus den ersten Buchbinderwerkstätten von Paris. Die Hauptmeister der französischen Buchillustration, die bisher in der Sammlung nur unzulänglich vertreten waren, wie Boucher, Choffard, Cochin, Duplessi-Berthaux, Eisen, Gessner, Gravelot, Lebarbier, Marillier, Monnet. Moreau, Oavry, finden sich hier vereinigt. Die zierlichen Vignetten, Kopfleisten und Culs de Lampe, die den Liebhaber ebenso durch die graziöse Erfindung wie durch ihre subtil durchgeführte Technik entzücken, aber auch die eigentlichen Illustrationskupfer und die typographische Ausstattung dieser Werke geben Zeugnis von der hohen Entwicklung französischem Rokokogeschmacks und passen sich aufs glücklichste der geistsprühenden, eleganten Stilistik des gleichzeitigen Schriftthums an. An die Überweisung dieser Büchersammlung, die in erfreulicher Weise eine Lücke in den Bücherbeständen des königl. Kupferstichkabinetts ausfüllt, knüpfte die Geschenkgeberin die Bedingung, dass die Sammlung daselbst dauernd als Ganzes verwahrt bleibe.42

Diese Fülle von Aktivitäten Felicie Bersteins in der Berliner Kunstwelt verdeutlichen, dass sie, die zunächst an der Seite Carl Bernsteins gewissermaßen als Mitsammlerin und vor allem Salonière beziehungsweise Gastgeberin in Erscheinung trat, nach dem Tode ihres Mannes durchaus eigenständig agierte. Sie verschloss sich nicht, wie viele andere Förderer des Impressionismus, weiteren modernen 41 Auf diese Weise konnte auch die konservative Kunstkommission, die von Anton von Werner geleitet wurde und impressionistische Kunst ablehnte, umgangen werden. Vgl. Kern, Josef: Impressionismus im deutschen Kaiserreich. Würzburg 1989. S. 350. Ebenfalls erwähnt wird die Schenkung im „Amtsblatt der Regierung in Potsdam“. Potsdam 1908. S. 64. 42 Vgl. Das Atelier. Organ für Kunst und Kunstgewerbe. Hrsg. v. Hans Rosenhagen. Jg. 5, Mitte April 1895. S. 7.



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Strömungen, wie dem Neoimpressionismus oder der dekorativen Art Nouveau. Diese Haltung spiegelt sich auch in dem noch ein Jahr vor ihrem Tod (1907) eingerichteten Künstlerfond, der Bernstein-Stiftung, wider: Im Stiftungsbeirat waren die zentralen Persönlichkeiten der Berliner Kunstwelt, wie Max Liebermann, Walter Leistikow, Hugo von Tschudi, Curt Herrmann und der Bildhauer Louis Tuaillon vertreten, und gefördert wurden jüngere, noch nicht etablierte Künstler, die, wie Heinrich Nauen (1880–1940), beispielsweise der Künstlervereinigung Brücke nahe standen.43 Die Unabhängigkeit und Begeisterungsfähigkeit Felicie Bernsteins zog viele Menschen an, nicht zuletzt ihren langjährigen Freund Max Liebermann, der in seinen Erinnerungen an sie diese Eigenschaften besonders hervorhebt: „Sie wollte nur das Gute und Schöne sehen und diese überlegene Weltanschauung ist umso mehr an ihr zu bewundern, als nicht nur ihr Verstand, sondern gleichermaßen ihr Gemüt daran Teil hatten. Die Klugheit der Schlange war gepaart mit der Sanftmut der Taube.“44

Margarete Oppenheim Eine sehr eigenständige Sammlerin war Margarete Oppenheim, die einem ähnlichen gesellschaftlichen Umfeld wie Felicie Bernstein entstammte.45 Sie wurde am 10. Oktober 1857 als Tochter des jüdischen Kaufmanns Isidor (Issak) Eisner und seiner Frau Lea geboren. Im Jahre 1876 heiratete sie zunächst den Chemiker und Fabrikanten Georg Reichenheim, mit dem sie zwei gemeinsame Kinder hatte und im Berliner Tiergartenviertel lebte. Nach den Erinnerungen einer Zeitgenossin, Charlotte Haber, „[...] hatte [Margarete Reichenheim] bereits vor ihrer ersten Ehe mit dem Sammeln begonnen. Sie 43 Vgl. Bothe, Rolf (Hrsg.): Curt Herrmann, 1854–1929. Ein Maler der Moderne in Berlin. Berlin 1989. S.321 u. 437–439. 44 Liebermann, Meine Erinnerungen (wie Anm. 17), S. 52. 45 Die Autorinnen danken Sebastian Panwitz für seine umfangreiche Unterstützung. Literatur zu Margarete Oppenheim: Panwitz, Sebastian: „… das Departement Kunst untersteht meiner Frau“. Margarete Oppenheim und ihre Sammlung. In: Ludewig, Schoeps, Sonder, Aufbruch in die Moderne (wie Anm. 12), S. 120–135; Haber, Charlotte: Mein Leben mit Fritz Haber. Spiegelungen der Vergangenheit. Düsseldorf. S. 160–161; Tisa Francini, Esther, Anja Heuss u. Georg Kreis: Fluchtgut – Raubgut: der Transfer von Kulturgütern in und über die Schweiz 1933– 1945 und die Frage der Restitution. Zürich 2001. S. 130–133; Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Hrsg.): Entehrt. Ausgeplündert. Arisiert. Entrechtung und Enteignung der Juden. Magdeburg 2005. S. 213f.; Sauerbruch, Ferdinand: Das war mein Leben. Berlin 1951. S. 415f.; Gilbert, Felix: Lehrjahre im alten Europa. Erinnerungen 1905–1945. Berlin 1989. S. 69ff.

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stammte aus reichem Haus, hatte schon in jungen Jahren viel Geld zur freien Verfügung und machte davon durch planmäßige Kunsteinkäufe sachkundig klugen Gebrauch“46. In der Tat war die Familie Eisner durch die Geschäfte des Vaters zu Wohlstand gekommen: Isidor Eisner hatte zunächst als Kommis bei der Textilfirma N. Reichenheim & Sohn in Berlin begonnen, wechselte 1849 nach Leipzig, um dort die Firma Callmann & Eisner – die mit englischen und deutschen Manufakturwaren handelte – zu gründen, und war schließlich 1876 in die noch junge Reichshauptstadt zurückgegangen, um erfolgreich sein Unternehmen mit Samuel Kirchheim zu Eisner & Kirchheim zu fusionieren.47 Da auch Georg Reichenheim aus einer vermögenden Familie stammte, war die finanzielle Situation des Paares überaus gut, und Margarete konnte allem Anschein nach frei über ihr Vermögen verfügen. Eine wichtige Grundvoraussetzung des Kunstsammelns war demnach gegeben. Auch zwei weitere zentrale Voraussetzungen, die kunsthistorische Fachkenntnis und die Kontakte zur Berliner Kunstwelt, waren in Margarete Reichenheims Fall erfüllt: Es finden sich Anzeichen dafür, dass bereits in ihrem Elternhaus die Grundlage für ihre spätere Sammelleidenschaft gelegt wurde, denn sie „verfügte [...] auch schon von Hause aus über Fingerspitzengefühl und guten Geschmack, die sie dazu befähigt, ja prädestiniert hatten, hervorragende Stücke zu Kollektionen zusammenzutragen“48. Darüber hinaus dürfte auch die eheliche Verbindung mit der Familie Reichenheim, die mit wichtigen Persönlichkeiten des Kunst- und Kulturleben Berlins, wie dem Künstler Max Liebermann und dem Sammler Oscar Huldschinsky, verwandt waren, diesbezüglich von Relevanz gewesen sein. Auch der enge Kontakt zu Wilhelm von Bode, dem Generaldirektor der Berliner Museen, übte großen Einfluss auf sie aus. Laut Charlotte Haber fungierte Bode als Margarete Reichenheims „Mentor und Freund“, zudem verdankte sie ihm „manches an kunsthistorischen Kenntnissen“.49 Der Briefwechsel zwischen Margarete Reichenheim und Bode kann als Beleg der Annahme Habers gesehen werden. 50 Die Reichenheim-Sammlung war breit angelegt und umfasste weniger Gemälde als vielmehr Kleinkunst, objets de vitrine, aus verschiedensten Materialien, Orten und Zeiten, sowie edle Metallarbeiten, erlesenes Kristall und Porzellan, Uhren, Vasen, Pokale, Fächer und kleine Skulpturen. Georg Reichenheim und seine Frau 46 Haber, Mein Leben (wie Anm. 45), S. 160. 47 Vgl. Panwitz, Departement Kunst (wie Anm. 45), S. 120. 48 Haber, Mein Leben (wie Anm. 45), S. 160. 49 Haber, Mein Leben (wie Anm. 45), S. 160. 50 Vgl. Briefe Georg und Margarete Reichenheims ab November 1890: Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Zentralarchiv (= SMB PK ZA), NL Bode, Nr. 4381 und 4383.



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verband wohl gleichermaßen die Leidenschaft des Sammelns.51 Vor diesem Hintergrund ist kaum noch feststellbar, inwieweit die Sammlung von beiden Partnern gleichberechtigt aufgebaut wurde beziehungsweise ob es eine Aufteilung verschiedener Zuständigkeitsbereiche gab. Dass Margarte Reichenheims Urteil in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielte, belegt beispielhaft der Auszug eines Briefes von Georg Reichenheim an Wilhelm von Bode, in dem er diesen bittet eine Blei-Medaille zu erwerben, „da sie meiner Frau gefällt“52. In der zeitgenössischen öffentlichen Wahrnehmung galt jedoch nur Georg Reichenheim als Kunstfreund und Sammler. Sobald die Sammlung Erwähnung fand, wurde sie unter dem Namen „Georg Reichenheim“ geführt, so beispielsweise in der 1914, mehr als zehn Jahre nach dem Tode Georg Reichenheims, von Wilhelm von Bode verfassten Charakterisierung von Sammler und Sammlung, in welcher der „durchaus selbständig[e] Sammler [...] Dr. Georg Reichenheim“, als „ein Kunstfreund von ungewöhnlichem Qualitätssinn“ gelobt und seine Sammlung als „in ihrer Art eine der gewähltesten in Deutschland“ bewertet wurde – die Beteiligung seiner Ehefrau blieb unerwähnt.53 Als Georg Reichenheim 1903 verstarb, fiel das beträchtliche Vermögen zu gleichen Teilen an seine 15 Jahre jüngere Witwe und die gemeinsame Tochter Charlotte – der Sohn Hans war als Student verstorben. Margarete Reichenheim war nun eine gänzlich unabhängige Frau. Unabhängigkeit bewies sie jetzt auch in ihrem Kunst­ interesse: Zwar blieb sie weiterhin dem Sammeln von Kleinplastiken, Textilien, Glas, Majolika, Porzellan, chinesischem Kunstgewerbe etc. treu, erweiterte aber ihre Kollektion um moderne Gemälde und Zeichnungen. Beraten von zentralen Vermittlern moderner Kunst in Berlin, wie den Kunsthändlern Paul Cassirer und ab 1927 Justin Thannhauser, baute sie mit dem Ankauf von mindestens 20 Werken Paul Cézannes die größte Sammlung dieses Künstlers in Deutschland auf. Im Jahr 1906 heiratete Margarete Reichenheim den erfolgreichen Unternehmer und Chemiker Franz Oppenheim, der den Bankiersfamilien Mendelssohn und Oppenheim entstammte. Franz Oppenheim war in den 1880er Jahren in die Firma seines Schwagers eingetreten, die spätere Agfa (Bitterfeld), deren fotografische Abteilung er maßgeblich entwickelte. Wo und wie sich die beiden Partner begegnet sind, ist unklar, beide lebten im Tiergartenviertel, und es existierten 51 Beide führten auch einen Briefwechsel mit Bode. Vgl. SMB PK ZA, NL Bode, Nr. 4381 und 4383. 52 SMB PK ZA, NL Bode, Nr. 4381, Brief vom 12.10.1892. 53 Vgl. Panwitz, Margarete Oppenheim (wie Anm. 45), S. 121. Auch bei Donath, Adolph: Psychologie des Kunstsammelns. Berlin 1923. S. 102. Eine Ausnahme bildet der Versteigerungskatalog der Sammlung Reichenheim-Oppenheim von 1936. Im Vorwort von Otto von Falke wird eindeutig das „kunstsinnige Ehepaar“ beschrieben. Die öffentliche Wahrnehmung Margarete Oppenheims dürfte sich also noch bereits zu ihren Lebzeiten verändert haben. Vgl. Böhler, Julius (Hrsg.): Sammlung Frau Margarete Oppenheim. München 1936.

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gesellschaftliche Berührungspunkte. Weder aus finanzieller noch aus gesellschaftlicher Sicht war diese Verbindung notwendig, es scheint sich vielmehr um eine Eheschließung aus wechselseitiger Zuneigung gehandelt zu haben. Franz Oppenheim pflegte zu sagen, „[i]n Bitterfeld habe ich immer Glück gehabt“, was sich im doppelten Sinne auf die gebürtige Bitterfelderin Margarete Oppenheim, also sein Eheglück, sowie seine berufliche Erfüllung bei der Agfa bezog.54 Nach der Hochzeit ließ sich das Paar von dem renommierten Architekten Alfred Messel ein Landhaus in der Villenkolonie am Wannsee bauen. In ihrem unmittelbaren Umfeld am Wannsee lebten viele berühmte Berliner Persönlichkeiten, unter anderem der Maler Max Liebermann und der Chirurg Ferdinand Sauerbruch. Das Landhaus der Oppenheims, auch der „große Messel“ genannt, enthielt eine eigens für Margarete Oppenheims Gemäldesammlung vorgesehene Galerie. Als leidenschaftliche Rosenzüchterin ließ sie außerdem von dem Gartenarchitekten Willy Lange einen Rosengarten anlegen, und der berühmte Tierbildhauer August Gaul fertigte für das Haus einen Springbrunnen mit Pinguinplastiken an. Um sich nicht allzu lange von den geliebten Bildern trennen zu müssen, ließ die Sammlerin ihre erlesensten Kunstwerke, je nach Jahreszeit, vom Berliner Stadthaus an den Wannsee transportieren, wie Ferdinand Sauerbruch berichtete: Im Winter lebte sie in der Stadt, im Sommer zog sie hinaus, wie es damals viele Berliner Familien hielten. Wechselte die Jahreszeit, so fuhr ein Möbelwagen vor und brachte im Frühjahr die Einrichtungsgegenstände, die Teppiche und Bilder, die man nicht entbehren wollte, in die Sommerwohnung. Dunkelte der Herbst, so kam derselbe Möbelwagen wieder und schaffte die Sachen in die Stadtwohnung.55

Franz und Margarete Oppenheim führten kein „offenes Haus“, das mit der Bern­ steinʼschen Geselligkeit vergleichbar gewesen wäre. Standesgemäße Einladungen in das Stadt- oder Landhaus waren aber keine Seltenheit. Laut den Erinnerungen Charlotte Habers bildete Margarete Oppenheims Persönlichkeit gewissermaßen einen Gegensatz zu der vollendeten Gastgeberin Felicie Bernstein: Sie [Margarete Oppenheim] war geistreich, aber nicht eben herzlich und gütig. In ihrem Verkehr legte sie höchsten Wert auf Berühmtheiten, zumal auf Männer mit Namen, auf Frauen weniger. Diese betrachtete sie als notwendiges Übel. Bei ihren Parties sprühte es nur so vor Esprit. Da mußte man sich schon gewaltig ins Zeug legen, um in der Konversation beachtet zu werden. Man wurde mit lauter Bonmots gefüttert. Was Küche und Keller boten war dafür, des Krieges wegen, um so sparsamer.56

54 Gesellschaft deutscher Chemiker (Hrsg.): Mitteilungsblatt der Gesellschaft Deutscher Chemiker. Fachgruppe Geschichte der Chemie 15–17 (2000). S. 173. 55 Sauerbruch, Mein Leben (wie Anm. 45), S. 415f. 56 Haber, Mein Leben (wie Anm. 45), S. 161.



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Die Kunstsammlung, die nun eindeutig Margarete Oppenheim zuzuordnen ist, war ein zentrales Element der Gesellschaften bei Oppenheims, wie einem Bericht des Historikers Felix Gilbert zu entnehmen ist: Ein Ort, wo ich Menschen aus den verschiedensten Kreisen traf, war das Haus des Bruders meiner Großmutter, des Generaldirektors der AGFA, Franz Oppenheim, der auch mein Patenonkel war. Seine Frau interessierte sich sehr für Kunst, so daß ich in ihrem Haus Naturwissenschaftler, Kunsthistoriker und Maler traf. Einen Hauptanziehungspunkt bei den Diners im Hause meines Onkels bildete die Gemäldesammlung, die meine Tante zusammen­ getragen hatte.57

Dass Margarete in der Ehe mit Franz Oppenheim die treibende Kraft beim Ausbau der Kunstsammlung war, verdeutlicht zudem ein Zitat aus einem Schreiben Franz Oppenheims an Wilhelm von Bode von 1909: „Sie wissen, daß in unserer Ehe Arbeitsteilung streng durchgeführt ist. Die Leitung der Fabrik besorge ich, das Departement Kunst untersteht meiner Frau […].“58 Das „Departement Kunst“ umfasste auch die Unterstützung öffentlicher Inst­i­tutionen: Margarete Oppenheim war förderndes Mitglied im Kaiser-FriedrichMuseums-Verein, in der Deutschen Gesellschaft für Ostasiatische Kunst und dem Verein der Freunde antiker Kunst.59 Sie stiftete Kunstobjekte an die Abteilung der Bildwerke christlicher Epochen und das Kunstgewerbemuseum in Berlin und war bei diversen Ausstellungen aus Berliner Privatbesitz als Leihgeberin vertreten.60 Ab ca. 1920 bis zu ihrem Tod hatte Margarete Oppenheim zudem die wertvollsten Stücke ihrer kunstgewerblichen Sammlung dem Berliner Schloßmuseum als Leihgaben übergeben.61 Als Förderin moderner Kunst trat sie 1917 durch die mit Robert von Mendelssohn gemeinsam getätigte Stiftung des Max-Liebermann-Gemäldes Gartenbank an die Nationalgalerie auf.62 In Verbindung ihres karitativen und kulturellen Engagements hatte Margarete Oppenheim zudem Spitzenschulen ins Leben gerufen, denen sie aus ihrer Textilien-Sammlung rare, hochwertige Muster teilweise überließ. Alljährlich vor Weihnachten veranstaltete sie, so berichtet 57 Gilbert, Lehrjahre (wie Anm. 45), S. 68. 58 Brief vom 30.9.1909, SMB PK, ZA, NL Bode, Nr. 3938. 59 Vgl. Kuhrau, Der Kunstsammler im Kaiserreich (wie Anm. 6), S. 283. 60 Vgl. Kuhrau, Der Kunstsammler im Kaiserreich (wie Anm. 6), S. 283. 1906: Ausstellung von Werken alter Kunst aus dem Privatbesitz der Mitglieder des Kaiser-Friedrich- Museums-Vereins; 1914: Ausstellung von Werken alter Kunst aus dem Privatbesitz der Mitglieder des Kaiser-Friedrich-Museums-Vereins; 1928: Ausstellung neuerer deutscher Kunst aus Berliner Privatbesitz, April 1928, Nationalgalerie. 61 Vgl. Böhler, Sammlung Margarete Oppenheim (wie Anm. 53). 62 Vgl. März, Roland: Kunst in Deutschland 1905–1937. Gemälde und Skulpturen aus der Sammlung der Nationalgalerie. Berlin 1992.

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Charlotte Haber, „bei sich zu Hause am Lützowufer einen Spitzenverkauf ihrer Schulen, zu welchem begüterte Freunde des Hauses Oppenheim, deren es viele gab, als Interessenten und Käufer geladen wurden und kauften“63. Margarete Oppenheims Vorliebe für Werke Paul Cézannes erstaunt in ihrer Eigenwilligkeit umso mehr, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Cézanne um die Jahrhundertwende noch keineswegs ein etablierter Künstler war.64 Zwar setzten sich vereinzelte Förderer für eine verstärkte Rezeption des Künstlers in Deutschland ein, so der Sammler Harry Graf Kessler durch den frühen Ankauf von Cézanne-Werken und der Kunstschriftsteller Julius Meier-Graefe durch positive Erwähnungen Cézannes in Publikationen wie in der Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst.65 Jedoch sollte auch dieser Künstler erst mit der Kölner Sonderbund-Ausstellung im Jahr 1912 bei einem breiteren Publikum Anklang finden.66 Der Ursprung von Margarete Oppenheims Cézanne-Sammlung lag, so behauptet es die Schauspielerin Tilla Durieux, in der Verzweiflung ihres Lebensgefähr­ ten Paul Cassirer. Der Kunsthändler hatte mit seinem Cousin Bruno Cassirer im gemeinsamen Kunstsalon erstmals im November 1900 einige Werke Paul Cézannes in Berlin präsentiert.67 Die Fachpresse reagierte sehr verhalten auf diese Ausstellung und besprach sie wenig oder schlecht: [D]iese Tat [die Cézanne-Ausstellung] wurde mit einer Flut von Angriffen belohnt. Der Weg von Gabriel Max, Piloty, Stuck und Lenbach bis Cézanne war allerdings ein weiter, und die kühne aufregende Farbgebung seiner Bilder reizte die Menschen bis zu Wutausbrüchen. [...] [D]ie Ausstellung war ein absoluter Misserfolg pekuniär und ideell [...].68

Die Zeit schien für diesen Künstler in Berlin noch nicht reif gewesen zu sein. Sogar von durchaus aufgeschlossenen, modernen deutschen Sammlern wie Carl Sternheim wurde Cézanne vehement abgelehnt.69 Auch bei einem zweiten Aus-

63 Haber, Mein Leben (wie Anm. 45), S.160. 64 Vgl. Bambi, Andrea: „Van Gogh ist bei mir! Das ist ein lieber Gast.“ Die Sammlerin Thea Sternheim. In: Wimmer, Feilchenfeldt, Tasch, Kunstsammlerinnen (wie Anm. 6), S. 53. 65 Meier-Graefe, Julius: Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst. Vergleichende Betrachtungen der bildenden Künste, als Beitrag zu einer neuen Ästhetik. Stuttgart 1904. 66 Vgl. Schaefer, Barbara: 1912. Mission Moderne. Die Jahrhundertschau des Sonderbundes. Ausst.Kat. Köln 2012. 67 Am 18.10.1900 lieh Paul Cassirer von Durand-Ruel beispielsweise zwölf Bilder Cézannes. Alle wurden am 9.1.1901 wieder zurückgeschickt. Vgl. Feilchenfeldt, Walter: Zur Rezeptionsgeschichte Cézannes in Deutschland. In: Adriani, Görz (Hrsg.): Cézanne Gemälde. Köln 1993. S. 293–312 u. 296. 68 Durieux, Tilla: Eine Tür steht offen. Erinnerungen. Berlin 1954. S. 61. 69 Vgl. Bambi, Van Gogh (wie Anm. 64), S. 53



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stellungsversuch von Werken Cézannes in Berlin im Kunstsalon Cassirer blieb der erwünschte Erfolg aus. Immerhin wäre es P.C. unangenehm gewesen, wenn diese zweite Ausstellung wieder ganz ohne Resultat verlaufen wäre, und so überredete er die Frau des Begründers der I.G. Farbenwerke, Franz Oppenheim, ein Blumenstück von Cézanne für zweihundertfünfzig Mark zu kaufen, nur um den Zettel ,Verkauft‘ an eines der Bilder hängen zu können.70

Ob diese Erzählung von Tilla Durieux den Tatsachen entspricht, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Fest steht hingegen, dass Margarete Oppenheim in jener Zeit damit begann, neben Werken Cézannes auch andere moderne französische Künstler wie Édouard Manet, Edgar Degas und auch Vincent van Gogh zu kaufen.71 Sie tat dies, obwohl die Reaktionen ihres Umfeldes auf die Sammlung vielfach ablehnend waren und sich, wie Felix Gilbert betont, erst nach einigen Jahren änderten: „Lange hielt man sie in der Familie für verrückt, so viele dieser ,schrecklichen‘ modernen Gemälde zu kaufen. Im Laufe der zwanziger Jahre verwandelte sich diese Verachtung jedoch allmählich in Bewunderung für ihren Mut, so früh schon allein ihrem Geschmack gefolgt zu sein.“72 Aus diesen ersten Ankäufen Margarete Oppenheims entwickelte sich eine wahre Passion für moderne Kunst, allen voran für die Werke Paul Cézannes. Trotz der wenigen persönlichen Zeugnisse die Margarete Oppenheim hinterlassen hat, lässt sich ihr Kunstgeschmack anhand der erhaltenen Kundenkartei des Kunsthändlers Justin Thannhauser rekonstruieren. Seit 1927 besuchte Margarete Oppenheim dessen Moderne Galerie in Berlin, ließ sich beraten und neue Bilder vorführen. Thannhausers Unterlagen enthalten dazu zahlreiche Auskünfte: die vorgeführten Kunstobjekte wurden nach jedem Besuch gelistet und mit einem Bewertungssystem versehen, das das Interesse der Besucher an den jeweiligen Werken festhielt. Vereinzelt wurden auf den Karten auch persönliche Kommentare – meist bezüglich individueller Wünsche und Reaktionen von Kunden – hinzugefügt. Auch Margarete Oppenheims oft überschwängliches und begeistertes Verhalten wurde hier notiert.73 Im Jahr 1927 präsentierte Thannhauser Margarete Oppenheim beispielsweise Paul Cézannes Leda und vermerkte, „sie ist davon 70 Durieux, Tür (wie Anm. 68), S. 61. 71 „Die schönsten Van Goghs und Cézannes hatte sie schon sehr früh zu heute wahrscheinlich bescheidenen Preisen erworben, van Goghs ‚Weiße Rosen‘ zum Beispiel für achttausend Francs. Einige Jahre danach bot die belgische Regierung für dieses Bild das Hundertfache, aber sie gab es nicht her.“ Haber, Mein Leben (wie Anm. 45), S. 160. 72 Gilbert, Lehrjahre (wie Anm. 45), S. 69. 73 Die Kundenakte Margarete Oppenheims befindet sich im Zentralen Archiv des internationalen Kunsthandels (kurz: ZADIK) in Köln, Nachlass Thannhauser, Sign. A077 XIX 024 0021 002.

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ganz hingerissen“; zu Édouard Manets Frau vor dem Spiegel schrieb er, sie sei „unsagbar begeistert“ und die Reaktion auf Van Goghs Sonnenblumen fasste er wie folgt zusammen: „sehr begeistert davon, fand Preis ungeheuer“.74 Auch die Werke weiterer impressionistischer Künstler wie Alfred Sisley, Claude Monet und Auguste Renoir fanden alle überaus begeistertes Lob der Sammlerin: „findet sie erstklassig“, „gefällt ihr vorzüglich“, „besonders entzückt“, „erstklassig“.75 Diese positive Rezeption impressionistischer Kunst war Mitte der 1920er Jahre, ganz anders zur Zeit der Bernsteins in den 1880er Jahren, keine Besonderheit mehr. Dass der über 70 Jahre alten Margarete Oppenheim aber Werke der Hauptvertreter des Fauvismus wie Henri Matisse und Maurice de Vlaminck „sehr gut gefallen“ haben und auch Pablo Picassos Kinder im Park ihr Interesse weckte, ist hingegen bemerkenswert. Ihre Reaktionen zeugen von großer Liberalität gegenüber diversen modernen Stilrichtungen. Möglicherweise waren neben ihrem Kunstgeschmack auch Investitionsinteressen mit der Hinwendung zu zeitgenössischer Kunst verknüpft. Dass Margarete Oppenheim die Preisentwicklungen auf dem Kunstmarkt verfolgte, belegt das Transkript eines Telefongespräches zwischen ihr und Justin Thannhauser, in welchem er schildert, dass sie „[v]on radikalen Preisherabsetzungen erzählt“ habe, „aber sie könne ja unmöglich derartige Beträge jetzt in Bildern anlegen“76. Dafür spricht auch, dass sie in höherem Alter, ihrer Sammlung noch Gemälde hinzufügte, die auf den ersten Blick irritieren, so etwa Oskar Kokoschkas Toledo und Max Beckmanns Die Loge. Die finanzielle Situation Margarete Oppenheims schien ab 1928, zumindest hinsichtlich der Ausgaben für Kunst, schwieriger geworden zu sein. Im Februar 1928 vermerkt Thannhauser gleich zweimal, dass Margarete Oppenheim von Édouard Manets Negerin „ganz begeistert“ sei, aber „sie kann jetzt nichts kaufen, habe noch Bilderschulden“. Auch einen Monat später vermerkt er: „[S]ie hat zur Zeit kein Geld übrig“. Und 1931, bei ihrem letzten dokumentierten Kontakt zu Thannhauser, berichtet dieser: „Für Bilder hätte sie zwar immer Interesse, aber kein Geld, das müße sie jetzt für Unterstützungen usw. verwenden.“77 Hintergrund der finanziellen Zurückhaltung jener Jahre könnte neben den allgemein schlechten ökonomischen Verhältnissen während der Weimarer Republik der Tod ihres zweiten Ehemannes gewesen sein. Gemeinsam hatte

74 ZADIK, Sign. A077 XIX 024 0021 002. Im Jahr 1927 waren die Preise für Van Gogh-Gemälde bereits weit höher als 20 Jahre zuvor. Dass Margarete Oppenheim in der Anfangsphase ihrer modernen Sammlung noch zu sehr moderaten Preisen kaufen konnte, belegt Charlotte Haber in ihren Memoiren. Vgl. Haber, Mein Leben (wie Anm. 45). 75 ZADIK, Sign. A077 XIX 024 0021 002. 76 ZADIK, Sign. A077_XIX_024_0021_002-12 77 ZADIK Sign. A077_XIX_024_0021_002-12.



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das Paar 1929 eine Reise nach Ägypten unternommen. In Assuan waren sie mit dem gemeinsamen Freund Fritz Haber zusammengetroffen, der in einem Brief von der Begegnung berichtete: „Ich habe Oppenheims in Assuan gesprochen. Seine Gesundheit war durch eine leichte Verdauungsstörung beeinträchtigt. Sie [Margarete Oppenheim] war von Sonne, Natur und fremdartigen Menschen sehr erfüllt und beglückt. Für die große Entfernung von Zuhause fühlt er sich zu alt.“78 Der gebrechliche Eindruck, den Franz Oppenheim in Habers Schilderung machte, wuchs sich zu einer schlimmen Erkrankung aus, und noch während der Reise verstarb Franz Oppenheim in Kairo. Das Jahr 1933 markiert den Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft und damit jener radikalen politischen Umwälzungen, die sich auch auf Margarete Oppenheims Sammlung und ihre Kunstförderung auswirkten. Margarete Oppenheim reagierte früh auf die nationalsozialistische Bedrohung, legte 1933 ihre Mitgliedschaften in öffentlichen Einrichtungen nieder und verfügte durch ein im September 1933 verfasstes Testament, dass die gesamte Sammlung nach ihrem Ableben verkauft und die Erlöse auf ein Nachlasskonto eingezahlt werden sollten. Es scheint ganz ihr Interesse gewesen zu sein, transferierbares Vermögen für ihre Erben zu hinterlassen, damit diese – möglicherweise auch vom Ausland und mithilfe der Nachlassverwalter – darauf Zugriff nehmen konnten.79 Außerdem veranlasste sie eine Versteigerung ihrer gesamten kunstgewerblichen Sammlung, damit auch die Stücke, die sie als Leihgaben an öffentliche Museen gegeben hatte, nicht nach ihrem Tode dem nationalsozialistischen Staat zufielen. Am 2. September 1935 starb Margarete Oppenheim. Das Gros ihrer kunstgewerblichen Sammlung wurde im Mai 1936 beim Münchner Auktionshaus Böhler versteigert.80 Die Dimensionen der Sammlung Margarete Oppenheims werden schon anhand des Böhlerschen Auktionskataloges deutlich: Allein bei dieser „Teilauktion“, die sich über vier Tage erstreckte, kamen über 1200 Objekte zur Versteigerung. Die Gemäldesammlung wurde zu einem großen Teil unter den Erben aufgeteilt und ist heute weltweit verstreut.

78 Haber in einem Brief aus Luxor vom 26.12.1928. In: Werner, Petra u. Angelika Irmscher: Fritz Haber. Briefe an Richard Willstätter, 1910–1934. Berlin 1995. S. 110. 79 Vgl. Reuther, Silke: Die Sammlung Margarete Oppenheim, unveröffentlichtes internes Dossier zur Provenienzrecherche. Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg. Hamburg 2011. S. 2. 80 Vgl. Böhler, Sammlung Margarete Oppenheim (wie Anm. 53).

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Ausblick und Schluss Abschließend bleibt festzuhalten, dass sich die beiden vorgestellten Sammlerinnen, Kunstförderinnen und ,Ausnahmefrauen‘ dafür entschieden haben, entgegen Zeitgeist und ,Mainstream‘ Grenzen zu überschreiten und neue Wege zu gehen. Obwohl zeitlich versetzt – denn als Felicie Bernstein starb, begann erst die eigentliche Hauptphase der Sammeltätigkeit von Margarete Oppenheim – waren beide Frauen mit gesellschaftlichem Unverständnis und sogar Ablehnung gegenüber ihrem Wirken konfrontiert. Ihre sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen ermöglichten es ihnen aber, Widerständen entgegenzutreten und ihren eigenen Vorstellungen zu folgen. Während Felicie Bernstein mit ihrem halböffentlichen jour fixe noch in der Tradition der Berliner Salons um 1800 stand, lässt sich anhand von Margarete Oppenheims Wirken zeigen, dass Frauen ab 1900 zunehmend auch in öffentlichen Räumen wie Kunstgalerien und Ausstellungen zu Akteurinnen wurden. Vor diesem Hintergrund kann am Beispiel Margarete Oppenheims die Entwicklungslinie von den spätwilhelminischen Berliner Privatsammlungen „aus der Zeit als Wilhelm von Bode das Sammelwesen in Berlin mit Rat und Tat in Flor brachte“ bis hin zu einem neuen Typus der Sammlerin der Weimarer Republik gezogen werden, die offen, selbstbewusst und dem Idealbild der kulturkonsumierenden ,neuen Frau‘ nahe stehend, ihren Interessen nachging.81 Impressionistische Gemälde, die heute Spitzenpreise erzielen, waren im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert alles andere als en vogue. Für repräsentative Zwecke war eine solche Sammlung nicht geeignet, vielmehr zeigt sich in den Bernstein’schen und Oppenheim’schen Bildern ein Aufbruch in die Moderne, der sicher auch verknüpft war mit dem Wunsch, über die verkrusteten Strukturen der Kaiserzeit hinaus- und in ein liberales Zeitalter hineinzuwachsen. Ein Wunsch, der sich insbesondere aus der „doppelten Pariastellung“ heraus, die sie als Frauen jüdischer Herkunft einnahmen, nachvollziehen lässt. Das Kunstsammeln- und Fördern bot indirekt ein Werkzeug zur Partizipation bei einem gleichzeitigen Bekenntnis zur Moderne – Felicie Bernstein und Margarete Oppenheim konnten dies für ihre Zwecke fruchtbar machen und leisteten dadurch einen wichtigen kulturellen Beitrag für die kurze Phase der blühenden Moderne in Berlin und Deutschland.

81 Im Vorwort des Ausstellungskatalogs wird die Sammlung Oppenheim als „die letzte Berliner Privatsammlung aus der Zeit als Wilhelm von Bode das Sammelwesen in Berlin mit Rat und Tat in Flor brachte“, bezeichnet; Vgl. Böhler, Sammlung Margarete Oppenheim (wie Anm. 53) (ohne Seitenzahl).

Elke-Vera Kotowski

Gegenwart tanzen – schreiben – malen Die Ausdruckformen der Neuen Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Berlin: Valeska Gert – Gabriele Tergit – Lotte Laserstein Ob Bubikopf, Herrenhose oder schrilles Make-up, die Neuen Frauen, um die Jahrhundertwende geboren, präsentierten sich selbstbewusster, emanzipierter und exzentrischer als die Generation der Mütter und Großmütter. Die politischen Konstellationen und die (Nach-)Wirkungen des Ersten Weltkrieges boten diesen im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen neue Möglichkeiten Berufe auszuüben, die zuvor nur Männern vorbehalten waren. Aber sie waren ebenso genötigt aufgrund der Abwesenheit von Vätern, Brüdern und Ehemännern – die in den Krieg gezogen waren und in vielen Fällen nicht zurückkehrten – in Industrie, Handel und Gewerbe ‚ihren Mann‘ zu stehen. In den Großstädten entstanden neue Berufe, die in erster Linie von Frauen ausgeübt wurden (Telefonistinnen, ‚Tippmamsels‘, Verkäuferinnen in großen Industriebetrieben, Versicherungen oder Warenhäusern). Diese neuen Formen der Erwerbsarbeit ermöglichten es Frauen aus allen gesellschaftlichen Milieus ein eigenständiges Leben, unabhängig von Elternhaus oder Ehe zu führen. Die Großstadt bot ihnen dafür den nötigen Freiraum. Zunehmend studierten Frauen an Akademien und Universitäten und brachen in Männerdomänen ein. Sie wurden Architektinnen, Medizinerinnen, Naturwissenschaftlerinnen, allerdings war es für sie noch nahezu unmöglich eine Professur oder leitende Positionen in Unternehmen zu erlangen. Im künstlerischen Bereich reklamierten Frauen schöpferische Tätigkeiten nicht nur für sich sondern kreierten auch neue künstlerische Ausdrucksformen. Drei dieser Repräsentantinnen selbstbewussten und gestalterischen Lebens und Wirkens in der Metropole Berlin sollen hier vorgestellt werden: Die Schauspielerin und Avantgardistin des Ausdruckstanzes Valeska Gert (1892–1978), die Schriftstellerin und Chronistin der Weimarer Republik Gabriele Tergit (1894– 1982) sowie die Malerin und neusachliche Porträtistin Lotte Laserstein (1898– 1993). Und um es gleich vorweg zu nehmen: Es finden sich bisher keine Hinweise darauf, dass sich die drei Protagonistinnen sowohl persönlich kannten als auch mit oder übereinander kommunizierten. Alle drei Frauen verkörpern in ihrer ganz eigenen Ausdrucksweise jene Neue Frau zwischen Kaiser- und „Drittem“ Reich, sie spiegeln damit zugleich jenen Zeitgeist wider, der im Berlin der Weimarer Republik seine Blüten entfaltete.

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Valeska Gert zählt neben Mary Wigman zu den wichtigsten Vertreterinnen des avantgardistischen Tanzes in den 1910er und 1920er Jahren. Darüber hinaus war sie ein gefragter Stummfilmstar und später auch Darstellerin unter der Regie von Federico Fellini, Rainer Werner Fassbinder oder Volker Schlöndorff. Als Tochter einer jüdischen Familie musste sie Anfang der 1930er Jahre Deutschland verlassen. Sie emigrierte zunächst nach England und anschließend in die USA, wo sie jedoch nicht an ihre Erfolge anknüpfen konnte. 1947 kehrte sie nach Europa zurück und eröffnete zunächst in Zürich, anschließend in Berlin ein Kabarett, in dem sie dem jungen Klaus Kinski ein Forum bot. Sie selbst schlüpfte u. a. in die Rolle der „KZ-Kommandeuse Ilse Koch“, jene für ihre Grausamkeit bekannte und 1951 verurteilte Frau des Lagerkommandanten des KZ Buchenwald. Im gleichen Jahr eröffnete sie das bis heute legendäre Lokal Ziegenstall in Kampen auf Sylt. In den 1960er Jahren stand sie wieder vor der Kamera und spielte u. a. in Fassbinders Serie Acht Stunden sind kein Tag oder Schlöndorffs Fangschuß. Ihre gelebte Verbindung von Tanz, Schauspiel, Gesang und Kostüm beeinflusste nicht allein unzählige ihrer Zeitgenossen, bis heute berufen sich Künstler auf Valeska Gert als ihren spiritus rector. Gabriele Tergit hatte sich zunächst als Gerichtsreporterin in Berlin einen Namen gemacht. Sie veröffentlichte bis 1933 Berichte, Feuilletons und Reportagen in verschiedenen Zeitungen (Berliner Tageblatt, Vossische Zeitung, Berliner Börsen-Curier, Weltbühne, Prager Tagblatt). Ihre Beiträge waren engagiert und zeitkritisch. Insbesondere in ihren Gerichtsreportagen verwies sie auf die prekäre soziale Lage weiter gesellschaftlicher Kreise. Sie berichtete unter anderem über den ersten Prozess gegen Adolf Hitler am Moabiter Kriminalgericht; dieser saß neben Joseph Goebbels wegen einer Verleumdungsklage auf der Anklagebank. Seither beobachtete Gabriele Tergit die nationalsozialistische Bewegung aufmerksam, was die Nationalsozialisten dazu veranlasste, Tergit auf ihre „Feindesliste“ zu setzen. Ihren größten literarischen Erfolg feierte die Schriftstellerin Gabriele Tergit mit dem Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm (1931). Im Genre des Großstadtromans erzählt sie den Aufstieg und Fall des Neuköllner Volkssängers Georg Käsebier, der durch die Presse zum umjubelten Star Berlins avanciert. Die Autorin, die darin ein großstädtisches Sittengemälde vorlegt, hält der damaligen wie heutigen Leserschaft vor Augen, wie stark die Presse das gesellschaftliche Meinungsbild zu manipulieren in der Lange war und ist. Am 4. März 1933 entging Gabriele Tergit knapp einem SA-Überfall in ihrer Wohnung. Wenig später verließ sie mit ihrem Mann Heinz Reifenberg Deutschland. Über die Tschechoslowakei und Palästina gelangte sie 1938 nach Großbritannien und ließ sich in London nieder. Von 1957 bis 1981 war sie Sekretärin des P.E.N.-Clubs deutschsprachiger Autoren im Ausland. Der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main übergab sie kurz vor ihrem Tode das Archiv des PEN-Club im Exil, Korrespondenzen mit wich-



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tigen Zeitgenossen sowie unveröffentlichte Manuskripte gingen an das Deutsche Literaturarchiv nach Marbach. Ihren persönlichen Nachlass erhielt das Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrum 2014 von ihren Erben. Lotte Laserstein, die schon als Kind ihre Leidenschaft für die Malerei entwickelt hatte, schloss 1927 ihr Studium an den Vereinigten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst1 mit Auszeichnung ab. Dort erhielt sie wichtige Impulse für ihren eigenen Stil, der im weitesten Sinne der Neuen Sachlichkeit angelehnt ist, durch Lotte Laserstein aber eine ganz individuelle Ausdrucksform fand. Ihr eigener Blick auf das vornehmlich weibliche Subjekt gepaart mit einer handwerklich überaus anspruchsvollen Malerei wurden das Markenzeichen der früh entdeckten aber erst posthum zu Ruhm gelangten Künstlerin und Porträtistin der Neuen Frau der Weimarer Republik. Wie für viele ihrer Zeitgenossen änderten sich nach 1933 ihre Lebensumstände schlagartig. Obwohl getauft, wurde sie als „Jüdin“ diffamiert und erhielt Ausstellungsverbot, denn ihre Kunst wurde von den neuen Machthabern als „entartet“ deklariert. Als 1937 ihre Werke in der Galerie Moderne in Stockholm präsentiert wurden, nutzte die Künstlerin die Gelegenheit Deutschland für immer zu verlassen. Dank einer Scheinehe mit einem Schweden erhielt Lotte Laserstein die schwedische Staatsbürgerschaft. Sie lebte fortan von Auftragsarbeiten. Sie malte in erster Linie Porträts von Bekannten aus dem engeren und weiteren Umfeld, im Verlaufe entstanden Landschaftsbilder aus ihrer neuen Heimat Kalmar und Umgebung. An ihre Schaffenshochphase von Mitte der 1920er bis Anfang der 1930er Jahre konnte Laserstein im Exil nicht mehr anknüpfen. Dass es ihr nicht gelang ihre Mutter nach Schweden zu holen, diese daraufhin in das KZ Ravensbrück deportiert und dort ermordet wurde, konnte sich die Tochter nie verzeihen, weshalb sie Deutschland endgültig den Rücken kehrte. Nach diesen kurzen Lebensabrissen der drei Frauen sollen nunmehr ihre spezifischen Attribute der Neuen Frau aufgezeigt und ihre jeweils individuelle – avantgardistische wie zeitkritische – Sicht auf ihre gelebte Gegenwart gelenkt werden.

1 Diese Kunsthochschule in Berlin-Charlottenburg ging aus der Fusion der „Hochschule für die Bildenden Künste“ und der „Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums“ hervor und existierte zwischen 1924 und 1939. Von ihr gingen wichtige Impulse für den Expressionismus, Surrea­ lismus, Kubismus und die Neue Sachlichkeit aus.

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Tanz in orange – Die Avantgardistin Valeska Gert Valeska Gertrude Samosch, geboren am 11. Januar 1892, die später ihren zweiten Vornamen in verkürzter Form als Künstlernamen wählte (Gert), beschreibt in ihrer Autobiografie Ich bin eine Hexe. Kaleidoskop meines Lebens (1968) ihr Elternhaus wenig verklärt: Mein Vater war jähzornig und gutmütig und mußte immer das Gegenteil von dem tun, was ihm Spaß machte. […] Immerzu mußte er an mir herumnörgeln, mal gefiel ihm meine lange Nase, mal mein Haar nicht. […] Meine Mutter war lustig, eigensinnig, rechthaberisch, vergnügungssüchtig und konnte wunderbar tanzen […]. Von Kindererziehung verstanden die Eltern nichts.2

Mit sieben erhielt die Tochter Ballettunterricht und teilte seither die Leidenschaft der Mutter, das Tanzen. Die Schülerin langweilte sich, vor allem die Zeichen- und Handarbeitsstunden waren ihr ein Graus. Und Religionsstunde! Ich mußte Hebräisch lernen und an die Synagoge denken, in die mich Mama an Feiertagen mitnahm. Ihre Eltern waren noch fromm, ihretwegen ging sie hin. Es war langweilig, ich verstand nichts. […] ‚Mama, nimm mich aus der Schule!‘ bettelte ich. Sie tat es und gab mich in ein Externat. Ich war erst vierzehn Jahre alt. Zum Entsetzen der Lehrer puderte ich mich und färbte meine Lippen rot, es war bunter, darum tat ich es, aus keinem anderen Grund.3

Neben dem Tanzen als körperliche Ausdrucksform hatte Valeska Gert ein ausgesprochenes Faible für extravagante Outfits sowohl was die Kleidung als auch das Make-up anbetraf. Schon damals liebte ich Plakatfarben. Knallrot oder orange mußte das Kleid sein. Ich drückte einen schwarzen Hut tief auf meinen Kopf, Straußenfederplatten hingen über der Stirn, vor dem Gesicht ein dichter schwarzer Schleier, kalkweiß gepudert, blutrot gefärbte Lippen; so wandelte ich über den Kurfürstendamm.4

Der Karikaturist und Grafiker Hans Rewald, der früh ihre ausgeprägte Beobachtungsgabe und ihr modisches Gespür erkannte, animierte die talentierte Schulabbrecherin für die damals bekannte Modezeitschrift Elegante Welt zu schreiben. Seit 1913 veröffentlichte sie dort Anregungen für die ‚Frau von Welt‘ in der Rubrik Ratgeber der Eleganz, die sie mit einer ironischen Note versah. So schrieb sie bei-

2 Valeska Gert: Ich bin eine Hexe. Kaleidoskop meines Lebens. München 1978. S. 9. 3 Gert, Ich bin eine Hexe (wie Anm. 2), S. 27. 4 Gert, Ich bin eine Hexe (wie Anm. 2), S. 29.



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spielsweise über Haarnadeln, „Wie binde ich eine Krawatte“ oder die Verwendung von Puder: Pudern? – O weh! Manche Leserin schüttelt das Köpfchen: ‚Das tut man, aber davon spricht man nicht.‘ Aber warum denn, gnädige Frau? Erlauben Sie, das ist ein Vorurteil! – Gewiß, alles Übertriebene ist gewöhnlich. Aber ein diskret gepudertes Gesicht ist vornehmer, keuscher als ein ungepudertes. Da ist so manche feine Linie, die verrät, was lieber verschwiegen sein sollte. Eine dünne Puderschicht deckt alles gütig zu.5

Neben ihren parodistischen Ausflügen in die Modeberichterstattung nahm Valeska Gert Unterricht bei Maria Moissi, die in Berlin eine Schauspielschule betrieb. Ihr Mann, Alexander Moissi, der dort auch unterrichtete, war gemeinsam mit Max Reinhardt Begründer der Salzburger Festspiele. Das Ehepaar erkannte nicht nur ihr schauspielerisches Talent sondern sah auch ihr tänzerisches, daher empfahlen sie ihr zudem bei der Schauspielerin Rita Sacchetto (1880–1959), die auch als Tanzlehrerin in Berlin arbeitete, Unterricht zu nehmen. Als deren Schülerin debütierte Valeska Gert 1916 bei einer öffentlichen Veranstaltung mit ihrem Tanz in orange, der sie schlagartig bekannt machte. Rita Sacchetto zeigte mir ein paar Tanzschritte, und ich machte mir aus orangefarbener Seide ein Kostüm. Es war eng um die Taille gespannt, die faltige Pluderhose stand weit ab, weil Mama sie auf Gaze gearbeitet hatte, und endete in einem Bund über dem Knie, knallblaues Band um den Hals, knallblau geschminkte Augenlider, knallblaues Band um die Fußknöchel […] Ich sah wie ein Plakat aus, so etwas war neu, die anderen Tänzerinnen waren hellblau oder rosa gekleidet, oder wenn sie seriös und modern waren, steckten sie in wehenden beige oder grauen Stoffahnen. Der Bachsaal war überfüllt. Aufgeregt hörte ich das Murmeln von vielen Menschen. Das große Podium war von zwei Scheinwerfern grell beleuchtet, Hintergrund ein schwarzer Vorhang, vor dem sich die jungen Tänzerinnen lieblich bewegten und zaghaft die Beine schmissen. Anita Berger tanzte: Rose und Diana mit dem Pfeil. Ich brannte vor Lust, in diese Süßigkeit hineinzuplatzen. Voll Übermut knallte ich wie eine Bombe aus der Kulisse. Und dieselben Bewegungen, die ich auf der Probe sanft und anmutig getanzt hatte, übertrieb ich jetzt wild. Mit Riesenschritten stürmte ich quer über das Podium, die Arme schlenkerten wie ein großer Pendel, die Hände spreizten sich, das Gesicht verzerrte sich zu frechen Grimassen. Dann tanzte ich süß. Jawohl, ich kann auch süß sein, viel süßer als die anderen. Im nächsten Augenblick hatte das Publikum wieder eine Ohrfeige weg. Der Tanz war ein Funke im Pulverfaß. Das Publikum explodierte, schrie, pfiff, jubelte. Ich zog, frech grinsend, ab. Die moderne Tanzsatire war geboren, ohne daß ich es wollte oder wußte.6

5 Valeska Gert in: Elegante Welt 1914. Heft 13. S. 16. Zitiert nach: Peter, Frank-Manuel: Valeska Gert. Tänzerin, Schauspielerin, Kabarettistin. Berlin 1985. S. 14. 6 Gert, Ich bin eine Hexe (wie Anm. 2), S. 31f.

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Abb. 8: Valeska Gerts Tanz in orange um 1915/16 [Archiv Frank-Manuel Peter]

Auf Empfehlung von Maria Moissi und Arthur Kahane, Dramaturg am Deutschen Theater Berlin, erhielt Valeska Gert 1916 „als jugendliche Charakterspielerin“ ein Engagement bei Otto Falckenberg an den Münchener Kammerspielen. Doch wurde sie dort zunächst nur in Nebenrollen besetzt. Sie tat sich zunächst schwer und konnte kaum mit Kritik umgehen. Ihre erste Sprechrolle hatte sie als Freiin von Totleben in Frank Wedekinds Marquis von Keith. Der Autor führte selbst Regie und beschimpfte sie während der Proben, da sie zu leise sprach. Es folgten Rollen als Kupplerin in Wedekinds König Niccolo und in der Inszenierung von Falckenberg spielte sie 1917 das Kätchen in Shakespeares Wie es euch gefällt, das ihr schließlich zum Durchbruch als Schauspielerin verhalf. Es waren Alltagsszenen, die Valeska Gert inspirierten und die sie in Tanz umsetzte. „Ich wollte nicht diese vagen Bewegungen tanzen, die nichts mit mir und meiner Zeit zu tun haben“, schreibt sie rückblickend in ihrer Autobiografie. „Ich wollte Menschen darstellen und die vielen bunten Gesten und Bewegungen des täglichen Lebens.“7 In der Widerspiegelung des täglichen Lebens tanzte Valeska Gert Alltagszenen aus der Großstadt: Hektik, Verkehr, Menschenmassen: „Auf den Straßen schieben sich die Menschen vorwärts, Wagen fahren und stoßen zusammen, der 7 Gert, Ich bin eine Hexe (wie Anm. 2), S. 43.



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Verkehrsschutzmann streckt seinen Arm aus, der Verkehr stockt. Ich mache eine Tanz daraus, den ich ‚Verkehr‘ nannte.“8 Valeska Gert war zweifellos eine Avantgardistin des modernen Tanzes. Sie hatte stets ein besonderes Gespür für den Zeitgeist und umgab sich mit Künstlern, die ebenso auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen waren. In ihren Lebenserinnerungen von 1968 beschreibt sie eine Szene während einer Veranstaltung der Berliner Dadaisten im Jahr 1919: Der Höhepunkt des Programms war ein Wettrennen zwischen einer Nähmaschine und einer Schreibmaschine. An der Schreibmaschine saß George Grosz [, an der Nähmaschine Walter Mehring; Anm. EVK]. Kaum im Saal entdeckt, schleifte man mich auch schon auf die Bühne, und ich tanzte zu den Geräuschen der beiden Geräte, eine Tüte aus Zeitungspapier mit zwei Pfund Spargel im Arm. Ich hatte ihn gerade auf dem Wochenmarkt gekauft.9

Mit einem kleinen Seitenhieb auf die Achtundsechziger-Bewegung bemerkt sie, dass deren Happenings nicht neu waren, sondern bereits 50 Jahre zuvor Anwendung fanden. Der Bruch mit der Tradition sollte auch im Tanz zum Ausdruck kommen. Aber war das Publikum schon reif für jeglichen Tabubruch? „Das Unerhörte im Tanz, das will […] ich. Aber was ist das? Das Unerhörteste ist Geburt, Liebe und Tod. Niemand hat bisher gewagt, es wahr und ungeschminkt darzustellen. Ich will es tun.“10 Und sie tat es, sie tanzte den Lebensanfang (in der Formation Baby), das Lebensende (Tod) und die Liebe, hier allerdings die käufliche. Ihre Tänze waren Ausdruck des Unmittelbaren, ungeschönt in Leid und Freud. Und es schwang stets eine sozialkritische Komponente mit. So auch in ihren Tänzen Canaille und Kupplerin, in denen sie das Thema Prostitution erstmals in derartiger Form auf die Bühne brachte. Damit rückte sie die am Rand der Gesellschaft stehenden, hier eine junge Frau, die in Ermangelung anderer Erwerbsmöglichkeiten ihren Körper feilbot, sowie eine in die Jahre gekommene Prostituierte, die nun als ‚Puffmutter‘ ihre Existenz sichern muss, in den Mittelpunkt: Ich will sie bei der Ausübung ihres Berufes schildern. Herausfordernd wackle ich mit den Hüften, lüfte den schwarzen Rock und zeige einen Augenblick lang weißes Fleisch […]. Meine Bewegungen sind sanft und wollüstig. […] Ich senke den Kopf tief, das Gesicht verschwindet bis zum grellroten Mund in einem roten Kragen, der lose um meinen Hals liegt. Dann sinke ich langsam in die Knie, ich öffne sie und versinke tief. In plötzlichem Krampf, 8 Zitiert nach: Kotowski, Elke-Vera: Valeska Gert. Ein Leben in Tanz, Film und Kabarett. Berlin 2014. S. 18 (Jüdische Miniaturen, Bd. 123). 9 Gert, Ich bin eine Hexe (wie Anm. 2), S. 60, zitiert nach: Peter, Valeska Gert (wie Anm. 5), S. 35. 10 Gert, Ich bin eine Hexe (wie Anm. 2), S. 39.

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wie von einer Tarantel gestochen, zucke ich in die Höhe. Ich schwinge. Dann entspannt sich der Körper. Der Krampf löst sich in sanfte Sprünge auf. Sehr weich und immer kürzer werden sie, die Erregung ebbt ab. Noch eine letzte Zuckung und ich bin wieder auf der Erde. Was hat man mir getan? Man hat mich ausgenutzt. Man hat mich mißbraucht, weil ich Geld haben muß. Miserable Welt! Ich spucke einen verächtlichen Schritt nach rechts und einen nach links. Dann latsche ich ab.11

Sie konfrontiert das Publikum sowohl mit dem Tod in ihrer gleichnamigen Performance als auch mit dem Leben, sei es als Prostituierte, Kupplerin, Baby, Boxer oder massengesellschaftliche Phänomene wie ‚Verkehr‘ oder ,Nervosität‘, mit der sie die Hektik und Schnelllebigkeit der Großstadt in eine Tanzperformance übertrug. Der Feuilletonchef des Berliner Tageblatts und Schriftsteller Fred Hildenbrandt, der 1928 eine Biografie über Valeska Gert verfasste (Die Tänzerin Valeska Gert), nannte sie darin die „Fratze“ ihrer Zeit. Einig waren sich ihre Rezensenten darin, dass sie sich von allen übrigen Tänzerinnen abhob. Kurt Tucholsky schrieb im Februar 1921 unter dem Pseudonym Peter Panter in der Weltbühne: Tanzte sie? Tanzte Valeska Gert? Daß sie es kann, steht außer allem Zweifel. Daß sie viel mehr kann, auch. Sie benutzt die Technik – wie sichs gehört – als reale Unterlage der Phantasie. Nein, sie tanzte nicht nur. Sie schüttete ein Füllhorn voll Menschen vors Parkett: Japaner und Seiltänzer und Jongleure und Zirkusreiterinnen und Ringkämpfer und Kuppelmütter und Spanierinnen und wer weiß wen noch alles. Aber Gott muß ihr jenen Andersenschen Glassplitter ins Auge geweht haben, durch den man die Welt so eigentümlich verzerrt sieht. Sie parodiert. […] Nun, wenn die Gert ›Ballett‹ tanzt, dann ist von der Dell’Era nicht mehr viel übrig – so leer, so gespreizt, so engagiert, so flirrend decouvriert sich eine antiquierte Angelegenheit. Sie entlarvt, was sie tanzt. Und im ›Ballett‹ zertanzte sie – zum großen Ärgernis zweier hinter mir sitzender Geheimen Oberrechnungsratswitwen – Potsdam.12

Das Neue an ihrem Tanz war u.a. eine in Bewegung umgesetzte Zeitsatire. Neben „Charleston“ und „Tango“, populäre zeitgenössische Tänze, persiflierte sie die beim Publikum so beliebten „exotischen“ Tänze der Spanier oder Japaner, beziehungsweise die nordeuropäische Vorstellung davon, wie Spanier oder Japaner tanzen. Der Grotesktanz war geboren. Wie schon Kurt Tucholsky in seiner Tanzkritik bemerkte, verkörperte Valeska Gert eine neue Ästhetik des körperlichen Ausdrucks. Bert Brecht, dem Valeska Gert Anfang der 1920er Jahre begegnete, war begeistert von ihr und wollte mit 11 Gert, Ich bin eine Hexe (wie Anm. 2), S. 39f. 12 Kurt Tucholsky alias Peter Panther: Valeska Gert. In: Die Weltbühne. 7. Jg. (1921). Heft 7. S. 204f.



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ihr an einem Drehbuch für ein Filmprojekt arbeiten, deren Protagonistin „Ein hässliches Mädchen“ sie selbst auch darstellen sollte. „Ich fragte ihn: ‚Was ist das, eppisches (so sprach er es aus) Theater?‘ – ‚Das, was Sie machen‘ antwortete er.“13 Das Projekt zerschlug sich und stattdessen stand sie 1924/25 erstmals unter der Regie von Hans Neumann als „Puck“ in Shakespeares Sommernachtstraum vor der Kamera. Das Ausleben im Hier und Jetzt aus dem heraus Valeska Gert bei jeden Auftritt etwas Neues erschuf, die unwiederbringliche Einzigartigkeit des Augenblicks, konnte nun durch die Kamera konserviert und immer wieder abgerufen werden – das bereitete ihr Unbehagen. Erst durch die Begegnung mit der Fotografin Suse Byk, die sie filmte, verlor Valeska Gert die Angst vor der Kamera. „Und als Pabst mich für die Frau Greifer in der Freudlosen Gasse engagierte, wurde zur Lust, was mich vorher so beängstigt hatte, das ‚Festgehaltenwerden vor der Kamera‘.“14 In diesem Stummfilm, den Georg Wilhelm Pabst 1925 nach der Vorlage des österreichischen Schriftstellers Hugo Bettauer drehte, spielte Valeska Gert an der Seite der damals noch unbekannten Schauspielerinnen Greta Garbo und Asta Nielsen. Schauplatz war die kleine Wiener Melchiorgasse während der Inflationszeit, in der das verarmte Bürgertum Tür an Tür mit dem Lumpenproletariat lebte. Die beiden einzigen wohlhabenden Bewohner der Straße sind der Fleischer Josef Geiringer (Werner Krauß) und Frau Greifer (Valeska Gert), die einen Modesalon mit angeschlossenem Nachtklub betreibt. Dieses Etablissement ist ein Magnet der reichen Bürger Wiens. Gleich nebenan liegt das Stundenhotel „Merkl“, in dem Frauen ihren Körper feilbieten, um u.a. ihren bei Frau Greifer aufgenommenen Kredit abzubezahlen. Mit dieser zeitkritischen Darstellung von überbordendem Luxus und bitterster Armut entstand ein Klassiker der Filmgeschichte und ein Dokument der ‚Neuen Sachlichkeit‘ in bewegten Bildern.

Käsebier erobert den Kurfürstendamm – Die Chronistin Gabriele Tergit Gariele Tergit15, 1894 als Elise Hirschmann in Berlin geboren, entstammt einer Unternehmerfamilie. Ihr Vater, Siegfried Hirschmann, gründete in Berlin-Lichtenberg die Deutschen Kabelwerke sowie die Union Cable Works in London. Eine 13 Gert, Ich bin eine Hexe (wie Anm. 2), S. 46. 14 Valeska Gert: Mein Weg. Leipzig 1931. S. 50. 15 Im Verlauf des Beitrags wird die Protagonistin bis Mitte der 1920er Jahre bei ihrem Geburtsnamen Lise (Elise) Hirschmann genannt. Als sie eine Anstellung beim Berliner Börsen-Curier

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Abb. 9: Lisa Hirschmann alias Gabriele Tergit. Aufnahme um 1921 [Archiv MMZ]

Tochtergesellschaft (DEKA Pneumatik) stellte Autoreifen her. Die Mutter Frieda, geborene Ullmann, stammte aus München. Deren Eltern waren in der Posamentenbranche tätig und fertigten Verzierungen wie Borten, Quasten und Schnüre für Polstermöbel, Wand- und Fensterdekorationen. Die Großeltern aus beiden Familienzweigen lebten noch streng nach den jüdischen religiösen Gesetzen. Ein Schwager des Großvaters mütterlicherseits war Samson Raphael Hirsch, der Begründer der Neo-Orthodoxie. Die Eltern von Elise, genannt Lise, praktizierten ihr Judentum jedoch kaum mehr. Lediglich durch die Besuche bei den Großeltern wurde die Enkelin mit den jüdischen Festen und Gebräuchen vertraut gemacht und entwickelte eine Leidenschaft für das Lesen der religiösen Schriften. „Mir sind die Propheten liebe Freunde geworden“ erinnert sich die über 80-jährige rückblickend. „Ich habe von Jesaja gelernt: Folge nicht dem großen Haufen nach, richte dich nicht nach dem Urteil der Menge. Dieser Satz ist eine der Erkenntnisse, die mir für mein ganzes Leben richtungweisend gewesen sind.“16

erhält, unterschreibt sie ihre Artikel fortan mit Gabriele Tergit als Pseudonym. Aber auch zuvor publizierte sie unter Pseudonymen wie Maria Becker, Irene Bersil, E. Hensel, Emmy Grant, Lyonel, Lily Stock, Christian Thomasius. 16 Interview mit dem Journalisten Henry Jacob Hempel (1979 in London geführt). Unveröffentlichtes Manuskript im Nachlass von Gabriele Tergit. Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA). 29 Seiten, hier: S. 6, zitiert nach: Wagener, Hans: Gabriele Tergit. Gestohlene Jahre. Osnabrück 2013. S. 12 (Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs, Bd. 28).



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Lise und ihr Bruder Ernst wuchsen zunächst im Osten Berlins, nahe der Janno­ witzbrücke in der damaligen Raupachstraße17 auf. Darauf bezugnehmend bemerkt sie: Bei meinen späteren Gerichtsberichten für das Berliner Tageblatt hat mir dann die Kenntnis des östlichen Berlins sehr geholfen. Also die Toiletten auf dem Hof oder die Toiletten auf dem Treppenabsatz, oder daß ich wußte, das eben zehn Mietparteien nur einen Wasserhahn haben, der auf dem Korridor zu finden ist. Diese unwahrscheinlichen Verhältnisse, fünf Menschen, die in einem Zimmer schlafen, dann noch der Schlafbursche, all dies ist für mich nicht fremd gewesen, weil ich eben in der Gegend aufgewachsen bin. Ich habe mich nie als fremd oder anders empfunden.18

Obwohl die Familie Hirschmann selbst damals keineswegs in den von Tergit beschriebenen Verhältnissen lebte – das eigene Haus verfügte über fließend Wasser und elektrisches Licht –, erlebte das privilegierte Kind jedoch die Lebenswirklichkeit der sie umgebenden Berliner Arbeiterschaft, denn sie spielte mit deren Kindern und besuchte sie auch zuhause. Noch bevor Lise eingeschult wurde, zog die Familie in den Berliner Tiergarten in die Corneliusstraße. Sie besuchte zunächst die Margareten- dann die Charlottenschule um dann, gegen den Rat ihres Vaters bereits nach der Mittleren Reife auf eine sozialorientierte „Frauenschule“ zu wechseln und damit auf ein Abitur zu verzichten. Jene Soziale Frauenschule war Teil des 1874 von Hedwig Heyl und Henriette Schrade-Breymann gegründeten Pestalozzi-Fröben-Hauses. Dort wollte sie sich unter Anleitung von Gertrud Bäumer, Lily Dröscher und Alice Salomon auf einen Beruf in der Sozialfürsorge vorbereiten, denn darin sah sie ihre Bestimmung. Was ich dort gelernt habe: nun soziale Fragen: […] ich habe danach in einem Kinderhort im Berliner Osten gearbeitet, die Atmosphäre […] ist mir unvergeßlich, weil ich wirklich gesehen habe, was das für arme Würstchen sind, wie miserabel das ganze Niveau war. […] auf diese Weise habe ich doch recht jung gemerkt, daß es eine wirkliche Armut in der Welt gibt, eine sehr schwer zu bekämpfende Armut, die große Probleme stellt.19

Auch wenn sie sich intellektuell bald unterfordert fühlte und 1915 als „Externe“ das Abitur nachholte, um studieren zu können, bemerkte sie rückblickend: „Insofern ist die soziale Frauenschule schon sehr wichtig gewesen“20 für ihren freien Blick auf die gesellschaftliche Situation in Berlin am Vorabend des Ersten Weltkrieges. 17 Diese Straße existiert heute nicht mehr, sie befand sich zwischen der Holzmarkt- und der Ifflandstraße. 18 Interview mit Hempel (wie Anm. 16), S.14. 19 Interview mit Hempel (wie Anm. 16), S. 15. 20 Interview mit Hempel (wie Anm. 16), S. 15.

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Mit 19 Jahren schrieb sie auf Anregung Gertrud Bäumlers ihren ersten Zeitungsartikel, der unter der Überschrift Frauendienstjahr und Berufsausbildung am 22. November 1915 in der Beilage Zeitgeist des im Rudolf Mosse Verlag herausgegebenen Berliner Tageblatts erschien. Darin geht sie nicht allein kriegsbedingt auf die veränderte Situation von Frauen ein. „Unsere Zeit ist Männerzeit“ so die ersten Worte ihres Artikels. Sie verweist auf die Notwendigkeit einer soliden Berufsausbildung für Frauen, um ihrer ökonomischen Selbstständigkeit willen, denn aktuell seien 70 Prozent aller Frauen bis zum 30. Lebensjahr und „nach dem 50. Lebensjahre rund 50 Prozent ohne ehelichen Ernährer“.21 Ihr Artikel ist ein Appell, der veränderten Lebenswirklichkeit ins Auge zu sehen. Und endlich anzuerkennen, dass Frauen ein Recht auf eine Fachausbildung hätten, damit sie – unabhängig von einem Mann, ob Vater oder Ehemann – der „innere[n] Befriedigung“ folgend, „zu produzierenden, nicht nur konsumierenden Staatsbürgern“ würden. Des Weiteren sei es notwendig, die Diskrepanz zwischen den sozialen Schichten aufzuheben, daher plädierte sie für ein soziales Dienstjahr für höhere Töchter, „um unser Volk enger zusammenzuschweißen, um den Zusammenhang zwischen Frau und Frau wiederherzustellen, der durch die wirtschaftliche Entwicklung des vorherigen Jahrhunderts zerrissen wurde“22. Die Solidarität unter Frauen war ihr Gebot der Stunde und dieses habe sich über alle sozialen Grenzen hinweg zu erstrecken. Nachdem Lise Hirschmann 1918 ihr Abitur ablegte, begann sie im gleichen Jahr ihr Studium der Geschichte, Philosophie und Soziologie. Studienorte waren München, Heidelberg, Frankfurt und Berlin. Sie hörte u.a. bei Max Weber (München), Friedrich Gundolf (Heidelberg) und nach ihrer Rückkehr nach Berlin besuchte sie die Lehrveranstaltungen von Eduard Spranger und vor allem Friedrich Meinecke. Ihre Promotion erfolgte 1923 mit einer Arbeit über den Naturwissenschaftler Karl Vogel, Mitglied der ersten deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche.23 Neben dem Studium verfasste Lise Hirschmann ab 1920 regelmäßig Artikel für die Vossische Zeitung, das Berliner Tageblatt und den Berliner Börsen-Courier; Erich Vogler, Feuilletonchef der letztgenannten Zeitung, bot der frisch Promovierten 1923 an, künftig Gerichtsreportagen für den Börsen-Courier zu verfassen. Mit Felix Joachimsohn, dem Chef des lokalen Teils der Zeitung, hatte sie alsbald 21 Hirschmann, Elise: Frauenjahr und Berufsausbildung. In: „Zeitgeist“, Beilage des Berliner Tageblatts vom 22. November 1915, zitiert nach: Tergit, Gabriele: Frauen und andere Ereignisse. Publizistik und Erzählungen von 1915 bis 1970. Hrsg. v. Jens Brüning. Berlin [2001]. S. 9. 22 Hirschmann, Frauenjahr und Berufsausbildung (wie Anm. 21), S. 9. 23 Der Titel der Dissertationsschrift, die sie im Fach Geschichte verfasste, lautet Karl Vogel als Politiker.



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einen selbstlosen Förderer und liebenswürdigen Kollegen an ihrer Seite. Von nun an gab sich Lise Hirschmann ein festes Pseudonym und unterzeichnete ihre Artikel mit Gabriele Tergit24. Gerade weil die promovierte Historikerin über keinerlei rechtswissenschaftliche Vorkenntnis verfügte, war es ihr ein Anliegen ihrer Leserschaft, anders als ihre männlichen Kollegen, die ihre Gerichtsreportagen mit einer juristischen Trockenheit verfassten, den Menschen hinter dem Angeklagten zu beschreiben. Gesunder Menschenverstand und Sympathie leiteten ihre Berichte über jene, die in die Mühlen der Justiz geraten waren. Häufig waren es einfache Menschen, die sich im Labyrinth der Paragrafen verfangen hatten, Arbeitslose, Landstreicher oder Dienstmädchen. Tergit beschrieb Prozesse wegen Heiratsschwindel oder Hochstapelei, Eifersuchtsdramen oder Vergehen gegen den Paragrafen 218. Letztere waren ihr ein besonderes Anliegen. Sie griff damit immer wieder die schwierige Situation von Frauen auf, die sich in doppelter Hinsicht in einer prekären Lage befanden. Ungewollt geschwängert, nicht selten von ihren Dienstherren, begaben sich die Frauen in die Hände von „Kurpfuschern“ und machten sich damit strafbar. Wenn sie nicht gar mit ihrem Leben dafür zahlten, denn nicht wenige Frauen überstanden den Eingriff von „Engelmacherinnen“ oder vermeintlichen Ärzten nicht, mussten sie sich anschließend vor Gericht für den Schwangerschaftsabbruch verantworten. Gabriele Tergit gelang es, mal mit Witz und Ironie, mal mit Einfühlungsvermögen und klaren Worten, Motive und Hintergründe der Angeklagten offenzulegen. Dabei verwies sie immer wieder auf die inhumanen Lebensbedingungen, die die Menschen, insbesondere Frauen, die eine Abtreibung durchführten, in das Vergehen trieben, für das sie vor Gericht standen. Egon Larson spricht von einer „Revolution der deutschen Gerichtsreportage“, die Gabriele Tergit und ihr bereits 1928 verstorbener Kollege Sling, alias Paul Schlesinger, der für die Vossische Zeitung schrieb, damit auslösten und ein neues literarisches Genre aus der Taufe hoben.25 Am 24. Dezember 1924 wurde sie vom Chefredakteur des Berliner Tageblatts, Theodor Wolff, für die eigene Zeitung abgeworben, denn diese verfügte bislang über keine hinreichenden Gerichtsreportagen. Gabriele Tergit schrieb fortan neun vertraglich vereinbarte Gerichtsreportagen pro Monat sowie Feuilletons für die 24 Dieses Pseudonym wurde nach eigenen Angaben während eines Gespräches mit dem Schriftsteller Georg Hermann kreiert. Dieser hatte ihr anempfohlen: „Als Hirschmann kannst du in der Presse nicht weiterkommen. Du brauchst einen eindrucksvollen, originelleren Autorennamen!“ (zitiert nach Wagener, Gabriele Tergit (wie Anm. 16), S. 19). Nach Auskunft ihres Neffen Tomas Hirschmann entstand dieser Name, da beide, Lise Hirschmann und Georg Hermann, auf einer Parkbank saßen und auf ein Gitter schauten. Aus „GIT-TER“ wurde durch Vertauschung der Silben „TER-GIT“. (Gespräch der Verfasserin mit Tomas Hirschmann, Juni 2014). 25 Larsen, Egon: Die Welt der Gabriele Tergit. Aus dem Leben einer ewig jungen Berlinerin. München 1987. S. 12.

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soeben von Walther Kiaulehn kreierte und von ihm und Rudolf Olden redigierte Berlinseite. Unter dem Motto „Berliner Existenzen“ verfasste Gabriele Tergit mit einer Portion Humor versehene Artikel über die großen und kleinen Leute in der Metropole Berlin und dabei geht es auch immer wieder um die Belange der Frauen samt ihrem beschwerlichen Weg zur Gleichstellung. In jenen Jahren gehörte Gabriele Tergit der Berliner Sektion des der UNESCO angegliederten „Soroptimist-Klubs“ an, einer internationalen Vereinigung berufs­tätiger Frauen. Dort lernte sie die Fotografin Lotte Jacobi, die Schauspielerin Tilla Durieux und die Malerin Annot (Anna Ottilie Krigar-Menzel) kennen. Rückblickend bemerkt sie: Und nun fand sich da ein Kreis von jungen, berufstätigen, interessanten Frauen zusammen. Bei jedem Treffen hielt ein Mitglied Vortrag aus ihrem Berufsgebiet. […] Sie alle waren vor 1933 erfolgreich gewesen, Persönlichkeiten, einzigartig, eine nie wieder genauso vorkommende Zusammensetzung von Zellen.26

In einem Artikel für das Berliner Tageblatt stellt sie 1930 den Soroptimist-Klub der Leserschaft vor und konstatiert: Wenn man denkt, wie solch ein Klub vor zwanzig Jahren ausge[se]hen hätte. O Gott, wieviel Protest und wie viel innere Unsicherheit und wie viel Krampf und wie viel Gemöchte. Einfach eine Ordensversammlung der Schwestern zum höheren Menschentum. Seele hätte in jedem Händedruck gelegen und der ganze Hochmut der Menschen, die glauben, allein den Schlüssel zur wahren Ethik zu haben. […] Jetzt, zwanzig Jahre später, ist es keine Frauenversammlung mehr, sondern eine Versammlung von Frauen, die sich wohltätig von allem Gedeckten-TischRummel unterscheidet. Reden wurden gehalten, Margarete Kaiser sprach vom Konflikt Beruf und Haushalt, Beruf und Mutter, Beruf und Gattin, sagte auch, daß heute nicht mehr der Beruf zugleich Berufung ist, sondern Notwendigkeit […] Frau Dr. Jacker plauderte auf leichte Weise, wie die moderne Frau sich den modernen Mann wünscht. […] Wenn Madame de Noel im dahlienfarbenen Ballkleid graziöse französische Worte auf noch graziösere Weise sagt, so kann man sich kaum denken, daß sie in weißer Schürze am Operationstisch steht, entstellten Mitschwestern die Nase gerade zu rücken, die Falten zu glätten, damit sie ein Generaldirektor als Sekretärin engagiert. Das ist es, das ist der Unterschied.27

Der Beitrag endet mit folgendem Zitat: Die Männer sind die gleichen geblieben, haben Konflikte, Gefahren und Ängste und Arbeit, sie legen Grundsteine, eröffnen Ausstellungen, machen Transaktionen, Pleite und 26 Tergit, Gabriele: Etwas Seltenes überhaupt. S. 208 zitiert nach Wagener, Gabriele Tergit (wie Anm. 16), S. 35. 27 „Sorores Optimae“. Berliner Tageblatt, 22.1.1930, abgedruckt in Tergit, Frauen und andere Ereignisse (wie Anm. 21), S. 143–145, hier: S. 143.



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gewalti­ge Erfindungen, geändert hat sich überall in den Ländern der Menschheit anderer Teil, die Frau.28

Wie erwähnt greift Gabriele Tergit in ihren Feuilletons aktuelle Themen auf, kämmt sie gegen den Strich und trifft immer einen besonderen Ton, der selbst der heutigen Leserin den Blick auf die damalige Zeit in ganz spezifischer Weise freilegt. Seit Beginn der 1930er Jahre liebäugelte Gabriele Tergit damit, die in ihren Feuilletons behandelten Themen satirisch zu verarbeiten. Während eines Aufenthaltes im österreichischen Voralberg im Januar 1931 griff sie die Gelegenheit beim Schopf und begann einen Roman über den journalistischen „Betrieb“ zu verfassen, der bereits im gleichen Jahr im Ernst Rowohlt Verlag erschien und von Hans Fallada lektoriert wurde: Ich plante schon lange eine Satire auf den ,Betrieb‘, den ich für den Zerstörer aller echten Werte hielt, um etwas Nichtexistierendes zu schreiben. Ich wollte sozusagen Andersens ,Des Kaisers neue Kleider‘ erweitern. Aber ich erkannte, daß ein Buch, aus dem man nicht erfährt, weswegen telefoniert, telegrafiert, in Autos gerast wird – ein Kafka-Thema – unmöglich ist. […] Ich erfand einen Spaßmacher, dessen Programm ich aus zwei Artikeln über Hasenheide und [Scala] mischte. [Dieser] sollte nur der ganz gleichgültige Aufhänger für Journalisten, Bauunternehmer und Massenmedienleute werden.29

Um jenen Spaßmacher, einem Volkssänger aus der Neuköllner Hasenheide namens Käsebier formiert sich in Tergits Roman Käsebier erobert den Kurfürsten­ damm „eine Riege profitorientierter Reklamemacher, skrupelloser Immobilienhaie und risikofreudiger Spekulanten“30, die alle auf einen eigenen schnellen Erfolg – auf Kosten des unbedarften aber gehypten Stars der Berliner Schickeria – orientiert sind. Es wird eigens für Käsebier ein Theater am Kudamm gebaut, das jedoch nie fertiggestellt wird, da derweil die Investoren Pleite gehen und auch bald das mediale Interesse an Käsebier schwindet, da längst neue Schlagzeilen die Presse am Laufen halten. In ihrer 2015 erschienenen Dissertationsschrift „Sehnsucht nach dem Kurfürstendamm“. Gabriele Tergit – Literatur und Journalismus in der Weimarer Republik und im Exil arbeitet Juliane Sucker jene Strategien, mit denen Gabriele Tergit den „Betrieb“ beschreibt, minutiös und kenntnisreich heraus. Es ist ein Sittengemälde der Weimarer Zeit, das die Tergit bis heute der 28 „Sorores Optimae“. Berliner Tageblatt, 22.1.1930, abgedruckt in Tergit, Frauen und andere Ereignisse (wie Anm. 21), S. 143–145, hier: S. 145. 29 Tergit, Gabriele: Etwas Seltenes überhaupt. Erinnerungen. Berlin 1983. S. 77f. 30 Sucker, Juliane: „Sehnsucht nach dem Kurfürstendamm“. Gabriele Tergit – Literatur und Journalismus in der Weimarer Republik und im Exil. Würzburg 2015. S. 106 (Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft, Band 833–2015).

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Leserschaft vor Augen führt, eine „sozialkritische Zeitdiagnostik“31. Juliane Sucker bemerkt hierzu abschließend: Wie Erik Regers Union der festen Hand, Irmgard Keuns Gilgi – eine von uns und Das kunstseidene Mädchen, Hans Falladas Kleiner Mann, was nun?, Marieluise Fleißers Mehlreisende Frieda Geier und Erich Kästners Fabian, um hier nur einige einschlägige Titel zu nennen, erfüllt Käsebier die programmatische Forderung der Neuen Sachlichkeit nach Aktualität und Gesellschaftsanalyse, genauer: nach wirklichkeitsgetreuer Wiedergabe der sozio-ökonomischen Realität.32

Die dritte Neue Frau der Neuen Sachlichkeit – Die Porträtistin Lotte Laserstein Lotte Laserstein zählt ebenso wie die beiden zuvor Genannten zum Typus jener Neuen Frau und repräsentiert ebenso jene Neue Sachlichkeit als Ausdruckform und Spiegel der sich dem Ende neigenden Weimarer Zeit. Bei der Betrachtung ihres Selbstporträts zeigt sich das markante Gesicht einer entschlossenen und selbstbewussten Persönlichkeit. Sie selbst hätte sich vermutlich nicht als Neue Frau bezeichnet, jedoch spiegelt sich in ihren Leben ebenso wie in ihrem Werk jene eigenständige und selbstsichere Weiblichkeit wider, die aus heutiger Sicht ein Beispiel jenes neuen Typus repräsentiert. Ihre Entschlusskraft rührt aus jenem unbeugsamen Willen, der sie dazu trieb, gegen alle Widerstände das zu tun, was ihr wichtig war und das hieß bereits in früher Jugend: „Ich werde Malerin“. Lotte Laserstein bemerkte als 92-jährige in einem Interview für die britische Zeitung The Times: „Als ich fünf war, hatte ich einen sieben Jahre alten Verehrer. Schon damals sagte ich zu ihm: ‚Verschwende nicht Deine Zeit. Ich werde mein Leben der Kunst widmen‘.“33 Als älteste Tochter des Apothekers Hugo Laserstein und seiner Frau Meta, geborene Birnbaum, kam Lotte am 28. November 1898 in dem kleinen Städtchen Preußisch Holland bei Königsberg zur Welt. Die Familie übersiedelte wenig später nach Bad Nauheim, wo der Vater 1902 an einem Herzleiden mit gerade einmal 42 Jahren starb. Die Mutter zog daraufhin mit ihren beiden Töchtern Lotte und der anderthalb Jahre jüngeren Käthe zu ihrer Mutter Ida und der alleinstehenden Schwester Elisabeth nach Danzig. Elisabeth, genannt Elsa, Birnbaum betrieb

31 Sucker, „Sehnsucht nach dem Kurfürstendamm“ (wie Anm. 30), S. 109. 32 Sucker, „Sehnsucht nach dem Kurfürstendamm“ (wie Anm. 30), S. 111. 33 Lotte Laserstein im Gespräch mit John Russell Taylor. In: The Times, 7.12.1990.



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Abb. 10: Lotte Laserstein: Selbstportrait mit Katze, 1928 [New Walk Museum and Art Gallery, Leicester]

eine private Malschule und so kam es, dass die Nichte Lotte bereits früh im Fach Malerei unterrichtet wurde. Bereits als Zehnjährige vermerkte sie entschlossen, wenn auch altklug ins Gästebuch ihrer Tante Elsa: „Die Malerei ist eine stumme Poesie […] zur Erinnerung an meine Anfangs-Studien.“34 Der reine Frauenhaushalt – die verwitwete Mutter und deren unverheiratete Schwester Elsa waren berufstätige und autarke Frauen – mag Lotte und auch Käthe nachhaltig geprägt haben, denn beide blieben zeitlebens alleinstehend und sorgten stets selbst für ihren Lebensunterhalt. 1912 zog die gesamte Familie von Danzig nach Berlin um. Dort gingen Lotte und Käthe auf die Chamisso-Schule in Schöneberg, eine der wenigen höheren Mädchenschulen Berlins, in denen die Hochschulreife erworben werden konnte. Frauen war es in Deutschland erst ab 1919 gestattet an einer Akademie zu studieren und so zählte Lotte Laserstein zu einer der ersten Absolventinnen der

34 Zitiert nach Krausse, Anna-Carola: Lotte Laserstein. Meine einzige Wirklichkeit. Berlin 2003. S. 39 [Fn 18, S. 315] (Begleitkatalog zur gleichnamigen Ausstellung).

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Hochschule für die Bildenden Künste, an der sie sich 1921 immatrikulierte und dort 1927 ihr Studium mit Auszeichnung abschloss. Spezialisiert hatte sich Laserstein, die Meisterschülerin bei Erich Wolfsfeld war, auf die Porträtmalerei. Bereits diese frühen Porträts, zuweilen auch Selbstporträts, vermitteln in einzigartiger Weise das damalige Lebensgefühl in der Großstadt während der vermeintlich „goldenen Zwanziger Jahre“. Laserstein malte Caféhausszenen, in denen Frauen ohne männliche Begleitung einkehren konnten und selbstbewusst und selbstverständlich den Raum eroberten. Es waren jene emanzipierten Großstadtbewohnerinnen mit einem, der traditionellen Frauenrolle zuwiderlaufenden Selbstverständnis. Selbst erwerbstätig, waren sie nicht mehr zwingend ökonomisch von einem Mann abhängig. Sie kleideten sich modebewusst, waren konsumorientiert, artikulierten sich und ihre Interessen und setzten Letztere in die Tat um. Neben Jeanne Mammen war Lotte Laserstein eine der wenigen Malerinnen, die diese Neue Frau auf die Leinwand brachte, jenen modernen, kosmopolitischen Frauentypus der Großstadt, so wie er Mitte der 1920er Jahre in Paris, London und eben auch Berlin im Straßenbild zu finden war. Aber im Gegensatz zu den Werken ihrer männlichen Kollegen, die die neusachliche Frau der späten Weimarer Zeit darstellten, fehlt Lasersteins Porträts jenes entfremdete Moment der Identitätssuche in einer anonymen Massengesellschaft. In ihren Bildern spiegeln sich vielmehr die Lebenslust, das Selbstbewusstsein und die Individualität der Porträtierten wider. 1928 bewarb sich Lotte Laserstein mit einer Arbeit bei einem Wettbewerb um „Das schönste deutschen Frauenporträt“, den der Kosmetikkonzern Elida gemeinsam mit dem Reichsverband bildender Künstler ausgelobt hatte. Ihr Bildnis, das sie Russisches Mädchen mit Puderdose35 betitelte, gehörte zu den 26 ausgewählten Arbeiten, die in die Endrunde gelangten und im November 1928 in der Galerie Gurlitt in Berlin ausgestellt wurden. Arbeiten wie dieses Porträt spiegeln unprätentiös, ja selbstverständlich Alltagswirklichkeit wider. Es setzt eher einen Kontrapunkt zu jenen durch die Medien stilisierten „Traumfrauen“ und reflektiert vielmehr jene selbstbewusste (neue) Frau der Weimarer Republik. Eine junge Frau mit einer Bubikopffrisur schaut in den Spiegel der Puderdose und übernimmt damit gleichsam eine aktive Rolle. „Der Blick in den Spiegel“, so konstatiert die Kunsthistorikerin Anna-Carola Krausse, „ist aufgrund seiner kompositorisch deutlich hervorgehobenen Selbstreferentialität nicht nur die Wieder-

35 2014 erwarb das Frankfurter Städel Museum das Porträt, das bis dahin in der schwedischen Gemeinde Nybro, knapp 30 Kilometer von Lasersteins langjähriger Wirkungsstätte Kalmar entfernt, ausgestellt war.



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Abb. 11: Russisches Mädchen mit Puderdose, 1928 [Städel Museum, Frankfurt]

spiegelung einer zeittypischen Geste, sondern Laserstein setzt den Spiegelblick […] als Ausdruck autonomen weiblichen Handelns in Szene.“36 Bereits während ihres Studiums lernte Lotte Laserstein die sechs Jahre jüngere Traute Rose kennen. Diese junge, attraktive und selbstbewusste Frau mit Kurzhaarschnitt und großem schauspielerischen Talent wurde bald Lasersteins Lieblingsmodell, denn sie verkörperte nach Dafürhalten der Künstlerin jene neue, gestaltende Frau in der Großstadt par excellence: emanzipiert, modisch, selbstbewusst, sportlich, weltläufig. Traute Rose findet sich auch in Lasersteins Meisterwerk Abend über Potsdam (1930). Dieses Gruppenporträt mit Blick auf die Silhouette Potsdams läutet allerdings eine Wende in ihrem künstlerischen Schaffen ein. In diesem Bild zeigen sich nicht mehr die selbstsicheren, tatkräftige heiteren Frauengestalten, aus den vorherigen Jahren. Laserstein malte dieses Bild zu einer Zeit, da die glorifizierten „goldenen Zwanziger“ bereits verblasst waren und Deutschland, Europa, ja die ganze Welt die bis dahin größte Wirtschaftskrise erlebte. In allen dem Betrachter zugewandten Gesichtern zeichnen sich eine spürbare Desillusionierung und Orientierungslosigkeit ab. Eine Zitation des Letzten Abendmals ist unverkennbar und offensichtlich auch gewollt. Die Christusfigur wird hier allerdings von einer Frau symbolisiert, die madonnenhaft die Bildmitte bestimmt. In diesem Werk manifestiert sich bereits Lasersteins Reaktion auf die veränderte Lebenswirklichkeit. Die Aufbruchsstimmung der ersten Hälfte der Weimarer Republik weicht einer Suche nach Halt und Harmonie. Als Reaktion auf die als bedrohlich erfahrene Realität sucht die Gesellschaft – insbesondere die Jugend – 36 Krausse, Anna-Carola: Lotte Laserstein. Leben und Werk. Berlin 2006. S. 95.

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Abb. 12: Abend über Potsdam, 1930 [Neue Nationalgalerie, Berlin]

nach Fluchtpunkten. Allerdings trügt die vermeintliche Idylle der Abendstimmung. „Der Abend über Potsdam ist kein Bild versonnener Innerlichkeit“, so betont es Anna-Carola Krausse, „sondern eine grüblerische Innenschau, ein beinahe schon in Lethargie verfallenes Innehalten.“37 Man kann dem Abend über Potsdam durchaus etwas Vorausschauendes andeuten. Als Lotte Laserstein 1937 dieses neben weiteren 57 Werken in einer Ausstellung in Stockholm präsentierte, schrieb ein Kritiker: „Die Stimmung, die aus dem zur Zeit in der Galerie Moderne gezeigten Werk der deutschen Malerin Lotte Lazerstein [sic] spricht, ist […] eine stille Resignation. Es liegt etwas von der Stimmungsmelancholie der Jahrhundertwende in ihren Bildern, eine Melancholie, die durch die Ereignisse der letzten Jahre vielleicht noch verstärkt wurde.“38 Ein weiterer Kritiker empfand den Abend über Potsdam ebenso bedrückend und „sorgenschwer“. Interessanterweise hatte Lotte Laserstein dieses Werk in der Stockholmer Ausstellung unter dem Titel Mina Vänner (zu Deutsch: Meine Freunde) ausgestellt, was durchaus als Reminiszenz an das in Deutschland Zurückgelassene gedeutet werden kann. Lotte Laserstein bekam die Veränderungen, die mit der Machtübernahme Adolf Hitlers einhergingen, unmittelbar zu spüren. Nach Maßgabe der „Nürnberger Gesetze“ wurde sie zur „Dreivierteljüdin“ erklärt und erhielt bereits ab 1933 Ausstellungsverbot. Ihre seit 1929 bestehende Mitgliedschaft im Vorstand 37 Krausse, Lotte Laserstein (Katalog) (wie Anm. 34), S. 169. 38 Krausse, Lotte Laserstein (Katalog) (wie Anm. 34), S. 217.



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des Vereins der Berliner Künstlerinnen wurde ihr gekündigt. Und aufgrund ihrer Nichtmitgliedschaft in der Reichskulturkammer hatte sie keinen Anspruch auf den Erwerb von Künstlerbedarf wie Pinsel, Leinwand oder Ölfarbe. Ihre seit 1927 betriebene private Malschule, zunächst in ihrem Berliner Atelier in der Friedrichsruher dann in der Nachod- und schließlich in der Jenaer Straße, musste sie 1935 aufgeben. Um den Broterwerb und die künstlerische Anerkennung gebracht, blieb ihr als einziger Ausweg die Emigration. Die Chance dazu erhielt sie 1937 durch die eben erwähnte Ausstellung im Dezember in Stockholm. Sie nutzte die Einladung samt befristetem Einreisevisum, um Deutschland endgültig zu verlassen. Valeska Gert und Gabriele Tergit teilten das gleiche Schicksal. Von den Nazis als „Jüdinnen“ gekennzeichnet und im Falle Lasersteins und Gerts als „entartet“ diffamiert, verließen alle drei Deutschland zwischen 1933 (Gabriele Tergit) und 1938 (Laserstein 1937, Valeska Gert 1934/1938), da sie unmittelbar nach 1933 mit Ausstellung-, Schreib- und Auftrittsverbot belegt wurden. Tergit emigrierte über Prag und Palästina nach England, wo sie sich in London niederließ. Valeska Gert fand über Frankreich und Großbritannien Zuflucht in New York, Lotte Laserstein fand in Schweden eine neue Heimat, auch wenn sie ihrer Freundin Traute Rose kurz nach Kriegende schrieb: Schweden ist schön, […] die Menschen freundlich, aber bei allem Mitgefühl doch unberührt. Niemand kann es voll mitfühlen und selbst ich, was weiß ich! So bleibt hier bei aller Freundschaft und allen herzlichen Beziehungen immer eine Kluft. Aber dieselbe Kluft wird mich trennen – und noch weiter – von denen, die es dort [in Deutschland] erlebt haben. Das ist das Schicksal von uns Emigranten.39

Lotte Laserstein wollte nie wieder nach Deutschland zurückkehren, zu tief waren die Wunden, die die Jahre zwischen 1933 und 1945 bei ihr hinterlassen hatten. Valeska Gert hielt es ihm Gegensatz zu der Malerin nicht aus in der Emigration, zu sehr vermisste sie ihre Heimatstadt Berlin und das Großstadtleben vor 1933. Nachdem sie 1947 die USA Richtung Schweiz verlassen hatte, konnte sie jedoch erst 1949 in die in vier Sektoren geteilte Heimatstadt zurückkehren. Nicht allein aufgrund der Trümmerlandschaft war Berlin alles andere als der Ort, den sie 1938 verlassen hatte. Das intellektuelle Flair, die Unbeschwertheit und der Metropolencharakter, die allesamt bis Anfang der 1930er Jahre dort geherrscht hatten, schienen unwiederbringlich verloren. Trotz mehrerer Versuche in Berlin wieder Fuß zu fassen, zog sich Valeska Gert nach Kampen auf Sylt zurück, wo sich alsbald die westdeutsche Schickeria in ihrem Lokal Ziegenstall um sie scharte.

39 Brief Lotte Laserstein an Traute Rose vom 29.6.1946. Laserstein-Nachlass im Archiv der Berlinischen Galerie.

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Gabriele Tergit reiste nach dem Krieg immer wieder nach Deutschland, den Gedanken, sich dort wieder niederzulassen, verwarf sie allerdings. Von London aus koordinierte sie über fast drei Jahrzehnte die Belange des P.E.N.-Clubs deutschsprachiger Autoren [und Autorinnen] im Ausland. Dafür erhielt sie – ebenso wie Valeska Gert – für ihre ,Verdienste für Deutschland‘ das Bundesverdienstkreuz. Lotte Laserstein wurde diese ,Ehre‘ nicht zuteil. Allerdings wurde sie ebenso wie Valeska Gert und Gabriele Tergit im Zuge des Zusammenwachsens von West- und Ostberlin bei den Benennungen neuer Straßen bedacht.40 Ob diese dafür sorgen, diese für ihre Zeit so modernen und gestaltenden Frauen in eine kollektive Erinnerung zu rücken, bleibt allerdings fraglich.

40 Seit 1998 ziert der Name der Käsebier-Autorin eine Promenade am Potsdamer Platz, unweit des ehemaligen „Zeitungsviertels“ und damit der Wirkungsstätte Gabriele Tergits. Zwischen Ostbahnhof und Warschauer Straße im Bezirk Friedrichshain säumt seit 2006 die Valeska-GertStraße ein Parkplatzgelände der Mercedes-Arena. Am Bahnhof Südkreuz im Bezirk TempelhofSchöneberg wurde 2007 eine kurze Zufahrt zum Parkhaus nach Lotte Laserstein benannt.

Ines Sonder

Bauen für ein neues Land Die Architektin Lotte Cohn zwischen Berlin und Erez Israel Als Theodor Herzl den künftigen Baumeistern der „jüdischen Renaissance“1 in Palästina in seiner 1902 erschienenen Romanutopie Altneuland ein kleines literarisches Denkmal setzte, konnte er sich trotz aller utopischen Phantasie wohl kaum vorstellen, dass zu ihnen auch Frauen gehören könnten. Der Zionistenführer war mit dieser Ansicht keineswegs allein, denn wer konnte sich am Beginn des 20. Jahrhunderts überhaupt vorstellen, sich von einer Frau ein Haus bauen zu lassen? Lotte Cohn war gerade neun Jahre alt, als Herzls Romanutopie in ihrem zionistisch gesinnten Berliner Elternhaus eifrig gelesen wurde. Noch ahnte niemand, dass sie einmal – im Herzl’schen Sinne – die „erste Baumeisterin der jüdischen Renaissance in Palästina“ sein würde. Bislang war Frauen die Zulassung an Universitäten und Technischen Hochschulen in Deutschland nur als „Hörer“ beziehungsweise „Hospitant“ gestattet, und sie durften auch keinen Abschluss oder ein Diplom erwerben. Erst 1905 genehmigte Bayern als erstes deutsches Land die Zulassung von Frauen als „ordentliche“ Studierende an der Technischen Hochschule München. Vier Jahre später folgte Preußen als letztes deutsches Land, wo im April 1909 weibliche Studierende ihren männlichen Kommilitonen formal gleichgestellt wurden.2 Als Lotte Cohn sich drei Jahre später, im Sommersemester 1912, an der Technischen Hochschule Charlottenburg, der Vorgängereinrichtung der Technischen Universität Berlin, immatrikulierte, war sie die vierte „ordentlich“ eingeschriebene Studentin im Architekturfach – nach Elisabeth von Knobelsdorff (1877– 1959), Margarete Wettke (1887–1919) und ihrer jüdischen Kommilitonin Marie Frommer (1890–1976). Von zionistischen Idealen geprägt, wurde sie im Mai 1912 als erstes weibliches Mitglied in den Verband Jüdischer Studenten an der Technischen Hochschule Charlottenburg (gegr. 1900) aufgenommen.3 Über ihre Studienwahl in einem männlich dominierten Fachgebiet schrieb sie später: 1 Der Begriff wurde zuerst von Martin Buber geprägt. Vgl. Buber, Martin: Jüdische Renaissance. In: Ost und West. Heft 1 (Januar 1901). Sp. 7–10. 2 Vgl. Duden, Barbara, Hans Ebert: Anfänge des Frauenstudiums an der Technischen Hochschule Berlin. In: Reinhard Rürup (Hrsg.): Wissenschaft und Gesellschaft. Beiträge zur Geschichte der Technischen Universität Berlin 1879–1979. Band 1. Berlin/Heidelberg/New York 1979. S. 403– 423; Schlüter, Anne: Pionierinnen, Feministinnen, Karrierefrauen? Zur Geschichte des Frauenstudiums in Deutschland. Pfaffenweiler 1992. 3 Vgl. Der Jüdische Student. 9. Jg., Heft 2 (20. Mai 1912). S. 65.

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 Ines Sonder

Ich kann nicht mehr rekonstruieren, wie ich zur Architektur kam. Ich wurde in das Chaos der Berufswahl geschleudert, + bin, so glaube ich immer noch, auf die Füße gefallen. Daß ich mir für meine Wahl (ich bin von niemandem + von keinem Präzedenzfall darauf hingelenkt worden, ich bin eine der ersten Architektinnen der Welt) eine praktische Begründung zurecht gelegt habe, kam nebenbei oder sogar hinterdrein. Ja, ich hatte bestimmte Voraussetzungen in meiner Veranlagung, ich war eine gute Mathematikerin + eine gute, sogar leidenschaftliche Zeichnerin, + ich redete mir – + anderen – ein, daß das eine ausreichend gute Grundlage für diesen Beruf sein würde.4

Nach vierjähriger Studienzeit erwarb Lotte Cohn im Dezember 1916 ihr Diplom an der Technischen Hochschule Charlottenburg. Sie war die dritte Absolventin im Architekturfach nach Elisabeth von Knobelsdorff und Marie Frommer. Lotte Cohn, geboren am 28. August 1893 in Charlottenburg bei Berlin, war das siebte und jüngste Kind des jüdischen Arztes Dr. Bernhard Cohn (1841–1901) und seiner Frau Cäcilie (1854–1935), geb. Sabersky. Der Vater war der Verfasser der Mahnschrift Vor dem Sturm. Ernste Mahnworte an die deutschen Juden (1896), die er als Ergebnis einer antisemitischen Verleumdungskampagne gegen sich als Arzt verfasst hatte. Diese Erfahrung ließ die gesamte Familie schon früh zu Anhängern Theodor Herzls werden. Einer ihrer Brüder war der bekannte zionistische Rabbiner und Dramatiker Emil Bernhard (1881–1948)5; ihre älteste Schwester Helene Cohn (1882–1966) hatte 1910 mit Gleichgesinnten den Jüdischen Frauenbund für Turnen und Sport (IFFTUS) gegründet.6 Über ihren Weg zum Zionismus schrieb Lotte Cohn später: Im Grunde genommen könnte ich nicht sagen, wie ich Zionistin geworden bin; ich bin sozusagen in den Zionismus hineingeboren. Mein Elternhaus war betont jüdisch, wenn auch keineswegs traditionsgebunden. Ich habe nie etwas anderes gehört, als daß ich Jüdin bin, und daß jeder stolz darauf sei, Jude zu sein. […] Auch mein Kinderdasein wurde beeindruckt, denn gelegentlich hatte ich Teil an dem Leben der sehr viel älteren Geschwister, und wenn ich auch den temperamentvollen Auseinandersetzungen und brennenden zionistischen Diskussionen keineswegs folgen konnte, so ist mir die Atmosphäre noch heute sehr lebendig im Gedächtnis.7

Wie ihre älteren Geschwister war Lotte Cohn bereits im Jugendalter Mitglied zionistischer Vereine und Sportverbände. Mit Gleichgesinnten las sie moderne 4 Zitiert in: Sonder, Ines: Lotte Cohn – Baumeisterin des Landes Israel. Eine Biographie. Berlin 2010. S. 28. 5 Horner, Deborah: Emil Bernhard Cohn. Rabbi, Playwright and Poet. Berlin 2009. 6 Sonder, Ines: Frauen turnen für Zion. Vor 100 Jahren wurde in Berlin der Jüdische Frauenbund für Turnen und Sport gegründet. Eine biographische Spurensuche. In: DAVID. Jüdische Kulturzeitschrift Österreichs. 22. Jg., Heft 87 (Dezember 2010). S. 52–54. 7 Zitiert in: Sonder, Lotte Cohn (wie Anm. 4), S. 23.



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hebräische Literatur und man lernte gemeinsam Hebräisch. Ihre zionistische Prägung hatte auch ihre Berufswahl mitbestimmt. Schon als 16-Jährige hatte ihr der Wunsch vor Augen gestanden, als Architektin aktiv am Aufbau des „Judenlandes“ in Palästina mitzuwirken. Über ihre Studienzeit schrieb sie später: Die Hochschule war ein alter verstaubter Kasten von Bauwerk, schon damals ganz unmodern – und so war auch die Lehrmethode. Die Wände der Zeichensäle waren vollbehängt mit Gipsmodellen aller Säulenordnungen, Kapitäle, Architrave und Karniese, Zeichnungen von Schattenkonstruktionen in farbigen Darstellungen deutlich gemacht. Sie hingen dort wahrscheinlich schon einige Jahrzehnte. Wir lachten über diese Art Lehrmaterial, aber es blieb uns nichts übrig, als fleißig mitzuzeichnen – viel Nützliches haben wir dabei nicht gelernt, und wenn wir einen Begriff von ›Architektur‹ bekommen wollten, so mußten wir es anderswo herholen, aus Zeitschriften oder aus dem Studium der guten Bauten, die wir vor Augen hatten. Denn die gab es ja auch in Berlin, noch bevor Corbusier bis dort hingelangt war.8

Nach Beendigung ihres Studiums, mitten im Ersten Weltkrieg, ging Lotte Cohn zunächst für drei Jahre nach Ostpreußen, um hier am Wiederaufbau kriegszerstörter Städte und Gemeinden mitzuwirken. Nach ihrer Rückkehr nach Berlin arbeitete sie für einige Zeit im Büro des zionistischen Architekten Richard Michel (*1889), wo sie an ersten Projekten für Erez Israel beteiligt war und erstmals die Bekannt­schaft mit den baulichen Bedürfnissen des Orients machte. Seit 1919 stand sie als einzige Frau unter zwölf gelisteten Architekten im Verzeichnis derjenigen Ingenieure, welche bereit sind nach Palästina zu gehen9, neben Alexander Baerwald, Richard Michel, Arthur Korn, Erich Mendelsohn, Richard Kauffmann und anderen. Im August 1921, im Alter von 28 Jahren, wanderte sie schließlich als eine der ersten deutschsprachigen Einwanderer der Dritten Alijah10 in das damalige Mandatsgebiet Palästina ein und war damit zugleich die erste graduierte Architektin im Lande Israel.11 Lotte Cohn war eine Pionierin: als Architektin und als Zionistin. Ihr Leben gehört zu den außergewöhnlichen Frauenbiographien des 20. Jahrhunderts, das jedoch – ebenso wie ihr Werk – erst einer Wiederentdeckung bedurfte. In 8 Sonder, Lotte Cohn (wie Anm. 4), S. 38. 9 Vgl. Central Zionist Archives L3/608. 10 Alija (hebr.): Einwanderung ins Land Israel; wörtlich: Aufstieg. Bis zur Gründung des Staates Israel wird in fünf Einwanderungswellen unterschieden: die Erste Alija 1882–1903, die Zweite Alija 1904–1914, die Dritte Alija 1919–1923, die Vierte Alija 1924–1928, die Fünfte Alija 1929–1939. 11 Vgl. Sonder, Ines: „Das wollten wir. Ein neues Land …“ Deutsche Zionistinnen als Pionierinnen in Palästina, 1897–1933. In: MEDAON – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung. 8. Jg., Nr. 14 (2014). S. 1–14, online unter http://www.medaon.de/pdf/MEDAON_14_Sonder. pdf (8.10.2015).

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Deutschland war ihr Name vor allem als eines der ersten weiblichen Mitglieder im Architekten- und Ingenieur-Verein zu Berlin bekannt. Da hier keine Bauten entstanden waren, blieb ihr weiterer Lebensweg aufgrund ihres Weggangs aus Deutschland zunächst fragmentarisch.12 In Israel waren Zeitgenossen vor allem ihre Bauten der landwirtschaft­lichen Mädchenschule im Moschav Nahalal und die einst berühmte „Pension Käte Dan“ am Strand von Tel Aviv ein Begriff. Erst als sich eine deutsch-israelische Forschergemeinde seit den 1980er Jahren mit den deutsch-jüdischen Wurzeln der israelischen Baugeschichte zu befassen begann, stieß man wieder auf ihren Namen.13 Eine späte Anerkennung ihres Lebenswerkes durch eine jüngere Generation von Architekturstudenten, Fachkollegen und Historikern, wie sie beispielsweise die „Doyenne der österreichischen Architektur“, Margarete Schütte-Lihotzky (1897–2000)14, die Erfinderin der Frankfurter Küche, mit zahlreichen Ehrendoktorwürden und Medaillen erfahren hatte, war Lotte Cohn, der „Doyenne der israelischen Architektur“, zu Lebzeiten nicht vergönnt. Dennoch: Als sie am 7. April 1983 in ihrem 90. Lebensjahr in Tel Aviv verstarb, wurde sie in den Tageszeitungen Ha’aretz und der Jerusalem Post als „One of the Builders of Israel“ gewürdigt.15 Lotte Cohn hat wie kaum eine zweite Vertreterin ihrer Genera­tion der ersten Architektinnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts fast ein halbes Jahr­hundert lang die Bauge­schichte ihres Landes, Erez Israel, aktiv mitgeschrieben. Zunächst als Erste Assistentin des aus Frankfurt am Main stammenden Architekten und Stadtplaners Richard Kauffmann (1887–1958) in Jerusalem (1921–1927); bis sie 1932 als erste Frau in Palästina ihr eigenes Architekturbüro in Tel Aviv eröffnete, das sie bis 1967 betrieb, teilweise in Kooperation mit dem aus Wien gebürtigen Bauingenieur Josef Mahrer (1901–1983) und seit 1953 mit dem ebenfalls aus Berlin gebürtigen Jehuda Lavie (1910–1998, eigentlich Ernst Loevisohn). Dabei war sie 12 Vgl. Architektinnenhistorie. Zur Geschichte der Architektinnen und Designerinnen im 20. Jahrhundert. Eine erste Zusammenstellung. Berlin 1987; Stratigakos, Despina Maria: Skirts and Scaffolding: Women Architects, Gender, and Design in Wilhelmine Germany. (PhD thesis). Bryn Mawr 1999; Maasberg, Ute u. Regina Prinz: Die Neuen kommen. Weibliche Avantgarde in der Architektur der zwanziger Jahre. Hamburg 2004; Dörhöfer, Kerstin: Pionierinnen in der Architektur. Eine Baugeschichte der Moderne. Tübingen/Berlin 2004. 13 Vgl. Schüler des Bauhauses, der TH Charlottenburg, der Akademie der Künste und ihre Einflüsse auf die Architektur und Stadtplanung in Israel, Berlin-Charlottenburg 1980; Warhaftig, Myra: Sie legten den Grundstein. Leben und Wirken deutschsprachiger jüdischer Architekten in Palästina, 1918–1948. Tübingen 1996; Deutsche jüdische Architekten vor und nach 1933: Das Lexikon mit über 500 Biographien. Berlin 2005. 14 Vgl. Schütte-Lihotzky, Margarete: Warum ich Architektin wurde. Salzburg 2004. 15 Vgl. Todesanzeige „One of the Builders of Israel“. In: Jerusalem Post (19.4.1983); Lavie, Yehuda u. Josef Bruck: „Zur Erinnerung an Lotte Cohn, Architektin“ [hebr.], undat. Zeitungsausschnitt. Privatbesitz Josef Bruck.



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an einem überaus breiten Spektrum von Bauaufgaben und Projekten beteiligt gewesen: von der Grundlegung neuartiger Siedlungsstrukturen für die landwirtschaftlichen Genossen­schaftssiedlungen des Kibbuz16 und des Moschav17 sowie den ersten jüdischen Gartenvororten18 der 1920er Jahre über die sogenannten Mittelstandssiedlungen der 1930er Jahre für die deutsch-jüdischen Immigranten der Fünften Alijah nach Hitlers Machtergreifung bis hin zu den sozialen Wohnsiedlungen (Shikunim) im Zuge der Massenein­wande­rung nach der Staats­gründung Israels. Des Weiteren die Mitwirkung an zahlreichen Wettbewerben, Planungen für Typenhäuser, Wohn- und öffentliche Bauten, Stadtbereichsplanung, Inneneinrichtung, Möbeldesign und Grabentwürfe.19 Eine Auswahl ihrer bekanntesten Projekte: 1925 plante sie die schon erwähnten Wohnbauten der landwirtschaftlichen Mädchenschule im ersten Moschav Ovdim in Nahalal (Haus Aleph 1925/Haus Beth 1935) im Auftrag der Women’s International Zionist Organization (WIZO), die bis heute eine Inkunabel der zionistischen Baugeschichte sind und seit 2004 unter Denkmalschutz stehen. 1926 entwarf sie das erste Kinderhaus in dem von deutschen und tschechischen Einwanderern gegründeten Kibbuz Chefzibah; es war das erste funktionsgerechte Kinderhaus in einem Kibbuz überhaupt. 1928 beteiligte sie sich an dem Wettbewerb für das Gebäude der nationalen Insti­tutionen in Jerusalem, das die Abteilungen der Zionistischen Organisation, des Keren Kajemeth Le’israel und des Keren Hajessod in einem Haus beherbergen sollte. Es war die erste große landesweite Ausschreibung, bei der nur im Lande lebende jüdische Architekten zugelassen waren. Lotte Cohn und ihre Kollegin Gertrud Goldschmidt waren die einzigen Frauen im Wettbewerb.20 1929 entwarf sie das Mobiliar der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek auf dem Skopusberg in Jerusalem.21

16 Kibbuz (hebr.): Ländliche Kollektivsiedlung auf der Grundlage genossenschaftlichen Eigentums und basisdemokratischer Strukturen, ohne Privateigentum der Mitglieder. 17 Moschav (hebr.): Ländliche Kollektivsiedlung auf der Grundlage privatwirtschaftlicher Produktion der landwirtschaftlichen und handwerklichen Erzeugnisse und genossenschaftlichem Einkauf und Absatz der Produkte. 18 Vgl. Sonder, Ines: Gartenstädte für Erez Israel. Zionistische Stadtplanungsvisionen von Theodor Herzl bis Richard Kauffmann. Hildesheim, Zürich, New York 2005. 19 Vgl. Sonder, Ines: Lotte Cohn. Pioneer Woman Architect in Israel. Catalogue of Buildings and Projects. Bauhaus Center Tel Aviv. Tel Aviv 2009. 20 Das Gebäude wurde in den Jahren 1928–1936 nach den Entwürfen Eugen Ratners an der Ecke King George und Keren Kajemet Straße in Jerusalem errichtet. 21 Vgl. The David Wolffsohn House of the Jewish National and University Library. Jerusalem 1930.

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1932 errichtete sie für ihre ebenfalls aus Berlin gebürtige Freundin Käte Dan (1890–1978) die gleichnamige Pension an der Hayarkon Straße 97 in Tel Aviv, die – obgleich in den 1950er Jahren abgerissen – als die Wiege der heute renommierten israelischen Hotelkette DAN gilt.22 In den 1930er Jahren plante Lotte Cohn auch zahlreiche Wohnbauten für Privatpersonen, darunter ein Doppelhaus in der Rambam Straße 51/53 (zerstört) im Jerusalemer Stadtteil Rechavia für den Religionshistoriker und Kabbala-Forscher Gershom Scholem (1897–1983) und den Direktor der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek, Hugo Bergmann (1883–1975). Gershom Scholem, den Lotte Cohn seit ihren Berliner Jugendtagen kannte, wohnte nach der Scheidung von seiner ersten Frau Escha, geb. Burchhardt, von 1936 bis zu seinem Lebensende ebenfalls in einem von ihr geplanten Haus in Rechavia, in dem auch ihre beiden Schwestern Helene und Rosa lebten. Durch Gershom Scholem wurde dieses Haus in der Abarbanel Straße 28 zu einer kulturhistorischen Adresse.23 Die Liste der Besucher liest sich wie das who is who des ehemaligen Jischuvs und späteren Staates Israel: Samuel Joseph Agnon, Martin Buber, Jehuda Leib Magnes, Else Lasker-Schüler, Salman Schasar, David Ben-Gurion, Berl Kaznelson, Mosche Smoira und viele andere gaben sich hier die Klinke in die Hand. Und auch in den Adressbüchern später bekannter Zeitgenossen von Walter Benjamin bis Hannah Arendt war die Abarbanel Straße 28 eine wohlbekannte Anschrift.24 Zu erwähnen ist auch das Wohn- und Geschäftshaus Shimon Binyan, das Lotte Cohn 1935 in der Tel Aviver Allenby Straße 56 errichtete. Es befindet sich heute auf dem Areal der 2003 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärten „White City“ von Tel Aviv und wird in verschiedenen Veröffentlichungen zum Internationalen Stil in Tel Aviv dokumentiert.25

22 Vgl. Sonder, Ines: Pension Kaete Dan – Ein verschwundenes Wahrzeichen von Tel Aviv. In: Mitteilungsblatt der Vereinigung der Juden aus Mitteleuropa, 74. Jg., Nr. 207 (März 2006). Tel Aviv. S. 6f.; dies.: Pension Kaete Dan – The History of the Hotels starts here. In: The Dan Magazine. Tel Aviv Spring/Summer 2008. S. 6–11 [Hebräisch/Englisch]. 23 Vgl. Scholem, Gershom: Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen. Erweiterte Fassung. Aus dem Hebräischen von Michael Brocke und Andrea Schatz. Frankfurt am Main 1994; Sonder, Ines: Der Weise aus der Abarbanel Straße 28. In: Yakinton. Mitteilungsblatt der Vereinigung der Israelis mitteleuropäischer Herkunft, 74. Jg., Nr. 211 (August 2006). Tel Aviv. S. 6f. 24 Vgl. Walter Benjamin – Das Adressbuch des Exils 1933–1940 („... wie überall hin die Leute verstreut sind ...“). Herausgegeben und kommentiert von Christine Fischer-Defoy. Leipzig 2007; Hannah Arendt – Das private Adressbuch 1951–1975 („Mir ist, als müsste ich mich selbst suchen gehen.“). Herausgegeben und kommentiert von Christine Fischer-Defoy. Leipzig 2007. 25 Vgl. Cohen, Nahoum: Bauhaus Tel Aviv. An Architectural Guide. London 2003; MetzgerSzmuk, Nitza: Dwelling on the Dunes. Tel Aviv. Modern Movement and Bauhaus Ideals. Tel Aviv 2004.



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Von einigen Ausnahmen der Anfangsjahre abgesehen lassen sich Lotte Cohns Bauten mehrheitlich der Architektur des Neuen Bauens beziehungsweise dem Internationalen Stil zurechnen, den man in Israel „Bauhaus-Stil“ nennt.26 Sie wird daher gern zu den Bauhausarchitekten gezählt, obgleich sie ihren Studienabschluss bereits drei Jahre vor der Gründung der Kunstschule machte. Ungeachtet ihrer noch recht „verstaubten“ Ausbildung, wie sie sie selbst bezeichnet hatte, ist sie schon in den 1920er Jahren maßgeblich vom Neuen Bauen beeinflusst. Die ersten jüdischen Architekten in Palästina haben sich durch Zeitschriften und während ihrer Aufenthalte in Europa intensiv mit den modernen Strömungen in der Architektur auseinandergesetzt und versucht, sie an die regionalen und klimatischen Bedingungen zu adaptieren. Vor allem in den 1930er Jahren zeigen Lotte Cohns Bauten deutlich die Handschrift der Moderne. Was für Theodor Herzl an der Schwelle zum 20. Jahrhundert noch nicht einmal als utopischer Gedanke vorstellbar war, hatte sich in den nächsten Jahrzehnten als professionelle und architek­tonische Realität manifestiert: Frauen bauen! Als Architekturpionierin im Lande Israel hatte Lotte Cohn schon nach wenigen Jahren die Auf­merksamkeit ihrer Zeitgenossen auf sich gezogen und fand sogar Eingang in die Literatur. So kann man in der kritischen Ausgabe des erstmals 1937 erschienenen Romans Das Hebräerland der bekannten deutschjüdischen Dichterin Else Lasker-Schüler die Huldigung lesen: „Lotte Cohn ehrt man und lobt man als Baumeisterin in ganz Palästina.“27

26 Levin, Michael: White City. International Style Architecture in Israel. A Portrait of an Era. Tel Aviv Museum 1984. S. 9. 27 Lasker-Schüler, Else: Werke und Briefe. Bd. 5: Prosa. Das Hebräerland. Bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki und Itta Shedletzky. Frankfurt am Main 2002. S. 229.

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„Ich bin eine Dichterin, ja, das weiß ich.“ Zum Selbstverständnis von Nelly Sachs, Gertrud Kolmar und Edith Anderson Wie meine Mutter es ist und meine Großeltern es waren, bin ich Potsdamerin. Und schon als Kind schrieb ich gerne Postkarten. Manchmal bekam ich auch Antwort. Ich erinnere mich besonders an einen Brief von meinem Großvater, der sonst eigentlich nie schrieb. Er rüffelte mich, denn ich hatte meine Karte an ihn falsch adressiert. Die Straße, in der er wohne, heiße nicht Hebel, sondern Hebbel, denn sie sei nicht nach dem Werkzeug, sondern nach einem Dichter benannt!* Ich hatte vorher nicht darüber nachgedacht, warum die Hebbelstraße – für mich ein Synonym für Kachelofenwärme und gutes Essen – so heißt, wie sie heißt. Erst die belehrenden Worte meines Großvaters wiesen mich darauf hin, dass Straßennamen oft geliehene Namen sind. Namen, die an jemanden erinnern sollen. Heute denke ich, dass Straßennamen die wohl unauffälligsten Denkmäler in unserer Erinnerungskultur sind. Vielleicht sogar die nachhaltigsten. In Potsdam gibt es ca. 680 Straßen, etwa 50 davon sind nach Schriftstellern benannt, acht von ihnen nach weiblichen. Zwei haben wiederum einen jüdischen Familienhintergrund: Nelly Sachs und Gertrud Kolmar. Ob die beiden je durch Potsdam spaziert sind? Ich weiß es nicht. Die Straßen, die nach ihnen benannt wurden, befinden sich in einem Stadtteil, den es noch gar nicht gab, als sie lebten.1 Edith Anderson lebte wie Sachs und Kolmar in Berlin, die Straßen von Potsdam kannte sie – vom Einkaufen. Das dichterische Werk der beiden anderen war ihr ganz sicher auch vertraut, denn Anderson arbeitete als Gutachterin für den Aufbau-Verlag, dessen Cheflektor bis 1958 ihr Mann Max Schroeder war. Hier erschienen die ersten Gedichtbände von Nelly Sachs und Mitte der 1960er auch ein Auswahlband von Gertrud Kolmar. Mit Blick also auf ein Potsdamer Neubaugebiet ist die Richtung meiner Ausführungen angedeutet: Angekommen im 20. Jahrhundert, soll es um Lebens- und Arbeitsbedingungen von Schriftstellerinnen jüdischer Herkunft und deren Selbstverständnis gehen. * Ich widme diesen Beitrag meinem Großvater Hans-Joachim Powilleit (1919–1985), nicht nur, weil es für die Selbstemanzipation von Frauen hilfreich ist, wenn Partner, Väter und Großväter ihre Part­nerinnen, Töchter und Enkelinnen selbstlos unterstützen und ihre Leistungen anerkennen. 1 Beide Straßen befinden sich im von 1993 bis 1998 erbauten Potsdamer Neubauviertel Kirch­ steigfeld, wo, auf Initiative der Stadtverordneten Gisela Opitz, alle Straßen nach Frauen benannt wurden.

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Ein Zimmer für sich allein Als Virginia Woolf 1929 über „die Voraussetzungen [...] für die Schaffung von Kunstwerken“2 nachdachte, stellte sie fest, „eine Frau muß Geld haben und ein Zimmer für sich allein, wenn sie [...] schreiben will.“3 Dieser Forderung hat sie einen ganzen Essay gewidmet. A room for one’s own – ein Text, der immer noch wegen seiner rhetorischen Brillanz und seiner literarhistorischen Aufklärungsarbeit die Lektüre lohnt. Sie erinnert darin zuweilen nicht ohne Sarkasmus an die Unmündigkeit, in der Frauen gehalten wurden, an die selbstverständliche Misogynie, die Frauen die Fähigkeit zum Denken und Dichten rundherum absprach, weshalb ihnen u.a. der Zutritt zu Bibliotheken verwehrt wurde. Das Recht auf ein Universitätsstudium, um auch daran noch einmal zu erinnern, ist für Frauen kaum 100 Jahre alt. Und bis Ende der 1960er Jahre durften in der Bundesrepublik Frauen nur mit Zustimmung des Vaters oder des Ehemannes ein eigenes Konto eröffnen. So grundsätzlich Virginia Woolfs Forderungen angesichts dieser Lebenswirklichkeit auch klingen, der noch unsere Mütter und Großmütter zum Teil ausgesetzt waren und die absurd weit weg scheint, so großbürgerlich wirken sie auch. Welche Familie konnte es sich damals schon leisten, private Arbeitsräume zur Verfügung zu stellen? Nun, es geht Woolf wohl vor allem um Prinzipien, das der Selbstbestimmtheit und das des Respekts. Dichten ist Arbeit, sie braucht einen Platz, eben einen Raum für sich. Das ist eine Mindestvoraussetzung zum Schreiben, egal für wen. Dieser Raum sollte sich für die Straßennamengeberinnen Nelly Sachs und Gertrud Kolmar zunehmend verkleinern. Beide hatten nicht nur am gleichen Tag Geburtstag und sind heute vor allem als Lyrikerinnen bekannt, sie teilten auch das Glück, in ihren frühen Jahren über reichlich Platz zum Entfalten zu verfügen. Geboren im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in Berlin,4 stammten sie aus großbürgerlichem Hause. Der Vater von Nelly Sachs besaß eine Gummifabrik, während Gertrud Kolmar, die eigentlich Gertrud Chodziesner hieß, Tochter eines erfolgreichen Rechtsanwaltes war. Das ermöglichte vieles, genug Raum für jeden und Bildung zum Beispiel. Nelly Sachs und Gertrud Kolmar besuchten beide eine Höhere Mädchenschule, neben musischer Bildung erhielten sie aber vor allem Unterweisung in Hauswirtschaftslehre. Weder Sachs noch Kolmar haben je geheiratet oder Kinder bekommen. Und beide zerbrachen fast an den Moralvorstellungen ihrer Zeit. Gertrud Kolmar musste ein Kind abtreiben lassen, als sie knapp 20jährig 2 Virginia Woolf: Ein Zimmer für sich allein. Frankfurt/M. 2000. S. 31. 3 Woolf, Ein Zimmer (wie Anm. 2), S. 8. 4 Nelly Sachs wurde am 10. Dezember 1891 geboren, Gertrud Kolmar am 10. Dezember 1894.



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unehelich schwanger wurde. Nelly Sachs’ Vater unterband vermutlich eine Beziehung der Tochter zu einem geschiedenen Mann. Über die genauen Umstände hat Nelly Sachs nie gesprochen, nur, dass sie „zwei Jahre zwischen Leben und Tod“5 schwebte, weil sie sich weigerte zu essen. Von Gertrud Kolmar ist bekannt, dass sie einen Selbstmordversuch unternahm. Keine außergewöhnlichen Schicksale also soweit. Auch wenn die nachgeborene Feministin über so viel ‚typisch‘ weibliches Rollenverhalten die Stirn runzeln will. Aber wo waren sie denn schon, die Vorbilder, die anderen Lebensmöglichkeiten für Frauen, die auch nur ein wenig außerhalb der Norm zu leben versuchten?6 1916 hatte Gertrud Kolmar ein Sprachlehrerinnendiplom erworben. In den kommenden zehn Jahren war sie in verschiedenen Anstellungen als Erzieherin und am Ende des Ersten Weltkrieges als Briefzensorin tätig.7 Nelly Sachs hingegen lebte zurückgezogen und gesundheitlich immer noch angeschlagen weiterhin im Elternhaus. Ab Ende der 1920er Jahre mussten sich beide um die Pflege ihrer Eltern kümmern, Nelly Sachs um die ihres krebskranken Vaters, Gertrud Kolmar betreute ihre kranke Mutter. 1930 starb sowohl der Vater der einen wie die Mutter der anderen. Die Hausfrauenpflichten waren damit nicht beendet, Gertrud Kolmar wurde die Sekretärin ihres Vater, Nelly Sachs die Betreuerin ihrer Mutter. Lange bevor sie von diesen ‚typisch‘ weiblichen Pflichten vereinnahmt wurden, hatten beide ihre Berufung längst im Schreiben gefunden. 1917 erschien der erste Gedichtband Gertrud Kolmars,8 1921 Legenden und Erzählungen von Nelly Sachs.9 Ab Ende der 1920er Jahre publizierten beide zunehmend ihre Gedichte in Anthologien und literarischen Zeitschriften (Kolmar)10 oder der Tagespresse (Sachs).11 Trotz der nicht geringen Last der Pflege der Eltern und obwohl beide 5 Sachs in einem Gespräch mit Walter Berendsohn, zit. nach Fritsch-Vivié, Gabriele: Nelly Sachs. Reinbek 1993. S. 37. 6 Ein Vorbild ist nachweislich Else Lasker-Schüler, zumindest für Gertrud Kolmar. 7 Dazu Fetscher, Justus: An den Rändern der Reiche. Zeitgeschichte im Werk Gertrud Kolmars. In: Brüche und Umbrüche: Frauen, Literatur und soziale Bewegungen. Hrsg. v. Margrid Bircken, Marianne Lüdecke u. Helmut Peitsch. Potsdam 2010. S. 287–310 sowie Regina Nörtemanns Nachwort in: Kolmar, Gertrud: Das lyrische Werk. Bd. 3: Anhang und Kommentar. Göttingen 2010. S. 325–395. 8 Kolmar, Gertrud: Gedichte. Berlin 1917, nachgedruckt in dies.: Das lyrische Werk: Frühe Gedichte. Göttingen 2003, 2. Aufl. 2010. 9 Sachs, Nelly: Legenden und Erzählungen. Berlin-Wilmersdorf 1921, später wollte Nelly Sachs diese Texte nicht in ihre Werke aufgenommen wissen. 10 Zu den „Veröffentlichungen zu Lebzeiten“ siehe den editorischen Bericht in Kolmar, Lyrisches Werk (wie Anm. 7), S. 58–64. 11 Gedichte von Sachs erschienen vereinzelt in der Vossischen Zeitung (1929) und im Berliner Tageblatt (1932).

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kaum am öffentlichen literarischen (Kaffeehaus-)Leben Berlins teilnahmen, bahnten sich hier unübersehbar zwei Dichterinnenkarrieren an, zwei Auswege. Aber die Zeiten änderten sich. Der zweite Gedichtband von Gertrud Kolmar konnte 1934 noch erscheinen, der dritte wurde 1938 noch gedruckt, nach dem Novemberpogrom musste der Verlag jedoch seine Arbeit einstellen, die Auflage wurde verramscht. Nelly Sachs konnte einige ihrer Gedichte nur noch in jüdischen Zeitungen veröffentlichten. Die den beiden zur Verfügung stehende publizistische Öffentlichkeit verringerte sich in ihrem Radius, weil sie sich nur noch an Menschen richten konnten, die ihr Schicksal als zunächst benachteiligte, marginalisierte, dann verfolgte Minderheit teilten. So klein die Gruppe der möglichen zeitgenössischen Adressaten auch geworden war, so heterogen war sie auch. Zwar wird immer wieder darauf hingewiesen, dass ein großer Teil der deutschen Juden erst durch die rassistischen Stigmatisierungen ein Bewusstsein ihrer jüdischen Identität ausbildete. Diese These verdeckt, dass es über den Begriff des Jüdischen oder der jüdischen Identität unter denen, die nun als jüdisch galten, sehr wohl divergierende Ansichten gab. Die zionistisch ausgerichtete Jüdische Rundschau vertrat andere Auffassungen, als die liberal-jüdische Zeitung des Centralvereins, um nur zwei jüdische Zeitungen zu nennen, die in dieser Zeit erscheinen durften.12 Nelly Sachs und Gertrud Kolmar nahmen wenigsten indirekt an den Debatten teil, die in diesen Kreisen lebhaft geführt wurden. Durch ihre Auftritte im Jüdischen Kulturbund, wo ihre Gedichte, Prosatexte oder auch kleineren Theaterstücke vorgetragen wurden – zuletzt am 4. Mai 1940 –, waren beide, die sich auch kannten, zumindest im Umfeld dieser „todgeweihte[n] Schar“13 als Dichterinnen bekannt.14

12 Vgl. hierzu Fritsche-Vivié, Sachs (wie Anm. 5), S. 70. 13 Über „die kleine schon todgeweihte Schar“ und ihre Sorge um das Überleben ihrer Mitglieder schrieb Nelly Sachs an Kurt Pinthus in einem Brief vom 12.11.1946 in Briefe der Nelly Sachs. Hrsg. v. Ruht Dinesen u. Helmut Müssener. Frankfurt/M. 1985. S. 71–72, hier: S. 71. 14 Vgl. hierzu das Kapitel „eine todgeweihte Schar“ in Fioretos, Aris: Flucht und Verwandlung. Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/Stockholm. Eine Bildbiographie. Berlin 2010. S. 86–88. Zu der positiven Resonanz, die Kolmar erfuhr, vgl. die editorische Notiz in Kolmar, Lyrisches Werk (wie Anm. 7), S. 64.



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Handwerk statt Kunst Vor wohlmeinender paternalistischer Kritik hat sie das nicht bewahrt. Mit den Kennzeichen „Versüßlichung“15 und „wesensgemäß mütterlich“16 wurden die Arbeiten von Nelly Sachs begutachtet, beides Attribute, die als Synonyme für ‚künstlerisch nicht besonders wertvoll‘ gelesen werden können. Auch Kolmars Dichtungen wurde „kokette Kindlichkeit“ attestiert, die „zuweilen noch unreif wirkende, im Gedanklichen und Sprachlichen schwer verständliche Art“17 ihrer Lyrik neige „zu kunstgewerbliche[n] Spielereien“.18 Beide Frauen haben auf diese Kritik an ihrem Frühwerk verschieden reagiert. Nelly Sachs wandte sich später radikal von ihren frühen Arbeiten ab; sie sollten nach ihrem Willen nicht nur nicht wieder veröffentlicht, sondern nicht einmal bibliografisch nachgewiesen werden.19 Gertrud Kolmar wiederum war sehr daran gelegen, ihre Arbeiten für die Nachwelt zu sichern.20 Die Reichspogromnacht im November 1938 bedeutete für beide Autorinnen eine Zäsur. Die Familie Chodziesner wurde umgehend gezwungen, ihr Haus in Finkenkrug, einem Villenviertel bei Falkensee, zu verkaufen und in eine Etagenwohnung in Berlin, in ein sogenanntes Judenhaus zu ziehen. In die Wohnung werden in den nächsten Monaten immer mehr Menschen eingewiesen, so dass Vater und Tochter am Ende noch anderthalb Zimmer bleiben. Ab 1941 musste Gertrud Kolmar Zwangsarbeit leisten. Sie dichtet dennoch weiter, „meist morgens während des Aufstehns und Anziehns und bei der Untergrundbahnfahrt; das 15 Vgl. Jüdische Rundschau, 6.4.1937, zit. nach Fioretis, Flucht und Verwandlung (wie Anm. 14), S. 86. 16 Vgl. Jüdische Rundschau, 24.6.1938, zit. nach Fioretis, Flucht und Verwandlung (wie Anm. 14), S. 87. 17 So Julius Bab im Jüdischen Nachrichtenblatt, 12.2.1939. Gleichwohl war die Rezension hym­ nisch. Umfassend zur Rezeptionsgeschichte des Werkes von Kolmar siehe: Jäger, Gudrun: Ger­ trud Kolmar. Publikations- und Rezeptionsgeschichte. Frankfurt/M. 1998, vgl. das Bab-Zitat ebd. S. 115. 18 Vgl. Jüdische Rundschau, 6.4.37, zit. nach Jäger, Gertrud Kolmar (wie Anm. 17), S. 109. 19 Woran sich auch der Herausgeber der Werkausgabe hielt, vgl. Fioretos, Aris: Nachwort. In: Nelly Sachs: Werke. Bd. 1: Gedichte 1940–1950. Berlin 2010. S. 197–227, hier: S. 205. 20 Vgl. Brief von Gertrud Kolmar an Hilde Wenzel vom 26.3.1939 in Kolmar, Gertrud: Briefe. Hrsg. v. Johanna Woltmann. Göttingen 1997. S. 29–31. Kolmar bittet die Schwester, einige Werke von ihr in Verwahrung zu nehmen, „da ich nicht weiß, was das Schicksal mit mir vorhat“. Am 12.8.1940 bittet sie die Schwester, einen Buchstaben in dem Gedicht Barsori zu ändern: „Sonst gibt es noch einige hundert Jahre nach meinem Tode einen großen Gelehrtenstreit darüber, ob die genannte Stelle in dem ‚Schweizer Manuskript‘ oder in der nur noch in Bruchstücken vorhandenen ‚Berliner Abschrift‘ Gültigkeit fordern könne“, rechtfertigt sie etwas ironisch ihre Bitte, vgl. ebd., S. 69.

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Hinkritzeln auf einen Zettel erfolgt in der Frühstückspause“.21 1939 müssen auch Nelly Sachs und ihre Mutter ihre Wohnung verlassen und in eine Pension ziehen. Sowohl Nelly Sachs wie auch Gertrud Kolmar erkennen den Ernst der Lage und bemühen sich um Ausreise. Nelly Sachs erhält zeitgleich mit der Einberufung zum Arbeitsdienst im Mai 1940 endlich die Einreiseerlaubnis nach Schweden. Gertrud Kolmar gelingt die Emigration nicht. Sie entscheidet sich zunächst, gegen das Drängen ihrer Geschwister, beim Vater zu bleiben. Schließlich war sie die einzige unverheiratete unter den Geschwistern. Es entsprach ihren und wohl auch den Moralvorstellungen ihrer Umwelt, dass sie sich um den alten Vater zu kümmern habe. Spätere Versuche, nach Palästina auszuwandern – sie erlernte prophylaktisch die hebräische Sprache und übte sich sogar als Lyrikerin in dem fremden Idiom –, scheiterten. Damit enden die äußeren Parallelen in den Lebensläufen der beiden Dichterinnen. Die eine überlebt die von den Nationalsozialisten angestrebte Vernichtung der europäischen Juden, die andere nicht. Gleichwohl ist die Schoa für das literarische Selbstverständnis, wie für die entstandenen Werke beider und für deren Rezeption entscheidend.

Die Hellsichtige – Gertrud Kolmar Nachdem zunächst die Entscheidung gefallen war, die Auswanderung nicht voranzutreiben, sondern in Berlin zu bleiben, schrieb Kolmar in den Wintermonaten 1939/40 ihre Erzählung Susanna, die beginnt: Ich bin keine Dichterin, nein. Wenn ich eine Dichterin wäre, würde ich eine Geschichte schreiben. Eine schöne Erzählung würde ich schreiben mit Anfang und Ende aus dem, was ich weiß. Aber das kann ich nicht. Ich bin keine Künstlerin. Nur eine alte Erzieherin mit grauendem Scheitel, zermürbter Stirn und Tränensäcken unter den müden Augen […].22

Die Selbstdarstellung der Erzählerin als von Erinnerungen überwältigte und dennoch wortlos Wartende wird von der Geschichte selbst konterkariert, die von Liebe, Willkür, Moral und Enge in einem jüdischen Milieu erzählt. Jüdische Tra21 Brief von Gertrud Kolmar an Hilde Wenzel vom 5.3.1942. In: Kolmar, Briefe (wie Anm. 20), S. 115–117, hier: S. 116. Die letzte so entstandene Erzählung gilt als verschollen. 22 Brändle, Rainer: Gertrud Kolmars Erzählung „Susanna“. In: Kerstin Schoor: Zwischen Rassenhass und Identitätssuche. Deutsch-jüdische literarische Kultur im nationalsozialistischen Deutschland. Göttingen 2010. S. 305–314. Brändle weist darauf hin, dass das Manuskript der Erzählung datiert ist auf 29.12.1939 bis 13.2.1940.



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dition oder Identität werden keineswegs verklärt. Ohne Beschönigung des jüdischen Lebens erzählt Susanna darüber hinaus – durch die Rahmenhandlung – davon, dass diese Welt, diese Menschen vernichtet werden. Es ist der Koffer der Erzieherin, der auf ein Affidavit, auf die Flucht hofft, nicht mehr sie selbst. Die Versuchung ist groß, die Erzählerin mit der Autorin, die in den 1920er Jahren tatsächlich als Erzieherin gearbeitet hat, zu identifizieren. Dann klänge der zitierte erste Satz von Susanna nach Resignation, nach ‚typisch‘ weiblichem Understatement. Tatsächlich hatte Gertrud Kolmar eine Neigung, sich in der Öffentlichkeit als „einen ganz einfachen ‚unliterarischen‘ Menschen“23 zu präsentieren, dessen „dichterische Tätigkeit“ selbst im größeren Familienkreis nicht thematisiert wurde.24 Im kleineren Familienkreis, etwa in den Briefen an die Schwester Hilde, die ihr eine enge Vertraute war, ist von dieser Zurückhaltung jedoch nur wenig zu spüren. Ohne Relativierung schreibt sie da: „[I]ch bin eine Dichterin, ja, das weiß ich; aber eine Schriftstellerin möchte ich niemals sein.“25 Nichts weniger als das. Eine Dichterin. Keine Schriftstellerin. Keine, für die Schreiben Broterwerb ist, sondern Lebenssinn. Und die „auch ohne Kritiker [weiß], was ich als Dichterin wert bin, was ich kann und was ich nicht kann“.26 Spätestens seit der kritischen Gesamtausgabe ihrer Lyrik27 ist Gertrud Kolmar tatsächlich als eine der „bedeutendsten jüdischen Lyrikerinnen seit der Else Lasker-Schüler“ – wie es die Marginalisierte 1938 als Vision formulierte28 – anerkannt. Und wie das Werk der 25 Jahre Älteren ist auch Kolmars Schreiben „von der Thematik über die Motivik und Lexik bis zur Darstellungsweise – mitbestimmt [...] von ihrer Weiblichkeit“, die „ständig mitverhandelt, redefiniert, umgebildet“29 wird, was wesentlich zu der seither andauernden Rezeption beigetragen hat. Mindestens ebenso beeindruckend wie bedrückend sind aber auch Kolmars geradezu seismografische Ahnungen der Vernichtung, die sie 1933 artikuliert in dem – einmal mehr auf den Topos der wortlos Sprechenden, der schweigend

23 Gertrud Kolmar an Jacob Picard, 14.8.1938. In: Kolmar, Briefe (wie Anm. 20), S. 173. 24 Gertrud Kolmar an Jacob Picard, [26.2.1938]. In: Kolmar, Briefe (wie Anm. 20), S. 171–172, hier: S. 171. 25 Vgl. hierzu Auras, Christiane: Nachrichten aus der Zwischenwelt. Gertrud Kolmars Briefe an die Schwester Hilde (1938–1943). In: Widerstehen im Wort. Studien zu den Dichtungen Gertrud Kolmars. Hrsg. v. Karin Lorenz-Lindemann. Göttingen 1996. S. 167–181. 26 Gertrud Kolmar an Hilde Wenzel, 23.7.1941. In: Kolmar, Briefe (wie Anm. 20), S. 94–95, hier: S. 94. 27 Gertrud Kolmar: Das lyrische Werk. Hrsg. v. Regina Nörtemann. 3 Bde. Göttingen 2003, 2. Aufl. 2010. Auch von Nörtemann ediert liegt vor: Gertrud Kolmar: Dramen. Göttingen 2005. 28 Gertrud Kolmar an Hilde Wenzel, 16.10.38. In: Kolmar, Briefe (wie Anm. 20), S. 23–25 (hier: S. 24). 29 Fetscher, An den Rändern (wie Anm. 7), S. 293.

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Beredten anspielenden – Gedichtzyklus Das Wort der Stummen30: „Längst in den Schlachthof getrieben, warten sie stumm auf das Messer;/ Manchmal brüllen sie nachts und scheuen und werden erschossen“.31 Der Entstehungskontext dieses Zyklus lässt sich besonders gut nachvollziehen, da Kolmar genau datiert hat, wann die einzelnen Gedichte entstanden sind. Es ist die Zeit des Reichstagsbrandprozesses und der täglich zunehmenden Repressalien gegen politische Gegner der Nationalsozialisten.32 Beinah zeitgleich beginnt Gertrud Kolmar, sich mit der Französischen Revolution und ihren Folgen auseinanderzusetzen, insbesondere mit Robespierre, den sie als Vor-Bild imaginiert, dem sie sich anzugleichen sucht.33 Sie widmet ihm nicht nur einen Essay und einen Gedichtzyklus, sondern plant noch 1942 dessen Biographie zu schreiben, so als wollte sie über so grundsätzliche Fragen wie die der gesellschaftlichen Gerechtigkeit auf einer Ebene nachdenken, die Gestaltungsmöglichkeiten erwägbar macht, während sich in der realen Welt der Bewegungsspielraum für deutsche Juden immer mehr verengte.

Die Überlebende – Nelly Sachs Nelly Sachs hat Gertrud Kolmar, die nach der berüchtigten ‚Fabrikaktion‘ 1943 deportiert und vermutlich in Auschwitz umgebracht wurde, „Die Hellsichtige“ genannt.34 Sie selbst hatte sich angesichts des Novemberpogroms, das jede Hoffnung erstickte, durch Unauffälligkeit zu entkommen, zum Kofferpacken entschlossen, vor allem, wie sie später versicherte, um ihre Mutter zu retten. Dank intensiver Hilfe von Freundinnen in Schweden gelingt im Mai 1940 in buchstäblich letzter Minute die Flucht, der Gestellungsbefehl in ein Arbeitslager, wie es euphemistisch hieß, lag schon vor. 30 Auf die Doppeldeutigkeit des Wortes, das sowohl als Plural wie als weiblicher Singular gelesen werden kann, hat zuerst Marion Brandt hingewiesen, vgl. Brandt, Marion: Schweigen ist ein Ort der Antwort. Eine Analyse des Gedichtzyklus „Das Wort der Stummen“ von Gertrud Kolmar. Berlin 1993. S. 153. 31 Gertrud Kolmar: Die Gefangenen. In: dies.: Gedichte. Frankfurt/M. 1983. S. 161–162. 32 Vgl. hierzu das Nachwort von Regina Nörtemann in: Kolmar, Das lyrische Werk (wie Anm. 7), bes. S. 354–374. Nörtemann analysiert als Quellen dieser Gedichte die Tagespresse. 33 Gertrud Kolmar: Bildnis Robespierres [geschrieben 1933]. In: Kolmar, Gedichte (wie Anm. 31), S. 168–169. 34 Die Hellsichtige [G.C.] // Du sahst die Gedanken kreisend gehen / Wie Bilder um ein Haupt. / Der Luft hast du geglaubt, / Darin die Sterne auferstehn. // Und hattest nicht den Blindenstar / Der altgewordnen Zeit. / Wo für uns noch der Abend war, / Sahst du schon Ewigkeit. In: Sachs, Nelly: Werke. Bd. I: Gedichte 1940–1950. Hrsg. v. Matthias Weichelt. Frankfurt/M. 2010. S. 159.



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Mutter und Tochter, die ein wohlhabendes Leben gewöhnt waren, kommen in sehr bescheidenen Verhältnissen unter. Am Anfang ist es ein Raum, den sie gemeinsam bewohnen, ab 1948 immerhin ein Zimmer und eine Küche. Nelly Sachs wird bis zu ihrem Tod in dieser Wohnung wohnen bleiben. Sie richtet sich – solange ihre Mutter lebt – in der Küche ein, wo sie auch schläft und wo sie ihre Manuskripte im Küchenschrank aufbewahrt. Einen eigentlichen Schreibtisch hat sie nie besessen. Alle Gedichte, für die sie berühmt werden sollte, entstehen hier. Nicht in den Morgenstunden, wie bei Gertrud Kolmar, sondern „in den Nächten viele Jahre ohne Schlaf und immer wieder hineingeworfen in ein ‚Außerhalb‘“35. Wenn die Mutter, deren Pflege sich Nelly Sachs bis zu deren Tod widmet, schläft, versucht sie, die Nachrichten aus Deutschland zu verarbeiten. Von den Deportationen und den Zuständen in den Vernichtungslagern erfährt sie detailliert am Ende des Jahres 1942. Dieses Wissen ändert nicht nur die Themen, denen sie sich dichterisch widmet, sondern auch die lyrische Sprache so radikal, dass ihr alles davor Geschriebene belanglos und nicht des Aufhebens wert erscheint. Für die, die nicht einmal mehr in ihrem letzten Zustand, im Tod, einen Ort, ein Grab haben, verfasst sie 1943 – als die Krematorien in den Vernichtungslagern noch in Betrieb sind – Grabschriften in die Luft geschrieben.36 Sie habe „eigentlich jede Nacht den Tod neu gelernt“, schreibt Sachs. Das Erfahrene „zwang mir immer im Angesicht der Leidenden die Worte auf, die dann später meine Gedichte und dramatischen Versuche hießen“.37: „[I]ch habe sie niedergeschrieben, wie die Nacht sie mir gereicht hat“.38 Sachs will hinter ihr Werk zurücktreten und sich als Autorin ausgelöscht sehen.39 Diesen oft bemühten Topos, der künstlerisches Schaffen gleichsam entindividualisiert wie überhöht als göttliches Werk,40 geschaffen durch ein Medium, radikalisiert Nelly Sachs mit Bescheidenheit. Ähnlich wie Kolmar, ja fast mit den gleichen Worten, schreibt sie noch Ende der 1950er Jahre: „bin ja niemals eine Dichterin gewesen“. Nur „wenn das Atmen schwer wurde“, begann sie „dann und 35 Brief von Nelly Sachs an Margit Abenius vom 17.3.1958. In: Sachs, Briefe (wie Anm. 13), S. 188–190, hier: S. 189. 36 Der Zyklus besteht aus 20 Epitaphen, von denen 13 in dem Gedichtband Nelly Sachs: In den Wohnungen des Todes. Berlin 1947 veröffentlicht wurden. 37 Brief von Nelly Sachs an Margit Abenius vom 17.3.1958 (wie Anm. 35). 38 Brief von Nelly Sachs an Walter A. Berendsohn vom 12.9.1944. In: Sachs, Briefe (wie Anm. 13), S. 40–42, hier: S. 41. 39 „[I]ch aber will, daß man mich gänzlich ausschaltet – nur eine Stimme, ein Seufzer für die, die lauschen wollen.“ In: Sachs, Briefe (wie Anm. 13), S. 217–218, hier: S. 217. 40 In einer Rezension von In den Wohnungen des Todes heißt es in der Fuldaer Volkszeitung vom 2.8.1947: „Gott selber muß der Verfasserin den Griffel geführt haben auf daß sie Zeugnis ablege für ihr Volk“, zit. nach Fritsch-Vivié, Sachs (wie Anm. 5), S. 90.

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wann einige Zettel zu bekritzeln“41. An die Freundin Elisabeth Borchers wiederholt sie diese Selbstcharakterisierung: „Ich selbst bin kein literarischer Mensch [...] Ja eigentlich bin ich eine richtige Hausfrau. Niemals eine Dichterin. So fremd dieser Ausdruck.“42 So deutlich wie Kolmar, die dieser Selbstinszenierung im Vertrauten widerspricht und sie damit als Anpassung an weibliche Normvorstellung erkennen lässt, hinter der sich ein verheimlichtes Selbstbewusstsein verbirgt, wird Nelly Sachs nie. Oder nur indirekt. Etwa, wenn sie in einer Anlage zu einem Wiedergutmachungsantrag für den „Schaden am beruflichen Fortkommen“ 1956 über „meine Dichtungen“ schreibt und Leo Hirsch zitiert, der ihr „eine große Zukunft als deutsche Lyrikerin prophezeite“.43 Tatsächlich war Schreiben für Nelly Sachs das Lebenselixier, das ihr schon in der Pubertät das Leben rettete, als sie aus Liebeskummer nicht mehr essen wollte. Einen anderen Beruf hat sie nie gelernt. Um nun im Exil für sich und die pflegebedürftige Mutter den Unterhalt aufbringen zu können, beginnt sie, schwedische Lyrik der Moderne ins Deutsche zu übertragen.44 In der Funktion der Übersetzerin dient Nelly Sachs als Stimme anderer, eine Stimme in fremder Zunge. Im Falle ihres eigenen lyrischen Schaffens verselbständigt sich allerdings die Strategie, sich als Nicht-Autorin des eigenen Werkes auszugeben derart, dass die Dichterin auch dort als Stimme anderer wahrgenommen wird. Als „Stimme von Millionen Ermordeter“.45 „Denn das Leiden, dem Nelly Sachs Wort und Stimme gibt, ist kein Thema, das man sich nimmt; dieses Leiden nimmt sich den Menschen, um in ihm selber Wort und Stimme zu werden“, fasst Werner Weber in seiner Laudatio für die Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1965 diesen Vorgang zusammen.46 Auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung setzt sich die These durch, dass Nelly Sachs „erstmalig das eigene Verstummen durchbrechen [kann], indem sie die Differenz zwischen den erlauschten, imaginierten Stimmen der Toten und der eigenen lyrischen Stimme aufzuheben

41 Brief von Nelly Sachs an Margit Abenius vom 17.3.1958 (wie Anm. 35). 42 Brief von Nelly Sachs an Elisabeth Borchers 15.9.1959. In: Sachs, Briefe (wie Anm. 13), S. 230– 232, hier: S. 231. 43 Die Anlage findet sich abgedruckt in Fioretos, Flucht und Verwandlung (wie Anm. 14), S. 79. 44 In der Übersetzung von Sachs erschienen drei Anthologien und Gedichtbände von Erik Lindegren, Gunnar Ekelöf, Johannes Edfelt und Karl Vennberg. 45 So in der Rezension der Kasseler Zeitschrift Karussell, August 1947, zit. nach Fritsch-Vivié, Sachs (wie Anm. 5), S. 90. 46 Weber, Werner : Laudatio. In: Friedenspreis des deutschen Buchhandels. 1965 Nelly Sachs. Frankfurt/M. [1965]. S. 3, im Internet einsehbar unter http://www.friedenspreis-des-deutschenbuchhandels.de/sixcms/media.php/1290/1965_sachs.pdf (25.9.2015).



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sucht. [...] Ihr Opferdiskurs setzt ein als Versuch der Stellvertretung.“47 Als hätte es keine Genese des lyrischen Schreibens bei Nelly Sachs gegeben, wird auf das „unausweichliche Paradox“ hingewiesen: „Durch die Vernichtung wurde Sachs als Dichterin geboren.“48 Nicht nur schwingt in einer solchen Argumentation immer auch ein latenter Vorwurf mit – die Überlebende kleide sich in das Schicksal der Getöteten –, es wird auch nicht über die Funktion eines solchen StellvertreterInnenstatus’ nachgedacht, der die Autorin zu einer ,Botschafterin Israels‘49 macht, deren Werk „ohne Widerspruch Deutsches und Jüdisches“ „versöhnt“.50 Auch wenn Nelly Sachs sich selbst als Stimme stilisiert, die „die blutigen Fußspuren Israels aus dem Sand sammeln“ will, um sie „der Menschheit auf[zu]weisen“,51 geschieht dies nicht zuvorderst um der Versöhnung willen, sondern aus Trauer. Ihre Grabschriften gehören zu den frühesten künstlerischen Zeugnissen, die das Wissen um die Schoa zu verarbeiten suchen. Es sind Klagelieder, die da spricht, ist eine Überlebende, ein autarkes Subjekt und nicht ein Medium für die Stimmen Toter. Und auch da, wo Sachs in die Rollen Sterbender schlüpft, ist es erkennbar die Dichterin, die den brutalen Mord durch Beschreiben anklagen will. Die Stimmen, von denen Nelly Sachs indes zunehmend besessen war, die sich ihr aufdrängten, sie bedrängten und nicht in Ruhe ließen, waren keineswegs die der Opfer, sondern die der Täter. Die Gerettete erlitt mehrere Schübe pathologischen Verfolgungswahns, der sie in den 1960er Jahren wiederholt in die Psychiatrie brachte. Ihr erster Lyrikband erschien 1947 im Berliner Aufbau-Verlag und wurde sehr wohlwollend aufgenommen.52 Ihr zweiter, 1949 veröffentlichter Gedichtband Sternverdunkelung53 wurde dann kaum noch gekauft, die Auflage eingestampft. Erst Ende der 1950er Jahre wurde sie allmählich in der Bundesrepublik wieder zur Kenntnis genommen. Da hatte sie schon längst die schwedische Staatsbürgerschaft angenommen. 1966 erhielt sie den Literaturnobelpreis, vier Jahre später

47 Lehmann, Annette Jael: Nelly Sachs. Fahrt ins Staublose (1961). In: Meisterwerke. Deutschsprachige Autorinnen im 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Claudia Benthien u. Inge Stephan. Köln 2005. S. 317–336, hier: S. 319. 48 Fioretos, Flucht und Verwandlung (wie Anm. 14), S. 144. 49 Vgl. Dinesen, Ruth: Nelly Sachs. Eine Biographie. Frankfurt/M. 1992. S. 347. 50 Wie es in der Verleihungsurkunde des Friedenspreises 1965 heißt, vgl. http://www. friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/445722/?aid=537568 (25.9.2015). 51 Brief von Nelly Sachs an Carl Selig, 1.10.1946. In: Sachs, Briefe (wie Anm. 13), S. 67–68. 52 Sachs, Wohnungen (wie Anm. 36). 53 Sachs, Nelly: Sternverdunkelung: Gedichte. Amsterdam 1949.

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stirbt sie mit 78 Jahren. Eine kritische Werkausgabe von Nelly Sachs liegt in der Bundesrepublik erst seit 2010 vor.54

Die Übersehene – Edith Anderson „Potsdam liegt in der DDR [...]. Man kann dort, ich weiß nicht warum, oft besser einkaufen als in Berlin.“55 Edith Anderson, aufgewachsen in New York, reiste 1967 in ihre Heimatstadt, wo sie einer Bekannten von dem Land erzählt, in dem sie seit 20 Jahren lebt. Eine Straße ist in Potsdam nicht nach ihr benannt. In einschlägigen Literaturlexika taucht sie kaum auf. Edith Anderson ist eine Übersehene der Literaturgeschichte. Ihr Werk ist es nicht. Es wird nur kaum mit ihrem Namen verbunden. Sie selbst hat dazu nicht unwesentlich beigetragen. In ihrer in ihrem letzten Lebensjahr 1999 erschienenen Autobiographie spricht sie von ihren eigenen Arbeiten nur am Rande, obwohl der Untertitel von Liebe im Exil56 Erinnerungen einer amerikanischen Schriftstellerin an das Leben im Berlin der Nachkriegszeit wie selbstverständlich Schreiben als ihren Beruf markiert. Aber: „Meine Schriftstellerei verkümmerte zu einem mehr oder minder vernachlässigten Hobby, aber sie war nie viel mehr gewesen“.57 Edith Anderson wurde Ende 1915, zehn Tage nach dem Geburtstag von Kolmar und Sachs, geboren, in dem Jahr also, als Gertrud Kolmar merkte, dass sie ein Kind erwartete, das sie nicht austragen dürfen würde. Die Nachgeborene hat die Gedichte der Ermordeten gekannt. In Der Beobachter sieht nichts, eben

54 Sachs, Nelly: Werke. Kommentierte Ausgabe in 4 Bänden. Hrsg. v. Aris Fioretos. Frankfurt/M. 2010. 55 Edith Anderson: Der Beobachter sieht nichts. Ein Tagebuch zweier Welten. Berlin 1976. S. 308. 56 Anderson, Edith: Love in Exile. An American Writer’s Memoir of Life in Divided Berlin. South Royalton 1999. Dt: Liebe im Exil. Erinnerungen einer amerikanischen Schriftstellerin an das Leben im Berlin der Nachkriegszeit. Hrsg. v. Cornelia Schroeder. Berlin 2007. Das Buch wurde breit rezensiert, u.a. von Simone Barck: Zwischen Leben und Schreiben. Aus den USA in die DDR ausgewandert, kultivierte die Journalistin Edith Anderson einen etwas anderen Blick. Zur deutschen Ausgabe ihres Erinnerungsbandes „Liebe im Exil“. In: Freitag, 27.7.2007 sowie Zade, Lene: Eine Amerikanerin in Berlin. Edith Andersons „Liebe im Exil“ erzählt auch die Geschichte des Aufbau-Verlags. In: Jüdische Zeitung, Juli 2008. Inzwischen liegt eine fundierte Biographie vor: Klemm, Sibylle: Eine Amerikanerin in Ostberlin. Edith Anderson und der andere deutschamerikanische Kulturaustausch. Bielefeld 2015. Vgl. auch: Thein, Helen: Eine Amerikanerin in Ostberlin. In: Margrid Bircken u. Andreas Degen (Hrsg.): Reizland DDR. Deutungen und Selbstdeutungen literarischer West-Ost-Migration. Göttingen 2015. S. 73–86. 57 Anderson, Liebe im Exil (wie Anm. 56), S. 187, vgl. auch S. 366.



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jenem Tagebuch zweier Welten, in dem Anderson über ihre Reise nach New York berichtet, zitiert sie Kolmar mit dem Stoßseufzer: „Oh, ein Mann sein! Ja, ein Held!/ Jubelnd einem Los entgegen,/ Das ihn krönt, der trotzt und fällt./ Ach, was biegt statt bricht,/ Kennt das Wehren nicht,/ Nur sein Liebstes wirft es schutzlos in die Welt.“58 Zu allen anderen Personen, die sie zitiert oder porträtiert, gibt die Autorin im Glossar detaillierte bibliografische Angaben. Zu Kolmar nicht. Sie nahm wohl an, dass die LeserInnen in der DDR diese Zeilen aus dem RobespierreZyklus kannten. Eine Vermutung, die zumindest nicht ganz unbegründet ist, denn schon 1968 war ein Auswahlband mit Gedichten von Gertrud Kolmar im Aufbau-Verlag erschienen.59 Anderson leiht sich von Kolmar einen weiblichen Kommentar zum männlichen Selbstbild als Helden, das sie ähnlich wie die Lyrikerin genüsslich (in all seinen erotischen Komponenten) einerseits und ironisch ob der Selbstgefälligkeit anderseits betrachtet. Eine Frau, so der sarkastische Subtext, kann kein Held sein. In ihrem vierzehn Jahre zuvor erschienenen Roman Gelbes Licht60 hatte Anderson eine feministische Nicht-Erfolgsgeschichte erzählt, die auf ihren Erfahrungen als Eisenbahnschaffnerin in den USA beruht. Die junge Akademikerin verdingte sich in den 1940er Jahren in dem Beruf, als kriegsbedingt Frauen für diese Arbeit gebraucht wurden. Sie brachte ihnen Selbständigkeit und Prestige, etwas, was sie sofort wieder verloren, als die Männer aus dem Krieg heimkehrten. Zehn Jahre später, 1966, erschien ein schmales Bändchen mit Erzählungen, wunderbare, teilweise sarkastische kleine literarische Miniaturen.61 Die letzte Erzählung beginnt mit einem Satz, der klingt, als verwahre sich die Autorin gegen die Dichtungen von Nelly Sachs, die sie vermutlich kannte, denn auch sie erschienen im Aufbau-Verlag:62 „Sentimentale Mystiker sagen, daß die Toten in Träumen zu uns kommen“.63 Die Geschichte handelt aber nicht von der Schoa, sondern von der Mutter der Erzählerin, die als Kind aus Europa in die USA eingewandert

58 Anderson, Beobachter (wie Anm. 55), S. 174. 59 Vgl. Kolmar, Gertrud: Das Schwertlied. In: dies.: Die Kerze von Arras. Ausgewählte Gedichte. Berlin, Weimar 1968. S. 92. 60 Anderson, Edith: Gelbes Licht. Berlin 1956, 2. Aufl. 1958, 3. Aufl. 1964. 61 Anderson, Edith: Leckerbissen für Dr. Faustus. Berlin 1966. 2. Aufl. 1969, [3. Aufl.] 1980. Das Buch wurde hymnisch rezensiert von Eduard Klein: Statt einer Rezension. In: Neue deutsche Literatur 14 (1966) 12. S. 171–173. 62 Bereits 1947, in dem Jahr, als Anderson in Berlin ankam, erschien der erste Gedichtband von Sachs im Aufbau-Verlag (Sachs, Wohnungen (wie Anm. 36)) sowie im selben Verlag die von Sachs übersetzte Anthologie: Von Welle und Granit. Querschnitt durch die schwedische Lyrik des 20. Jahrhunderts. 63 Anderson, Edith: Porträt meiner Mutter. In: Anderson, Dr. Faustus (wie Anm. 61), S. 137–154, hier: S. 137.

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war. Die Familiengeschichte ähnelt der der Autorin. Beide Eltern starben nicht in den Vernichtungslagern, die Schoa hatte die Familie aus der Ferne miterlebt. Die Heimsuchung durch die toten Eltern im Traum und die dadurch ausgelösten Erinnerungsschübe sind indes ein wiederholter Erzählanlass bei Anderson. Auch ihre Autobiographie wird von solchen Träumen gerahmt.64 In dem Band ebenfalls enthalten ist die Erzählung Loretta über den subtilen, nicht nur unterschwelligen Antisemitismus im New York der 1930er Jahre. Diese Erzählung voller aber-Sätze, fängt wie ein Märchen an: „Loretta war ein junges Mädchen“, worauf folgt: „aber sie war eine Jüdin“.65 Eine, die aufwachsen muss in einer Welt, die kein gutes Wort für Juden hat und in der die Ansicht vorherrscht: „Hitler arbeitet nicht rasch genug.“66 Edith Anderson nun versuchte genau dort zu leben, wo Hitler eben noch regiert hatte. In ihrer Autobiographie erinnert sie an den Kalten Krieg und die Schicksale der Intellektuellenszene in der DDR, die sie sehr subjektiv und nicht ohne Bitterkeit schildert. Nicht zuletzt ist das Buch ein Porträt ihres Mannes Max Schroeder, der als Cheflektor den Aufbau-Verlag als einen der wichtigsten der Nachkriegszeit etablierte. Zerrieben von der Verlagsarbeit und den politischen Widersprüchen zwischen seinem Idealismus und dem Verhalten der Mächtigen, hatte sich Max Schroeder buchstäblich zu Tode gearbeitet. Die Degradierungen und Verhaftungen in seinem Freundeskreis, die er miterleben musste, konnte er seiner Frau nicht erklären. Die Ehe erstickte beinah an dieser Sprachlosigkeit – und an der Unfähigkeit Schroeders, Familienalltag und Haushaltspflichten zu teilen. „Allein eine Sache schien ihn noch an mich zu binden, meine Schriftstellerei, aber warum war ich bloß so undiszipliniert!? Er [...] hörte nie auf, sich für meine schriftstellerischen Arbeiten einzusetzen, und das mindeste, was ich seiner Meinung nach tun konnte, war, sie zu produzieren.“67 Max Schroeder hatte sich in eine Schriftstellerin verliebt. Eine Rolle, mit der Anderson haderte. Noch in New York hatte er ihr eine eigene Wohnung in Berlin versprochen. In der zerstörten Stadt konnte er, als sie 1947 endlich ankam, sein Versprechen zunächst nicht halten: „[S]o wie die Dinge [...] momentan liegen, [können wir] 64 Vgl. dazu auch die Erzählung: Die Witwe, die ihren Mann zurückerhielt. In: Anderson, Dr. Faus­tus (wie Anm. 61), S. 56–67, in der eine Witwe von einem Engel in Gestalt ihres verstorbenen Mannes heimgesucht wird. 65 Anderson, Edith: Loretta. In: Anderson, Dr. Faustus (wie Anm. 61), S. 17–27, hier: S. 17. Die Erzählung erschien zuerst in den USA, in: New Masses 64 (1947) 29 July. S. 10–13, in der Übersetzung von Max Schroeder wurde sie dann sowohl in der Zeitschrift Ost und West 3 (1949) H. 6. S. 60–65 wie auch in Kulturaufbau. Monatszeitschrift für Kunst, Literatur, Wissenschaft und Unterhaltung 1 (1950). S. 52–55 nachgedruckt. 66 Anderson: Loretta. In: Anderson, Dr. Faustus (wie Anm. 61), S. 20. 67 Anderson, Liebe im Exil (wie Anm. 56), S. 427.



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nicht mal ein Zimmer [für Dich auftreiben].“ Aber er organisierte eine Haushaltshilfe, denn er wollte vor allem eines: seiner Frau „die Chance [...] geben, schreiben zu können“.68 Nach seinem Tod 1958 entschloss sich Edith Anderson in der DDR zu bleiben und als freiberufliche Journalistin und Übersetzerin zu arbeiten. Sie übertrug nicht nur Gedichte von Brecht, sondern auch Nackt unter Wölfen, das in der DDR wohl bekannteste Buch über eine Kindheit im nationalsozialistischen KZ, ins Englische.69 Als Kolumnistin berichtete sie in den 1960er Jahren für den New Yorker National Guardian über Berlin. Als sich die Richtungsdebatten in der Zeitung verschärften, brach Anderson in ihre Heimatstadt auf, um vor Ort mit der Redaktion zu sprechen – und um dann zu kündigen. Ihre Erlebnisse verarbeitete sie in ihrem dritten Buch, das weniger ein Report ist, wie es der Buchdeckel suggeriert, als vielmehr ein Collage-Roman, der neben dem Erzählerinnenkommentar u.a. Briefe und Zeitungsartikel enthält: ein Verfahren, das von den Beatniks als Cut-Up-Technik bezeichnet und zu einer eigenen literarischen Gattung verfeinert werden sollte. 1972, nach langen Querelen mit dem Verlag, konnte das Buch endlich erscheinen, wurde umgehend von Klaus Steiniger in der Wochenzeitung Horizonte verrissen,70 lobend hervorgehoben von Alexander Abusch71 und war binnen kurzer Zeit ausverkauft. Eine zweite Auflage konnte Anderson noch durchsetzen, eine dritte nicht mehr.72 Der ursprünglich von ihr geplante zweite Teil „über den Alltag einer sozialistischen Stadt“ kam nie zustande.73 Denn da arbeitete Anderson schon längst an einem neuen Projekt. Inspiriert durch das Theaterstück Omphale von Peter Hacks, schlug sie einem Aufbau-Lektor im Sommer 1970 eine Anthologie mit Geschlechtertausch-Geschichten vor, zu einer Zeit, als Begriffe wie Trans- oder Intersexualität nur in medizinischen Kreisen bekannt waren und Geschlechtertausch-Geschichten allenfalls im Märchen und im Mythos vorkamen.74 Anderson wollte ein Gedankenspiel ins Rollen bringen, das den Stoßseufzer von Kolmar, „Oh! Ein Mann sein!“, produktiv umsetzt. Sie 68 Anderson, Liebe im Exil (wie Anm. 56), S. 88. 69 Apitz, Bruno: Naked among Wolves. [Transl. by Edith Anderson. Transl. ed.: Kay Pankey]. Berlin 1967. 70 Steiniger, Klaus: Beobachtungen mit verbundenen Augen. Zum Tagebuch einer Wanderung zwischen den Welten. In: Horizont (1973) Nr. 18. S. 26. 71 Abusch, Alexander: „Revolution der Jugend“ oder Jugend der Revolution? In: Einheit 28 (1973) H. 5. S. 562–570. 72 Zu den Kontroversen um das Buch siehe die Briefe Andersons an den Verlag, in Kopie im Nachlass von Simone Barck im Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. 73 Brief von Edith Anderson an Herrn Rogowin vom 3.12.1968, Kopie im Nachlass von Simone Barck (wie Anm. 72). 74 Virginia Woolfs Roman Orlando erschien erst 1983 in der DDR.

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bat Autoren beiderlei Geschlechts, eine Geschichte zu schreiben, in der sich ein Geschlechtertausch vollzieht. Die Reaktionen waren frappierend. Zunächst zog der Aufbau-Verlag sein Angebot zurück, eine solche Anthologie zu veröffentlichen, der Hinstorff Verlag willigte zwar ein, forderte aber, dass nur Frauen gefragt werden sollten, mit der Begründung, dass kein wirklicher Mann sich selbst als Frau imaginieren könne. Anderson, der ob dieser Vorbehalte bewusst wurde, wie brisant ihr Vorschlag war, kämpfte für ihr Projekt. Jahrelang. 1975 endlich erschien Blitz aus heiterm Himmel75 und löste umgehend eine breite Debatte über Geschlechtergerechtigkeit aus. Die erste Auflage war sofort verkauft, eine zweite sollte nicht folgen, so sehr Edith Anderson auch darum kämpfte. Die verrückten Vorstellungen waren aber nun einmal in der Welt, ihr Echo konnte nicht mehr aufgehalten werden. Noch bevor die Anthologie endlich erscheinen konnte, war ihr Nachhall im Werk von Irmtraut Morgner76 und – zumindest in der Bundesrepublik – bei Stefan Heym77 nachzulesen. Der Anthologie wird nicht nur nachgesagt, den feministischen Diskurs in der DDR bestärkt,78 sondern auch für einen Aufschwung der phantastischen Literatur gesorgt zu haben,79 und nicht zuletzt habe sie das Entstehen der sogenannten Dokumentarliteratur befördert.80 In der Bundesrepublik erschien der Band 1980 unter dem Titel Geschlechtertausch. Drei Geschichten über die Umwandlung der Verhältnisse.81 Der Untertitel deutet es bereits an, die Anthologie wurde gleichsam kastriert. Die Erzählungen der männlichen Autoren entfielen ebenso wie die Erzählung der Herausgeberin. Gestrichen ist auch das kluge und literarisch ambitionierte Nachwort 75 Blitz aus heiterm Himmel. [Hrsg. v. Edith Anderson]. Rostock 1975. Der Band enthält Erzählungen von Günter de Bruyn, Gotthold Gloger, Karl-Heinz Jacobs, Rolf Schneider, Sarah Kirsch, Christa Wolf und von Edith Anderson selbst. Das instruktive Nachwort schrieb Annemarie Auer. 76 Irmtraut Morgner verarbeitete ihre ursprünglich für die Anthologie vorgesehene Erzählung Gute Botschaft der Valeska in 73 Strophen in dies.: Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura. Berlin 1974. 77 Heym, Stefan: Heute Nacht wächst Dir was. In: Playboy (dt. Ausgabe) (1973) H. 2. S. 135–143. 78 Die literaturwissenschaftliche Diskussion zu dem Thema setzte in der DDR unmittelbar ein mit Damm, Sigrid u. Jürgen Engler: Notate des Zwiespalts und Allegorien der Vollendung. In: Weimarer Beiträge 21 (1975) H. 7. S. 37–69 und wurde immer wieder aktualisiert siehe u.a. Dölling, Irene: Frauen- und Männerbilder als Gegenstand kulturtheoretischer Forschung. In: Weimarer Beiträge 34 (1988) H. 4. S. 556–579. 79 Jacobs, Karl-Heinz: Lob der Zensur [1986]. In: Fragebogen. Zensur. Zur Literatur vor und nach dem Ende der DDR. Hrsg. v. Richard Zipser. Leipzig 1995. S. 184–200. 80 Vgl. Meyer, Carla: Vertauschte Geschlechter – verrückte Utopien. Geschlechtertausch-Phantasien in der DDR-Literatur der siebziger Jahre. Pfaffenweiler 1995. S. 2. 81 Geschlechtertausch. Drei Geschichten über die Umwandlung der Verhältnisse. Darmstadt 1980.



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von Annemarie Auer, das ersetzt wurde durch eines des Literaturwissenschaftlers Wolfgang Emmerich. Von der ursprünglichen Konzeption ist damit kaum mehr etwas übrig. Anderson, die sich standhaft geweigert hatte, ihre Idee auf ein ‚Frauenbuch‘ reduzieren zu lassen, wird auch nur noch am Rande erwähnt. Was leider auch für Teile der Sekundärliteratur gilt. Der viel zitierte Sammelband Man müsste ein Mann sein ...? Interpretationen und Kontroversen zu Geschlechtertausch-Geschichten in der Frauenliteratur82 konzentriert sich ausschließlich auf die westliche Edition der Geschichten und unterschlägt Andersons Anteil an dem Projekt durch Nicht-Thematisierung. Andersons Resümee, 20 Jahre nach Erscheinen des Bandes, klingt entsprechend bitter: „I wish I could tack on a happy ending. There is no happy ending. One must simply fight on, by whatever means come to hand.“83 Scheinbar zieht sich Anderson anschließend von der literarischen Bühne zurück. Sie arbeitet weiterhin als Übersetzerin, Hörspielautorin und Kinderbuchautorin, im Hintergrund also. Doch was dort entsteht, ist mindestens ebenso innovativ wie ihre feministischen Interventionen84 und ihre literarischen Strategien. Das Kinderbuch Der Klappwald85 etwa, das 1978 erscheint und einmal mehr ein Thema auf die Agenda setzt, das so in der DDR noch kaum in der öffentlichen Diskussion angekommen war: den Umweltschutz. Erzählt wird von einer Welt, in der es aufgrund von Smog schon lange keine Bäume mehr gibt. Ein Großvater, der sie noch kannte, bastelt für sein Enkelkind einen Wald aus Papier. Bäume waren es auch, mit denen der Künstler Jimmie Durham auf der Dokumenta 2012 Aufmerksamkeit erregte. Durham pflanzte zwei Apfelbäume, einen Korbiniansapfelbaum, in Erinnerung an den Priester Korbinian Aigner, der von 1941 bis 1945 in Dachau interniert war, und einen Arkansas Black Apple Tree, aus der Heimat von Durham, die der renommierte und gefeierte Künstler – Maler, Bildhauer, Performancekünstler, Essayist und Dichter – seit 25 Jahren nicht mehr betreten hat.86 Der Cherokee-Indianer hatte lange Jahre in den USA für die Rechte

82 Man müsste ein Mann sein ...? Interpretationen und Kontroversen zu GeschlechtertauschGeschichten in der Frauenliteratur. Hrsg. v. Bettina Hurrelmann u.a. Düsseldorf 1987. Eine sehr hervorragende Analyse des ursprünglichen Bandes ist hingegen die Dissertation von Meyer, Vertauschte Geschlechter (wie Anm. 80). 83 Anderson, Edith: Genesis and Adventures of the Anthology „Blitz aus heiterm Himmel“. In: Studies in GDR Culture and Society 4 (1984). S. 1–14, hier: S. 14. 84 Vgl. auch Anderson, Edith: Feministische Utopien. In: Sinn und Form 34 (1982) H. 2. S. 443– 455. 85 Anderson, Edith: Der Klappwald. Mit Ill. von Gerhard Lahr. Berlin 1978. 86 Siehe hierzu: Kuhn, Nicola: Und pflanzte einen Apfelbaum: Pocahontas, Jesus und die Bahn: Jimmie Durham ist der Künstler des Sommers – mit Auftritten in Kassel, Antwerpen und Berlin. In:

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der Indianer gekämpft. Als er noch nahezu unbekannt war, übersetzte und edierte Edith Anderson 1985 eine Auswahl seiner Gedichte.87 Von all dem ist in ihrer Autobiographie, die mit dem Tod des Ehemannes endet, fast nichts zu lesen. „Wir gehören zu den Handwerkern, sind ein Anachronismus in einer auf Automatisierung eingestellten Gesellschaft“, schrieb sie in ihren New York-Erinnerungen. „Was mich betrifft, so habe ich mein Leben lang unter einem Paradoxon zu leiden gehabt: Es drängt mich nur dann zum Schreiben, wenn ich keine Zeit zum Schreiben habe.“88

Schreiben als Beruf Schreiben ist nicht zuletzt ein Beruf. Auch wenn das Beamte anders sehen mögen, etwa die des Schöneberger Standesamtes, die, als Gertrud Kolmar 1951 für tot erklärt wurde, hinter ihrem bürgerlichen Namen notierten: ledig, deutsche Staatsbürgerschaft und „ohne Beruf“.89 Manchmal braucht es nur einen Stuhl und das Nötigste für die Existenzsicherung, manchmal genügen ein Zimmer und eigenes Geld nicht, um die innere Gewissheit, Schriftstellerin zu sein, in großen Werken zu artikulieren. Was es in jedem Fall braucht, ist das Gefühl, dass die Grenzen selbstgesetzte sind. Und es braucht eine literarische Öffentlichkeit, d.h. Leser und Leserinnen, die die Arbeit von Schriftstellerinnen auch da sehen und anerkennen, wo sie scheinbar namenlos vom Himmel fällt. In Hörspielen und Übersetzungen, in Editionen und in Kinderbüchern zum Beispiel. Denn das haben Kinder-Bilderbücher mit Kalendergeschichten gemein, deren volkstümlicher Parabel-Charakter bedingt, dass auch sie sich namen- bzw. autorenlos verbreiten. Was wiederum der Grund gewesen sein kann, warum mein Großvater nicht gewusst hat, dass Hebel sehr wohl auch ein Dichter war. Ich vermute, dass mein Großvater Johann Peter Hebel nicht kannte, dass der andere, der Hebbel mit Doppel-bb, der Friedrich, ihm aus seinen Kreuzworträtseln vertrauter war. Viel gelesen hat mein Großvater nie. So ist ihm wohl entgangen, dass der Kalendergeschichten-Hebel für die Gegenwart nachhaltig von Gertrud Kolmars Cousin, nämlich von Walter Benjamin wiederentdeckt wurde. Im NachDer Tagespiegel, 25.7.2012 sowie Briegleb, Till: Steine zum Anstoßen. Unbeirrbar unpathetisch: Das MHKA in Antwerpen zeigt den Cherokee Jimmie Durham. In: Süddeutsche Zeitung, 23./24.6.2012. 87 Jimmie Durham. [Ausgew. und aus d. Amerikan. übertr. von Edith Anderson]. Berlin1985 (= Poesiealbum; 209). 88 Anderson, Beobachter (wie Anm. 55), S. 47. 89 Vgl. Hahn, Ulla: Nachwort. In: Kolmar, Gedichte (wie Anm. 31), S. 173–187, hier: S. 187.



„Ich bin eine Dichterin, ja, das weiß ich.“ 

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lass meiner Großeltern fand ich eine schön illustrierte Ausgabe der Kalendergeschichten aus dem Aufbau-Verlag von 1983.90 Der Preis ist unkenntlich gemacht worden. Es muss ein Geschenk gewesen sein. Es gibt keine Widmung, doch weiß ich, dass ich meinen Großvater immer wieder mal mit einem Buch für meine jüngste Leidenschaft begeistern wollte. So kann es sein, dass ich ihm das Buch geschenkt habe, in Erinnerung an eine Postkarte aus meiner Kindheit.

90 Hebel, Johann Peter: Kalendergeschichten. Mit 32 Lithographien von Josef Jakob Dambacher. Berlin 1983.

Senka Brankovicz

Lebensklänge. Die Pianistin Ellen Epstein Der vorliegende Beitrag handelt von einer Pianistin, die heute kaum mehr bekannt ist. Sie teilt damit das Schicksal vieler jüdischer Künstlerinnen, die nach ihrer Emigration oder Deportation (und größtenteils Ermordung) aus dem hiesigen kollektiven Bewusstsein verschwanden. Ziel dieses Beitrages ist es deshalb, die Musikerin Ellen Epstein exemplarisch als eine der Künstlerinnen mit einer beachtlichen Karriere im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Erinnerung zu rufen. Wie nicht selten, so ist auch in ihrem Fall die Quellenlage recht problematisch und demzufolge steht eine ausführliche Biografie ihrer Person noch immer aus. Zunächst einige Anmerkungen zum familiären Hintergrund. Ihr Vater, Salomon Epstein, war Justizrat und spielte eine wichtige Rolle in der Jüdischen Gemeinde Kattowitz. Die Mutter, Monika Anna Epstein, geborene Grünfeld, stammte ebenso aus Kattowitz, verbrachte aber später mit ihren beiden Töchtern viele Jahre in Berlin, wo sie auch 1942, wenige Monate bevor Ellen und Margot Epstein nach Riga deportiert wurden, in ihrer gemeinsamen Wohnung starb. Die Tochter wurde 1898 in Breslau geboren. Ihre Kindheit verbrachte sie allerdings im Geburtsort ihrer Eltern. Ellen Epsteins acht Jahre ältere Schwester Ruth Margot war später als Journalistin tätig und arbeitete für unterschiedliche Zeitungen und Zeitschriften. Sie beschäftigte sich ebenfalls mit Themen aus der Musik und verfasste auch auf diesem Gebiet Rezensionen für die Tagespresse. Ganz ungewöhnlich für die damalige Zeit ist die Tatsache, dass beide Schwestern, sowohl Margot Epstein, als auch die acht Jahre jüngere Ellen, unverheiratet geblieben sind. Sie teilten sich später in Berlin-Schöneberg eine Wohnung und konzentrierten sich zur Gänze auf ihre jeweilige Karriere. Faszinierend aus heutiger Sicht ist die Unabhängigkeit der beiden Frauen, die nicht einmal in unseren Tagen ganz selbstverständlich scheint und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts geradezu gefährlich emanzipiert gewirkt haben muss. Die Epstein-Schwestern verfügten allem Anschein nach über ein ausgeprägtes Talent, zwischenmenschliche Kontakte zu knüpfen. So wissen wir, dass sich ihr Freundes- und Bekanntenkreis aus vielen wichtigen Persönlichkeiten der damaligen Künstlerkreise rekrutierte. In den Notizen eines Verwandten ist zu finden, dass beide Frauen exzellent kochten und veritable Tennisspielerinnen waren. Wenn man die unterschiedlichen Interessen und Tätigkeiten der Schwestern Epstein betrachtet, so war es für Ellen Epstein keineswegs von Anfang an klar, den Weg einer Berufsmusikerin einzuschlagen. Vielmehr schwankte sie zwischen einigen künstlerischen Richtungen und wollte zunächst Innenarchitektin werden.

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Abb. 13: Ellen Epstein [Privatbesitz]

Über ihren Studien- und beruflichen Werdegang schreibt sie selbst: Ich sollte Innenarchitektin werden. Meine Arbeiten wurden dem Maler Eugen Spiro vorgelegt. Er nahm mich in seine Malklasse auf und war wohl recht enttäuscht, als ich seine[m] Freund Arthur Schnabel vorspielte, der mich sofort als Schülerin annahm. Nach 2 1/2 Jahren Unterricht spielte ich das erste Mal mit Erfolg öffentlich in Berlin. Neben anderen Lehrern verdanke ich ganz besonders viel  Bruno Eisner. Berlin und Provinz haben mich später (Klavier-Solo, Kammermusik und mit Orchester – Berliner Sinfonie Orchester  –, auch im Rundfunk) gehört. Später bereiste ich zweimal England, London, Oxford (mit Übertragung der ,British Broadcasting Corporation‘).1

Es lässt sich Einiges aus der offensichtlich recht erfolgreichen pianistischen Kar­riere Epsteins rekonstruieren: Nachdem sie ihr Klavierstudium bei Artur Schnabel, Bruno Eisner, Egon Petri und Rudolf Maria Breithaupt, also bei den bekanntesten Klavierpädagogen der damaligen Zeit, absolviert hatte, vervollständigte sie ihre musikalische Ausbildung im Unterricht der Musiktheorie bei Paul Lendvai. Schon früh zeigte sich ihr bis zum Schluss ganz stark ausgeprägtes Interesse für die Musik der Gegenwart. Stark unter dem Eindruck der zweiten Sinfonie Stirb und Werde! von Heinz Tiessen bat sie auch ihn um Kompositionsunterricht. Parallel dazu begann nun auch das berufliche Leben der Pianistin Ellen Epstein. Im Jahr 1920 dürfte die Pianistin eine erste Tournee in Polen durchgeführt haben, über die allerdings nichts Näheres bekannt ist. Ellen Epstein lag offensichtlich besonders viel daran die Werke lebender Komponisten bekannt zu machen, am liebsten in einer Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Komponisten 1 Henck, Herbert: Ellen Epstein, eine jüdische Künstlerin aus Schlesien: Archiv der Akademie der Künste Berlin; Fritz-Wisten-Archiv, Signatur: 74/86/5093-11.



Lebensklänge. Die Pianistin Ellen Epstein 

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selbst. So ist in einem Briefwechsel zwischen ihr und Heinz Tiessen, nach einer Aufführung des Werkes Naturtrilogie Folgendes zu lesen: Was Sie mir über meine Wiedergabe Ihrer Naturtrilogie geschrieben haben, ist wirklich so liebenswürdig und unverdient gewesen, daß ich ganz beschämt bin. Es würde mir natürlich große Freude machen, noch einmal mit Ihnen über das Werk zu sprechen – schon allein um es (soweit meine Fähigkeiten reichen), ganz nach Ihrem Sinn machen zu können.2

Aber nicht nur die Musik der Gegenwart stand im Mittelpunkt des Interesses Ellen Epsteins, auch die neuen Instrumente faszinierten die junge Pianistin. Sie spielte 1932 „Elektrochord“, ein ganz neues mehrstimmiges Tasteninstrument, von Oskar Vierling erfunden. Sie äußerte sich mehr als begeistert darüber, sprach sogar von einem achten Weltwunder. Aus den noch erhaltenen Konzertbesprechungen wissen wir allerdings, dass sich Ellen Epstein mit dem klassischen Repertoire ebenfalls auseinandergesetzt hat. Nach einem Konzert in Köln, am 22. November 1924, bei dem sie unter der Leitung von Hermann Abendroth das 5. Klavierkonzert von Beethoven gespielt hat, erschien in der Zeitung Die Gegenwart folgende Kritik: In schärfstem Gegensatz hierzu erschien das Wunderwerk des Musiktitanen Ludwig van Beethoven sein unbeschreiblich schönes Klavierkonzert Es-dur, dessen Wiedergabe die höchsten Anforderungen stellt an den Klavierkünstler. Anforderungen, die in Technik und Beseelung eine völlig ausgereifte Kunst voraussetzen. Wenn Frl. Ellen Epstein, Berlin, sich mit allen Ehren ihrer schwierigen Aufgabe entledigte und den herzlichen Beifall ihrer Zuhörer gewinnen konnte, spricht das am besten für ihre pianistische Gabe und ihr Können.3 

Ellen Epstein spielte viel Klavierliteratur, musizierte offenbar aber besonders gerne in kammermusikalischen Formationen und als Liedbegleiterin. Regelmäßige Zusammenarbeit verband sie mit Max Wolfsthal, dem älteren Bruder des damals bekannten Geigers Josef Wolfsthal, ferner mit Stefan Frenkel sowie mit dem Sänger Alfred Wilde. Besonders hervorzuheben ist die Freundschaft Ellen Epsteins mit der in Deutschland geborenen englischen Komponistin Else Headlam-Morley. Die Pianistin dürfte ihren ersten Kontakt mit der Musik Headlam-Morleys der Zusammenarbeit mit dem österreichischen Dirigenten Ernst Kunwald verdanken. Der 2 Henck, Herbert: Ellen Epstein, eine jüdische Künstlerin aus Schlesien: ein Brief an Heinz Tiessen: Heinz-Tiessen-Archiv der Akademie der Künste Berlin, Signatur: Tiessen 674. 3 Henck, Herbert: Ellen Epstein, eine jüdische Künstlerin aus Schlesien: Unsignierter Artikel „Musikalische Gesellschaft“ unter der Überschrift „Kunst und Leben“. In: „Die Gegenwart. Organ für Handel, Industrie und Gewerbe. Kölner Theater- und Konzertanzeiger“. Hrsg. v. Hermann Moses. 23. Jg., Nr. 49/50. Köln 5./12. Dez. 1924.

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Dirigent schätzte Ellen Epstein und wollte das Konzertstück für Klavier und Orchester von Else Headlam-Morley in Berlin mit dem Berliner Sinfonie Orchester uraufführen. In der folgenden Abschrift wird die enthusiastische Haltung Epsteins der Verbreitung der zeitgenössischen Musik gegenüber deutlich, aber auch die überaus wichtigen gesellschaftlichen Kontakte, über die die Pianistin verfügte: Als Solistin hat Herr Dr. Kunwald Fräulein Ellen Epstein gewonnen, eine junge Dame, die seit mehreren Jahren sowohl mit dem Vortrag von klassischen, als auch modernen Werken hier grosse Erfolge bei Publikum und Presse gehabt hat, und auch mit einigen der ersten Kritiker hier sehr befreundet ist, sodaß Besuch von Seiten der Presse hier sehr zu erwarten ist. Die junge Dame ist bereit[,] das Werk ohne Honorar zu spielen[,] und hat bereits die Partitur betr[effs] Studium in Händen. Falls Sie ein[en] Klavierauszug oder einen Klavierpart besitzen, bitten wir denselben unverzüglich an die junge Dame zu senden, ihre Adresse ist Berlin-Schöneberg, Innsbruckerstr. 5. Die Partitur wird Fräulein Epstein dann im Orchesterbüro [Lützowstr. 44] hinterlegen.4

Dass die damals über sechzigjährige Komponistin bei der Uraufführung ihrer Komposition anwesend war, führte zur weiteren Zusammenarbeit der beiden Künstlerinnen. Auf diesen Kontakt sind auch die zwei Konzertreisen nach England zurückzuführen, die Ellen Epstein im Jahr 1932 und 1933 unternahm. Bei beiden Konzertreisen ist sie sowohl solistisch als auch kammermusikalisch und als Liedbegleiterin in Erscheinung getreten. Ihr Konzertkalender war dicht und sie brachte die Werke der jungen deutschen Komponisten zu Gehör, aber auch die Werke von Else Headlam-Morley. Was das Privatleben Ellen Epsteins anbelangt, ist, wie bereits angedeutet, nicht sehr viel bekannt. Die zahlreichen Männerfreundschaften, die sie pflegte, hatten in der Regel einen rein beruflichen und gesellschaftlichen Charakter. Im Zusammenhang mit der Englandreise fällt aber zum ersten Mal der Name des Arztes Dr. Felix Abraham. Abraham war von 1929 bis 1933 Leiter der sexualforensischen Abteilung [Gerichtsmedizin] am Berliner Institut für Sexualwissenschaft (1919–1933), dem weltweit ersten Institut seiner Art. Abraham war ein enger Mitarbeiter des Institutgründers Magnus Hirschfeld. Felix Abraham nahm sich Ende 1937 oder Anfang 1938 in Florenz das Leben. Mit Felix Abraham plante Ellen Epstein also ihre Reise nach England und versuchte eine Möglichkeit zu finden, für ihn Vorträge über Vererbungs- und Sexualwissenschaft an diversen Universitäten zu organisieren. Als sich Else HeadlamMorley erkundigte, ob Dr. Abraham ebenfalls zur Familie gehöre, antwortete Ellen Epstein durchaus emanzipiert: 4 Durham University Library (GB): Brief aus der Else Headlam-Morley Collection.



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Sie fragen, liebe Lady, ob Dr. Abraham mit zur Familie gehört?? Das ist keineswegs der Fall. Wir sind auch keineswegs etwa verlobt, sondern nur die allerbesten Freunde und Kameraden. Daß eine solche Freundschaft etwas sehr Schönes und Wertvolles ist, werden Sie gewiß verstehen können[.] Ebenso, daß man gerade über die schönsten Dinge nicht gerne spricht.5

Gegen das rein kameradschaftliche Verhältnis der beiden spricht der tieftraurige Ton in einem Brief an Heinz Tiessen aus England am 25. Mai 1933: „Ich bin nun doch allein in England. Ich glaube wohl, es wird eine sehr lange Trennung von Felix werden – vielleicht ist es gut so – leicht ist’s nicht!!“6 Über die zu diesem Zeitpunkt schon sehr aufgeheizte politische Situation in Berlin und Deutschland ist bis dahin der Briefkorrespondenz Epsteins noch nichts zu entnehmen. Sie geht ihren Weg, einen Weg mit einer außergewöhnlich gut laufenden pianistischen Karriere, sie unterrichtet und hat eine eigene Klasse an einem renommierten Berliner Musikkonservatorium. Mitten in dieser unwahrscheinlich fruchtbaren und bewundernswert vielseitigen Künstlerlaufbahn kam auch für Ellen Epstein, wie für viele andere jüdische Künstler dieser Generation, ein abruptes Ende, etwas, woran man wohl trotz aller Anzeichen für eine schreckliche Entwicklung nicht geglaubt hatte. Am 17. August 1935 erhielt sie, wie viele andere Künstler in diesen Tagen auch, ein Schreiben von Dr. Peter Raabe (1872–1945), seit  1935 Präsident der Reichsmusikkammer. Mit diesem Schreiben teilte er Ellen Epstein mit, dass sie geltenden Gesetzen gemäß das „Recht zur weiteren Berufsausübung auf jedem zur Zuständigkeit der Reichsmusikkammer gehörenden Gebiete […] mit sofortiger Wirkung“7 verliere. Ihr würde das Recht einer schriftlichen Beschwerde beim Präsidenten der Reichskulturkammer (Joseph Goebbels) zustehen. Nach dieser Schreckensnachricht war für Ellen Epstein jedoch noch die Möglichkeit gegeben, weiter zu unterrichten, was sich allerdings im Oktober 1936, also ein gutes Jahr später ebenfalls änderte. Zu diesem Zeitpunkt wurde ihr mitgeteilt, ihre Unterrichtserlaubnis sei nicht mehr gültig, sie werde daher gebeten ihren „Unterrichtserlaubnisschein binnen 3 Tagen zurückzugeben“8. Damit war sie zur „Ausübung einer unterrichtlichen Tätigkeit an arische Jugendliche“ „nicht mehr befugt“9. 5 Durham University Library (GB): Brief (1933) von E. Epstein an E. Headlam-Morley, Else Headlam-Morley Collection. 6 Henck, Ellen Epstein (wie Anm. 2). 7 Henck, Herbert: E. Epstein, eine jüdische Künstlerin aus Schlesien: BArch, ehem BDC, RKK, Epstein, Ellen; Bundesarchiv Berlin. 8 Henck, E. Epstein, eine jüdische Künstlerin (wie Anm. 7). 9 Henck, E. Epstein, eine jüdische Künstlerin (wie Anm. 7).

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Damit war für Ellen Epstein auf einen Schlag Schluss mit ihrer beruflichen Tätigkeit. In den kommenden Jahren finden sich weder Konzerte noch Nachweise über die Unterrichtstätigkeit der Künstlerin. Im Jahr 1938 erscheint ein Bericht über einen, wahrscheinlich letzten öffentlichen Konzertauftritt Ellen Epsteins. Dieses Konzert, an dem, der noch erhaltenen Besprechung nach, mehrere Künstler beteiligt waren, fand im Klubhaus des Jüdischen Frauenbundes in der Marburger Straße 5 in Berlin statt. Wie sich das weitere Leben Ellen Epsteins genau gestaltete, lässt sich nur in Bruchstücken rekonstruieren. Warum sie bis zum Schluss in ihrer Schöneberger Wohnung blieb, ist aus heutiger Sicht nur schwer nachzuvollziehen. Ebenfalls fehlen die Nachweise darüber, ob Ellen Epstein Versuche unternommen hat, die Stadt bzw. Deutschland zu verlassen. Ein erhaltener Brief aus dieser Zeit, adressiert an Heinz Tiessen, zeigt allerdings, in welch gefährlicher und verzweifelter Situation sich Ellen Epstein befunden haben muss: Lieber Herr Tiessen ! Sie müssen jetzt so freundlich und gut sein, die besprochene Sache spruchreif zu machen – Sie sagten doch, daß Sie es mögen, nicht wahr? oder ist es Ihnen doch peinlich? Ich wäre Ihnen für diesen großen Freundschaftsdienst herzlich dankbar. Habe E. heute bei Erdmann gesehen – die Frau begrüßt – jedoch wollte er mich nicht kennen – Sie sind also jetzt doch der letzte Rettungsanker, da mir die Hände gebunden sind. Wollen Sie so lieb sein und mir Nachricht geben, wenn Sie etwas in Erfahrung gebracht haben sollten? Es geht mir reichlich dreckig!! Herzlichst Ihre Ellen Epstein. Bitte vernichten Sie den Brief sofort!10

Welche konkrete Hilfe sich Ellen Epstein so verzweifelt von Heinz Tiessen erbat, lässt sich nicht genau erschließen. Die Tatsache, dass sie Heinz Tiessen bittet, den Brief sofort zu vernichten, deutet allerdings auf die Brisanz des Briefes sowie auf die große Aufregung und Angst hin, in der Ellen Epstein in diesen Tagen gelebt haben muss. Wie viele andere im Deutschen Reich verbliebenen Juden wurde auch Ellen Epstein zur Zwangsarbeit verpflichtet. Eingesetzt wurde sie bei der Berliner Firma Scherb und Schwer KG, ursprünglich ein jüdisches, 1940 „arisiertes“ Unternehmen für elektrotechnische Produkte in Berlin-Weissensee. Aus der Vermögens10 Henck, Ellen Epstein (wie Anm. 2).



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erklärung geht hervor, dass Ellen Epstein für ihre Arbeit 15 Mark in der Woche verdient hat. Das katastrophale Schicksal von Millionen traf auch Ellen und Margot Epstein. Sie wurden am 19. Oktober 1942 von Berlin nach Riga deportiert, wo sie drei Tage später, also unmittelbar nach ihrer Ankunft, am 22. Oktober 1942 ermordet wurden. Im Buch Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941–1945 von Alfred Gottwaldt und Diana Schulle wurde das Eintreffen des Transportes mit Ellen und Margot Epstein wie folgt beschrieben: In Riga wurden […] 81 Männer mit handwerklichen Berufen ausgesucht und anschließend den verschiedensten Arbeitskommandos, darunter einem Schlachthof, zugeteilt. Nur 17 von ihnen überlebten den Krieg. Alle anderen Insassen des Transports wurden sofort nach der Ankunft in die umliegenden Wälder gebracht und dort an Gruben ermordet.11

Am 19. Juni 2009 wurde eine Straße in Berlin-Moabit, nahe der Putlitzbrücke, von wo aus die Schwestern Epstein deportiert wurden, nach der Pianistin Ellen Epstein benannt.

11 Gottwaldt, Alfred u. Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941–1945. Eine kommentierte Chronologie. Wiesbaden 2005. S. 258.

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Verzeichnis der Autorinnen

Verzeichnis der Autorinnen

Anna-Carolin Augustin. Studium Geschichte, Jüdischen Studien und Kunstgeschichte an der Universität Potsdam und der Freien Universität Berlin. Sie ist Promotionsstipendiatin des Walther-Rathenau-Kollegs (MMZ Graduate School) mit einem Dissertationsprojekt zum Thema Berliner Kunstmatronage. Zum Sammeln, Stiften und Fördern bildender Kunst durch Frauen um 1900. Derzeit absolviert sie ein wissenschaftliches Volontariat am Jüdischen Museum Berlin. Forschungsschwerpunkte: Berliner Privatsammlungskultur um 1900; Geschlechtergeschichte; Deutsch-jüdische Geschichte um 1900; Nationalsozialistischer Kunstraub- und Restitution; Jüdische Emigration und Kulturtransfer nach Südafrika. Senka Brankovic. Studium der Musik mit Schwerpunkt Klavier in Salzburg und Wien. Als Pianistin tritt sie international auf und hat eine Reihe namhafter Wettbewerbe gewonnen. Forschungsschwerpunkt: Jüdische Musikerinnen. Jutta Dick. Studium der Germanistik und Geschichte in Köln. Von 1985 bis 1987 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Alten Synagoge Essen und von 1988 bis 1994  am Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte. Seit ist sie 1995 Geschäftsführerin anschließend Direktorin der Moses Mendelssohn Akademie Halberstadt. Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Literaturgeschichte. Annie Falk. Studium der Geschichte und Germanistik an der Columbia Universität in New York. Dissertation über die Vorstellung der jüdischen Tafel in der deutschen und deutsch-jüdischen Literatur. Seit 2012 ist sie Dozentin für Deutsch an der Concord Academy in Concord, Massachusetts. Forschungsschwerpunkte: Deutsch-jüdische Literatur und Kultur. Elke-Vera Kotowski. Studium der Politischen Wissenschaft, Literaturwissenschaft, Philosophie und Kulturwissenschaft in Duisburg und Berlin. Promotion in Jüdischen Studien. Von 1994 bis 2000 war sie als Assistentin am Lehrstuhl für Neuere Geschichte II (deutsch-jüdische Geschichte) an der Universität Potsdam tätig, seit 2000 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Moses Mendelssohn Zentrum. Von 2009 bis 2015 war sie wissenschaftliche Koordinatorin des Walther Rathenau Graduiertenkollegs. Forschungsschwerpunkte: Europäisch-jüdische Kulturund Sozialgeschichte; Erinnerungskulturen. Anna-Dorothea Ludewig. Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Buchwissenschaft und Rechtswissenschaft an den Universitäten Bonn und Mainz, Promotion 2007 an der Universität Potsdam mit einer Arbeit über Karl Emil Franzos. Von 2005 bis 2007 war sie Koordinatorin des DFG-Graduiertenkollegs MAKOM an der Universität Potsdam. Seit 2007 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Moses Mendelssohn Zentrum. Forschungsschwerpunkte: „Jüdinnenbilder“ und jüdisch-weibliche Körperbilder in Literatur und Kunst (ab 1870); Juden und Judentum in der Trivialliteratur (Detektivroman); „Marranentum“ in der Moderne; Raubkunst und Restitution. Hannah Lotte Lund. Studium der Geschichte und Literaturwissenschaft in Berlin, Oxford und Amsterdam/Rotterdam. Promotion über den Berliner Jüdischen Salon um 1800 als Ort der Emanzipation (?). Sie war u.a. wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HU Berlin und am Max Planck

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 Verzeichnis der Autorinnen

Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin. Seit 2015 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Jüdische Geschichte und Geschlechtergeschichte des 18. bis 20 Jahrhunderts; Kommunikationsgeschichte. Elke von Nieding. Nach Fachschulausbildung zur Textiltechnikerin von 1956 bis 1961 Tätigkeit in der Redaktion von Frauenzeitschriften in Hamburg und Wiesbaden. Von 1973 bis 1979 Studium an der Pädagogischen Hochschule und der Freien Universität Berlin. Zusatzstudium an der UdK Berlin. Tätigkeit als Lehrerin in Berlin mit den Fächern Deutsch, Geschichte und Arbeitslehre. Von 1998 bis 2006 Vorsitzende der Mendelssohn-Gesellschaft Berlin. Forschungsschwerpunkte: Sozialgeschichte mit Schwerpunkt Frauen; historische Textiltechniken. Ines Sonder. Studium der Kunstgeschichte und Hebraistik/Israelwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2004 Promotion an der Universität Potsdam über die zionistische Gartenstadtrezeption. Sie ist Kunst- und Architekturhistorikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Moses Mendelssohn Zentrum, Potsdam. Forschungsschwerpunkte: Kunst- und Architekturgeschichte Israels; deutsch-jüdische Kunst- und Kulturgeschichte. Helen Thein. Studium der Gender Studies und Jüdischen Studien in Berlin und Potsdam. Sie ist Stipendiatin des Graduiertenkollegs Makom (MMZ) mit einem Forschungsprojekt zu Simone Weil und arbeitet seit 2010 als Bibliothekarin im Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Sie ist zusammen mit Helmut Peitsch Herausgeberin von Walter Boehlich: Die Antwort ist das Unglück der Frage. Ausgewählte Schriften. Frankfurt am Main: Fischer und Walter Boehlich. Kritiker. Berlin: Akademie, beide 2011. Forschungsschwerpunkte: Simone Weil; Intellektuellen- und Popgeschichte. Jeanette Toussaint. Studium der Europäischen Ethnologie, Soziologie und Gender Studies in Berlin. Sie lebt als freiberufliche Ethnologin in Potsdam. Sie war u. a. wissenschaftliche Mitarbeiterin der Ausstellung Im Gefolge der SS: Aufseherinnen des Frauen – KZ Ravensbrück, die in der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück gezeigt wird sowie Mitarbeiterin in der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin im Projekt Leben mit der Erinnerung. Überlebende des Holocaust erzählen. Forschungsschwerpunkte: u.a. Jüdische Regionalgeschichte.

Personenregister

Personenregister

Abendroth, Hermann 141 Abenius, Margit 127–128 Abraham, Felix 142–143 Abusch, Alexander 133 Agnon, Samuel Joseph 116 Aigner, Korbinian 135 Anderson, Edith 119, 130–136 Annot (eigentlich Anna Ottilie Krigar-Menzel) 102 Arendt, Hannah 15, 17, 18, 116 Arnim, Bettina vonn 42 Arnstein, Fanny von 14, 16 Assing, David 39–40 Assing, Ludmilla 40–43, 45–46, 48, 51–52 Assing, Ottilie 39–52 Assing, Rosa Maria 39–41 Baerwald, Alexander 113 Baison, Jean Baptiste 43–46 Bantzer, Carl 75 Baum, Paul 75 Bäumer, Gertrud 99–100 Beckmann, Max 86 Beethoven, Ludwig van 141 Bekker, Immanuel 19 Bembo, Pietro 73 Ben-Gurion, David 116 Benjamin, Walter 116, 136 Berendsohn, Walter A. 127 Bergmann, Escha geb. Burchhardt 116 Bergmann, Hugo 116 Bernhard, Emil 112 Bernhard, Isaak 30 Bernstein, Carl 71–72, 75–76, 78 Bernstein, Felicie geb. Rosenthal 67, 71–79, 88 Bettauer, Hugo 97 Birnbaum, Elsa (Elisabeth) 104–105 Birnbaum, Ida 104–105 Bode, Wilhelm von 80–81, 83, 88 Borchers, Elisabeth 128 Boucher, François 78 Brandt, Marion 126 Brauer, Hermine 54, 59

Brecht, Bert 96, 133 Breithaupt, Rudolf Maria 140 Brinckmann, Gustav von 27 Buber, Martin 111, 116 Byk, Suse 97 Campe, Joachim Heinrich 22 Cassat, Mary 74 Cassirer, Paul 66–67, 81, 84 Cassirer, Bruno 84 Castro, Rahel de 43, 45, 51 Cézannes, Paul 81, 84–85 Chodziesner, Gertrud 120 siehe Kolmar, Gertrud Choffard, Pierre Philippe 78 Cochin, Charles Nicolas 78 Cohen, Hermann 9 Cohn, Anna 65 Cohn, Bernhard 112 Cohn, Cäcilie geb. Sabersky 112 Cohn, Helene 112, 116 Cohn, Lotte 111–117 Cohn, Rosa 116 Cohn-Philippson, Johanna 54 Cotta, Johann Friedrich 26 Dan, Käte 116 Darwin, Charles 75 Degas, Edgar 85 Dell’Era(-Marsop), Antonietta 96 Dohm, Christian Wilhelm 3 Domeier, Lucie 22 siehe Gad, Esther Douglass, Frederick 39, 46, 48, 50, 52 Dröscher, Lily 99 Duplessi-Berthaux, Jean 78 Durand-Ruel, Paul 74, 84 Durham, Jimmie 135 Durieux, Tilla 84–85, 102 Eisen, Charles 78 Eisner, Bruno 140 Eisner, Isidor (Isaak) 79–80 Eisner, Lea 79 Emmerich, Wolfgang 135

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 Personenregister

Ephrussi, Charles 74–75 Epstein, Ellen 139–145 Epstein, Margot Ruth 139, 145 Epstein, Monika Anna geb. Grünfeld 139 Epstein, Salomon 139 Eskeles, Cäcilie von 14, 16 Falckenberg, Otto 94 Falke, Otto von 81 Fallada, Hans 103 Fassbinder, Rainer Werner 90 Feilchenfeldt, Walter 67 Feist, Hermine 67 Fellini, Federico 90 Feuchtwanger, Lion 61 Feuerbach, Ludwig 50 Fischbach, Friedrich 73 Flechtheim, Alfred 67 Fleißer, Marieluise 104 Forster, Abby Kelly 47 Fränkel, Ellen 63 Fränkel, Gertrud geb. Zielenziger 63–64 Fränkel, Stefanie 63 Frenkel, Stefan 141 Friedeberger, Friederike 54 Friedrich II. (der Große) 38, 74 Friedrich Wilhelm III. (Kronprinz von Preußen) 32 Frommer, Marie 111–112 Gad, Esther verh./gesch. Bernhard 21–23, Garbo, Greta 97 Gaul, August 82 Geiger, Ludwig 14, 16, 25 Genlis, Stephanie Felicité de 24 Gerson, Hermann 33 Gert, Valeska (geb. Valeska Gertrude Samosch) 89, 92–97, 109–110 Gessner, Salomon 78 Gilbert, Felix 83, 85 Glaser, Curt 67 Goebbels, Joseph 90, 143 Goethe, Johann Wolfgang von 24–27, 74 Gogh, Vincent van 85–86 Goldschmidt, Gertrud 115 Gottwald, Alfred 145 Goyen, Jan van 78

Graf, Anton 20 Grattenauer, Karl 2 Gravelot, Hubert-François 78 Großmann, Rudolf 66–67 Grosz, George 95 Gugenheim, Fromet 29 siehe Mendelssohn, Fromet Gundolf, Friedrich 100 Gurlitt, Fritz 74 Gutzkow, Amalie 51 Gutzkow, Karl 40, 43 Haber, Charlotte 79–80, 82, 84 Haber, Fritz 87 Hacks, Peter 133 Hahn, Barbara 17 Hartmann, Eduard von 75 Headlam-Morley, Else 141–142 Hebbel, Friedrich 40, 119, 136 Hebel, Johann Peter 119, 136 Heine, Heinrich 13, 18, 40 Hempel, Henry Jacob 98 Hensel, Fanny geb. Mendelssohn Bartholdy 35 Hensel, Wilhelm 33, 35 Hermann, Georg 101 Herrmann, Curt 77, 79 Hertz, Deborah 17 Hertz, Rebekka 6–9 Herz, Henriette geb. de Lemos 16, 19–21, 32–35, 73 Herz, Markus 19, 32 Herz, Sophie 54 Herzl, Theodor 111, 117 Herzog, Rudolph 33 Heyl, Hedwig 99 Heym, Stefan 134 Hildenbrandt, Fred 96 Hirsch, Leo 128 Hirsch, Samson Raphael 98 Hirschburg, Johanna 54 Hirschfeld, Magnus 142 Hirschmann, Elise (Lise, Lisa) siehe Tergit, Gabriele Hirschmann, Ernst 99 Hirschmann, Frieda geb. Ullmann 98 Hirschmann, Siegfried 97

 Hirschmann, Tomas 101 Hitler, Adolf 90, 108, 115, 132 Holdheim, Samauel 2 Hudler, August 75 Huldschinsky, Oscar 80 Humboldt, Alexander von 20, 32 Humboldt, Wilhelm von 13, 21, 32 Itzig, Daniel 14, 33 Jacobi, Lotte 102 Jacoby, Täubchen 54 Jean Paul 22 Joachimsohn, Felix 100 Johnson, Samuel 13-14 Kaelter, Robert 54, 59 Kafka, Franz 103 Kahane, Arthur 94 Kaiser, Margarete 102 Karminski, Hannah 58 Kaselowsky, August 37 Kästner, Erich 104 Kauffmann, Richard 113–114 Kaznelson, Berl 116 Kerner, Justinus 39 Kessler, Harry Graf 84 Keun, Irmgard 104 Kiaulehn, Walther 102 Kinski, Klaus 90 Kirchheim, Samuel 80 Knobelsdorff, Elisabeth von 111–112 Koch, Ilse 90 Kokoschka, Oskar 86 Kollwitz, Käthe 74 Kolmar, Gertrud (eigentlich Gertrud Chodziesner) 119–127, 136 Korn, Arthur 113 Krausse, Anna-Carola 106, 108 Krigar-Menzel, Anna Ottilie 102 Krobbs, Florian 26 Kunwald, Ernst 141–142 Laforgue, Jules 75 Landsberger, Anna 56 Landsberger, Erich 60 Landsberger, Hedwig 56

Personenregister 

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Lange, Willy 82 Larson, Egon 101 Laserstein, Hugo 104 Laserstein, Käthe 104 Laserstein, Lotte 87, 91, 104–110 Laserstein, Meta geb. Birnbaum 104 Lasker-Schüler, Else 116–117, 125 Lavie, Jehuda (eigentlich Ernst Loevisohn) 114 Lebarbier (Le Barbier), Jean-Jacques-François 78 Lehmann, Bertha 54, 59 Leistikow, Walter 79 Lenbach, Franz von 84 Lendvai, Paul 140 Leo X, Papst 73 Lepsius, Sabine 74 Levi, Sara 16 Levin Varnhagen, Rahel 11, 13, 15–18, 22–24, 27 siehe Varnhagen von Ense, Rahel Lichtwark, Alfred 77 Liebermann, Max 73, 77–80, 82–83 Lincoln, Abraham 39 Loevisohn, Ernst 114 Loewen, Sara 33 Luboscher, Pauline 54 Magnes, Jehuda Leib 116 Magnus, Eduard 37 Mammen, Jeanne 106 Manet, Édouard 74, 76–78, 85–86 Marillier, Clément Pierre 78 Marquise de Lambert, Anne Therese de Marguenat de Courcelles 12 Matisse, Henri 86 Max, Gabriel 84 Mediz-Pelikan, Emilie 75 Mehring, Walter 95 Meier-Graefe, Julius 84 Meinecke, Friedrich 100 Mendelsohn, Erich 113 Mendelssohn-Bartholdy, Albertine 35–37 Mendelssohn Bartholdy, Cécilie 37–38 Mendelssohn Bartholdy, Felix 37–38 Mendelssohn Bartholdy, Paul 36 Mendelssohn Bartholdy, Pauline 36–38 Mendelssohn Bartholdy, Rebecka 35 Mendelssohn, Abraham 33

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 Personenregister

Mendelssohn, Alexander 38 Mendelssohn, Fromet, geb. Gugenheim 29–31 Mendelssohn, Jente/Henriette 33–35 Mendelssohn, Joseph 33 Mendelssohn, Lea 33 Mendelssohn, Moses 16, 29–33 Mendelssohn, Nathan 33 Mendelssohn, Robert von 83 Mendelssohn Veit Schlegel, Brendel/ Dorothea (geb. Mendelssohn, verh./ geschied. Veit, verh. Schlegel) 19, 31–33 Menzel, Adolph 74 Messel, Alfred 82 Meyer Eybenberg, Marianne 24 Meyer Grotthus, Sara 23–27 Meyer, Aaron 23 Meyer, Michael A. 15 Meyerbeer, Giacomo 35 Michaelis, Johann David 3 Michel, Richard 113 Mitchell, Margaret 49 Moissi, Alexander 93–94 Moissi, Maria 93 Monet, Claude 74, 77, 86 Monnet, Jean-Pierre 78 Montez, Lola 48 Moreau, Jean Michel 78 Morrisot, Berthe 74 Müller-Breslau, Georg 75 Mundt, Theodor 41 Murray, Anna 52 Naimark-Goldberg, Natalie 17 Napoleon I 33 Nauen, Heinrich 79 Neumann, Hans 97 Nielsen, Asta 97 Nittis, Guiseppe de 74 Nochlin, Linda 70 Olden, Rudolf 102 Ollendorf, Martha 58, 64 Opitz, Gisela 119 Oppenheim, Franz 81–83, 85, 87 Oppenheim, Margarete geb. Eisner, verw. Reichenheim 67, 79–88

Pabst, Georg Wilhelm 97 Panwitz, Sebastian 79 Pappenheimer, Berta 58 Parrissot, Pierre 34 Petri, Egon 140 Philippsborn, Ernestine 59 Picard, Jacob 125 Picasso, Pablo 86 Piloty, Carl Theodor von, 84 Pissarro, Camille 74 Pitts, Helen 52 Powell, Paul Clayton Jr. 39 Powilleit, Hans-Joachim 119 Putziger, Bertha 54, 60 Putziger, Hans 60 Quintilian (Quintilianus), Marcus Fabius 73 Raabe, Peter 143 Reger, Erik 104 Reichenheim, Charlotte 81 Reichenheim, Georg 79–81 Reichenheim, Hans 81 Reichenheim, Margarete siehe Oppenheim, Margarete Reifenberg, Elise siehe Tergit, Gabriele Reifenberg, Heinz 90 Reinhardt, Max 93 Remy, Nahida 11, 17 Renoir, Auguste 86 Rewald, Hans 92 Ring, Grete 67 Ritter, Wilhelm 75 Robespierre, Maximilien de 131 Rose, Traute 107 Rosenthal, Leo 71 Sacchetto, Rita 93 Sachs, Nelly 119–124, 126–130 Salomon, Alice 99 Sauerbruch, Ferdinand 82 Schasar, Salman 116 Schirach, Baldur von 62 Schirges, Georg 43 Schlegel, Dorothea siehe Mendelssohn Veit Schlegel, Brendel/Dorothea Schlegel, Friedrich 21, 32–33



Personenregister 

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Schleiermacher, Friedrich 17, 20 Schlesinger Paul 101 Schlöndorff, Volker 90 Schnabel, Arthur 140 Scholem, Gershom 116 Schoppe, Amalia 40, 44, 48 Schrade-Breymann, Henriette 99 Schrader, Julius 37 Schroeder, Max 119, 132 Schulle, Diana 145 Schütte-Lihotzky, Margarete 114 Seinheim, Johanna 41–43 Selig, Carl 129 Shakespeare, William 94, 97 Sisley, Alfred 74, 77, 86 Sling (eigentlich Paul Schlesinger) 101 Smoira, Mosche 116 Spinoza, Baruch de 73 Spiro, Eugen 140 Spranger, Eduard 100 Steinheim, Salomon Ludwig 41, 43 Sternheim, Carl 84 Steward Gardner, Isabella 68 Stone, Lucy 47 Storck, Josef 73 Stuck, Franz von 84 Sucker, Juliane 103–104

Varnhagen, Karl August von Ense 13, 14–15, 39–42 Veit, Brendel siehe Mendelssohn Veit Schlegel, Brendel/Dorothea Veit, David 15, 18 Veit, Simon 31 Velde, Henry van der 77 Vierling, Oskar 141 Vlaminck, Maurice de 86 Vogler, Erich 100

Tergit, Gabriele (pseud. von Elise Reifenberg, geb. Hirschmann) 89–91, 97–104, 109–110 Thannhauser, Justin 81, 85–86 Therbusch, Anna Dorothea 19, 20, Thrale Piozzi, Hester, geb. Salusbury 13 Thur, Johanna 76, 78 Tiessen, Heinz 141, 143–144 Treu, Georg 71, 75, 77 Tschudi, Hugo von 77–79 Tuaillon, Louis 79 Tucholsky, Kurt 96–97 Tuhr, Andreas von 72, 76

Zelter, Carl Friedrich von 23 Zerner, Egon 67 Zielenziger, Anna 53–65 Zielenziger, Bernhard 59 Zielenziger, Emilie 59 Zielenziger, Eric (Wolfgang) 64 Zielenziger, Fanny 54, 59 Zielenziger, Gertrud (verh. Fränkel) 56, 63–64 Zielenziger, Hirsch 59 Zielenziger, Immanuel 55 Zielenziger, Julius 56–57, 59, 63 Zielenziger, Kurt 56, 63 Zielenziger, Lesser Isaak 54 Zielenziger, Lilly 63 Zielenziger, Marie geb. Jacobi 54, 59 Zielenziger, Samuel 54, 59 Zielenziger, Wolfgang (Eric) 61, 63–64 Zielenziger, Henriette 54

Uhland, Ludwig 39 Vanderbilt Whitney, Gertrude 68 Varnhagen von Ense, Rahel, geb. Levin 11, 13, 15–18, 22–24, 27, 32, 42

Warschauer, Marie 38 Weber, Max 100 Wedekind, Frank 94 Weisbach, Werner 76 Wenzel, Hilde 123–124 Werner, Sidonie 58 Wettke, Margarete 111 Wigman, Mary 90 Wilde, Alfred 141 Wohlauer, Martha 58 Wolf, Rebekka 4–9 Wolff, Theodor 101 Wolfsfeld, Erich 106 Wolfsthal, Josef 141 Wolfsthal, Max 141 Woolf, Virginia 120